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German Pages 439 [440] Year 2014
Karl Mertens, Jörn Müller (Hrsg.) Die Dimension des Sozialen
Die Dimension des Sozialen Neue philosophische Zugänge zu Fühlen, Wollen und Handeln Herausgegeben von Karl Mertens und Jörn Müller Unter Mitarbeit von Christine Wolf
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
ISBN 978-3-11-034993-1 e-ISBN 978-3-11-034995-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Ein Teil der hier versammelten Artikel wurde im Frühjahr 2012 in der Würzburger Residenz im Rahmen eines Symposions zum Thema „Fühlen, Wollen und Handeln als soziale Phänomene“ vorgetragen und diskutiert. Die besondere Intensität der damaligen Diskussionen sowie die unmittelbare Bereitschaft der später hinzugebetenen Autorinnen und Autoren, einen Beitrag für die vorliegende Publikation zu verfassen, bezeugt das lebendige Interesse an der hier vorgeschlagenen sozialen Sicht auf klassische Themen einer Philosophie der Intentionalität. Offenbar stößt deren sozialphilosophische Erörterung derzeit auf breite Zustimmung. Nicht zuletzt machen solche Erfahrungen darauf aufmerksam, dass die Ausbildung wissenschaftlicher Fragestellungen selbst sozial verankert ist. Mitnichten wird darum aber das sozialphilosophische Interesse an den genannten Phänomenen zur bloßen Modeerscheinung. Denn auch noch Aufstieg und Niedergang jeweils angesagter Themen und Trends bestätigen auf einer zweiten Ebene gerade die zeitübergreifende Bedeutung des Sozialen als Medium unserer Verständigung – in der Wissenschaft und in der alltäglichen Diskussion des Intentionalen. Allen Mitwirkenden sei an dieser Stelle ganz herzlich dafür gedankt, dass sie zum Gelingen des vorliegenden Bandes beigetragen haben. An erster Stelle möchten wir uns bei den Autorinnen und Autoren bedanken, die durch ihre Beiträge wesentliche Hinsichten zu einer facettenreichen sozialphilosophischen Untersuchung der Phänomene des Fühlen, Wollens und Handelns beigesteuert haben. Frau Dr. Grünkorn und dem Verlag de Gruyter danken die Herausgeber für die positive Aufnahme des Projektes sowie für die Hilfsbereitschaft, mit der die Entstehung des vorliegenden Bandes begleitet wurde. Die Fritz Thyssen Stiftung hat die Tagung sowie die Drucklegung des Bandes durch einen großzügigen Zuschuss ermöglicht. Unsere Würzburger Hilfskräfte (Angela Böhm, Lara Eicher, David Franz, Felicitas Haber, Thomas Hanslmeier, Vivienne Stein und Jacob Tonner) haben sich um die Korrekturen der Druckfahnen verdient gemacht. Unser herzlichster Dank gilt Frau Christine Wolf für ihre höchst engagierte und ausgezeichnete Hilfe bei der redaktionellen Überarbeitung der einzelnen Beiträge. Würzburg, im Mai 2014
Karl Mertens und Jörn Müller
Inhalt Vorwort | V Karl Mertens und Jörn Müller Einleitung: Fühlen, Wollen und Handeln als soziale Phänomene | 1
Fühlen Christoph Demmerling Geteilte Gefühle? Überlegungen zur Sozialität des Geistes | 21 Rainer Schützeichel Fühlen als ein soziales Phänomen Über responsive und reflexive, geteilte und kollektive Emotionen | 41 Heiner Hastedt Das Soziale der Gefühle zwischen Involviertsein und Konstitution | 65 Christoph Horn Liebe als soziales Phänomen: Intersubjektivitätstheorien | 81 Sonja Rinofner-Kreidl Neid und Ressentiment Zur Phänomenologie negativer sozialer Gefühle | 103 Eva-Maria Engelen Empathie Affektive Perspektivübernahme als soziales Phänomen | 127 Julius Schälike Sentimentalismus oder Rationalismus? Von der experimentellen Moralpsychologie zur Normativen Ethik | 143
VIII
Inhalt
Wollen Rainer Paris Blockiertes Wollen Aspekte einer Theorie der Ratlosigkeit | 171 Jörn Müller Willensschwäche als inhärent soziales Phänomen | 189 Thomas Buchheim Soziale Implikationen individueller Handlungsfreiheit | 213 Karl Mertens Plurales, kollektives und institutionelles Wollen | 227 David P. Schweikard Die Sozialität intentionaler Einstellungen | 245
Handeln Christine Chwaszcza Intentions in Collective Agency: A Third-Person Approach | 263 Hans Bernhard Schmid Vertrauen im Gemeinschaftshandeln | 287 Guido Löhrer Geben und Nehmen Teleologische Erklärungen gemeinsamen Handelns | 313 Ludger Jansen Gern helf’ ich dem Freunde? Pflichten in informellen Sozialbeziehungen | 333 Monika Betzler Sekundäre Amoralität Eine ethische Analyse von Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser | 351
Inhalt
IX
Markus Heuft Sprechhandlungen verstehen Überlegungen zu einer askriptivistischen Sprechakttheorie | 381 Holger Maaß Wissen als soziales Phänomen Wissenssoziologische Analysen im Anschluss an Karl Mannheim | 397 Angaben zu den Autorinnen und Autoren | 419 Personenindex | 425
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Einleitung: Fühlen, Wollen und Handeln als soziale Phänomene Einer klassischen, letztlich auf Aristoteles zurückgehenden anthropologischen Formel zufolge ist der Mensch ein animal sociale. Nimmt man den darin ausgedrückten Gedanken ernst, so ist zu erwarten, dass die Sozialnatur als wesensbestimmendes Merkmal des Menschen sich in allen unseren Aktivitäten niederschlägt, also auch unser Fühlen,Wollen und Handeln nachhaltig prägt.Von dieser Überlegung aus böte sich ein konsequenter sozialphilosophischer Ansatz zur Beschreibung und Durchdringung dieser Phänomene an. Sichtet man die philosophische Literatur in diesem Bereich bis in die jüngere Vergangenheit hinein, offenbart sich aber ein gänzlich anderes Bild: Fühlen,Wollen und Handeln werden sehr oft individualistisch oder solitär – um nicht zu sagen: solipsistisch – gedeutet, d. h. als Zustände oder Aktivitäten eines einzigen Trägers, für die das Soziale allenfalls einen Kontext, aber keinen genuinen Konstitutionszusammenhang darstellt. Die Analyse dieser Phänomene im Rahmen der Moralpsychologie wie auch der philosophy of mind ist bis in die jüngere Vergangenheit hinein primär auf das Individuum fokussiert bzw. fixiert gewesen. Allerdings gibt es gerade in der neueren Diskussion verschiedene Ansätze, die unsere Rede vom geteilten Fühlen (z. B. bei einer Trauergemeinde), gemeinsamen Wollen (beispielsweise bei einer familiären Reiseplanung) sowie vom gemeinschaftlichen Handeln (etwa bei einem Theaterbesuch im Freundeskreis) nicht als reine façon de parler betrachten, sondern mit philosophischem Inhalt zu füllen versuchen. Im Folgenden soll zuerst in Form einer Art Ausgangsdiagnose der für die klassische und gegenwärtige Philosophie immer noch prägende Individualismus mit einigen Federstrichen gezeichnet werden, wobei auch die abweichenden neueren Trends zur sozialphilosophischen Erfassung von Fühlen, Wollen und Handeln zu erwähnen sind (Abschnitt 1). Vor allem im Anschluss an diese Tendenzen der rezenten Forschung sollen skizzenartig die verschiedenen Dimensionen und Perspektiven charakterisiert werden, in denen der Sozialität eine besondere Bedeutung für das Verständnis von Fühlen, Wollen und Handeln zugewiesen werden kann; diese Richtungen korrelieren mit stärkeren und schwächeren Thesen hinsichtlich des sozialen Charakters der thematischen Phänomene (Abschnitt 2). Hieraus resultieren jeweils spezifische Desiderate und Fragestellungen, wie sie in den nachfolgenden Beiträgen Berücksichtigung finden. Diese sollen zum Abschluss kurz in ihren Inhalten wie in ihren wechselseitigen Bezügen skizziert werden (Abschnitt 3).
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1 Der konstitutive Individualismus der klassischen und gegenwärtigen Philosophie Die Auffassung, dass Fühlen,Wollen und Handeln auf der Ebene des Individuums angesiedelt sind, reicht weit in die philosophische Tradition zurück. Aristoteles bezeichnet das Tun (poiein) als eine seiner zehn für das Verständnis der Wirklichkeit grundlegenden Kategorien.¹ Dabei handelt es sich um eine sog. akzidentelle Kategorie, also um etwas, das nicht wesenhaft und an sich existiert, sondern immer nur an einem Träger auftritt. Dieser Träger ist die erste Kategorie, die Substanz (ousia), also das selbstständig existierende Einzelding, dem weitere akzidentelle Bestimmungen (Qualität, Quantität, Zeit etc.) anhängen. Ontologisch ist somit die Substanz bei Aristoteles als Subjekt des Handelns bestimmt, was sich auch auf der Ebene der moralpsychologischen Analyse in der Nikomachischen Ethik bestätigt findet: Handlungen verdanken sich einer Entscheidung (prohairesis), die durch das Zusammenspiel eines Strebens bzw. Wunsches und einer praktischen Überlegung zustande kommt. Handlungen lassen sich also primär aus internen Zuständen des handelnden und fühlenden Individuums heraus verstehen und erklären.² Damit ist zugleich das Erklärungsmuster präfiguriert, das auch in der gegenwärtigen analytischen Handlungstheorie im Anschluss an Donald Davidson (1980) vorrangig in Gebrauch ist. Handlungen gehen kausal zurück auf beliefdesire pairs: Mein Gang zur Eisdiele lässt sich restlos dadurch erklären, dass ich den Wunsch habe, ein Eis zu essen (desire), gepaart mit der Überzeugung (belief), dass dieses Verlangen in der Eisdiele gestillt werden kann. Für die Analyse absichtlichen Handelns ist demnach der Rekurs auf innere intentionale Zustände des Subjekts konstitutiv. Nun hat sich in den letzten drei Jahrzehnten auch die analytische Handlungstheorie zunehmend mit dem sozialen Handeln, genauer mit dem Wir-Handeln bzw. mit kollektiven Handlungen befasst.³ Allerdings bleiben auch die modernen Klassiker dieser Debatte in ihren Analysen wesentlich individualistisch
Vgl. Aristoteles, Kategorien, Kap. 9, 11b 1– 8. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik III 5, 1113a 2– 14, sowie VI 2, 1139a 31 – b 5. Zur Handlungstheorie bei Aristoteles vgl. die Beiträge in Corcilius/Rapp 2008. Wir beschränken uns hier auf die Erwähnung der analytischen Tradition, die den Hauptbezugspunkt der gegenwärtigen handlungstheoretischen Debatten liefert. Für wichtige Impulse für eine Bestimmung des Handelns als soziales Phänomen im Bereich der Phänomenologie oder der frühen Soziologie sei verwiesen auf Schmid 2005 sowie Schmid/Schweikard 2009, 21 ff.
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orientiert.⁴ Inzwischen ist daher der Individualismus innerhalb der analytischen Tradition selbst zur Zielscheibe grundsätzlicher Kritik geworden,⁵ wobei sich diese zu Recht gelegentlich auf Einsichten der phänomenologischen Tradition beruft.⁶ Dabei wird im Allgemeinen die Unangemessenheit des Individualismus für die Untersuchung des sozialen Handelns herausgestellt. Im Bereich des Fühlens und des Wollens stellt sich die Situation analog dar: Auch hier wird das substantiell gedachte Individuum von der philosophischen Tradition bis in die Gegenwart weitgehend als Träger des emotionalen bzw. volitionalen Bewusstseins aufgefasst. Während sich jedoch gegen die individualistischen Versuche einer Erklärung sozialer Phänomene des Handelns alternative Ansätze formiert haben – besonders prägnant in den systemtheoretischen Überlegungen von Niklas Luhmann⁷ –, scheinen diese mit Blick auf Gefühle oder Absichten nicht ohne Weiteres übertragbar zu sein. Offenbar kommen nur Individuen als Kandidaten für die Trägerschaft von Emotionen und Intentionen bzw. Volitionen in Frage. Nach Aristoteles sind Gefühle Leidenschaften (pathê), die dem Menschen widerfahren, also an ihm im Sinne des kategorialen Substanz-Akzidenz-Schemas auftreten.⁸ Sie gehören wesentlich zur akzidentellen Kategorie der Qualität, d. h. mit ihnen wird eine bestimmte Verfasstheit der einzelnen Substanz ausgedrückt. Die Entstehung dieser Gefühle verdankt sich bei Aristoteles zwar nicht allein dem Innenleben des Menschen, insofern äußere Situationen und Ereignisse für seine emotionalen Reaktionen kausal bedeutsam sind; aber die konstante Bezugsgröße für die primär tugendethisch inspirierte Betrachtung der Gefühle bei Aristoteles bleibt doch das Individuum. Das ändert sich auch nicht in David Humes grundlegender Analyse der Gefühle im dritten Teil seines Treatise of Human Nature, einem bedeutenden Referenztext gegenwärtiger emotionstheoretischer Debatten: Gefühle werden hier v. a. als eine bestimmte Form des Welt- und Selbstverhältnisses des einzelnen Menschen begriffen, die sich seiner inneren Konstitution und seinen Reaktionen auf die physische und soziale Umwelt verdanken. Hume und den an ihn anknüpfenden modernen Interpreten in der philosophy of mind geht es eher um die Freilegung der psychologisch-assoziativen Vorgänge, die zur Konstitution der individuellen inneren Gefühlswelt führen. Für das Mittelalter und die Neuzeit ist
Vgl. beispielsweise Tuomela 1984, Tuomela/Miller 1988, Searle 1990 und 1995 oder auch Bratman 1999. Vgl. z. B. Stoutland 1997; Baier 1997; Baltzer 1999; Schweikard 2011. Vgl. hierzu besonders Schmid 2005. Dabei wird freilich tendenziell die Struktur intentionaler Handlungen aufgelöst. Vgl. Aristoteles, Kategorien, Kap. 8, 9a 33 – 10a 10.
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dabei sicherlich auch die spätestens mit Augustinus einsetzende Betonung der Innerlichkeit als eine Konstitutionsbedingung des Selbst bzw. der Subjektivität ein verstärkender Faktor (vgl. Taylor 1989). Dieser Trend zur Innerlichkeit betont zweifelsfrei den schon in der Antike grundgelegten Individualismus in der neuzeitlichen Philosophie des Geistes noch einmal nachhaltig zu Lasten der sozialen Perspektivik. Nicht zuletzt die vom ego als res cogitans aus konzipierte Bewusstseinsphilosophie von Descartes tendiert hier zu einer nicht-sozialen Deutung von Gefühlen als individuellen cogitationes. ⁹ Die soziale Dimension von Gefühlen ist jedoch durchaus Thema in klassischen und neueren Überlegungen zur Auszeichnung und Bestimmung spezifisch sozialer Gefühle. Diesen galt beispielsweise schon das Interesse der antiken Rhetorik und Poetik oder der Gefühlsethik bzw. Gefühlsmoral bei Shaftesbury und Hutcheson sowie später bei Scheler. In der Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts werden soziale Gefühle thematisch in wichtigen Teilen der phänomenologischen Tradition sowie neuerdings auch im Umkreis der analytischen Philosophie.¹⁰ Zudem finden sich Versuche, die emotionale Sphäre nicht nach individualistischer Maßgabe, sondern grundsätzlich als Produkt einer sozialen Verständigung zu bestimmen, im Rahmen des klassischen amerikanischen Pragmatismus (z. B. bei George Herbert Mead). Sofern Wollen nicht einfach nur als rationales Streben im Sinne der Antike, sondern in Anlehnung an Augustinus – der gewissermaßen der „Erfinder“ des bis in die Moderne wirksamen Willensbegriffs ist (vgl. Horn 1996) – als dezisionistischer Akt der Auswahl zwischen verschiedenen verfügbaren Alternativen verstanden wird, ist ebenfalls eine Fokussierung auf das Individuum als Entscheidungsträger diagnostizierbar. Zwar verschiebt sich die Bezeichnung des Trägers von der Substanz hin zur Person (vgl. Kobusch 1997); aber auch die Person wird weiterhin überwiegend als rationalis naturae individua substantia (Boethius), mithin als individuierte Kategorie verstanden. Der Wille als Vermögen ist dabei das Zentrum der individuellen Personalität; betont wird im Fahrwasser der augustinischen Tradition v. a. dessen quasi-substantielle Selbstständigkeit sowie seine kausale Selbstverfügbarkeit: „Denn was liegt so sehr am Willen wie der Wille selbst“?¹¹ Die soziale Dimension des Wollens rückt dadurch naturgemäß in den Hintergrund. In der Neuzeit wird der Wille zwar teilweise auch in einer kollektiven Dimension wahrgenommen, wie etwa in der Rousseau’schen Differenz von volonté Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Rainer Hastedt in diesem Band. Vgl. z. B. Stein 1922; Walther 1923; Gurwitsch 1977; Goldie 2000; Voss 2004; Krebs 2009. Augustinus, De libero arbitrio I, 12, 26: „Quid enim tam in voluntate quam ipsa voluntas sita est?“
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de tous und volonté générale, aber diese v. a. in rechtlichen und politischen Kontexten angesiedelte Figur ist insbesondere auf der Ebene der theoretischen Analyse kaum weiter verfolgt worden. Das lag zumindest teilweise an der grundsätzlichen Diskreditierung des Willenskonzepts in der angelsächsischanalytischen philosophy of mind im Anschluss an Gilbert Ryle.¹² Aber auch die volitionalistischen Theorien, die in den letzten Jahren in der Handlungstheorie wieder an Gewicht gewonnen haben, interessieren sich für das Wollen nur als eine zusätzliche explanatorische Größe, die bei individuellen rationalen Akteuren über die belief-desire pairs hinaus angenommen werden muss, um intentionales Handeln zu erklären.¹³ Angesichts der Aufgaben, die insbesondere eine zureichende Untersuchung des institutionellen Handelns bewältigen muss, ist jedoch zu überlegen, ob damit nicht eine unangemessene Reduktion des analytischen Instrumentariums vorgenommen wird. In diese Richtung weisen zumindest jüngere Forschungen zum Phänomen der kollektiven Intentionalität.¹⁴ Tief sitzt dabei allerdings die Angst vor dem Gespenst eines kollektiven „Gruppengeistes“.¹⁵
2 Der social turn: die Dimension des Sozialen Vor dem Hintergrund der immer noch spürbaren Dominanz des Interesses an den individuellen Phänomenen – in der Philosophiehistorie ebenso wie in der Gegenwartsphilosophie – ist die sozialphilosophische Durchdringung von Fühlen, Wollen und Handeln ein nicht von der Hand zu weisendes Desiderat: Erforderlich ist daher eine Art philosophischer social turn, dessen Aufgabe die systematische Erschließung der sozialen Dimension aller menschlichen Aktivitäten und Erfahrungen ist. Dabei gilt es, die im programmatischen Singular angesprochene Dimension des Sozialen in ihren Manifestationen genauer zu artikulieren und die noch etwas vage Redeweise von der Sozialität des Fühlens,Wollens und Handelns schärfer zu konturieren. Bei näherem Hinsehen liegt hier nämlich eine Mehrdeutigkeit vor, deren Explikation bereits das Problemverständnis schärft. – Man kann zwei Arten von Perspektiven unterscheiden, in denen Fühlen, Wollen und Handeln als soziale Phänomene thematisch werden: (1) Der sich unmittelbar aufdrängende Zugang besteht in der Identifikation und Sichtung von einzelnen Phänomenen in den drei Teilbereichen, die von vorne
Vgl. die beißende Kritik von Ryle 1949, Kap. 3. Vgl. exemplarisch Wallace 1999. Vgl. etwa Pettit 2003. Zu dieser Diagnose vgl. Schmid 2009 sowie Baier 1997.
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herein einen unverkennbar sozialen Stempel tragen, insofern sie überhaupt nicht rein individualistisch zu konzeptualisieren sind. Um einige konkrete Beispiele und die damit verknüpften Problemfelder zu benennen: (a) Sympathie, Scham und Neid stellen genuin soziale Gefühle dar, insofern ihr wesentlicher Gehalt durch den Bezug auf (bestimmte) Mitmenschen konstituiert wird: Ebenso, wie man mit anderen fühlt, schämt man sich vor anderen (z. B. seiner Familie, seinen Kollegen etc.) oder ist auf andere neidisch. Dabei ist zu klären, wie diese Gefühle hinsichtlich ihrer Gehalte genau strukturiert sind. Von besonderem Interesse ist hier v. a. das komplexe Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung, das in ihnen vorzuliegen scheint. Ebenso bedenkenswert sind – insbesondere hinsichtlich einer möglichen kollektiven Trägerschaft des Fühlens – Auffassungen, denen zufolge gefühlte Atmosphären eine erfahrbare überindividuelle Realität ausprägen.¹⁶ (b) Im Bereich des Wollens gibt es neben individuellen Absichten offensichtlich auch kollektive bzw. institutionelle Formen von Intentionalität, wie z. B. den „Willen des Gesetzgebers“. Wenn man das nicht als bloße Metapher abtun möchte, wirft dies aber sofort einige Fragen hinsichtlich der Trägerschaft solcher Phänomene auf: Warum ist die Rede vom Willen einer Institution letztlich nicht reduzierbar auf eine bloß numerische Aggregation aller an ihr Beteiligten (also z. B. der die gesetzgebende Körperschaft bildenden Parlamentarier)? Wie kann man so etwas wie Intentionalität wirklich „teilen“?¹⁷ Hier spielen, ebenso wie im Bereich des kollektiven Handelns, verschiedene Problemstellungen der sozialen Ontologie eine wichtige Rolle, die einer näheren Prüfung bedürfen.¹⁸ (c) Gerade im Bereich der Handlungstheorie hat das Konzept des „gemeinsamen Handelns“ in jüngster Vergangenheit starke Beachtung gefunden, was sich am Beispiel des Spazierengehens mit Freunden ebenso exemplifizieren lässt wie an der konzertanten Aufführung eines Streichquartetts. So naheliegend die oft diskutierten Beispiele auch erscheinen, vieles ist hier noch ungeklärt, insbesondere im Blick auf das genaue begriffliche Verständnis solcher Phänomene. Umstritten ist bereits die Frage nach der Lokalisierung der Trägerschaft der Handlung: Handeln die an einem Gemeinschaftshandeln beteiligten Individuen oder handelt die Gruppe? Darüber hinaus ist die Art des kollektiven Handelns genauer zu bestimmen: Wie unterscheidet es sich z. B. von bloß koordiniertem Verhalten? Ist der
Vgl. z. B. Gurwitsch 1977, 176; Schmitz 2002. Die gleiche Frage stellt sich natürlich auch in Bezug auf Gefühle. Vgl. hierzu neuerdings Krebs 2013, die in ihren Überlegungen an Scheler und Stein anschließt. In diesem Zusammenhang ist z. B. die von Gilbert (1989, 2000, 2006) angeregte Diskussion um die Annahme von ‚Pluralsubjekten‘, die durch gemeinsame ‚joint commitments‘ zusammengehalten werden, als eine mögliche Richtung zu nennen.
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Rekurs auf eine geteilte Intentionalität oder sogar auf gemeinsame Werte erforderlich, um dieses Phänomen in seiner Eigenständigkeit zu erfassen? Die Schwierigkeiten scheinen dafür zu sprechen, dass soziale Handlungen im Sinne einer Typologie genauer zu differenzieren sind und verschiedene Formen des gemeinsamen Handelns unterschieden werden müssen (etwa soziales, kollektives, kooperatives, institutionelles Handeln; emphatisches und nicht-emphatisches Gemeinschaftshandeln etc.). Die philosophische Untersuchung eigentümlich sozialer Gefühle, Absichten und Handlungen bezieht sich somit sowohl auf deren Trägerschaft als auch auf ihre Inhalte. Hierbei ist zu prüfen, ob bzw. wie sich diese beiden Aspekte der Analyse gegenseitig bedingen. Auf jeden Fall kann man in diesem Zusammenhang die These vertreten, dass zumindest die genannten Phänomene ohne eine angemessene Berücksichtigung des Sozialen nicht erfassbar sind. (2) Die Rede von der Sozialität ist aber noch einer stärkeren Lesart zugänglich, die den Fokus der möglichen Untersuchung erheblich ausweitet: Die unter (1) erwogenen Spezifikationen lassen nämlich erst einmal die Möglichkeit offen, dass die jeweils herausgestellte soziale Dimension letztlich doch nur im Ausgang von einer grundlegend individuellen und gewissermaßen vor-sozialen Konstitution der genannten Phänomene zu verstehen bzw. zu erklären ist. Ihre soziale Komponente wäre dann sekundär oder derivativ. Demgegenüber sollte man jedoch prinzipiell erwägen, ob und inwieweit Fühlen, Wollen und Handeln sogar primär sozialen Charakter haben. In diesem Fall wären sie wesentlich sozial konstituiert. Aus der Untersuchung einzelner bzw. spezifischer Phänomene ließen sich dann möglicherweise allgemeine Deutungskategorien gewinnen, die für das Verständnis bzw. für die Triftigkeit einer umfassenderen sozialen Konstitution jeglicher Form des Fühlens, Wollens und Handelns von Bedeutung sind. Zu thematisieren ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Rolle von sozialen Zuschreibungen, wie sie der zeitgenössische Askriptivismus stark macht: Gewinnen die Phänomene von Fühlen, Wollen und Handeln ihren Gehalt im Wesentlichen durch Zuschreibungen anderer?¹⁹ Die nachhaltige Kritik am „Mythos des Gegebenen“ (Sellars) in der Erkenntnistheorie, also an der Auffassung, dass die Basis unseres Wissens in rohen Sinnesdaten bzw. Vorstellungsinhalten liegt, lässt sich auch auf die hier thematischen Phänomene übertragen. Gerade in Bezug auf Fühlen und Wollen scheint es plausibel zu erwägen, dass deren Bestimmtheiten erst im Kontext sozialer Verständigung entwickelt werden. Diese
Zum Askriptivismus vgl. den klassischen Artikel von Hart 1949 sowie zur neueren Diskussion exemplarisch Stoecker 2007. Vgl. auch den Beitrag von Markus Heuft in diesem Band.
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werden von Individuen in Lernprozessen angeeignet und stehen ihnen zur Charakterisierung ihrer eigenen emotionalen und volitionalen Zustände zur Verfügung. Oft genug rätselt man ja auch, was genau man gerade fühlt bzw. was man denn nun in einer bestimmten Situation wirklich will. Die Rede vom eigenen Fühlen und Wollen beruht gemäß der skizzierten Auffassung auf Selbstzuschreibungen, die ihrerseits nicht instinktiv erfolgen, sondern wesentlich sozial konstituiert sind: Welche Gefühle wir beim Verlust eines nahen Angehörigen empfinden – ob Trauer,Wut oder Verzweiflung – wird wesentlich durch die Weisen unseres sozialen Umgangs bestimmt. Auch die Konstitution und das Verständnis unserer eigenen Handlungen sind eingebettet in Kontexte, die nicht auf die Selbstwahrnehmung aus der Perspektive der ersten Person reduzierbar sind, sondern auf den für Handlungen im Vollsinne des Wortes erforderlichen sozialen Rahmen verweisen. Deutlich wird dies insbesondere in den Zusammenhängen, in denen Kinder aufgrund bestimmter Handlungszuschreibungen lernen, was und wie sie etwas tun bzw. nicht tun, aber zu tun haben (ein einfaches Beispiel ist das Zähneputzen, ein komplexeres das Lügen). Hierbei scheint auch der unbestreitbaren sprachlichen Vermitteltheit unseres Fühlens, Wollens und Handelns eine grundlegende Bedeutung zuzukommen. Schon Aristoteles hat auf die enge Verzahnung der politischen Natur des Menschen mit der Sprachbegabung als Humanum hingewiesen: Der spezifische Status des Menschen als politisches Sozialwesen liegt gerade darin begründet, dass er ein zôon logon echon ist, das sich mittels der Sprache über das Gute und Gerechte verständigen kann.²⁰ Quasi in umgekehrter Richtung hat Wittgenstein den sozialen Charakter der Sprache und des Sprechens betont, so dass hier eine Reihe von wechselseitigen, sozialphilosophisch näher zu durchleuchtenden Konstitutionszusammenhängen anzunehmen ist. Auch in Bezug auf diese stärkere These bzw. Lesart von der Sozialität des Fühlens, Wollens und Handelns stellen sich viele Fragen, die nicht zuletzt in grundlegender Weise das vom Askriptivismus in Anspruch genommene Konzept der Zuschreibung selbst betreffen. Dieses ist etwa mit Blick auf folgende Probleme näher zu untersuchen und zu konturieren: Wie werden interne oder externe Zuschreibungen bestätigt, kritisiert oder auch revidiert? Inwieweit sind dabei normative Forderungen impliziert? Wie ist das Verhältnis der Perspektiven der ersten und der dritten Person bei Zuschreibungen genauer zu bestimmen? Und welche methodischen Entscheidungen sind mit der Beantwortung dieser Fragen für die Analyse emotionaler, volitionaler und praktischer Grundbegriffe verbunden?
Vgl. Aristoteles, Politik I 2, 1253a 1– 18.
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Im Spannungsfeld dieser beiden Zugänge bzw. Lesarten und der mit ihnen verbundenen Fragen und Problemstellungen bewegen sich die nachfolgenden Beiträge. Die Zielsetzung des vorliegenden Bandes ist dabei einerseits die grundsätzliche Auslotung des konstruktiven Potentials, das im Verständnis von Fühlen,Wollen und Handeln unter dem Gesichtspunkt der Sozialität – in der oben charakterisierten Doppeldeutigkeit – liegt; andererseits geht es um die weitere begriffliche und analytische Entwicklung der in diesem Bereich bereits sichtbaren Forschungstendenzen. Nachdem vor allem das Fühlen und Handeln in den letzten Jahren verstärkt in der philosophy of mind und in der Handlungstheorie thematisiert worden sind – wobei selbst noch in der kritischen Auseinandersetzung das Hauptaugenmerk meist auf der individualistischen Perspektivierung lag²¹ –, dürfte die Zeit nun reif sein für eine direkte Fokussierung der eigentümlich sozialen Dimensionen dieser Phänomene, unter zusätzlichem Einschluss des Wollens. Der vorliegende Band ist demgemäß als ein Beitrag zur fortschreitenden Entfaltung des zuvor skizzierten social turn intendiert. Für diese Zwecke erscheint ein multiperspektivischer Zugang angemessen, mittels dessen die Möglichkeiten und Grenzen einer Analyse der Dimension des Sozialen im Bereich der untersuchten Phänomene auf verschiedenen Ebenen deutlich werden können. Folgende Perspektiven finden dabei im vorliegenden Band besondere Berücksichtigung: (i) Fühlen, Wollen und Handeln werden in der gegenwärtigen Forschung v. a. von zwei zeitgenössischen Strömungen intensiv diskutiert, nämlich von der analytischen Philosophie und der Phänomenologie. Diese Zugänge sind durchaus verschieden und stehen partiell auch in einem Konkurrenzverhältnis zueinander: Während analytische Philosophen ihr Hauptaugenmerk meist auf das begriffliche Verständnis der Phänomene im Ausgang von einer Untersuchung ihrer verschiedenen Formalobjekte richten und möglichst umfassende Klassifikationen erarbeiten möchten, geht es der Phänomenologie stärker um eine Analyse der qualitativen Erfahrung dieser Zustände (nicht zuletzt in ihrer leiblichen Verankerung). Aufgrund des produktiven Spannungsverhältnisses zwischen analytischem und phänomenologischem Philosophieren liegt ein Schwerpunkt des Bandes auf diesen beiden Strömungen und den durch ihre Konkurrenz aufgeworfenen Debatten. (ii) Daneben soll auch die historische Tiefendimension der Problemformulierung und -analyse mitbedacht werden. Denn sowohl die Desiderate der inhaltlichen Erörterung als auch die individualistische Grundorientierung der Philosophie des Fühlens, Wollens und Handelns scheinen mit historisch tief
Vgl. exemplarisch Döring 2009 (für Gefühle) und Horn/Löhrer 2010 (für Handlungen).
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verwurzelten Intuitionen zusammenzuhängen. Trotzdem stellt sich die Frage, inwieweit nicht doch auch schon im philosophiegeschichtlichen Kontext Ressourcen zu einer sozialen Sichtweise dieser Phänomene bereit liegen. (iii) Gerade in ihrer sozialen Perspektivierung und Fundierung sind Fühlen, Wollen und Handeln natürlich keineswegs allein Gegenstand der Philosophie. Insbesondere die empirische Erforschung dieser Phänomene hat in den letzten Jahren signifikante Fortschritte ermöglicht. Um dieser interdisziplinären Dimension zumindest ansatzweise Rechnung zu tragen, kommen auch gezielt Forschungen aus dem Kreis der Soziologie zu Wort, die ohnehin diese Themen in regem Kontakt mit der Philosophie entfalten. Mittels dieser methodisch unterschiedlichen Reflexionsansätze, die sich allerdings vielfältig berühren, lassen sich die Phänomene von Fühlen, Wollen und Handeln in ihren genuin sozialen Dimensionen auf fruchtbare Art und Weise neu modellieren, wie die nachfolgend kurz vorzustellenden Beiträge belegen.
3 Die Beiträge dieses Bandes Die Sektion zum Thema Fühlen wird eröffnet von Christoph Demmerling, der die unterschiedlichen philosophischen Ansätze zur Konzeptualisierung von Gefühlen kritisch diskutiert: Die Grenzen des innerhalb der Philosophie des Geistes dominanten individualistischen Paradigmas werden vor Augen geführt, indem für Gefühle gezeigt wird, dass sich diese nicht ausschließlich im Rückgriff auf intrinsische Eigenschaften eines Individuums bestimmen lassen, sondern auf konstitutive Weise mit sozialen Praktiken zusammenhängen. Demmerling tendiert also zu der oben skizzierten stärkeren These, gemäß der Gefühle in ihrem Grundgehalt soziale Phänomene sind – und zwar zum einen, weil man sie mit anderen Personen teilen kann, und zum anderen, insofern sie geteilte Perspektiven und Erwartungen voraussetzen, die sich vor allem in Gefühlsnormen manifestieren. In eine ähnliche Richtung weisen die emotionssoziologisch fundierten Überlegungen von Rainer Schützeichel, der Gefühle in den handlungstheoretischen Kontext einbettet, indem er einen konstitutiven Zusammenhang zwischen Emotionen, Handlungskonfigurationen und Intentionsformen konstatiert. Er differenziert dabei zwischen verschiedenen Formen der Sozialität der Emotionen, die sich danach unterscheiden lassen, ob ein Akteur in einem Modus der IchIntentionalität („Ich-Modus“) oder in einem Modus der Wir-Intentionalität („WirModus“) agiert. Im „Ich-Modus“ handelt ein Akteur, wenn er sich intentional auf die Emotionen (und damit auf die Wünsche und Überzeugungen) eines anderen
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Akteurs bezieht; im „Wir-Modus“ handelt er, wenn er sich als Mitglied einer Gruppe oder Gemeinschaft betrachtet. Rainer Hastedt vertritt schließlich dezidiert die starke Lesart einer überindividuellen bzw. sozialen Konstitution von Gefühlen, die in ihrer prinzipiellen Sprachlichkeit wurzelt, ohne darin vollkommen aufzugehen. Ausgehend von Wittgensteins anti-cartesianischem Privatsprachenargument lässt sich das Soziale der Gefühle als Konstitutionsbeziehung verstehen: Gefühle sind nicht einfach authentisch vorhanden, sondern basieren immer schon auf sozialen Interpretationen. Selbst die von Phänomenologen in den Mittelpunkt des Gefühlsverständnisses gerückte Leiblichkeit hat nach Hastedt letztlich soziale Bezüge – ebenso wie das Gehirn als soziales Organ verstanden werden kann. Während die ersten drei Beiträge der grundlegenden Frage nach der konstitutiven Sozialität von Gefühlen überhaupt gewidmet sind, wenden sich die drei nachfolgenden der begrifflichen und phänomenologischen Analyse spezifisch sozialer Gefühle zu. Den Auftakt macht die Auseinandersetzung von Christoph Horn mit der Konzeptualisierung der Liebe. Hier werden zuerst die verschiedenen Redeweisen von „Liebe“ bzw. „lieben“ semantisch seziert, um auf dieser Grundlage einen Katalog von Anforderungen an eine angemessene philosophische Theorie der Liebe zu formulieren. Diese Überlegungen fundieren die kritische Würdigung verschiedener Ansätze in der gegenwärtigen Debatte, nämlich der Emotions-, der Anerkennungs- und der Volitionstheorien. Im Ergebnis stellt Horn fest, dass eine Intersubjektivitätstheorie der Liebe (im Anschluss an Nozick) dem Phänomen ebenso wie den begrifflichen Anforderungen in diesem Bereich am Besten gerecht wird. Diese Überlegenheit liegt nicht zuletzt darin begründet, dass nur Intersubjektivitätstheorien das Moment der Gemeinschaftlichkeit als fundamentales Moment von Liebe überhaupt adäquat erfassen: Durch intensive wechselseitige Perspektivübernahme bildet sich zwischen den Liebenden ein genuines „Wir“ heraus. Gilt Liebe als Inbegriff einer positiven Emotion, so stehen am anderen Ende der Skala ausgeprägt negative soziale Gefühle. Sonja Rinofner-Kreidl wendet sich exemplarisch der Phänomenologie zweier solcher, eng miteinander verbundener Emotionen zu: dem Neid und dem Ressentiment. Dabei liegt der Fokus zuerst auf den Selbst- und Fremdverhältnissen, die sich in Neidgefühlen manifestieren. Auf einer existenziell-zeitlichen Ebene wird hier folgende Struktur verdeutlicht: Ich beneide den anderen um mein Leben, nämlich um das Leben, das ich gehabt haben könnte. Dabei kommt auch die Erscheinung des kollektiven Neids zur Sprache. Darauf aufbauend werden – im Anschluss an Scheler – die dynamischen Aspekte von Neidgefühlen im Kontext der Ressentimentbildung untersucht, wobei das Umschlagen von Neid in Hass besondere Berücksichtigung findet.
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Während Hass und Neid eine affektive Distanzierung des Gefühlsträgers gegenüber der gehassten bzw. beneideten Person intendieren, steht Empathie für eine nach- bzw. mitvollziehende emotionale Einstellung gegenüber anderen. EvaMaria Engelen konturiert Empathie in ihrem Beitrag – unter Berücksichtigung neuerer evolutionsbiologischer und neurowissenschaftlicher Befunde – als soziales Phänomen, nämlich als affektive Perspektivübernahme, die eine soziale Orientierung ermöglicht. Empathievermögen ist dabei generell nicht unabhängig von den Emotionen zu sehen, auf die es sich bezieht. Die Identifizierung und Semantisierung dieser Gefühle geht ihrerseits grundsätzlich in sozialen Zusammenhängen vor sich. Der gerade in normativer Sicht erforderliche Erwerb des Empathievermögens erfolgt deshalb auch gemeinsam mit der Einübung der menschlichen Grundemotionen. Die Konsequenzen aus dem fehlenden bzw. unterentwickelten Erwerb des Empathievermögens zeigen sich besonders deutlich bei Psychopathen, die zwar über hinreichend ausgeprägte rationale Fähigkeiten zum Verständnis der von ihnen verletzten Normen verfügen, aber unter einer empathischen Farbenblindheit leiden. Auf der Basis solcher klinischen Befunde und anderer empirischer Evidenzen untersucht Julius Schälike, welche Rolle Gefühle für das soziale Leben – insbesondere in Gestalt der gesellschaftlich vermittelten Aneignung von Moral – spielen. Die metaethisch motivierte Ausgangsfrage lautet dabei, ob moralische Normen in Emotionen (Sentimentalismus) oder in der Vernunft (Rationalismus) gründen. Auf der Basis vielfältiger wissenschaftlicher Erkenntnisse zur moralischen Urteilsbildung im Alltag kritisiert Schälike verschiedene rationalistisch imprägnierte ethische Ansätze (Kontraktualismus, Kantianismus und Utilitarismus) und plädiert im Gegenzug für eine sentimentalistische normative Ethik. Die dem Thema Wollen gewidmete Abteilung wird mit zwei Beiträgen eröffnet, die sich mit defizienten Erscheinungen dieses Phänomens beschäftigen: Zuerst entwickelt Rainer Paris für das blockierte Wollen eine soziologisch fundierte Theorie der Ratlosigkeit als eines elementaren Gefühls von Orientierungslosigkeit und sozialer Isolation. Der Ratlose ist gleichsam „eingemauert“ in die Perspektive und Problemsicht, die er mitbringt und von der er nicht abrücken kann; guter Rat muss deshalb versuchen, diese Restriktion zu durchbrechen und die Wahrnehmung des Ratsuchenden zu flexibilisieren. Für eine Überwindung der Ratlosigkeit ist es weiterhin nötig, dass der diffuse Wunsch nach Problemlösung durch Überlegen in einen konturierten und verstetigten Willen überführt wird. Um diesen Prozess näher zu beschreiben, wird eine Unterscheidung von Ratlosigkeit, Ratbedürftigkeit und Ratsuche vorgeschlagen. Abschließend wird nach dem Verhältnis von individueller und kollektiver Ratlosigkeit gefragt, mit dem Ergebnis, dass die
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existenzielle Qualität der Ratlosigkeit letztlich doch auf das Individuum beschränkt bleibt. Während das durch Ratlosigkeit blockierte Wollen trotz seiner notwendigen sozialen Therapie demnach eher individualistisch zu konzipieren ist, konturiert Jörn Müller das klassische Problem der Willensschwäche als inhärent soziales Phänomen. Wie sich im Anschluss an Aristoteles zeigen lässt, erfolgt die Zuschreibung von Willensschwäche wesentlich über eine sozial bestimmte Normerwartung, die sich an der einem normalen Akteur grundsätzlich zu unterstellenden Fähigkeit zur Selbstkontrolle orientiert. Über diese sozialen Erwartungshaltungen lassen sich sowohl ein gehaltvoller Begriff des Willens als auch ein normatives Modell von Willensstärke und -schwäche entwickeln. Willensschwäche ist als Eigenschaft von Personen so zwar kein ausschließlich durch soziale Zuschreibung konstituiertes Phänomen, aber eine überzeugende Explikation von Willensschwäche als Erklärungs- und Zuschreibungsbegriff kann in deskriptiver wie auch in normativer Hinsicht ohne Berücksichtigung ihrer sozialen Dimension nicht geleistet werden. Dies belegt auch die bei willensschwachem Handeln grundsätzlich involvierte Freiheitsbedingung, die auf gesellschaftlich definierte Erwartungshaltungen bezogen ist. Dem für willenschwaches Handeln notwendig vorausgesetzten Konzept von individueller Freiheit widmet sich in sozialphilosophischer Perspektive Thomas Buchheim im Anschluss an Überlegungen von Leibniz, Schelling, Kant und Hegel. Aus fünf definitorischen Merkmalen der individuellen Freiheit werden dabei vier Argumente für die essentielle Sozialität individuell freien Handelns entwickelt. Handlungs- und Willensfreiheit werden diesem Ansatz zufolge grundsätzlich unter den Bedingungen der sozialen Existenz des Menschen aktualisiert. Dies umfasst neben der sozial kenntlichen sprachanalogen Formulierung des Handelns und der Herstellung eines Zusammenhangs der individuellen Aktivitäten mit allgemein vorgegebenen Normen v. a. den Aspekt, dass die Person in ihrer freien Handlung sich immer auch an anderer und andere an ihrer Stelle denkt. Die Sozialität der Freiheit liegt somit wesentlich darin, dass das Individuum nur in Stellvertretung von möglichen anderen frei handelt. Der Frage, ob sich über eine stets sozial zu denkende Willens- und Handlungsfreiheit des Individuums hinaus auch hinsichtlich der Trägerschaft sinnvoll von einem genuin pluralen Wollen sprechen lässt, widmet sich der Beitrag von Karl Mertens: Können soziale Entitäten wie Gruppen, Gemeinschaften und Institutionen wirklich etwas wollen, oder ist die Verwendung von Willensbegriffen in diesem Kontext eine bloße Redeweise, die auf oberflächlichen Analogien mit dem individuellen Wollen beruht? Hierbei wird einerseits dafür argumentiert, dass es kooperative Handlungen gibt, die auf einem individuell vielfältigen (pluralen) Wollen der beteiligten Akteure beruhen; die Gemeinsamkeit des Wollens ergibt
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sich dabei allenfalls als Ergebnis der Interaktionen. Demgegenüber wird andererseits zu zeigen versucht, dass sich bestimmte Formen des sozialen Handelns, nämlich kollektives und institutionelles Handeln, nur verstehen lassen, wenn man bei ihrer Analyse auf ein überindividuelles Wollen rekurriert. Der so greifbar werdenden kollektiven Intentionalität entspricht auf der atmosphärischen Ebene auch ein phänomenal erfahrbares volitionales Gemeinschaftsgefühl. Der Rekurs auf intentionale Zustände, die Wollen und Handeln miteinander verknüpfen, ist eine Kennmarke der analytischen Handlungstheorie, der jedoch immer noch der Vorwurf eines einseitigen Individualismus zu machen ist. Dies weist David Schweikard nach, der sich in seinem Beitrag zwei intentionalen Einstellungen widmet, nämlich unseren Überzeugungen und Absichten. Dabei setzt er sich kritisch mit der Epistemologie des Zeugnisses anderer und der eigenen Erinnerung bei Burge sowie mit dem Verhältnis von individueller und sozialer Handlungskoordination bei Bratman auseinander. Die in diesem Zusammenhang aufgedeckten Defizite münden in ein nachhaltiges Plädoyer gegen den immer noch spürbaren Solipsismus dieser Modelle und für die irreduzible Sozialität bestimmter intentionaler Einstellungen. Das Verhältnis von Akteurschaft und Intentionalität auf überindividueller Ebene bildet auch die Brücke zu den Beiträgen der dritten Sektion, die dem Handeln in seinen sozialen Dimensionen gewidmet sind. Dabei bestimmt Christine Chwaszcza im Anschluss an Anscombe kollektive Intentionalität über die kognitive Struktur kollektiven Handelns. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die Analyse von Elementen genuin praktischen Wissens kollektiver Intentionalität. Zur Klärung der phänomenalen Bestimmung dieses Konzepts wird dabei sowohl eine spezifische Struktur kollektiven Handelns von anderen Formen interaktiven und fremdbezogenen Handelns unterschieden als auch der Begriff des praktischen Wissens näher bestimmt. In Anknüpfung daran identifiziert Chwaszcza Elemente praktischen Wissens in der Durchführung und der Organisation kollektiven Handelns und grenzt ihre Analyse von den Ansätzen bei Bratman und Gilbert ab. Um die intentionalen Zustände, die beim gemeinsamen Handeln involviert sind, kreist auch der Beitrag von Hans Bernhard Schmid, der sich mit der Frage beschäftigt, mit welchem Hintergrundbewusstsein einzelne Personen ihren Beitrag zu einem gemeinschaftlichen Tun leisten. Die verschiedenen Versuche, die involvierte kollektive Intentionalität in kognitivistischer Manier allein auf geteilte Überzeugungen oder in normativistischer Perspektive auf gegenseitige Erwartungen zu reduzieren, erweisen sich dabei als unzureichend. Anhand eines anschaulichen Beispiels für eine regelmäßig scheiternde Kooperation, bei welcher der stets von neuem enttäuschte Partner – Charlie Brown aus den Peanuts –
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gleichwohl unverdrossen immer wieder einen weiteren Anlauf unternimmt, zeigt Schmid, dass hier Vertrauen als affektive Grundhaltung im Spiel sein muss. Erst diese Macht des Vertrauens gewährleistet die Integration der kognitiven und normativen Elemente des Gemeinschaftshandelns. Explizit gegen den kausalistischen Mainstream in der analytisch geprägten Theorie der Erklärung gemeinsamen Handelns offeriert Guido Löhrer eine teleologische Alternative. Im Zentrum seiner Analyse stehen Handlungen, die eine einzelne Person gar nicht ausführen kann, weil sie von einer kategorialen Struktur des Gebens und Nehmens gekennzeichnet sind. Während die kausalistische Fraktion ein solches Tun über gemeinsam handlungsverursachende Wir-Intentionen und koordinierte individuelle Teilintentionen erklärt, beschreitet Löhrer einen non-kausalistischen Weg: Der teleologische Ansatz erklärt ein Handeln, indem er das Ziel angibt, auf das die Akteure ihr Verhalten gerichtet haben. Der handlungserklärende Grund für eine gemeinsame Handlung ist dann das beste Ziel, das – im Lichte einer Hintergrundtheorie beurteilt – in der Situation durch gemeinsames Handeln erreichbar ist und für dessen Realisierung dieses gemeinsame Handeln die angemessenste Strategie darstellt. Paradigmatische Beispiele für Träger eines solchen gemeinsamen Handelns sind zweifelsohne Freunde, die etwas zusammen tun. Der Beitrag von Ludger Jansen widmet sich in normativer Perspektive primär der Frage nach dem möglichen Verpflichtungsgrund, auf dem individuelle Handlungen gegenüber Freunden ruhen. Auf der Basis einer sozialontologischen Analyse wird gezeigt, dass Freundschaften nicht auf einer Ebene mit formellen Institutionen (wie z. B. Ehen) anzusiedeln sind, denen bestimmte Pflichten gewissermaßen zwingend eingeschrieben sind. Da auch diverse andere Versuche zur Begründung von basalen Freundschaftspflichten letztlich nicht zu überzeugen vermögen, plädiert Jansen dafür, Freundschaften als informelle Institutionen zu verstehen, die sich nicht auf einer kontraktualistischen Ebene erfassen bzw. in Form zwingender wechselseitiger Obligationen ausmünzen lassen. Geht es bei der Frage nach Freundespflichten um das Problem der sozialen Reichweite einer deontologisch verstandenen Moral, so thematisiert Monika Betzler verschiedene Arten des Unmoralischen (wie pervertierte Bosheit, Bosheit aus Neigung, moralische Schwäche, moralische Gleichgültigkeit, moralische Fahrlässigkeit und Amoralität), die sich durch unterschiedliche Motivationslagen der Täter voneinander unterscheiden lassen. Anhand eines Beispiels aus der Literatur – der Figur Hanna aus Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser – konturiert Betzler im Rekurs auf vier Merkmale eine besondere, weitgehend unberücksichtigte Form des Unmoralischen: die sekundäre Amoralität, die sich auch als eine Form von unabsichtlicher Bosheit charakterisieren lässt. Sie entwickelt sich in einem unmoralischen sozialen Umfeld, das die individuelle moralische Wahr-
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nehmung erodiert; das von ihr getragene Handeln erweist sich so als ein genuin soziales Phänomen. Unter Verwendung psychologischer Studien zeigt Betzler, dass sekundäre Amoralität insbesondere in kollektiv begangenen Gräueltaten eine wesentliche Rolle spielt. Auf diese Weise wird die individuelle Moralpsychologie von sogenannten Mitläufern in unmoralischen Kollektivtaten luzide. Eine traditionell starke Interpretation des sozialen Charakters von Handlungen vertritt der Askriptivismus im Anschluss an Hart, insofern interpersonale Zuschreibungen hier als konstitutiv für Handlungen – in Abgrenzung von Verhalten – betrachtet werden. Wie man den Askriptivismus fruchtbar mit der modernen Sprechakttheorie verbinden kann, zeigt der Beitrag von Markus Heuft. Das tertium comparationis ist hierbei die prinzipielle Schwierigkeit beim Verstehen bzw. richtigen Deuten unserer kommunikativen und nicht-kommunikativen Praxis. In bewusster Abgrenzung von Searles semantischer Vereindeutigung von Sprechakten wird im Anschluss an Austin und Weiser der irreduzibel pragmatische und mehrdeutige Charakter von sprachlichen Äußerungen als interaktiven Handlungen hervorgehoben. Es ist nach Heuft gerade die Parallelität zwischen sprachlichem und nicht-sprachlichem Handeln in Bezug auf ihre Offenheit für mehrere, freilich nicht absolut willkürliche Deutungsoptionen, die den Askriptivismus nicht nur als spezifische Handlungstheorie, sondern auch als generelle Folie zum Verständnis unserer gesamten sozialen Praxis attraktiv erscheinen lässt. Im abschließenden Beitrag von Holger Maaß wird die Frage nach dem sozialen Charakter von Wissen bzw. wissenschaftlicher Praxis thematisiert. Dieses Problem wird unter Rekurs auf die zentrale Bedeutung der publizierten Texte im Funktionssystem der Wissenschaft als Frage nach dem sozialen Charakter wissenschaftlicher Texte analysiert. Im Anschluss an den wissenssoziologischen Ansatz von Mannheim vertritt Maaß die These, dass wissenschaftliche Texte neben ihrer normalen sachorientierten Aussagerichtung in ihrer thematischen Entfaltung und kategorialen Apparatur eine weitere Aussageebene enthalten, auf der sie sich Grundtypen der intentionalen Gestaltung des sozialen Raums zuordnen lassen. Dieser theoretische Ansatz wird anhand von exemplarischen Textanalysen zum existenzphilosophischen Denken (u. a. bei Heidegger, Jaspers und Simmel) konkretisiert und praktisch erprobt.
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Christoph Demmerling
Geteilte Gefühle? Überlegungen zur Sozialität des Geistes Gefühle werden häufig als psychische Zustände einzelner Individuen angesehen. Auch in der neueren, inzwischen breit ausdifferenzierten Debatte zur Philosophie der Gefühle hat man lange an dieser Auffassung festgehalten. Sowohl im Rahmen von gelegentlich so genannten kognitiven Theorien, denen zufolge die Charakterisierung von Gefühlen vorrangig bei den Überzeugungen anzusetzen hat, die mit Gefühlen verbunden sind, als auch im Kontext von Empfindungstheorien, welche die körperliche Erfahrung bzw. das phänomenale Erleben von Gefühlen in den Mittelpunkt rücken, wurde die Voraussetzung, dass es sich bei Gefühlen um Zustände einzelner Individuen handelt, zunächst nicht in Frage gestellt.¹ Lediglich vereinzelt – zu einem relativ frühen Zeitpunkt bereits in der phänomenologischen Tradition, mehr und mehr dann aber auch in anderen theoretischen Strömungen – ist darüber diskutiert worden, ob und in welchem Sinne Gefühle geteilt werden können und ob sie in diesem Sinne über das einzelne Individuum
Die Einteilung in kognitive Ansätze und Empfindungstheorien ist mit Blick auf die gegenwärtige Diskussionssituation nicht mehr ganz angemessen. Als Beispiel für eine kognitive Theorie, die Gefühle eng an Urteile bindet, wird häufiger auf Kenny 1963 und Solomon 1993 verwiesen. Im Zusammenhang mit einer Empfindungstheorie wird immer wieder James 1884 angeführt. In der Gegenwartsdiskussion dürfte Prinz 2005 der prominenteste Vertreter einer raffinierten Version der Empfindungstheorie sein. Freilich gilt für die neuere Diskussion insgesamt, dass die genannten Theorietypen kaum mehr in Reinform vertreten werden, so dass man nicht nur auf raffinierte Versionen der Empfindungstheorie stößt, sondern auch mit Verfeinerungen kognitiver Ansätze konfrontiert ist; zu denken ist beispielsweise an Nussbaum 2001. Die Kennzeichnung ‚kognitive Theorien‘ ist aber letztlich – unabhängig von der Frage, ob feine oder krude Versionen dieses Theorietyps vertreten werden – zu grob, da der zentrale Gedanke derartiger Theorien darin besteht, dass es sich bei Gefühlen um eine bestimmte Art von propositionalen Einstellungen handelt. Was dies genau und im Einzelnen heißt, wird jeweils unterschiedlich beantwortet. Der Ausdruck ‚kognitiv‘, der seine Heimat in der Psychologie und in den Kognitionswissenschaften hat, trifft den relevanten Sachverhalt nicht bzw. ist zu ungenau. Wenn es sich bei einem Gefühl um eine Einstellung zu einer Proposition handelt, dann ist zwar eine Proposition involviert. Wie die Einstellung gegenüber der betreffenden Proposition zu charakterisieren ist, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Ob sie ‚kognitiv‘ ist oder nicht, hängt von der Verwendung des Ausdrucks ‚kognitiv‘ ab. Eine Einstellung gegenüber einer Proposition muss jedenfalls nicht ihrerseits eine Proposition oder propositional verfasst sein, ein Umstand, der durch die mehrdeutige Rede von ‚propositionalen Einstellungen‘ zumeist verdunkelt wird. Besser wäre es, von ‚Einstellungen gegenüber Propositionen‘ zu sprechen.
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hinausreichen.² Eine positive Antwort auf diese Fragen lässt sich auf den ersten Blick nur schwer mit der traditionellen und in der Philosophie ebenso wie im Alltag verbreiteten individualistischen Vorstellung in Einklang bringen, dass es sich bei Gefühlen um subjektive Phänomene handelt, die in die Innenwelt geistbegabter Wesen gehören. Mit meinen folgenden Überlegungen möchte ich für die These plädieren, dass Gefühle soziale Phänomene sind. Die Rede von der Sozialität der Gefühle lässt sich auf mindestens drei Weisen verstehen: Gefühle sind im trivialen Sinne sozial, insofern sie in besonderer Form auf andere Personen bezogen sein können. Als sozial lassen sie sich aber auch deshalb ansehen, weil man sie mit anderen Personen teilen kann. Und sie sind in einem weiteren Sinne sozial, da sie geteilte Perspektiven und Erwartungen voraussetzen. Sollten sich die zweite und dritte Behauptung als richtig erweisen, hätte das nicht nur für die Philosophie der Gefühle, sondern auch für große Teile der neueren Philosophie des Geistes weitreichende Folgen. Die Grenzen des auf diesem Gebiet gegenwärtig immer noch dominanten individualistischen Paradigmas könnten einmal mehr vor Augen geführt werden, wenn sich auch (und sogar) für Gefühle zeigen ließe, dass sich diese nicht ausschließlich im Rückgriff auf intrinsische Eigenschaften eines Individuums bestimmen lassen, sondern auf konstitutive Weise mit sozialen Praktiken zusammenhängen. Der erste Teil dieses Beitrags präsentiert eine kurze Skizze zur Philosophie der Gefühle (1). Im zweiten Teil geht es um die Frage, was es heißt, ein Gefühl zu teilen (2). Der dritte Teil schließlich erörtert die weiterreichende These, dass Gefühle mit geteilten Perspektiven und Erwartungen einhergehen. Gefühle können nicht nur auf andere Personen bezogen sein, sie lassen sich nicht nur mit anderen teilen, sondern sie sind immer schon eingebettet in ein Geflecht aus normativen Relationen. Deshalb sind sie von Grund auf sozial (3). Ein Ausblick benennt offene Fragen und skizziert die Konsequenzen meiner Überlegungen für die Philosophie des Geistes (4).
Stellvertretend für die ältere Phänomenologie verweise ich auf Scheler 1985 und Walther 1923, für die neuere Phänomenologie auf Schmitz 2011. Zur aktuellen Debatte vgl. u. a. die Arbeiten von Gilbert 2002, Helm 2008, Konzelmann 2009, Sánchez Guerrero 2011, Schmid 2008, Sugden 2002.
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1 Philosophie der Gefühle – eine Skizze³ Der Ausdruck „Gefühl“ wird in der neueren Diskussion in mindestens zwei Bedeutungen gebraucht. Gelegentlich wird er im weiteren Sinne eines generellen Terminus verwendet. Man bezieht sich mit ihm auf die gesamte Klasse der affektiven Phänomene, auf Empfindungen, Stimmungen und Emotionen, um zu akzentuieren, dass affektive Phänomene mit einer qualitativen Dimension bzw. einem phänomenalen Erleben einhergehen. In oder mit einem Gefühl wird etwas gefühlt. Mit dem Ausdruck „Gefühl“ bezieht man sich im engeren Sinne (und umgangssprachlich) aber auch auf komplexe affektive Phänomene wie „Trauer“, „Furcht“ oder „Neid“, die in der laufenden Diskussion häufig mit dem bildungssprachlichen Ausdruck „Emotion“ bezeichnet werden. Ich gebrauche den Ausdruck „Gefühl“ vorrangig in diesem engeren Sinn. Mit dem Ausdruck „Empfindung“ bezeichne ich körperliche Empfindungen wie einen Juckreiz oder Schmerzen. Um mich auf den Umstand zu beziehen, dass Empfindungen und Gefühle erlebt werden und dem Zugriffsbewusstsein auf eine bestimmte Weise gegenwärtig sind, spreche ich von der qualitativen Dimension bzw. dem phänomenalen Erleben eines Gefühls oder einer Empfindung. In der gegenwärtigen philosophischen Debatte werden Gefühle häufig ähnlich wie Gedanken als geistige Zustände oder Prozesse aufgefasst. Gefühle sind jedoch keine geistigen Zustände oder Prozesse, sondern Weisen, sich zur Welt zu verhalten. Sie unterscheiden sich in spezifischer Form von anderen Weisen, in der Welt da zu sein, Zugang zur Welt zu haben und sich auf sie zu beziehen. Anders als Gedanken stellen Gefühle Erlebnisse dar, die eine phänomenale Qualität besitzen und aus der Perspektive dessen, der sie hat, auf eine bestimmte Weise erfahren werden. Es würde eigenartig klingen zu sagen „Ich fürchte mich, spüre das aber nicht“. Anders als die Gedanken, dass zwei und zwei vier ergibt, oder Konstanz eine Stadt am südlichen Rand Baden-Württembergs ist, sind Gefühle mit phänomenalen Qualitäten verbunden. Zwar finden sich Autoren, die bestreiten, dass es zu den notwendigen Bedingungen für das Haben oder die Zuschreibung eines Gefühls gehört, dass das Gefühl verspürt wird. Peter Goldie etwa unterscheidet körperliche Gefühle (bodily feelings) von Emotionen (emotions), und er verteidigt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass man Emotionen haben kann, ohne sie zu verspüren.Was aber kann das heißen? Sinnvoll verstanden – und auch die Formulierungen Goldies legen das nahe – heißt es, dass man Emotionen haben kann, ohne sich ihrer reflexiv bewusst zu sein, weil man beispielsweise auf etwas
Meine Überlegungen knüpfen an ältere Überlegungen von Demmerling 2004 und Demmerling/Landweer 2007 an; die Skizze findet sich in ähnlicher Form in Demmerling 2013.
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anderes konzentriert ist, weil man in Eile ist oder andere Sachverhalte der Konzentration auf die Emotion entgegenstehen.⁴ Der Umstand, dass Emotionen nicht gefühlt werden, ist allerdings von der Tatsache zu unterscheiden, dass sie nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen müssen. Man kann Gefühle haben, ohne über sie nachzudenken. Das ist nicht zu bestreiten. Aber das heißt nicht, dass man sie haben kann, ohne sie auf irgendeine Weise zu fühlen. Auf welche Weise und in welcher Gestalt dies im Einzelnen auch immer der Fall ist: Gefühle müssen sich im Erleben des Fühlenden manifestieren. Auch für nicht-, vor- oder unbewusste Gefühle gilt eine Manifestationsforderung.⁵ Gefühle sind aber nicht nur von Gedanken bzw. Überzeugungen zu unterscheiden, sondern auch von bloßen Empfindungen wie einem Schmerz. Denn anders als Empfindungen haben Gefühle (und darin gleichen sie eher Gedanken) einen Inhalt, sie sind auf Sachverhalte oder Objekte bezogen. Gedanken, aber auch Gefühle werden deshalb in der Regel als Phänomene aufgefasst, welche die Eigenschaft der Intentionalität besitzen. Intentionalität weist der Gedanke auf, der sich mit dem Satz „Wale sind Säugetiere“ ausdrücken lässt, weil er auf die Tatsache bezogen ist, dass Wale Säugetiere sind. Intentionalität weist die Furcht des Kandidaten vor dem Examen auf, da sie auf die Prüfung und ihre möglichen Schwierigkeiten gerichtet ist. Bloße Empfindungen hingegen weisen keine Intentionalität auf, sie sind auf nichts gerichtet. Ähnlich wie Brentano, der Intentionalität als maßgebliches Merkmal psychischer Zustände angesehen hatte, gehen zwar einige Autoren davon aus, dass alle so genannten geistigen Zustände, also beispielsweise auch Empfindungen wie Schmerzen, Intentionalität besitzen, aber dies hängt mit einem problematischen, zu breiten und ungenauen Gebrauch des Begriffs der Intentionalität zusammen. Gefühle sind auf Objekte oder Sachverhalte in der Welt bezogen, für Empfindungen im Allgemeinen gilt dies nicht. Mit der Auffassung, dass körperliche Empfindungen wie Schmerzen auf den Körper bezogen sind, von ihm handeln, er das Objekt der Empfindung ist, ist zwar ein richtiger Gedanke verbunden, aber
Vgl. zum Beispiel Goldie 2000, 62 ff. Die Frage danach, ob man ein Gefühl verspüren muss, um berechtigterweise davon zu sprechen, dass man ein Gefühl hat, führt zu Ende gedacht zu dem Problem, ob man überhaupt unbewusste Gefühle haben kann. Im Alltag gehen wir häufig davon aus, dass Personen unbewusste Gefühle haben können bzw. ihre Gefühle mit Hilfe anderer Gefühle oder mit Hilfe von Gedanken verdrängen oder überlagern. Alles das möchte ich nicht bestreiten. Was ich bestreite, ist, dass man ein Gefühl haben kann, ohne etwas zu verspüren. Auch für unbewusste Gefühle muss es Indizien geben, und zwar auch auf der Seite des Subjekts. Vgl. die knappe Diskussion bei Demmerling/Landweer 2007, 283.
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aufs Ganze gesehen ist der Hinweis nicht überzeugend.⁶ Der Schmerz im Knie ist nicht auf das schmerzende Knie bezogen, jedenfalls nicht in der Weise, in der ein Gefühl wie die Angst auf eine gefährliche Situation bezogen ist. Die Schmerzempfindung mag durch eine geschädigte Region am Körper in der Gegend des Knies verursacht sein, aber sie handelt nicht in derselben Weise von einer Körperregion wie eine Überzeugung, die auf eine Körperregion bezogen ist, von dieser handelt. Dies zeigt sich auch daran, dass wir im Fall von Überzeugungen und Gefühlen wie Angst oder Scham zwischen der Überzeugung bzw. dem Gefühl und demjenigen, wovon sie bzw. es handelt, unterscheiden können. Im Fall von körperlichen Empfindungen ist das nicht möglich,was nahelegt, dass Schmerzen und andere Empfindungen keine Objekte haben.⁷ Zumindest haben sie keine Objekte in dem Sinn, in dem Überzeugungen oder Gefühle wie Scham und Angst ein Objekt haben. Der richtige Gedanke freilich, der hinter der Auffassung steht, dass körperliche Empfindungen Objekte haben, bezieht sich auf den Umstand, dass Erlebnisse eine Funktion haben, aufgrund derer sie mit der Welt verbunden sind und uns mit der Welt verbinden. Qualitative Erfahrungen sind als Vollzüge lebendiger Wesen aufzufassen,vermöge derer sich diesen die Welt auf eine bedeutsame Weise präsentiert.⁸ Deshalb von der Intentionalität körperlicher Empfindungen zu sprechen, stellt gleichwohl eine irreführende façon de parler dar. Die unterschiedlichen Weisen, in denen Gedanken und Gefühle auf die Welt bezogen sind und Empfindungen uns mit der Welt verbinden, geraten dabei zu sehr aus dem Blick. Die Rede von der Intentionalität ist mit Blick auf die unterschiedlichen Typen des Weltbezugs auf differenzierte Weise zu handhaben. Auch wenn sich Überzeugungen und Gefühle das Merkmal der Intentionalität teilen, so ist der Weltbezug von Überzeugungen bzw. Gedanken und Gefühlen jeweils in unterschiedlicher Weise zu analysieren. Mit einem Gefühl ist man nicht einfach nur auf etwas gerichtet oder bezogen, sondern in diesem Bezogen-Sein geht es um etwas, jemand ist betroffen, und der Bezug manifestiert sich auf eine qualitative Art und Weise, er Vgl. zur Verteidigung der Auffassung, dass Empfindungen das Merkmal der Intentionalität aufweisen, Crane 1998. Cranes Hinweis, dass die Empfindung von Wärme oder Kälte von den Temperaturen in der Außenwelt handelt, ist nicht überzeugend, auch wenn es zweifellos zutrifft, dass diese Empfindungen durch die Temperaturen verursacht werden können. Die Zurückweisung der These, dass Körperempfindungen Intentionalität aufweisen, muss freilich nicht zu einer Ablehnung des Brentano-Kriteriums insgesamt führen. Crane hingegen scheint der Auffassung zu sein, dass Brentanos Kriterium nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn man auch Empfindungen als etwas betrachtet, was das Merkmal der Intentionalität aufweist. Näheres dazu führe ich aus in Demmerling 2011a, 16 ff.
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ist – wenn man so will – ein Spüren. Im Fall von Gefühlen sind der intentionale Aspekt und die qualitative Dimension von vornherein miteinander verwoben. Beide Aspekte können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Deutlich machen kann man sich dies mit Hilfe eines einfachen Beispiels. Wird jemandem erzählt, dass der Vater eines entfernten Bekannten gestern bei einem Autounfall gestorben ist, wird er vielleicht sagen „Aha, das wusste ich noch nicht“. Wird jemandem hingegen erzählt, dass der eigene Vater gerade bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, dann passiert etwas mit der betreffenden Person, was in der Regel weit über die Art von Reaktion hinausgeht, die der Satz „Aha, das wusste ich noch nicht“ darstellt. Von der Mitteilung über den Tod des eigenen Vaters ist man betroffen. Die Information über den Tod des eigenen Vaters zieht eine Reaktion nach sich, die sich mit deutlich wahrnehmbarer Intensität im Gesamterleben manifestiert und eine qualitative Dimension besitzt. Das Entsetzen und die Trauer über den Tod eines Menschen lassen sich als qualitatives Gewahrsein von etwas auffassen. Anders als ein bloßes GewahrWerden oder Sehen, welches in einer neutralen Perspektive erfolgt, ist das Gefühl der Trauer auf eine spezifische, eben qualitativ gehaltvolle Weise auf etwas gerichtet. Für diesen Umstand – man bezieht sich auf etwas im Lichte einer Emotion – hat sich inzwischen die Rede von einer affektiven Intentionalität eingebürgert. Gefühle bestehen nicht aus einer kognitiven Komponente, die für deren Weltbezug sorgt, und einem davon verschiedenen qualitativen Erleben. Vielmehr sind Gefühle als ganzheitliche Vollzüge lebendiger Wesen anzusehen. Durch sie wird etwas erfahren, was den Fühlenden auf eine spezifische Weise angeht, was ihn betrifft. Dadurch, dass man von etwas betroffen wird, tritt gleichzeitig ein Weltausschnitt in den Blick. Man kann es auch anders ausdrücken und sagen: Im Modus des Betroffen-Seins von etwas ist man mit einem Weltausschnitt verbunden. Im Fall von Gefühlen enthält der Bezug zur Welt bereits in sich eine affektive Dimension. Nun ist die Rede von der Intentionalität eines Gefühls vergleichsweise grob, und es ist wichtig, in diesem Zusammenhang verschiedene Aspekte voneinander zu unterscheiden. Anders als Gedanken sind Gefühle nicht einfach eindimensional auf Sachverhalte oder Gegenstände gerichtet. Charakteristisch für die affektive Intentionalität ist nämlich die Verflechtung verschiedener Bezüge. Gefühle sind nicht einfach nur auf ein Objekt gerichtet, vielmehr werden einem Gegenstand oder Sachverhalt dadurch, dass ein Gefühl auf ihn gerichtet ist, bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Das Gefühl der Furcht vor einem Hund ist auf den Hund gerichtet und wird als solches nur verständlich, wenn man dem Hund die Eigenschaft zuschreibt, gefährlich zu sein. Seit Anthony Kenny ist es üblich, die Eigenschaften, die einem Gegenstand auf der Grundlage eines Gefühls zugeschrieben werden, als formales Objekt des entsprechenden Gefühls zu bezeichnen.
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Im Fall meines Beispiels ist der Hund das Objekt des Gefühls, seine Gefährlichkeit ist als das formale Objekt anzusehen. Um die spezifische Form der Intentionalität eines Gefühls zu explizieren, müssen beide Arten von Objekten in den Blick genommen werden. Streng genommen ist noch genauer zu differenzieren. Gefühle sind auf ein Objekt oder Ziel gerichtet, sie haben ein formales Objekt und sie weisen einen Fokus der Bedeutsamkeit auf.⁹ Dass man den Bedeutsamkeitsfokus mit in die Analyse einbezieht, ist vor allem deshalb wichtig, weil nur so deutlich wird, dass die maßgebliche Rolle von Gefühlen darin besteht, uns zu vergegenwärtigen, was uns wirklich wichtig ist. Verdeutlichen wir uns diese Unterscheidungen mit Hilfe eines Beispiels. Der Kanzler einer Universität hat einen Fehler bei der Berechnung des Jahresbudgets gemacht. Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät erhält nun 15 % weniger Mittel, als ihr zustehen. Der Dekan hatte den Kanzler darum gebeten, bei der Berechnung aktuelle Kennzahlen zu berücksichtigen. Der Kanzler hat dies versäumt. Jetzt ist der Dekan wütend auf ihn. Der Kanzler ist das Ziel bzw. der Gegenstand der Wut des Dekans. Das formale Objekt des Gefühls ergibt sich aus der Bewertung des Ziels. Im Fall des Beispiels wird das achtlose Verhalten des Kanzlers als anstößig bewertet. Den Fokus der Emotion schließlich bildet das Budget, welches für den Dekan auf besondere Weise bedeutsam ist. Damit eine Emotion wie die Wut aufkommen kann, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein: Das Verhalten des Kanzlers muss in der Perspektive des Dekans anstößig erscheinen, und das Budget muss dem Dekan wirklich wichtig gewesen sein. Dieser Konzeption zufolge legen uns Gefühle auf andere Gefühle fest – auf ein umfassendes Muster anderer Gefühle –, die denselben Fokus der Bedeutsamkeit aufweisen. Zusammengenommen sollten die Emotionen mit einem gemeinsamen Fokus ein rationales Muster ergeben, sie müssen zueinander passen.¹⁰ Die Konzeption erlaubt es (dies will ich nur am Rande bemerken), die Frage nach der Angemessenheit von Gefühlen auf der Grundlage von Rationalitätsstandards zu prüfen. Zur Wut auf den Kanzler wegen des Budgets gehört die Freude, die sich einstellt, sollte eine angemessene Neuberechnung durchgeführt werden. Auch die Furcht davor, dass noch einmal falsche Zahlen verwendet werden könnten, passt in den Rahmen des betreffenden emotionalen Musters. Es wäre nicht nachvollziehbar und in diesem Sinne widersprüchlich, wenn der Dekan zwar wütend auf den Kanzler wäre, ihn eine Neuberechnung des Budgets aber gänzlich kalt ließe. Ich will es für den Augenblick bei dieser kleinen Skizze meiner grundsätzlichen
Ich knüpfe an einen Vorschlag von Helm 2001 an; vgl. auch Helm 2009. Vgl. auch dazu Helm 2001.
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Sicht der Dinge belassen. Auf die vorhin entwickelten Unterscheidungen komme ich später zurück.
2 Gefühle als soziale Phänomene: geteilte Gefühle Die Frage nach der Sozialität der Gefühle lässt sich – wie ich bereits zu Beginn bemerkt hatte – auf unterschiedliche Weise stellen und beantworten. Gefühle können sozial in dem Sinne sein, dass sie in besonderer Form auf andere Personen bezogen sind. Sie können sozial in dem Sinne sein, dass man sie mit anderen Personen teilt, wobei sich die Frage stellt, was es heißt, ein Gefühl mit einer anderen Person zu teilen. Gefühle lassen sich aber auch deshalb als soziale Phänomene ansehen, weil sie mit geteilten Perspektiven und Erwartungen einhergehen. Meine folgenden Bemerkungen thematisieren zunächst die ersten beiden Dimensionen der Sozialität von Gefühlen. Dass Gefühle sozial sind, sofern sie auf andere Personen bezogen sind, ist ein unstrittiger Umstand, der schnell abgehandelt werden kann. Liebe und Hass, Sympathie und Zuneigung, um nur einige Beispiele zu nennen, sind Gefühle, die in der Regel personale Objekte haben. Zwar kann man darüber streiten, ob die genannten Gefühle notwendigerweise personale Objekte haben müssen, oder ob sie sich nicht auch gegenüber nicht-personalen Objekten wie Landschaften, Kunstwerken oder Möbelstücken verspüren lassen, aber als einschlägig sind sicher diejenigen Fälle anzusehen, in denen sie personale Objekte haben. Und wer Liebe und Zuneigung gegenüber einem Kunstwerk oder Möbelstück verspürt, der behandelt diese Gegenstände wie personale Objekte. Alles in allem dürften die folgenden Bemerkungen kaum kontrovers sein: Liebe und Hass haben in der Regel personale Objekte, andere Gefühle können personale Objekte haben. Angst oder Ekel können personale Objekte haben, sie können aber auch nicht-personale Objekte haben. Sozial sind Gefühle, wenn sie personale Objekte haben. Ich möchte behaupten, dass (fast) alle Gefühle in diesem Sinne sozial sind bzw. sein können. Auch Gefühle, die in ihrer kanonischen Form eher auf die Personen, die sie haben, bezogen sein mögen, man denke etwa an den Stolz, können auf andere Personen bezogen sein. Hier handelt es sich um einen vergleichsweise trivialen Sinn der Rede von der Sozialität der Gefühle, mit dem ich mich im Folgenden nicht weiter befassen möchte. Philosophisch ungleich brisanter ist die Auseinandersetzung mit den anderen beiden der vorhin genannten Dimensionen. Gefühle können – ich komme zum zweiten Aspekt der Sozialität von Gefühlen – sozial in dem Sinne sein, dass man sie mit anderen Personen teilt. Die Frage, wie es überhaupt möglich ist und was es im Einzelnen heißt, eine Einstellung oder ein Gefühl zu teilen, wird in der neueren Philosophie im Zusammenhang mit der
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Debatte über „kollektive Intentionalität“ eingehend diskutiert.¹¹ Wie können Gedanken und Gefühle, die ja gemeinhin als Zustände von Individuen gelten, geteilt werden oder kollektiv sein? Es scheint prima facie einfacher zu sein, sich das Teilen eines Gedankens verständlich zu machen, als das Teilen eines Gefühls zu erklären. Im Fall von Gedanken könnte man einfach sagen, zwei Individuen teilen einen Gedanken, wenn sie einen Gedanken haben, der denselben Inhalt hat. Wenn Peter und Maria denken, dass ein Studium der alten Sprachen lohnenswert ist, dann hat ihr Gedanke denselben Inhalt und sie teilen den Gedanken, dass das Studium der alten Sprachen lohnenswert ist. Für Gedanken scheint es geradezu konstitutiv zu sein, dass man sie teilen kann. Ein Gedanke ist vermöge seines Inhalts, was er ist, und auf diesen muss man sich gemeinsam beziehen können. Außerdem ist der Inhalt eines Gedankens unabhängig von dem- oder denjenigen, der bzw. die ihn denken. So betrachtet ist bereits das parallele Haben eines Gedankens als ein Teilen des betreffenden Gedankens anzusehen. Im Fall von Gefühlen stellt sich der Sachverhalt des Teilens nicht ganz so einfach dar. Zwar haben auch Gefühle einen Inhalt und man könnte versucht sein zu sagen, dass zwei Individuen sich dann ein Gefühl teilen, wenn sie ein Gefühl mit demselben Inhalt verspüren. Wenn Peter und Maria Angst vor ihrem Examen haben, haben sie dann ein Gefühl mit demselben Objekt oder Inhalt? Das ist mit Sicherheit nicht der Fall, da sich Peter vor seinem Examen und Maria vor ihrem Examen fürchtet. Selbst für den Fall, dass Peter und Maria sich beide vor Marias Examen fürchten – nehmen wir an Peter ist gut mit Maria befreundet und fürchtet sich deshalb mit ihr – ist es nach Maßgabe meiner Beschreibung fraglich, ob es sich um dasselbe Gefühl handelt. Zu Gefühlen – so hatten wir gesehen – gehört eine qualitative Dimension.¹² Und diese scheint auf andere Weise als das Denken von Gedanken an Individuen gebunden zu sein. Zwar können Peter und Maria dem Typ nach ein ähnliches oder dasselbe Gefühl haben, aber in dem einen Fall
Vgl. dazu u. a. Gilbert 2002, Konzelmann 2009, Sánchez Guerrero 2011, Schmid 2008. Einen allgemeineren Überblick zur Diskussion über kollektive Intentionalität geben Schmid/Schweikard 2009. Gilbert 2002 hat eine Analyse vorgelegt, im Rahmen derer am Ende die im Zusammenhang mit einem Gefühl relevanten geteilten Überzeugungen (und Wünsche) dazu herangezogen werden, das Teilen eines Gefühls zu erklären. Dagegen formuliert Schmid 2008 die Auffassung, dass gerade auch im Fall von geteilten Gefühlen die phänomenale Dimension eine wesentliche Rolle spielen muss. Dies scheint mir eine etwas zu starke Adäquatheitsbedingung für geteilte Gefühle zu sein, auch wenn die phänomenale Dimension des Fühlens zweifellos von Belang ist. Ein überzeugender Rekonstruktionsvorschlag stammt von Sánchez Guerrero, der zu Recht deutlich macht, dass es zu verstehen gilt, was es bedeuten kann, etwas gemeinsam zu fühlen, und nicht darum, auf die Frage zu antworten, wie man eine Gefühlsempfindung teilen kann (vgl. Sánchez Guerrero 2011, 280).
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handelt es sich um Peters, im anderen Fall um Marias Gefühl. Außerdem würde ich bestreiten, dass der Inhalt des Gefühls von Peter derselbe ist wie der Inhalt des Gefühls von Maria, wenn sich Peter mit Maria vor ihrem Examen fürchtet, er ihr Gefühl also teilt in dem Sinne, dass er mit ihr fühlt. (In Klammern will ich anmerken, dass der Sachverhalt des Teilens mit Blick auf die verschiedenen Typen von geteilten Gefühlen in unterschiedlicher Weise zu analysieren ist. Als Typen von geteilten Gefühlen unterscheide ich Mitgefühle, kollektive Gefühle und parallele Gefühle. Meine folgenden Überlegungen gelten ausschließlich den Mitgefühlen).¹³ Um meinen Vorschlag zu präzisieren, sei an die Überlegungen zur affektiven Intentionalität erinnert. Zu Gefühlen – so hatte ich gesagt – gehören ein Ziel, ein formales Objekt und ein Fokus der Bedeutsamkeit. Wenn Peter sich vor seinem Examen fürchtet, ist das Examen das Ziel seiner Furcht. Als formales Objekt der Emotion kann die Bewertung des Ziels angesehen werden, die für die betreffende Emotion charakteristisch ist. Im Fall unseres Beispiels sind dies die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten, welche mit dem Examen einhergehen (können). Sodann wird aus der Furcht ersichtlich, dass das Examen bedeutsam für Peter ist. Wie ist nun der Fall zu analysieren, in dem sich Peter mit Maria vor ihrem Examen fürchtet? Hier ist nicht einfach nur Marias Examen das Ziel seiner Furcht, sondern von besonderer Relevanz ist für ihn die Furcht, welche Maria vor dem Examen verspürt. Es ist das Examen in Verbindung mit Marias Furcht, was bei Peter zu Mitgefühlen führt. Das formale Objekt geht – wie bei der Analyse von Gefühlen in eigener Sache – aus der Bewertung des Ziels hervor. Peter bewertet das Examen für die Freundin als unangenehm. Den Bedeutsamkeitsfokus des Gefühls schließlich bildet das Leben Marias; sie ist es, die ihm wichtig ist. Es ist unschwer zu sehen, dass die Furcht mit jemandem eine andere Struktur besitzt als die Furcht in eigener Sache. Im Zentrum der Furcht Marias steht das Examen, im Zentrum von Peters mit Maria geteilter Furcht steht die Furcht Marias vor dem Examen. Sein Mitgefühl der Furcht ist auf die Furcht der Freundin bezogen. An Marias Examen ist Peter nur insofern gelegen, als ihm an Maria gelegen ist. Die genannten Strukturmomente bilden die kanonische Form eines geteilten Gefühls im Sinne eines Mitgefühls. Aus der Analyse ergibt sich, dass es wohl eine zu starke Adäquatheitsbedingung für die Rede von geteilten Gefühlen ist, mit exakt denselben phänomenalen Qualitäten konfrontiert zu sein. Es sind andere der im Zusammenhang mit einem Mitgefühl genannten Aspekte, die es zu einem Mitgefühl machen.
Der Sache nach findet sich die Unterscheidung der verschiedenen Typen des Mitfühlens bereits bei Scheler 1985.
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Ganz unabhängig von der Frage, ob und inwieweit das Verspüren derselben phänomenalen Qualität zu Recht als Angemessenheitsbedingung für die Rede von einem geteilten Gefühl gelten sollte, ist zu klären, was es heißen kann bzw. heißen soll, mit einem Gefühl von exakt derselben phänomenalen Qualität konfrontiert zu sein. Versteht man die Rede von derselben phänomenalen Qualität in einem strikten Sinne, muss die phänomenale Qualität des Gefühls von Maria mit jener des Gefühls von Peter identisch sein. Auf den ersten Blick ist nicht zu sehen, was dagegen sprechen sollte, dass diese Bedingung im Fall eines geteilten Gefühls erfüllt sein kann. Maria und Peter können ein Gefühl von derselben phänomenalen Qualität verspüren. Identisch sein können die phänomenalen Qualitäten von Gefühlen jedoch auch dann, wenn die betreffenden Gefühle nicht geteilt werden. Sie könnten kontingenterweise identisch sein: Peters Angst vor seinem Examen könnte sich für ihn genauso anfühlen wie sich Marias Angst vor ihrem Examen für sie anfühlt. Mit derselben phänomenalen Qualität konfrontiert zu werden, ist also offensichtlich keine hinreichende Bedingung für ein geteiltes Gefühl. Handelt es sich vielleicht um eine notwendige Bedingung? Wird ein Gefühl nur dann geteilt, wenn auf der Seite der Fühlenden dieselben phänomenalen Qualitäten im Sinne exakter Identität im Spiel sind? Ich sehe keinen Grund dafür, warum man eine derart starke Voraussetzung machen sollte. Es scheint auszureichen, wenn die phänomenalen Qualitäten sich so ähnlich sind, dass sich die betreffenden Gefühle als Vorkommnis dieses oder jenes Typs von Gefühl identifizieren lassen. Peter teilt Marias Furcht vor dem Examen, wenn die von mir im Zusammenhang mit der kanonischen Form von Mitgefühlen skizzierten Strukturmomente vorliegen und beide Gefühle vom demselben Typ haben, deren jeweilige phänomenale Qualität sich ähneln muss, ohne exakt dieselbe zu sein.¹⁴ Über eine angemessene Darstellung des Teilens von Gefühlen im Fall von Mitgefühlen wäre lange zu reden. Ich belasse es bei der Feststellung des Ergebnisses meiner Überlegungen: Mitgefühle aufzubringen, muss etwas anderes heißen, als ein Gefühl mit demselben Inhalt zu haben. Meine These zu geteilten Gefühlen im Sinne von Mitgefühlen lautet: Geteilt wird ein Gefühl erst dann, wenn das Gefühl einer Person für eine andere Person eine besondere Rolle spielt. Wenn Peter und Maria sich gemeinsam vor Marias Examen fürchten, dann muss für Peters Gefühl nicht nur das Examen von Maria, sondern vor allem auch ihre Furcht
Von Einwänden derart, wie sie Schmid gegenüber Gilbert formuliert (vgl. Anm. 12), ist dieser Vorschlag wohl nicht betroffen. Man könnte allenfalls einwenden, dass Ähnlichkeit der phänomenalen Qualität zu wenig ist, um von einem geteilten Gefühl zu sprechen. Ich sehe allerdings keine Alternative. Freilich wäre eingehender zu diskutieren, auf der Grundlage welcher Kriterien sich die Ähnlichkeit der phänomenalen Qualität evaluieren lässt und wie der Grad der Ähnlichkeit jeweils bestimmt werden kann.
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eine besondere Relevanz besitzen. Peters Bezug zum Examen muss über den Bezug auf Marias Furcht vermittelt sein. Die verspürten phänomenalen Qualitäten müssen nicht identisch sein, sich aber aufeinander beziehen lassen können. Im nun folgenden Teil des Beitrags wende ich mich einer Dimension der Sozialität der Gefühle zu, die noch weiter reicht. Denn sie betrifft nicht nur geteilte Gefühle. Gefühle gehören in ein Geflecht aus normativen Zusammenhängen und sind in diesem Sinne auf eine unhintergehbare Weise sozial.Wann immer man ein Gefühl hat, wird etwas geteilt, wenn es auch nicht notwendigerweise das Gefühl ist, welches geteilt wird.
3 Gefühle und Gefühlsnormen Gefühle können uns ergreifen. Häufig drängen sie sich uns gegen unseren Willen auf. In diesem Sinne sind Gefühle als Widerfahrnisse anzusehen. Aber anders als das plötzliche Hereinbrechen einer Krankheit stellen sie sich nicht ganz ohne unser Zutun ein. Außerdem lassen sie sich regulieren und modulieren. Zu Gefühlen gehört, so will ich es mit einer vor allem unter Psychologen (aber auch Soziologen) verbreiteten Redeweise formulieren, die Arbeit an einem Gefühl. Zu Gefühlen gehört, um einen noch weniger schönen Ausdruck zu verwenden, Gefühlsmanagement. Wahrscheinlich kennt jeder Situationen, in welchen er von einem Gefühl heimgesucht wird, das ihm unangebracht erscheint. Wenn so etwas geschieht, versucht man in der Regel nicht nur den äußeren Ausdruck des Gefühls zu unterdrücken, sondern man versucht, das Gefühl abzuschwächen, es sich auszureden oder es in eine andere Richtung zu lenken. Man denke an den Fall, in dem jemand Wut gegenüber seiner pflegebedürftigen Mutter empfindet, sich in einen katholischen Priester verliebt oder Neid angesichts der Unbeschwertheit des eigenen Kindes fühlt. Wenn man solche Gefühle für unangebracht hält, sie sich am liebsten verbieten möchte, setzt eine Arbeit am Gefühl mit dem Ziel seiner Verwandlung ein. Auch der umgekehrte Fall, in dem man glaubt, ein bestimmtes Gefühl haben zu müssen, kann zum Anlass von Gefühlsarbeit werden, wenn das entsprechende Gefühl ausbleibt. Die Ergebnisse dieser Arbeit können ganz unterschiedlich sein. Es muss nicht unbedingt der Fall sein, dass das gewünschte Gefühl eintritt oder das unerwünschte Gefühl verschwindet. Entscheidend ist, dass Gefühle Gegenstand einer Bearbeitung werden können. Und nicht nur das. Ich möchte behaupten, dass es konstitutiv für Gefühle ist, einem stetigen Verwandlungs- und Transformationsprozess unterworfen zu sein, in dem die Gefühle fortwährend mit anderen Einstellungen abgeglichen werden. Dazu gehören neben weiteren Gefühlen auch Überzeugungen, Wünsche, Absichten, Pläne, Hoffnun-
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gen, kurz: das gesamte Inventar, welches das personale Leben in seiner holistischen Verfassung ausmacht. Ein gutes Beispiel gibt der folgende Bericht einer Frau im mittleren Alter: Als mein Mann starb, glaubte ich starke Verlust- und Trauergefühle empfinden zu müssen. Stattdessen empfand ich ein Gefühl der Befreiung, tun und lassen zu können, was ich wollte, und Entscheidungen treffen zu können, ohne ihn fragen zu müssen oder mich seiner Wut und seinen Verletzungen gegenüberzusehen, wenn es gegen seinen Willen ging. Ich fühlte mich deshalb wirklich schuldig; ich versuchte damit fertig zu werden, indem ich alle Gefühle, die mich mit meinem Mann verbanden, beiseite schob und so tat, als existierte er nur in einer verschwommenen Erinnerung. (Hochschild 2006, 81)
Die Passage stammt aus Arlie Hochschilds Buch Das gekaufte Herz, in dem sie bereits vor fast dreißig Jahren die Strategien und Mechanismen der Gefühlsarbeit untersucht hat. Hochschild ist es auch gewesen, die im Kontext ihrer Untersuchung auf den Zusammenhang von Gefühlen und Gefühlsnormen aufmerksam gemacht hat. Gefühle sind immer in ein Geflecht aus normativen Relationen eingebettet, welche soziale Gemeinschaften in Form von Interaktionsanforderungen etablieren und die von deren Mitgliedern im Verlauf ihrer (affektiven) Sozialisationsprozesse erworben werden. Gefühlsnormen sind in unterschiedlicher Form institutionalisiert, und sie regeln, in welchen Situationen welche Gefühle angemessen sind, betreffen aber ebenso Fragen der Abschattung und der Intensität einzelner Gefühle. Normen, dies gilt auch für Gefühlsnormen, beanspruchen transsubjektive Geltung. Andernfalls würde es sich nicht um Normen handeln, sondern – mit Kant gesprochen – um subjektive Maximen. Die Beziehungen zwischen Gefühlen und Gefühlsnormen machen deutlich, dass Gefühle immer als Produkte sozialer Interaktionen angesehen werden müssen, da sie auf der Grundlage der auf sie bezogenen Normen von vornherein eine soziale Dimension aufweisen. Worin besteht die Funktion von Gefühlsnormen? Auf der Grundlage von Gefühlsnormen werden Gefühle mit Situationen verknüpft, und auf diese Weise werden den Gefühlen passende Inhalte zugeordnet. Die soziokulturellen Einrichtungen, welche für die Etablierung von Gefühlsnormen sorgen und die Verknüpfung von Gefühlen mit Situationen immer wieder aufs Neue zementieren, sind vielfältig. Sie können sich – gleiches gilt für die Gefühlsnormen als solche – im Laufe der Geschichte wandeln. Familie, Religionsgemeinschaft, Schule, Diskothek, Sportplatz, Konzertsaal sind nur einige der gesellschaftlichen Orte, die uns mit Pathosformularen ausstatten, die wir gemäß sozialen Vorgaben beispielsweise bei Begräbnissen und Hochzeiten, Tanzveranstaltungen und Sportereignissen mit unseren Gefühlen ausfüllen. Aber auch der einsame Spaziergang am Strand, beispielsweise nach einem persönlichen Erfolg in einem Zustand
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leichter Euphorie, kommt nicht ohne Pathosformular aus. Mit der Untersuchung der gesellschaftlichen Orte, die Formulare für Gefühle bereitstellen, sind soziologische, historische und ethnologische Studien befasst; sie ist kein Thema der Philosophie. Aus philosophischer Perspektive ist lediglich von Interesse, dass Gefühle in einen normativen Kontext gehören, der von Grund auf sozial ist und nicht allein aus kontingenten Gründen nachträglich zum Fühlen hinzutritt. Nehmen wir die Überlegungen ernst, dann drängt sich folgendes Bild der Sachlage auf: Gefühle befinden sich ebenso wenig wie Gedanken im Geist von Sprechern oder in den Körpern von Organismen. Sie verdanken sich auch nicht einfach einem kausalen Kontakt mit der Welt. Wir führen unser Leben mit Gefühlen im Rahmen eines komplexen normativen Geflechts, welches nicht nur den Ausdruck von Gefühlen reguliert, sondern ihnen relevante Inhalte zuordnet und sie in ihrer Tönung moduliert. Auch wenn Affekte zu unserer genetischen und biologischen Ausstattung gehören und unser Organismus eine Grundlage für ihr Erleben darstellt, erhalten Gefühle ihre Gestalt und ihren Gehalt im Rahmen sozialer Interaktionen. Mit Gefühlen wird auf Sachverhalte, aber auch auf Einstellungen, Handlungen und andere Gefühle reagiert. Es sind soziale Praktiken, die prägen, wann und wie ein Gefühl erfahren wird. Eine maßgebliche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Normen, die unserem Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen zugrunde liegen. Normen sind es auch, welche als Basis für das Verhältnis zwischen dem Ziel und dem formalen Objekt eines Gefühls fungieren. In diesem Sinne wird, wann und wo immer personale Wesen Gefühle haben, etwas geteilt. Geteilt werden müssen in jedem Fall die Normen, die den Umgang mit Gefühlen regeln. Geteilt werden müssen die sozialen Praktiken, innerhalb derer Normen für Gefühle etabliert werden. Und genau deshalb handelt es sich bei Gefühlen, so meine These, um Phänomene, die von Grund auf sozial sind. Der folgende Abschnitt stellt einige Anschlussfragen und bezieht die Analysen zur Sozialität der Gefühle auf die allgemeinere Frage nach der Sozialität des menschlichen Geistes.
4 Ausblick und Perspektiven Das Problem der Sozialität im Sinne des Teilens von Gefühlen, welches ein Minenfeld von vertrackten philosophischen Fragen darstellt, habe ich lediglich gestreift. Ein entscheidender Schritt in Richtung einer angemessenen Analyse des Phänomens besteht darin, die Struktur von Mitgefühlen und Gefühlen in eigener Sache präzise zu unterscheiden, um zu einer kanonischen Form der Beschreibung von Mitgefühlen zu gelangen. Es wären nun weitere Untersuchungen erforderlich, die sich einer ausführlichen Diskussion der unterschiedlichen Typen des Mit-
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einanderfühlens widmen sowie der Gemeinsamkeiten und Differenzen, die zwischen ihnen bestehen. Das Mitgefühl anlässlich der Furcht vor einer Prüfung ist ein anderes Phänomen als die kollektive Empörung über die Korruptionsaffäre eines Politikers. Beide Typen von Gefühlen sind wiederum zu unterscheiden von parallelen Gefühlen, die man angesichts einer gemeinsamen Angelegenheit in eigener Sache verspüren kann. So kann sich bei einem Elternpaar jeder für sich an der gedeihlichen Entwicklung des gemeinsamen Kindes erfreuen. Eingehender nachzudenken wäre sodann auch über die Rolle des phänomenalen Erlebens bei Mitgefühlen sowie bei kollektiven und parallelen Gefühlen. Die Thematik der Beziehung von Gefühlen und Gefühlsnormen schließlich bedarf in vielerlei Hinsichten einer Vertiefung. Die Einbettung der Gefühle in einen Rahmen von sozial etablierten Gefühlsnormen weist auf ihre kulturelle Dimension hin und wirft die Frage nach dem Verhältnis zwischen den natürlichen und kulturellen Aspekten von Gefühlen auf. Ich denke, sie zeichnet auch eine Antwort vor. Auch wenn sich Gefühle in den unterschiedlichen Stadien des menschlichen Zivilisationsprozesses als Grundton der biologischen Evolution durchhalten, eignet ihnen doch unzweifelhaft eine kulturelle Dimension. Im Rahmen diskursanalytisch geprägter Ansätze in Soziologie und Geschichtswissenschaft führt diese Einsicht gelegentlich zu der übertriebenen Rede von einer kulturellen Konstruktion der Gefühle. Den Mechanismen der Regulierung von Gefühlen liegen soziale Konstellationen zugrunde, die als kulturelle Formgeber anzusehen sind. Dies sollte aber nicht zu der Auffassung verführen, dass die genetisch-biologische Dimension der Affekte im Prozess ihrer sozialen Regulierung vollständig verdampft. Auf lange Sicht dürfte es geraten sein, Gegenüberstellungen wie die zwischen Natur und Geist oder Natur und Normativität hinter sich zu lassen, wenn man zu einem angemessenen Verständnis von Gefühlen und dem Platz des Geistes in der Welt gelangen will. Kein Wort habe ich über die Beziehung zwischen Normen und Werten bzw. Gefühlen und Werten verloren, um eine letzte Frage anzusprechen.¹⁵ Dazu nur so viel: Der für mich relevante Begriff einer Norm ist der einer Vorschrift, die sagt, was man tun und wie man sich verhalten soll. Normen in diesem Sinne zielen auf etwas, was, aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, als richtig erscheint. Werte sind von Normen zu unterscheiden. Werte sind Güter. Die Hausordnung einer Jugendherberge enthält beispielsweise viele Normen, die einem sagen, wie man sich verhalten soll. Die Verletzung dieser Normen wird mit Sanktionen ge-
Bei der Frage nach der Beziehung zwischen Gefühlen und Werten handelt es sich um eine Thematik, die bis in die Axiologie der Brentano-Schule zurückreicht und in der Philosophie der Gegenwart immer noch für kontroverse Debatten sorgt. Vgl. dazu Vendrell Ferran 2013.
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ahndet (z. B. Hausverbot). Aber die Hausordnung enthält nicht unbedingt Werte. Als Wert lässt sich alles ansehen, was wir wertschätzen und gut finden. Wertvoll ist, was gut tut, gut schmeckt, Spaß macht, für Menschen gut ist, für die Gesundheit gut ist usw. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Nicht alles, was uns Normen nahe legen, muss gut oder von Wert sein; auch wenn wir häufig davon ausgehen, dass sich die Normensetzungen nach Wertüberzeugungen richten, ist das nicht notwendig der Fall. Gefühle können wohl ein Medium der Werterfahrung sein. Gelegentlich wurde und wird die These vertreten, dass es sich bei den formalen Objekten von Gefühlen um Werte handelt. Auch diese Frage bedarf der eingehenden Diskussion. Ich habe lediglich über die Beziehungen zwischen Gefühlen und Normen geredet, wobei die Fragen nach dem Verhältnis von Gefühlen und Werten und der Beziehung zwischen Werten und Normen zu vertiefen wären. Die angesprochenen Themengebiete beinhalten viele große philosophische Fragen, die sich nicht handstreichartig beantworten lassen, sondern ausführlicher Überlegungen bedürfen. Ausführliche Überlegungen wären auch erforderlich, um die Konsequenzen auszuloten, die sich aus meinen Überlegungen für die Philosophie des Geistes im Allgemeinen ergeben. Wenn es sich bei Gefühlen um von Grund auf soziale Phänomene handelt, dann hat dies Folgen für das Verständnis des menschlichen Geistes. Sofern sich für Gefühle zeigen lässt, dass es sich nicht um subjektive Phänomene handelt, hat man starke Gründe, den Individualismus in der Philosophie des Geistes und in den Kognitionswissenschaften aufzugeben. Unter Individualismus versteht man die Auffassung, dass geistige Zustände, beispielsweise Gedanken, Wünsche und Gefühle, sich ausschließlich bzw. im Wesentlichen im Rückgriff auf die intrinsischen Eigenschaften eines Individuums bestimmen lassen. Antiindividualistische Positionen hingegen akzentuieren, dass zur Bestimmung der Zustände eines Individuums auf externe Faktoren wie die soziale und natürliche Umwelt der Individuen zurückgegriffen werden muss. Bedeutungen, so lautet ein im Anschluss an Hilary Putnam seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder verwendeter Slogan zur Charakterisierung des Antiindividualismus, sind nicht im Kopf.¹⁶ Hatte sich Putnam bei seinen Überlegungen noch auf die Analyse der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken beschränkt, mit Hilfe derer wir uns auf natürliche Arten beziehen, und im Wesentlichen einen Beitrag zur Semantik formuliert, so hat sich die Debatte inzwischen auf vielfältige Weise ausdifferenziert. Dies betrifft die Reichweite bzw. den Gegenstandsbereich, aber auch die Modalität des jeweils vertretenen Externalismus. Eine kontrovers diskutierte rezente Position stellt der „aktive“ Externalismus von Chalmers und Clark
Vgl. Putnam 1975, 223.
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dar, der sich allerdings im Wesentlichen auf die Diskussion von Überzeugungen (und Wünschen) beschränkt und sich von der These leiten lässt, dass kognitive Zustände von Individuen über deren Körpergrenze hinausreichen.¹⁷ Gefühle sind hier jedoch – soweit ich sehe – kein Thema.¹⁸ Da Gefühle gemeinhin als Inbegriff des Subjektiven gelten, muss sich eine antiindividualistische Grundorientierung letztlich an ihnen bewähren. Überlegungen zur Externalität des Geistes, wie sie in den letzten Jahren vereinzelt mit Blick auf Gedanken und Erinnerungen, aber auch auf Wahrnehmungen entwickelt worden sind, erhalten durch die Analysen zur Sozialität der Gefühle weitere Rückendeckung.¹⁹ Wenn sich nicht nur für Gedanken oder Wahrnehmungen zeigen lässt, dass und inwiefern der Geist zur Welt gehört, sondern auch für Gefühle, lässt sich die Position eines geistphilosophischen Externalismus verstärken. Ebenso wenig, wie Bedeutungen oder Gedanken im Kopf sind, sind Gefühle im einzelnen Individuum. Streng betrachtet sind Bedeutungen, Gedanken oder Gefühle nirgendwo. Sie gewinnen ihre Gestalt und ihren Gehalt im Rahmen von sozialen Praktiken.
Vgl. dazu Clark/Chalmers 1998, Clark 2011; wichtige Beiträge zur Debatte sind gesammelt in Menary 2010. Ein Bezug zur Debatte über den geistphilosophischen Externalismus findet sich im Zusammenhang mit Gefühlen bei Robinson 2013 und Slaby 2014. Versteht man auch den Enaktivismus als Spielart externalistischer Theorien (trotz aller Wichtigkeit der Binnendifferenzen zwischen diesen philosophischen Ansätzen), finden sich erste Ausarbeitungen zu Gefühlen u. a. bei Colombetti 2010. Im deutschen Sprachraum lässt sich die Auffassung von Hermann Schmitz, dem zufolge es sich bei Gefühlen um Atmosphären handelt, als gewichtiger Schritt in Richtung einer externalistischen Gefühlsauffassung begreifen. Vgl. dazu Demmerling 2011b. Neben Andy Clarks Konzeption eines extended mind ist in diesem Zusammenhang der von Alva Noë auf der Grundlage des Enaktivismus vorgeschlagene sensomotorische Ansatz in der Philosophie der Wahrnehmung von Belang; vgl. Noë 2004, Noë 2012.
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Rainer Schützeichel
Fühlen als ein soziales Phänomen Über responsive und reflexive, geteilte und kollektive Emotionen Für die Soziologie ist das „Fühlen“ im Sinne des Erlebens phänomenaler Qualitäten eher ein randständiges Phänomen– entgegen der Warnung eines ihrer so genannten Gründungsväter: Durkheim (1980, 106) hat die besonderen „Arten des Handelns, Fühlens und Denkens“ als Gegenstand der Soziologie bestimmt, dabei aber sogleich hinzugefügt, diese Arten würden außerhalb des individuellen Bewusstseins existieren, da sie eben diesem gegenüber mit einem besonderen Zwang ausgestattet sind. Auch wenn diese letztgenannte Bestimmung sicherlich nicht von allen Soziologen geteilt wird, so dürfte ein Sachverhalt sicherlich unumstritten sein: Die Soziologie befasst sich grundsätzlich mit Arten des Handelns, auch mit Arten des Denkens. Aber mit Arten des Fühlens? Zwar hat die Soziologie der Emotionen in den letzten zwei, drei Dekaden einen beträchtlichen Aufschwung erfahren, aber das hat noch nicht dazu geführt, dass die soziale Wirklichkeit in Bezug auf das Fühlen ebenso kartographiert wurde, wie dies für das Denken und insbesondere für das Handeln der Fall ist. Zudem wird auch nicht die Gesamtheit „fühlender“ Phänomene in den Blick genommen, man belässt es bei den Emotionen im engeren Sinne und befasst sich kaum mit anderen affektiven Vermögen wie beispielsweise Stimmungen.¹ Und was für Emotionen im Allgemeinen gilt, gilt für geteilte oder kollektive Emotionen in besonderer Weise. Die theoretischen und methodischen Grundlagen für eine solche Soziologie liegen bisher nur ansatzweise vor. In diesem Beitrag wird der folgende konzeptionelle Vorschlag unterbreitet: Geteilte oder kollektive Emotionen entstehen in Handlungskonfigurationen. Und wie sich Handlungskonfigurationen anhand des ihnen zugrunde liegenden Intentionalitätsmodus in bestimmte kategoriale Formen unterscheiden lassen, so auch geteilte oder kollektive Emotionen. Der Beitrag entwirft eine Taxonomie von Formen transindividueller Emotionen.
Auch hier befassen wir uns nur mit Emotionen im engeren Sinne. Emotionen verstehen wir als episodische phänomenale Erlebnisse, die sich bei einer besonderen Intensität als ‚Gefühle‘ manifestieren. Auf die Analyse von Stimmungen oder basalen Lust-/Unlust-Affektionen (vgl. Seyfert 2011) müssen wir hier verzichten.
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1 Kollektive Emotionen? Wie und inwiefern kann das Fühlen ein soziales Phänomen sein? Hier lassen sich verschiedene theoretische Optionen unterscheiden. Emotionen sind schon soziale Phänomene insofern, als sie meist in sozialen Konstellationen entstehen. Soziale Beziehungen generieren Emotionen, beispielsweise der Austauschtheorie zufolge in Gratifikationsbeziehungen (vgl. Lawler 2001), der sozial-interaktionistischen Theorie von Kemper (1978) zufolge in Status- und Macht-Konstellationen oder der Affekt-Kontroll-Theorie nach Heise (2007) zufolge in Affekt-Kontroll-Dynamiken. Dass die Genese, der Ausdruck und allgemein die Bedeutung von Emotionen auch von sozialen Strukturen abhängig sind, ist ebenfalls ein weithin anerkanntes Ergebnis der soziologischen Emotionsforschung. Ebenso wird man generell behaupten können, dass wir auf alle Handlungssituationen, ob nun sozialer oder nicht-sozialer Natur, nicht nur kognitiv, sondern auch emotional eingestellt sind, wobei man noch einen Schritt weiter gehen und die emotionale Haltung gegenüber Situationen als notwendige Vorbedingung für eine normative Einstellung im weitesten Sinne auffassen kann (vgl. Landweer 2011, Schützeichel 2010b). In einem schwachen Sinne sind Emotionen also soziale Phänomene, da sie in sozialen Konstellationen auftreten (vgl. Scholl 2013), in solchen generiert werden und auch nur dort (vgl. Rimé 2009) ihre Form und Gestalt gewinnen können. Aber die These, Emotionen seien sozialen Phänomene, lässt sich auch in einem starken Sinne verstehen: Können Emotionen soziale Phänomene konstituieren? Sind sie notwendig für die Genese und Reproduktion sozialer Phänomene in ihren vielfältigen Formen? Auch diese Fragen sind schon häufig in der sozialtheoretischen Tradition aufgeworfen worden. Erinnern wir uns an einige besonders markante Stationen: Der Theory of Moral Sentiments von Adam Smith (1759) zufolge ist Sympathie das zentrale Medium, welches die Bildung sozialer Beziehungen ermöglicht und dabei das natürliche Selbstinteresse der Menschen ausgleicht. Smith versteht zwar unter Sympathie nicht unmittelbar ein Gefühl, wohl aber eine Fähigkeit des fellow feeling, welches dadurch entsteht, dass ein Gleichklang der Gefühle wiederum als ein Wohlgefühl empfunden werden kann (vgl. Sugden 2002). Die von Ferdinand Tönnies (1887) getroffene, sich an Hegel anlehnende Unterscheidung von „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ differenziert zwischen emotional und traditional orientierten Sozialfigurationen einerseits, rational orientierten andererseits. Das, was von Adam Smith noch als eine – wenn auch in sich latent widersprüchliche – Einheit gedacht wurde, wird von Tönnies und den sich hieran anlehnenden Unterscheidungen von Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen differenzierungs- oder evolutionstheoretisch uminterpretiert. Auch die aufkommende Massenpsychologie und Massensoziologie, die besonders mit dem Namen von Gustave Le Bon verbunden ist, stellt trotz aller
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notwendigen Kritik eine wichtige theoriegeschichtliche Etappe dar, wird hier doch ebenfalls unter Bezugnahme auf die vermeintliche Opposition von Rationalität und Emotionalität eine bis heute nachwirkende semantische Spur gelegt, die eine enge Affinität von Emotionalität und Kollektivität postuliert (vgl. Schützeichel 2013a). Eine weitere wichtige Station stellen schließlich die Sozialphilosophie und Soziologie von Georg Simmel dar. Simmel (1908) geht dezidiert davon aus, dass soziale Relationen respektive „Wechselwirkungen“ durch Emotionen und Affekte fundiert werden. Aus diesem Grunde nimmt er eine Unterscheidung von primären und sekundären Emotionen vor. Primäre Emotionen fundieren Wechselwirkungen, sekundäre Emotionen entstehen aus Wechselwirkungen. Diese Unterscheidung muss jedoch deshalb als problematisch betrachtet werden, weil Simmel glaubt, sie auf einzelne Emotionen beziehen zu können und nicht auf Funktionen, die alle Emotionen in sozialen Beziehungen einnehmen können (vgl. Schützeichel 2013b). In der sozialwissenschaftlichen Forschung zum kollektiven Handeln wird insbesondere auf die transformierende Kraft von kollektiven Emotionen verwiesen: Sie verwandeln – so beispielsweise die Diagnose von Le Bon – in sozialen Beziehungen der „Masse“ die Individuen dergestalt, dass Individuen ihre personalen Eigenschaften verlieren und solche der Masse übernehmen. Nach Durkheim versetzen kollektive Emotionen Menschen in einen Zustand der „kollektiven Efferveszenz“. Noch in der gegenwärtigen Forschung spricht man davon, dass Emotionen ein notwendiges Element in der Genese (ritueller) sozialer Ordnung wie sozialer Bewegungen sind² und dass sich Konflikte, insbesondere ethnische Konflikte, ohne kollektive Emotionen ebenso wenig erklären lassen (vgl. Petersen 2002) wie die symbolische Macht, die für die Grenzziehungen zwischen Menschen verantwortlich ist (vgl. Moon 2013). Emotionen sind gleichsam das Medium sozialer Grenzen und Ordnungen zwischen den Milieus, Lebensstilen, Geschlechtern und Generationen. Sowohl die schwache als auch die starke Option beruhen aber auf einer Vorannahme, die meist ungeprüft bleibt. Sie unterstellen, dass Emotionen sich nur in oder an Individuen realisieren. Emotionen sind leibliche oder mentale Zustände von Individuen, und wenn Emotionen in Kollektiven auftreten, dann handelt es sich um Aggregationen von individuellen Emotionen. Kollektive Emotionen beruhen dergestalt auf der „synchronous convergence in affective
Insbesondere Collins (2004) hat in der Nachfolge von Durkheim und Goffman auf die Bedeutung von emotionalen Interaktionsritualen für soziale Gebilde aufmerksam gemacht (vgl. auch die Beiträge in Michaels/Wulf 2012 im Hinblick auf eine performative Ritualtheorie). Emirbayer/Goldberg 2005, Jasper 1998 sowie die Beiträge in Goodwin/Jasper/Polletta 2001 gehen Emotionen in sozialen Bewegungen nach.
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responding across individuals towards a specific event or object“ (von Scheve/ Ismer 2013, 3). In einer individualistischen Sichtweise stellen kollektive Emotionen von daher auf den ersten Blick kein großes Problem und keine übermäßige konzeptionelle Herausforderung dar. Sie treten eben auf, wenn unter zuträglichen zeitlichen und räumlichen Bedingungen eine Gruppe von Personen in einer synchronen Weise und in einer bestimmten Perspektive auf ein Ereignis oder ein Objekt reagieren kann. Bei einem zweiten Blick ist dieses Phänomen jedoch alles andere selbstverständlich: Genügt eine Kollektivität von Personen, um von kollektiven Emotionen zu sprechen? Können Emotionen selbst kollektiver Natur sein? Kann es geteilte Emotionen geben? Welche funktionale oder kausale Rolle spielen kollektive Emotionen für das Kollektiv der so erlebenden Personen? Verändern Emotionen das so erlebende Kollektiv? Nur wenige theoretische Traditionen haben sich intensiv mit diesen Fragen auseinandergesetzt.³ In erster Linie ist diesbezüglich an verschiedene Ausarbeitungen aus der im weitesten Sinne phänomenologischen Tradition zu erinnern, beispielsweise bei Edith Stein oder Max Scheler. Heute denkt man zudem an die Theorie der Atmosphären in der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz (vgl. insbesondere Schmitz 1969 und 2002), der zufolge Gefühle überpersönliche Realitäten darstellen, die als Widerfahrnisse erlebt werden und mit einer gewissen Autorität ausgestattet sind. Damit kommt Schmitz der oben angedeuteten Position von Durkheim zumindest auf den ersten Blick erstaunlich nahe. Man kann mit Schmid (2008) die Problematik kollektiver Emotionalität darauf zurückführen, dass sie auf die drei individualistischen Prämissen herkömmlicher Emotionsforschung aufmerksam macht, nämlich die Annahme der ontologischen Individualität (nur Individuen verfügen über Emotionen), der epistemologischen Individualität (Individuen können nur ihre eigenen Emotionen kennen) und der physischen Individualität (Individuen können ihre Gefühle nur am eigenen Leib erfahren). Schmid selbst schlägt eine phänomenologische Konzeption vor, die alle drei individualistischen Prämissen aufzuheben versucht. Der zentrale Argumentationsschritt liegt in der Differenzierung zwischen ontologischem und phänomenologischem Subjekt. Ontologisch sind Individuen die Subjekte des Fühlens, aber phänomenologisch ist es ein erlebendes Wir – ein „Kunstgriff“, der (mit Salmela 2012) problematisch ist, weil ein vorreflexives, phänomenologisches Wir kaum gegen eine ontologisierende Zuschreibung auf ein Ich und Du geschützt werden kann. Im Hinblick auf kollektive Emotionen ist generell Vorsicht geboten, wenn man nicht in „sozialontologische“ Fallstricke geraten will? Kann man Gruppen, Ge-
Einen Überblick findet man bei Huebner 2011 und jüngst bei v. Schevel/Salmela 2014.
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meinschaften oder Gesellschaften Emotionen oder Stimmungen zuschreiben? Gibt es beispielsweise in Gruppen gewisse Stimmungslagen, die eine Eigenschaft der Gruppe, nicht aber notwendigerweise der Individuen sind? Kann es also in dem Sinne ‚emergente“ Emotionen und Stimmungen geben, die sich nicht auf der ontologischen Basis von Individuen, sondern von Gruppen oder Gemeinschaften realisieren? Gegen eine solche Annahme sprechen prima facie manche Gründe.Wenn man – was aber durchaus umstritten ist – voraussetzt, dass das Fühlen und das phänomenale Erleben die Eigenschaften von Emotionen sind, durch die diese in besonderer Weise individuiert werden – wie kann dann das Fühlen in besonderer Weise geteilt werden, ein Fühlen, welches von Gilbert Ryle (1949, 83 f.) in einer unnachahmlichen Weise beschrieben wurde als „thrills, twinges, pangs, throbs, wrenches, itches, prickings, chills, glows, loads, qualms, hankerings, curdlings, sinkings, tensions, gnawings, and shocks“? Gerade deshalb stellt sich die Frage: Lassen sich Gefühle anders als nur am eigenen Leib fühlen? Kann es ein gemeinsames Fühlen geben? Weist nicht gerade das Fühlen darauf hin, dass Emotionen sich nur in individuellen Körpern und Leibern realisieren können? Gibt es nicht eine Alternative zwischen individualistischen bzw. aggregativen Konzeptionen einerseits und kollektivistischen andererseits? Die folgenden Ausführungen entfalten die nachstehenden Vorschläge: Kollektive soziale Phänomene lassen sich als Handlungskonfigurationen konzipieren. Wir betrachten kollektive Phänomene nicht, wie häufig in der sozialtheoretischen Literatur unterstellt, als ‚transindividuelle‘ Entitäten, sondern als Handlungsgebilde, deren ‚transindividuelle‘ Wirkungen sich aus den Kooperations- und Koordinationsnotwendigkeiten bzw. der funktionalen Integration von Handlungen und Handlungsformaten ergeben. Handlungskonfigurationen resultieren ihrerseits daraus, dass eine Vielzahl von Handlungen sich nur realisieren kann, wenn andere Handlungen realisiert werden. Sie sind Konfigurationen der wechselseitigen Ermöglichung von Handlungen und haben von daher einen holistischen Charakter (vgl. Schützeichel 2008 und 2010a). Für die Sozialität des „Fühlens“ sind diese Handlungskonfigurationen relevant, weil Emotionen Anderer für einen Akteur dann bedeutsam sind, wenn er in seinen Handlungen von den Handlungen und damit auch den Emotionen Anderer abhängig ist. Emotionen und Stimmungen sind also Indikatoren für die Möglichkeitsräume, die sich für Handlungen in Konstellationen bieten.⁴ Und die Emotionen und Stimmungen
Geteilte oder kollektive Emotionen lassen sich unmittelbar auf Handelns- und Erlebenskonfigurationen beziehen. Damit nehmen wir eine Präzisierung solcher Ansätze vor, die solche Emotionen auf gemeinsame Situationen (vgl. bspw. Krebs 2013a) oder, wie die meisten sozial-
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Anderer sind Indikatoren für die Ziele und Wünsche, die ein Akteur durch sein Handeln in seinen Handlungskonfigurationen selbst realisieren kann. Für geteilte und kollektive Emotionen gilt aber darüber hinaus, dass ein Individuum solche Emotionen nur haben kann, wenn sie auch andere Individuen realisieren. Geteilte und kollektive Emotionen haben also wie soziale Phänomene überhaupt holistische Eigenschaften in der hier vorausgesetzten Bedeutung, die jenseits des traditionellen Gegensatzes von Individualismus und Kollektivismus angesiedelt ist.
2 Konfigurationen emotionaler Sozialität – eine Vorverständigung Situation 1: Herr B. hat im Lotto gewonnen. Er bucht daraufhin eine mehrwöchige Urlaubsreise. Seine Nachbarn beneiden ihn. Situation 2: 13. Mai 2012: In Dortmund feiern hunderttausende Fans die Mannschaft von Borussia Dortmund, die am Tag zuvor den Pokal gewann. Die Fans sind fröhlich und glücklich. Situation 3: Das Auditorium hört ergriffen dem philharmonischen Orchester zu, welches das 1. Violinkonzert in G minor, Op. 26 von Max Bruch spielt. In der Philharmonie herrscht eine andächtige Atmosphäre. Situation 4: Frau A. folgt einer Einladung zu der Abschiedsparty ihrer Arbeitskollegin. Sie betritt den Raum, wird begrüßt und grüßt ihrerseits die Anwesenden, aber sie bemerkt schon nach wenigen Minuten eine seltsame Gefühlsatmosphäre unter den Gästen. Sie kann diese Atmosphäre nicht genau beschreiben, aber alle Anwesenden wirken merkwürdig verhalten und zurückgenommen. Situation 5: Frau D. und Herr D. stehen am Grab ihrer geliebten Tochter. Sie fühlen miteinander denselben Schmerz, dieselbe Trauer. Situation 6: In der Klasse 4a einer Berliner Grundschule wird A. von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern gehänselt. Sie weint. Ihre Freundin D. kommt zu ihr und nimmt sie in den Arm, weil sie mit A. mitfühlt. Alle diese Handlungskonfigurationen beinhalten spezifische Formen sozialer oder kollektiver Emotionalität. In Konfiguration 1 liegt folgende Konstellation vor: Eine Person wird von Anderen beneidet. Gemeinsam ist den anderen Personen ihr Neid.
psychologischen Ansätze, lapidar auf soziale Beziehungen zurückführen. Situationen oder soziale Beziehungen sind durch gleichsinnige oder gegensinnige Handlungsformate strukturiert.
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Das aber heißt nicht, dass diese nun eine Gemeinschaft bilden. Neid kann nicht zu einer Vergemeinschaftung führen, da sie eine verpönte, normativ nicht anerkannte Emotion darstellt. Neid führt stattdessen zu einer sozialen Konstellation, die man als serielle Isolation bezeichnen kann (vgl. Paris 2010). Damit steht Konfiguration 1 in einem krassen Widerspruch zu Konfiguration 2. Glück und Freude sind Emotionen, die nicht versteckt werden müssen, sondern solche, die ansteckend wirken und von daher das Potential zur Vergemeinschaftung haben. Aber welche soziale Konstellation liegt hier vor? Freuen sich die Fans individuell oder in einem Kollektiv? Was muss hinzukommen, damit aus einer Aggregation von Individuen ein Kollektiv bzw. aus einer Aggregation von Ich-Intentionalitäten eine kollektive Wir-Intentionalität werden kann? Auch in Konfiguration 3 liegt wiederum eine spezifische Variante vor. Alle anwesenden Personen sind ergriffen und andächtig, es stellt sich unter ihnen eine besondere Gefühlsatmosphäre ein, sie sind alle im Sinne einer intensiven ‚joint attention‘ auf ein Objekt ausgerichtet und bilden von daher eine Aufmerksamkeitsgemeinschaft, die aber keine WirIntentionalität aufweist. Es ist allenfalls ein schwach ausgeprägtes „Wir“. Auf Atmosphären werden wir auch in Konfiguration 4 hingewiesen, die wohl jeder in der einen oder anderen Form schon erlebt hat. Wie unterscheiden sich die Atmosphären von Konfiguration 3 und Konfiguration 4? In Konfiguration 3 gibt es ein Fokusobjekt, in Konfiguration 4 hingegen bleib das Objekt diffus. Hier stellt sich die Atmosphäre selbst her und sie findet auch angesichts der sich intensivierenden wechselseitigen Beobachtungen immer wieder neue Indizien, um sich selbst zu bestätigen. Konfiguration 5 erinnert an Max Schelers Analysen zu geteilten Emotionen. Es ist nicht so, dass Frau D. trauert und Herr D. trauert und beide wissen, dass der bzw. die Andere trauert, sondern sie trauern gemeinsam in dem Sinne, dass sie eine Emotion als ein „token“ teilen. Was aber heißt das? Konfiguration 6 ist demgegenüber von einer vergleichsweise alltäglichen Relevanz. Nahezu in jeder Kommunikation geht es darum, die Emotionen Anderer mitzuvollziehen und sie damit gegebenenfalls negativ oder positiv beeinflussen zu können. Dass man Andere hänselt, blamiert oder gar demütigen kann, setzt sehr viel an empathischen Fähigkeiten voraus, ebenso wie auch das Mitleiden und Mitfühlen. Hier liegt eine emotionale Sozialität vor, die aus einem vielfach gerichteten Netzwerk von unterschiedlichen Ego-Alter-Intentionen besteht. Mit diesen Handlungskonfiguration sind sicherlich nicht alle möglichen typischen Konstellationen emotionaler Sozialität erfasst. Aber es dürfte deutlich geworden sein, mit welchen Problemstellungen eine Analyse sozialer, geteilter oder kollektiver Emotionen konfrontiert sein könnte. Auf der einen Seite finden sich emotionstheoretische Fragen, auf der anderen Seite komplexe sozialtheoretische Fragen, die bis heute ebenso wenig befriedigend gelöst sind wie die emotionstheoretischen. Wie kann man „gemeinsam“ oder „geteilt“ oder „kollektiv“
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handeln, denken oder eben fühlen? Und schließlich haben wir bei diesen Situationsbeispielen herausgearbeitet, dass sich Sozialform und Emotionstypus wechselseitig bedingen – nicht alle Emotionen sind mit allen Sozialformen kompatibel, weil sie mit spezifischen Handlungs-, Kooperations- und Interaktionstendenzen verbunden sind.
3 Kognitivistische Theorien und das Phänomen des Fühlens Die verschiedenen Ansätze der soziologischen Emotionsforschung verfügen in aller Regel nicht über explizit formulierte Emotionskonzepte. Sie geben sich häufig und vorschnell mit alltagsweltlichen Vorstellungen zufrieden. Führt man sich die derzeit besonders prominenten und einleitend schon benannten Ansätze vor Augen, so bewegen sich viele im Rahmen des kognitivistischen Paradigmas, und hier vor allem in der Tradition von so genannten Appraisal- oder Bewertungstheorien. Das heißt, dass die Genese von Emotionen in einer Kombination von faktischen und bewertenden Kognitionen verortet wird. So führt die Austauschtheorie die Genese von Emotionen auf Gratifikationen in sozialen Beziehungen zurück, die strukturale Emotionstheorie von Kemper bezieht sich auf Bewertungen bezüglich der Differenzen in Macht- bzw. Statuspositionen, und die Affekt-Kontroll-Theorie setzt Situationsdefinitionen und ihre Bewertung voraus. Demgegenüber gehen wir hier statt von Bewertungstheorien von einer anderen kognitivistischen Theoriegruppe aus, nämlich belief-desire-Theorien. Diese werden in der Soziologie bisher nicht vertreten, obwohl sie eine wesentlich höhere Anschlussfähigkeit zu anderen Grundlagentheorien aufweisen. Nimmt man die Grundannahmen der belief-desire-Theorie, dann lassen sich handlungs- und emotionstheoretische Überlegungen viel enger zusammenschließen, als das bisher der Fall gewesen ist. Beide gehen nämlich davon aus, dass die Differenz von zwei Intentionsklassen für die Genese und die Erklärung von Handlungen wie von Emotionen maßgeblich ist, nämlich die Differenz von beliefs und desires, von konstativen und konativen Intentionen. Die belief-desire-Theorie der Emotionen befasst sich mit den informationsverarbeitenden Prozessen, die emotionalen Phänomenen zugrunde liegen. Diese Theorie kann sich auf eine lange Theoriegeschichte berufen (vgl. Meinong 1906 und 1917), auch wenn sie in der Phalanx der Emotionstheorien stets eine Minderheitenposition bekleidete (vgl. Reisenzein 2010 und 2012). Sie stellt eine Variante kognitiver Emotionstheorien dar, aber sie weicht in einem entscheidenden Punkt von den heute in diesem Feld dominierenden Appraisal- oder Bewer-
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tungstheorien ab. Dieser Punkt betrifft die kognitive Infrastruktur, die den emotionalen Erlebnissen zugrunde liegt. Bewertungstheorien gehen davon aus, dass Emotionen zwei Arten von Kognitionen voraussetzen, faktische Überzeugungen und evaluative Überzeugungen. Nehmen wir ein Beispiel: Anna freut sich über ihre Schulnote. Der Bewertungstheorie zufolge muss Anna zwei Kognitionstypen realisieren, um sich freuen zu können: Sie muss die Überzeugung haben, dass sie eine gute Schulnote erreicht hat, und sie muss diesen Sachverhalt als gut bewerten. Auch die belief-desire-Theorie geht davon aus, dass Emotionen faktische Überzeugungen oder Auffassungen zugrunde liegen. Aber sie unterscheidet sich von den Appraisaltheorien darin, dass die zweite Art von Intentionen, die hinzutreten muss, nicht Bewertungskognitionen sind, sondern motivationale Wünsche. Anna freut sich also über ihre Schulnote, weil sie der faktischen Überzeugung ist, dass sie eine gute Schulnote erreicht hat, und weil sie sich eine gute Schulnote wünscht. Emotionen, so die belief-desire-Theorien, entstehen aus Kombinationen von Überzeugungen und Wünschen. Der kognitiv-evaluativen Appraisaltheorie zufolge resultieren Emotionen erst mittelbar aus Wünschen, vermittelt über Wertüberzeugungen. Die belief-desire-Theorie sieht hier einen unmittelbaren Zusammenhang. Emotionen sind intrinsisch mit Wünschen verbunden. Sie entstehen aus der Information (Kognition) darüber, ob und wie bestimmte gewünschte Zustände realisiert sind oder nicht. Emotionen werden hier also als spezifische mentale Phänomene (und nicht in erster Linie als körperliche Reaktionen oder als Ausdrucksformen) betrachtet, die in der Regel, aber nicht notwendigerweise dem erlebenden Individuum auch präsent und bewusst sind. Emotionen werden als eine nicht-propositionale, sinnliche, mit einem phänomenalen Erleben verknüpfte Form der Informationsverarbeitung begriffen. Emotionen werden also auf Kombinationen von beliefs und desires zurückgeführt. Diese sind nicht aufeinander reduzierbar, weil sie unterschiedlichen Geltungsbedingungen genügen – Wünsche können sich erfüllen oder nicht, Überzeugungen können wahr oder falsch sein. Diese irreduziblen Intentionsklassen stellen die notwendige Infrastruktur für die Erklärung von Emotionen wie von Handlungen dar. Emotionen können also wie Handlungen als ‚Produkte‘ solcher mentaler Konstellationen betrachtet werden. Wie aber sehen solche Kombinationen aus? Die belief-desire-Theorie geht davon aus, dass die Genese von Emotionen (wie die von Handlungen) auf informationalen Vergleichsprozessen beruht. Allein das Vorhandensein von Wünschen oder von Überzeugungen reicht für die Genese von Emotionen nicht aus, sondern sie müssen in einer spezifischen Beziehung zueinander stehen und in Bezug aufeinander gewisse funktionale und kausale Rollen einnehmen. Dabei geht die Belief-Desire-Theorie davon aus, dass sich automatisch immer zwei Vergleichsprozeduren abspielen. Zum einen werden
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vorhandene Überzeugungen mit (neuen) Überzeugungen verglichen, zum anderen neu erworbene Überzeugungen mit vorhandenen Wünschen. Nehmen wir ein Beispiel: A hat Mitleid mit B, wenn: (1) A glaubt, dass P (ein Zustand, der B betrifft) der Fall ist, (2) A wünscht, dass ¬ P, (3) A wünscht, dass ¬ P, weil sie der Meinung ist, dass P für B nicht gut ist, (4) A wünscht aus altruistischen und nicht aus egoistischen Motiven, dass ¬ P. Diese mentalen Vergleichsprozesse laufen automatisch und unbewusst ab. Der Person werden die Ergebnisse dieser Vergleichsprozesse in Gestalt von nichtpropositionalen Signalen gezeigt. Sie erlebt sie in der Form von Emotionen, die in Art und Intensität beträchtlich variieren können. Emotionen, die sich bei einer besonderen Intensität mit besonderen phänomenalen Qualitäten bemerkbar machen und eben in der Form von Gefühlen spür- und erfahrbar sind, können der belief-desire-Theorie zufolge als Informationen betrachtet werden. Sie informieren ihren Träger über die (Un‐)Erwartetheit bzw. die (Un‐)Erwünschtheit dessen, was er neu erfahren hat bzw. wozu er neue Überzeugungen gebildet, neue Situationsdefinitionen gewonnen hat. Aus soziologischer Sicht ist weiterhin die Annahme plausibel, dass insbesondere drei Arten von desire besonders relevant sind: – die physisch-leibliche Integrität von Personen, – die Position von Personen in sozialen Konstellationen in Bezug auf den Austausch von sowohl materiellen als auch symbolischen Gütern wie Identitäts- und Anerkennungsansprüchen, – die Geltung von normativen und symbolischen Ordnungen von Gruppen und Gemeinschaften. Emotionen können dieser Theorie zufolge also als von Kombinationen aus Glaubensannahmen und Wünschen erzeugte ‚Signale‘ bestimmt werden, Kombinationen, in denen Übereinstimmungen oder Widersprüche von neuen Überzeugungen mit bisherigen Erwartungen berechnet und in der Form eines phänomenalen Erlebens artikuliert werden. Diese so erzeugten, phänomenal erlebbaren ‚Signale‘ haben im psychischen System unmittelbare Effekte: Sie steuern die Aufmerksamkeit und verschieben sie auf dasjenige, was der Anlass für Vergleichsprozesse gewesen ist; sie führen zu einer Modifikation und Verarbeitung von Überzeugungen und Wünschen in der Weise, dass alte Wünsche entweder beibehalten oder durch neue ersetzt werden oder bisherige Glaubensannahmen bestätigt, modifiziert oder ersetzt werden. Emotionen haben also die Funktion, das Verhalten dieses Systems umfassend zu regulieren und neu zu justieren. Emo-
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tionen sind mit sinnlichen Empfindungen vergleichbar, sie sind aber nicht wie diese darauf gerichtet, die Außenwelt oder den eigenen Körper zu erspüren, sondern das zentrale Repräsentationssystem der beliefs und desires auf neue Umwelten einzustellen. Wie fühlt es sich nun an, eine Emotion zu haben? Was unterscheidet emotionale von nicht-emotionalen Erlebnissen? Emotionen haben eine sinnlichen Empfindungen ähnliche phänomenale Qualität, sie weisen einen sensorischen Kern auf, der sich phänomenal nach gewissen Basisemotionen wie Freude oder Leid, Angst oder Hoffnung, Überraschung oder Enttäuschung gliedert, auf denen jeweils, veranlasst durch komplexere Überzeugungen und Wünsche, komplexere Emotionen wie Scham oder Eifersucht, Neid oder Ärger, Glück oder Trauer aufruhen. Stellen wir abschließend die Frage: Wie werden der belief-desire-Theorie zufolge Emotionen individuiert? Sie verweist auf die spezifischen Vergleichsoperationen von faktischen Überzeugungen und Wünschen. Immer dann, wenn bestimmte Wünsche oder bestimmte kognitive Erwartungen vorliegen, die in Kohärenz oder Inkohärenz zu neuen Informationen stehen, so bilden sich bestimmte Emotionen heraus – wie auch immer diese sowohl durch individuelle Lernprozesse als auch durch kulturelle Vorgaben gefiltert und modifiziert werden. Damit lässt sich nun auch die Frage angehen, was es heißt, dass Emotionen „geteilt“ oder „kollektiv“ sind. Sie sind dies, wenn die Personen sich in einer ähnlichen oder gleichen Individuierungskonstellation von beliefs und desires in Bezug auf Objekte oder Sachverhalte befinden. Aber reicht dies aus, um von einem ähnlichen, gleichen oder gar demselben Gefühl zu sprechen? Die belief-desire-Theorie weist nun eine Reihe von Problemen auf, die wir an dieser Stelle nicht ausführlich behandeln können. Ein zentrales Problem liegt sicherlich in ihrer kognitivistischen Verengung, die Emotionen als innere, mentale Ereignisse behandelt und problematisch werden lässt, dass Emotionen eine gewisse phänomenale Qualität haben, dass sie sich „anfühlen“ und dementsprechend als Phänomene aus einer Ersten-Person-Perspektive beschrieben werden müssen. Wie es ist, eine Emotion oder ein Gefühl zu haben, und was dies für den Weltzugang wie die Selbstbezugnahme von Personen bedeutet, bleibt weitgehend offen. Kognitivistische Theorien setzen sich zwar von den so genannten feeling theories insofern ab, als sie im Unterschied zu diesen Gefühle und Emotionen nicht auf ihre phänomenalen Qualitäten reduzieren, aber sie teilen mit diesen die Position, dass auch das Fühlen selbst keinen intentionalen Charakter hat. Die Intentionalität, die den Emotionen zugesprochen wird, fließt aus den Überzeugungen, Bewertungen oder Wünschen, die zu einem bestimmten phänomenalen Erleben führen, nicht aus diesem selbst. Diese Position wird nun in Opposition zu kognitivistischen Theorien neuerdings von solchen Ansätzen zu korrigieren versucht, die sich unter dem Etikett der
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„affektiven Intentionalität“ versammeln.⁵ Affektive Intentionalität heißt sowohl, dass Affekte intentionale Phänomene sind, als auch, dass intentionale Phänomene eine grundlegende Affektivität aufweisen. Dies bedeutet also, dass Gefühle, Emotionen oder auch andere affektive Phänomene wie Stimmungen einen spezifischen Selbst- und Weltbezug aufweisen. Sie sind – und dies macht eine erhebliche Differenz zu den „Kognitionen“ der kognitivistischen Emotionstheorien aus –insofern intentional, als sie wie alle anderen Intentionen auch auf etwas gerichtet sind, allerdings in der Weise des Fühlens und Spürens. So spricht beispielsweise Ratcliffe (2008) von leiblichen existential feelings wie Sich geborgen fühlen, Sich bedroht fühlen, Sich angenommen fühlen, die das primordiale Weltund Selbstverhältnis einer Person ausmachen können. Nach Slaby (2008) wird das Welt- und Selbstverhältnis von Personen emotional dadurch bestimmt, dass Emotionen den Bereich möglichen Erlebens und Handelns abstecken. Manche Emotionen wie Scham, Schuld oder Trauer verengen diesen Bereich enorm, andere wie Glück oder Freude erweitern ihn. Gefühle sind deshalb mehr als das sinnlich empfundene Resultat von kognitiven Vergleichsprozessen – sie sind Seinsweisen, die weit über den spezifischen Anlass hinaus in einer umfassenden Weise den praktischen Weltbezug von Personen bestimmen. „Feelings“, Gefühle, phänomenales Erleben sind dann insofern intentional, als sie auf ein Objekt gerichtet sind, welches seinerseits durch die Gefühle in einer spezifischen Weise, nämlich fühlend spezifiziert wird. Deshalb scheint uns die belief-desire-Theorie nicht in Bezug auf die Erklärung der Genese, wohl aber in Bezug auf die Beschreibung der phänomenalen Eigenschaften von Emotionen korrektur- und modifizierungsbedürftig. Emotionen sind mentale Phänomene, die auf etwas gerichtet sind; es sind intentionale Phänomene, die leiblich gespürt und erfahren werden, deren Intentionalität sich jedoch nicht nur im Medium des leiblichen Spürens bildet, sondern die auch die Eigenschaft aufweisen, dass sie sich auf intentionale Objekte nicht, wie „Kognitionen“, in einem Was-Modus, sondern in einem selbstbezüglichen Wie-Modus beziehen, also in der Dimension, in der intentionale Objekte für das erfahrende Subjekt sind.⁶ Emotionen sind evaluative phänomenale Zustände. Zudem muss man mit Demmerling (2013) darauf hinweisen, dass die Individuierung von Emotionen ein Werk der sprachlichen Artikulation ist.
Vgl. Goldie 2000, Helm 2001, Ratcliffe 2008, Schmid 2008, Slaby 2008. Theoretische Positionen, die Emotionen und Gefühle als intentionale Phänomene betrachten, bleiben oftmals die Antwort schuldig, wie sich die Intentionalität der Emotionen und Gefühle zu der Intentionalität der konstativen und konativen Akte verhält. Unterscheiden sie sich noetisch oder noematisch? Wir plädieren hier, wie schon ausgeführt, für eine „felt difference“ von Überzeugungen und Wünschen in Bezug auf etwas.
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4 Handlungskonfigurationen Wir waren davon ausgegangen, dass soziale und kollektive Phänomene sich als Handlungskonfigurationen verstehen lassen. Handlungskonfigurationen sind solche Konfigurationen, in denen sich Handlungen wechselseitig ermöglichen (vgl. Schützeichel 2010a). Handlungskonfigurationen sind funktional integriert in der Weise, dass die diachrone wie synchrone Realisierung von Handlungsformaten die Voraussetzung dafür ist, dass sich andere Handlungsformate realisieren können. Um ein Beispiel anzuführen: Wenn man für seine Freunde ein opulentes Menü vorbereiten will, so muss man eine Reihe von proximalen und distalen Handlungsformen praktizieren oder voraussetzen können, die von Einkaufen, Einladen, Kochen, Tisch Decken bis hin zu Geld Verdienen etc. reichen können. Und wenn man nicht nur ein Menü vorbereiten, sondern auch mit seinen Freunden einen gelungenen Abend verbringen will, so ist man darüber hinaus noch stärker von dem Mitwirken und dem Mitfühlen seiner Freunde abhängig. Emotionen und Stimmungen sind nicht nur „soziale Phänomene“ insofern, als sie in solchen Handlungskonfigurationen entstehen, sondern auch deshalb, weil sie den Akteuren in solchen Konfigurationen Möglichkeiten des Erlebens und Handelns signalisieren. Nun lassen sich drei Idealtypen von Handlungskonfigurationen unterscheiden (vgl. Schützeichel 2010a): – Singuläre Handlungskonfigurationen sind solche, in denen sich singuläre Handlungen realisieren können, die – wenn überhaupt – nur punktuell auf die Handlungen Anderer angewiesen sind. Singuläre Handlungen lassen sich nämlich von einem Akteur alleine realisieren lassen, beispielsweise Schwimmen, Gehen, Denken, Fühlen und andere. Solche Handlungskonfigurationen setzen im Grunde genommen nur eine Form von Ich-Intentionalität voraus: Ich schwimme, ich gehe, ich denke an, ich fühle. – Adjunkte Handlungskonfigurationen sind solche, in denen die Realisierung einer Handlung von der Realisierung der Handlung Anderer abhängig ist. Beispiele für adjunkte Handlungskonfigurationen sind Kaufen/Verkaufen oder Fragen/Antworten. Man kann nur kaufen, wenn eine andere Person etwas verkauft. Und nur das gilt als eine Antwort, was auf eine Frage folgt. Solche Handlungskonfigurationen setzen eine Form von sozialer Intentionalität voraus: Ego muss sich in verschiedenster Hinsicht an den desires und beliefs sowie an den Gefühlen von Alter orientieren, um seine eigenen Handlungen realisieren zu können. Soziale Intentionalität ist also Voraussetzung für adjunkte Handlungsformen. – Konjunkte Handlungskonfigurationen sind schließlich solche Handlungskonfigurationen, in denen sich gemeinsame Handlungsziele verwirklichen können. Beispiele hierfür sind: gemeinsam spazieren, gemeinsam einkaufen,
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gemeinsam lernen. Sie zeichnen sich durch eine Form von Wir-Intentionalität aus. Konjunkte Handlungskonfigurationen entsprechen dem, was Ulrich Baltzer (1999) als „Gemeinschaftshandeln“ bezeichnet: Jeder Handelnde orientiert sich in seinem Tun an dem gemeinsam zu verwirklichenden Handlungsziel wie auch an den Beiträgen des Anderen. Es bildet sich ein „geteiltes“ Handeln. Solche Konfigurationen kommen also durch eine Vernetzung von intentionalen Triaden zustande. Im Unterschied zu adjunkten Handlungskonfigurationen liegen in konjunkten eben gemeinsame Handlungsziele vor. In adjunkten gibt es nur eine Abstimmung der individuellen Handlungsziele an dem Handeln Anderer. Diese verschiedenen Handlungskonfigurationen existieren in der sozialen Welt natürlich nur selten in dieser Reinform. Es lassen sich verschiedene Tendenzen feststellen: In Organisationen, Netzwerken oder Märkten realisieren sich adjunkte Handlungskonfigurationen, in Vereinen, Familien oder Freundschaften eher konjunkte Handlungskonfigurationen, und ein weiter Bereich des Alltagslebens ist in diachroner Hinsicht durch die singuläre Handlungsform gekennzeichnet. Man kann aber behaupten, dass sich die sozialen Gebilde in der sozialen Weltmithilfe dieser Unterscheidung ordnen lassen, weil mit diesen Konfigurationen verschiedene normative und emotionale Integrationsformen verbunden sind. Die beliefs, desires wie auch die feelings von anderen Personen sind von daher in ganz unterschiedlicher Weise relevant. Eine intensive Form emotionaler Integration findet sich in konjunkten Handlungskonfigurationen. Man gründet Familien in aller Regel nur dann, wenn die Gefühle füreinander es erlauben, dass möglichst alle Aspekte der beteiligten Personen thematisiert werden können, also ein Ideal, welches in westlichen Gesellschaften seit zwei Jahrhunderten mit dem Ideal der romantischen Liebe umschrieben wird. Feiern oder Feste setzen entsprechende symmetrische Gefühlslagen ebenso voraus wie die so genannten posttraditionalen Gemeinschaften. Für alle diese Handlungskonfigurationen gilt, dass es nicht nur normative Regeln für das Handeln, sondern auch für das Fühlen gibt. Die Einhaltung dieser Regeln kann man gegebenenfalls einfordern und sanktionieren. Demgegenüber sind adjunkte Handlungskonfigurationen nur punktuell oder überhaupt nicht auf eine emotionale Integration angewiesen. Da sie sich in modernen bzw. modernisierten Gesellschaften als Märkte, Netzwerke oder Organisationen auf breiter Front durchgesetzt haben, wird ihnen in der sozialtheoretischen Tradition ein besonderer Hang zur Versachlichung und Rationalisierung der Lebensverhältnisse zugeschrieben. Das darf nicht, wie häufig unterstellt, mit einer Entemotionalisierung gleichgesetzt werden. Aber das Emotionsregime ändert sich, die normativen Verpflichtungen und Integrationen werden zurückgedrängt
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und der allgemeinen Kontrolle entzogen. Singuläre Handlungskonstellationen sind nur punktuell auf die Emotionen Anderer eingestellt. Die Handlungen und Emotionen Anderer müssen nur insofern berücksichtigt werden, als die eigenen Handlungen in ihrer Realisierung nicht irritiert oder gestört werden.
5 Formen sozialer Emotionalität Emotionen entstehen in Handlungskonfigurationen⁷, Handlungen wiederum in emotionalen, affektiven Konstellationen. Die intentionale, also singuläre, adjunkte oder konjunkte Ordnungsstruktur von Handlungskonfigurationen bestimmt, welche Emotionen generiert werden und welche funktionale oder kausale Rolle sie ihrerseits für die Reproduktion wie die Modifikation von Handlungskonfigurationen haben (vgl. Salmela 2012). Handlungskonfigurationen stehen also in einem wechselseitigen Konstitutions- und Bedingungsverhältnis mit gewissen emotionalen Ordnungen, die man als Emotionsregime oder als Formen sozialer Emotionalität bezeichnen könnte. Sie geben wieder, in welcher Weise die Emotionen – oder allgemeiner: die affektiven Dispositionen überhaupt – für das singuläre, adjunkte oder konjunkte Handeln relevant sind und in welcher Weise man deshalb auf solche Haltungen und Dispositionen eingestellt sein muss. Diesbezüglich lassen sich nun singuläre, adjunkte und konjunkte Emotionsregime unterscheiden. Sie richten sich – wenn man mit der belief-desire-Theorie argumentieren will – danach, welche Kategorie von desires man zugrunde legt: – Singuläre Emotionsregime beziehen sich auf die physisch-leibliche Integrität von Personen; – adjunkte Emotionsregime beziehen sich auf die Position und Stellung von Personen in sozialen Konstellationen, also auf ihre personale Identität; – konjunkte Emotionsregime beziehen sich auf die Geltung von normativen und symbolischen Ordnungen von Gruppen und Gemeinschaften und damit auf die kollektive Identität von Personen.⁸ An dieser Stelle sprechen Helm (2001), Roberts (2003) und auch Salmela (2012) von „concerns“, um die Wünsche, Interessen, Aversionen, Anteilnahmen etc. zu bezeichnen, die der thematische Fokus von Emotionen sind. Kollektive Emotionen werden dann, wie bei Salmela, auf „overlapping private concerns“ (Salmela 2012, 39) zurückgeführt. „Concerns“ setzen aber spezifische Belief-Desire-Konstellationen in Handlungskonfigurationen voraus. Deshalb scheint mir eine analytische Fundierung mit Hilfe einer Differenzierung von Handlungskonfigurationen grundlegender. Identitäten, ob personale oder kollektive (soziale), stellen eine normative Kategorie dar, die der Identitäts-Kontroll-Theorie (vgl. Stets/Burke 2005) zufolge bei kommunikativer Bestätigung mit positiven Emotionen, bei ihrer Negation mit negativen Emotionen gekoppelt ist.
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Singuläre Emotionsregime sind für die Sozialität des Fühlens nicht von Belang, weshalb sie hier vernachlässigt werden können. Adjunkte Formen emotionaler Sozialität reproduzieren sich in adjunkten Handlungskonfigurationen, die Erwartungen und damit Regeln darüber ausbilden, in welcher Weise die Emotionen des Einen für die Emotionen des Anderen relevant sein können. Formen adjunkter emotionaler Sozialität setzen eine Ego-Alter-Intentionalität voraus – Ego bezieht sich konativ, kognitiv und damit emotiv auf die (wie auch immer unterstellten) Intentionen Alters. Man leidet oder trauert mit Anderen, man freut sich mit Anderen, man schämt sich infolge der Scham Anderer, man ärgert sich, weil sich Andere freuen, man beneidet Andere ob ihres Glücks. Die Formen adjunkter Emotionalität beziehen sich also auf solche Emotionen, die aus der sozialen Intentionalität, der Bezugnahme auf die Emotionen und – gemäß der belief-desireTheorie – damit auf die Wünsche und Überzeugungen Anderer gewonnen sind. All dies spielt sich im Rahmen von eingespielten, mitunter institutionalisierten und damit als geltend vorausgesetzten kognitiven Erwartungen, Situationsdefinitionen, Wünschen und Zielen ab.⁹ In Hinsicht auf die Modalitäten, in denen man sich auf die Emotionen Anderer beziehen kann, können nun in einer sehr groben Weise wiederum responsive und reflexive emotionale Konfigurationen unterschieden werden. Reflexiv sind diese Konfigurationen, wenn sich die Beteiligten thematisch auf die Emotionen anderer Personen beziehen; responsiv sind sie, wenn sie durch eine Form der „Ansteckung“ oder „Imitation“ zustande kommen. Diese Unterscheidung zwischen reflexiven und responsiven sozialen Emotionen steht in einer gewissen Analogie zu der von Max Scheler (1913) vorgenommenen Unterscheidung zwischen den eigentlichen und den uneigentlichen Formen des Mitfühlens. Eigentliche Formen wie Mitleid, Sympathie oder Mitfreude, aber sicherlich auch solche „negativen“ wie Schadenfreude kommen durch eine intentionale Bezugnahme zustande. Uneigentliche Formen sind solche, die gleichsam durch „emotional contagion“ zustande kommen. Hierbei handelt es sich um eine vorintentionale, gleichsam „subdoxastisch“ sich vollziehende „Ansteckung“, die man mit Hatfield et al. (1992, 153) definieren kann als „tendency to automatically mimic and synchronize facial expressions,vocalizations, postures, and movements with those of another person and, consequently, to converge emotionally“. Was in dieser Forschung leider häufig nicht bedacht wird, ist, dass diese subdoxastische Emotionsregulierung nicht nur zu Konvergenzen, sondern auch zu Divergenzen führen kann. Dass nicht nur kognitive Strukturen und Erwartungen bzw. „appraisal structures“ (von Scheve/Ismer 2013), sondern auch Wünsche und Ziele als institutionalisiert angenommen werden müssen, um von kollektiven Emotionen sprechen zu können, folgt aus der Belief-DesireTheorie der Emotionen.
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Die in adjunkten Formen produzierten Emotionen wirken sich nun ihrerseits wiederum in ganz unterschiedlicher Weise auf die Handlungskonstellationen aus. Neid etwa führt, wie schon beschrieben, zu einer Sozialform, die man als serielle Isolation bezeichnen kann. Scham führt ebenfalls zu einer Vereinzelung, aber meist einer solchen, die sich vor einem Publikum abspielt und von daher besonders dort vorkommt, wo sich Gruppen gegen Einzelne wenden. Da auch allen anderen Emotionen gewisse Handlungstendenzen innewohnen, bieten sie ihrerseits wiederum das Potential für die Bildung unterschiedlichster adjunkter wie auch konjunkter Handlungskonfigurationen, wobei adjunkte Handlungskonfigurationen nur als „aggregative“ (Barsade/Gibson 1998), konjunkte hingegen als „gemeinsame“ Konfigurationen verstanden werden können. In konjunkten Konfigurationen werden die Emotionen als geteilt, als einheitlich, als „numerisch identisch“ erfahren (vgl. Schmid 2008)¹⁰. Die Aktionäre einer Großkonzerns freuen sich „adjunkt“ (vgl. auch von Scheve/Ismer 2013).¹¹ Dies unterscheidet ihre Freude von derjenigen von Eltern bei der Geburt ihres Kindes. Damit sich Formen adjunkter Emotionalität bilden können, ist nur affektiv basierte Kommunikation erforderlich. In adjunkten Beziehungen mag sich zwar die Emotionalität des Einen durch die des Anderen erklären, aber es liegt hier kein Abhängigkeitsverhältnis vor. Adjunkte Emotionalität weist keine holistischen Eigenschaften auf. Dies unterscheidet die adjunkte Emotionalität von den Formen konjunkter Emotionalität, auf die wir nun zu sprechen kommen. Konjunkte Formen sozialer Emotionalität reproduzieren sich in konjunkten Handlungskonfigurationen, also solchen Konfigurationen, die eine Wir-Intentionalität voraussetzen. Eine solche liegt immer dann vor, wenn Handlungen gemeinsam oder gemeinsame Handlungen durchgeführt werden und wenn (implizit oder explizit) normative Verpflichtungen erwachsen, die gemeinsame Handlungen möglich machen. Es macht gerade in Bezug auf die Elizitation wie auch auf den Ausdruck von Emotionen einen großen Unterschied, ob wir gemeinsam spazieren gehen oder ob wir synchron eine identische Wegstrecke zurücklegen. Gemeinsame Handlungen machen nicht nur eine intensivere Abstim-
Schmid formuliert mit Berufung auf Scheler eine starke These kollektiver Emotionalität: Kollektive Emotionalität liegt nicht bei type-Identität, sondern erst bei token-Identität vor, d. h. Personen teilen dasselbe, nicht das gleiche Gefühl. Dies ist hier mit ‚numerischer Identität‘ gemeint. Auch die von Collins (2004) angeführte Synchronizität emotionalen Erlebens, wie sie zum Beispiel kennzeichned für Rituale ist, scheint mir nicht hinreichend zu sein, um konjunkte Emotionalität möglich zu machen. Synchronizität emotionalen Erlebens ist in einem Extremfall auch in singulären Emotionsregime möglich, beispielsweise dann, wenn Emotionen gleichsinnig und gleichartig auf ein bestimmtes Umweltereignis reagieren.
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mung der Ziele und Wünsche, der Erwartungen und Situationsdefinitionen und der emotionalen Haltungen erforderlich, sondern es können Obligationen vorausgesetzt werden, nicht nur institutionalisierte, sondern die Gruppe oder das Kollektiv verpflichtende Situationsdeutungen, Zielbestimmungen und damit emotionale Dispositionen und Haltungen. Die Handelnden verstehen sich als ein Wir, als eine Gruppe oder eine Gemeinschaft, was zur Folge hat, dass die Obligationen in Bezug auf konstative wie konative Intentionen und emotionale Dispositionen sich intensivieren. Kollektive Intentionalität, so die diesbezüglichen Forschungen (vgl. Schmid/ Schweikard 2009), lässt sich in unterschiedlicher Weise begründen. Man kann an der Subjekt-Seite, am Modus oder am Gehalt intentionaler Phänomene anknüpfen: – Das Wir wird in der Subjekt-Position verortet: „Wir tun y“, so beispielsweise in der pluralen Subjekttheorie nach Margret Gilbert (2000 und 2002).¹² – Das Wir wird im Modus verortet: „Ich als Mitglied der Gruppe A tue y“, so beispielsweise nach Raimo Tuomela (2010). – Das Wir wird im Gehalt verortet: „Ich denke, dass wir ytun“, so beispielsweise bei Michael Bratman (1999). Aus unserer Perspektive sollten konjunkte Handlungskonfigurationen, in denen ein Wir vorausgesetzt wird, nach der Modus-Variation analysiert werden. Die ontologischen Kosten der Subjekt-Variation sind zu hoch, denn sie setzt eine WirGruppe als eine ontologisch unabhängige Entität voraus.¹³ Die Gehalt-Variation ist zu schwach, denn sie drückt nicht die normativen Verpflichtungen aus, die mit einem Wir oder einer Gruppe gegeben sind. Mit der Modus-Version hingegen lassen sich sowohl die Obligationen begründen wie auch die Faktizität von Gruppen, insofern sie auf der Anerkennung und Geltung von Individuen beruhen. Konjunktive Emotionen sind dann also solche Emotionen, die auftreten,wenn sich Individuen mit Gruppen identifizieren und eine Wir-Intentionalität anerkennen. Diesen Befund kann man mit Konzeptionen und Ergebnissen aus der sozialpsychologischen und mikrosoziologischen Forschung über „Intergroup Emotions“ belegen (vgl. den Überblick von Smith/Mackie 2008). Diese gehen davon aus, dass die emotionalen Reaktionen von Akteuren sich danach differenzieren, ob sie sich als Einzelperson oder als Gruppenmitglied sehen. So können Akteure auch dann emotional reagieren, wenn sie überhaupt nicht individuell von einem
Margaret Gilbert (2002) vertritt eine kognitivistische Variante kollektiver Emotionalität, die die Empfindungen und phänomenalen Qualitäten von Emotionen in den Hintergrund treten lässt und von daher die Kollektivität dieser Emotionen in kollektiven Kognitionen verankern kann. Vgl. auch Krebs 2009 und 2013a, die Kontroverse zwischen Müller 2013 und Krebs 2013b sowie die Ausführungen in Schnabel/Knoth 2012.
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Ereignis betroffen sind. Sie leiden nicht nur mit den Opfern einer Katastrophe in dem Sinne, dass sie sich in deren emotionale Lagen einfühlen, sondern sie können selbst diese Katastrophe fühlen. Sie fühlen sich auch dann glücklich oder ärgerlich, wenn nicht sie selbst, sondern ein Mitglied ihrer Gruppe betroffen ist (vgl. Yzerbyt et al. 2003; Parkinson et al. 2005). „Intergroup Emotions“ beruhen darauf, dass Individuen ihre Identität als Individuum hinter ihre Identität als Gruppenmitglied zurückstellen, was besonders häufig und intensiv dann der Fall ist, wenn die eigene Gruppe in einem Konflikt mit anderen Gruppen steht (vgl. Bar-Tal et al. 2007). Nach Tajfel (1981) führt eine solche Konstellation dazu, dass die Gruppe selbst für ihre Mitglieder eine hohe emotionale Signifikanz gewinnt. Dies wiederum hat zur Konsequenz, dass Konflikte zwischen Gruppen eine besondere emotionale Intensität aufweisen. Solche „Intergroup Emotions“ stellen also Emotionen dar, die sich auf einem Gruppen-Level realisieren, aber dieses realisiert sich in den intentionalen Haltungen der Individuen. Die Gruppe ist also keine Entität, die sich jenseits der Individuen befindet, obwohl es durchaus sein kann, dass ein einzelnes Mitglied diese Gruppenemotion als auferlegt empfindet. Entsprechend unterscheiden sich diese Gruppenemotionen auch nicht von den „normalen“, individuell realisierten Emotionen, sie weichen aber insofern von diesen ab, als sie erstens von gruppenspezifischen und nicht von individuumsspezifischen Anlässen ausgelöst werden, zweitens besondere Funktionen in der Strukturierung des Gruppenverhaltens und eben nicht des individuellen Verhaltens übernehmen und drittens eben von einer spezifischen kollektiven Intentionalität getragen werden.¹⁴ Vertritt man emotionstheoretisch nun die belief-desireTheorie, so muss man konsequenterweise Gruppen auch spezifische gemeinsame Überzeugungen und Wünsche bzw. Ziele zuschreiben. Gruppenemotionen sind also gleichsam nur im Verbund mit Gruppenzielen und Gruppenüberzeugungen zu haben. Und es lässt sich zudem zeigen (vgl. Kessler/Hollbach 2005; Smith et al. 2007), dass das Teilen der Gruppenemotionen positiv mit der Stärke der Gruppenidentität korreliert. Trotzdem werden Gruppenemotionen von den Individuen realisiert, und zwar nur insofern, als sie sich mit ihrer Gruppe identifizieren. Wenn man sich auf die oben vorgestellten Alternativen zur Begründung kollektiver Intentionalität bezieht, so findet sich in diesen sozialpsychologischen und mikrosoziologischen Theorien also eine Position, die mit derjenigen von Tuomela kompatibel scheint: „Ich als Mitglied der Gruppe fühle x.“ Dies ist konstitutiv für Formen kollektiver Emotionalität. Mit Salmela (2012) lässt sich festhalten, dass sozialpsychologische Theorien in der Regel die Differenz zwischen – in der hier zugrunde gelegten Terminologie formuliert – aggregierten und geteilten Emotionen dann verfehlen, wenn sie nur von ‚ähnlichen‘ Emotionen oder ‚emotional climates‘ (de Rivera 1992, Barbalet 1996) ausgehen und eine kollektive Identität vermissen lassen.
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Dennoch kann auch diese Modus-Version nicht alle Formen geteilten oder kollektiven Fühlens explizieren. Schauen wir uns nochmals das berühmte Beispiel von Max Scheler (1999, 23) an: Vater und Mutter stehen an der Leiche des geliebten Kindes. Sie fühlen miteinander ‚dasselbe‘ Leid, ‚denselben‘ Schmerz. Das heißt nicht: A fühlt das Leid und B fühlt es auch, und außerdem wissen sie noch, dass sie es fühlen – nein, es ist ein Mit-einanderfühlen. Das Leid des A wird dem B hier in keiner Weise ‚gegenständlich‘, so wie es dem Freund C wird, der zu den Eltern hinzutritt und Mitleid ‚mit ihnen‘ hat. Scheler grenzt die geteilten Emotionen der Eltern gegen die adjunkten Emotionen des Freundes C ab. Aber hat die Geteiltheit der Emotionen hier eine Wir-Intentionalität zur Voraussetzung? Es liegt keine Wir-Intentionalität vor, sondern eine basale Form kollektiver Intentionalität, die man als als eine anonym fungierende oder als eine „Man-Intentionalität“ begreifen könnte. Es handelt sich um eine primordiale Form, in der überhaupt nicht zwischen einem Wir oder Ihr, einem Ich oder Du unterschieden wird, sondern phänomenologisch davon ausgegangen wird, dass es ein numerisch identisches Gefühl gibt. Nennen wir diese Form emotionaler Sozialität die Form eines geteilten Fühlens. Folglich wird man auch die Formen der konjunkten Emotionalität in eine vorreflexive und reflexive differenzieren müssen, in eine aus einer „Man-Intentionalität“ resultierende geteilte Emotionalität und in eine aus einer Wir-Intentionalität resultierende kollektive Emotionalität.¹⁵ Man kann demnach folgende Formen emotionaler Sozialität unterscheiden:
Abb. 1 Formen emotionaler Sozialität
Emotionen haben eine transformierende Kraft für Handlungskonfigurationen. Dies sind jedoch hochspezifische Zusammenhänge, die hier nur angedeutet
Auch in Theorien von sozialen Lebensstilen bzw. gesellschaftlichen Milieus wird eine solche ‚Man-Intentionalität‘ des Fühlens vertreten (vgl. Schützeichel 2012a).
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werden können. Sie können die adjunkten oder konjunkten Handlungszusammenhänge transformieren in Richtung einer seriellen Isolation oder in Richtung einer Aggregation von Gefühlen. Wie schon erläutert, sind Neid-, Scham- und Schuldgefühle häufig Anlass für eine adjunkte Konfiguration in Gestalt einer seriellen Isolation. Andere Gefühle können zu Aggregationen führen oder adjunkte in konjunkte Konfigurationen überführen, nämlich dann, wenn sie assoziierend wirken oder Gemeinschaften dissoziieren. Dies weist wieder auf den grundlegenden Sachverhalt hin: Fühlen ist nicht nur ein soziales Phänomen, sondern Emotionen sind ein Indiz für die Struktur wie den Zustand von sozialen Konfigurationen sowie eine Kraft, die die Struktur und den Zustand von sozialen Konfigurationen transformieren kann.
6 Fühlen als eine komplexe Entscheidung – ein Résumé Die Frage, in welcher Weise Emotionen und Gefühle soziale Phänomene darstellen, haben wir in den vorangegangenen Ausführungen in einen handlungstheoretischen Kontext gestellt. Soziale Phänomene sind Handlungskonfigurationen. Es lassen sich drei grundlegende Typen von Handlungskonfigurationen identifizieren, nämlich singuläre, adjunkte und konjunkte Konfigurationen – manche Handlungen können singulär, andere nur adjunkt oder nur konjunkt realisiert werden. Eine zweite Weichenstellung wird getroffen in Bezug auf die Emotionstheorie. Hier haben wir die belief-desire-Theorie der Emotionen vorausgesetzt, weil sie – trotz aller phänomenologischen Mängel – im Gegensatz zu konkurrierenden Theorien triftige Analysen in Bezug auf die Genese von Emotionen präsentieren kann und zudem mit ihrer These, dass faktische Überzeugungen und Wünsche die intentionale Basis nicht nur für Emotionen, sondern auch für Handlungen ausmachen, eine erhebliche Affinität zu handlungstheoretischen Argumentationen aufweist. Handlungs- und Emotionstheorie können also auf diesem Wege kurzgeschlossen werden bzw. die Emotionstheorie kann in die Handlungstheorie integriert werden (vgl. Schützeichel 2012b). Auf diesem Wege konnten wir zwei grundsätzliche soziale Formen des Fühlens unterscheiden, nämlich solche, die in einem „Ich-Modus“, und solche, die in einem „Wir-Modus“ stattfinden. Diesbezüglich haben wir die entsprechenden Analysen in Bezug auf die kollektive Intentionalität von Handlungen auf Emotionen übertragen, eben weil Emotionen sich in entsprechenden Handlungskonfigurationen realisieren: Formen adjunkter Emotionalität in adjunkten Handlungskonfigurationen, in denen eine soziale Intentionalität vorherrscht; Formen konjunkter Emotionalität in
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konjunkten Handlungskonfigurationen, in denen eine Wir-Intentionalität vorliegt, die mit besonderen normativen Verpflichtungen in Bezug auf Handlungsziele, Situationsdefinitionen und Emotionen einher geht und – gemäß einer auf Wir-Intentionalitäten übertragenen belief-desire-Theorie – aus der Bestätigung bzw. der Ablehnung von kollektiv verbindlichen Situationsdefinitionen und kollektiven Zielen kollektive Emotionen erwachsen lässt. Zudem haben wir festgestellt, dass konjunkte Emotionalität starke holistische Eigenschaften aufweist, d. h. ein Individuum kann nur dann bestimmte Emotionen realisieren, wenn auch andere Individuen gleichartige Emotionen realisieren. In gesellschaftstheoretischer Hinsicht lässt sich deshalb eine zunehmende Ambivalenz des Fühlens konstatieren. Da einerseits die dauerhaften konjunkten Handlungszusammenhänge aufgrund von Individualisierungsprozessen an Stabilität und Legitimität verlieren, wir aber andererseits mit immer neuen, transitorischen, konjunkten Zusammenhängen konfrontiert werden, sind die Individuen immer häufiger vor die Wahl gestellt, wie sie fühlen sollen: in einem Ich-Modus oder einem WirModus. Das Fühlen ist schwieriger und komplexer geworden.
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Das Soziale der Gefühle zwischen Involviertsein und Konstitution 1 Was sind Gefühle? Unter der Überschrift „Gefühle“ wird ein Spektrum erfasst, das von den Leidenschaften über Emotionen, Stimmungen zu den Empfindungen reicht und sich noch auf Wahrnehmungen, Wünsche, erkennende Gefühle und Gefühlstugenden ausdehnen lässt. Gefühle im Sinne der Wünsche sind dabei unvermeidbar; Wünsche lassen sich immer entdecken. Dies gilt für Gefühle im Sinne der Leidenschaften nicht: Leidenschaften sind ganz besondere Gefühle – im positiven wie im negativen Sinne. Zu Leidenschaften neigt nicht jeder; so sind Gefühle und Leidenschaften nicht einfach gleichzusetzen. Es ist nicht möglich, keine Gefühle zu haben. Gefühle prägen uns immer.Was irrtümlich als gefühllos daherkommt, sind im Grunde andere Gefühle, nämlich solche der Disziplinierung, der Distanz, des unterdrückten Gefühlsausdruckes.¹ Gefühle sind in unserem subjektiven Erleben etwas, das uns die Welt innen und außen als besonders empfinden lässt. Auch wenn jede Person die Fähigkeit hat, das Besondere durch das Gefühl zu erschließen, bleibt es etwas Besonderes. Hermann Schmitz ist einer der Philosophen, die Gefühle in ihrer Leiblichkeit in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen: „In unserer Lebenserfahrung sind die Gefühle und das leibliche Befinden die Faktoren, die merklich dafür sorgen, dass irgend etwas uns angeht und nahe geht. Denken wir sie weg, so wäre alles in gleichmäßige, neutrale Objektivität abgerückt“ (Schmitz 1989, 107). Thomas Nagel hat einen benachbarten Punkt in seinem Aufsatz „What is it Like to Be a Bat“ in ganz anderer Begrifflichkeit herausgearbeitet: In der Innenperspektive etabliert sich ein Fühlen selbst, das in einer Außenperspektive nicht begrifflich verfügbar ist.² Gefühle dienen dazu, die Perspektive einer Besonderheit hervorzubringen und so eine innere Beteiligung zu schaffen. Sie sind Agenten der Wichtigkeitsbesetzung und führen ein „In-etwas-Involviertsein“³ herbei. Entsprechend sperren sich Gefühle gegen allgemeine Worte, weil diese gerade das Spezifische des Involviertseins verfehlen. Wer genau weiß, dass Menschen zur geschlechtlichen Vgl. Hastedt 2005, besonders 11 ff. und 75 ff. Vgl. die deutsche Übersetzung in Nagel 1984, 167– 184. So Heller 1981, 19: „Fühlen heißt, in etwas involviert zu sein. […] Ich fühle = ich bin in etwas involviert.“
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Liebe geradezu getrieben werden, wird dies in einer intimen Situation der Vertrautheit trotzdem eher als störende Information abweisen. Zu den Gefühlen gehört, dass sie die Wichtigkeitsbesetzung mit Erfolg vornehmen und sich nicht durch allgemeine Perspektiven stören lassen. Einsicht in die Allgemeinheit der Liebe bedeutet das Ende der besonderen Liebe. Gefühle tönen die Welterschließung und die Wahrnehmung von uns und anderen: „Gefühle sind Atmosphären, die freilich nicht wie das Wetter physikalisch interpretierbar sind, diesem aber in anderer Hinsicht ähneln.“⁴ Die bisher genannten Aspekte lassen sich in folgender Umschreibung zusammenfassen: Der Begriff des Gefühls steht für vielfältige Formen des Involviertseins, das Besonderheit qualitativ erfahrbar macht und so Wichtigkeitsbesetzung ermöglicht. Die Vielfalt des Involviertseins beinhaltet sowohl die Leiblichkeit als auch das lange Zeit als Innerlichkeit gedeutete Mentale des Menschen. Die These des Involviertseins durch Gefühle ist daher vereinbar mit unterschiedlichen Verständnissen der Leib-Seele-Beziehung.
2 Cartesianische Bewusstseinsphilosophie als nicht-soziale Gefühlsdeutung Ein Reduktionsprogramm, das die neuzeitliche Philosophie geprägt hat, besteht in der Gleichsetzung von Gefühlen und bewussten Gefühlen des Individuums. Réne Descartes als Pionier der Bewusstseinsphilosophie betont: „Ich denke, also bin ich“. Es wird oft vergessen, dass in der Übersetzung des Lateinischen cogito mit „Ich denke“ die Gefühle sprachlich unter den Tisch fallen. Descartes hatte im Bedeutungsinhalt von cogitare, cogitationes und res cogitans durchaus Gefühle eingeschlossen: „Aber was bin ich denn nun? Ein denkendes Ding. Was ist das? – Ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, das auch bildlich vorstellt und empfindet“ (Descartes 1976, 51). Auch wenn in diesem Zitat das Kognitive dominiert, so kommen die Gefühle neben dem Willen doch in Gestalt der bildlichen Vorstellung und des Empfindens vor. Gefühle teilen in der Tradition der Bewusstseinsphilosophie eine besonders wichtige Eigenschaft des bewussten Denkens, nämlich die vollständige Transparenz. Denken und Fühlen gelten bei Descartes gleichermaßen als bewusst und dem Subjekt unmittelbar zugänglich. In der Tradition der Bewusstseinsphilosophie wird ein privilegierter Zugang zu den eigenen Gefühlen unterstellt: Das Ich hat eine nicht hintergehbare Autorität, was die eigenen Gefühle angeht. Demnach kann nur ich selbst beurteilen, ob mein „Ich
Schmitz 1989, 22. Vgl. auch Schmitz 1998, 22, mit folgender Zuspitzung: „Gefühle sind räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären.“
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liebe dich“ der Wahrheit entspricht. Solange ich ehrlich bin, kann also nichts diese Behauptung dementieren. Selbsttäuschung ist in der Tradition der Bewusstseinsphilosophie begrifflich nicht vorgesehen. Genauso wie Descartes in der stilisierten Situation der ersten Meditation allein nachdenkend vor dem Kamin sitzt, so haben in seiner Philosophie soziale Einflüsse auf das Bewusstsein keinen Platz. Wenn Gefühle – wie Descartes unterstellt – im Inneren zu finden sind, liegt es nahe zu unterstellen, dass sie authentisch und privat nur mir selbst zugänglich sind. Doch diese Vorstellung von den eigenen Wünschen und Gefühlen scheint falsch zu sein. Mit der Erfindung der Innerlichkeit, die eine wichtige Bereicherung unserer selbst darstellt, gehen diese Vorstellungen allerdings oft einher. Insofern ist es wichtig, bestimmte Assoziationen der Innerlichkeit – insbesondere ihre private quasi-Räumlichkeit und die hiermit gekoppelte Vorstellung des Authentischen – abzuweisen, ohne die Innerlichkeit mit ihrem Involviertsein außer acht zu lassen. Nach der Art und Weise, wie in der von Descartes ausgehenden Tradition über Gefühle nachgedacht wird, haben wir es bei Gefühlen mit inneren Gegenständen zu tun, die quasi schicksalhaft und von uns unbeeinflusst in unserem Inneren ihr Wesen oder ihr Unwesen treiben.⁵ Gefühle sind jedoch nichts vor aller Interpretation Vorhandenes, als wenn sie bloß Ereignisse in unserem Inneren wären, mit denen wir gar nichts zu tun hätten Es gehört zu den Irrtümern der Cartesianischen Tradition, zu meinen, dass wir uns vollkommen transparent sind. Gefühle gelten in dieser Tradition als selbst-verifizierend, das heißt, Gefühle haben immer Recht, weil sie Fakten unseres Innenlebens sind. Das Involviertsein der Gefühle lässt sich nicht einfach wie bei einer Maschine an- und abschalten; es ist aber auch nicht einfach ohne unser Zutun gegeben: Weder sind Gefühle willkürlich konstruiert noch einfach vor aller Interpretation authentisch gegeben.
3 Ludwig Wittgensteins Privatsprachenargument Zur Präzisierung leistet Ludwig Wittgensteins Privatsprachenargument Entscheidendes, indem es den Zusammenhang von Gefühlen und der sozial verstandenen Sprache reflektiert. Für die Philosophie der Psychologie findet sich in den Abschnitten 243 bis 315 der Philosophischen Untersuchungen das philosophische Gegenstück zu Sigmund Freuds psychologischer Kritik einer reinen Bewusstseinsorientierung. Wie Freud nämlich die einseitige Bewusstseinsorientierung der neuzeitlichen Philosophie in Hinblick auf das systematisch Unbewusste
Vgl. Bedford 1956/57, 281– 304, sowie Sellars 1981, 184– 198.
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kritisiert, nutzt die Kritik Wittgensteins die Infragestellung einer traditionellen Sprachauffassung. Die Bewusstseinsphilosophie muss – so wird bei Wittgenstein herausgearbeitet – ein Verständnis von Sprache unterstellen, die die wesentlich soziale Funktion der Sprache vernachlässigt. Dagegen betont Wittgenstein: „Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. […] Einer Regel kann man nicht privat folgen. […] Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen. Man wird dazu abgerichtet […].“ (Wittgenstein 1971, §§ 199, 202 und 206) In der Auffassung von Sprache als einem sozialen Sprachspiel, das jeweils mit einer Lebensform verbunden ist, kann sich nicht eine Person allein eine Sprache ausdenken. Eine Sprache ist vielmehr immer Ausdruck einer Lebensform, in deren Rahmen die Sprache eine Bedeutung und auch eine Funktion hat. Das Erlernen einer Sprache kommt einer Abrichtung des Nachwuchses gleich und gehört in die Sozialisation. Mit dieser Sprachauffassung im Hintergrund nutzt Wittgenstein die Methode einer reductio ad absurdum, um eine These anhand ihrer merkwürdigen und abwegigen Konsequenzen als absurd auszuweisen. Zentral für die Kritik einer Privatheit der Empfindungen und damit der Gefühle überhaupt ist das Käfer-Beispiel von Wittgenstein: Wenn ich von mir selbst sage, ich wisse nur vom eigenen Fall, was das Wort ‚Schmerz‘ bedeutet, – muss ich das nicht auch von den Andern sagen? Und wie kann ich denn den einen Fall in so unverantwortlicher Weise verallgemeinern? Nun, ein Jeder sagt es mir von sich, er wisse nur von sich selbst, was Schmerzen seien! – Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ‚Käfer‘ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers,was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, dass Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. (Ebd., § 293; vgl. auch §§ 256 und 244)
Wittgenstein folgert aus diesem und ähnlichen Fällen: So privat können Schmerzen und Gefühle überhaupt nicht sein. Da wüsste niemand, dass es Schmerzen und Gefühle überhaupt gibt und was sich da so in einem regt. Deshalb ist die Vorstellung zurückzuweisen, dass Gefühle innere Gegenstände sind, die wir mit Wörtern nur sekundär benennen. Die Sprache der Gefühle greift vielmehr in die Welt der Gefühle selbst ein; in diesem Sinne gäbe es die Gefühle ohne die Sprache über sie gar nicht. Damit geht Wittgenstein nicht so weit zu sagen, Gefühle seien frei für alle zugänglich: „Der Satz ‚Empfindungen sind privat‘ ist vergleichbar: ‚Patience spielt man allein‘.“ (Ebd., § 248) Das Haben von Gefühlen ist also durchaus privat; eine Person hat jeweils ihre je eigenen Gefühle. Zwei Personen können nicht im Wortsinne dieselben Gefühle haben. In einer anderen philosophischen Tradition hat Martin Heidegger diesen Gedanken als Jemeinigkeit unseres Daseins bezeichnet. Trotz der Jemeinigkeit eines privaten Habens von Gefühlen ist die
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Identifikation von Gefühlen nur zu leisten über eine öffentlich geteilte Sprache. Sprache muss hier keineswegs nur verbal explizite Sprache bedeuten; Bild, Ton und Andeutungen sind ebenfalls mitgemeint. Ohne die prinzipielle Fähigkeit, Gefühle zur Sprache zu bringen, gäbe es sie als solche gar nicht. Wenn wir also nicht in eine öffentlich tradierte Sprache über Gefühle einsozialisiert und kulturalisiert wären, könnten wir für uns nicht von Gefühlen sprechen. Dies bedeutet nicht, dass dann an dieser Stelle gar nichts wäre, denn die Basis eines involvierenden Fühlens selbst ist ja weiterhin vorhanden. Doch die Vorstellung eines Fühlens selbst, ohne jemals eine Sprache für Gefühle zu haben, lässt sich nicht denken – jedenfalls auf der Basis von Wittgensteins Sprachauffassung nicht. Zur Vermeidung eines Missverständnisses sei allerdings betont: Sprache muss nicht in jeder einzelnen Situation durch Sprechen realisiert werden. Die Sprache im Allgemeinen und die Gefühlssprache im Besonderen sind eine Art Hintergrundinstitution, die im Prinzip gegeben ist, aber nicht in jeder Situation auch benutzt werden muss. Es geht also nicht um das ständige Bereden von Gefühlen (womöglich um sie nicht haben oder nicht ausdrücken zu müssen). Wittgensteins Punkt richtet sich lediglich auf die prinzipielle Sprachlichkeit der Gefühle. Wie verhält es sich mit der großen Liebe, die sich leider nur nicht ausdrücken kann? Mit Wittgenstein wäre hier eine Unterscheidung zu treffen. Schüchternheit ist zum einen kein Dementi der Liebe, denn es handelt sich quasi um ein anderes Verhalten. Schüchternheit ist eine Art Gehemmtheit im eigentlich gewünschten Gefühlsausdruck. In diesem Sinne gibt es auch für Wittgenstein Liebe ohne spezifischen Ausdruck. Zum anderen besteht Wittgenstein darauf, dass ein „Ich liebe dich“, das sich nie in Verhalten manifestiert, irgendwann Selbst- oder Fremdtäuschung ist. Demgegenüber ist die schüchterne Unfähigkeit, die Liebe auszudrücken, durchaus ein Grenzfall der Manifestation von Liebe. Jedenfalls reicht es für die Liebe nicht aus, ihr Vorhandensein – von außen unbeobachtet – immer nur für das eigene Innere zu behaupten.
4 Das Involviertsein der Gefühle geht nicht in Sprachlichkeit auf Wenn die Zugänglichkeit zu Gefühlen im Medium der Sprache als eine soziale gedacht wird, heißt dies nicht, dass Gefühle in ihrer sprachlichen Sozialität aufgehen. Das Involviertsein der Gefühle überschreitet vielmehr in seiner qualitativen Dimension (ebenso wie die Leiblichkeit des Menschen) die Sprachlichkeit. An dieser Stelle ist es wichtig, gedankliche Extreme zu vermeiden: Bei aller sprachlichen Zugänglichkeit, die für Gefühle ebenso wie für andere Teile der
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Wirklichkeit zu unterstellen ist, lässt sich diese nicht einfach durch andere Benennungen zum Verschwinden bringen. Wirklichkeit überhaupt hat genauso wie die der Gefühle ein Moment der Widerständigkeit. Nach ihrer Etablierung ist das Involviertsein der Gefühle sozusagen echt, obwohl in elaborierten Überlegungen die soziale Gewordenheit nachgezeichnet werden kann. Genesis und Geltung unterscheiden sich auch in dieser Hinsicht. Was für das Involviertsein der Gefühle gilt, lässt sich ebenso für Kultur und Natur der Gefühle sagen. Auch die naturale Basis der Gefühle ist so zu denken, dass sie zwar durchaus im Medium der Sprache erschließbar ist, aber eben auch ein Moment der sprachlichen Unverfügbarkeit enthält. Neben dem Involviertsein und der naturalen Basis lässt sich als dritte Form der Gefühlsannäherung noch das Kulturelle einbeziehen. Alle drei Perspektiven sind selbst als sozial geteilte zu verstehen, deren Vernachlässigung einer Reduktion des Gefühlsverständnisses gleichkäme. Wenn in diesem Artikel das Soziale der Gefühle thematisiert wird, bedarf es einer Abgrenzung des Sozialen vom Kulturellen. Diese Abgrenzung gelingt am einfachsten über die jeweiligen Gegenbegriffe: Das Soziale unterscheidet sich vom Individuellen und – in Auseinandersetzung mit der Cartesianischen Bewusstseinsphilosophie – vom Privaten. Im Mittelpunkt dieses Artikels steht die These, dass Gefühle trotz allen Involviertseins und trotz aller Innerlichkeit bzw. Leiblichkeit als soziale Phänomene zu verstehen sind. Das Kulturelle unterscheidet sich demgegenüber vom Natürlichen. Dementsprechend trete ich dafür ein, dass sowohl Natur als auch Kultur auf einer sozialen Zugänglichkeit basieren, die beide Berücksichtigung verdienen.
5 Martha Nussbaums sozialer Kognitivismus in der Gefühlsphilosophie Martha Nussbaum vermeidet eine Thematisierung der kulturellen und naturalen Dimension der Gefühle und konzentriert sich auf ihren kognitiven Anteil. Für sie liegt das Soziale der Gefühle ausschließlich im Kognitiven. Sie bemüht sich um eine Thematisierung und Aufwertung der Gefühle, um einer Abwertung von angeblich gefühlsdominierten Frauen entgegen zu arbeiten: Frauen sind gefühlsbetont, Gefühle sind etwas Weibliches. Diese in westlichen und nichtwestlichen Traditionen weit verbreitete Auffassung dient seit Tausenden von Jahren auf unterschiedliche Weise dazu, Frauen von einer vollwertigen Teilnahme an der menschlichen
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Gemeinschaft auszuschließen und die moralische Erziehung der Männer – in einer auch für deren Entwicklung oft abträglichen Weise – in eine bestimmte Richtung zu lenken.⁶
Die Definition von Gefühlen ist vor diesem Hintergrund keine neutrale Angelegenheit, sondern bereitet vor, ob Frauen und Männern gleichermaßen eine Chance auf ihre eigenen Gefühle zugesprochen wird. Martha Nussbaum betont den kognitiven Anteil der Gefühle, um die Abwertung von Frauen über einen falsch verstandenen Dualismus von Gefühl und Verstand abzuweisen: Demnach beruht dieser Dualismus „auf einem inadäquaten philosophischen Verständnis der Gefühle und ihres Verhältnisses zu Überzeugungen und Urteilen“, wonach Gefühle – quasi animalisch – „irrationale, unreflektierte Energien“ sind, die Menschen wie „Windböen oder Meeresströmungen mit sich fortreißen“ (Nussbaum 1999, 136 f.). Positiv will sie darlegen, dass das „beste philosophische Verständnis der Gefühle diese nicht als rohe irrationale Kräfte begreift, sondern als intelligente und differenzierende Persönlichkeitselemente, die eng mit Wahrnehmung und Urteilsvermögen zusammenhängen“ (ebd., 136). In ihrem kognitiven Überzeugungsbestandteil sind Gefühle für Nussbaum eine „soziale Konstruktion“; denn „ohne Überzeugungen“ gibt es „keine emotionalen Erfahrungen“. Da diese aber in der Gesellschaft erlernt werden, sind sie als sozial zu denken (ebd., 166 f.).⁷ Der feministische Ansatz von Martha Nussbaum und ihr Versuch, Gefühle für Frauen und Männer gleichermaßen gewichtig zu nehmen, überzeugt m. E. ebenso wie die Unterstellung eines kognitiven Überzeugungsanteils für Gefühle. Weniger geglückt scheint es mir jedoch, das Soziale der Gefühle ausschließlich von diesem kognitiven Überzeugungsanteil her zu deuten. Vielmehr bleibe ich bei meinem Vorschlag, die Dreiheit des Gefühlsverständnisses mit Involviertsein, Natur und Kultur gleichermaßen als sozial zu verstehen.
Nussbaum 1999, 131. Vgl. auch Nussbaum 2002. „Daher lassen sich sowohl die Tatsache, dass ein Mensch Gefühle hat […], als auch das spezielle Repertoire von Gefühlen, über das er verfügt, am besten dadurch erklären, dass die Gesellschaft, in der der betreffende Mensch aufgewachsen ist, untersucht und befragt wird, was zu denken ihn diese Gesellschaft gelehrt hat“ (Nussbaum 1999, 167).
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6 Die Teilberechtigung von Naturalismus und Fremdperspektive Nicht nur bei der Liebe, sondern auch in der Kulturgeschichte des Schmerzes und dem kulturellen Umgang mit der Zeit (vgl. Le Breton 2003 sowie Levine 1999) haben wir es zugleich mit Sachverhalten zu tun, die eine naturale Basis haben. Gleichwohl gibt es bei Schmerz und Zeit eine Erlebensdimension, die nicht einfach in einer naturalistischen Deutung aufgeht, aber auch nicht privat von einem Individuum erfunden wird. Wittgenstein überzieht seinen Anti-Naturalismus und folgt geradezu einem Sprachidealismus unter Vernachlässigung eines natürlichen Anteiles der Gefühle. Die sprachliche Zugänglichkeit zur Wirklichkeit als Teil der kulturellen Konstitution ist mit der Natürlichkeit der Gefühle auf eine Art und Weise zusammenzudenken, die über eine Deutung des naturalen Kerns als ein bloß erkenntnistheoretisches Ding an sich hinausgeht. Aber auch die Erkenntnis der eigenen Gefühle muss sozial erlernt werden. Gefühle lassen sich nur um den Preis der Fremd- und Selbsttäuschung, der Lüge also, erfinden. Diese sind jedoch kulturelle Spätlinge; denn erst einmal muss die Nicht-Täuschung in der Gefühlswelt sein. Wenn Gefühle der eigenen Innerlichkeit nicht einfach gegeben sind und der Interpretation unterliegen, kann ich mich selbst über mich täuschen. Ein privilegierter Zugang zu den eigenen Gefühlen, der diese als authentische entdecken kann, besteht nicht. Im Einzelfall ist das Ich, sind meine Gefühle von einem informierten Anderen, sei es ein Freund oder ein Therapeut, unter Umständen besser verstehbar, als mir dies selbst möglich wäre. Im Prinzip gibt es zwischen mir und den anderen keinen Unterschied im Verstehen von Gefühlen; tatsächlich ist der empirische Vorsprung, den das Ich durch den langjährigen Umgang mit sich selbst hat, aber in der Regel nicht einzuholen.Vor aller Interpretation sind Gefühle weder mir selbst noch anderen zugänglich, so dass das Pathos einer Charakterisierung „In Wirklichkeit sind meine Gefühle so und so“ unberechtigt ist. Den Zugang zur eigenen Innerlichkeit als unkorrigierbar und privilegiert zu deuten, ist ein Fehlurteil, das der Vielschichtigkeit der menschlichen Gefühle nicht gerecht wird. Geradezu gefährlich kann das gegenteilige Extrem werden, wenn das Ich bei seinen Selbstdeutungen durch die Perspektive von außen übergangen und unterminiert wird. Während das Ich sich mit Selbstdeutungen, die der Illusion des Authentischen unterliegen, vor allem selbst schadet, ist die ideologiekritische Besserwisserei von außen eine Gefährdung für die Freiheit der Individuen. Deshalb ist es wichtig, dass Ideologiekritik nicht nur in der Version von Marx ausgedient hat, sondern auch in Versionen, die sich von Nietzsche, Freud und der heutigen Neurobiologie inspirieren lassen. Das Ich mag sich sys-
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tematisch und dauerhaft über die eigenen Motive täuschen – eine Berechtigung, das Ich ideologiekritisch zu übergehen, resultiert daraus nicht.
7 Interpretation statt Authentizität Die Vorstellung einer einzig wahren Deutung des Selbst ist sowohl in der Variante der privaten Innerlichkeit wie in der einer von außen operierenden Ideologiekritik aufzugeben; denn es gibt kein wahres Ich.⁸ Was wir als Ich bezeichnen, ist jeweils unsere eigene Interpretation: „Reife besteht nach dieser Ansicht eher in der Fähigkeit, noch nicht da gewesene Neubeschreibungen der eigenen Vergangenheit ausfindig zu machen, und das ist die Fähigkeit zur nominalistischen, ironischen Selbstbetrachtung.“ (Rorty 1988, 52, vgl. auch 55 und 62) Gerade weil verschiedene Interpretationen von Personen möglich sind, gibt es Anlass zum toleranten Miteinander, in dem keiner Deutung von vornherein der Status des einzig Richtigen zukommt. Die Vielfalt möglicher Interpretationen macht die kulturelle Erfindung der Innerlichkeit zu einem Schatz, der die Selbstbeschäftigung während eines ganzen Lebens als große Reise mit immer neuen interessanten Einsichten verstehen lässt. Die mit der Privatheit der Innerlichkeit verbundene Fehldeutung des Authentischen suggeriert demgegenüber eine gleichbleibende Substanz im Inneren, die es nur einmal zu entdecken gilt. Wenn Gefühle der Interpretation ausgesetzt und insofern trotz der Widerständigkeit ihres Involviertseins sprachbezogen zu denken sind, können wir uns auch nicht als authentische Urheber und Autoren unserer Gefühle verstehen.⁹
8 Natur und Kultur der Gefühle Gefühle zu haben, gehört zur biologischen Grundausstattung des Menschen; gleichwohl bedeutet es eine Kulturleistung, Gefühle differenziert auszubilden und Worte für sie zu finden. Die Kulturleistung besteht nicht darin, die Natürlichkeit
Vgl. Rorty 1988, 51 f., im Kontext seiner Freud-Deutung. Neben dem deskriptiven Begriff der Authentizität gibt es noch eine normative Form, die erwünschte Eigenschaften einer Person wertend auszeichnet und die von der Kritik an der deskriptiven Authentizitätsorientierung nicht getroffen wird. Als authentisch wird dann nicht eine angeblich vor aller Interpretation gegebene Innerlichkeit charakterisiert, sondern von mir selbst geschätzte Teile werden auf diese Art und Weise lobend hervorgehoben. Im Verhältnis von Rolle und Person ermöglicht das Aufsuchen des Authentischen eine Identifikation mit dem Erlebten. Eine authentische Erfahrung ist eine nicht entfremdete Erfahrung (vgl. Taylor 1995).
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der Gefühle zu verlassen; vielmehr ist in der Natur des Menschen eine Offenheit für die kulturelle Ausgestaltung angelegt; Neurobiologen sprechen in diesem Zusammenhang von der Plastizität des Gehirns, die es zu einem sozialen Organ macht. Soziale Umgebungen verändern das menschliche Gehirn.¹⁰ Diese Prägbarkeit des Gehirns auch nach der Geburt eröffnet die Möglichkeiten zur kulturellen Ausgestaltung natürlicher Eigenschaften des Menschen. Nicht in allen Kulturen und nicht zu allen Zeiten werden Gefühle in gleicher Weise gedeutet; die kulturelle Verschiedenheit ist dabei mehr als nur ein Unterschied in der Etikettierung von ansonsten gleichbleibenden Gefühlen, sondern sie selbst verändern sich kulturell. Die Bedeutung des Kulturellen zu betonen, impliziert keine Position, wonach Kultur als getrennt vom Bereich der Natur zu denken ist. Der Sache nach lassen sich Natur und Kultur ganz gut zusammendenken, wie beispielsweise Eva Illouz mit Blick auf eine der Untergruppen der Gefühle erläutert: „‘Emotionen‘ sind das komplexe Zusammenspiel von physiologischer Erregung, Wahrnehmungsmechanismen und Interpretationsprozessen; sie liegen damit an der Schwelle, wo das Nicht-Kulturelle in der Kultur verschlüsselt ist, wo Körper, Kognition und Kultur konvergieren und verschmelzen“ (Illouz 2003, 3). Probleme bei der Deutung dieses komplexen Zusammenspiels wirft der begriffliche Dualismus von Natur und Kultur auf, der nahelegt: Wo Kultur ist, kann keine Natur sein. Das sachliche Gegenteil hiervon ist jedoch richtig: Wo Kultur ist, haben wir es auch mit Natur zu tun. Kultur ist eine Erscheinungsform der Natur. Diese Einsicht, die eine naturwissenschaftliche Betrachtung auch des Kulturellen ermöglicht, ist aber selbst wiederum eine kulturelle Errungenschaft. Das Verhältnis von Natur und Kultur zu klären, erfordert die Unterscheidung verschiedener Aspekte: Während jede begriffliche Erschließung der Welt immer schon eine kulturelle ist, muss der Sache nach die Kultur als Teil der Natur verstanden werden. Solche Formulierungen muten nur dann unerträglich paradox an, wenn man einem begrifflichen Konservatismus folgt, der Veränderungen der Begriffe nicht zulässt. Wenn ein überkommener begrifflicher Rahmen eher Probleme schafft als löst, darf die alte Begrifflichkeit nicht sakrosankt sein. Dies scheint heute bei vielen Dualismen wie Kultur-Natur, Geist-Körper, Willensfreiheit-Determinismus, vor allem Gefühl-Verstand, aber auch bei Theorie-Praxis der Fall zu sein. Das dualistische Begriffserbe – im historischen Einführungskontext beispielsweise bei Descartes vielleicht überzeugend – verstellt Wirklichkeit mehr, als es sie erschließt. Daher sollte die Reaktion nicht lauten: umso schlimmer für die Wirklichkeit! Vielmehr ist es eine Aufgabe, mit der alten Begrifflichkeit und mit den
Vgl. beispielsweise Spitzer 2012, der die Synapsenbildung mit der Muskelbildung vergleicht.
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alten Kategorien – denn nur diese haben wir – ihre eigene Überwindung zu versuchen.
9 Gefühle sind sozial und überindividuell konstituiert Gefühle werden nicht von einem Individuum erfunden, auch wenn sie in der Erlebnisdimension in der individuellen Innerlichkeit oder in der eigenen Leiblichkeit gelebt werden. Das individuelle Involviertsein ist vereinbar mit einer sozialen und überindividuell zu denkenden Konstitutionsbeziehung. Die Konstitutionsbeziehung lässt sich umgangssprachlich zwischen Personalität und Determination konkretisieren. Wir sprechen von einer körperlichen Konstitution und von der politischen Verfassung (constitution). Beides lässt sich prinzipiell ändern, aber nicht sofort und ohne Anstrengung. Konstitution ist demnach etwas Verfestigtes, das im Täglichen stabil bleibt, aber grundsätzlich veränderbar ist. Oft entzieht sich die Konstitution der Befragung, auch wenn sie prinzipiell befragbar ist. Der Klassiker des Nachdenkens über Konstitution ist Immanuel Kant, der sich über die apriorische Konstitution der Kategorien Gedanken macht. Bei Kant steht der Begriff des Konstitutiven im Gegensatz zum bloß Regulativen. Dabei ist fundamental, dass die Konstitution bei Kant als gleich bei allen Menschen gedacht wird; es gibt für ihn keine historisch-kulturelle Wandelbarkeit der Kategorien. Die Kategorien, die alle Erkenntnisse leiten, kennen keine interkulturellen Verschiedenheiten und daher sind sie – anders als Heinrich von Kleist suggerierte – auch keine „grünen Brillen“, die man auf- oder absetzen kann. Schon Kant beschäftigt die Frage, wie sich die konstituierten Erscheinungen und das dahinter stehende Ding an sich zueinander verhalten (auch wenn diese räumliche Metapher bereits Kant unangemessen vorkam). Kant gelingt es nicht, die durch Kategorien konstituierten Erscheinungen in ein begrifflich überzeugendes Verhältnis zum Ding an sich zu bringen. Ein ähnliches Problem stellt sich auch im Verhältnis von Kultur und Natur: Die kulturelle Konstitution der Gefühle lässt sich in einem bestimmten Sinne als Konstitution der Erkenntnis der Gefühle begreifen; die Wichtigkeit von Natur und Kultur liegt so auf unterschiedlichen Ebenen. Der Zugang zu Gefühlen und die jeweilige Erschließung des Involviertseins erfordern eine kulturelle Leistung; das bloße Vorhandensein von Gefühlen ist schon in der Natur gegeben. Allerdings greifen die Erkenntnis der Gefühle und ihre kulturelle Deutung in das Vorhandensein von Gefühlen ein (ohne ihre Natürlichkeit hinter sich zu lassen). Was für jede Erkenntnis zutrifft, nämlich das zu
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Erkennende durch die begrifflichen Mittel zu beeinflussen, gilt auch für die Innenwelt und für die Gefühle. Mit ihrer begrifflichen Konstitution ist der Zugang zur Natur der Gefühle selbst kulturell veränderbar. Oder in Anlehnung an die Stoffund-Form-Begrifflichkeit des Aristoteles formuliert: Die Natur der Gefühle liefert den Stoff für die kulturelle Formung, nur dass der Vorgang des Formens selbst eine natürliche Grundlage hat. Die Gefühle einer eigenen Welt der Innerlichkeit zuzuordnen, gehört zur kulturellen Formung; denn es lassen sich auch Gefühle denken, die nicht einem eigenen inneren Erlebnisraum zugeschrieben werden. Bei Kant wird die Konstitution der Erkenntnis als ungeschichtlich und für alle Menschen gleich gedacht. Wenn es jedoch eine Geschichte der Gefühle gibt, wird indirekt plausibel, weshalb wir es bei den Gefühlen nicht nur mit ihrer ungeschichtlichen Natur zu tun haben. Auch wenn, in sehr langen Zeiträumen gedacht, die Natur ebenfalls eine kosmische und evolutionäre Entwicklung kennt, steht die innere Natur in der relativ kurzen Zeitspanne des menschlichen Daseins für den gleichbleibenden Teil. Hieraus folgt nicht, dass kulturelle Eigenschaften ihrerseits niemals neurobiologisch erfasst werden können; denn die Naturwissenschaften sind nicht eingeschränkt auf Genetisches, sondern sie können auch kulturell erworbene Eigenschaften untersuchen. Ihre kulturelle Konstitution wird dadurch nicht hinfällig, zumal die naturwissenschaftliche Perspektive selbst kulturell erworben ist. Um Natur und Kultur der Gefühle gleichermaßen in ihrer jeweiligen Teilberechtigung zu würdigen, geht es jetzt auf der Seite der Kultur um die Geschichte der Innerlichkeit.
10 Die Entdeckung der Gefühle Der Altphilologe Bruno Snell hat bereits im Jahre 1946 von einer Entdeckung des Geistes bei den Griechen gesprochen und Homers Sicht des Geistes und der Gefühle zum Ausgangspunkt genommen (vgl. Snell 2000). So lässt sich geradezu ein Spannungsbogen denken vom Odysseus des Homer ins Jahr 1914 zum Ulysses des James Joyce. Während Homers Odysseus Gefühle nur als äußerliche Schicksalsmächte kennt, die über ihn ohne sein Zutun hereinbrechen, stellt Joyce zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Innerlichkeit in den Mittelpunkt. Die Innerlichkeit eines Menschen ist so reich und differenziert, dass er für deren Darstellung an einem einzigen Tag 1000 Seiten braucht (Joyce 1981). Was zwischen Odysseus und Ulysses liegt, gehört zur kulturellen Konstitution der Gefühle, die von der schicksalhaften Äußerlichkeit zur Ausgestaltung eines inneren Erlebnisraumes führt. Selbstverständlich hat auch der homerische Mensch Gefühle, aber seine Deutung ist grundverschieden von einem innerlichkeitsorientierten Verständnis, so dass es schwer fällt, noch von den gleichen Gefühlen zu sprechen.
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Bruno Snell betont in seinem in der Altphilologie bis heute umstrittenen Buch, „wie grundverschieden von dem uns Gewohnten bei Homer alles ist“: [D]ie Griechen haben nicht nur mit Hilfe eines schon vorweg gegebenen Denkens nur neue Gegenstände (etwa Wissenschaft und Philosophie) gewonnen und alte Methoden (etwa ein logisches Verfahren) erweitert, sondern haben, was wir Denken nennen, erst geschaffen: der menschliche Geist als tätiger, suchender, forschender Geist ist von ihnen entdeckt; eine neue Selbstauffassung des Menschen liegt dem zugrunde. […] Das Entdecken des Geistes ist ein anderes, als wenn wir sagen, Kolumbus habe Amerika ‚entdeckt‘: Amerika existierte auch vor der Entdeckung, der europäische Geist aber ist erst geworden, indem er entdeckt wurde; er existiert im Bewusstsein des Menschen von sich selbst. (Snell 2000, 7)
Snell redet hier nicht spezifisch von den Gefühlen, sondern ganz allgemein vom menschlichen Geist und der menschlichen Seele. Seele und Geist fallen weder vom Himmel noch sind sie einfach vorhanden. In einem gewissen Sinne entsteht der Geist durch seine Entdeckung. Allerdings interpretiert der homerische Mensch Seele und Geist nach Analogie von Organen und schreibt sie gerade nicht seiner eigenen Innerlichkeit zu: Wollte ich genau sprechen, müsste ich sagen: das, was wir als Seele interpretieren, interpretiert der homerische Mensch so, dass drei Wesenheiten dort sind, die er nach Analogie von körperlichen Organen deutet. Die Umschreibungen für Psyche, Nóos und Thymos als ‚Organe‘ des Lebens, des Vorstellens und der geistigen Regung sind also Abbreviaturen, Ungenauigkeiten, Unzulänglichkeiten, die sich daraus ergeben, dass die Vorstellung von ‚Seele‘ (aber auch von ‚Körper‘…), nur in der Interpretation durch die Sprache gegeben ist: verschiedene Sprachen können in der Interpretation weit voneinander abweichen. (ebd., 25)
Homer geht von keinem einheitlichen Ich aus, das die inneren Eigenschaften hierarchisiert. Hermann Schmitz hat in einem seiner Rostocker Vorträge den Ausdruck der „halbautonomen Regungsherde“ benutzt, um Homers Sicht eines vielgestaltigen Ichs zu charakterisieren und gleichzeitig gegen überzogene moderne Einheitsvorstellungen abzugrenzen. Vom Seelen- und Geistesleben als Organen des Menschen bei Homer zeichnet Snell einen weiten Weg nach, der in Griechenland über mehrere Etappen etwas profiliert, was wir uns angewöhnt haben, „europäischen Geist“ zu nennen. Zu diesem europäischen Geist gehört auch die Interpretation des Seelenlebens in der Metapher der Innerlichkeit. Wenn Homer das Seelenleben in Analogie zu den Organen deutet, liefert er den Ausgangspunkt, von dem sich die Innerlichkeit abwendet. Dies geschieht in einem Prozess, der als „langsame Formierung einer Selbsthermeneutik in der Antike“ (Foucault 1986, 13) beginnt und der sich über Stationen der christlichen Tradition zu Beginn der Neuzeit beschleunigt. Am Ende dieses Prozesses steht eine Innerlichkeit, zu der die Entwicklung von Individualität ebenso gehört wie ein
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Gespür von Privatheit inklusive der Fähigkeit, zunächst einmal ganz für sich den eigenen Gefühlen nachzuspüren, ohne gleich an ihre Bekundung denken zu müssen (vgl.Taylor 1994). Auch beim Gewissen haben wir es mit einem Bestandteil der Tradition der Innerlichkeit zu tun, in der wir uns mit uns selbst konfrontieren, und zwar nicht vor aller Augen, sondern still für uns selbst (Kittsteiner 1991).¹¹
11 Ordnung der Gefühle Michel Foucault setzt im Nachdenken über das Konstitutionsverhältnis neue Akzente, indem er Kant teils missversteht und teils abwandelt: In der Ordnung der Dinge führt er den Begriff des historischen Apriori ein (vgl. Foucault 1971). Michel Foucault profiliert in verschiedenen Studien die These einer kulturellen Konstitution, indem er ihre jeweilige historische Gewordenheit analysiert, und zeichnet speziell in Wahnsinn und Gesellschaft im Umkreis der Gefühle die kulturelle Konstitution des Wahnsinns nach (vgl. Foucault 1973). In seinem Werk will Foucault die „Geschichte der Grenzen schreiben […], mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt“; er geht dabei von der „Tatsache“ aus, „dass es in unserer Kultur keine Vernunft ohne Wahnsinn geben kann“ (ebd., 9
Im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes in Japan habe ich mir wichtige Anregungen zur Beantwortung der Frage nach der kulturellen Verschiedenheit der Gefühle erhofft, die das Verhältnis von Natur und Kultur der Gefühle verständlicher macht. Inhaltlich sehe ich meine Ausgangsvermutung einer starken Gefühlsorientierung in Japan nur teilweise bestätigt, da anders als ursprünglich bedacht zwischen den Gefühlen selbst und ihrem Ausdruck zu unterscheiden ist. Zwar ist es zum einen wohl richtig, dass die starke Gemeinschaftsorientierung und die geringere Abspaltung von Religion und Philosophie in Japan Gefühle gerade in der Familie und den Kleingruppen (inklusive von erkenntnisleitenden Intuitionen am Arbeitsplatz) stärker zulassen als in Europa. Zum anderen lässt sich aber sowohl eine traditionelle Zurückhaltung beim Gefühlsausdruck feststellen als auch die rapide Angleichung der Lebensverhältnisse und Lebensstile, so dass von einer japanischen Besonderheit immer weniger gesprochen werden kann. Japans Weg in die Moderne ist, wie an anderen Orten auch, zunehmend ein Weg in die globalisierte Welt, die Unterschiede zwar nicht völlig aufhebt, aber doch merklich verringert. Dies wird auch in der japanischen Philosophie gespiegelt, insofern das Vernunftkonzept der stark aus englischsprachigen Ländern geprägten analytischen Philosophie sich durchsetzt. Traditionell japanische Zugänge vermischen sich damit zunehmend oder verschwinden ganz aus der Öffentlichkeit. Gleichwohl bleibt festzustellen, dass in der japanischen Philosophie Gefühle oftmals als vor aller Interpretation zugänglich und als verlässlicher Kompass gelten. Gelegentlich trifft man sogar auf Einstellungen, die der eigenen Nation in der Tradition der Naturreligion eine besondere Privilegiertheit im Umgang mit unversehrten Gefühlen attestieren. Das europäische Gefühlsleben erscheint in dieser Perspektive dann als entfremdet und intellektualistisch deformiert.
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und 12). In Die Ordnung der Dinge versucht Foucault eine allgemeine Deutung von Klassifikationssystemen, indem er den Begriff des historischen Apriori und der Episteme zunächst an einem Text von Borges einführt: Dieser Text zitiert ‚eine gewisse chinesische Enzyklopädie‘, in der es heißt, dass ‚die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen‘. (Foucault 1971, 17)
Der von Foucault zitierte Borges-Text verdeutlicht, wie sehr Taxonomien als Einteilungen der Wirklichkeit diese erschließen. Für Foucault sind solche Perspektiven auf die Wirklichkeit historisch entstanden; einen Großteil seiner Arbeit verwendet er auf die Nachzeichnung solcher Gewordenheiten. Dies verbindet Foucault immer auch mit der Hoffnung, dass ein Aufzeigen des Werdens die Fraglosigkeit des Gegenwärtigen auflöst. Anders als das Kantische Apriori, das zu allen Zeiten bei allen Menschen als gleich gedacht wird, betont Foucault, dass ein Apriori für den einzelnen Menschen vorliegt, aber keineswegs eine historischkulturelle Universalität. Die kulturelle Konstitution der Gefühle lässt sich in den Denkrahmen Foucaults zwanglos einfügen, indem die Sortierung von Gefühlen, wie sie beispielsweise am Anfang dieses Artikels zu finden ist, als kulturelles Klassifikationssystem verstanden wird und indem die Überlegungen zum Wahnsinn auf Gefühle überhaupt ausgedehnt werden: Gefühl und Verstand bilden ein Paar, das in seiner Grenzziehung aufeinander verwiesen ist. So wie Foucault die vernünftige Urteilskraft in seinen Arbeiten zur Untersuchung der kulturellen Konstitution zur Geltung bringt und damit die Grenzen in der überindividuellen Kultur verflüssigen will, kann Urteilskraft überhaupt Gefühl und Verstand auch im individuellen Leben ausbalancieren (selbst wenn die große Verflüssigung im Stile Foucaults nicht gelingt). Was im Sinne des klassischen Verständnisses von Kant wie ein schlichter Fehler daherkommt, eröffnet kulturwissenschaftlich eine neue Verständnisdimension. Demnach gibt es für Foucault tiefgelagerte, historisch wandelbare Prägungen, die zwischen der personalen und oft bewussten Deutungsebene und der natürlichen Gattungsausstattung des Menschen liegen. Diskurse oder gar Dispositive fungieren im Sinne einer solchen grundsätzlichen Wandelbarkeit als historische und kulturelle Bedingungsgefüge, die aber im Alltag wie ein Apriori wirken, ohne als naturalistische Determinationen daherzukommen. Foucault sieht sich als Genealoge, der solche Bedingungsgefüge nachzeichnet und sie damit der prinzipiellen „Verflüssigung“ zugänglich macht. Interpretationen haben eine Konstitutionsgeschichte und sind durch solche auch wieder in ihrer
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Konstitution aufzulösen – wie schwer auch immer. Deutungen übersteigen in ihrer Konstituiertheit die personale Ebene, so dass Subjekte sie nicht einfach beliebig ändern können. Sie erhalten ein starkes Element von „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – von Involviertsein eben.
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Liebe als soziales Phänomen: Intersubjektivitätstheorien Im Verlauf der Philosophiegeschichte ebenso wie in der systematischen Gegenwartsphilosophie sind stark divergierende Theorien dazu vertreten worden, wie man den Begriff der Liebe einigermaßen zufriedenstellend interpretieren kann – darunter etwa ontologische, religiöse, willenstheoretische (volitionale) und emotionstheoretische Ansätze.¹ Da die Phänomene, die wir unter dem Titel „Liebe“ zusammenfassen, äußerst vielfältig und schillernd sind, stellt sich mit Blick auf die Theoriegeschichte leicht der Eindruck ein, dass es unsinnig wäre, sie mittels einer einzigen Theorie einfangen zu wollen. Es sieht vielmehr so aus, als wäre das Phänomenfeld der Liebe allzu bunt und als würde der Begriff nahezu äquivok verwendet, so dass eine vereinheitlichende theoretische Konzeption als fragwürdig erschiene. Ich werde im ersten Abschnitt daran erinnern, wie weitläufig die Fälle und die Gegenstände sind, bei denen wir von Liebe sprechen. Erste Versuche, eine Einheit zwischen ihnen herzustellen, werden sich als kaum überzeugend erweisen. Daran schließt sich ein zweiter Abschnitt an, der der Frage nachgeht, welche wichtigen Besonderheiten von Liebe seitens einer angemessenen philosophischen Theorie geklärt werden müssten – und dies sind erst recht anspruchsvolle Punkte. Gegeben diese Ausgangslage, ist es dann aber überraschend zu sehen, wie gut eine bestimmte Gruppe von Theorien mit dem Phänomenfeld zurechtkommt: nämlich die Intersubjektivitätstheorien. Ohne dass ich hier eine Theorie dieses Typs substantiell ausformulieren will, versuche ich zu zeigen, welche Leistungen sie aufgrund ihrer Grundthese – Liebe ist eine Relation intersubjektiv geteilter Perspektiven – erbringen kann. Natürlich bewältigen auch Intersubjektivitätstheorien nicht das ganze Phänomenfeld, und sie lösen auch nicht alle Schwierigkeiten, wie wir dies von einer hinreichenden philosophischen Konzeption verlangen sollten. Aber sie erweisen sich immerhin als relativ plausibel, wie ich im dritten Abschnitt zeigen möchte.
Nützlich sind hier besonders die Bände von Singer 1984/1989, Soble 1989 und 1990, Lamb 1997, Thomä 2000 sowie die beiden Artikel von Helm 2009a und 2009b.
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1 Semantische und phänomenologische Analyse von Liebe Damit zur Phänomenanalyse: Ich will zunächst in Erinnerung rufen, wie extrem ausgedehnt das Phänomenfeld und wie komplex das begriffliche Spektrum dessen ist, was wir gewöhnlich unter Liebe verstehen (vgl. dazu Helm 2009b). Dieser erste Schritt scheint mir unerlässlich, um nachvollziehbar zu machen, welche Erklärungsleistung eine angemessene philosophische Theorie der Liebe bereitstellen sollte und worin die wichtigsten Theoriealternativen bestehen, vor die man sich als Philosophin oder Philosoph gestellt sieht. Vielleicht die einfachste philosophische Annäherung an das Thema Liebe besteht darin, dass man sich klarmacht, in welchen Lebensbereichen wir den Ausdruck hauptsächlich verwenden. Soweit ich sehe, handelt es sich um vier verschiedene Kontexte, nämlich: (A) um den Bereich von Erotik, Partnerschaft und Sexualität, (B) um den Bereich der Familie und der engsten persönlichen Bindungen, (C) um das Feld der Freundschaften und der weiteren persönlichen Bindungen und (D) um den Bereich der Religion. Objekte oder Gegenstände der Liebe sind entsprechend diesen vier Bereichen (A) erotische Partner, (B) engste Angehörige, (C) Freunde, weitläufigere Verwandte und sonst wie Nahestehende und zudem (D) in der christlichen Tradition wie auch in anderen Religionen zusätzlich transzendente Wesen. Mit diesen vier Objektbereichen von Liebe sind jedoch längst nicht alle unsere Gebrauchsweisen erschöpfend dargestellt. Wir sprechen nicht allein von erotischer Liebe (von Sehnsucht und Begehren, welches in der Liebesliteratur seit dem biblischen Hohenlied einen so breiten Raum einnimmt) sowie von Elternliebe, Kindesliebe, Freundesliebe und Gottesliebe. Vielmehr gibt es eine Fülle weiterer Wortzusammensetzungen, die nicht durch die vier genannten Bereiche abgedeckt sind, nämlich etwa Selbstliebe, Menschenliebe, Feindesliebe, Heimatliebe, Wahrheitsliebe, Gerechtigkeitsliebe, Naturliebe oder Tierliebe. Keine dieser Wortzusammensetzungen passt in einen der vier genannten Kontexte, weswegen wir einen neuen Anlauf zur Sichtung des Phänomenbereichs unternehmen müssen. Dazu sollten wir vielleicht nicht die Objektfelder, sondern unseren gewöhnlichen Sprachgebrauch in Augenschein nehmen. Ich beginne, im Anschluss an Helm (2009b), mit vier Beispielsätzen: 1. „Ich liebe Schokolade. Und ich liebe mediterrane Landschaften.“
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2. „Ich liebe es, Philosophie zu treiben. Zudem liebe ich es, Vater zu sein.“ 3. „Ich liebe meine Kinder. Und ich liebe meinen Hund.“ 4. „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, sagt ihm, ich bin krank vor Liebe.“ (Hoheslied 5,8) Offenkundig existieren signifikante Unterschiede innerhalb der vier Gebrauchsvarianten von Liebe: Wir sprechen von Liebe (1) im Zusammenhang mit unseren Wünschen, Präferenzen und Interessen; diese können (müssen aber nicht) oberflächlich und banal sein; was man mit Liebe in (1) meint, ist dabei lediglich die Wunschintensität sowie der große Enthusiasmus, die extrem gute Stimmung oder der positive mentale Zustand, der für uns mit den Objekten von (1) verbunden ist. Anders im Fall der Variante (2): Liebe wird hier verwendet im Zusammenhang mit substantiellen Neigungen, mit identitätskonstitutiven Vorlieben sowie mit persönlichkeitsprägenden Tätigkeiten; wenn jemand Philosophie zu seinem Beruf gemacht hat und zugleich gerne mit Kindern zusammenlebt, wird er alles daransetzen, seine konkrete Lebensform entsprechend dieser beiden Vorlieben zu gestalten. Die Verwendungsweise (3) hingegen steht im Zusammenhang mit Nahbeziehungen, die durch emotionale Intensität, durch Wohlwollen und durch Fürsorglichkeit bestimmt sind. Gemäß dem Sprachgebrauch von Beispielsatz (3) hegen wir für jemanden warme, herzliche, innige Gefühle; manchmal – wie im Fall von Partner(inne)n oder Kindern – handelt es sich um tiefe reziproke Bindungen, für die wir unser Leben erheblich umstellen und im Gefahrenfall weitreichende Opfer bringen würden. Schließlich bezeichnet der Beispielsatz (4) die begehrliche, sehnsuchtsvolle, verlangende Liebe, die bekanntlich auch eine bohrende, quälende, destabilisierende Wirkung auf die Persönlichkeit ausüben kann („Ich bin krank vor Liebe“). Die vier Typen lassen sich wie folgt benennen: 1. präferentielle Gebrauchsweise 2. existenzielle Gebrauchsweise 3. intersubjektive Gebrauchsweise 4. erotische Gebrauchsweise Die Verwendungsweise (1) steht im Verdacht, zu oberflächlich zu sein (möglicherweise ist sie aus dem amerikanischen Englisch eingesickert; vgl. „I love this ice-cream“). Ähnliches könnte für (2) gelten; vielleicht wird auch dieser Gebrauchstyp den Liebesphänomenen nicht gerecht. Aber es ist zu bedenken, dass hier immerhin von Tätigkeiten und Einstellungen die Rede ist, die mit den Wesensmerkmalen meiner Persönlichkeit zu tun haben, während (1) arbiträr wirkt. Angenommen, wir würden uns dafür entscheiden, (1) wegzulassen, so könnte es dennoch sinnvoll sein, an (2) festzuhalten. Es ist gut möglich, dass sich Ausdrücke
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wie Wahrheitsliebe, Gerechtigkeitsliebe oder Naturliebe dem Typ (2) zuordnen lassen, und sie scheinen für eine Theorie der Liebe unverzichtbar zu sein. In jedem Fall substantiell erscheint mir die Gebrauchsweise (3) zu sein; eine philosophische Theorie, die mit ihr nichts anzufangen wüsste, wäre sicherlich ebenso fragwürdig wie eine Theorie, die mit der Variante (4) nicht zurecht käme. Nun haben wir bereits eine ganze Menge an Aspekten beisammen, die das Phänomen der Liebe und unseren einschlägigen Sprachgebrauch beleuchten. Man könnte sogar argwöhnen, es seien bereits zu viele Teilmomente. Denn nachdem wir uns nunmehr die phänomenologische und begriffliche Reichweite des Ausdrucks „Liebe“ einigermaßen verdeutlicht haben, mögen uns jetzt Zweifel daran beschleichen, ob der Ausdruck Liebe tatsächlich eine einheitliche Bedeutung besitzt. Immer wenn ein Begriff eine solche Breite von Bedeutungen aufweist, scheint es sinnvoll, das Faktum der Bedeutungspluralität (Polysemie) einer eigenen Betrachtung zu unterziehen: Denn dieses Faktum erlaubt ganz unterschiedliche Deutungen. Um nur drei Möglichkeiten zu nennen: Erstens kann es so sein, dass hinter der scheinbaren Bedeutungspluralität in Wahrheit eine einzige Kernbedeutung steckt. Unser weitläufiger Sprachgebrauch bestünde dann aus mehr oder minder angemessenen Ableitungen oder Ausdifferenzierungen des einen Begriffs. Zweitens könnte es der Fall sein, dass eine Situation von Wittgenstein’scher Familienähnlichkeit vorliegt. Träfe dies zu, so hätten wir es nicht mit einer einheitlichen Bedeutung zu tun, und es würden keine einfachen Ableitungszusammenhänge vorliegen; vielmehr bestünde dann ein Netz von Teilmomenten oder Definitionsaspekten, in denen sich die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge lediglich ähneln und partielle Überlappungen aufweisen. Drittens ist es aber auch denkbar, dass die verschiedenen Verwendungen überhaupt keinen Zusammenhang miteinander aufweisen. Wäre dies der Fall, dann würden wir mit dem Ausdruck „Liebe“ kein einheitliches Bedeutungsfeld anvisieren. Ein erster Versuch, mit der beschriebenen Bedeutungspluralität zurechtzukommen, ließe sich in Anlehnung an die einschlägigen Arbeiten von Harry Frankfurt (1999 und 2004) unternehmen. Man könnte nämlich Folgendes behaupten: Der zusammenfassende Gesichtspunkt, der alle Einzelverwendungen von Liebe übergreift, ist, dass Liebe für dasjenige steht, was mir wirklich am Herzen liegt, was für mich unbedingt zählt, was für mich von herausragender Bedeutung ist, worum ich mich sorge oder bemühe usw. Diejenigen Konstellationen, die für mein Leben bedeutungsvoll sind, die mir vorrangig wichtig sind, die die tragende Struktur in meinem Leben ausmachen, könnte man kurzerhand solche der Liebe nennen. Frankfurt verdeutlicht den Bedeutungsvorrang des volitionalen Liebens (2) am Vergleich mit dem Wunsch (1): Ich könnte zu einem gegebenen Zeitpunkt intensiv wünschen, mir eine bestimmte TV-Sendung anzu-
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sehen, ohne dass ich deswegen glauben müsste, dass die Fernsehsendung mir am Herzen liegt oder irgendeine Bedeutung für mein Leben besitzt (z. B. weil ich sie ansehe, um die Zeit bis zum Beginn einer wichtigen Verabredung bestmöglich zu überbrücken). Ich könnte also ohne Widerspruch den Satz äußern: „Ich mag diese Sendung, aber ich liebe sie nicht; sie sie bedeutet mir nicht viel.“ Folgt man diesem Vorschlag, so fielen unter Liebe nur die Gebrauchsvarianten (2)-(4), während wir (1) weglassen müssten. Das wäre soweit sicher akzeptabel (ich hatte ja bereits Zweifel geäußert an einer Ausdrucksweise wie „Ich liebe Schokolade“ oder gar „Ich liebe Seeteufelbäckchen an Bärlauchnudeln mit Gemüsejulienne“). Dennoch scheint mir Frankfurts Versuch insgesamt zweifelhaft. Er macht m. E. den Fehler, die Bedeutung des Liebesphänomens bereits für sein Definitionselement zu halten; aber der Umstand, dass Liebe für uns etwas sehr Wichtiges ist (möglicherweise das Wichtigste im Leben), informiert uns noch nicht darüber, was Liebe eigentlich ist. Unbefriedigend an Frankfurts Volitionstheorie ist also, dass sie am Phänomen der Liebe einfach ihre Wirkung, nämlich ihre herausragende Bedeutsamkeit für uns, als Definitionsmoment heranzieht. Man versteht aus diesem Blickwinkel nicht, was die Phänomene der Liebe dazu befähigt, für uns von herausragender Bedeutung zu sein und was anderen bedeutungsgenerierenden Phänomenen entsprechend fehlt – falls es überhaupt wahr ist, dass nichts so wichtig für uns ist wie Liebe. Selbst wenn es stimmt, dass Liebe für uns das ist, was am meisten oder gar allein zählt, trifft es doch nicht zu, dass alles, was zählt, mit Liebe zu tun hat. Auch scheint es falsch, dass alles, was mit Liebe zu tun hat, gleichermaßen absolut bedeutsam ist. Es muss also etwas an der Liebe geben, was sie bedeutsam macht, so dass sie, wie Frankfurt zutreffend feststellt, für uns von herausragender Bedeutsamkeit sein kann. Wir können daher mit Recht verlangen, dass Frankfurt uns sagt, was dies ist. An dieser Stelle weicht er leider in einen vagen Naturalismus aus, der das gesuchte bedeutungsgenerierende Phänomen überhaupt nicht sinngemäß beantwortet (Frankfurt 2005, 60). Andererseits scheint Frankfurts Bestimmung von Liebe als zentrale bedeutungstragende Größe auch von einigem Wert zu sein: Es ist eine weitgehend geteilte Überzeugung, dass Liebe dasjenige ist, was unserem Leben Tiefe verleiht. Dieser Punkt sei konzediert, auch wenn es ein Missverständnis wäre, ihn bereits für ein hinreichendes Definitionsmerkmal zu halten. Es handelt sich um ein Merkmal von Liebe, genauer einen Aspekt des Erlebens von Liebe, um nicht mehr und nicht weniger. Gleichwohl hat dieser Punkt eine Bedeutung: Keine Theorie der Liebe, die diesen Aspekt nicht einigermaßen überzeugend erklären kann, kann m. E. als befriedigend gelten. Dieser Aspekt besitzt somit eine kriteriologische, aber keine definitorische Funktion. Ein zweiter Versuch ist noch leichter als unzulänglich zu identifizieren: Bestimmt man Liebe – wie die klassische Tradition von Platon bis Augustinus dies tat
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– als ein Begehren, Streben, ein Aus-sein-auf-etwas, dann kommt zumindest die Bedeutungsvariante (3) nicht mehr angemessen zur Geltung; zudem wird dann auch (2) fehlinterpretiert. (Ich werde auf die Kritik an dieser Deutung von Liebe noch ausführlicher zurückkommen.) Ein dritter Versuch einer vereinheitlichten Lesart mag darin bestehen, dass man sagt: Zentral für Liebe in allen ihren Formen ist intrinsische Wertschätzung oder auch gesteigerte, unbedingte Wertschätzung. Liebe ist in allen Gebrauchsvarianten stets mit einer Haltung der Affirmation, des Respekts, des Geltenlassens und der unbedingten Achtung verbunden. Ich denke allerdings, dass das für (3) wesentlich besser passt als für (1), (2) und (4). Und schließlich könnte ein vierter Versuch in die folgende Richtung gehen: Zentral für Liebe ist, dass das Subjekt bestimmte Innenzustände markanter und heftiger Art aufweist (sogenannte Qualia). Dazu zählen im Fall der Liebe heftiges Begehren oder Verlangen, quälende Sehnsucht, der Wunsch nach lebenslanger intensiver Verbindung mit dem Geliebten usw. Aber das sind Besonderheiten der erotischen Liebe. Bleiben wir noch bei den Besonderheiten der erotischen Liebe. Einige ihrer Eigenschaften werden auf eindrucksvolle Weise erneut im Hohenlied beschrieben. Ich greife sieben Punkte heraus, denen m. E. eine besondere Bedeutung zukommt: – Hoheslied 4,1: „Schön bist du, meine Freundin, ja du bist schön.“ – Intensiviertes Schönheitsempfinden gegenüber geliebten Personen. – Hoheslied 5,1a: „Ich komme in meinen Garten, Schwester Braut;/ich pflücke meine Myrrhe, den Balsam; esse meine Wabe samt dem Honig,/trinke meinen Wein und die Milch.“ – Gesteigertes Naturempfinden, stark gesteigerte allgemeine Sensitivität. – Hoheslied 5,1b: „Freunde, esst und trinkt, berauscht euch an der Liebe.“ – Enthusiastische Grundstimmung. – Hoheslied 5,2: „Ich schlief, doch mein Herz war wach./Horch, mein Geliebter klopft: Mach auf, meine Schwester und Freundin,/meine Taube, du Makellose! Mein Kopf ist voll Tau,/aus meinen Locken tropft die Nacht.“ Und 5,8: „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, Wenn ihr meinen Geliebten findet, sagt ihm, ich bin krank vor Liebe.“ – Intensives Verlangen, Sehnsucht, Begehren; Gefühl, nicht ohne den Geliebten weiterleben zu können; Vulnerabilität oder Verletztheit als pathologischer Zustand, aber auch Gefühl der Bereicherung. – Hoheslied 6,3: „Meinem Geliebten gehöre ich, und mir gehört der Geliebte.“ – Wunsch nach Konstitution einer (engen, dauerhaften, lebenslangen) intersubjektiven Gemeinschaft.
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Hoheslied 8,7: „Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtums eines Hauses, nur verachten würde man ihn.“ – Intrinsische Wertschätzung, Betonung wahrer Werte und Authentizität. Hoheslied 8,6: „Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.“ – Opferbereitschaft, Treue, Risikobereitschaft.
Die Liste von Merkmalen der erotischen Liebe nach diesem biblischen Text läuft wohl im Wesentlichen auf folgende zwei Punkte hinaus: Sie suggeriert uns einerseits die Idee, Liebe sei eine gesteigerte, intensive Emotion, und andererseits die Vorstellung, der (oder die) Liebende richte sich auf den Gegenstand seiner Liebe aufgrund von Schlüsselmerkmalen wie Schönheit und Attraktivität. Ich komme auf beide Punkte gleich zurück, die aus dem Blickwinkel der Philosophie betrachtet alles andere alles selbstverständlich sind, sondern gravierende Theorieimplikationen mit sich bringen. Zur Vorbereitung sei aber noch an eine klassische Distinktion zwischen drei Typen von Liebe erinnert, die bereits in den einschlägigen Theorien aus Antike und Mittelalter mehr oder minder klar getroffen worden ist (vgl. auch die klassische Studie von Nygren 1937): (a) eros (amor concupiscentiae, appetitus) bezeichnet Liebe im Sinn von Begehren, Verlangen, Aus-sein-auf, Streben. Gemeint ist die Suche nach attraktiven Eigenschaften, oft auch der Wunsch, sich selbst durch Erlangen des geliebten Objekts zu perfektionieren. Wichtigstes Beispiel dafür ist natürlich die erotische Liebe, aber auch Platons Streben nach wahrem Wissen und Augustinus’ Konzeption der Gottesliebe. Gegen diesen Typ von Liebe richtet sich u. a. der Vorwurf, sie diene nur dem eigenen Bedürfnis und sei daher egoistisch. (b) agape (amor beneficentiae, caritas) meint Liebe im Sinn von uneigennütziger Anerkennung, Zuwendung, Wohlwollen und Respekt. Diese Form von Liebe wertet das jeweilige Objekt auf und lässt es gelten. Zu ihr gehört auch die fürsorgliche Liebe. Insbesondere handelt es sich hier um den christlichen Liebesbegriff des Neuen Testaments mit den Merkmalen: (i) Intrinsizität der Fremdzuwendung, (ii) Selbstlosigkeit und möglicherweise Bereitschaft zum Selbstopfer, (iii) Bereitschaft zur Vergebung, Nichtirritierbarkeit und NichtReziprozität der Liebe (Feindesliebe). (c) philia (amor benevolentiae, amicitia) meint Liebe im Sinn von Vertrauen, Gemeinschaft, wechselseitiger Zugewandtheit, basierend auf einem engen Austausch. Sie bezeichnet ein reziprokes, kein asymmetrisches Verhältnis, und zwar eines, bei dem sich die involvierten Personen auf Augenhöhe be-
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gegnen. Sie beruht auf (oder zielt auf) Gemeinschaftsbildung; eines ihrer markanten Beispiele ist die familiäre Liebe.² Auch diese Dreiteilung liefert offenkundig unverzichtbare Elemente und Aspekte, die in jeder umfassenden und soliden Theorie der Liebe Berücksichtigung finden müssen – es sei denn, man würde darauf verzichten, Liebe als ein einheitliches Phänomen- und Begriffsfeld anzusehen (was angesichts der Verschiedenheit der mittlerweile aufgezählten Punkte nicht abwegig scheint). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang folgende Beobachtung. Der modernitätstypische Begriff der „romantischen Liebe“, der unserer Idee von Lebenspartnerschaften zugrunde liegt, beruht auf einer Verbindung aller drei Aspekte, also von (a), (b) und (c).Viele Leute nehmen fälschlich an, es gehe bei der romantischen Liebe allein um Aspekt (a), also um das Moment des Verlangens oder Begehrens. In Wahrheit sind aber alle drei klassischen Elemente von Liebe präsent, da man sich in der romantischen Liebe, so wie man sie heute als Partnerschaftsideal vertritt, eine Einheit des begehrlichen eros, der wohlwollenden und fürsorglichen agape sowie der anerkennenden philia, freundschaftlichen Liebe vorstellt – Liebe soll (a) symmetrisch, (b) reziprok und (c) kooperativ sein. Es gehört zum romantischen Liebesbegriff, dass sich die Partner mit Bezug aufeinander nicht auf „äußere Vorzüge“ beschränken, sondern sich zudem auf „wahre, innere, zeitübergreifende Eigenschaften“ richten, die ein stabiles Anerkennungsverhältnis begründen, so dass die Beziehung eine fürsorgliche und eine freundschaftliche Komponente besitzt.³
2 Desiderate einer philosophischen Theorie der Liebe Gegeben diese Übersicht über das Phänomen- und Begriffsfeld der Liebe, welche Anforderungen muss eine ihr gewidmete philosophische Theorie bewältigen können – abgesehen von der Frage nach der (möglichen) Einheit? Zentral ist mit
Natürlich muss man auch die philia noch näher differenzieren, weil mindestens fünf verschiedene Formen von Freundschaft zu unterscheiden sind: (a) Freundschaft um der Lust willen, (b) Freundschaft um des Nutzens willen, (c) Freundschaft aus Tugend, (d) Freundschaft aus Gemeinsamkeit der Persönlichkeitsmerkmale, Interessen, Einstellungen (‚Seelenfreundschaft‘), (e) Freundschaft aus Gemeinsamkeit der Erfahrungen und aufgrund von Schnittmengen in der Lebensgeschichte. Offenkundig wären wir vorsichtig damit, alle diese Freundschaftskonstellationen gleichermaßen mit dem Etikett ‚Freundesliebe‘ auszuzeichnen. Zum historischen Hintergrund der Entstehung der romantischen Liebe vgl. etwa Luhmann 1982.
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Sicherheit der Akzent besonderer Wichtigkeit, den wir auf alles legen, was mit Liebe zu tun hat. Liebeskonstellationen haben für uns einen herausragenden Wert; sie zählen unbedingt. Dabei schreiben wir der geliebten Person (dem Objekt der Liebe) gewöhnlich in einem starken Sinn Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit zu. Wir deuten die Wichtigkeit, die das Geliebte für uns hat, im Sinn von Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit. Und wir verstehen Liebe als interessefrei – jedenfalls in dem normativen Sinn, in dem man sagen würde „Wahre Liebe sollte interessefrei sein.“ Zudem versetzt uns Liebe (ob nun im erotischen, fürsorglichen oder anerkennenden Sinn) in einen psychischen und sozialen Ausnahmezustand, insofern Liebe mit intensiven Gefühlen von Hochstimmung, Euphorie, Wohlbefinden, Sehnsucht, Enttäuschung, Verletztheit, Eifersucht, Trauer usw. sowie mit besonderen Zuständen sozialer Nähe und Verbundenheit verknüpft ist. Im Anschluss an Frankfurts Merkmalsliste (2005, 86 f.) schlage ich daher folgende Reihe von grundlegenden Merkmalen der Liebe vor: – Zum Phänomen der Liebe gehört, dass man in ihr das Objekt als einzigartig, unverwechselbar und nicht-ersetzbar versteht. Die Unersetzbarkeit der geliebten Person wird oft besonders nach ihrem Tod empfunden. Liebe ist persönlich; man kann sie nicht als Fall einer Regel verstehen (individuum est ineffabile). – Dazu gehört ferner, dass der Gegenstand der Liebe so etwas ist wie die gesamte Persönlichkeit; zwar mag man sich auf vorzügliche Eigenschaften berufen (Intelligenz, Schönheit, charakterliche Eigenschaften), insbesondere wenn man dritten Personen seine Liebesrelation erklärt; aber solche Erklärungen wirken letztlich oberflächlich. – Geliebte Personen sind nach einer idiosynkratischen Bewertung unüberbietbar. Wir würden sagen „Gut, sie ist vielleicht nicht objektiv einzigartig, aber doch einzigartig für mich“. Liebe erscheint als Quelle von außerordentlichem Lebenssinn und herausragendem Leiden. – Liebe konstituiert einen psychischen Sonder- oder Ausnahmezustand. – Liebe konstituiert einen geteilten Raum der Perspektiven, Ansichten, Werte, Lebensziele, Interessen. Es findet eine Interessens- und eine (partielle) Einstellungs- oder Identitätsübernahme statt. – Liebe ist interessefrei, eine intrinsische Form von Wertschätzung für eine Person. Auf mehrere dieser Punkte werde ich gleich in Teil 3 zurückkommen. Zunächst aber noch eine Bemerkung zur philosophischen Theoriegeschichte der Liebe. Halbwegs entwickelte philosophische Theorien der Liebe besitzen wir seit Platon, der sich mit dem Thema besonders in den Dialogen Lysis, Symposion und Phaidros auseinandersetzt. Im Symposion werden bekanntlich sechs Reden auf den Eros
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gehalten; dabei legt Platon dem Komödiendichter Aristophanes den Mythos von den „getrennten Kugelhälften“ in den Mund: Das erotische Verlangen des Menschen beruht demnach auf der Suche nach dem verlorenen zweiten Teil einer ursprünglich einheitlichen Person. Moderne Leser finden diese poetische Vorstellung in der Regel weitaus treffender als das, was er seinen Gesprächsführer Sokrates im Diotima-Gespräch entwickeln lässt: Demzufolge soll es sich bei Eros um ein dämonisches Zwischenwesen handeln, welches selbst arm und bedürftig ist, aber zugleich nach Fülle strebt. Daran schließt sich die Schilderung eines „erotischen Aufstiegs“ des Philosophen von der leiblich-äußeren Schönheit zur „Idee der Schönheit“ an. Doch bei allem Zauber, der von Platons Behandlung des Themas in der Diotima-Rede aus dem Symposion ausgeht, erscheint es als wenig überzeugend, dass Platon Liebe in eine metaphysische Strebenstheorie integriert, die mehrere Spannungen zu dem aufweist, was wir soeben als zentrale Merkmale des Liebesphänomens ausgezeichnet haben.⁴ Ich zähle einige relevante Einwände auf: Liebe erscheint in Platons Symposion als ein letztlich apersonales Phänomen, bei dem es um das Streben des Individuums nach seiner eigenen Selbstvervollkommnung durch die Idee des Schönen geht. Personen sind dabei nur intermediäre Objekte, welche temporär und transitorisch begehrt werden. Dabei spielt noch nicht einmal ihr personales Selbst eine Rolle; vielmehr ist es lediglich ein Merkmal an ihnen, auf das sich die Liebesrelation bezieht. Liebe erscheint so als nicht einmal individuell, sie wirkt wie eine instrumentalisierende Beziehung vor dem Hintergrund einer Strebenstheorie, welche Liebe als Prozess von Mangel und Auffüllung interpretiert. Irgendwie wirkt es enttäuschend, dass Platon seinen Sokrates den Kugelhälften-Mythos des Aristophanes nicht wiederaufgreifen lässt, der Liebe als eine singuläre und unersetzbare Relation erscheinen lässt. Der impliziten Logik des Dialogs zufolge scheint klar, dass Platon diese Position letztlich zurückweist. Die umfassende Geschichte der philosophischen Liebeskonzeptionen verdient erst noch geschrieben zu werden. Ein relevantes Detail darin wäre, einmal die „Feinde der Liebe“ und die Gründe ihrer Gegnerschaft gegen das Liebesphänomen zu Wort kommen zu lassen, etwa die Epikureer.⁵ Ein interessanter, wenn auch nur halbherziger Gegner der Liebe ist zweifellos Kant – obwohl er fast nichts über erotische Liebe, den amor complacentiae, sagt. Es sind aber zwei andere Themen, für die sich ein Blick auf Kants Liebestheorie unbedingt lohnt: Erstens fragt Kant, ob Liebe als ein moralisches Äquivalent des kategorischen
Vgl. dazu besonders Sier 1997 und Sheffield 2006. Für eine systematische Analyse vgl. zudem Horn 2011. Ein prominenter Feind ist Lukrez in De rerum natura; vgl. Nussbaum 1994, Kap. 5.
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Imperativs anzusehen ist – wie das Liebesgebot des Neuen Testaments dies suggeriert. In der Tat bejaht er dies, indem er Liebe als sinnlich-begehrliche Emotion („pathologische Liebe“) von Liebe als Emotion unterscheidet, welche sich allererst ex post aus einer moralischen Einstellung ergibt („praktische Liebe“). Zweitens fragt Kant, ob man Liebe als moralisch adäquat verstehen kann, wenn man in Rechnung stellt, dass sie stets selektiv ist: Liebe privilegiert bestimmte Personen, die des eigenen Nahbereichs, und ignoriert andere Personen. Ist Liebe daher etwas zutiefst Unmoralisches wegen ihres Partialismus? Singularität, Exklusivität und Parteilichkeit sind für Liebe offenbar charakteristisch – aber wie sind diese Merkmale mit universalistischer Moral vereinbar? Ist es aber nicht auch umgekehrt der Fall, dass man für die Nächststehenden besondere „Liebespflichten“ trägt, etwa für die eigenen Kinder, Partner oder Eltern? Kant versucht jedenfalls, eine geeignete Demarkationslinie zwischen dem moralisch angemessenen und dem moralisch unangemessenen Sinn des mit der Liebe verknüpften Partialismus zu identifizieren.⁶ Es gibt überdies vier Probleme, die im Zentrum einer befriedigenden philosophischen Theorie zu stehen haben: (I) Ist Liebe ein Phänomen der Wertwahrnehmung oder der Wertsetzung? An dieser grundlegenden philosophischen Frage entscheidet sich, ob man eine Theorie des Wertobjektivismus oder des Wertsubjektivismus in der Konzeption der Liebe vertreten will. Entweder ist man Realist oder Anti-Realist, das bedeutet, entweder glaubt man, dass der Wertcharakter des Objekts der Entstehung einer Liebesbeziehung vorausgeht, die zwischen einem Subjekt zu dem Objekt entsteht; oder man glaubt, dass das Subjekt in einem Akt des Expressivismus und der Autopoiesis das Liebesobjekt als Liebesobjekt konstruiert. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, den Gütercharakter G einer Entität x zu interpretieren: Entweder ergibt sich G aus den objektiven Eigenschaften von x sowie aus denen des Akteurs, oder aber G kommt durch einen Wunsch zustande, den der Akteur auf x richtet; im ersten Fall wäre G dasjenige, was den Wunsch im Subjekt hervorriefe, im zweiten Fall wäre es das Subjekt, das G einem x zuweist. Im Wahrnehmungsmodell ist der Zusammenhang zwischen dem Gegenstand und dem Wunsch eines Individuums einer Außenbeschreibung fähig, im Geschmacksmodell dagegen ist die Beziehung von interner Art. Der Kern der Unterscheidung liegt in der Antithese „gewünscht, da wertvoll“ (desired because valuable) und „wertvoll, da gewünscht“ (valuable because desired; vgl. Griffin 1986). (II) Ist Liebe personenbezogen oder kriterienbezogen? In der gewöhnlichen romantischen Vorstellung von Liebe ist man davon überzeugt, dass sich Liebe auf
Zur Interpretation des kantischen Liebesbegriffs vgl. Horn 2008.
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die Persönlichkeit des Geliebten insgesamt bezieht und nicht lediglich auf bestimmte Eigenschaften einer Person. Es war besonders Robert Nozick (1991), der diesen Punkt stark gemacht hat, indem er darauf hinwies, dass, wenn Liebe nicht personenbezogen, sondern kriterienbezogen wäre, eine Person B gegenüber einer Person A vorziehenswert wäre, sobald B die Eigenschaften N, die der liebenswerten Person A eigen sind, deutlich überbietet; auf diese Weise müsste man rationalerweise den Partner wechseln, wann immer die gewünschte Eigenschaft oder das erstrebte Merkmalsbündel in höherem Grad auftritt. Das ist jedoch unplausibel. Allerdings glauben wir bisweilen, dass Liebe kriterienbezogene Momente aufweist, so wie wenn wir jemanden für seine Eigenschaften, Merkmale und Besonderheiten schätzen und lieben. Insbesondere sind wir davon überzeugt, dass das gesellschaftlich etablierte Fragespiel des Typs „Warum liebst du eigentlich Sandra?“ oder „Was genau findest du an Martin so anziehend?“ einen guten Sinn ergibt. Dessen Sinnbedingung ist aber, dass man zumindest im Prinzip liebenswerte Eigenschaften benennen kann, die jemanden attraktiv und wählenswert machen. (III) Ist Liebe ein konditionales Phänomen oder ein nicht-konditionales Phänomen? Dieser Punkt ist insbesondere von Harry Frankfurt (2005) ausführlich diskutiert worden. Sein Beispiel ist das der Mutter-Kind-Liebe, die auch dann schon greift, wenn die Mutter das ungeborene Kind noch gar nicht kennt. Mutterliebe scheint somit unabhängig von den Eigenschaften des Kindes zu funktionieren. Hinzu kommt, dass die Liebe der Mutter nicht erst auf ein bestimmtes Verhalten des Kindes reagiert. Sollte man den Fall der Mutter-Kind-Liebe als paradigmatisch nehmen dürfen (was Frankfurt tut), so ergäbe sich aus der MutterKind-Liebe das Merkmal, dass Liebe nicht nur unabhängig von den Eigenschaften des Geliebten sein muss, sondern auch verhaltensunabhängig – nämlich bedingungslos und unkonditional, während eine Liebesbeziehung, die konditional ist, irgendwie als mangelhaft angesehen wird. Aber in gewöhnlichen Auffassungen denken wir häufig, dass Liebe an bestimmte Kriterien und Bedingungen der Wechselseitigkeit oder des Verhaltens des Geliebten gebunden ist. (IV) Ist Liebe parteiisch oder ist sie unparteiisch? Wie bereits anhand von Kants Position angedeutet, liegt hierin ein wichtiges Konfliktthema der traditionellen Liebestheorien: das Problem der Selektivität und Exklusivität unserer Liebesbeziehungen im Kontrast zur Unparteilichkeitsforderung der Moral. Normalerweise denken wir, dass uns Liebe für bestimmte Personen einnimmt, nämlich für die uns Nächststehenden, die nearest and dearest, während wir alle anderen Personen relativ gleichgültig behandeln dürfen. Eine Gegenauffassung wäre die der christlichen agape oder caritas, die behauptet, man könne Menschen gleich lieben oder sogar alle Menschen gleich lieben, und zwar gleich wie sich selbst. In jedem
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Fall scheint sich eine Spannung relativ zu einer universalistischen Form – vom Typ der Kantischen oder utilitaristischen Ethik – zu ergeben. Soweit die vier grundlegenden Herausforderungen. Wahrscheinlich wird man Verbindungen zwischen den vier Problemstellungen sehen – sie sind nicht völlig voneinander getrennt, sondern weisen Überschneidungen und Affinitäten auf. Prinzipiell scheinen mir nun vier verschiedene theoretische Optionen zu bestehen, wie man mit der zu erklärenden Phänomenfülle zurechtzukommen versuchen könnte. [i] Emotionstheorien: Liebe ist im Wesentlichen ein emotionaler Zustand (M.C. Nussbaum, G. Taylor).⁷ [ii] Anerkennungstheorien: Liebe bezeichnet primär Wohlwollen, Respekt, Anerkennung oder (intrinsische) Wertschätzung (A. Honneth). [iii] Volitionstheorien: Liebe bringt zum Ausdruck, was für mich in meinem Leben von Bedeutung ist (H. Frankfurt). [iv] Intersubjektivitätstheorien: Liebe steht zentral für eine intensive Beziehung der Gemeinschaftlichkeit, der Wechselseitigkeit und der Intersubjektivität, bisweilen sogar der Hybridbildung und der Fusion (R. Nozick). Ad [i]: Ich wende mich damit zunächst der Frage zu, was dafür bzw. dagegen spricht, Liebe als einen emotionalen Zustand oder Vorgang anzusehen. Nach einer weit verbreiteten Überzeugung bezeichnet Liebe eine starke Emotion, die sich von einem Subjekt auf ein geliebtes Objekt (meist eine Person) richtet und die weiterhin dadurch charakterisiert ist, dass man intensive Verbundenheit mit dem geliebten Objekt und hohe Wertschätzung für es empfindet. Man könnte hieraus geradezu einen Definitionsversuch ableiten: Liebe, so ließe sich behaupten, ist eine starke Emotion, die von einem Subjekt SL ausgeht und sich auf ein geliebtes Objekt OL (meist eine Person) richtet und die erstens mit intensiver Verbundenheit mit OL und zweitens mit hoher Wertschätzung für OL verknüpft ist. Doch was spricht eigentlich für diese Sichtweise, wonach Liebe im Wesentlichen ein emotionaler Vorgang oder ein Zustand heftiger (oft überwältigender) Innenzustände (oder Qualia) ist? Um einer Klärung der Frage wenigstens näher zu kommen, möchte ich einen zugegebenermaßen oberflächlichen Blick auf philosophische Emotionstheorien werfen. U. a. mit Blick auf Aristotelesʼ Komponentenheorie der Emotionen (vgl. Rhetorik II, 2– 11) lässt sich eine gängige Emotionstheorie anhand der folgenden Merkmale (a)-(k) charakterisieren:
Dabei impliziert der Emotionsbegriff bei Nussbaum einen Kognitivismus sowie Elemente eines sozialen Konstruktivismus.
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(a) Emotionen drücken ein (mehr oder minder) starkes Involviertsein dessen aus, der sie hat. (b) Emotionen sind Wichtigkeitsindikatoren. (c) Emotionen sind „gerichtet“, sie sind objekt- oder situationsbezogen (Intentionalität). (d) Emotionen enthalten Einschätzungen zu den vorliegenden Kontextbedingungen. (e) Emotionen enthalten Werturteile und spiegeln Werthaltungen. (f) Emotionen besitzen desiderative Komponenten (Wunsch/Abscheu; Lust/ Unlust). (g) Emotionen besitzen volitionale Komponenten (Streben/Meiden). (h) Emotionen sind (mehr oder minder) starke Motivatoren. (i) Emotionen besitzen eine grundlegende Bedeutung für eine gelingende Lebensführung. (j) Emotionen sind moralisch bewertbar; sie können angemessen oder unangemessen, gut oder schlecht sein. (k) Emotionen sollen einen Gegenstand der Moralpädagogik und der Selbsterziehung bilden. Insgesamt scheinen die Merkmale (a)-(k) gar nicht so schlecht auf die Teilphänomene von Liebe zu passen. Doch eine Gegenargumentation könnte wie folgt aussehen: Wäre Liebe tatsächlich eine Emotion, so müsste es gemäß (e) nachvollziehbare Wertungen geben, die in konkreten Konstellationen von Liebe realisiert werden. Und es müsste eine soziale Praxis, ein soziales Spiel existieren, das gute und schlechte rechtfertigende Gründe für Liebeskonstellationen thematisiert. Tatsächlich gibt es (wie bereits erwähnt) im Prinzip ein solches Begründungsspiel, aber leistet es wirklich das, was man von ihm erwartet? Hier besteht das Problem der φ-Eigenschaften und der ψ-Eigenschaften einer Person: Erstere sind diejenige Merkmale des Objekts, die in uns die betreffende Emotion auslösen, letztere diejenigen, die den auf uns wirkenden Eigenschaften im Objekt selbst zugrunde liegen. Besteht nicht vielleicht eine Differenz zwischen φ-Eigenschaften und ψEigenschaften, die den Verdacht einer fiktionalen Zuschreibung aufkommen lassen? Und lieben wir tatsächlich Eigenschaften, oder lieben wir die Person insgesamt? Wie weit reichen rationale Analyse und willentliche Entscheidung des Liebenden? Sehen wir uns dazu eine Passage aus dem Hohenlied (5, 9 – 16) an: Was hat dein Geliebter den andern voraus, / du schönste der Frauen? Was hat dein Geliebter den andern voraus, / dass du so uns beschwörst? Mein Geliebter ist weiß und rot, / ist ausgezeichnet vor Tausenden. Sein Haupt ist reines Gold. / Seine Locken sind Rispen, rabenschwarz. Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen; / (die Zähne,) in Milch gebadet,
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sitzen fest. Seine Wangen sind wie Balsambeete, / darin Gewürzkräuter sprießen, seine Lippen wie Lilien; / sie tropfen von flüssiger Myrrhe. Seine Finger sind wie Stäbe aus Gold, / mit Steinen aus Tarschisch besetzt. Sein Leib ist wie eine Platte aus Elfenbein, / mit Saphiren bedeckt. Seine Schenkel sind Marmorsäulen, / auf Sockeln von Feingold. Seine Gestalt ist wie der Libanon, / erlesen wie Zedern. Sein Mund ist voll Süße; / alles ist Wonne an ihm. Das ist mein Geliebter, / ja, das ist mein Freund, / ihr Töchter Jerusalems.
Der philosophische Wert von Emotionstheorien der Liebe steht und fällt damit, ob das soziale Spiel des Forderns und Gebens von Gründen (ob also die Angabe von φ-Eigenschaften und der ψ-Eigenschaften) plausibel gemacht werden kann oder nicht. Das charmante Beispiel aus dem Hohenlied weckt da einige Zweifel: Könnte es nicht sein, dass die Aufzählung der berauschenden Eigenschaften des Liebespartners (wie der Besitz fester Zähne oder stattlicher Schenkel) sekundäre Rationalisierungen einer bereits zuvor und aus anderen Gründen gefassten Liebe sind? Und wäre es nicht denkbar, dass Liebe eher beiläufig und temporär mit Emotionen verknüpft ist, nicht aber eine Art beständigen Ausnahmezustand bezeichnet? Wie könnte es sein, dass so grundverschiedene Emotionen wie Sehnsucht und Trauer in das Liebesphänomen involviert sind? In jedem Fall spricht gegen eine Emotionstheorie, dass sie diejenigen Phänomene, welche die anderen, konkurrierenden Ansätze ins Zentrum rücken, nämlich Anerkennung, bedingungslose Liebe und die Herausbildung eines gemeinsamen Wir, nur schlecht thematisieren kann. Ad [ii]: Kommen wir damit knapp zu Anerkennungstheorien der Liebe.⁸ Diesen zufolge ist Liebe eine Relation des wohlwollenden wechselseitigen Respekts und der reziproken Wertschätzung. Ein zentraler Punkt von Liebe ist ja offenkundig, dass der Ausdruck für ideale Situationen von Respekt, Akzeptanz und Wertschätzung gebraucht wird. Der Begriff „Anerkennung“ bezeichnet somit die Idealform, die man sich für die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Individuen bzw. den Gruppen einer Gesellschaft wünschen würde: Gemeint sind von echtem Respekt geprägte Beziehungen.Vom Toleranzgedanken unterscheidet sich eine Anerkennungsrelation dadurch, dass fremde Identitäten in ihr nicht nur hingenommen oder geduldet werden, sondern in ihrem Anderssein aktive Achtung finden. Liebe als Anerkennung ist nicht erzwingbar und immer partialistisch. Vielleicht wird die Anerkennungstheorie der Liebe treffend durch ein Diktum Adornos aus den Minima Moralia illustriert: „Geliebt wirst Du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren“ (2003, 218). Ad [iii]: Eine weitere Theoriealternative besteht im Ansatz von Volitionstheorien, ein Modell, für das ich bereits auf H. Frankfurt verwiesen habe. Frankfurt
Für ein Beispiel vgl. Honneth 1992 sowie 2000.
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ist liebestheoretischer Konstruktivist; er situiert Liebe in der Sphäre aller intensiven Bedeutungen, welche für ein moralisches Subjekt in der Welt bestehen. Je weniger jemand liebt, je weniger es gibt,wofür der Betreffende sich einsetzt,woran er Anteil nimmt, was für ihn zählt usw., umso inhalts- und konturloser ist sein Leben. Liebe ist für Frankfurt nicht nur Quelle von Lebenssinn; sie bildet das sinngenerative Phänomen schlechthin.⁹ Unter Liebe verstehen wir, was für jemanden zählt, und damit die tragende Konstruktion einer gelingenden Lebensführung. Dieses beruht (von unseren biologisch-physiologischen Voraussetzungen einmal abgesehen, die Frankfurt anerkennt) auf unserer persönlichen Konstruktion. Hier spielt der Kontrast von Wertwahrnehmungstheorien und Wertsetzungstheorien eine Rolle: Liebt eine Person A eine Person B, weil sie deren φ-Eigenschaften oder ψ-Eigenschaften wahrnimmt und anerkennt? Oder konstruiert sich Liebe umgekehrt im Nachhinein ihre Gründe? Es scheint mir sehr fraglich, ob Frankfurt mit einem Kernpunkt seiner Theorie richtig liegt: Ist es wirklich der Fall, dass wir ein Verhältnis der Liebe volitional setzen und nicht auf wahrgenommene Merkmale gründen? Zweifel erweckt etwa Frankfurts Beispiel vom ungeborenen Kind, das von der Schwangeren bereits vor der Geburt – also unabhängig von seinen zu erwartenden Eigenschaften – geliebt wird. Zwar mag es richtig sein, dass die meisten Mütter eigenschaftsunabhängig, also z. B. auch kranke oder unintelligente Kinder, lieben – vielleicht sogar wegen ihrer Hilfsbedürftigkeit gerade sie. Aber dazu muss bereits eine gemeinsame Basis bestehen, wie sie z. B. durch Zärtlichkeiten oder durch ein intensives kommunikatives Band zustande kommt. Könnte eine Mutter keine solche Beziehung zu ihrem Kind aufbauen, wäre es deshalb fragwürdig, ob sie es dennoch volitional lieben könnte. Das entscheidende Merkmal scheint mir hier zu sein, ob eine tiefreichende intersubjektive Beziehung zustande kommt, was ja durchaus bereits während der Schwangerschaft der Fall sein kann. Es scheint mir ein Vorzug von Intersubjektivitätstheorien der Liebe zu sein, dass es ihnen auf ein „Merkmal“ ankommt, das andere als physische oder mentale Eigenschaften ins Spiel bringt: nämlich die Offenheit für eine tiefreichende Bindung. Ich gehe auf diesen Punkt gegen Ende des Beitrags ein.
Vgl. kontrastiv dazu die Depression und die Stimmung der ‚tiefen Langeweile‘.
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3 Intersubjektivitätstheorien: Liebe als Konstitution eines Wir Damit komme ich nun auf denjenigen philosophischen Theorieansatz der Liebe zu sprechen, der mir am aussichtsreichsten zu sein scheint: die Gruppe der Intersubjektivitätstheorien [iv], für die ich bereits Robert Nozick als markanten Vertreter angeführt habe.¹⁰ Liebesbeziehungen, so argumentieren Intersubjektivitätstheoretiker, sind wesentlich dadurch charakterisiert, dass es in ihnen zu einer besonders intensiven Form von wechselseitiger Perspektivübernahme kommt: zur Herausbildung eines „Wir“. In einer gelingenden Liebesbeziehung entsteht eine geteilte, verschränkte Identität (man denke an bezeichnende Sätze von erprobten Liebespaaren wie „Wir entscheiden uns immer für ruhige Urlaube und gegen Erlebnisreisen“). Ein Moment der Intimität sind also geteilte oder miteinander vereinbare Präferenzen und Urteile. Zudem kommt es in Liebesbeziehungen zu einem reziproken Altruismus und zur Erweiterung des Sensitivitätsraums, insbesondere zu einer geteilten Vulnerabilität: Die Liebespartner bilden füreinander einen permanenten Gegenstand des besorgten Nachdenkens, besonders wenn ein Informationsdefizit besteht, sowie der Beunruhigung unter Gefahrenbedingungen. Sie nehmen wechselseitig engen Anteil an ihren Leiden und Erfolgen. Zwar übernehmen Liebespartner nicht zwangsläufig die Meinungen und Auffassungen des jeweils anderen; das könnte zweifellos eine fragwürdige Selbstauflösung bedeuten. Aber sie nähern sich den Positionen des anderen prinzipiell an, oder bringen zumindest Verständnis für sie auf; man könnte dies als „indirekte Perspektivübernahme“ bezeichnen. Intersubjektivitätstheorien brauchen also keine Verschmelzung zu „Hybrididentitäten“ anzunehmen.¹¹ Für sie sind Liebesbeziehungen zudem der Ort, an dem eine herausragende Leistung des einen durch die Anerkennung des anderen „eingelöst“ werden kann, und der Ort, wo die schlechten Erfahrungen des einen auf die Empathie des anderen, auf Verständnis und Ermutigung stoßen. Das Wohlbefinden des einen hängt unmittelbar von dem des anderen ab. Das Gesagte scheint zunächst allein auf erotische Liebesbeziehungen zuzutreffen. Aber Ähnliches gilt auch für Eltern-Kind-Beziehungen oder für eine
Ein weiterer Ansatz im Feld der Intersubjektivitätstheorien stammt von Fisher 1990. Vgl. ferner Helm 2009b, Abschnitt 2. Andererseits sind auch Fälle interessant, in denen Beziehungen einen inhaltlich konfrontativen Charakter haben; wenn es sich dabei um funktionierende, nicht um zu Ende gehende Beziehungen handelt, sprechen sie dafür, dass es auch eine intersubjektive Kultur der Auseinandersetzung geben kann.
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freundschaftliche Liebe. Sogar für Beziehungen zwischen Mensch und Haustier ist das Moment von wechselseitiger Empathie – jedenfalls besteht beim Menschen oft der Eindruck von Wechselseitigkeit – von zentraler Bedeutung; zumindest ist es dann plausibel, wenn Fürsorglichkeit vom Tier erkennbar positiv aufgenommen wird. Generell fassen Intersubjektivitätstheorien die Phänomene von Liebe so auf, dass es in ihnen um das Teilen von Lebensabläufen, Gewohnheiten, Werten, Interessen, Erfolgen und Niederlagen sowie um Fürsorge und Auffangverantwortung geht. Die Attraktivität von Liebe besteht darin, die soziale Distanz gegenüber einem Liebespartner so weit aufzuheben, dass ein Raum geteilter Identität entsteht. Auch mit Blick auf die Position Kants kann eine Intersubjektivitätstheorie treffend antworten: Natürlich müssen Liebesbeziehungen nicht per se unmoralisch sein, nur weil sie eine starke wechselseitige Privilegierung des anderen implizieren. Denn wie uns gerade eine Intersubjektivitätstheorie plausibel machen kann, besteht in der Liebe – gelingendenfalls – ein so hoher Altruismus, dass die Exklusivität der Beziehung vergleichsweise wenig ins Gewicht fällt. In Liebeskonstellationen kommt es auch am leichtesten zu Fällen von echter Supererogation. Liebe gerät also zu Unrecht in den Verdacht eines unangemessenen Partialismus; im Gegenteil, sie nähert sich dem Ideal der uneigennützigen Öffnung einer Person zugunsten einer anderen, d. h. dem Ideal der intrinsischen moralischen Motivation, im gewöhnlichen sozialen Leben am meisten.¹² Pierre Bourdieu hat zudem in seiner Abhandlung Die männliche Herrschaft (2005) die Bedeutung der romantischen Liebe für nordafrikanische Gesellschaften so beschrieben, dass ein romantisches Verhältnis der einzige Raum für relative Gleichheit und Anerkennung zwischen den Geschlechtern ist. Ergänzen lässt sich das „Argument aus der moralischen Arbeitsteilung“, wonach Liebesbeziehungen dadurch als moralisch adäquat zu betrachten sind, dass idealerweise jede Person immer mit irgendeiner anderen in Form einer Liebesbeziehung verbunden sein sollte, so dass jeder in einer exklusiven Beziehung diese Typs aufgehoben wäre. Zugunsten dieses Ansatzes scheinen mir des Weiteren die folgenden Punkte zu sprechen: Erstens dürften die Intersubjektivitätstheorien im Konzert der philosophischen Theorien die einzigen sein, die Gemeinschaftlichkeit überhaupt als zentrales Moment der Liebe erfassen und beschreiben können. Nach den drei oben genannten Theoriealternativen müsste man bereits von Liebe sprechen, wenn Tris-
Vgl. dazu ausführlicher Lohmann 2009. Generell zu beachten sind hier die Tugenden aus 1. Korinther 13, also Geduld, Langmut, Vergebung und Nichtnachtragen, zudem etwa Offenheit, Wahrhaftigkeit, Verlässlichkeit, eine positive Sicht auf Alterität sowie Rücksichtnahme.
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tan nur Isolde liebte, ohne dass umgekehrt auch Isolde an Tristan hinge. Das ist aber sicher fragwürdig: Wenn eine Liebesbeziehung einseitig und asymmetrisch ist, spricht man gerade nicht eigentlich von Liebe, sondern von unglücklicher oder unerfüllter Liebe. Liebe scheint entscheidend mit der Herausbildung einer Gemeinschaft von Wechselseitigkeit und der geteilten Perspektiven zu tun zu haben; dies zu ignorieren (und stattdessen Emotionen oder Volitionen in den Mittelpunkt zu stellen), läuft m. E. auf eine substantielle Verkennung der Phänomene hinaus. Während Intersubjektivitätstheorien Emotionen oder Volitionen mit einbeziehen können, führt umgekehrt kein Weg von diesen Ansätzen zum Phänomen der Intersubjektivität. Zweitens vermögen Intersubjektivitätstheorien dasjenige gut zu erfassen, was als eines der wichtigsten Teilphänomene des Empfindens von Liebe gelten kann: das Gefühl der Selbsttranszendenz. Liebe lässt sich als ein Sich-selbst-öffnen (oder Geöffnetwerden) verstehen, das dem Betroffenen eine ganz neue Perspektive auf das Leben erschließt (so z. B. Lohmann 2009). Als Verliebter oder Liebender kann man – auch wenn die Liebe aspektweise enttäuschend, leidvoll oder quälend sein mag – dennoch durchgehend das Gefühl haben, enge persönliche Grenzen überwunden und neue Horizonte hinzugewonnen zu haben. Liebe vermittelt dem menschlichen Leben in einem schwer zu klärenden Sinn Tiefe und Hintergründigkeit. Die bestmögliche Interpretation dieser Tatsache scheint mir in der Interpretation zu bestehen, dass es in der Liebe zur Konstitution eines „Wir“ kommt, welches unserem Leben erst eine transindividuelle Bedeutung verleiht. Drittens können Intersubjektivitätstheorien der Liebe den alltäglichen Sprachgebrauch in den oben genannten Fällen (2) – (4) gut erklären (vgl. oben, S. 82 f.). Das Phänomen der Liebe hat in allen drei Varianten seinen Kern darin, dass in der Liebesrelation ein „Wir“ vorliegt, das wir mit besonderer Bedeutsamkeit auszeichnen. Intersubjektivitätstheorien kommen zwar zugegebenermaßen mit der Redeweise (1) nicht zurecht, aber diese erschien uns ja ohnehin als übertragener Sprachgebrauch und damit als unwesentlich. In (1) werden lediglich Teilphänomene der Liebe, nämlich Intensität und Enthusiasmus, auf ein präferentielles Feld übertragen. Im Fall der Ausdrucksweise (2) kommt Intersubjektivität dadurch ins Spiel, dass man sich nur zu einer „Liebe“ zu bestimmten Praktiken (wie der Philosophie) oder zu Lebensformen (etwa dem Leben als Vater) bekennen kann, wenn diese hochgradig intersubjektive Implikationen hat. Die Feststellung „Ich liebe die Musik von Brahms“ kann demnach unter (1) oder unter (2) fallen, und je nachdem, wie sie gemeint ist, wäre sie entweder präferentiell und damit metaphorisch oder auf eine Lebensform bezogen und damit substantiell intersubjektiv. Viertens helfen Intersubjektivitätstheorien dabei, die schwierige Kontroverse zwischen Volitionstheorien und Wahrnehmungstheorien sinnvoll zu lösen. Voli-
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tionstheorien sind darin angreifbar, dass es falsch ist zu sagen, wir würden uns merkmalsunabhängig für einen bestimmten Liebespartner entscheiden. Umgekehrt wirkt an Wahrnehmungstheorien nicht überzeugend, dass sie anscheinend sagen müssen, wir entschieden uns für Liebeskonstellationen aufgrund bestimmter Merkmalsbündel; denn damit stehen nicht mehr die Momente Persönlichkeitsorientierung und Singularität im Zentrum der Theorie, sondern ein Subsumptionsverhältnis, eine type-token-Relation. Gerade eine Intersubjektivitätstheorie kann nun aber eine Variante von Wahrnehmungstheorie formulieren, die keine type-token-Relation zu unterstellen braucht. Was die Personen aneinander wahrnehmen, wäre demnach die wechselseitige Offenheit für ein Verhältnis der Intersubjektivität. Sicher kommen noch andere Aspekte dazu: etwa äußere und mentale Eigenschaften im Fall der erotischen Liebe, Interessengleichheit in Freundschaften oder die Verwandtschaft und das geteilte Schicksal in Familienbeziehungen. Aber diese sind für Liebesrelationen nicht hinreichend, und sie machen auch nicht den Kern solcher Relationen aus. Von Anerkennungstheorien unterscheidet sich eine Intersubjektivitätstheorie grundsätzlich darin, dass sie Liebe nicht auf die generelle Interaktionsdynamik von Gesellschaften zurückbezieht, sondern auf Sonderkonstellationen in Nahbeziehungen beschränkt. Und in der Tat scheint eine Liebesrelation etwas grundsätzlich anderes zu sein als eine Anerkennung und nicht einfach nur deren Steigerung oder deren Privatisierung. Liebe ist ein exklusives soziales Bindungsphänomen. „Ich liebe X“ heißt soviel wie „Ich binde mich an X“, und dies mit einer gewissen Exklusivität und in Erwartung einer intensiven Form intersubjektiver Gemeinschaft. In Frankfurts Volitionstheorie der Liebe wiederum gibt es eine leicht kurios wirkende Behauptung, die man ebenfalls mithilfe der Intersubjektivitätstheorien auflösen kann. Danach handle es sich bei der Selbstliebe im Grunde um die reinste Form von Liebe, weil man sich selbst unkonditional, vorbehaltlos und konstant akzeptiere und nicht instrumentell behandle. Das trifft zwar zu, erscheint uns jedoch irgendwie als fragwürdig und oberflächlich. Wo genau liegt der empfundene Fehler? Frankfurt selbst argumentiert präventiv gegen den von ihm antizipierten Einwand, mit dem er das Gefühl des Unbehagens beseitigen möchte: Er meine mit Selbstliebe keinen Egozentrismus, sondern eine maßvolle Variante von Selbstaffirmation. Von Aristoteles bis Rousseau ist eine solche Unterscheidung immer mit Recht vorgenommen worden. Doch trifft Frankfurt damit, so scheint mir, nicht das Zentrum unseres Unbehagens; dieses liegt vielmehr darin, dass Selbstliebe keine allzu bemerkenswerte Form von Intersubjektivität ermöglicht. Es mag zwar sein, dass ein kultiviertes Selbstverhältnis auch Formen des Selbstgesprächs enthalten kann – wie etwa reflexive Selbstkritik beim Führen eines Tagebuchs zeigt – aber von einer echten Selbsttranszendenz und der Herausbildung
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eines „Wir“ kann kaum die Rede sein. Unser Unbehagen hat nicht damit zu tun, dass Selbstliebe immer wie Egozentrik aussieht, sondern damit, dass wir unterstellen, Liebe beruhe immer auf Selbsttranszendenz und Intersubjektivität. Natürlich kann man mit Blick auf die hier verteidigten Intersubjektivitätstheorien berechtigterweise fragen, was genau das Phänomen der Intersubjektivität – wie es im Fall der Liebe prominent, in anderen Fällen weniger markant auftritt – für uns so herausragend bedeutsam macht. Aber das wäre ein völlig neues Thema, das nicht mehr auf eine Theorie der Liebe beschränkt ist. Theorien der Intersubjektivität stellen zweifellos noch weit höhere Herausforderungen, als dies für Theorien der Liebe gilt.
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Christoph Horn
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Sonja Rinofner-Kreidl
Neid und Ressentiment Zur Phänomenologie negativer sozialer Gefühle In seinen erstmals 1597 erschienenen Essays vermerkt Francis Bacon, dass Neid nicht nur „der verwerflichste und niedrigste Affekt“ sei, sondern auch „von allen Affekten der heftigste und anhaltendste“ (Bacon 2005, 30). Denn alle anderen Leidenschaften seien an besondere Gelegenheiten gebunden, während der Neid „immer irgendeinen Grund [finde]“ (ebd.). Neid ist, im Unterschied etwa zu Ärger oder Heiterkeit, ein empfindungsstarkes Gefühl, das auf starke Expression hindrängt, in eben diesem Drang jedoch zurückgenommen wird. Im Sinne dieser Selbstdrosselung ist Neid ein in sich spannungsreiches Gefühl, das in besonderer Weise „erlitten“ und unwillig gebändigt wird. So wie der Neid ein genuin soziales Gefühl ist, das einen Vergleich mit anderen voraussetzt und aus einem solchen Vergleich erwächst, ist auch die Hemmung des Neidausdruckes sozial bedingt. Neidgefühle werden in wechselnden Sozietäten und Kulturen, über die Zeiten hinweg, einhellig negativ bewertet – mit der spezifisch in modernen Leistungskulturen anzutreffenden Einschränkung, dass maßvoller Neid als Motivator dienen kann, sich in der Arbeits-, Konsum- und Liebeskonkurrenz mit anderen anzustrengen, um eine passable soziale Platzierung zu erreichen. Ob sich Neid in diesem Sinn zähmen und instrumentalisieren lässt, ist fraglich. Vielmehr scheint die Grundtendenz überwiegend eine andere zu sein – nämlich: Neid als ein in seiner Heftigkeit schwer beherrschbares und vornehmlich schädliches Gefühl zu verstehen, das nicht nur den Charakter des Neiders deformiert, sondern auch soziale Verhältnisse und deren Entwicklung ungünstig beeinflusst, sie belastet oder zerstört. Neid gilt gemeinhin als Ausdruck von Versagen und misslungener Bewältigung von Unglück und Lebensrisiken jeglicher Art. Neidische Menschen werden als potentiell aggressiv, anfällig für kognitive Täuschungen und missmutige Grundstimmungen, als in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstwirksamkeit geschwächt wahrgenommen. Wer auffällig neidgeplagt ist, ist in Gefahr, als schlechter Verlierer dazustehen. So ist es nicht überraschend, dass Neidattacken von der eingangs erwähnten Ausdruckshemmung begleitet werden, die in jenen Theorien, die mit diesem besonderen Gefühl befasst sind unisono als Maskierungszwang beschrieben wird. Dass Neid im Zusammenleben der Menschen entsteht, ist kaum vermeidbar. Sein Ausdruck ist jedoch sozialer Stigmatisierung ausgesetzt und unterliegt scharfen Restriktionen – was nicht ausschließt, dass es geduldete und z.T. stilisierte soziale Ausdrucksformen von Neid gibt, wie sie sich etwa in Karnevalsritualen dokumentieren. Die Neid-
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gefühlen anhängende Ausdruckshemmung ist somit weniger als Antwort auf ein „glattes“ Ausdrucksverbot zu verstehen denn als ein komplexes Vermeidungsverhalten.¹ Die theoretische Auseinandersetzung mit Neid erfolgt in verschiedenen disziplinären Anbindungen. Entsprechend dominieren bestimmte Fragestellungen und Sachinteressen. Prominent sind etwa psychoanalytische Erklärungen des Entstehens von Neidgefühlen und ihrer Funktion in der Ontogenese sowie soziologische Untersuchungen zu den Mechanismen der Kompensation von Neidgefühlen. Im Folgenden werden ausgewählte Aspekte von Neidgefühlen im Rahmen einer phänomenologischen Untersuchung erörtert (vgl. Vendrell 2008). Gemäß den Rahmenbedingungen einer Intentionalanalyse, wie sie der phänomenologische Zugang vorgibt, beschreiben wir die Eigenart von Neidgefühlen, indem wir auf den Zusammenhang von unmittelbarer Erlebnisqualität und intentionalem Gehalt Bezug nehmen. Letzterer enthält nicht nur die Art der Beziehung zum Gegenstand des Neiderlebnisses, sondern auch den latenten Wertbezug, der für Erlebnisse dieser Art konstitutiv ist (vgl. Rinofner-Kreidl 2013a). Primär interessiert dabei,wie die Art des Gegenstandsbezuges mit spezifischen Qualitäten auf Seiten des Erlebnisses bzw. mit einer bestimmten Art des Selbstverhältnisses korreliert. Neidgefühle zeigen sehr deutlich, dass unser Selbstverhältnis über die Beziehung zu anderen vermittelt ist. Ein bestimmtes Verhältnis zu sich zu haben, bedeutet eo ipso, sich in bestimmten Verhältnissen zu anderen zu verwirklichen und vice versa. Zu den bemerkenswerten Aspekten von Neidgefühlen gehört die Tendenz, Verzerrungen der sozialen Wahrnehmung zu begünstigen oder zu motivieren, welche insofern nicht zufällig auftreten, als sie „Antworten“ auf spezifische Gefühlslagen bzw. Ausdruck von Transformationen solcher darstellen. Wenn es zutrifft, dass Neidgefühle aufgrund ihrer negativen Bewertung nach außen hin zu verbergen gesucht werden, dann ist durchaus zu erwarten, dass dem in gewissem Ausmaß auch eine Selbstverbergung in doppeltem Sinn entspricht: dass ich sowohl aktuell empfundene Neidgefühle als auch mich als vorübergehend von solchen Gefühlen Befangene bzw. als so Disponierte, d. h. als Neid Vgl. Titelman 1981, 198: „In order to alter this lived uncomfortableness and dissatisfaction [of being envious and being unable to overcome this feeling, S.R.] the envier seeks to defend self and keep others from confronting experiencing his/her enviousness. This takes the form of various modes of guardedness and self-protection: avoiding, covering over, and masking feelings of enviousness and hostility toward the envied other; not admitting being envious to self; making an effort to avoid and withdraw from the presence of the envied other or a desire and/or attempt to flee or withdraw from the situation in which being envious is experienced; devaluation and denial of the value of that which is envied; trying to contest and ‚tear down‘ the envied-other; and criticizing the setting and derrogating [sic] the people who are involved in the situation in which being envious is experienced.“
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persönlichkeit, vor mir selber zu verbergen suche. Diesbezüglich liegt in Neiderfahrungen und ihrer Analyse eine dem Problem der Selbsttäuschung analoge Struktur vor.² Maskierung, Selbstverbergung und Bias-Anfälligkeit lassen eine besondere Verwandlungsdynamik von Neidgefühlen erwarten.³ Im vorliegenden Kontext kann dem Sinnzusammenhang von Selbst- und Fremdverhältnis nicht in allen relevanten Aspekten nachgegangen werden. Ich konzentriere mich darauf herauszuarbeiten, wie die tiefere Zeitgestalt von Neidgefühlen in die Dialektik von Selbst- und Fremdverhältnissen eingreift (1). Daneben gilt mein Interesse einer besonderen Erscheinungsform von Neidgefühlen – der Ressentimentbildung –, die ich speziell nach ihren dynamischen Gesichtspunkten untersuche (2). Zu den Fragen, die sich im Zusammenhang einer phänomenologischen Theorie der Gefühle speziell mit Bezug auf Neidgefühle stellen, gehören etwa die folgenden: Ist die Dynamik von Neidgefühlen (auch) als ein Prozess der Differenzierung auf Seiten des intentionalen Gehaltes abzubilden? Was gewinnen wir im Hinblick auf eine möglichst prägnante Charakterisierung von Neidgefühlen, wenn wir ihr Verhältnis zu Eifersucht, Stolz, Scham, Geiz, moralischer Empörung, Verachtung, Hass, Selbstmitleid oder Schadenfreude untersuchen? Ist Neid ein reines, homogenes Gefühl oder ein aus verschiedenen Gefühlen bzw. Gefühlsorientierungen „komponierter“ Gemütszustand? Lassen
Vgl. Beier 2010; Rinofner-Kreidl 2010 und 2012a. Vgl. Smith 2004, 44 f.: „[…] people use social comparisons not only for accurate self-assessment, but also for self-enhancement […]. Especially when the implications of social comparisons threaten our self-esteem, we tend to select or construe comparison information in a biased, egoenhancing manner – serving our vanity as much as our need for accurate self-knowledge […]. The self-esteem implications of social comparisons can be so menacing that concerns over accurate self-assessment take a back seat. There is a basic antinomy between using social comparisons to assess our abilities and using them to maintain an ego-enhancing sense of superiority. […] that accuracy can be trumped by self-enhancement may help to explain how the invidious pain of an unflattering comparison can transmute itself into an emotion more bearable to the envying person’s self-image.“ Unter einem Bias ist im Allgemeinen ein meist unbewusst ‚agierter‘ Verzerrungseffekt im Wahrnehmen, Denken und Erinnern zu verstehen, welcher häufig mit einer starken affektiven Erregung oder einem in der gegebenen Situation unangemessenen emotionalen Engagement einhergeht. Typische Äußerungsformen sind hochselektive Kenntnisnahmen von Tatsachen und einseitige, tendenziöse Interpretationen. Zu den bekanntesten BiasEffekten, die in der Kognitions- und Sozialpsychologie erforscht werden, gehören der Bestätigungsfehler (Auswahl von Informationen gemäß ihrer Eignung die eigenen Erwartungen zu bestätigen), die Kontrollillusion (die irrtümliche Annahme, zufällige Ereignisse durch eigenes Handeln beeinflussen und steuern zu können) und der Dunning-Kruger-Effekt (eine selbstwertförderliche Verzerrung bei inkompetenten Personen, die dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen und die der Kompetenten zu unterschätzen).
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sich die verschiedenen Erlebnisqualitäten von Neidgefühlen durch ein in diesem Gefühlsgeflecht jeweils vorherrschendes „Subgefühl“ verständlich machen? Zu den allgemeinen deskriptiven Parametern einer phänomenologischen Beschreibung, welche auch für eine Analyse von Neidgefühlen von Bedeutung sind, gehört die Unterscheidung von – latenten und manifesten Bestandteilen von Phänomenen – aktuell auftretenden („episodischen“, „okkurrenten“) Erlebnissen und verschiedenen Formen der Habitualisierung (z. B. Typizitätserwartungen im Zusammenhang von Wahrnehmungsprozessen; Gefühlsdispositionen) – singulären (individuellen) Erlebnissen und Erlebnisarten, welchen auf der Objektseite bestimmte Arten von Gegenständen entsprechen – Passivität und Aktivität (z. B. im Sinne des Husserl’schen Kriteriums einer erlebten Ichbeteiligung), auf deren Basis der Widerfahrnis-Charakter von Affekten, Gefühlen, Emotionen u. dgl., speziell im Hinblick auf die begleitenden leiblichen Erregungen, zu explizieren ist – leiblichem Spüren und kognitiven Gehalten bzw. Einstellungen – Struktur und Prozess. Wenn wir mit Bezug auf die zuletzt genannte Unterscheidung die Bezeichnungen „statisch“ und „dynamisch“ verwenden, ist dies insofern äquivok, als diese Charakterisierungen sowohl gegenständlich als auch methodologisch gemeint sein können: Sie können sich sowohl auf immanente Erlebnisqualitäten von Gefühlen beziehen – so sind etwa Zorn und Angst im Sinne ihres Erregungs- und Handlungsmotivationspotentials dynamischer als Freude und Trauer – als auch auf Unterschiede des methodischen Zugriffes auf bzw. der Darstellung von Gefühlen. Die Beschreibung des Verhältnisses von kognitiven und nicht-kognitiven Momenten in der Einheit komplexer Gefühle wie Verachtung ist z. B. eine (relativ) statische Betrachtungsweise im Unterschied etwa zur Beschreibung von typischen Transformationsverläufen, welche bestimmten Arten von Gefühlen anhängen. Es ist ein genuines Interesse der Phänomenologie, nicht naiv von Erscheinungen oder von (anschaulich erfassten) objektiven Gegebenheiten zu sprechen, sondern, qua Subjektivitätsforschung, beides als zusammengehörig im Blick zu haben: einerseits das, was sich als so-und-so-bestimmtes Phänomen darstellt und andererseits die Art und Weise der methodischen Erschließung, des Zuganges zum betreffenden Phänomen. Die häufig anzutreffende Bezeichnung „Neiderreger“ können wir näher bestimmen, indem wir zwischen formalem und materialem Neidobjekt unterscheiden. Formal ist es immer eine andere (mit Bezug auf soziale Nähe‐/Distanzverhältnisse nicht beliebig gewählte) Person, auf die sich Neidgefühle beziehen. Der Beneidete ist ein anderer, der mit Bezug auf mich durch bestimmte Ähnlichkeiten
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und Differenzen charakterisierbar ist. Im Unterschied dazu nennen wir „materiales Neidobjekt“ dasjenige, was konkret Gegenstand des Neides ist: was im Fokus des neidischen Blicks steht. Das so verstandene Geneidete wird als sich am bzw. im anderen manifestierend wahrgenommen.⁴ Der (relativ, d. h. im Vergleich mit mir) Reiche(re), Schöne(re), Angesehene(re) wird beneidet. Das, worum er beneidet wird (sc. das Geneidete), ist sein materieller Besitz, seine körperliche Erscheinung und Ausstrahlung, seine soziale Stellung.⁵ Obwohl anzunehmen ist, dass jene, die eine Neidanalyse durchführen, das betreffende Gefühl aus eigener Erfahrung kennen, unterliegt der phänomenologische Zugang nicht eo ipso jenem methodischen Problem, das mit Bezug auf Neid immer wieder festgestellt wurde: dass er sich nämlich, aufgrund der Negativbesetzung dieses Gefühls und des Maskierungszwanges⁶, „von seinem Wesen her der Analyse [verweigert]“.⁷ Wäre die Phänomenologin im Vollzug ihrer Untersuchung aktuell von starken Neidgefühlen geplagt, so könnte sich dies freilich verzerrend auf ihre Analyse auswirken. Formal setzt eine phänomenologische Analyse eine reflexive Distanzierung in dem Sinn voraus, als ihr Untersuchungsbereich – die bestimmten Erlebnistypen anhängende intentionale Struktur – erst dann in Erscheinung treten kann, wenn der natürliche Erfahrungsfluss unterbrochen ist.
Insofern das Geneidete auch von mehreren Personen besessen werden kann, kann das formale Neidobjekt auch eine Mehrzahl von anderen Personen sein. Wir sprechen vom Beneideten der Einfachheit halber im Singular. Genauer sprechen wir vom ‚Beneideten‘ entweder, substantivisch, als Synonym für ‚Neiderreger‘ oder im Sinne der Beziehung des Neiderregers zu den begehrten Gütern. Neid bezieht sich nicht bloß auf irgendwelche Güter, sondern darauf, dass diese von einem anderen besessen werden. Dem gegenüber bringt die Rede vom ‚Geneideten‘ eine abstraktere Sicht zum Ausdruck, welche die begehrten Güter imaginär aus der realen Beziehung zum Neiderreger ablöst. In diesem Sinn können wir sagen, dass es z. B. Eleganz, Großzügigkeit, Zuversicht oder Reichtum ist, was ‚geneidet‘ wird, d. h. unseren Neid auf sich zieht. Zu den Komplexitäten des Neidthemas, auf die wir hier nicht eingehen können, gehört z. B., dass die Maskierung unter passenden Umständen nicht individuell-persönlich zustande gebracht werden muss, sondern an Berufsrollen delegiert und insofern institutionalisiert werden kann. Derartige Institutionalisierungen sind bedeutsam auch im Hinblick darauf, dass Emotionen in erheblichem Ausmaß in Institutionen erlernt und praktiziert werden. Der Umgang mit Emotionen ist Bestandteil unserer ‚shared attitudes‘. Vgl. May 1997. Leslie Farber zit. nach Epstein 2010, 29.
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1 Neiddynamik I: Wie Neidgefühle, Zeitbewusstsein und Selbstwahrnehmung ineinandergreifen und einander spiegeln Eine Bewusstseinsanalyse im Sinne einer phänomenologischen Strukturbeschreibung ist nicht daran gebunden, sich auf das Offenkundige zu beschränken: auf das, was im intentionalen Gehalt des fraglichen Phänomens offen zu Tage liegt. Dies wird etwa deutlich, wenn wir nach den Neidgefühlen inhärenten Zeitverhältnissen fragen. Als Ausgangspunkt unserer Überlegungen kann eine Feststellung dienen, die sich in Helmut Schoecks 1966 erschienener Monografie Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft findet⁸: „Beneiden ist eine Funktion des Zeitgefühls im Betrachter des Glücks anderer.“ (Schoeck 1966, 192) Diese Feststellung wird vom Autor nicht weiter präzisiert und kommentiert. Gleichwohl liefert sie einen Ansatzpunkt, um genauer über bestimmte dynamische Aspekte des Neiderlebens nachzudenken. Um dies zu tun, müssen wir unseren deskriptiven Zugriff auf das im Phänomen enthaltene Zeitmoment differenzierter fassen. Ich unterscheide Zeitlichkeit als (a) unmittelbaren Bestandteil der subjektiven Aspekte eines Neiderlebnisses (z. B. eine vom Neider als quälend erlebte Zeitdehnung, wenn er mit der prahlerischen Selbstdarstellung des Beneideten konfrontiert ist); (b) Qualifikation, die dem Handeln bzw. der Lebensrealität des Beneideten zugeschrieben wird (z. B. eine spezifische dynamische Rolle im sozialen Umfeld, etwa ein „kometenhafter“ sozialer Aufstieg); (c) reflexiv zu entdeckende tiefere Zeitgestalt des Neides, welche im Neiderleben nicht unmittelbar präsent ist, gleichwohl aber die affektive Betroffenheit bzw.
Dieses Werk ist zwar im Hinblick auf die Hintergrundannahmen der Gesellschaftsanalyse stark tendenziös und ideologisch, indem es Neid als eine Art Rache der Besitzlosen an den Besitzenden interpretiert (was zu entsprechenden Bewertungen des Sozialismus führt). Dennoch ist Schoecks Buch, das grundlegende und spannende deskriptive Befunde versammelt, noch immer eine anregende Lektüre. Es wirft freilich die Frage nach der Unparteilichkeit der Untersuchung auf, die kontrovers verhandelt wird, jedenfalls aber als ein methodisches Problem ernstgenommen werden sollte, wenn zutrifft, dass gilt: „certainly the view that is taken of resentment often seems to depend on whether one is the subject or the object of this emotion“ (La Caze 2001, 38, Fn. 22). Inhaltliche Analyse und Methodenfragen bezüglich einer Bias-Vermeidung in der Phänomendarstellung sind in der Tat schwer zu trennen. Vgl. Van Hooft 2002, 147: „If the characterological state out of which resentment stems includes that of self-righteousness, then how are we to know that the perception of injustice is not being produced by the resentful emotion itself? Resentment does not only seek to impugn the well-being of the other, it also seeks to place the self onto a self-created moral pedestral.“
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das existentielle Engagement des Neiders auf Basis einer intentionalen Analyse verständlich macht. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Ebene c) bzw. auf die Frage, wie b) und c) zusammenhängen. Meinen Überlegungen liegt die Annahme zugrunde, dass das Zusammenspiel von b) und c) die primäre Angriffsebene für die Ausarbeitung einer umfassenderen Typologie des Neides in seinen dynamischen Aspekten wäre, welche auch den Zusammenhang zwischen Neid und anderen Gefühlen (z. B. Scham; Selbsthass) bzw. spezifischen Selbststellungnahmen (z. B. Willensschwäche) näher zu bestimmen erlaubte. Neidgefühle entstehen auf Basis eines sozialen Vergleichs, der den Vergleichenden aus dessen eigener Sicht schlecht dastehen lässt. Als relevant gilt ein solcher Vergleich, weil eine hinreichende Nähe zwischen denen, die in ihren Fähigkeiten, Besitztümern etc. verglichen werden, unterstellt wird. „Nähe“ heißt hier primär soziale Nähe, umfasst aber auch die Dimension einer allgemeinen menschlichen Ähnlichkeit im Sinne der physiologischen und geistigen Konstitution sowie der allgemeinen sozialen und affektiven Fähigkeiten. Neiderregend sind Vergleiche mit meinesgleichen und nur mit meinesgleichen. Dass ich nicht so schnell laufen kann wie ein Gepard, macht mich nicht neidisch auf Wildkatzen. Dass ich nicht so viel weiß wie ein der Vorstellung nach allwissender Gott, macht mich nicht neidisch auf Gott.⁹ Stimmt die „Dimensionierung“ des Vergleiches, dann heißt „Nähe“ oder „Ähnlichkeit“, dass es andere gibt, die etwas können oder haben, was mir, erstens, ebenso wichtig ist wie ihnen, und was ich, zweitens, ebenso gut können oder haben könnte, weil es für mich auch prinzipiell erreichbar ist. Unsere Erfolge im Erreichen von Glücksgütern sind, so sagt uns die Erfahrung, über die Zeit verteilt. Das gilt sowohl für unser Handeln – das Erlangen und Verlieren von Glücksgütern – als auch für die Metaebene kognitiver Evaluierungen und gefühlsmäßiger Stellungnahmen zum So-und-so-gehandelt-Haben. Letzteres betrifft etwa den Umstand, dass wir das Reüssieren oder Scheitern in wechselnden sozialen Umfeldern stillschweigend an einem Bild von Normalität bemessen, das nicht nur eine Häufigkeitsverteilung wiedergibt, sondern auch eine meist implizite Vorstellung von Verdienst ins Spiel bringt – neben deskriptiven Momenten also auch normative enthält. Das bedeutet: Wenn andere in einem nachvollziehbaren
Umgekehrt scheint der Neid der Götter, der als Topos die menschliche Kulturgeschichte begleitet (vgl. Nusser 2006), ein allzu ungetrübtes oder in selbstverständlichem Selbstgenuss gelebtes menschliches Glück als Hybris den Göttern gegenüber zu verstehen. Was hier geneidet wird, ist weniger das Glück – das sich die Götter aufgrund ihrer Überlegenheit jederzeit selbst verschaffen könnten – als die ungehörige Selbstvergessenheit im Glücklichsein, wodurch der kosmischen Ordnung nicht der gebührende Respekt und Dank erwiesen wird.
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Verhältnis von Leistungseinsatz und „verdientem“ Erfolg sukzessive vorankommen, bietet dies weniger Anlass für Neid, als wenn jemand bloß durch Zufall und Glück oder durch Vetternwirtschaft und Betrug avanciert, und dies obendrein noch in einer atemberaubenden sozialen Aufstiegsgeschwindigkeit. Auf offenkundige Disproportionalitäten, die wir als ungerecht empfinden, reagieren wir mit Neidgefühlen. Um zu verstehen, warum jemand beneidet wird, reicht es nicht, eine Momentanaufnahme sozialer Statusunterschiede vor Augen zu haben. Wir benötigen darüber hinaus ein Wissen darüber, wie und in welchen Zeiträumen diese Statusunterschiede zustande gekommen sind. Zeitverhältnisse spielen hier auch insofern eine Rolle, als Neidgefühle nicht bloß auf absolute Statusunterschiede antworten, sondern häufig in subtiler Weise der Veränderung relativer Unterschiede Rechnung tragen – wenn z. B. andere, die annähernd dieselben Ausgangsbedingungen wie ich haben, unverhältnismäßig schneller die soziale Leiter hinaufsteigen (vgl. Schoeck 1966, 192). Diese spezifischen Zeitverhältnisse, die sich auf der Ebene der attribuierten Eigenschaften der sozialen Interaktionspartner einstellen, liefern eine erste grundlegende Illustration dessen, was die These bedeutet: „Beneiden ist eine Funktion des Zeitgefühls im Betrachter des Glücks anderer.“ Auf eine tiefere Ebene von Zeitverhältnissen führt es, wenn wir das Erleben von Zeitlichkeit explizit mit der Selbstbeziehung des Neiders in Zusammenhang bringen und fragen: Wird der andere als mir Ähnlicher nicht gerade deshalb beneidet, weil er ein versäumtes, vernachlässigtes Entwicklungspotential meiner selbst repräsentiert – und mir dieses aufdringlich („einschneidend“) vor Augen stellt? Indem nämlich der andere das ist, was ich sein bzw. werden könnte, wenn ich mehr Zeit hätte, bessere Bedingungen vorfände, motivierter wäre, meine Möglichkeiten und Talente besser zu nutzen verstünde usw.? Der andere stellt mir vor Augen, was ich hätte werden können. Ich beneide ihn, weil er imstande ist, mich zu beschämen, und dies nicht mutwillig oder aus Überheblichkeit, sondern mit guten Gründen. Das trifft mich nicht nur als (schamanfällige) öffentliche Person in ihrem faktischen Geworden-sein, sondern auch in meinen insgeheim angestellten Selbstvergleichen, nämlich jenen Vergleichen, die mich als faktisches Ich einem Idealbild meiner selbst gegenüberstellen. Aus dieser Sicht steht dem „beschleunigten“ sozialen Aufstieg des anderen, den ich wie mit einem Zeitraffer in der äußeren Wahrnehmung erfasse, eine „Verlangsamung“ der inneren Zeit gegenüber, in der sich meine Selbstwahrnehmung bewegt. Das, was ich als mein Selbst wahrnehme, ist träge verglichen mit dem, was mir mein realer Kompagnon vorlebt. Insofern bleibt es nicht bei Beschämung und Neidscham in den äußeren sozialen Verhältnissen. Mit „Neidscham“ können wir die Scham bezeichnen, die ich darüber empfinde, dass ich, so wie ich nun einmal bin, den anderen beneiden muss, während andere aufgrund ihrer stärkeren inneren Natur die Entspanntheit
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und Größe aufbringen, mit seinen Erfolgen zu sympathisieren. Der beneidete andere versetzt mich, soweit ich zu einer aufmerksamen Selbstwahrnehmung im Spiegel der Fremdwahrnehmung fähig bin, nicht nur in eine schwierige äußere Lage; er versetzt mich auch in eine innerlich dissoziierte, unharmonische Situation: in einen Unfrieden mit mir selber. Meine Neidgefühle sind ein Gradmesser dessen, inwiefern ich mir der in meiner Person „schlummernden“ Potentialität und des Missverhältnisses zu dem, was ich real geworden bin, bewusst bin. In meinem Neidverhalten, so wie ich es als von anderen wahrgenommen wahrnehme, schaue ich mich gewissermaßen von außen, mit den Augen der anderen, an – und bin enttäuscht und niedergeschlagen über das Ergebnis dieser „Objektivierung“. Wenn Neidvergleichen im obigen Sinn ein (implizites) Urteil über Ähnlichkeit zugrunde liegt, dann können wir die Intensität des Schmerzes, die einer empfindet, der an seinem Neid leidet, gerade aus einer positiven Verbindung zum Beneideten, nämlich aus der imaginären Identifikation mit diesem verstehen. Denn eben diese Identifikation macht ihn zu einem Stellvertreter meiner selbst, der die mir wichtigen Handlungsziele und Lebenspläne zu bloß kontrafaktischen Vorstellungen degradiert. Der Beneidete ist der, der meine Zukunft in Frage stellt – oder, stärker noch: der mir meine Zukunft gestohlen hat –, weil er das aus meiner Sicht realistische Bedenken verkörpert, dass mir, wenn ich die Fähigkeit zur Erreichung meiner Ziele und Ideale hätte, dies schon hätte gelingen müssen, weil der andere mir ja eben dies vorlebt. Denn er hat als mir Ähnlicher genau das geschafft. Insofern können wir sogar sagen: Ich beneide den anderen um mein Leben – um das Leben, von dem ich meine, das es mir möglich gewesen wäre und mir zugestanden hätte. Der Gedanke, dass ich den anderen um das Leben beneide, das ich gehabt haben sollte, enthält eine paradoxe Ineinanderblendung von Zukunft und Vergangenheit, indem die Zukunft als schon gewesene (verfehlte!) Zukunft erscheint, von der nichts mehr zu erwarten ist. Indem der Neidische sich durch die übermächtige Präsenz des anderen seiner Möglichkeit, auf eine offene Zukunft hin zu handeln, beraubt fühlt, behandelt er seine Zukunft – in Gestalt des vom anderen verkörperten gelungenen Lebens –, als wäre sie schon gewesen. Seine Zukunft tritt ihm als quasi schon vergangen entgegen. Sie stellt sich, aus Sicht der Gegenwart, als „ewiger“ Stillstand im Sinne der Unveränderbarkeit, der fehlenden Möglichkeit, etwas zu bewirken und zu verändern, dar. Das heißt: Im existenziellen Verhältnis zur Zeitlichkeit spiegelt sich der „sistierende“ affektive Charakter des Neidgefühles. Im Neid gefangen blockiere ich meine Lebendigkeit¹⁰, verdecke
Neid ist ein affektiver Zustand bzw. eine Charakterdisposition, der die Resilienz der Betroffenen beeinträchtigt und schwächt. Dazu gehören u. a.: ein Unterlegenheitsgefühl, ein Zweifel
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mir aber zugleich die Urheberrolle dieses Geschehens, indem mein Neid global im Sinne der Ablösung von einem bestimmten Gut (materialen Neidobjekt) wird, sich auf den anderen als Ganzes (formales Neidobjekt) richtet: Der andere ist Inbegriff und Verkörperung dessen, was ich für mich gewünscht hätte, nun aber in meiner emotionalen Fixierung für unerreichbar halte. Die obige Analyse, welche über die übliche Beschreibung des Neides als eines alltäglichen sozialen Geschehens hinaus geht, bietet eine Erklärung für das andernfalls irritierende Phänomen, dass die, die beneidet werden, sich auch dann „schuldig“ fühlen können, wenn der Erwerb der Güter, um die sie beneidet werden, andere nicht geschädigt hat – wenn also der Beneidete sich keines moralisches Vergehens bewusst ist, das dem Neidverhältnis zugrunde liegen könnte. Dass dennoch ein vages Schuldgefühl und entsprechende Tendenzen zur Neidabwehr vorhanden sind, könnte eben darin gründen, dass die Beneideten etwas von dieser tiefen, ursprünglichen Sozialität spüren, die Ego und Alter Ego in eine wechselseitige Stellvertreterbeziehung versetzt. Auf dieser Ebene geht es nicht um Wettbewerb und soziale Rangordnungen im herkömmlichen Sinn. Auf dieser Ebene betreffen unser Glück und Erfolg die anderen nicht nur in einem direkten und handfesten Sinn, sofern zu deren Erreichung Ressourcen verwendet wurden, die dann nolens volens anderen nicht zur Verfügung standen. Unser Glück kann die anderen auch indirekt „treffen“, indem es sie in ihrer eigenen Lebensenergie und Glückszuversicht schädigt. In diesem speziellen Sinn sind Neidverhältnisse nicht nur oberflächlich-soziale Verhältnisse, in denen es um die faktische Aufrechterhaltung von Kooperationsbeziehungen geht, sondern auch zuhöchst intime soziale Verhältnisse, die den Kern einer Person berühren und in Anspruch nehmen. Am Grunde des Neidgeschehens treffen wir, in der Verflechtung von
an der eigenen Selbstwirksamkeit, ein Gefühl der ‚Dezentrierung‘, der Selbstentfremdung vom eigenen Wollen und der eigenen Leiblichkeit. Für letztere wurde gelegentlich der Ausdruck ‚excarnation‘ („the experience of being self-detached from one’s body“) bzw. ‚ekbasis‘ („the process by which ‚excarnation‘ is brought about“) verwendet (vgl. Titelman 1981, 197). Dabei wird die Entfremdung vom eigenen Leib mit der imaginären Identifikation mit dem anderen in Zusammenhang gebracht: „A radical ekbasis – the disjunction between self and soma – provides the possibility for the envier’s affective attempt to connect or link him/her with the envied other. This involves a breakdown in the boundary between self and other, and the sense of ‘here’ and ’there’ and a confusion of ‚mine‘ and ‚yours.‘ It is expressed through an affective analogical misapprehension of linking the envier’s desired-envisioned-self with the envied other’s embodiment. This is accomplished through a magical transformation, experienced prereflectively, in the mode of imaginative fantasy.“ (Ebd.)
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Innen- und Außensicht, von Sozialität und affektivem „Urvertrauen“ in das Eigene, auf das Thema der personalen Identität.¹¹ Nach Obigem ist die Feststellung, dass Neid in der Vergemeinschaftung von Menschen aufgrund der Unmöglichkeit einer vollkommen gleichen Ressourcenausstattung unvermeidlich auftritt, zwar richtig, aber unvollständig. Sie ist unvollständig, weil sie auf der „Oberfläche“ des sozialen Funktionszusammenhanges verbleibt und den tiefer gehenden anthropologischen Aspekt der wechselseitigen existentiellen Abhängigkeit von Menschen unberücksichtigt lässt. Ich beneide den anderen nicht nur deshalb, weil er mein Konkurrent im Hinblick auf praktisch überlebenswichtige Ressourcen ist. Diesbezüglich ist der Umgang mit Mangelzuständen sowohl ein zivilisationstechnisches als auch ein moralisches Problem. Auf einer tieferen Ebene beneide ich den anderen, wie oben ausgeführt, als Statthalter und Spiegel meiner Lebensmöglichkeiten. Die voranstehende Analyse zeichnet sich dadurch aus, dass sie das phänomenologische Konzept der Beschreibung stark forciert und strapaziert, indem sie intentionalen Implikationen des Neidverhaltens nachgeht, die jenseits dessen liegen, was Aussicht hätte, als unmittelbar sichtbar und evident zu gelten. Auch wenn phänomenologische Beschreibungen auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen und in variable Tiefenschichten des Phänomens hineinführen, müssen sie doch, sofern sie als phänomenologische gelten sollen, zwei Extreme vermeiden: einerseits eine rein spekulative Tiefenanalyse, die in keiner nachvollziehbaren Weise mit der sinnlich-manifesten Intentionalität des betreffenden Verhaltens verknüpft wäre, und andererseits eine an der Oberfläche des Phänomens verharrende Untersuchung, die allein unmittelbar Sichtbares abzubilden suchte. Wenn gilt, dass phänomenologische Beschreibungen nicht lediglich abbilden, sondern durch geeignete „Befragung“ des Phänomens das Erscheinende überhaupt erst (deutlich) zur Gegebenheit bringen und dabei versuchen, den „logos“ der Phänomene aufzuspüren, d. h. in der jeweiligen Form der Intentionalität zu entdecken und zu entfalten, dann ist reine „positivistische“ Abbildung ebenso fragwürdig wie reine Spekulation.
Die obigen Überlegungen zum Zusammenhang von Zeiterleben und Selbstbild in der Neiderfahrung sind ein starker Hinweis darauf, dass Autonomie nicht nur auf Basis kognitiver bzw. intellektueller Anforderungen verstanden werden kann, sondern aus dem Zusammenhang sozialer Verhältnisse zu begreifen ist. Soziale Verhältnisse sind aber nur unter Einschluss des emotionalen Lebens der Akteure angemessen zu beschreiben. Im vorliegenden Zusammenhang kann das Problem der Autonomie nicht formuliert und in diesem Sinn weiter verfolgt werden. Vgl. Rinofner-Kreidl 2012b und 2013b.
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2 Neiddynamik II: Zur Transformation von Neid in Hass (am Beispiel des Ressentiments) Neidgefühle imponieren u. a. durch ihre innere Spannungsnatur, die aus dem Zusammentreffen von hoher Gefühlsintensität und Ausdruckshemmung resultiert. Das lässt vermuten, dass sie in besonderer Weise dazu tendieren, sich in andere Gefühle zu transformieren, deren Ausdruck nicht in selbigem Maße auf soziale Zurückweisung stößt.¹² Im Folgenden werde ich aus den vielfältigen Erscheinungsformen von Neid eine spezifische herausgreifen: das sogenannte Ressentiment, das gelegentlich als „leidenschaftlicher Neid“ bezeichnet wurde und meist als eine Form der Habitualisierung von Neid interpretiert wird (vgl. Kutter 1994, 69). Unter einem Ressentiment verstehen wir im Allgemeinen eine Negativeinstellung bzw. eine Vorurteilsstruktur, sofern diese in spezifischer Weise motiviert ist: Bestimmte Personen(gruppen) werden auf Basis der Unterlegenheitsund Neidgefühle anderer abgelehnt. Bezug nehmend auf diesen Fall werde ich die Dynamik von Neidgefühlen aus der Sicht einer Intentionalanalyse rekonstruieren, indem ich die Verwandlung von Neid in Hass bzw. von „normalem“ Neid in hassenden Neid mit den Mitteln dieser Analyse beschreibe und aufzeige, wie im Prozess der Ressentimentbildung Neidvermeidung, Neidkompensation, Neidausdruck und Neidtransformation sinnhaft ineinander greifen. Dabei verstehe ich die so bezeichneten Prozesse als vier Grundtypen des Umgangs mit Neid, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Es handelt sich demnach nicht um starre, gegeneinander isolierte Verhaltenstendenzen, sondern um Reaktionen, die mehr oder weniger indirekt miteinander zusammenhängen und unter bestimmten Umständen ineinander übergehen. Diese Reaktionen oder Verhaltenstendenzen stellen verschiedene Aspekte dar, die in einem komplexen Ganzen in nicht-zufälligen wechselnden Konstellationen zur Erscheinung gelangen. Auch wenn die spontane Reaktion auf das Auftreten von Neidgefühlen einen klaren Schwerpunkt im Sinne der Bevorzugung eines dieser Momente zeigt, gehen wir davon aus, dass diese Reaktion eine Dynamik in Gang setzt, welche die anderen Momente in irgendeiner Gradualität ebenso involviert. Um einen Ausgangspunkt für meine Analyse zu gewinnen, setze ich bei Max Schelers pointierter Charakterisierung des Wesens der Ressentimentbildung an:
Einen diesbezüglichen Zusammenhang vermutet z. B. Rainer Paris (2010, 34): „Meine These ist, daß der Neid aus sich heraus dahin tendiert, sich in andere, die aggressiven Antriebe noch einmal verstärkende destruktive Gefühle und Leidenschaften wie Haß und Ressentiment zu transformieren, weil er auf diese Weise seine Handlungshemmung überwinden und sich gleichzeitig ein gutes Gewissen verschaffen kann.“
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Individuen oder Gruppen von Individuen, die sich in Anbetracht einer gegebenen Wertordnung in ihren Ambitionen der Wertrealisierung über einen längeren Zeitraum hinweg permanent als scheiternd erleben, während sie andere reüssieren sehen, leiden unter starken Ohnmachts- und Depressionsgefühlen, die sie zunächst durch Verdrängung zu kontrollieren versuchen. Wird schließlich die Spannung zwischen der Macht des Begehrens und dem erfahrenen Nichtkönnen zu stark, so tritt an die Stelle der Impulsverdrängung eine Umwertung, welche Entlastung von den negativen Gefühlen bringt. Diese Entlastung stellt sich ein, indem „der positive Wert des betreffenden Gutes herabgesetzt, geleugnet wird, ja unter Umständen ein zu diesem Gut irgendwie Gegenteiliges als positiv wertvoll angesehen [wird]. Es ist die Geschichte vom Fuchs und den zu sauren Trauben.“ (Scheler 1955, 63) Durch diese Umwertung löst sich die Spannung zwischen der Stärke des Begehrens und der erlebten Ohnmacht; und die an sie geknüpfte Unlust sinkt dem Grade nach. Unser Begehren oder seine Stärke erscheint uns jetzt selbst „unmotiviert“ – wenn die Sache doch „gar nicht so wertvoll war“; es wird hierdurch schwächer und dadurch auch seine Spannungsgröße zum Nichtkönnen; unser Lebens- und Machtgefühl steigt also wieder um einige Grade – wenn auch auf illusionärer Grundlage. (Ebd., 64)
Dass die Umdeutung einer ursprünglich gegebenen Wertüberzeugung den entscheidenden Schritt im Prozess der Ressentimentbildung darstellt, ist leicht ersichtlich, sobald wir uns in Erinnerung rufen, was vorausgesetzt werden muss, damit Neidgefühle entstehen können.¹³ Es muss ein sozialer Vergleich vorliegen, in dessen Zuge eine Benachteiligung zumindest subjektiv wahrgenommen wird – ob sie nun (gemäß welcher Kriterien?) objektiv tatsächlich gegeben ist oder nicht. Damit ein Neidvergleich aus der Sicht dessen, der ihn anstellt, motiviert ist, muss ein minimaler Wertekonsens vorliegen: Niemand würde einen anderen um etwas beneiden, was ihm selber nicht wertvoll erschiene. Dieser Grundsituation entsprechen auf den ersten Blick zwei mögliche Reaktionen auf Neiderlebnisse. Wir können als Neidbetroffene entweder die als ungerecht wahrgenommene Realität oder uns selber zu ändern versuchen. Wollte man diese beiden Optionen, die für einen aktiven und bewussten Umgang mit der Situation stehen, jeweils auf ein kurzes Schlagwort bringen, könnte man sagen: entweder politische Aktion oder Persönlichkeitsentwicklung (oder, in einem beliebigen Mischungsverhältnis, beides). Ressentimentbildung zeichnet einen alternativen Weg vor, der dahin
Damit soll nicht insinuiert werden, dass Ressentimentbildung einzig auf Basis von Neidgefühlen erfolgen kann. Wir wollen uns im vorliegenden Zusammenhang aber auf diesen Fall beschränken.
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tendiert, diese Grundoption zu verschleiern: Eine gelungene Ressentimentbildung entlastet die Betroffenen von dem Druck, entweder zu versuchen, die gesellschaftliche Realität zu ändern, oder die Arbeit am eigenen Selbstkonzept aufzunehmen. Im Ressentiment wird die subjektive Realitätsvorstellung vielmehr in einer Weise korrigiert, welche eine tiefer gehende Änderung des Selbstkonzeptes des Akteurs gerade als verzichtbar erscheinen lässt. „Ressentimentbildung“ bezeichnet eine Änderung der axiologischen Einstellung, welche von dem vormaligen Neiderleben entlastet und kompensatorisch wirkt im Hinblick auf außenoder innengerichtete Aktivitäten der Lebensveränderung, die andernfalls notwendig wären, um mit der Situation zurechtzukommen. Was genau bedeutet nun die fragliche Umwertung? Wenn es gelingt, die Privilegien und Vorzüge des vormals Beneideten als gar nicht erstrebenswert zu setzen, dann hat dies unmittelbar zweierlei zur Folge: Einerseits verliert der Neidvergleich aufgrund des „aufgekündigten“ Wertekonsenses seinen Nährboden, und andererseits muss sich der Neider nicht länger wegen seiner insgeheim gehegten Neidgefühle schuldig und minderwertig fühlen. In diesem Sinn deeskaliert Ressentimentbildung, aus der Sicht des Akteurs, das Verhältnis zum anderen. Im Zuge der Ressentimentbildung überwinde – oder vielleicht besser: verwinde – ich meinen Neid, indem ich mich vom anderen ideell und praktisch, mittels Aufkündigung der zuvor zumindest implizit anerkannten Wertegemeinschaft, derart distanziere, dass er mir nun als ein „Irrläufer“ erscheint: als einer, der einer kognitiven und evaluativen Täuschung unterliegt, der falschen Werten hinterherläuft, indem er etwas für wertvoll hält, was tatsächlich nicht wertvoll ist. Damit ist der andere nicht mehr einer, mit dem ich mich potentiell identifiziere und mit Bezug auf den meine realen Bestrebungen, diese Identifikation auch in entsprechende soziale Meriten umzusetzen, frustrierbar sind. Eben deshalb kann der andere in der Folge aber auch zur Projektionsfläche aller möglichen Phantasien, Vorurteile und Aggressionen werden. Sollten wir also annehmen, dass Ressentimentbildung, die sich auf den ersten Blick als eine spezifische Form der Transformation von Neid in andere Gefühle und Gefühlsqualitäten (Groll, Ärger u. dgl.) darstellt, am Ende – sobald sich das Ergebnis dieses Prozesses stabilisiert hat – auf eine Neidvermeidung hinausläuft? Denn aufgrund der nunmehr vorliegenden axiologischen Distanz stellt die soziale Nähe des anderen keine Gefährdung meiner eigenen Existenz mehr dar (sc. wird nicht mehr als solche wahrgenommen). Auf Seiten des Akteurs ist das als ein Zuwachs an Stabilität und Selbstbewusstsein zu verzeichnen. Deshalb erscheint Ressentimentbildung – deren Effekte aus einer übergeordneten gesellschaftspolitischen Sicht durchaus negativ und bedrohlich sind (z. B. in der Ausprägung der Xenophobie) – aus der Sicht des einzelnen Akteurs als eine respektable Selbstbefriedung: Indem ich die (supponierten) Werte des anderen zurückweise, kann
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ich ihn als erfolgreichen Werterealisierer abwerten, was meine eigene, zuvor als belastend empfundene Minderwertigkeit zum Verschwinden bringt. Ressentimentbildungen treten auch als kollektive Dynamiken auf und führen auf diesem Weg z. B. zu Solidarisierungen bestimmter sozialer Milieus oder Schichten. In diesem Zusammenhang wird besonders deutlich, weshalb Ressentimentbildung, die sich aus einer distanziert-theoretischen Sicht als eine kognitive Flucht und (kollektive) Selbstmanipulation und Selbsttäuschung darstellt, aus der Sicht der Betroffenen nicht nur als aktuell befriedigend, sondern tendenziell als identitätsstärkend erlebt wird. Der, dem es gelungen ist, seinen Neid in ein manifestes Ressentiment zu transformieren, weiß nun wieder – und darin liegt eine ungeheure Erleichterung seiner Existenz –, wer er sein will und dass er die erstrebte Identität auch tatsächlich erreichen kann, nämlich: nicht so zu sein wie der schematisierte andere bzw. die-und-die-anderen (die Unternehmer, die Ausländer, die Frühpensionisten etc.). An die Stelle einer real zum Scheitern verurteilten Identifikation mit dem anderen tritt die erfolgreiche Abgrenzung vom anderen. Damit ist die eigene Identität zwar primär als eine Art Abwehridentität festgelegt, dennoch liegt darin,verglichen mit der Ausgangsposition des Neiders, ein relativer Lustgewinn. Es scheint mir deshalb irreführend, den Geisteszustand des Ressentiments schlichtweg als einen „allgemeinen Widerwillen gegen das Leben“ (Epstein 2010, 94) zu beschreiben. Sicherlich ist die Abwehrhaltung und Dauerkritik, die dem Ressentimentmenschen eigen ist, für diesen selber auch problematisch. Ungeachtet dessen bietet Ressentimentbildung im Sinne der Neidtransformation eine gewisse Leidensminderung und Stabilisierung der eigenen Identität. Wenn als Anzeichen für die Negativität des Ressentiment-Erlebens u. a. namhaft gemacht wird, dass Scheler (zu Recht) darauf insistiert, dass Ressentiments aus Ohnmacht entstehen, so muss das nicht bedeuten, dass auch nach abgeschlossener Ressentimentbildung ein Ohnmachtsgefühl erlebt würde. Im Gegenteil scheint mir, dass dieses, wenn es noch vorhanden ist, zumindest ambivalent geworden ist, indem es sich in eigentümlicher Weise mit dem Gefühl gesteigerter Selbstwirksamkeit vermengt. So gesehen erlöst Ressentimentbildung nicht von negativen sozialen Gefühlen, sondern macht es lediglich leichter, mit ihnen zu leben, indem die Negativeffekte der Neidgefühle durch Positiveffekte kompensiert werden. Letztere können auch daraus gezogen werden, dass Ressentiments den Neidgefühlen unter psychohygienischen Gesichtspunkten überlegen sind: Während es sozial verpönt ist, Neidgefühle zu zeigen, weil sie ein Zeichen von Unterlegenheit sind und darüber hinaus als Charakterschwäche
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gelten¹⁴, ist es nicht unter allen Umständen sozial negativ sanktioniert, Ressentiments zum Ausdruck zu bringen. Zumindest in der eigenen Gruppe, unter Gleichgesinnten, kann es geradezu als Beweis von Entschlossenheit und Stärke verstanden werden, sich kritisch und abfällig über andere Gruppen, Milieus etc. zu äußern. Auch unter moralischen Gesichtspunkten ist es nicht ebenso verpönt, Ressentiments zu äußern, wie Neidgefühle,weil Ressentiments, zumindest aus der Sicht der Betroffenen, häufiger mit der Wahrnehmung von Ungerechtigkeit begründet werden (vgl. Bucher 2012, 48). Das heißt: Die Transformation von Neid in Ressentiment bringt zumindest einen begrenzten Gewinn im Hinblick auf die Expression negativer sozialer Gefühle, insbesondere dann, wenn es gelingt, Neidgefühle zu „moralisieren“.¹⁵ Allerdings ist dieser subjektive Gewinn zugleich auch das, was die Grundsituation als unbewältigt festschreibt und perpetuiert: Eben weil das Ressentiment eine verdeckte Neidexpression ermöglicht, erspart es dem Neider das, was allein auf Dauer eine Bewältigung mit sich bringen könnte, nämlich die produktive Auseinandersetzung mit seinem eigenen Selbstbewusstsein und Selbstkonzept. Der Charakter des Ressentiments hängt nicht zuletzt daran, dass es einen spezifischen Modus von Neidmaskierung darstellt. Vorausgesetzt ist dabei, dass die oben unterschiedenen vier Aspekte (Neidvermeidung, -kompensation, -ausdruck und -transformation) eine immanente Dynamik von Neidgefühlen umschreiben. Auf Basis keiner dieser Aspekte ist über den Neid als solchen hinauszukommen. Entgegen dem ersten Anschein gilt dies auch nicht mit Bezug auf Neidtransformation, die uns oben stärker beschäftigt hat, weil sie das treibende Prinzip der Ressentimentbildung darzustellen scheint. „Transformation“ bezeichnet im vorliegenden Zusammenhang nicht jene Veränderung bzw. Veränderungsbereitschaft, die im Akteur etwa durch psychotherapeutische Intervention oder durch philosophische Besinnung stimuliert werden kann. „Transformation“ bezeichnet die Plastizität des Gefühles selbst, d. h. die Affinität desselben im Hinblick auf eine Modifizierung, Sedimentierung, Überlagerung oder Integration in anders gerichtete Bewusstseinszustände. Eine Modifizierung und Sedimentierung liegt etwa im Fall von Neidgefühlen vor, die in Ressentiments transformiert werden. Im Ressentiment verfestigt sich Neid zu einer habituellen Einstellung,
Vgl. die in unserem Kulturkreis vorherrschende Interpretation des Neides als eine der sieben Todsünden. Neben dem Neid zählen zu diesen Völlerei, Wollust, Zorn, Habgier, Stolz und Trägheit. Zur Bedeutung von Neidgefühlen mit Bezug auf die Moralität der Akteure vgl. RinofnerKreidl 2014. Diese Frage erschöpft sich nicht darin, unter welchen Bedingungen Neidgefühle in bestimmten kulturellen Kontexten als moralisch akzeptabel gelten.
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indem er in bestimmter Weise maskiert und damit dem Neider erträglich gemacht wird. Entgegen dem ersten Anschein ist es kein Widerspruch, mit Bezug auf dasselbe zugleich von Transformation und habitueller Verfestigung zu sprechen: Gefühle werden auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Weisen gelebt. Diese vertikale Plastizität von Gefühlen, die wir von der horizontalen Plastizität der Gefühle im Zeitablauf unterscheiden können, erfordert es, in der Beschreibung den doppelten Gesichtspunkt „latent/manifest“ zu berücksichtigen. Während die Termini „Sedimentierung“ und „Habitualisierung“ die latente Präsenz von Gefühlen im Bewusstein bezeichnen, muss sich eine Modifizierung jederzeit auf der Ebene manifesten intentionalen Verhaltens niederschlagen. Aus der Sicht des Akteurs leistet Ressentimentbildung eine Rehabilitierung und „Nobilitierung“ des Neidgefühls, weil es sich um eine Transformation handelt, die auf der bewussten Ebene intentionaler Erlebnisse die negative Beurteilung der anderen ändert. Das unterschwellig (latent) persistierende Neidgefühl ist dem Akteur, der aktuell in der neuen, durch die Transformation ermöglichten Art der Gegenstandsbeziehung aufgeht, nicht bewusst.¹⁶ Nach vollzogener Transformation wird der Neiderreger bzw. die ihm zugehörigen Güter, um die er beneidet wird, abgelehnt, weil der Besitz derselben – einschließlich der damit eventuell einhergehenden Äußerungen von Stolz, Prahlerei u. ä. – nun als Ausdruck eines falschen Wertbewusstseins wahrgenommen wird. Während im vormaligen Zustand die egoistische Motivation der Negativbewertung leicht durchschaubar war (was eine Maskierung des Neides subjektiv notwendig machte), erhält dieses Motiv nun eine andere funktionale Rolle. Das Neidgefühl fungiert latent und indirekt als Motiv für eine gewissermaßen holistische und normative Neuinterpretation der Beziehung zum Objekt, aus welcher letztendlich eine neue, andere Begründung der Objektablehnung resultiert. Wir können diese Neuinterpretation „holistisch“ nennen, weil sie sich nicht auf einzelne Merkmale am intentionalen Gegenstand bezieht, sondern auf die Beziehung desselben, als Ganzem genommen, zum intendierenden Subjekt. Der Neiderreger (sc. das formale Neidobjekt) dient dabei als Transformationsmedium: Indem dessen Beziehung zu den ihm zugehörigen Gütern (sc. dem materialen Neidobjekt) uminterpretiert wird, gelingt es, auch die Beziehung des Neiders zu den fraglichen Gütern neu zu fassen. Die (Selbst‐)Erniedrigung, die im Erleben von Neid empfunden wird, verwandelt sich in eine epistemische Selbsterhöhung, indem der Neider sich nunmehr in der privile-
Eine diesbezügliche Selbsterforschung seines intentionalen Lebens steht ihm im Sinne einer ideal jederzeit möglichen Reflexion natürlich offen.
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gierten Situation erlebt, die Werttäuschung des anderen zu durchschauen.¹⁷ Sofern es gelingt, dies nach außen glaubwürdig als quasi-objektive Negativbewertung des materialen und formalen Neidobjektes darzustellen, ist der Neider von dem sozialen Druck der Maskierung entlastet. Obwohl das Verhältnis von Neider und Beneidetem, wie oben erläutert, mittels Distanzierung restabilisiert wird, bleibt die Abhängigkeit des Neiders vom Beneideten unter anderen Vorzeichen aufrecht: Nur soweit und solange es gelingt, das axiologische Negativimage des anderen zu bewahren, kann am Bild der eigenen Überlegenheit festgehalten werden.¹⁸ Folgen wir Schelers Ressentimentanalyse, so kompliziert sich die Sachlage dadurch, dass die Quasi-Objektivierung der Negativbewertung mittels Umwertung des Geneideten nur um den Preis einer Subjektivierung des Werterlebens zu erreichen ist. Während das frühere Neidgefühl voraussetzungsgemäß ein objektives Werterleben widergespiegelt hätte, kann dieses Gefühl nun allein durch eine wertbezogene Selbsttäuschung bewahrt werden, welche dem Prinzip folgt: Wert hat das und nur das,was ich (jeweils) begehre.Wenn das,was der andere hat, nicht begehrenswert ist, weil es nicht das ist, was ich begehre, dann ist es auch nicht wertvoll. Die latente Prämisse, die im Beurteilungsprozess des Akteurs nicht in Erscheinung tritt, dennoch aber über die erfolgreiche Neidabwehr und Neidtransformation entscheidet, lautet: Was der andere sein Eigen nennt (Besitz, natürliche Fähigkeiten, soziale Privilegien etc.), kann eben deshalb, weil es nur dem anderen und nicht auch mir (zu‐)gehört, nicht wertvoll sein. Scheler interessiert sich in diesem Zusammenhang nicht für die Verwandlung des Neidgefühls,
Wäre die Umwertung, d. h. die Geringschätzung des Geneideten tatsächlich Ausdruck einer authentischen, nicht-ambivalenten Überzeugung des Akteurs, dann wäre eigentlich zu erwarten, dass der vormalige Neid in die distanziert-kühle Einstellung der Verachtung umschlägt. Dass das nicht der Fall ist und stattdessen weiterhin eine ambivalente Nahbeziehung zum Neiderreger gesucht und aufrechterhalten wird, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich der Neid nicht ‚abgekühlt‘ hat, sondern lediglich überformt und in ein latentes Motiv modifiziert wurde. Vgl. Demmerling/Landweer 2007, 309 f.: „Verachtung ist eben deshalb kein Aggressionsaffekt […], da sie trotz ihres destruktiven Charakters gerade keine Konfrontation mit dem Gegenüber sucht, sondern den Impuls zur Vermeidung weiterer Kontakte mit dem Verachteten enthält, was sich beispielsweise in einer Abwendung des Blicks vom Verachteten dokumentieren kann.“ Dass Neid zu bewältigen ist, indem entweder das eigene Selbstbild aufgewertet oder der Beneidete abgewertet wird, und dass beides auch direkt korrelieren kann, indem die bloße Abwertung des anderen als Selbstaufwertung interpretiert werden kann, wurde auch in früheren Zeiten deutlich gesehen. Vgl. Bacon 2005, 25: „Ein Mensch, der selber keine guten Eigenschaften besitzt, beneidet stets die Tugenden anderer, denn das menschliche Herz weidet sich gern an den eigenen Vorzügen oder an der Schlechtigkeit der anderen; und wer daher das eine entbehrt, muß sich an das andere halten; und wer nicht hoffen kann, es andern an Tugend gleichzutun, strebt danach, ihnen gleich zu werden, indem er sie von ihrer Höhe herabzureißen trachtet.“
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sondern für die subjektivistische Umdeutung der Beziehung zu Werten, die sich sekundär auch in der Umdeutung der Beziehung zu Gütern niederschlägt. Während es unserem natürlichen Wertbewusstsein, so Scheler, entspricht, etwas zu begehren bzw. für begehrenswert zu halten, weil es wertvoll ist und von uns als wertvoll erkannt wird, kann Ressentimentbildung nur dann erfolgen, wenn wir dieses Verhältnis umkehren und dem oben genannten Prinzip folgen, wonach etwas nur dann wertvoll ist, wenn es begehrt wird. Mit dem ambivalenten Charakter von Selbsttäuschungen hat die Wertumkehrung im Zusammenhang von Ressentimentbildungen gemein, dass sie im aktuellen Vollzug vom betreffenden Subjekt nicht in ihrem wahren Charakter durchschaut werden darf, weil der resultierende Bewusstseinszustand andernfalls nicht aufrechtzuerhalten wäre. Was heißt das im vorliegenden Fall? Der Neider kann sich (und andere) über die wahre Natur seiner aktuellen Gefühle nur dann täuschen, wenn er zwar das Geneidete im Sinne der oben dargestellten Umdeutung abwertet, diese Abwertung aber nicht als Ausdruck subjektiver Willkür durchschaut bzw. sich selber eingesteht. Dass die vormals „scheelsüchtig“ begehrten Güter „eigentlich“ gar nicht erstrebenswert sind, muss als eine objektive Bewertung, als „Entdeckung“ ihrer wahren Natur präsentiert werden. Dabei ist – hier wie ebenso im Fall von Selbsttäuschungen – anzunehmen, dass alternative Deutungen zwar aktuell nicht zugelassen werden, gleichwohl aber auch nicht ein für allemal und eindeutig als falsch ausgeschlossen sind. In beiden Fällen ist mit einer Ambivalenz von Wissen und Nichtwissenwollen zu rechnen, weil andernfalls die Motivation des fraglichen intentionalen Verhaltens unverständlich wäre. Ebenso wie der Neid ambivalent sein kann, nämlich zwischen Bewunderung und Missgunst schwanken kann, gelingt es mittels Ressentimentbildung nicht eo ipso, das intentionale Verhältnis zu vereindeutigen. Zwar gibt sich der Akteur tatsächlich bereitwillig dem Eindruck einer Negativwertigkeit der vordem geneideten Güter hin; dennoch müssen wir annehmen, dass er insgeheim darum weiß bzw. in Erfahrung bringen könnte, dass dies nicht seine authentische Überzeugung ist, wenn er die betreffenden Zweifel nur zuließe. Was können wir als Fazit festhalten? Wenn die intentionalen Prozesse, die der Ressentimentbildung zugrunde liegen – insbesondere die Umkehrung oder ambivalente Unterminierung des objektiven Wertbewusstseins – zutreffend beschrieben wurden, dann ist die Habitualisierung des Neides, die im Ressentiment vorliegt, in ihrer Tragweite wie folgt zu bestimmen: Die Bewältigung von Neidgefühlen durch Ressentimentbildung erfolgt auf Kosten einer Korruption oder Deformation des Selbstkonzeptes, zu dem die Fähigkeit eines adäquaten Werterlebens wesentlich gehört. Das Ergebnis der Ressentimentbildung ist nicht bloß die Transformation von episodischen Neidgefühlen in Neid als Charakterzug (Disposition), sondern eine Schädigung der Person in ihrer Erlebnisfähigkeit
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insgesamt. Auf das Ganze der Persönlichkeit und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten hin gesehen ist Ressentimentbildung nicht Ausdruck eines produktiven Umgangs mit Neidgefühlen, auch wenn dies aus einer verengten Perspektive der Problemlösung, im Sinne einer zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfolgenden Leidverringerung, vom Betroffenen so erlebt werden mag. Zu den Gefühlskomplikationen, die im Zuge von Ressentimentbildungen idealtypisch in Erscheinung treten, gehört die Möglichkeit, dass Neid in Hass umschlägt bzw. Neid einen mehr oder weniger dominanten hassenden „Unterton“ erhält. Soweit Hass an Neidgefühlen beteiligt ist, handelt es sich einerseits um eine Intensivierung des Gefühls im Sinne gesteigerter körperlicher Erregtheit wie auch seelischen Engagements und andererseits um eine Steigerung der personalen Zurechnung (Verantwortung) auf Seiten des intentionalen Objekts (sc. des Geneideten). Der hassende Neider missgönnt nicht nur einem anderen bestimmte Güter, sondern er ist darüber hinaus der Auffassung, dass der andere sie ihm in gewissem Sinn vorenthält oder wegnimmt: Weil sie nämlich der andere sein Eigen nenne, könnten sie ihm selber nicht zukommen bzw. verringerten sich die eigenen Chancen, die betreffenden Güter zu erlangen.¹⁹ Während im „normalen“ Neid die Beziehung zum Beneideten zumindest formal anonym bleibt – besäße ein beliebiger anderer die betreffenden Güter, würde er von mir in derselben Weise beneidet –, intensiviert und fokussiert sich im hassenden Neid das Gefühl durch Personalisierung: Es ist diese bestimmte Person, die dem eigenen Glück im Wege steht – ja, dieses aktiv und absichtlich verhindert. Der andere wird gehasst, weil er das eigene Ungenügen, das eigene Scheitern symbolisiert.²⁰ Diese auf die Dyna-
Es versteht sich, dass eine derartige ‚Steigerung‘ des Neides nur mit Bezug auf solche Güter vorstellbar ist, die sich durch Teilung verringern (z. B. materielle Güter wie Aktienvermögen, Grundstücksbesitz etc.) oder deren Erwerb zeit- und/oder kostenintensiv ist und insofern wieder auf ‚Teilung‘, z. B. sozial differenzierte Zugangsbedingungen, hinausläuft (z. B. Bildung). Hingegen scheint es schwierig, die vorliegende Neidsteigerung auf Güter auszuweiten, die insofern frei beweglich sind, als sie intersubjektiv geteilt werden können, ohne dass dies eine entsprechende Parzellierung zur Folge hätte (z. B. Esprit oder Optimismus). Dass ich meine Nachbarin um ihre natürliche Grazie beneide, kann ich ihr wohl kaum als ein persönlich verschuldetes Vorenthalten zurechnen (pathologische Bedingungen ausgenommen). Für die obige Beschreibung können wir die diesbezüglich notwendigen Klärungen dahingestellt sein lassen, weil wir den Schwerpunkt auf die Art des intentionalen Bezogenseins auf Gegenstände legen und nicht – was freilich real davon untrennbar ist – auf die Art der Gegenstände (hier: Güter). Zuweilen stellt sich in der Begegnung mit bestimmten Persönlichkeitstypen der Eindruck ein, dass unbewältigte Neidgefühle auch das Motiv für die Ausbildung einer allgemein misanthropischen Einstellung sein können. Dies scheint speziell bei, gemäß subjektiver Wahrnehmung, ‚verkannten Genies‘ der Fall zu sein, d. h. bei solchen Personen, die sich in ihren Talenten, Ansprüchen und Bestrebungen verkannt fühlen und dies mit einer defizitären sozialen Umwelt
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mik der Gefühlsverwandlung bezogene Feststellung stimmt mit einem Befund überein, den wir oben mit Bezug auf die in Neidgefühlen inhärenten Zeitlichkeitsverhältnisse formuliert hatten.Während der normale Neid eine bestimmte Art der negativen Betrachtung des anderen und der negativen Einstellung zum anderen ist, zeigt der hassende Neid eine stärkere Aggressionsbeteiligung und Handlungsneigung. Im hassenden Neid verwandelt sich der für den Neid im Allgemeinen charakteristische Wunsch, man möge selber haben, was der andere besitzt, in ein handlungswirksames Wollen, sich das Geneidete entweder gewaltsam anzueignen oder es zu zerstören, damit zumindest der andere es nicht mehr besitzt (wenn man es schon nicht selber besitzen kann). Sofern sich Neid an konkreten Gütern und Situationen entzündet, ist zwar auch im Fall eines normalen Neides immer ein bestimmtes Individuum oder eine Gruppe von Individuen als Neiderreger involviert. Im normalen, nicht-hassenden – und insofern gemäßigten oder moderaten – Neid ist die Beneidete als Individuum aber kontingent (vgl. Demmerling/Landweer 2007, 308): Sie tritt als austauschbare, anonyme Instanz auf. Das hat Auswirkungen auf die intentionale Struktur des Neiderlebens. Eine diesbezügliche Differenzierung bringt zu Tage, dass die Rede vom „Worumwillen“ des Neides doppeldeutig ist. Während beim gemäßigten Neid im Zentrum der Aufmerksamkeit die geneideten Güter stehen, verschiebt sich der Fokus des Neidverhaltens im hassenden Neid. Nun ist es das formale Neidobjekt, d. h. die beneidete Person, die als unmittelbarer Bezugsgegenstand des feindlichen Gefühls auftritt. Die geneideten Güter treten dem gegenüber insofern in den Hintergrund, als sie lediglich im Lichte ihrer Beziehung zur Beneideten bewusst sind, nämlich als das von dieser Besessene, in deren Verfügungsmacht Befindliche, ihre reiche Ausstattung Bekundende. Dem hassenden Neid geht es – das ist der „Brennpunkt“ seiner Intentionalität – weniger um die begehrten Güter, die einem anderen geneidet werden, als um die Aggression gegenüber dem anderen, der nicht nur als mit Vorzügen und Vorteilen ausgestattet erscheint, sondern auch und vor allem als derjenige wahrgenommen wird, der dem Neider die Güter bewusst entzieht.²¹ Aus diesem Unterschied beerklären, in welcher intellektuelle oder künstlerische Minderbegabung vorherrschten, so dass die daraus resultierenden Neidgefühle das eigene Reüssieren verhinderten. Aurel Kolnai (2007, 115 – 125, v. a. 122 f.) weist in seiner subtilen Analyse der spezifischen Modi der „personalen Selbsteinsetzung für bzw. gegen Objekte“, wie sie in Liebe bzw. Hass vorliegen, darauf hin, dass der Hass einerseits ein engeres und spezifischeres, stärker an bestimmte Situationsbeziehungen gebundenes Phänomen ist als die Liebe und, verglichen mit dieser, eine weniger frei spielende Mannigfaltigkeit verschiedener Beziehungsformen hervorbringt und dass andererseits – wiederum im Unterschied zur Liebe – die Hassintention ihren Gegenstand schärfer heraushebt und damit eine „zugespitztere Hinwendung“ zum Gegenstand sowie ein prinzipiell gegenseitiges Verhältnis darstellt. Kolnais Feincharakteristik des Hasses bietet einen
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züglich der Intentionalstruktur von Neiderlebnissen zwischen moderatem und hassendem Neid lässt sich – was empirisch zu verifizieren wäre – vermuten, dass Schadenfreude, d. h. die Lust am Unglück anderer (materieller Verlust, sozialer Abstieg, fehlender Sex-Appeal, körperliches Leid usw.), intensiver erlebt wird, wenn der vorangegangene Neidzustand die spezifische Form des hassenden Neides angenommen hat.²² In der Schadenfreude als einer spezifischen Steigerungsform des Neides gelangt nicht nur deren parasitärer Charakter zu schärfstem Ausdruck.²³ In ihr wird auch das Moment der Neidlust vorherrschend, das als ein unterschwelliger Bestandteil selbst im normalen, gemäßigten Neid spürbar ist. Denn die Entlastungsfunktion von Neidgefühlen, die insbesondere in der Verwandlungsgestalt des Ressentiments zu Tage tritt, scheint auch darin zu gründen, dass der Beneidete als einer wahrgenommen wird, der in dem, worum er beneidet wird, immerhin verwundbar ist. Schadenfreude tritt ein, wenn die Vulnerabilität des menschlichen Lebens, in deren Horizont wir alle Gleiche sind, im Leben des Beneideten schlagend wird: wenn sich sein Glück in Unglück verkehrt. Tritt hassender Neid als kollektiver Affekt – als Ausdruck kollektiver Intentionalität – auf, so resultieren alltäglich vertraute, typische Formen des aggressiven Sozialneids. Ressentimentbildung profitiert insofern von sozialer Ansteckung, als sie sich mit der Ausweitung der sozialen Adressaten leichter und nachhaltiger durchführen lässt.Wenn ich nicht nur einzelne andere um das ihnen Eigene beneide, sondern mich in der Lage finde, im geschützten Raum einer Gruppen- oder Gesinnungsgemeinschaft viele andere, die mir gegenüber im Vorteil sind, beneiden zu müssen, dann wird mir mein Neid weniger als peinliches idiosynkratisches Verhalten erscheinen denn als Ausdruck einer offenkundigen „Systemlogik“, nämlich einer gesellschaftlich ungerechten Verteilung von Gütern und Chancen. Das stärkt, zumindest subjektiv, die Plausibilität von Neidgefühlen – nicht zuletzt deshalb, weil in der Tat nicht auszuschließen ist, dass es objektiv ungerechte Verhältnisse gibt, auf die wir unter anderem und primär mit bestimmten Gefühlen antworten. „Empörung“, „(moralische) Entrüstung“, „(gerechter) Unwille“ sind traditionell Bezeichnungen für die hier relevanten Gefühle. interessanten Ansatzpunkt, um die meist in psychoanalytischen Kontexten formulierte These der Neidabwehr an die Phänomenalität des Erlebens von (hassendem) Neid rückzubinden: Wenn zutrifft, dass mich der Umstand, dass ich das Hassobjekt eines anderen bin, stärker in eine Interaktion ‚ruft‘ als der Umstand, dass ich das Liebesobjekt eines anderen bin, dann liegt die Annahme nahe, dass ein unterschwelliges Empfinden dessen sich in der (vorauseilenden) Tendenz zur Neidabwehr manifestiert. Dass Schadenfreude überhaupt an einen vorgängigen Neidzustand gebunden ist, setze ich voraus, ohne es im vorliegenden Zusammenhang näher zu begründen. Vgl. Waldenfels 2006, 287: „Als ein Parasit, der von fremdem Leben zehrt, verzehrt er [der Neidische, S.R.] sich selbst.“
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Ob diese Gefühle jedoch als positive, gute Formen des Neides zu verstehen sind, wie manche behaupten, ist durchaus zweifelhaft.²⁴ Entsprechend ist das Gegenstück zum unter moralischen Gesichtspunkten negativ zu bewertenden, neidmotivierten Ressentiment der Gerechtigkeitssinn. Von diesem ist zwar nicht auszuschließen, dass er auch von Neidgefühlen stimuliert sein kann. Weder erschöpft er sich jedoch in solchen Gefühlen noch kommt er in ihnen adäquat zum Ausdruck.
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Vgl. z. B. die These von La Caze 2001, 32: „[…] some forms of envy are not only excusable, but morally valuable: those forms which are directed at undeserved success and beneficiaries of unjust circumstances.“
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Sonja Rinofner-Kreidl
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Eva-Maria Engelen
Empathie
Affektive Perspektivübernahme als soziales Phänomen
1 Einführung Der Begriff „Empathie“ ist in der Forschung kein eindeutig bestimmter. Viele Forscher verwenden ihn unterschiedlich, weshalb die meisten Aufsätze zu dem Thema damit beginnen zu erläutern, wie der Begriff verwendet werden soll. Erklären lässt sich das mit der Geschichte des Begriffs. Es handelt sich um die Übertragung des deutschen Begriffs der Einfühlung in das Wissenschaftsgriechisch der angelsächsischen Welt durch Edward Titchener im Jahre 1909. Im hermeneutisch-phänomenologischen Kontext geht es bei der Einfühlung nicht nur um das Einfühlen in eine andere Person und das Verstehen von deren Gefühlsleben, sondern auch um das Einfühlen in und Verstehen von Texten und Kunstwerken und damit um das Einfühlen in und Verstehen der Gedanken von deren Schöpfern.¹ In psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschungen der jüngeren Zeit ist dann das Merkmal des Einfühlens und Verstehens von anderen Menschen, also der soziale Aspekt, für den Begriff der Empathie ganz in den Vordergrund getreten. Das Einfühlen und Verstehen der emotionalen oder affektiven Befindlichkeiten von Anderen ist auch das Thema der folgenden Überlegungen. Ausgeschlossen ist damit nicht, dass sich das Einfühlen auch auf fiktionale Figuren im Film oder der Literatur bezieht,² aber zum Kern des Begriffes, wie er in der derzeitigen Forschung vielfach verwendet wird,³ gehört das Einfühlen in die affektiven Befindlichkeiten Anderer. Die folgenden Untersuchungen bewegen sich in diesem Rahmen.
Ausführlicher zur Geschichte des Begriffs vgl. die Einführung in Coplan/Goldie 2011, XII-XVII, sowie Stueber 2006, 5 – 19. Vgl. dazu Coplan 2004. In vielen neurowissenschaftlichen Arbeiten wird auch von kognitiver Empathie gesprochen, wo das Moment der Einfühlung keine Rolle spielt. Vgl. etwa Walter 2012, 11, und kritisch Engelen/Röttger-Rössler 2012, 3. Unklar bleibt, wie bei diesem Begriffsgebrauch eine Abgrenzung zur kognitiven Perspektivübernahme in der Theorie des Geistes gelingen soll und weshalb diese Ausdehnung des Begriffes von heuristischem Vorteil sein soll. Vgl. auch Singer 2006 zu den verschiedenen Gebrauchsweisen.
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2 Was ist Empathie? Empathie wird als ein Gefühl verstanden, welches gegenwärtige, zukünftige oder vergangene Gefühlszustände Anderer (gefühlsmäßig) erfasst beziehungsweise nach- oder mitvollzieht. Es handelt sich um eine sogenannte Stellvertreteremotion und damit um eine soziale Emotion, die sich auf die emotionale oder affektive Befindlichkeit von Anderen bezieht (vgl. Engelen/Röttger-Rössler 2012, 4). Bedeutsam ist dabei, dass es zwar um ein gefühlsmäßiges Erfassen oder Nachvollziehen geht, dieses aber durchaus eine kognitive Komponente aufweist,welche die üblichen Dualismen zwischen „sich in jemanden hineindenken“ und „sich in jemanden hineinfühlen“ unterläuft. Dasselbe gilt für den Verstehensaspekt. Indem man Empathie für einen Anderen empfindet,versteht man auch, in welchem Zustand er oder sie sich befindet. Dieses Verstehen geht mit Fühlen einher, es lässt sich nicht von ihm trennen. „Gefühlsmäßiges Verstehen“ oder „verstehendes Fühlen“ wären Formulierungen, welche die Untrennbarkeit von Kognition und Gefühl in diesem Fall deutlich zum Ausdruck bringen. Die Rede vom verstehenden Fühlen trifft das Gemeinte allerdings noch besser als die vom gefühlsmäßigen Verstehen, denn wenn Empathie als soziale Emotion verstanden wird, liegt die Betonung fraglos auf dem Fühlen. Es geht bei empathischen Reaktionen aber nicht nur darum, dass sie ein Nachempfinden, Nachfühlen oder gefühlsmäßiges Nachvollziehen darstellen, sondern auch darum, dass es sich dabei um das gefühlsmäßige Nachvollziehen des affektiven Zustandes eines Anderen handelt. Sollte es also möglich sein, gefühlsmäßig nachzuvollziehen, warum ein Schachspieler einen Zug gemacht hat und nicht einen anderen, wäre dies nicht unter Empathie zu fassen, obgleich es auch als ein gefühlsmäßiges Verstehen bezeichnet werden könnte. Es ist für eine empathische Reaktion vielmehr ausschlaggebend, dass der Gefühlszustand eines Anderen erfasst wird und nicht dessen kognitiver Zustand. Dabei kann es so sein, dass die empathische Reaktion darin besteht, dass man sich in fast demselben Gefühlszustand befindet wie der Andere, also glücklich ist, wenn der Andere glücklich ist, traurig, wenn es der Andere ist, usw. Dem muss aber nicht so sein. Eine gefühlsmäßige Perspektivübernahme reicht dafür aus. So ist es auch eine empathische Reaktion, wenn man auf die Traurigkeit des Anderen mit Mitleid reagiert oder auf dessen Freude mit Genugtuung oder Erleichterung. Empathie ist nämlich eine emotionale Perspektivübernahme, weshalb sich auch leicht erklären lässt, warum sie nicht mit Mitleid⁴ oder Sympathie gleich-
Anders hingegen de Waal 2009, der Empathie und Mitleid nahezu gleichsetzt; vgl. auch Engelen/Röttger-Rössler 2012, 4, sowie Breithaupt 2009, 8.
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zusetzen ist. Die emotionale Perspektivübernahme muss nicht mit Mitleid einhergehen. Man kann nachvollziehen, dass ein Anderer Hass oder Wut empfindet, ohne deshalb Mitleid mit ihm zu haben. Und wenn man Mitleid hätte, wäre das in diesem Fall eine zusätzliche emotionale Regung, die das Nachempfinden des Hasses nicht enthalten würde. Sympathie müsste man für den Hasserfüllten oder Wutverzerrten auch nicht empfinden, schließlich könnte er uns auf Grund seines emotionalen Zustandes geradezu unsympathisch sein. Mitleid und Sympathie sind daher Sonderformen der Empathie. Eine weitere Voraussetzung für empathische Reaktionen ist, dass ich den Anderen als Anderen betrachte, der mir in irgendeiner Hinsicht ähnlich ist. Naheliegenderweise sind das andere Menschen. Die Ähnlichkeit mag sich auch darin erschöpfen, dass es sich um ein anderes empfindungsfähiges Wesen handelt, dem ich ähnliche Gefühlsreaktionen zuschreibe, wie ich sie selbst empfinde, und dem gegenüber ich deshalb empathisch reagiere. Es muss also, mit anderen Worten, eine Ebene geben, auf der ich mich mit dem Anderen identifiziere.⁵ Letzteres setzt dann aber auch voraus, dass man zu einer Unterscheidung zwischen sich und Anderen in der Lage ist.
3 Die Funktion von Empathie Bisher wurde lediglich darauf abgehoben, Empathie als eine Stellvertreteremotion zu qualifizieren, die dazu dient, Andere gefühlsmäßig zu verstehen. Diese Funktion von Empathie lässt sich allerdings weiter spezifizieren. Das Verstehen oder Nachvollziehen der affektiven Zustände der Anderen hat nämlich seinerseits eine Funktion, und zwar diejenige der Orientierung in sozialen Zusammenhängen. Empathie lässt sich demzufolge auch als eine verkörperte Fähigkeit zur emotionalen Orientierung in sozialen Zusammenhängen verstehen. Auf den Punkt gebracht, bedeutet das, dass Empathie letztlich die Funktion der Orientierung in sozialen Zusammenhängen hat, wobei das Soziale selbstverständlich eine ZweiPersonen-Konstellation sein kann (auch wenn die andere Person unter Umständen fiktional ist). Das fühlende und empfindende Verstehen des Anderen dient dann nicht allein und in erster Linie der Befriedigung meiner kognitiven Neugier (das mag sie letztendlich auch tun), sondern dem gefühlsmäßigen Verstehen der sozial konstituierten Situation. Es ist wichtig zu wissen, dass der Andere in einem Zustand der Wut oder des Hasses ist, um Gefahren für mich zu vermeiden, es ist wichtig zu verstehen, dass er
Davon geht auch de Waal 2009 aus.
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gut gelaunt ist, wenn ich mich ihm nähern möchte. Das erleichtert es nicht nur, mögliche Gefahren oder Vorteile für meinen eigenen Organismus abschätzen zu können, sondern es erleichtert es auch, Gefahren oder Vorteile für meine Pläne, Vorhaben und Interessen einschätzen und vorhersagen zu können. Es erleichtert oder ermöglicht erst eine Orientierung im sozial konstituierten Raum. Dabei sollte man nicht so weit gehen zu behaupten, dass diese Form der sozialen Orientierung erst den sozialen Raum konstituiert, aber sie stellt einen bedeutenden Teil von dessen Konstitution dar. Darüber hinausgehend ermöglichen einfache Formen der Empathie erste Formen des Zusammenlebens, weil sie es erlauben, das Verhalten des Anderen nicht nur als Naturereignis zu erfahren, auf das reagiert wird, sondern als etwas, worauf man sich einstellen kann, weil man es erfassen und nachvollziehen kann. Was Kognition im Umgang mit der Natur erlaubt, erlaubt Empathie im Umgang mit den Anderen – Orientierung. Insofern befähigt Empathie als verkörperte Fähigkeit dazu, sich in den Anderen hineinzufühlen und an seiner Wahrnehmung der Situation teilzunehmen. Sie ermöglicht es mit anderen Worten, seine Intentionen zu erfassen. Daher ist sie eine bedeutende Quelle sozialer Kommunikation und geht über das hinaus,was man unter emotionaler Ansteckung versteht. Bei emotionaler Ansteckung empfindet man zwar auch dasselbe wie der Andere, das Moment der Perspektivübernahme fehlt jedoch. Im Falle der emotionalen Ansteckung versetzt man sich nicht emotional in die Situation des Anderen, sondern verbleibt gewissermaßen bei seinen eigenen emotionalen Befindlichkeiten. Der Andere ist in diesem Fall lediglich ein Auslöser der eigenen affektiven Zustände, aber niemand, dessen Perspektive man einnimmt.⁶ Perspektivübernahme muss übrigens keineswegs in eine prosoziale Haltung gegenüber dem Anderen münden, vielmehr kann sie dazu dienen, sich seinen Intentionen und Verhaltensweisen soweit anzunähern, dass man ihm im Falle einer Gegnerschaft besser schaden kann, weil man die Situation, in der er sich befindet, einschätzen und daher ausnutzen kann. „Sozial“ heißt also nicht in jedem Fall, dass aus den empathischen Regungen ein Verhalten der Fürsorge oder des friedlichen Miteinanders folgt, sondern lediglich, dass davon Folgen und Abläufe des Zusammenlebens berührt sind, die auch in einem feindseligen Verhältnis ihren Ausgang nehmen und ihr Ende finden können, was zu Verletzungen bei einer oder allen Parteien führen kann.
In der Populärliteratur über Forschung zu Spiegelneuronen wird meist vorschnell unterstellt, es gehe bei den Ergebnissen auch um Ergebnisse zur Empathieforschung. In jedem einzelnen Fall wäre aber zu klären, ob es sich bei diesen Untersuchungen tatsächlich um Untersuchungen zu Perspektivübernahmen handelt oder nicht vielmehr um Formen der emotionalen Ansteckung.
Empathie
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4 Empathie – ein soziales Phänomen? Nach diesen Ausführungen scheint es fast selbstverständlich zu sein, dass man nicht mit sich selbst empathisch sein kann. Dennoch gibt es in der Forschung Ansätze, die diese Möglichkeit heranziehen, um ein Modell für Selbstidentität über die Zeit hinweg anzubieten. Marya Schechtman geht davon aus, dass wir über einen empathischen Zugang zu uns selbst in der Vergangenheit verfügen, der uns eine personale Identität ermöglicht.⁷ Ein empathischer Zugang zu sich selbst ist insofern eine Identifikation mit der eigenen Vergangenheit, als man einerseits episodische Erinnerungen⁸ an das eigene Erleben in der Vergangenheit und andererseits auch gewisse Sympathien für dieses Erleben hat.⁹ Ein entscheidender Punkt für das Modell ist dabei, dass man sich nicht nur an die Vergangenheit erinnert, sondern sich auch an sie als die eigene erinnert, mit der man sich identifiziert. Diesen Vorgang als einen empathischen zu bezeichnen, soll bei Schechtman nicht nur ein Modell für das Funktionieren von Selbst-Identität liefern, sondern auch plausibel machen, inwiefern diese Identifikation mit einem Verstehen seiner selbst einhergeht (vgl. Schechtman 2005, 18). Da Empathie in der Geschichte dieses Konzepts seit jeher mit Verstehen assoziiert wurde, scheint dies einleuchtend zu sein. Weniger einleuchtend ist die Rede von einem empathischen Zugang zu sich selbst, wenn man sich ansieht, dass dafür das Modell herangezogen wird, das auch der empathischen Reaktion gegenüber einem Anderen zu Grunde liegt. Der emotionale Zustand des Anderen ist dabei der Ausgangspunkt für die empathische Reaktion, während es beim empathischen Zugang eine emotional erlebte Episode des eigenen Lebens ist, die in einem weiteren Schritt zu einer sympathischen Reaktion und Identifikation mit diesem früheren Erlebnis führen soll. Die eigene Vergangenheit bildet also hier quasi den Ausgangspunkt für eine empathische Reaktion. Plausibel ist das nicht. Denn wenn ich schon auf das vergangene Erleben und Erlebte mittels Erinnerungen Bezug nehme, ist darin bereits die Identifikation enthalten, man benötigt in diesem Fall keinen Vorgang der Identifikation mehr. Sich auf vergangenes Erleben beziehen, bedeutet bereits, sich mit ihm identifizieren; der Zusatzschritt der sympathischen Reaktion, die zur Identifikation führt, ist gar nicht von Nöten. Beim Menschen gehen Erinnerungen an
Vgl. dazu Schechtmans Arbeiten von 2001, 2005 und 2007. Episodisches oder personales beziehungsweise autobiographisches Gedächtnis deckt die biographischen Erinnerungen ab. Die Frage, ob das personale oder episodische Gedächtnis eine Form einer Eigen-Erzählung darstellt und deswegen untrennbar mit Sprache verbunden ist, ist allerdings umstritten. Vgl. Markowitsch/Engelen/Tscherepanow/ Welzer 2013. Vgl. Schechtman 2001, 106. Vgl. dazu auch Goldie 2012, 132– 146.
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das eigene Erleben mit einem anderen phänomenalen Empfinden einher als es bei Erinnerungen an das Verhalten oder Empfinden von Anderen der Fall ist. Es entfällt das imaginative Moment, dessen es beim Nachvollziehen der affektiven Zustände von Anderen bedarf. An dem imaginativen Moment lässt sich auch ein Spannungsverhältnis zwischen Empathie als sozialer Orientierung und dem Erleben einer empathischen Reaktion aufzeigen. Das Erleben selbst ist nicht imaginiert, sondern ist ein reales Erleben. Die empathische Reaktion auf einen Anderen setzt hingegen voraus, dass man sich in seine Situation versetzt, sich ein Stück weit mit ihm identifiziert und dessen Erleben imaginiert. Mein eigenes Erleben muss ich hingegen nicht imaginieren, ich erlebe es oder habe es als eigenes erlebt. Die Frage, die sich stellt, ist, ob Empathie tatsächlich stets als ein soziales imaginatives Vermögen zu verstehen ist, oder ob es sich nicht vielmehr um einen automatischen Vorgang handelt, der diesen Akt der Imagination erst gar nicht erforderlich macht. Empathie als soziale Emotion, die eine Orientierungsfunktion hat, geht mit Perspektivübernahme einher; darin unterscheidet sie sich von emotionaler Ansteckung, die eben gerade keine Perspektivübernahme ist, sondern quasi eine rein emotionale „Übernahme“ darstellt. Affektive oder emotionale Empathie, auf die hier abgehoben wird, wird in der Forschung auch von der sogenannten Motorempathie durch Spiegelneurone unterschieden.¹⁰ Selbst im Falle von Spiegelneuronen wird aber von einer Simulation ausgegangen, nicht von einer Ansteckung. Dennoch wäre diese Form der motorischen Simulation nicht ausreichend, um von Imagination oder Perspektivübernahme zu sprechen. Zu dieser Analyse passt, dass die Reifung derjenigen Gehirnareale, die für Empathievermögen relevant sind, erst im Alter von ca. 25 Jahren abgeschlossen ist, also nicht mit der Geburt schon vollständig gegeben ist (vgl. Singer 2006, 861). Wir können also im Fall der affektiven oder emotionalen Empathie festhalten, dass sie eine Form der Perspektivübernahme darstellt und damit auch eine Form der Vorstellungskraft oder Imagination, weil jegliche Perspektivübernahme der emotionalen Befindlichkeit eines Anderen die letzteren beiden beinhaltet. Ob man dafür Formen der Simulation annehmen muss oder nicht, und wie unmittelbar eine solche Perspektivübernahme ist, sei hier ausgespart.
Das machen allerdings nicht alle Forscher. Für Tsoory-Shamay u. a. (2009) gehört beispielsweise die Beteiligung des Spiegelneuronensystems zur emotionalen oder affektiven Empathie dazu, während ein Forscher wie Blair (2005) die emotionale Empathie von der Motorempathie der Spiegelneurone unterscheidet. Vgl. zu sozialen Aspekten der Empathie in den Neurowissenschaften Decety/Meltzoff 2011, die den problematischen Begriff des sozialen Gehirns verwenden.
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5 Der soziale und affektive Bedeutungshorizont des Empathievermögens Nun obliegt es aber nicht allein dem individuellen Vorstellungsvermögen, was an emotionalen Befindlichkeiten imaginiert werden kann, sondern es gibt soziale, kognitive und biologische Rahmenbedingungen dafür. Empathievermögen ist also in einem sozialen und affektiven Bedeutungshorizont zu sehen, innerhalb dessen Perspektivübernahmen entstehen und dann auch nachvollziehbar sind. Gebildet wird dieser Rahmen von den in unserer Natur angelegten Emotionen und ihren in den jeweiligen Gesellschaften übermittelten und dann auch erfahrenen kulturellen Ausprägungen. Wir haben es letztlich mit drei verschiedenen Aspekten von Empathie und sozialen Beziehungen zu tun. Zwei davon sind bereits genannt worden, auf die dritte wird noch ausführlich einzugehen sein: 1. 2. 3.
Empathie ist eine soziale Emotion. Kulturell und sozial geformte Emotionen bilden einen affektiven Bedeutungshorizont für Empathievermögen. Die Formung von Emotionen erfolgt durch Begriffserwerb, der seinerseits ein sozial konstituierter Vorgang ist.
An dieser Stelle müssen wir genauer auf die Bedeutung von Emotionen für Empathievermögen eingehen. In der Regel wird von Empathievermögen so gesprochen, als sei es dem Sehvermögen vergleichbar. Es wäre dann etwas, womit wir auf die Welt kommen, um damit alles, was sich in der Welt anschauen lässt, zu sehen beziehungsweise alle Emotionen der Anderen affektiv nachvollziehen zu können. Für gewöhnlich wird bezüglich des Sehvermögens davon ausgegangen, dass das Sehvermögen nicht in einem entscheidenden Sinne davon abhängt, was bisher gesehen wurde, und nicht davon, was Andere sehen. Wohl wird angenommen, dass manche Menschen durch lebenslange Schulung in ihrer Umwelt mehr sehen als andere, aber in der Regel nicht, dass manches für manche Menschen nicht sichtbar ist oder ganz anders gesehen wird. Hinsichtlich des Empathievermögens und der Emotionen liegt das anders. Auf Emotionen, die man nicht selbst gehabt hat oder haben kann (aus welchen Gründen auch immer), kann man, wenn sie ein Anderer hat, nicht empathisch reagieren. Man kann die Perspektive des Anderen dann nicht affektiv einnehmen. Das Empathievermögen hängt demnach davon ab, welche Emotionen wir empfinden und wie wir sie empfinden. Eine Emotion, die wir nicht empfinden können, können wir auch nicht bei Anderen nachvollziehen. Das ist beim Seh-
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vermögen insofern anders als wir uns, wenn wir über dieses Vermögen verfügen, prinzipiell auch vorstellen können, was der Andere sieht.¹¹
6 Empathie und Emotionen Das Verhältnis von Empathievermögen und Emotionen bedarf daher einer weitergehenden Erörterung. Es ist davon auszugehen, dass es für die Entwicklung von Empathievermögen eine Voraussetzung ist, dass der Andere dasselbe oder ähnliches empfindet wie ich, weil ansonsten keine affektive Perspektivübernahme möglich ist. Die Frage, wie es dazu kommt, dass der Andere ähnliches oder dasselbe fühlt wie ich, ist daher zu erörtern. Gibt es für Letzteres biologische oder soziale und kulturelle Gründe? Die Antwort darauf ist eine auf die Frage, was die Voraussetzungen für Perspektivübernahme sind, und hängt davon ab, welche Antwort auf die Frage gegeben wird, was Emotionen sind. Sind sie angeboren oder erworben? Handelt es sich um eine biologische Ausstattung oder um ein soziales und kulturelles Konstrukt? Von der Antwort auf diese Frage hängt letztlich ab, wessen Perspektiven wir übernehmen können: lediglich diejenige der Menschen, mit denen wir eine kulturellen und sozialen Hintergrund teilen, oder diejenige von allen Menschen, weil alle dieselbe biologische Grundausstattung haben? Charles Darwin ging in seiner Theorie der Emotionen davon aus, dass Emotionen angeboren sind. Er untersuchte in seinem Buch The Expression of the Emotions in Man and Animal von 1872 als einer der Ersten, ob wir Gesichts- und Körperausdrücke, die wir zeigen, wenn wir traurig sind, fröhlich oder wütend, erlernt haben oder ob sie ererbt sind. Und er verbindet damit die Hypothese, dass, wenn die Emotionsausdrücke angeboren sind, damit einhergehend auch die Gefühlsregungen angeboren sind.¹² Da Ausdruck und Empfinden nach Darwin immer zusammen auftreten und der Ausdruck sich in der Evolution der Organismen herausgebildet hat, geht er davon aus, dass sich auch das phänomenale Empfinden in der Evolution herausgebildet hat. Für Darwin und – in dessen Nachfolge – auch für Paul Ekman und seine Schule ist es für ihre Emotionstheorie
Die Fälle derjenigen Menschen, deren Sehvermögen erst Jahre nach der Geburt hergestellt wird und die dann dennoch nicht sehen können, weil die ‚Sehregionen im Gehirn‘ nie entsprechend genutzt und dadurch auch nicht entwickelt wurden, sind anders gelagert. Diese Menschen haben trotz der organischen ‚Instandsetzung‘ des Sehapparates nie ein vollständiges Sehvermögen gehabt. Diese provokante These Darwins gewinnt dadurch an Schärfe, dass er sie nicht nur für Menschen, sondern auch für viele Tiere formuliert.
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zentral, dass bei so genannten Basisemotionen stets ein unmittelbarer Zusammenhang von Gefühlsausdruck und Gefühlsempfindung besteht. Diese Fragen interessieren Darwin im großen Kontext seiner Evolutionstheorie, aber er verfolgt damit auch ganz besondere gesellschaftspolitische Interessen. Für ihn ist mit seiner Emotionstheorie nämlich gezeigt, dass Menschen aus fernen Ländern und Kulturen (sowohl in synchroner wie in diachroner Perspektive) dasselbe empfinden wie der weiße männliche Europäer seiner Zeit. Außerdem will er damit beweisen, dass sich das Empfindungsvermögen im Lauf der Evolution entwickelt hat, es also eine Kontinuität, wenn auch nicht Gleichheit zwischen dem Empfinden von Tieren und dem menschlichen Empfinden gibt. Emotionale Ausdrucksformen sowie das damit einhergehende Empfinden sind für Darwin also nicht kulturell und sozial konstituiert, sie sind biologisch angelegt und damit universal verbreitet und verständlich. Dass wir die affektive Perspektive der Menschen aus fremden Ländern und Kulturen einnehmen können, hängt demnach damit zusammen, dass wir das Gleiche empfinden, und zwar in allen uns überlieferten Zeiten und allen uns bekannten Kulturen. Die Beschreibungen Homers und des alten Testaments können wir daher in emotionalen Hinsichten ebenso verstehen, wie noch sprachlose Kinder oder nicht mehr sprachmächtige Greise. Folgt man einem solchen Ansatz, ist determiniert, was man sich an emotionalen Zuständen und Situationen vorstellen kann und worauf sich das Empathievermögen bezieht. Es sind die angeborenen basalen affektiven Ausdrucksformen, die mit einem ihnen spezifischen Empfinden einhergehen. Ein wenig anders stellt sich das bei der Theorie der Emotionen als angeborene Affektprogramme (innate affect program) dar. Ein solches angeborenes Affektprogramm wollen beispielsweise Joseph Le Doux (1996 und 2000) und Panksepp (1998) entdeckt haben. Sie verweisen darauf, dass der Mensch diese angeborenen Affektprogramme mit anderen Säugetieren teilt, und postulieren, dass dieses Programm und die dazugehörigen diskreten Emotionen phylogenetisch determiniert sind. Sie liefern ein Konzept für sogenannte Basisemotionen (wie Freude, Angst, Ekel, Wut und Trauer) als biologisch determinierte emotionale Prozesse. Aber diese Mechanismen werden von den Forschern, obgleich als angeboren, nicht als unmodifizierbar angesehen. Jaak Panksepp hat etwa dafür argumentiert, dass basale emotionale Prozesse bei Säugetieren durch „homologe“ Gehirnmechanismen entstehen. Diese Mechanismen oder Affektprogramme werden dann durch die weitere Entwicklung des Organismus und durch die Erfahrungen, die er macht, weiter geformt. Wobei er beim Menschen die Denkfähigkeit als eine Weise der Einflussnahme auf diese Mechanismen sieht. Emotionsempfindung ist dann zwar angeboren, wird aber im Laufe der Entwicklung eines Organismus noch geformt. Dementsprechend wäre das, was man sich an emotionalen Zuständen und Situationen vorstellen kann, zwar teilweise
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biologisch determiniert, aber auch durch kulturelle und soziale Formung festgelegt. Der Umstand, dass wir die Perspektive Anderer in emotionaler Hinsicht einnehmen können, ist in dieser Theorie gleichfalls im Wesentlichen davon bestimmt, dass die Affektprogramme angeboren sind. Eine gewisse kulturelle und soziale Feinjustierung wäre folglich dafür verantwortlich, dass wir Menschen aus dem uns vertrauten Kulturkreis möglicherweise besser verstehen, d. h. deren Perspektive sicherer und unmittelbarer übernehmen können als die uns kulturell und sozial fernstehender Gesellschaften.¹³ Für die Vertreter sogenannter narrativer Ansätze¹⁴ ist es am schwierigsten, die universale Verständlichkeit von Emotionen zu erklären. Für Peter Goldie (2000, 4 f.) sind die einzelnen Komponenten emotionaler Erfahrungen etwa durch so genannte Narrative miteinander in einer narrativen Struktur verbunden. Ein solches Narrativ muss zum einen Ereignisse miteinander erzählend verbinden, und zum anderen dürfen die Verbindungen keine logischen sein (vgl. Lamarque 2004, 394). Auf den Fall der Emotionen angewendet, bedeutet das, dass es für jede emotionale Erfahrung eine paradigmatische narrative Struktur in einer Kultur gibt, die paradigmatische Reaktionen ebenso enthält wie Motivation und Empfindungen (vgl. Goldie 2000, 33). Um die Universalität gewisser Grundemotionen zu erklären, muss die biologische emotionale Ausstattung allerdings stärkere Beachtung finden und in eine Theorie der Emotionen integriert werden. Erst so ist es zu erklären, inwiefern wir nicht nur mit Menschen des eigenen Kulturkreises, sondern auch mit denen anderer Kulturkreise empathisch sein können. Hier soll daher ein Ansatz vorgestellt werden,¹⁵ der dies ermöglicht. Zunächst handelt es sich dabei um ein Modell, das geeignet ist zu zeigen, inwiefern wir uns nicht nur gemeinsam mit Anderen auf unsere emotionalen Zustände zu beziehen vermögen, sondern auch, inwiefern es uns damit selbst möglich wird, uns auf sie zu beziehen, und inwiefern dadurch eine kulturelle und soziale Formung der angeborenen emotionalen Grundreaktionen erfolgt. Die genannten Autoren äußern sich nicht in dieser Hinsicht. Ihr Thema ist auch nicht das der emotionalen Perspektivübernahme, so dass das nicht erforderlich ist. Das Gesagte folgt meines Erachtens allerdings aus der Anlage der Theorie. Prominente Vertreter narrativer Ansätze für Emotionen sind etwa: Dan Hutto, Shaun Gallagher oder Peter Goldie. Aufgrund der thematischen Ausrichtung des Beitrages werde ich auf die Unterschiede in den Konzeptionen der genannten drei Autoren, nicht im Detail eingehen. Vgl. zu einer kritischen Auseinandersetzung mit narrativen Richtungen Stueber 2012. Weitere Überlegungen zum Verhältnis von Empathie und Narration finden sich in Breger/Breithaupt 2010. Eine ausführliche Darstellung und Erörterung dieses Modells findet sich in Engelen 2013. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt Gebauer 2012.
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Die Grundemotionen, auf die wir auch bei Menschen aus anderen Kulturkreisen empathisch reagieren können, sind diesem Ansatz nach bei allen Menschen angeboren, aber in ihren Ausformungen in sozialen Gemeinschaften kulturell geformt. Sie bilden einen affektiven Bedeutungshorizont, innerhalb dessen affektive Perspektivübernahmen entstehen können. Diese Theorie greift auf die sogenannten Basisemotionen zurück, die zur angeborenen menschlichen Grundausstattung gehören, auf die der Einzelne aber nur deshalb Bezug nehmen kann, weil er gemeinsam mit anderen Begriffe dafür erwirbt. Um zu verdeutlichen, wie das vonstattengeht, sollen einige Erläuterungen zum Spracherwerb eingeführt werden.
7 Emotionen und Spracherwerb Michael Tomasello hat gezeigt, inwiefern sprachliche Referenz ein sozialer Akt ist. Für den Spracherwerb sind Szenen gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit erforderlich, in denen das Kleinkind, das eine Sprache erlernt, seine Aufmerksamkeit gemeinsam mit den Bezugspersonen auf einen dritten Gegenstand richtet. Dabei achtet es auch auf die Aufmerksamkeit des Anderen auf den dritten Gegenstand ebenso wie dieser es hinsichtlich des Kleinkindes tut (vgl. Tomasello 2006, 128 f.). Szenen gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit stellen den intersubjektiven Kontext bereit, in dem sich sprachliche Referenz als solche verstehen lässt. Die gemeinsame Aufmerksamkeit des Spracherwerbers und des Sprachvermittlers ist meistens auf einen dritten Gegenstand gerichtet. Da dem aber nicht so sein muss, lässt sich dieses Erklärungsmodell für Spracherwerb auch heranziehen, um zu erläutern, inwiefern Emotionen sozial und kulturell geformt, d. h. semantisiert sind. Wird dieser Ansatz auf physiologische emotionale Reaktionen angewendet, lässt sich nicht nur erklären, inwiefern sich die Aufmerksamkeit und die Worte der Bezugspersonen auf die emotionalen Reaktionen des Kleinkindes beziehen können, sondern auch, wie das Kleinkind lernt, sich selbst mit Worten auf seine emotionalen Regungen zu beziehen. Es ist klar, dass Emotionen kein unabhängiger, dritter Gegenstand im Sinne der Referenz sind, sondern körperliche Veränderungen des kindlichen Organismus, die es empfinden kann. Zu einem solchen „Gegenstand“ werden sie aber dadurch, dass sich die Bezugsperson sprachlich, zeigend und in anderer Weise auf den emotionalen Ausdruck des Kindes bezieht. Dies kann sie nur deshalb, weil das Kleinkind einen Emotionsausdruck zeigt, sei es durch Mimik, durch Lautäußerungen oder durch Köperhaltung. Dadurch hat zumindest die Bezugsperson Anzeichen einer emotionalen Empfindung, auf die sie sich beziehen kann. Das Kleinkind sieht sich hingegen
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nicht selbst und kann sich deshalb nicht auf diese Weise auf seine Emotionen beziehen. Ihm steht jedoch eine andere Möglichkeit offen, nämlich diejenige, sich auf seine Empfindungen zu beziehen. Damit die sogenannte Triangulation gelingt, d. h. das gemeinsame Ausrichten der Aufmerksamkeit auf etwas „Drittes“, müssen allerdings beide, Bezugsperson und Kleinkind, Ausdruck und Empfinden in Deckung bringen. Für die Bezugsperson muss der Ausdruck Anzeichen für eine Empfindung sein, und für das Kleinkind muss die Empfindung das sein, worauf sich die Bezugsperson bezieht. Damit dies gelingen kann, ist Darwins Annahme, dass emotionaler Ausdruck mit einem Empfinden einhergeht, eine Voraussetzung. Wenn Ausdruck und Empfinden nicht „Eines“ bilden, gibt es nichts, worauf sich die beiden Parteien gemeinsam mit ihrer Aufmerksamkeit richten können. Die intersubjektive Bezugnahme auf diese senso-motorischen Prozesse wird durch Worte geleistet. Die Bezugspersonen lehren das Kleinkind Worte, mittels derer sie sich auf den emotionalen Ausdruck beziehen, sei es auf den sichtbaren, sei es auf den empfundenen. Auf diese Weise werden die emotionalen Prozesse mit sprachlichen Ausdrücken, Handlungsabläufen und im weiteren Verlauf auch mit Bedeutung verbunden. Am Ende dieses Prozesses wird etwa die Bedeutung eines Konzeptes wie Freude erlernt sein, wozu u. a. auch ein Wissen darüber gehört, dass Freude und Traurigkeit einander ausschließen. Es wird also nicht lediglich eine bloße Vokabel gelernt, sondern verstanden, wie sich Freude anfühlt, wie sie sich bei anderen Menschen äußert, in welchen Situationen sie typischer Weise auftritt, wann sie nie auftritt, und was die entgegengesetzten Emotionen und Konzepte sind. Die kulturelle Formung solcher grundlegenden Emotionen, die einen universalen Ausdruck haben, findet während des Spracherwerbs statt. Sie bezieht sich nicht lediglich auf die jeweilige kulturelle Ausprägung eines Begriffs, sondern bezieht das phänomenale Empfinden mit ein. Letzteres lässt sich am besten anhand eines Beispiels erläutern. Die Schreckreaktion eines Säuglings wird mit dem Begriff der Angst belegt, indem ein bestimmter Laut durch Wiederholung in bestimmten Situationen mit einer bestimmten Empfindung gekoppelt wird. Damit dieses Wort für das heranwachsende Kleinkind zu einem Begriff wird, muss das Kind nicht nur eine Vokabel lernen. Es wird gleichzeitig mit der Gebrauchsweise der Vokabel auch mit einigen Verhaltensformen vertraut, die zur Bedeutung des Wortes gehören. So wird es etwa lernen, wann ihm die Emotionsempfindung zugestanden wird und wann nicht, worauf die Bezugsperson selbst emotional reagiert und in welcher Weise und worauf nicht. Vielleicht wird die Bezugsperson es beruhigen, wenn es beim Anblick eines Meerschweinchens geneigt ist, zu weinen anzufangen („Du musst doch keine Angst haben“), oder es warnen, wenn es beim Anblick eines Hundes freudig reagiert („Hunde sind gefährlich“), usw. Damit einhergehend wird das
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Kind einen bestimmten Gesichtsausdruck bei den Anderen wahrnehmen. Das Wort „Angst“ wird so in Handlungs- und Situationszusammenhänge eingebettet und mit einer bestimmten Emotionsempfindung „verschmolzen“. Emotionsempfindung und der dazugehörige Begriff lassen sich schließlich nicht mehr voneinander trennen, wenn der Spracherwerb der Emotionsausdrücke abgeschlossen ist. Für das Kind, das den Begriff erlernt hat, gibt es dann keine nicht semantisierte Körpersensation mehr. Die Empfindung, die mit einer Angstreaktion einhergeht, ist für das Kleinkind mithin zwar eine Voraussetzung dafür, dass es seine Angst als Angst identifizieren kann; ebenso wichtig ist es allerdings, dass die Reaktionen der Bezugspersonen eine gemeinsame Ausrichtung auf die Angst ermöglichen. Erst dadurch lernt das Kind, seine Empfindungen als bestimmte zu identifizieren und nicht lediglich zu empfinden. Eine Empfindung erlangt ihre Bedeutung erst in Verbindung mit zahlreichen Situationen, in denen über sie gesprochen wird und Handlungsmuster eingeführt werden, die im Umgang mit ihr paradigmatisch sind. Der auf diese Weise identifizierte emotionale Prozess ist mithin sowohl für das Kind als auch für die es umgebenden Anderen nur deshalb zu identifizieren, weil er sich in sozialen Bezügen vergegenständlichen lässt und dadurch sprachliche Bezugnahme ermöglicht wird.¹⁶ Ludwig Wittgenstein weist daher zu Recht darauf hin, dass Sprache auch für die Identifizierung von Empfindungen eine herausragende Funktion einnimmt.¹⁷ Wenn es darum geht, die emotionale Perspektive Anderer einzunehmen und emotionale Zusammenhänge zu imaginieren, spielen also unterschiedliche soziale, kulturelle, sprachliche und biologische Rahmenbedingungen eine Rolle. Die Perspektivübernahme oder Imagination emotionaler Zusammenhänge bei Anderen bewegt sich in diesem Rahmen. Daraus lässt sich auch erklären, weshalb nicht beliebig emotionale Reaktionen vorstellbar sind. Es können keine rein willkürlichen Reaktionen und Verhaltensweisen imaginiert werden, damit die Vorstellungen Anderer oder unsere eigenen in Bezug auf emotionale Geschehnisse sinnvoll erscheinen. Wäre dem so, handelte es sich nicht mehr um eine Per-
Dass diese Form der Referenz ebenso bei Empfindungen erforderlich ist, legt auch Wittgenstein dar: „Aber wie, wenn ich keine natürlichen Äußerungen der Empfindung, sondern nur die Empfindung besäße? Und nun assoziiere ich einfach Namen mit den Empfindungen und verwende diese Namen in einer Beschreibung.“ (Wittgenstein 1977, § 256) Das eben geht nicht. „Wenn man sagt ‚Er hat der Empfindung einen Namen gegeben‘, vergißt man, daß schon viel in der Sprache vorbereitet sein muß, damit das bloße Benennen einen Sinn hat. Und wenn wir davon reden, daß Einer dem Schmerz einen Namen gibt, so ist die Grammatik des Wortes ‚Schmerz‘ hier das Vorbereitete; sie zeigt den Posten an, an den das neue Wort gestellt wird.“ (Wittgenstein 1977, § 257)
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spektivübernahme, sondern um ein Raten oder reines Fingieren von Handlungen oder emotionalen Zuständen, die dann aber auch immerhin möglich sein müssten. Es müssen also gewisse Erwartungen und Bedingungen erfüllt sein, damit wir die emotionale Perspektive des Anderen verstehen, und diese werden in sozialen Zusammenhängen vermittelt. Das, was wir als Angst u. a. mittels des Gesichtsausdrucks eines verängstigten oder in Panik geratenen Menschen identifizieren, gehört zu dem, was an körperlichen Veränderungen bei akuter großer Angst in einem Menschen vor sich geht. Dieser Gesichtsausdruck gehört bei einer imaginierten Szene, in der Menschen in Panik geraten sind, mithin dazu. Was diese Menschen dann aber empfinden, kann kulturell zumindest leicht variieren, je nachdem, wie diese Basisemotion in einer Kultur semantisiert worden ist. – Da es sich um eine Basisemotion handelt, können aber weder Ausdruck noch Empfindung völlig unterschiedlich ausfallen. Daraus lässt sich auch erklären, warum wir die emotional relevanten Schilderungen aus vergangenen Kulturen noch verstehen können und ein „empathisches Engagement“ ebenso zu ihnen entwickeln können wie zu denen aus gegenwärtigen Kulturen, mit denen unsere eigene Kultur vielleicht keinerlei Traditionslinie aufweist. Es mag und wird Bedeutungsnuancen hinsichtlich der beschriebenen Emotionen und der damit einhergehenden Empfindungen geben, und daher mag das „empathische Engagement“ mehr oder weniger treffend sein. Aber es gibt, um es metaphorisch auszudrücken, einen gemeinsamen menschlichen Grundtenor, der den Bedeutungsraum und damit den „Möglichkeitsraum“ dessen vorgibt, was wir unter einer bestimmten Grundemotion verstehen können und wie wir sie empfinden können.
8 Zusammenfassung Empathievermögen als Perspektivübernahme der emotionalen Zustände eines Anderen greift auf ein Repertoire emotionaler oder affektiver Prozesse zurück. Dieses Vermögen wird gemeinsam mit den Grundemotionen eingeübt, welche ihrerseits jedoch erst in sozialen Zusammenhängen geformt und ausdifferenziert werden. Damit wird auch festgelegt, was wir imaginieren können und inwiefern wir empathisch sein können. Die kulturellen Bedingungen dafür lassen sich variieren. Daher können auch neue Gefühlsnuancen imaginiert werden, sie müssen aber stets noch eine Form der Überlappung mit Bekanntem oder Vertrautem aufweisen und können nicht gänzlich von bestimmten biologischen Bedingungen abweichen. Ein wesentlicher Faktor zur Imagination neuer Gefühlsnuancen ist Sprache.
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Julius Schälike
Sentimentalismus oder Rationalismus? Von der experimentellen Moralpsychologie zur Normativen Ethik¹
1 Einleitung Entspringt die Moral den Gefühlen, wie Hume meinte, oder der Vernunft, wie Kant behauptete? In jüngerer Zeit haben Philosophen wie Shaun Nichols, Jesse Prinz und Michael Slote versucht, diese Frage durch die Auswertung empirischer Studien entwicklungspsychologischer und psychiatrischer Provenienz zu klären. Auf den ersten Blick erscheint dieses Unterfangen hoffnungslos. Wie sollten empirische Befunde dabei helfen, metaethische und normative Fragen zu beantworten? Dieser Eindruck ist jedoch irrig, wie ich zu zeigen versuche. Analysiert man die Befunde der experimentellen Moralpsychologie, so legen sich nicht nur Konsequenzen für die Metaethik nahe; Folgen ergeben sich auch für die Normative Ethik. Zunächst untersuche ich die Argumente, die Shaun Nichols entwickelt hat, um den Sentimentalismus als richtig zu erweisen. Anschließend werden die Einwände von Jeannette Kennett und Heidi Maibom geprüft und zurückgewiesen. Daraus ergibt sich, dass der Sentimentalismus höchstwahrscheinlich recht hat in seiner Diagnose, dass unsere moralischen Urteile im Alltag im Wesentlichen Gefühle artikulieren. Ich frage dann, was das für den Rationalismus bedeutet. Könnte der Rationalist nicht sagen, es sei irrelevant, wie die Menschen faktisch moralisch urteilen? Geht es in der Ethik nicht darum, zu klären, was die korrekte Weise des moralischen Urteilens wäre? Könnte sich nicht erweisen, dass wir unsere Urteilspraxis zugunsten eines rationaleren Ansatzes revidieren müssen? Wie könnten empirische Untersuchungen es ausschließen, dass rational ausweisbare Normen existieren, die mit unseren emotionalen Urteilen konfligieren? Könnten die rationalen Normen die emotionalen nicht übertrumpfen? Ich werde argumentieren, dass all diese Fragen grundsätzlich zwar mit „ja“ zu beantworten sind, dass der Sieg des Sentimentalismus als empirisch-explanatorischer Theorie jedoch die ohnehin schon bestehenden Zweifel daran, dass eine rationale Be-
Ich danke Christoph Fehige für scharfsinnige Anmerkungen, sowie den Teilnehmern der Tagungen Reason, Sentiment and Value (Zukunftskolleg, Universität Konstanz), Early Prosocial Development (Center for Advanced Studies, LMU München), Wollen – Freiheit und Grenzen (Universität Konstanz) und den Mitgliedern des Konstanz-Zürich-Kolloquiums für hilfreiche Diskussionen.
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gründung moralischer Normen möglich ist, beträchtlich verstärkt. Für die Rolle der Gefühle als sozialer Phänomene bedeutet das, dass sich die Plausibilität der These, ein zentraler Aspekt des sozialen Lebens – die Moral – sei im Kern durch Gefühle konstituiert, erhöht.
2 Sentimentalismus, Rationalismus und praktische Normativität Die Ausdrücke „Sentimentalismus“ und „Rationalismus“ lassen sich unterschiedlich interpretieren. Sie können begriffliche Thesen bezeichnen. Nichols versteht unter begrifflichem Rationalismus die These, dass es eine begriffliche Wahrheit ist, dass moralische Notwendigkeiten Handlungsgründe darstellen, dass es also unvernünftig ist, unmoralisch zu handeln (vgl. Nichols 2004, 67). Ich werde mich nicht mit solchen begrifflichen Thesen beschäftigen. Ich verstehe Rationalismus und Sentimentalismus als empirische Thesen. Dem empirischen moralischen Sentimentalismus zufolge werden alltägliche moralische Urteile durch Gefühle konstituiert. Der empirische moralische Rationalismus vertritt die Gegenposition, dass unsere moralischen Urteile im Alltag Produkt unserer rationalen Fähigkeiten sind, während Gefühle keine tragende Rolle spielen. Die Fähigkeiten, Gefühle zu empfinden und rational zu denken, sind empirische Eigenschaften, die Menschen während ihrer Kindheit erwerben. Ihre Entwicklung erstreckt sich über einen längeren Zeitraum. Man kann prüfen, welche der konkurrierenden Thesen richtig ist, wenn man weiß, worin die relevanten Fähigkeiten genau bestehen, wann sie sich entwickeln, und wann die Fähigkeit, moralisch zu urteilen, verfügbar wird. Die Idee ist folgende: Falls Menschen moralische Urteilsfähigkeit erlangen, bevor sie die relevanten rationalen Fähigkeiten entwickelt haben, kann die Rationalität keine zentrale Rolle spielen. Falls sich dann noch zeigt, dass sich moralische Urteilsfähigkeit und emotionale Fähigkeiten parallel entwickeln und dass Subjekten moralische Urteilsfähigkeit fehlt, sofern ihre emotionale Entwicklung beeinträchtigt ist – etwa durch Schädigung der entsprechenden Hirnareale –, so ist der empirische Sentimentalismus bewiesen. Zunächst gilt es zu klären, wonach zu suchen ist. Um zu bestimmen, in welchem Entwicklungsstadium moralische Urteilsfähigkeit entsteht, muss man wissen, was ein moralisches Urteil ist. Praktische Normen sind Sätze, die eine besondere Form der Notwendigkeit ausdrücken, eine praktische Notwendigkeit, ein praktisches Müssen. Es gibt verschiedene Arten praktischer Notwendigkeit. Beispielsweise könnte es not-
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wendig sein, dass ich Sport treibe, um meine Gesundheit zu erhalten. Diese Form von Notwendigkeit kann man „instrumentelle praktische Notwendigkeit“ nennen, die entsprechenden Normen „instrumentelle Normen“. Hier geht es um die Relation von Mitteln und Zwecken. Um praktische Normen handelt es sich wegen ihrer Beziehung zum Handeln und zum Willen: „Wenn du deine Gesundheit erhalten willst, musst du Sport treiben!“ Nicht alle praktischen Normen haben diese relative, instrumentelle Struktur, die dadurch zustande kommt, dass Mittel notwendig zur Realisation von Zielen des Normadressaten sind. Andere Normen sind kategorisch, beispielsweise soziale Konventionen. Dazu zählen Normen der Etikette wie „Man muss den Hut abnehmen, wenn man ein Haus betritt“ oder „Man darf im Unterricht nicht Kaugummi kauen“, Clubregeln sowie Spiel- und Verkehrsregeln, etwa „Man muss auf der rechten Seite der Straße fahren“. Soziale Konventionen sind Regeln, die von einer Gruppe von Subjekten, die sich entsprechend – explizit oder implizit – geeinigt haben, umfassend befolgt werden. Konventionelle Normen werden von ihren Proponenten unabhängig davon für gültig gehalten, welche Wünsche der Normadressat hat, welche Ziele er verfolgt, was er will. Das macht diese Normen zu kategorischen Normen.² Es kennzeichnet diese Normen jedoch, dass ihre Proponenten sie als kontingente soziale Institutionen betrachten. Es gehört zum Inhalt dieser Normen, dass sie in den Augen ihrer Proponenten ihre Gültigkeit verlieren, falls die Proponenten sich dazu entschließen, sie zu ändern. Der Satz „Reiche zur Begrüßung die Hand“ gibt den Inhalt dieser Konvention nur elliptisch wieder, eigentlich lautet er „Reiche zur Begrüßung die Hand, solange wir fortfahren zu wollen, dass wir uns auf diese Weise begrüßen“; entsprechend „Fahre rechts, solange wir fortfahren zu wollen, dass rechts gefahren wird“. Dies unterscheidet sie von einer anderen Art kategorischer Normen. Ein typischer Proponent einer Norm wie „Man darf unschuldige Menschen nicht zum Vergnügen foltern“ denkt nicht, dass diese Norm obsolet wird, falls die Gesellschaft – oder auch er selbst – aufhört, solches Verhalten zu verurteilen. Er mag sogar voraussehen, dass er diese Norm eines Tages nicht mehr akzeptieren wird, aber gegenwärtig wird er sein zukünftiges Urteil dann für irrig und die Entwicklung seiner Ansichten für beklagenswert halten. Diese Unabhängigkeit von faktischer Übereinkunft ist ein zentrales Merkmal von Normen, die man üblicherweise moralische Normen nennt. Dies ist ein Aspekt ihrer Univer-
Vgl. Foot 1972. Sie sind nicht kategorisch im Sinne Kants, insofern sie nicht gänzlich von Wünschen unabhängig sind. Irrelevant sind die Wünsche des Normadressaten, nicht des Proponenten. So wird, wie Foot konstatiert, der Clubsekretär seine Forderung, im Club Schlips zu tragen, nicht zurücknehmen, wenn er erfährt, dass der Normadressat die Norm nicht mehr billigt und demnächst aus dem Club austreten will. Er wird sie aber zurücknehmen, wenn er selbst aufhört, die Einhaltung der Regel zu wünschen.
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salisierbarkeit: Enthalten sie Eigennamen oder indexikalische Ausdrücke, so sind diese durch allgemeine Termini ersetzbar.³ Konventionelle Regeln sind wegen ihres irreduziblen impliziten Bezugs auf das Wollen der eigenen Gruppe nicht universalisierbar. Konventionelle Normativität geht normalerweise mit den anderen Arten von Normativität einher. Während Konventionen primär insofern normativ sind, als man sie befolgen muss, weil man sonst von den Regeln abweichen würde, die dem Verhalten der Gruppe zugrunde liegen, sind sie doch zumeist auch aus anderen Gründen normativ: Erstens kann die Befolgung deshalb nötig sein, weil man sonst Sanktionen auf sich zöge – aus instrumentell-normativen Gründen also. Zweitens werden Verstöße gegen Konventionen oft als unmoralisch, als Ausdruck mangelnden Respekts verstanden. Regeln der Etikette etwa werden als Weisen interpretiert, Respekt zu zeigen. Man muss diesen Regeln auch deshalb folgen, weil man sonst moralische Fehler beginge.
3 Der Moralisch-konventionell-Test, moralische Entwicklung und Psychopathen Diese Analyse von Normativität passt gut zu einem bekannten Test, den Psychologen anwenden, seit Elliot Turiel ihn vor über 20 Jahren entwickelt hat: dem Moralisch-konventionell-Test (M/K-Test; vgl. Turiel u. a. 1987). Turiel charakterisiert konventionelle und moralische Normverletzungen in einer etwas unbefriedigenden Weise (vgl. ebd., 169 f.), aber das macht nichts, denn die Unterscheidung ist sensitiv für die relevanten strukturellen Eigenschaften, die ich gerade herausgearbeitet habe. Die Subjekte werden gefragt, wie Verstöße im Lichte von Parametern wie Wichtigkeit, Zulässigkeit, Verallgemeinerbarkeit, Fairness, Schädigung des Wohlergehens und Autoritätsabhängigkeit einzuschätzen sind (vgl. Nichols 2004, 5 f.). Diese Parameter sind recht heterogen, einige sind formaler, andere inhaltlicher Natur, aber formale Parameter wie Verallgemeinerbarkeit und Autoritätsabhängigkeit passen gut zu der Art und Weise, wie ich verschiedene Typen praktischer Normen unterschieden habe. Soziale Konventionen habe ich als kategorische Normen definiert, die auf Übereinkunft basieren und die diese Relativität in ihren Inhalt aufnehmen, und ich habe bemerkt, dass sie häufig mit instrumenteller Normativität (Sanktionsdrohungen) einhergehen.
Vgl. Mackie 1977, Kap. 4.1. Ob diese Bedingung hinreichend ist, kann hier offen bleiben. Angemerkt sei noch, dass durch sie nicht nur die richtigen moralischen Normen gekennzeichnet sind. Es geht mir hier um den formalen Moralbegriff.
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Darin spiegeln sich die Parameter „Generalisierbarkeit“ und „Autoritätsabhängigkeit“ des M/K-Tests.Verlieren Regeln ihre Gültigkeit, wenn die sanktionsfähigen Autoritäten übereinkommen, sie zu ändern, so sind die Regeln autoritätsabhängig und nicht generalisierbar. Moralische Normen hingegen sind nicht in dieser Weise relativ, sie sind nicht von Übereinkunft abhängig und insofern generalisierbar: Sie gelten immer und für alle, gleichgültig, was die Autoritäten festlegen. Der M/K-Test ist somit sensitiv für die Unterschiede zwischen konventionellen und moralischen Normen im Sinne meiner Definition. Beispielsweise wurden Kinder gefragt, ob im Unterricht Kaugummi zu kauen oder andere an den Haaren zu ziehen falsch sei, und sie bejahten die Frage. Sie wurden dann gefragt, ob es in Ordnung wäre, im Unterricht Kaugummi zu kauen, wenn der Lehrer dies erlaubte, oder ob es in anderen Ländern in Ordnung sein könnte, was sie bejahten. Die Frage, ob an der Haaren zu ziehen in Ordnung wäre, wenn der Lehrer es erlaubte, oder ob es in anderen Ländern in Ordnung sein könnte, verneinten sie. Sie beurteilten das Haare-Ziehen als gravierender falsch als das Kaugummi-Kauen, und gefragt warum, antworteten sie, dass das Kaugummi-Kauen falsch sei, weil es unhöflich sei oder „weil man das nicht macht“, während sie das Haare-Ziehen für falsch hielten, weil es Schmerzen verursacht (vgl. ebd., 6). Dies zeigt, dass Kinder zwischen Normen der beiden Sorten unterscheiden, die ich „moralisch“ und „konventionell“ genannt habe. Interessant ist nun, dass sie dazu schon sehr früh in der Lage sind. Nun kommt die Entwicklungspsychologie ins Spiel. Wir wollen wissen, welche Fähigkeiten Kinder benötigen, um den M/K-Test zu meistern, und wann sie sich entwickeln. Und womöglich können wir die erste Frage beantworten, indem wir die zweite beantworten. Wenn der Rationalismus wahr wäre, würden Kinder, die den Test bestehen, über die rationalen Fähigkeiten verfügen, die der Rationalist für relevant hält, würden jedoch keine emotionalen Fähigkeiten benötigen.Wenn der Sentimentalismus wahr wäre, würden Kinder den Test nicht bestehen können, bevor sie die relevanten emotionalen Fähigkeiten entwickelt hätten, während rationale Fähigkeiten irrelevant wären. Wenn also Kinder, die die relevanten emotionalen Fähigkeiten besitzen, den Test auch dann bestehen, wenn sie nicht über die relevanten rationalen Fähigkeiten verfügen, aber scheitern, wenn sie der relevanten emotionalen Fähigkeiten ermangeln, ganz gleich, wie gut ausgebildet ihre rationalen Fähigkeiten sind, ist bewiesen, dass der Sentimentalismus wahr ist. Entwicklungspsychologische Befunde zeigen, dass Kinder normalerweise einen psychischen Mechanismus, der durch das Leiden anderer aktiviert wird, deutlich vor ihrem zweiten Geburtstag erwerben.⁴ Kurz nach ihrem zweiten Ge-
Vgl. Simner 1971; Zahn-Waxler u. a. 1992; Nucci 2001; Nichols 2004, 18; Prinz 2007, 32 ff.
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burtstag sind sie in der Lage, einige Aspekte der M/K-Unterscheidung zu verstehen, und ungefähr an ihrem dritten Geburtstag meistern sie auch die anderen Aspekte recht gut.⁵ Spätestens kurz nach ihrem dritten Geburtstag bestehen sie den M/K-Test mit Leichtigkeit. Drei Jahre alte Kinder verfügen aber nur über sehr begrenzte rationale Fähigkeiten. Es dürfte dem Rationalisten beispielsweise schwer fallen zu zeigen, dass Dreijährige etwas Ähnliches wie einen Test gemäß dem Kategorischen Imperativ (KI) durchführen. Es ist jedoch im gegenwärtigen Kontext gar nicht erforderlich, genau herauszufinden, wann welche rationalen Fähigkeiten sich entwickeln, denn es existieren Menschen, die keinerlei rationale Defizite aufweisen, aber dennoch am M/K-Test scheitern. Diese Menschen nennt man Psychopathen. Psychopathen sind normal intelligent, aber sie neigen zu äußerst abstoßendem Sozialverhalten. Sie stehlen, töten, vergewaltigen, foltern ohne jedes Anzeichen von Mitleid oder Schuldgefühl. Psychopathen sind im gegenwärtigen Kontext interessant, weil ihr Defekt kein rationaler, sondern ein emotionaler ist. Psychopathen haben eine eingeschränkte Fähigkeit, Empathie, Sympathie, Schuld, Scham, Liebe, Trauer, Angst und Reue zu empfinden.⁶ Beim M/K-Test behandeln sie moralische Verstöße wie konventionelle.⁷ Damit ist erwiesen, dass der Sentimentalismus wahr ist.
4 Leiden Psychopathen an rationalen Defiziten der relevanten Art? Jeannette Kennett (2006) und Heidi Maibom (2005; 2010) bestreiten diesen Beweis des Sentimentalismus. Sie meinen, er berücksichtige die vorliegenden Indizien nicht angemessen. Psychopathen litten auch unter rationalen Defiziten, und diese Defizite könnten durchaus dafür verantwortlich sein, dass sie beim M/K-Test versagten. Kennett zufolge sind Psychopathen unfähig, ihr Handeln durch instrumentelle Überlegungen zu steuern. So wünschten sie nichts sehnlicher, als aus dem Gefängnis entlassen zu werden, doch sobald sie frei seien, verübten sie bestürzend dumme Verbrechen – „dumm“ in dem Sinne, dass sie sich eines sehr geringen Vorteils wegen einem äußerst hohen Risiko aussetzen,wieder eingesperrt zu werden.
Vgl. Smetana/Braeges 1990, 336; Blair 1993; Nichols 2004, 10. Vgl. Cleckley 1988; Hare 1991; 1993. Vgl. Blair 1995; Nichols 2004, 12 f.; Prinz 2007, 42 ff.
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Kennett meint, dass Rationalität in einem weiten Sinne, welcher instrumentelle Vernunft umfasst – die Fähigkeit, von den eigenen Wünschen zurückzutreten und sie zu reflektieren –, sowie Selbstkontrolle Voraussetzungen für moralisches Handeln und moralische Urteilsfähigkeit seien (vgl. Kennett 2006). Die Fähigkeiten, zu reflektieren und sich zu kontrollieren, seien bei Psychopathen reduziert. Selbstkontrolle scheitere bei ihnen jedoch nicht wegen eines Übermaßes an Gefühlen, die die Vernunft überwältigten, denn Psychopathen seien kaltblütig. Bei dem Defizit an Selbstkontrolle handele es sich um ein Defizit an rationaler Reflexion: der Fähigkeit, die längerfristigen Ziele im Auge zu behalten und die Aufmerksamkeit von Faktoren fern zu halten, die das eigene Urteil verzerren könnten. Diese Fähigkeit der Selbstkontrolle beginne sich in früher Kindheit zu entwickeln – deutlich vor dem Erwerb der Moralisch-konventionell-Unterscheidung. Im Alter von 5 – 6 lernten Kinder, ihre Aufmerksamkeit zu kontrollieren, um Versuchungen zu widerstehen. In dem Alter, in dem sie den M/K-Test bestünden, begännen sie, die Fähigkeit zu entwickeln, Abstand zu ihren Präferenzen zu gewinnen, um sie zu bewerten und zu entscheiden, ob sie Handlungsgründe darstellten oder nicht. Die Fähigkeit zu rationaler Reflexion bzw. Selbstkontrolle ist zweifellos nicht nur für die Ausführung rationaler Entscheidungen wichtig, sondern auch für den rationalen Überlegungsprozess. Kennett zufolge resultiert die Schwäche der Psychopathen beim instrumentellen Überlegen zudem daraus, dass sie den Begriff des Zwecks nicht verstehen. Ohne diesen Begriff sind sie natürlich auch unfähig, die Formel des Kategorischen Imperativs zu verstehen, in der der Zweckbegriff vorkommt: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Kant 1786, 429; vgl. auch Kennett 2002). Wenn Kennett recht hat und die rationalen, emotionalen und moralischen Fähigkeiten sich tatsächlich parallel entwickeln, stehen Sentimentalismus und Rationalismus gleich gut da. Woher weiss man, ob Psychopathen beim M/K-Test wegen emotionaler oder rationaler Defizite versagen? Sie leiden unter Schwächen beider Art. Auch wenn die grundlegende Schwäche eine emotionale wäre, könnte der Rationalist das so interpretieren, dass der Mangel an Gefühlen einen rationalen Defekt verursacht; sie können dabei die rationalistische These aufrechterhalten, dass die Vernunft das moralische Urteil konstituiert. Auch Heidi Maibom weist darauf hin, dass Psychopathen oft gegen ihr eigenes Interesse handeln (vgl. Maibom 2005, 242). Ihrer Meinung nach resultieren die Probleme der Psychopathen hauptsächlich aus ihrer erheblich verminderten Aufmerksamkeitsspanne.
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From the perspective of practical rationality, a significantly narrowed attention span is going to cause problems not just in willing necessary and sufficient means to ends, but also in the coordination of the various specific intentions required to carry out an underlying intention, and in the calculation of the compatibility of foreseeable consequences with the underlying intention. (Maibom 2005, 244)⁸
Aber warum sollten Aufmerksamkeitsprobleme wie diese das moralische Urteil beeinträchtigen? Maibom weist Kennetts These zurück, die Psychopathen seien unfähig, einschlägige Formeln des Kategorischen Imperativs zu verstehen, weil ihnen der Begriff des Zwecks fehle. Ihrer Ansicht nach verstehen sie die relevanten Begriffe durchaus, sie seien jedoch unfähig, sie gemäß ihrer eigenen praktischen Überlegung anzuwenden. Their decision making is highly vulnerable to breakdown, but if the goal is exciting, the means for its attainment few and obvious, there are relatively few distractions, etc.,we should expect psychopaths’ reasoning abilities to be relatively good. (Maibom 2005, 245)
Dass Psychopathen so schlecht im praktischen Überlegen sind, liegt nach Maibom außerdem auch an ihrer extremen Egozentrik und der erheblichen Überschätzung ihrer Fähigkeiten, Intelligenz, Rechte und Bedeutung. Diese Mängel können Probleme bei der Anwendung des Universalisierungstests des Kategorischen Imperativs nach sich ziehen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant 1786, 421) Ihre Egozentrik könnte Psychopathen zur Meinung verleiten, ihre Handlungen seien einwandfrei, weil es einen Unterschied mache, dass sie sind, wer sie sind. Ihnen könnten nämlich Fehler bei der Generalisierung unterlaufen, indem sie beispielsweise nicht fragen, ob sie wollen können, dass jeder U-Bahn fährt, ohne zu bezahlen, sondern ob sie wollen können, dass jeder dies tut, der Peter Müller ist. Auch eine übersteigerte Selbsteinschätzung kann Fehler verursachen, indem sie Handlungen scheinbar legitimiert, von denen man nicht wollen kann, dass jeder sie vollzieht, wohl aber jede grandiose Person (vgl. Maibom 2005, 247).
Blair u. a. zufolge gibt es jedoch keine Beweise dafür, dass Psychopathen unter Aufmerksamkeitsproblemen leiden (vgl. Blair u. a. 2005, 63 ff.).
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5 Zurückweisung der Verteidigung des Rationalisten Diese Argumente können nicht überzeugen. Prüfen wir zunächst Kennetts These, Psychopathen verstünden den Begriff des Zweckes nicht. Als universelle These ist sie eindeutig falsch. Es ist bekannt, dass viele Psychopathen sehr geschickt darin sind, andere zu täuschen und zu manipulieren. Somit sind sie grundsätzlich fähig zu instrumentellem Denken. Die Fähigkeit zu rationaler Reflexion und Selbstkontrolle ist bei ihnen oftmals sogar vorzüglich ausgebildet. Ein paradigmatisches Beispiel ist Max, ein Psychopath, der von Cleckley untersucht wurde: One can truthfully say about him that he is bright as a dollar, smart as a whip, ‘that his mind is like a steel trap.’ His ability to plan and execute schemes to provide money for himself, to escape legal consequences, and to give, when desirable, the impression that he is, in the ordinary sense, mentally deranged, could be matched by few, if any, people whom I have known. (Cleckley 1988, 39)
Besonders wenn mehrere wichtige Faktoren im Spiel sind, haben Psychopathen allerdings Schwierigkeiten, sie angemessen zu beurteilen. Maibom schreibt das ihrer kurzen Aufmerksamkeitsspanne zu. Solch ein Defizit kann leicht zu Fehlern beim praktischen Überlegen und mangelnder Selbstkontrolle führen, wenn es darum geht, Entscheidungen auszuführen. Es ist jedoch wichtig, sich klarzumachen, dass diese Defizite nur die Ausführung rationaler Entscheidungen in besonderen Situationen affizieren, nicht die zugrundeliegenden rationalen Fähigkeiten selbst. Die Situation, in der die Subjekte sind, wenn sie den M/K-Test durchführen, ist nicht von dieser Art, da die Fragen sehr einfache Szenarien mit einer sehr eng begrenzten Menge an relevanten Faktoren betreffen, sodass eine kurze Aufmerksamkeitsspanne den Prozess nicht beeinträchtigt. Die Szenarien sind überdies nicht nur einfach, sondern auch abstrakt, insofern sie keine Probleme betreffen, in denen sich die Subjekte in ihrem eigenen Leben befinden. Cleckley berichtet, dass Psychopathen ganz normal funktionieren, wenn sie mit abstrakten Szenarien konfrontiert werden: Despite the extraordinarily poor judgment demonstrated in behavior, in the actual living of his life, the psychopath characteristically demonstrates unimpaired (sometimes excellent) judgment in appraising theoretical situations. In complex matters of judgment […], he also shows no evidence of a defect. So long as the test is verbal or otherwise abstract, so long as he is not a direct participant, he shows that he knows his way about. […] When the test of action comes to him we soon find ample evidence of his deficiency. (Ebd., 346)
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Da Psychopathen keine Probleme in abstrakten Kontexten haben, sollte man erwarten, dass sie den M/K-Test meistern, falls dazu allein rationale Fähigkeiten erforderlich wären. Dass sie scheitern, spricht für den Sentimentalismus. Was ist von Maiboms Behauptung zu halten, Egozentrik und eine übersteigerte Selbsteinschätzung störten die rationalen Fähigkeiten der Psychopathen? Egozentrik kann zu Generalisierungsfehlern führen, wie im Schwarzfahrerbeispiel deutlich wurde. Aber solche Fehler müssten sich leicht korrigieren lassen. Man brauchte den Psychopathen nur aufzufordern, einmal zu überlegen, ob er wollen könnte, dass alle schwarzfahren. Falls die Fähigkeit, diesen Test durchzuführen, dazu befähigen würde, den M/K-Test zu meistern, sollten Psychopathen damit keine Probleme haben.⁹ Außerdem sind die Fragen dieses Tests ohnehin bereits allgemein gehalten: „Wäre es in Ordnung, an den Haaren zu ziehen, falls der Lehrer es erlaubte?“, und nicht „Wäre es in Ordnung, dass du an den Haaren ziehst…?“. Wird so gefragt, dürfte der Generalisierungsfehler gar nicht erst auftreten. Was die übersteigerte Selbsteinschätzung betrifft, könnte es tatsächlich so sein, dass jemand, der sich für eine außerordentliche Person hält, so universalisiert, dass er sich scheinbar als moralisch unangreifbar erweist: „Da Genies sehr selten sind (höchst wahrscheinlich bin ich das einzige), kann ich durchaus wollen, dass alle Genies schwarzfahren und an den Haaren ziehen. Ich bin ein Genie, also darf ich das.“ Aber auch hier gilt, dass der M/K-Test nicht fragt, was Genies tun dürfen.¹⁰ Freilich könnte es sein, dass die Subjekte die Frage in dieser Weise interpretiert haben, sodass man, um hier jedes mögliche Missverständnis auszuräumen, den Test erneut durchführen und dabei versuchen müsste, diese Fehler auszuschalten. Ein anderes Problem für den Rationalisten besteht darin, dass schon Kinder im Alter von drei Jahren, darunter sogar Kinder mit dem Down Syndrom, zwischen moralischen und konventionellen Normen unterscheiden können (vgl. Smetana/ Braeges 1990). Die rationalen Fähigkeiten, die hierzu vonnöten sind, sind offenbar äußerst bescheiden, und das spricht dagegen, dass moralisches Urteilsvermögen auf rationalen Kompetenzen basiert (vgl. Maibom 2005, 248). Es dürfte dem Rationalisten schwer fallen, darzulegen, dass dreijährige Kinder mit dem Down
Freilich müsste man noch testen, ob Psychopathen immer noch versagen, nachdem man sie auffordert, den Verallgemeinerungstest korrekt durchzuführen. Nebenbei gesagt: Echte Genies wären durch den Universalisierungstest tatsächlich legitimiert, schwarzzufahren und an den Haaren zu ziehen (und vieles mehr). Das ist natürlich peinlich für den Kantianer (man spricht hier von „falsch-positiven Handlungen“, vgl. Schönecker/Wood 2007, 141). Der einzige Fehler des Psychopathen bestünde darin, dass seine Selbsteinschätzung, ein Genie zu sein, irrig ist.
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Syndrom in der Lage sind, rationale Überlegungen durchzuführen, an denen selbst die klügsten Psychopathen scheitern. Man erinnere sich, dass Cleckley den Psychopathen Max als „bright as a dollar, smart as a whip“ bezeichnete und ihm die Fähigkeit zuschrieb, komplizierte Manipulationspläne zu entwerfen (Cleckley 1988, 39). Wie könnte ein dreijähriges Kind mit Down Syndrom das überbieten? Maibom vermutet, dass Psychopathen wegen ihrer Egozentrik und ihrer übersteigerten Selbsteinschätzung versagen. Aber weisen Kinder diese Mängel nicht ebenfalls auf? Falls, ja, muss der Grund, weshalb sie erfolgreich sind, wo die Psychopathen versagen, auf einen anderen Faktor zurückführbar sein – mutmaßlich auf die Emotionen. Warum aber gelingt es den Psychopathen so schlecht, kluge Entscheidungen für ihr eigenes Leben zu treffen? Wenn es möglich wäre, diese Schwäche als Folge der emotionalen Defizite darzustellen, würde dies die Position des Sentimentalisten erheblich stärken. Und eine solche Erklärung ist nicht schwer zu finden. Jemand, der nicht in der Lage ist, die M/K-Unterscheidung zu treffen und z. B. Mord für kein schlimmeres Vergehen hält als bei Rot über die Ampel zu gehen, wird nicht so leicht erkennen, welches Risiko er eingeht, wenn er jemanden tötet. Tatsächlich sind Psychopathen normalerweise sehr überrascht, wenn sie erfahren, wie ernst andere ihre Taten nehmen. Beispielsweise bestand ein psychopathischer Mörder darauf, er sei unschuldig, da er eine saubere Wunde erzeugt habe, als er sein Opfer tötete (vgl. Prinz 2007, 43). Wenn jeder Maßstab der Gewichtung fehlt, kann es leicht geschehen, dass man schwere Verbrechen begeht, für die harte Strafen drohen.Was wie eine Unfähigkeit erscheint, Mittel-Zweck-Relationen zu erkennen (Kennett), erweist sich als das Unvermögen eines emotional ‚farbenblinden‘ Akteurs,¹¹ zu erkennen, was ein taugliches Mittel für einen gegebenen Zweck darstellt, wenn dies die Erkenntnis emotional fundierter moralischer Bewertungen anderer umfasst.¹² Man stelle sich vor, wie schwierig es für einen Farbenblinden wäre, geeignete Mittel für seine Ziele in einer Welt zu finden, in der die Informationen über Zweck-Mittel-Relationen farblich codiert wären! Psychopathen sind somit durchaus fähig, praktisch auf eine Art zu überlegen, die den Anforderungen an instrumentelle Rationalität entspricht. Zwar ist moralische Rationalität nach Ansicht mancher Rationalisten (etwa der Kantianer,
Cleckley vergleicht Psychopathie mit Farbenblindheit (vgl. Cleckley 1988, 40). „What I regard as the psychopath’s lack of insight shows up frequently and very impressively in his apparent assumption that the legal penalties for a crime he has committed do not, or should not, apply to him. This astonishing defect in realization often seems genuine, as the patient protests in surprise against the idea that prison might be anticipated for him, as for others under similar circumstances. He frequently reacts to such an idea as if to something unexpected and totally inappropriate“ (Cleckley 1988, 351).
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nicht aber der Kontraktualisten) nicht dasselbe wie instrumentelle Rationalität, aber moralische Rationalität erfordert den gängigen Konzepten der Non-Instrumentalisten zufolge keine anderen Fähigkeiten als die, die der instrumentellen Rationalität zugrunde liegen. So muss man, um die moralisch richtige Handlung zu bestimmen, Michael Smith zufolge prüfen, welche Wünsche man hätte, wäre man vollständig rational – und das impliziert, zu prüfen, wie unser WunschMeinungs-System maximal kohärent und einheitlich werden kann; zudem muss geprüft werden, ob alle rationalen Wunschsysteme konvergieren würden (vgl. Smith 1994). Dazu wäre ein Psychopath ebenso in der Lage wie emotional besser ausgestattete Menschen. Auch könnte er nicht nur die unterschiedlichen Formeln des Kantischen Kategorischen Imperativs anwenden, sondern – sofern sie erfolgreich wären – auch ihre Herleitungsversuche in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verstehen, da sie der Idee nach nur Fähigkeiten erfordern, die der Psychopath besitzt. Der Rationalist könnte nun allerdings behaupten, dass es gar nicht diese „gewöhnliche“, für das instrumentelle Denken erforderliche Rationalität sei, die uns in die Lage versetzt, moralisch zu urteilen, sondern eine „ungewöhnliche“, absolute Rationalität, welche zusätzliche oder gänzlich andere Fähigkeiten erfordert. Er könnte dann sagen, dass dem Psychopathen nicht allein Emotionen, sondern auch diese „ungewöhnliche“ Rationalität fehle, und dass er deshalb am M/K-Test scheitere. So behauptet Kant in der Kritik der praktischen Vernunft, dass die Gültigkeit des Kategorischen Imperativs ein „Faktum der Vernunft“ sei, ein Faktum, das nicht (mithilfe der „gewöhnlichen“ Vernunft) abgeleitet – „herausvernünftelt“ – wird, sondern „sich für sich selbst uns aufdrängt als synthetischer Satz a priori“.¹³ Der Psychopath, der zwar die Formeln des KI anwenden, aber ihre Pointe – ihren Bezug zur Rationalität – nicht einsehen kann, erweist sich demnach eben als partiell unvernünftig und deshalb als unfähig, den M/K-Test zu bestehen. Denn die Verfügbarkeit absoluter Rationalität würde ein Subjekt gewiss dazu befähigen, Normen die Eigenschaften zuzuerkennen, die dem M/K-Test zufolge „moralische“ Normen kennzeichnen. So gölten die absoluten Rationalitätsnormen universell, kategorisch und autoritätsunabhängig. Allerdings mutet solch ein Vernunft-Postulat doch wie ein verzweifelter Schritt an, motiviert allein durch die Einsicht, dass der KI sich nicht – wie zunächst (in der Grundlegung) versucht – mit den Mitteln der „gewöhnlichen“ Rationalität ableiten lässt. Können empirische Befunde vielleicht dazu beitragen, diesen Schritt noch
1788 §7 Anm. – Auch Kant hält die Annahme dieser Form von Rationalität für ungewöhnlich: „Die Sache ist befremdlich genug, und hat ihres gleichen in der ganzen übrigen praktischen Erkenntnis nicht“ (1788 §7 Anm.).
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unplausibler erscheinen zu lassen, als er Kritikern ohnehin immer schon erschien? Durchaus. Wie wir gesehen haben, können Kinder bereits sehr früh moralische Normen von konventionellen unterscheiden. Falls der Rationalist behauptet, dass dieser Unterscheidungsfähigkeit die von ihm postulierte rationale Kompetenz zugrunde liegt, drängt sich die Frage auf, wieso sich genau gleichzeitig mit der Rationalität bestimmte emotionale Dispositionen entwickeln, die alleine sehr gut die Fähigkeit, den M/K-Test zu bestehen, erklären können. Sie können dies sogar viel besser als der Rekurs auf die postulierte Vernunft – jedenfalls wenn man die Vernunft inhaltlich so versteht, wie Kant es vorgeschlagen hat. Die unterschiedlichen KITestverfahren ziehen die Grenze der Moral nämlich anders als die Alltagsmoral, während die Grenze der Alltagsmoral recht gut im Rekurs auf die einschlägigen Gefühle erklärt werden kann. Man denke nur an das Beispiel des Kindes, das in einem See zu ertrinken droht und nur gerettet werden kann, indem ein Mann, der den einzigen Zugang zum See versperrt, gegen seinen Willen aus dem Weg geschoben wird. Da er ohne Zustimmung instrumentalisiert würde, verbietet die Zweckformel die Rettungsaktion, was alltagsmoralisch absurd anmutet. Natürlich könnte Kant sich geirrt haben und die absolute Rationalitätsnorm hat tatsächlich eine andere Form. Bestenfalls decken sich die rationalen Forderungen dann tatsächlich mit denen der Alltagsmoral. Dann aber wäre diese Norm explanatorisch eigentlich redundant, da die Gefühle schon die ganze Arbeit leisteten – und deren Existenz steht fest. Dennoch könnte es sein, dass die Norm als „Faktum der Vernunft“ existiert und die Alltagsmoral doppelt erklärbar ist. Aber wie plausibel wäre es dann noch, die Existenz dieser Norm anzunehmen, und nicht vielmehr zu vermuten, dass diese Annahme auf einer Fehldeutung unserer emotionalen Ausstattung beruht? Statt mit einem Faktum der Vernunft hätte man es mit dem Faktum zu tun, dass wir bestimmte emotionale Dispositionen haben. Als Schluss auf die beste Erklärung könnte der Kantianer sein Postulat jedenfalls nicht deklarieren. Außerdem variieren die Alltagsurteile zwischen kulturellen Gruppen und auch zwischen Subjekten innerhalb der Gruppen. Das lässt sich sehr gut damit erklären, dass sich die emotionalen Repertoires unterscheiden; nicht hingegen durch Verweis auf die reine Vernunft, die ex hypothesi immer gleich ist.¹⁴ Der Kantianer könnte nun sagen, dass die absolute Vernunft zwar durchaus bestimmte kategorische, autoritätsunabhängige etc. Normen hervorbringt, unsere faktische Performance im M/K-Test aber gar nicht beeinflusst. Der Nachweis ex-
Für zahlreiche Beispiele, die für den empirischen Relativismus sprechen, vgl. Prinz 2007, Kap. 5.
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planatorischer Leistungsfähigkeit qua Schluss auf die beste Erklärung sei nicht erforderlich, da die Vernünftigkeit dieser Normen direkt einsichtig sei; Kant zufolge drängt sich uns dies unmittelbar auf. Doch nun steht der Kantianer vor einem Dilemma. Entweder decken sich die absoluten Normen mit den Alltagsurteilen, oder sie weichen ab. Wenn sie sich decken, besteht die genannte Merkwürdigkeit der doppelten Erklärbarkeit, wobei von der einen – sentimentalistischen – Erklärung sicher ist, dass sie greift, während erhebliche Zweifel bezüglich der Existenz der absoluten Rationalität bestehen. Oder die Normen weichen voneinander ab; dann fragt sich, wieso die absolute Rationalität die faktischen Urteilsprozesse im Alltag nicht zumindest teilweise prägt. Liegt es daran, dass es sehr schwierig ist, herauszufinden, welche Handlung tatsächlich absolut rational ist, ja ist es womöglich noch gar nicht gelungen, das relevante normative Prinzip (den KI) korrekt zu formulieren? Dann aber fragt sich, worauf sich die Annahme gründet, dieses Prinzip bzw. die absolute praktische Rationalität existiere überhaupt. Evident wäre das – Kant zum Trotz – dann jedenfalls nicht, und zur Erklärung des faktischen praktischen Urteilens bedürfte man ihrer auch nicht. Wozu aber dann? Müsste der Sentimentalist somit nur noch noch einige Experimente durchführen, um seine Sache wasserdicht zu machen? Lässt sich der Disput zwischen Sentimentalisten und Rationalisten bezüglich der Frage, welche Fähigkeiten unsere faktischen moralischen Urteile im Alltag erklären, prinzipiell empirisch entscheiden? Ja: Da es sich um eine empirische Frage handelt, muss sie grundsätzlich auch empirisch zu klären sein.
6 Folgen für die Normative Ethik Im Folgenden werde ich untersuchen, was aus den empirischen Befunden für rationalistische normative Ethiken folgt. Zunächst einmal hat sich nur erwiesen, dass der Rationalismus als empirische Theorie, als Theorie darüber, was psychisch geschieht, wenn die Menschen faktisch im Alltag moralisch urteilen, wahrscheinlich falsch ist. Aber warum sollte dies einen Rationalisten beunruhigen, der aller Ambitionen auf dem Gebiet der empirischen Moralpsychologie und Ethnologie entsagt und stattdessen versucht, eine normative Ethik von Grund auf durch rationale Reflexion zu entwickeln? Peter Singer beispielsweise ist bereit, sich von allen moralischen Alltagsintuitionen zu verabschieden, um dem zu folgen, was die Vernunft als richtig erweist (vgl. Singer 2005, 345 f). Warum sollte normative Ethik nicht revisionär sein – warum sollte sie unsere Alltagsmoral nicht verfeinern und verbessern?
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6.1 Folgen für den Kontraktualismus Betrachten wir zunächst den Kontraktualismus. Er nimmt an, dass moralische Normen soziale Artefakte sind, die aus rationalen Übereinkünften hervorgehen. Rationalität ist hier nicht in einem besonderen, absoluten Sinne zu verstehen, wie beim Kantianismus, sondern in einem gewöhnlichen, instrumentellen Sinne. Die Normen resultieren aus den kontingenten Präferenzen der Subjekte. Peter Stemmer zufolge ist eine moralische Norm eine Norm, von der jeder innerhalb einer moralischen Gemeinschaft Grund hat, zu wollen, dass sie durch sozialen Druck sanktioniert wird (vgl. Stemmer 2000). Zur moralischen Gemeinschaft gehört, wer sanktionieren kann. Die Mitglieder kommen überein – oder haben Grund, übereinzukommen –, dass jeder, der die Norm verletzt, sanktioniert wird. Die Informalität der Sanktionen und die Tatsache, dass die Übereinkunft möglicherweise nur hypothetisch ist, unterscheidet moralische von juridischen Normen, welche in wohldefinierten Rechtsprozessen entstehen, die durch den Staat sanktioniert werden und in Rechtsdokumenten explizit fixiert sind. Was der Kontraktualist als moralische Norm bezeichnet, würde der M/K-Test anders qualifizieren. Zwar passt der Begriff „Konvention“ nicht, als eine moralische Norm jedoch würde sie keinesfalls gelten. Die Unterscheidung zwischen moralischen und konventionellen Normen ist nicht erschöpfend. Kontraktualistische Normen sind eine Spezies der instrumentellen Normen, man muss sie um des Eigeninteresses willen befolgen. Konventionen sind hingegen kategorische Normen, sie teilen jedoch mit den kontraktualistischen Normen die Eigenschaft, nicht generalisierbar und (sofern die Normproponenten sanktionsfähig und -willig sind) autoritätsabhängig zu sein. Es ist möglich, dass es anderswo für alle Beteiligten rational wäre, andere Normen zu sanktionieren. Falls die Autoritäten – die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft – übereinkämen, die Normen als obsolet zu betrachten, so wären sie obsolet. Wir können die kontraktualistischen Normen somit den nicht-moralischen (und insofern) konventionellen Normen im Sinne des M/K-Tests zuordnen. Der Kontraktualist kann nun durchaus zugeben, dass das, was er als moralische Normen betrachtet, konventionelle Normen (im Sinne des M/K-Tests) sind, er würde jedoch leugnen, dass die Moral einen Gegensatz zu den Konventionen bildet. Er hält sie für eine Spezies des Konventionellen. Er würde mithin dem ganzen Projekt, das sich mit dem M/K-Test verbindet, begriffliche Verwirrung vorwerfen. Der Kontraktualist meint, dass es eine Petitio principii darstellt, das Moralische vom Konventionellen so zu trennen, dass kontraktualistische Normen nicht als moralische Normen verstanden werden können.
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Dieser Einwand macht es notwendig, den M/K-Test erneut unter die Lupe zu nehmen. Kann die hier zugrunde liegende begriffliche Trennung aufrechterhalten werden? Kann der Vorwurf, hier liege eine Petitio vor, zurückgewiesen werden? Durchaus. Zunächst einmal ist es einfach eine empirische Tatsache, dass Menschen zwischen Normen hinsichtlich der unterschiedlichen Parameter wie Autoritätsabhängigkeit und Generalisierbarkeit unterscheiden. Die Menschen weisen einigen sozialen Normen einen besonderen Status zu, je nachdem, wie sie im Lichte dieser Parameter beurteilt werden. Es spielt keine Rolle, welches Etikett man diesen Normen zuweist. Wichtig ist, dass diese Spezies von sozialen Normen existiert. ¹⁵ Dass sie existiert, und dass sie durch Gefühle konstituiert wird, sind empirische Tatsachen. Die Menschen nehmen diese Normen sehr ernst – viel ernster als die konventionellen. Nennen wir diese Normen ruhig „moralische Normen“. Natürlich kann auch der Kontraktualist seine Normen nennen, wie es ihm beliebt. Mag er sie also ruhig ebenfalls als „moralische Normen“ bezeichnen. Es erweist sich aber, dass die Normen, die er im Sinne hat – nennen wir sie moralischek Normen – nicht die formalen Eigenschaften haben, die sie zu moralischen Normen im Sinne des M/K-Tests machen würden – nennen wir sie moralischee Normen („e“ für „emotional fundiert“). Was den Inhalt der beiden Formen moralischer Normen betrifft, so sind die k-Normen eine Teilmenge der e-Normen.¹⁶ Der Kontraktualismus enthält – sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind – das Verbot von Mord, er beschränkt es aber auf die Grenzen der moralischen Gemeinschaft, und die ist erheblich kleiner als die Gruppe der fühlenden Wesen oder der Menschen oder der Personen, da die Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft, dem Kontraktualismus zufolge, vom Drohpotential der Subjekte abhängt. Die sentimentalistische Alltagsmoral dehnt den Schutz der Moral viel weiter aus, da wir Mitleid auch mit Wesen ohne Drohpotential haben. Den Kontraktualisten beunruhigt dieser Befund natürlich nicht. Er ist an der Alltagsmoral nicht interessiert, er hat keine Ambitionen, als Ethnologe zu glänzen. Sein Ziel ist es, Normen rational zu begründen, und er hält die Alltagsmoral teilweise für (nach seinen Maßstäben) unbegründet. Er mag die Nachricht, dass die Alltagsmoral auf Gefühlen basiert, sogar begrüßen. Eine sentimentalistische Moral pflegen Rationalisten als unverbindlich anzusehen, ja sogar als „normativen Müll“:
Dies ist nicht nur in dem deskriptiven Sinne gemeint, dass es Proponenten dieser Normen gibt, sondern in dem normativen Sinne, der sich aus der Proponentenperspektive ergibt: Aus Sicht der Proponenten gelten diese Normen, sie sind verbindlich. Allerdings gilt das nur unter bestimmten empirischen Bedingungen.
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Why can’t deontologists [like the contractarians; J.S.] embrace the emotive foundations of their judgments? The answer […] is GIGO [garbage in, garbage out; J.S.]. Kant was opposed to emotion-based morality because emotions are fickle and contingent in oh-so-many ways. About that, he was right. (Greene 2008, 117)
Emotionen sind in der Tat flatterhaft und kontingent, und deshalb scheinen sie ungeeignet zu sein, moralische Normen zu fundieren, da als ein Kennzeichen moralischer Normen ihre Generalisierbarkeit und ihr universalistischer Skopus gilt. Aber die Spannung zwischen Flatterhaftigkeit und Generalisierbarkeit besteht nur zum Schein, denn Generalisierbarkeit ist eine Eigenschaft des Inhalts moralischer Normen, während Flatterhaftigkeit eine Eigenschaft des die Normen fundierenden Faktors ist. Inkohärent wäre es, wenn die Flatterhaftigkeit den Norminhalt affizieren würde, wie in „Niemand, was auch immer er wollen möge, darf Katzen zum Spaß foltern – außer ihm ist danach!“ Aber so ist es ja nicht. Wie Nichols darlegt, kann der Sentimentalist sehr wohl erklären, warum moralische Normen generalisierbar sind: Menschen betrachten Normen, die affektiv unterfüttert sind, als generalisierbar (vgl. Nichols 2004, 23 f). Flatterhaftigkeit des die Normen fundierenden Faktors heißt: Nur wenn man die relevanten Gefühle verspürt,¹⁷ spricht man den Normen eine generelle Gültigkeit zu etc. Es heißt hingegen nicht, dass nur diejenigen, die entsprechende Emotionen haben, Adressaten der Normen sind. Freilich mag der Kontraktualist zeigen können, dass Normen existieren, deren Sanktionierung im Interesse aller Mitglieder einer Gruppe sind und die tatsächlich sanktioniert werden, und er mag diese Normen moralische Normen nennen. Diese Normen – die k-Normen – fallen im M/K-Test auf die Seite der konventionellen Normen. Der Umstand, dass k-Normen rational begründet sind, schließt nicht aus, dass Normen auf der anderen, moralischene Seite der moralisch-konventionellUnterscheidung existieren, Normen, die durch Emotionen konstituiert werden. Für die Menschen – sofern sie nicht z. B. Psychopathen sind – haben diese e‐Normen eine große Bedeutung. Mit ihnen verknüpfen sich universelle, die Grenzen der kontraktualistischen Gemeinschaft weit überschreitende Forderungen, da die Normen ja als generalisierbar betrachtet werden. Es sind diese Normen, die bewirken, dass Handlungen mit Empörung quittiert werden, falls Normadressaten sie verletzen, während kontraktualistische Normen mit dem Affekt der Empörung nichts zu tun haben (vgl. Stemmer 2000, 139). Nur wenn man auch meint, dass man – faktische oder hypothetische – Vereinbarungen in einem Sinne halten muss, der über die instrumentelle Normativität der kontraktualisti-
Allerdings müssen die Gefühle wohl nicht zu jedem Zeitpunkt des moralischen Urteilens präsent sein, sondern nur häufig genug, wie Nichols vermutet (vgl. 2004, 28 f.).
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schen Normen hinaus geht, wird man sich empören, ansonsten würde man einfach kühlen Kopfes die Sanktion verhängen. Wird man auf diese moralischen Gefühle – Empörung und Schuld – aufmerksam und macht sich klar, dass der Kontraktualismus ihnen keine Bedeutung beimisst, erkennt man, wie verschieden die kontraktualistische Normativität von der besonderen praktischen Normativität ist, die der M/K-Test als moralische Normativität fasst. Die Konsequenzen, die der Sieg des Sentimentalismus als empirischer Theorie für den Kontraktualismus hat, sind nun folgende: Der Kontraktualist kann die moralische Normativität sentimentalistischer Regeln nicht entkräften. Die e‐Normen existieren; auch mögen Normen existieren, deren Sanktionierung sich alle Mitglieder einer Gemeinschaft zu wünschen Grund haben und die entsprechend sanktioniert sind. Es kann nun zu Konflikten kommen: Der Kontraktualismus könnte etwa sadistische Tierquälerei oder die Ausbeutung Machtloser erlauben, während die sentimentalistische Moral dies verbietet. Unter dem Strich sind diese Handlungen dann verboten. In anderen Fällen stimmen k- und e‐Normen überein. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen e-Normen etwas fordern oder erlauben, was k-Normen verbieten. So könnte sich jemand aufgrund seiner e‐Moral aufgerufen fühlen, andere gewaltsam daran zu hindern, Machtlose auszubeuten oder Tiere sadistisch zu quälen. Er wird sich davon, dass die anderen kontraktualistisch gerechtfertigt wären, ihn sozial zu sanktionieren, vielleicht insofern beeindrucken lassen, als Sanktionen natürlich immer beeindruckend sind. Dennoch wird es ihn auf eine andere Weise nicht beeindrucken. Er wird sich nicht schuldig fühlen, wenn er die Tat ausführt, aber vielleicht, wenn er sie unterlässt; sie bleibt für ihn moralische erlaubt oder geboten. Nur für Psychopathen schöpft die k-Moral das Moralische aus. Der Kontraktualismus als die (einzige) Moral der Psychopathen – das wirft kein besonders gutes Licht auf diese Ethik.
6.2 Folgen für den Kantianismus Das Problem des Kontraktualismus ist nicht, dass die kontraktualistischen Normen nicht existieren. Sofern bei Verstoß gegen bestimmte Regeln Sanktionen drohen, die von allen auch gewollt werden, gibt es sie. Das Problem ist die Reichweite dieser Normen (zu gering) und ihr Status (rein instrumentell – keine Verbindung zu den morale-spezifischen Gefühlen Schuld und Empörung). Das ist beim Kantianismus anders. Unter metaethischem Kantianismus verstehe ich die These, dass moralische Normen rationale Normen sind, wobei hier nicht instrumentelle, sondern absolute Rationalität einschlägig ist. Unter normativem Kantianismus verstehe ich die These, dass der Kategorische Imperativ bestimmt, was moralisch richtig und falsch ist.Was ist vom Kantianismus als einem revisionären
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Projekt zu halten, einem Projekt also, das nicht beansprucht, den Inhalt der Alltagsmoral auszubuchstabieren, sondern das die Alltagsmoral durch eine rationale Alternative ersetzen möchte? Könnte es nicht einen Korpus von Normen geben, die zu verletzen irrational (im absoluten Sinne) wäre? Kandidaten wären u. a. die Verbote zu lügen, Versprechen zu brechen, unschuldige Menschen in Friedenszeiten zu töten und sie ohne ihre Zustimmung zu instrumentalisieren. Sicherlich würden die Forderungen dieser Normen in vielen Fällen mit der Alltagsmoral konfligieren, wie im notorischen Fall des SS-Schergen, der an einer Tür klingelt und fragt, ob sich in der Wohnung Juden befänden. Dem Kantianismus zufolge darf jemand, der Juden versteckt, hier nicht lügen, er muss somit die hilflosen Juden ausliefern, auch wenn das ihren sicheren Tod bedeutet.¹⁸ Die Alltagsmoral erlaubt es, in solchen Situationen zu lügen. Was würde jemand, der entsprechende Gefühle hat, von der kantianischen Forderung, auch in solchen Situationen nicht zu lügen, halten? Würde er dies noch als eine moralisch legitime Forderung betrachten können? Kaum, wie Gill und Nichols konstatieren: The evidence suggests that if the influence of emotion is eliminated, one’s pattern of moral judgment will be incongruous or bizarre to commonsense – one’s pattern of moral judgment will look to be not merely a refinement or revision of commonsense morality but a very different thing altogether. (Gill/Nichols 2008, 152)
Aber könnten wir diesen rationalen Normen nicht ein gewisses Gewicht zubilligen, auch wenn sie unabhängig von der Alltagsmoral sind und häufig in Konflikt mit ihr stehen? Auch instrumentelle (prudentielle) Rationalität hat Gewicht unabhängig von der Moral. Warum sollte absolute Rationalität nicht auch Gewicht haben? Grundsätzlich ist das durchaus möglich. Aber existiert absolute praktische Rationalität? Das ist natürlich immer wieder bezweifelt worden. Dieser Zweifel bekommt jedoch zusätzlichen Nachdruck, wenn man sich klar macht, dass diejenigen, die in besonderer Weise prädestiniert sein müssten, die absoluten Rationalitätsnormen zu erkennen, die Psychopathen sind, da sie am wenigsten von Gefühlen abgelenkt werden. Freilich wissen die Psychopathen nichts von diesen Normen, und auch dann, wenn man ihre Aufmerksamkeit auf den Kategorischen
Man mag bestreiten wollen, dass der KI tatsächlich ausnahmslos verbietet, „aus Menschenliebe zu lügen“ (Kant). Es gibt jedoch bekanntlich noch zahlreiche andere Beispiele, bei denen das, was der KI verbietet oder erlaubt, stark von den Alltagsurteilen abweicht; die sog. „falsch-positiven“ und „falsch-negativen Handlungen“ sind Legion (vgl. Schönecker/Wood 2007, 141).
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Imperativ lenkte, in dem sich angeblich diese Rationalität kristallisiert, sähen sie keinen Grund, den Normen, die den KI-Test bestehen, Gewicht beizumessen.¹⁹ Die Frage, ob eine Handlung im absoluten Sinne praktisch rational ist, ist jedoch keine empirische Frage. Dem Rationalisten steht deshalb immer eine Option offen. Er kann einfach ein Argument oder einen Satz als rational deklarieren und dann behaupten, dass derjenige, der das nicht einsieht, ein Rationalitätsdefizit hat. Da diese Denkfigur im Kern eine normative Frage – die Frage, was rational ist – betrifft, kann sie durch empirische Befunde nicht ausgehebelt werden.²⁰ Der Kantianer kann deshalb behaupten, die moralische Rationalität habe mit dem moralischen Urteilen im Alltag gar nichts zu tun. Das Auftreten solchen Urteilens könne durchaus sentimentalistisch erklärbar sein; es sei jedoch in dem Maße, in dem es von der rationalen Moral abweiche, irrig und revisionsbedürftig. Die Behauptung, es gebe in einem absoluten Sinne rationale Normen, lässt sich durch empirische Befunde zwar nicht widerlegen. Aber man sollte sie nicht ohne gute Gründe akzeptieren. Kant hat zwar gemeint, dass das Faktum der Vernunft geradezu evident sei, und das wäre ein guter Grund, doch so scheint es sich nicht zu verhalten. Den KI in der von Kant vorgeschlagenen Form vertritt heute kaum jemand. Kantianer haben immer wieder neue Prinzipien ins Spiel gebracht; evident scheint dieses Prinzip somit nicht gerade zu sein. Natürlich könnte es sein, dass (fast) alle Menschen faktisch unfähig sind, zu erkennen, was absolut rational ist. Aber warum sollte man dann annehmen, dass absolute Rationalität überhaupt existiert? Sollten Menschen hingegen im Normalfall diese Rationalität erkennen können, sollte sie auch Spuren im faktischen Urteilen hinterlassen. Ob es so ist, ist eine empirische Frage. Da die Antwort offenbar „nein“ lautet, setzt die empirische Moralpsychologie den Kantianismus erheblich unter Druck. Klarerweise stünde der Kantianismus sehr viel besser da, falls der empirische Rationalismus wahr wäre. Man könnte dann sagen, dass Alltagsurteile auf eine manchmal verworrene, unbeholfene Weise rationale Standards zugrunde legen, und dass die rationalistische Ethik diese oft fehlerhaften Alltagsurteile nach ihren eigenen impliziten, nun aber besser verstandenen, explizit gemachten Maßstäben korrigiert. Doch nehmen wir einmal an, Normen der absoluten Rationalität existierten tatsächlich und Menschen könnten sie auch erkennen. Auch dann erwiese sich die Empirie als bedrohlich für den Kantianismus. Was sich empirisch zeigen lässt, ist, dass der Mensch normalerweise mit einem sentimentalistisch fundierten nor-
Zugegebenermaßen ist diese These spekulativ, da meines Wissens solche Tests nie durchgeführt wurden. Es wäre aber doch sehr überraschend, wenn sie sich als falsch erwiese. Ich danke Christoph Fehige für hilfreiche Diskussionen zu diesem Punkt.
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mativen System ausgestattet ist, und dass dieses System besondere Merkmale hat. Es umfasst Normen, denen eine universelle, kategorische Gültigkeit beigemessen wird und die im Subjekt mit typischen Affekten verbunden sind: unter anderem Affekten der Schuld beim eigenen Normenverstoß, und Affekten der Empörung, wenn andere die Normen verletzen.²¹ Die These des Rationalisten soll nun sein, dass es neben diesem Normensystem ein zweites System gibt, dessen Normen ebenfalls universelle Geltung beanspruchen, wenn auch aus anderen Gründen: Gründen der Rationalität. Möglicherweise wird er zudem behaupten, dass auch diese Normen mit den relevanten Emotionen (Empörung; Schuld) verbunden sind.²² Die Existenz dieses Normensystems würde die sentimentalistischen Normen jedoch nicht ungültig machen – ebenso wenig wie die Existenz instrumentell begründeter kontraktualistischer Normen sentimentalistische Normen ungültig machte. Da die sentimentalistischen Normen nicht auf Vernunftgründen basieren, können sie auch nicht durch Vernunftgründe widerlegt werden. Das Gleiche gilt freilich auch umgekehrt. So könnte sich eine sentimentalistische Norm als irrational erweisen, und eine rationale Norm könnte empörend sein.Welches Gewicht der Rationalität beizumessen ist, ob ein Subjekt einer rationalen Norm folgen sollte, auch wenn es dies als empörend empfände und sich damit Schuldgefühle einhandelte, hängt vom einschlägigen Rationalitätskonzept ab. Bezüglich der kontraktualistischen Normen ist grundsätzlich klar, wie hier zu gewichten ist, da das Gewicht der rationalen Normen von der Bedrohlichkeit der Sanktionen, d. h. von der Stärke der involvierten Interessen abhängt. Es ist jedoch solange unklar, wie schwer es wiegt, etwa gegen den Kategorischen Imperativ zu verstoßen, wie unklar ist, worin genau dessen rationale Pointe liegt. Der empirische Befund, dass der Mensch normalerweise mit einem sentimentalistisch fundierten Normensystem ausgestattet ist und dass dieses System mit den gemeinhin „moralisch“ genannten Emotionen (Empörung, Schuld) verbunden ist, lässt das rationalistische Normensystem jedenfalls schwächer erscheinen, als es der Fall wäre, wenn dieses System – wie gemeinhin von Rationalisten angenommen – allen diesen Emotionen (wenn auch vielleicht auf eine verworrene Weise) zugrunde läge. Eine rationale
Differenziertere Analysen der moralischen Emotionen finden sich bei Shweder u. a. 1997; Prinz 2006, 34. Es ist unklar, ob und inwiefern ein Verstoß gegen rationale Normen im kantischen Sinne – im Unterschied zu den instrumentell-kontraktualistischen Normen – grundsätzlich mit Schuld bzw. Empörung einhergeht. Im Alltag gelten Rationalitätsfehler kaum als empörend; vielmehr hat man hier Scham bzw. Mitleid. Wer irrational ist, ist eher dumm als böse. Wallace z. B. meint jedoch, dass eine kantische Moral mit diesen moralischen Emotionen verbunden sein kann (vgl. Wallace 1998, 14; Kap. 2.3).
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Handlung könnte nun nämlich durchaus empörend sein, etwa falls es tatsächlich im absoluten Sinne irrational wäre, den SS-Schergen bezüglich des Aufenthalts der versteckten Juden anzulügen.
6.3 Folgen für den Utilitarismus Der Utilitarismus passt besser zu einer sentimentalistischen Moralpsychologie und Metaethik, da er auf das Wohlergehen fokussiert, auf einen Faktor also, der uns emotional berührt.²³ Viele Utilitaristen sind jedoch moralische Rationalisten, so etwa Peter Singer: Reason makes it possible to see ourselves in this way because, by thinking about my place in the world, I am able to see that I am just one being among others, with interests and desires like others. I have a personal perspective on the world, from which my interests are at the front and center of the stage. […] But reason enables me to see that others have similarly subjective perspectives, and that from ‘the point of view of the universe’ my perspective is no more privileged than theirs. Thus my ability to reason shows me the possibility of detaching myself from my own perspective and shows me what the universe might look like if I had no personal perspective. (Singer 1993, 229)
Wie Nichols bemerkt, handelt es sich hier keinesfalls um ein rationales Argument zugunsten einer unparteiischen Sichtweise, sondern um ein non sequitur: From the perspective of the universe, it’s not rational to privilege my own perspective; but how do I get from that fact to the conclusion that I shouldn’t privilege my own perspective? (Nichols (im Erscheinen), 6, Hervorhebung von mir)
Wie lässt sich der Utilitarismus begründen? Manche Philosophen – z. B. Hutcheson – meinen: sentimentalistisch.²⁴ Wenn ein Subjekt in einer universalistischen und egalitären Weise mitleidig wäre, wenn es also mit allen leidensfähigen Wesen im gleichen Maße Mitleid hätte, käme dies einer Akzeptanz des Nutzenmaximierungsprinzips (bzw. des Leidensminimierungsprinzips, also des Negativen Utilitarismus) gleich. Dass es sich so verhält, wird allerdings vielfach bezweifelt. Schon Hume vertrat die Ansicht, dass die altruistischen Affekte recht parteiisch seien (Hume 1978, 418). Dies passt zur Alltagsmoral, die die starken Hilfspflichten des Utilitarismus ablehnt. Wenn Michael Slote recht hat, sind die Nicht allein auf Wohlergehen jedoch reagieren wir emotional. Hinzu kommen Aspekte wie Wohlergehensrelationen (Gleichheit) und moralische Normverletzungen (retributive Affekte), vgl. Schälike 2009b; 2011; 2012; Nichols 2010. Vgl. Hutcheson 1725; vgl. auch Fehige/Frank 2010, Abschn. 5.
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Emotionen zudem Tun/Unterlassen-sensitiv und folgen Verboten und Erlaubnissen, wie man sie in deontologischen Ethiken findet, nicht aber in konsequentialistischen wie dem Utilitarismus (vgl. Slote 2007, Kap. 3). Möglicherweise ändert sich das Bild jedoch, wenn man nicht aktuelle, sondern kontrafaktische informierte Emotionen bzw. emotionale Dispositionen zugrunde legt.²⁵ Ansonsten wäre der Utilitarismus tatsächlich ungeeignet als Rekonstruktion des moralischen Urteils im Alltag, das offenbar sentimentalistisch fundiert ist. Dennoch könnte er sich als rational begründet erweisen. Bisherige Versuche wie der genannte von Singer haben sich zwar als irrig erwiesen, aber dennoch könnte das Nutzenmaximierungsprinzip z. B. ein „Faktum der Vernunft“ sein. Mit dieser Annahme sind jedoch dieselben Probleme wie mit dem Kantianismus verbunden. Fraglich wäre zunächst, was für die Annahme einer entsprechenden Vernunftbegründung spräche, zumal in Anbetracht explanatorischer Redundanz. Auch könnten die (ex hypothesi) rationalen Normen des Utilitarismus mit den sentimentalistischen, mit Schuld und Empörung verbundenen Normen konfligieren, was ihr Gewicht schwächen würde.
7 Fazit Weil sich normative Fragen grundsätzlich nicht empirisch klären lassen, können auch die empirischen Befunde der Entwicklungspsychologie und Psychiatrie den normativen Rationalismus nicht widerlegen. Sie lassen ihn aber als moraltheoretische Option sehr viel weniger attraktiv erscheinen. Was den Kontraktualismus betrifft, so existieren die von ihm behaupteten Normen unter bestimmten Bedingungen zwar tatsächlich. Sie haben jedoch inhaltlich (zu enger Skopus) und strukturell (keine Verbindung zu moralischen Emotionen wie Schuld und Empörung) nicht viel mit dem zu tun, was man im Alltag als Moral bezeichnet, und sie stehen zudem – unabhängig vom MoralEtikett – in Konkurrenz zu einem emotional fundierten, mit Schuld und Empörung verbundenen Normensystem, das ebenfalls zweifelsfrei existiert und dem die Menschen erhebliches Gewicht beimessen. Kantianismus und Utilitarismus scheinen ungeeignet, die moralischen Urteile im Alltag zu erklären. Psychopathen halten die vorgeschlagenen vermeintlich rationalen Prinzipien für bedeutungslos, obgleich sie über „gewöhnliche“ Rationalität durchaus verfügen. Basieren diese normativen Ethiken auf „unge-
Vgl. Fehige 2004 (universell-egalitäre Empathie a priori); Schälike 2009a (universell-egalitäres Wohlwollen a posteriori).
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wöhnlicher“, den Psychopathen verschlossener Rationalität? Dann sollte diese Rationalität Spuren in den normativen Alltagsurteilen der nicht-psychopathischen Menschen hinterlassen, was aber nicht der Fall ist. Das faktische Urteilen scheint sehr gut und vollständig sentimentalistisch analysierbar zu sein. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Kantianismus und Utilitarismus rational begründbar sind. Es spricht aber nichts für die Annahme, dass sie es tatsächlich sind.
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Wollen
Rainer Paris
Blockiertes Wollen Aspekte einer Theorie der Ratlosigkeit Ratlosigkeit ist eine elementare Erfahrung. Sie gehört zum Leben. Als handelnde Subjekte bedürfen Menschen der Orientierung, und wo diese ihnen abhanden kommt, verfallen sie in Ratlosigkeit. Dabei gibt es sicher stärkere und schwächere Ausprägungen dieses Gefühls; immer aber bedarf es einer gewissen Intensität, einer quasi-existenziellen Aufladung des Empfindens und der Situation, in der Wichtiges, genauer: für ihre Person Wichtiges, auf dem Spiel steht.Wo sie in ihrem Handlungsfluss nur kurzzeitig unterbrochen und momentan unschlüssig sind, wollen wir nicht von Ratlosigkeit sprechen. Auch der einfach nur Informationsbedürftige, der eine Beratung aufsucht, ist in einem solchen Verständnis nicht ratlos. Es ist dieser Begriff von Ratlosigkeit, auf den sich die vorliegende Studie konzentriert. Wenn Menschen andere um Rat fragen, konstituiert dies eine vielschichtige soziale Beziehung. Ratlos der eine, (hoffentlich) ratkompetent der andere. Ratlosigkeit ist Abwesenheit von Rat. Weil er selbst nicht mehr weiter weiß, erwartet der Ratlose kognitive Orientierung und Hilfestellung vom anderen. Er setzt damit voraus, dass der andere über jene Kompetenzen verfügt, derer er selbst entbehrt. Aber auch umgekehrt: Wer einem anderen einen Rat gibt oder gar aufdrängt, unterstellt ihn als ratlos und unfähig, seine Probleme selber zu lösen. Nicht selten wird deshalb der Rat auch als Affront oder Brüskierung verstanden und mehr oder minder scharf zurückgewiesen. Doch wie immer die Geschichte am Ende ausgehen mag – in jedem Fall sind Rat und Ratlosigkeit begrifflich miteinander verschränkt und bedingen sich wechselseitig. Die Untersuchung der Ratlosigkeit hat daher in der Strukturanalyse des Ratschlags einen sinnvollen Ausgangspunkt.¹
1 Rat und Ratlosigkeit Die im Handlungsmuster des Ratschlags einprogrammierte Asymmetrie hat mehrere Dimensionen. Sie betrifft nicht nur die binäre Aufspaltung von Kompetenz und Inkompetenz, sondern auch die Modi der Zeitlichkeit, die personale Zurechnung des Problems und das Ausmaß emotionaler Involviertheit. Während der Ratlose häufig unter Zeit- und Handlungsdruck steht und deshalb stark ge Ich schließe hier an eine frühere Studie über ‚Raten und Beratschlagen‘ (Paris 2005) an.
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stresst ist, ist der Ratgeber davon entlastet. Es ist ja nicht sein Problem, das eine – unter Umständen: rasche – Lösung erheischt. Dem Rat liegt stets eine eindeutige persönliche Attribuierung eines Problems oder einer zu überwindenden Zwangslage zugrunde; es handelt sich grundsätzlich um das Problem des anderen, eben des Ratlosen und Ratbedürftigen, zu dessen Lösung der Rat beitragen soll. Jemanden als „ratlos“ zu bezeichnen verweist daher auf eine prekäre Wechselseitigkeit. Einerseits ist es der Ratgeber, der die Ratlosigkeit des anderen unterstellt, ihn als ratlos „konstruiert“. Auf der anderen Seite muss es für diese Konstruktion, soll sie erfolgreich als Thema der Interaktion installiert werden, ja gewisse kognitive Anhalts- und Anknüpfungspunkte geben: Wenn jemand unbeschwert, heiter und fröhlich ist, wird niemand auf die Idee kommen, ihm einen Rat geben zu wollen. Ohne konkrete Anzeichen von Ratlosigkeit gibt es auch keine Ratbedürftigkeit, auf die ein potentieller Ratschlag referieren könnte. Außerdem kann die soziale Initiative natürlich auch vom Ratlosen selber ausgehen. Eben weil er sich ratlos fühlt und sich dies auch eingestanden hat, ersucht er einen anderen um Rat. Ratlosigkeit als mentaler Tatbestand ist also von der Konstruktion der Ratlosigkeit zu unterscheiden, die ein Ratgeber unterstellt. Obwohl semantisch aufeinander verwiesen, sind Rat und Ratlosigkeit empirisch unabhängige Phänomene, ja die tiefste und dramatischste Form der Ratlosigkeit – die Verzweiflung – zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie bereits die Möglichkeit eines Auswegs offensiv verwirft. Extreme Ratlosigkeit weiß nicht nur keinen Rat, sie kann sich nicht einmal mehr vorstellen, dass es einen solchen überhaupt geben könnte. Ratlos in einem existenziellen Sinne ist also jemand, der von seinen Gefühlen und seiner psychischen Not derart überwältigt ist, dass er gar nicht mehr in der Lage ist, sich anderen gegenüber zu öffnen und bei ihnen Rat einzuholen. Damit ist klargestellt: Der Begriff der Ratlosigkeit bezieht sich in einer ersten Konkretisierung auf die Perspektive eines Menschen, der im Hinblick auf ein für ihn dringliches, mitunter sogar lebenswichtiges Problem keine Lösungsmöglichkeit sieht und dabei in einem radikalen Sinne auf sich selbst zurückgeworfen ist. Er selbst weiß keinen Rat, und es ist niemand da, der ihm einen Ausweg weisen könnte. Insofern ist Ratlosigkeit immer auch ein Problem der sozialen Isolation, sie ist indirekt definiert durch ein Abgeschnittensein von vertrauten sozialen Bezügen und die Abwesenheit eines oder mehrerer anderer, deren guter Rat vielleicht doch eine Lösungsperspektive offerieren könnte. Ratlos fühlen wir uns stets auch verlassen. Ratlosigkeit ist in diesem Verständnis vor allem eine psychische Sperre, gleichsam ein Eingemauertsein in die eigene Gefühls- und Gedankenwelt, die den Ratlosen gefangen hält und die er nicht transzendieren kann. Sie ist die Un-
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möglichkeit, bezogen auf sich selbst und die Wahrnehmung des Problems eine andere als die immer schon mitgebrachte Perspektive einzunehmen. Dies lässt sich in umgekehrter Fragerichtung gerade an der Funktionsweise des Ratschlags als einer speziellen Technik und Methode der Flexibilisierung von Perspektiven aufzeigen und erläutern. In einem Leitfaden für professionelles Schreiben in den Sozialwissenschaften berichtet Howard S. Becker von seiner Begegnung und der Zusammenarbeit mit Blanche Geer in einem von Everett Hughes geleiteten medizinsoziologischen Forschungsprojekt. Dort heißt es: Sie nahm das Schreiben außerordentlich ernst und brachte mir in heftigen Auseinandersetzungen über einzelne Wörter und Begriffe in unseren verschiedenen Fassungen eine Menge bei. Wir führten wundervolle und endlose Diskussionen miteinander, z. B. über den Begriff der ‚Perspektive‘, ein Wort, dem im theoretischen Begriffsapparat unserer Studie eine zentrale Bedeutung zukam. Strittig war das Verb, das im Zusammenhang mit ‚Perspektive‘ verwendet werden sollte. ‚Hatten‘ die Menschen eine Perspektive, ‚nahmen‘ sie eine Perspektive ‚ein‘ oder ‚legten‘ sie eine Perspektive ‚an‘? Die Nebentöne der genannten Vokabeln erwiesen sich als deutlich verschieden und unterscheidbar, sobald man genauer hinsah. Und so lautete die Frage nicht mehr: welches Wort war richtig?, sondern: was wollten wir sagen? Die von uns diskutierten Stilfragen entpuppten sich als Theoriefragen, mußten also theoretisch geklärt werden. (Becker 1994, 127)
Die unterschiedlichen Akzentuierungen und Sinnbezüge von ‚Perspektive‘ liefern einen guten Schlüssel für das tiefere Verständnis von Ratschlag und Ratlosigkeit. Der Ratlose sieht keinen Ausweg, weil er in all seinem Denken und Fühlen ausschließlich auf seine Perspektive festgelegt ist und darin auf Gedeih und Verderb verharrt. Er kann die Perspektive, die er immer schon hat und mitbringt, nicht verlassen und ist heillos in seinen – häufig widerstreitenden – Wahrnehmungen und Empfindungen verstrickt. Ratgeben setzt demgegenüber voraus, sich empathisch² in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen, also dessen Perspektive (soweit dies möglich ist) zu übernehmen und dabei gleichzeitig die eigene Perspektive, also diejenige Sicht der Dinge, die man selbst mitbringt oder entwickelt, beizubehalten: Erst im kognitiven Abgleich und dem In-Beziehung-Setzen der beiden Perspektiven wird der Rat überhaupt möglich.³ Und er wird vermutlich umso besser ausfallen, je mehr derjenige, der den Rat erteilt, auch über ein gewisses Vorwissen und eine entsprechende Sachkenntnis verfügt, die es ihm er-
Die schönste Formulierung dessen, was wir analytisch als Empathie bezeichnen, habe ich in der Denkprosa des Schweizer Dichters Ludwig Hohl gefunden. Dieser notierte unter dem Stichwort EIN GUTES TUN: „Das, was man selber nicht braucht, was aber ein anderer, der anders ist, braucht, als notwendig erkennen können“ (Hohl 1990, 49). Dieser Aspekt der Beratung wird vor allem in den Schriften von Rogers (1972 und 1980) betont.
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lauben, die potentielle Lösung des Problems auch von der Sache her zu denken, also an das Problem eine geeignete Perspektive anzulegen. Kurzum: Im Ratschlag geht es stets um den Versuch einer Verschränkung und das Zusammenführen dreier verschiedener Perspektiven. Der Ratgeber muss sich einfühlen in die Perspektive des anderen, ohne die eigene aufzugeben, und er hat ferner die unumgänglichen Relevanzen der Sache zu eruieren und aufzugreifen, um – und dies wäre eine weitere Verb-Kombination – dem Empfänger eine Lösungsperspektive seines Problems zu eröffnen. Allerdings ist die Perspektive des Ratlosen keineswegs nur durch eine restringierte Problemsicht gekennzeichnet. Sie ist gleichzeitig immer auch eine Sicht auf sich selbst und das eigene Wollen und Können. Der Ratlose definiert die Situation, in der er sich befindet, als heillose Überforderung seiner Mittel und Möglichkeiten; sie erscheint ihm zugleich als überpräsenter Spiegel seiner Unfähigkeit, das betreffende, alles überschattende Problem mit seinen eigenen Ressourcen anzugehen und zu lösen. Die akute Orientierungslosigkeit und Blockade des Handelns setzen schlagartig eine neue Relevanzstaffelung durch: Anstelle der selbstverständlichen Geltung der grundlegenden Idealisierungen des „Und-so-weiter“ und „Ich-kann-immer-wieder“ und der durch sie verbürgten Typisierung des Alltags (vgl. Schütz/Luckmann 2003, 327 f.) tritt unvermittelt die unabweisbare Einsicht in die eigene Inkompetenz und die elementare Limitierung eigenen Wirkens und Könnens, rückt also die Nicht-Autonomie der Person ins Zentrum des Wahrnehmungsfeldes. Hinzu kommt die unkontrollierte Überlagerung der Wahrnehmung durch negative Affekte wie Wut und Zorn. Ratlosigkeit ist kein kohärentes Gefühl, sondern eine mentale Disposition, die mit einer Vielzahl – unter Umständen: widerstreitender – Emotionen und Gefühlszuständen verbunden und durchmischt sein kann. Am gravierendsten ist sicher eine Legierung mit schierer Angst, wobei diese jedoch im Normalfall alles andere dominiert und der Aspekt der Ratlosigkeit dahinter zurücktritt. Aber auch dort, wo die kognitive Überforderung im Vordergrund steht, kann die affektive Einfärbung des Erlebens die Situation deutlich verschärfen: Wir empfinden unsere Ratlosigkeit umso tiefer und beklemmender, je mehr wir zugleich von starken Erregungen beherrscht und ihnen gleichsam ausgeliefert sind und je weniger wir deshalb in der Lage sind, „einen klaren Gedanken zu fassen“. Ratlos sind wir, wenn wir, so wenig wir es auch wünschen, den Dingen ohnmächtig gegenüberstehen und sie nicht ändern können – sei es, weil sich die Umstände radikal gewandelt haben oder plötzlich ein Ereignis eintritt, das uns vor Aufgaben stellt, die unsere Fähigkeiten übersteigen. Unversehens führt es uns vor Augen, wie eng und begrenzt unsere Kapazitäten und Handlungschancen sind, wie sehr wir nicht die Herren unseres Schicksals sind. Das Widerfahrnis ist stärker
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als all unsere Kräfte und Möglichkeiten. Es ist diese Grunderfahrung eigener Inferiorität und Abhängigkeit, die wir als fundamentale Kränkung des Selbst erleben und die uns oftmals dazu bringt, unser Unvermögen zu dramatisieren und uns einem Strudel der Ratlosigkeit zu überlassen.⁴
2 Gradualität und Typik Ein häufiger Mangel sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und empirischer Forschung besteht in der unzureichenden Differenzierung von binären und graduellen Kategorisierungen. Während binäre Unterscheidungen mit einem klaren Entweder-Oder und definitiven Grenzziehungen operieren, gilt für graduelle Phänomene und die ihnen angemessenen Begriffe gerade das umgekehrte Prinzip des Mehr-oder-Weniger, also die abgestufte Ausprägung der Merkmale mit fließenden Übergängen.⁵ Rat und Ratlosigkeit sind hierfür gute Beispiele. So etabliert der Rat zunächst grundsätzlich eine binäre Asymmetrie, nämlich die Scheidung der Akteure in einen als ratkompetent unterstellten Ratgeber einerseits und den ratbedürftigen Empfänger des Ratschlags andererseits. Gleichzeitig kann es jedoch sein, dass der Ratgeber sich selbst und den anderen durchaus als mehr oder weniger ratkompetent oder ratlos ansieht und dass in der konkreten Interaktion die ursprünglich komplementäre Rollenzuweisung nach und nach verschliffen und aufgeweicht wird, um am Ende sogar in ein gemeinsames Beratschlagen überzugehen. Das bedeutet aber zugleich: Ratkompetenz und Ratlosigkeit sind trotz aller Aufspaltung von Ratgeber und Empfänger prinzipiell variabel und graduell definiert. Tatsächlich sind wir ja nur in den allerseltensten Fällen voll und ganz ratlos; der Normalfall hingegen ist der, dass wir angesichts eines drängenden Problems mehr oder weniger ratlos sind, unsere Ratlosigkeit also sehr verschiedene Intensitätsgrade, Facetten und Ausdrucksformen annehmen kann. Die stärkste Variante ist sicher die abgründige Verzweiflung. Hier sind alle Dimensionen der Ratlosigkeit voll ausgeprägt: die Überpräsenz des Problems, die
In dieser Dynamik liegt auch die Ursache dafür, dass ungebetener Rat häufig so vehement abgewehrt und zurückgewiesen wird. Indem der Ratschlag dem anderen die Unfähigkeit unterstellt, seine Probleme selbst in den Griff zu bekommen und sie eigenständig lösen zu können, destruiert er gleichzeitig das bislang unangetastete Selbstbild von Unabhängigkeit und Handlungsautonomie, das heute, etwa im Prinzip der Mündigkeit, zum kulturellen Kernbestand der Vorstellung des Individuums gehört. Siehe hierzu, bezogen auf die Problematik sozialer Ungleichheit, auch meine Argumentation in Paris 2009.
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lähmende Diffusion und Strukturlosigkeit der Wahrnehmung, das radikale Zurückgeworfensein auf sich selbst durch die affektive Überwältigung des Leids. Der Verzweifelte verzweifelt sowohl an den Umständen und seiner Situation als auch und vor allem an sich selbst. Maßgebend ist hier nach wie vor die „klassische“ Bestimmung der Verzweiflung in Søren Kierkegaards Die Krankheit zum Tode: Ein Verzweifelnder will verzweifelt er selbst sein. […] Das Selbst, das er verzweifelt sein will, ist ein Selbst, das er nicht ist (denn das Selbst sein zu wollen, das er in Wahrheit ist, ist ja gerade das Entgegengesetzte der Verzweiflung), er will nämlich sein Selbst von der Macht losreißen, die es setzte. Aber dies vermag er trotz allen Verzweifelns nicht; trotz aller Anstrengung der Verzweiflung ist jene Macht die stärkere und zwingt ihn, das Selbst zu sein, das er nicht sein will. (Kierkegaard 2002, 20)
Der Verzweifelte ist jemand, der nicht derjenige sein kann, der er ist, und gleichzeitig nicht derjenige werden kann, der er sein möchte. Die unentrinnbare Macht der Umstände nagelt ihn fest und zwingt ihm unerbittlich ein Selbst auf, das ihm zutiefst widerstrebt. Er verzweifelt letztlich an sich selbst: „Über sich verzweifeln, verzweifelt sich selbst loswerden wollen ist die Formel für alle Verzweiflung“ (ebd.). Die Ratlosigkeit des Verzweifelten ist zugleich ein verstecktes Aufbäumen. Der Verzweifelte kann sich mit seiner Situation nicht abfinden und begehrt mit aller verbliebenen Kraft dagegen auf.⁶ Gleichzeitig gibt er sich keine Chance und hat keine Hoffnung mehr. Alle Anstrengung erscheint ihm umsonst, er ist ausgezehrt und zermürbt, müde, weiterhin das Unmögliche zu wollen. Der Verzweifelte kann nicht mehr, und er will nicht mehr: Er kann nicht mehr wollen. Die Verzweiflung zerschneidet das Band zwischen Empfinden, Wahrnehmen und Tun, die Verbindung zwischen Welt und Person löst sich auf. Fern jeder Absicht und Überlegung ist der Verzweifelte überwältigt von seinem Leid und hat jedes Zutrauen auf Rettung verloren. Die radikale Entwurzelung stürzt den Verzweifelten in eine existenzielle Isolation. Ausschließlich ans eigene Erleben gefesselt, schottet er sich von allen anderen ab. Das Leid würgt ihn zu und findet keinerlei sprachlichen Ausdruck mehr (vgl. Sofsky 1997, 77). Die Verzweiflung ist das Asoziale schlechthin: Jeder verzweifelt für sich und bleibt mit seiner Verzweiflung allein. Nicht nur der physische Schmerz, auch die seelische Pein unterliegt einer Grenze der Empathie, die wir willentlich nicht beeinflussen können. Deshalb erscheinen dem Verzweifelten jeder Zuspruch und alle noch so gut gemeinten Ratschläge anderer
Zu den verschiedenen Arten von Trotz in Kierkegaards Konzeption der Verzweiflung vgl. Theunissen 1993, 28 f.
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oftmals als Hohn und Heuchelei, als von vornherein untaugliche Versuche, sich in seine Lage und Situation hineinzuversetzen.⁷ Hier zeigt sich noch einmal, dass der Kern der Ratlosigkeit in der mehr oder minder vollständigen Fixierung und der fundamentalen Beschränkung auf die eigene Perspektive besteht. Der Verzweifelte ist eingemauert in seine gefühlte Sicht auf die Dinge und auf sich selbst: Er kann nicht der sein, der er ist, und er sieht keinerlei Chance, dass sich daran je etwas ändern könnte. Gewiss nimmt nicht alle Ratlosigkeit einen derart extremen Charakter an. Am anderen Ende des Spektrums rangieren jene „profanen“ Erscheinungsformen und Alltagssituationen, in denen jemand unvermittelt mit einem praktischen Problem konfrontiert wird, mit dem er nicht zu Rande kommt und dessen Lösung seine Fähigkeiten übersteigt. Wenn wir in einer fremden Stadt trotz aller Orientierungsbemühungen eine bestimmte Adresse nicht finden oder beim Aufbau eines Versandmöbels an der Montageanleitung oder fehlenden Einzelteilen scheitern, so mögen wir uns auch in solchen Fällen mitunter „verrennen“ und uns in einen unkontrollierbaren Ärger hineinsteigern; trotzdem ist das Problem, dem wir in dieser Situation ratlos gegenüberstehen, letztlich überschaubar und in seiner Tragweite begrenzt. Etwas, von dem wir annahmen, dass es uns keine Schwierigkeiten bereiten würde, erscheint uns plötzlich als gravierendes Problem. Der unbefragte Handlungsfluss stockt und zwingt uns zum Verlassen unserer bisherigen Perspektive. Unversehens rückt das Problem ins Zentrum des Wahrnehmungsfeldes – und damit zugleich unser Unvermögen, es mit eigenen Mitteln und ohne fremde Hilfeleistung zu lösen. Ratlosigkeit ist hier ein einfaches Durchbrechen von Alltagssicherheit und Gewohnheit. Eine bislang selbstverständliche Voraussetzung unseres Tuns, die Unterstellung eigener Handlungsautonomie und des damit verbundenen Könnens, ist plötzlich suspendiert. Das Selbstbewusstsein eines Menschen ist wesentlich Könnens-Bewusstsein, ein elementares Vertrauen in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten, in wechselnden Situationen bestehen und die Herausforderungen des Lebens meistern zu können. Gleichzeitig ist die Fragmentierung der Selbstgewissheit in solchen Fällen jedoch eng limitiert: Nicht nur, dass uns für unser „Versagen“ in dieser Situation eine Vielzahl tragfähiger Legitimierungen zur
Eine Frau, die seit langem in der Telefonseelsorge arbeitet, erzählte mir, dass sie bei ihren Anrufen nicht selten mit einem Gesprächsverlauf konfrontiert sei, bei dem sich die anfängliche Erleichterung der Klienten über einen empathischen Kontakt oft schon nach kurzer Zeit in eine grundsätzlich aversionsgeladene und aggressive Grundhaltung transformiere – eine Situation, die mitunter sogar in wüsten Beschimpfungen ende, sie solle doch auf ihrem warmen Sessel nicht so tun, als ob sie sich tatsächlich in die Lage der Anrufenden hineinversetzen könne usw. Kommentar meiner Informantin: ‚Und im Grunde haben sie ja recht.‘
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Verfügung stehen – wir haben dergleichen eben nicht gelernt und bewegen uns ja auf unbekanntem Terrain –, auch die Tatsache, dass wir zur Not auf fremde Ressourcen zurückgreifen und die Sachautorität anderer für uns nutzen können, hält die psychische Dramatisierung in Grenzen. Mit anderen Worten: Wir überwinden die Ratlosigkeit, indem es uns nach einer kurzen Phase akuter Verunsicherung schließlich doch gelingt, die affektive Aufladung der Situation zu bändigen und das Wahrnehmungsfeld in der Hinsicht neu zu strukturieren, dass eine sukzessive Planung zur Lösung des Problems möglich wird. Die Voraussetzung eines solchen Handelns ist freilich das Aufgeben der Fixierung auf eine unmittelbare Problemlösung und das Aufsprengen der restringierten Perspektive durch die Öffnung nach außen. Wo jemand sich selbst seine Ratlosigkeit eingestehen und sie anderen gegenüber zugeben kann, ist der erste Schritt schon getan. Dies bereitet im Fall des „profanen“ Alltagsproblems in der Regel kaum Schwierigkeiten: Schon die Beiläufigkeit der – häufig von dosierten Gesten der Hilflosigkeit begleiteten – Äußerung „Ich bin da etwas ratlos“ signalisiert dem anderen sowohl die relative Dringlichkeit des Problems als auch das Bemühen um Entdramatisierung. Sich selbst als ratlos zu bezeichnen ist nur demjenigen möglich, der seine Ratlosigkeit bereits ein Stück weit objektiviert hat und ihr nicht länger ausgeliefert ist. Im Zwischenfeld von existenzieller Ratlosigkeit der Verzweiflung und eher alltäglichen Handlungsblockaden rangieren all jene Problemlagen, in denen sich frühere Entscheidungen, allgemeine Lebensumstände und widrige Ereignisse zu akuten biographischen Notsituationen aufgetürmt haben, die die materiellen, sozialen oder psychischen Ressourcen des Individuums grundsätzlich übersteigen. Es handelt sich dabei häufig um irreversible Weichenstellungen, die man mehr oder minder selbst verschuldet hat und die einen nun in eine Sackgasse geführt haben, aus der man keinen Ausweg mehr sieht. Ein Beispiel ist die Situation der Überschuldung. Hier liegt, wie wir aus der Schuldnerberatung wissen, eines der häufigsten Grundprobleme der Überschuldeten darin, dass sie versuchen, den angehäuften Schuldenberg mit möglichst hohen Tilgungsraten so rasch wie möglich abzubauen und dafür sogar bereit sind, sich in ihren elementaren Lebensbedürfnissen einzuschränken. Dies führt nicht selten dazu, dass sie dann, wenn sie aufgrund irgendeines Ereignisses oder eines plötzlichen Engpasses einen Rückschlag erleiden, gleich den gesamten Entschuldungsplan über Bord werfen oder sogar neue Kredite aufnehmen. Eine zentrale Aufgabe der Schuldnerberatung besteht in dieser Hinsicht darin, die mitgebrachte, auf kurzfristige Entlastung abgestellte Zeitperspektive rigoros zu durchbrechen und stattdessen durch zeitliche Streckung und das Einschalten von Puffern eine Flexibilisierung der Abhilfeplanung in einem realistischen Zu-
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kunftshorizont durchzusetzen. Dies verdeutlicht noch einmal, in welchem Ausmaß Raten und Beratschlagen vor allem darauf ausgerichtet sind, die starre Festlegung auf eine ein für alle Mal eingenommene Perspektive dialogisch aufzubrechen und durch einen erweiterten Raum verschiedener Lösungsmöglichkeiten zu ersetzen. Darüber hinaus demonstriert die Ratlosigkeit des Überschuldeten die unauflösliche Vermischung der subjektiven Problemwahrnehmung mit angelagerten Affekten und Gefühlsaufwallungen. Sie ist oftmals legiert mit Selbstvorwürfen, bohrender Existenzangst oder auch Neidgefühlen gegenüber denjenigen, die in vergleichbarer Lage erfolgreich waren und Gewinne erzielen konnten (vgl. Paris 2010). Außerdem ist sie natürlich nicht unabhängig von der je individuellen Persönlichkeitsstruktur, also den unverwechselbaren Charakterzügen und psychischen Eigenheiten der Person. Ja mehr noch: Wo Ratlosigkeit möglicherweise vor allem psychisch bedingt, etwa ein Symptom neurotischer Fixierungen ist, das Problem, um das es geht, also gerade nicht nur ein Sachproblem, sondern gleichzeitig im Innenleben des Ratlosen verwurzelt ist, sind die Chancen für eine unmittelbare Lockerung der kognitiven Restriktionen besonders gering. Hier zeigt sich, dass die Ratlosigkeit grundsätzlich einen anderen Charakter annimmt, je nachdem, um welchen Typus von Problemen es sich handelt. Dies gilt insbesondere für Probleme, die sich aus dem Zusammenleben mit anderen ergeben. Während es für Sachprobleme trotz eines gewissen Spielraums von Definitionsmacht letztlich relativ klare Kriterien für erfolgreiche Lösungen oder Fehlschläge gibt, sind interpersonelle Beziehungen, in denen die Sache und der Fokus der Interaktion gewissermaßen die Beziehung selber ist, gerade dadurch gekennzeichnet, dass es in ihnen eben keine vergleichbar definitiven Maßstäbe der Problembewältigung und Konfliktlösung gibt.⁸ Wo ein Sachstreit bei konkurrierenden Lösungsvorschlägen (etwa bezogen auf eine Reparaturaufgabe) am Ende durch die tatsächlichen „Reaktionen“ der Sache (den funktionierenden oder nichtfunktionierenden Gegenstand) entschieden und auf diese Weise teleologisiert werden kann, scheidet eine solche, für alle unbestreitbare Lösung bei interpersonellen Problemen und Streitigkeiten aus. Erfolg oder Misserfolg, größere oder kleinere Fortschritte sind hier per definitionem interpretationsabhängig und können somit in letzter Instanz stets nur am subjektiven Erleben des Ratlosen festgemacht werden. Am Ende ist es immer der Ratlose selbst, der darüber befindet, ob sein Problem tatsächlich gelöst worden ist oder nicht.
Zur hier aufgegriffenen Unterscheidung der Beziehungstypen des Nebeneinander, des Miteinander und des Füreinander vgl. Sofsky 1983, 245 ff. sowie, bezogen auf Probleme der Machtund Organisationsforschung, Sofsky/Paris 1994.
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3 Ratlosigkeit – Ratbedürftigkeit – Ratsuche Die tiefste Ratlosigkeit dichtet sich ab gegen jeden Rat. Nach einem letzten Aufbäumen verfällt der Verzweifelte in Agonie, er zieht sich von allen zurück und hat jede Hoffnung aufgegeben. Sein Leiden und sein Schmerz überwältigen ihn. Deshalb ist fraglich, in welchem Ausmaß Nicht-Verzweifelte wirklich Verzweifelte verstehen können, wie weit also eine empathische Übernahme der Perspektive des anderen überhaupt möglich ist. Denn selbst wenn sie selber einmal am Abgrund gestanden haben, so ist ihr Nachempfinden der Qual wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass es für sie letztlich doch einen Ausweg gegeben hat. Die Verzweiflung hingegen verzweifelt gerade an der Ausweglosigkeit der Situation und mündet in der radikalsten Vereinzelung. Sie ist asoziales Leiden schlechthin. Aus diesem Grund ist bereits der bloße Kontakt eine Chance. Schon die situative Notwendigkeit, die eigene Problemsicht einem aufmerksamen Gegenüber zu verbalisieren, bedeutet ein Unterbrechen des fruchtlosen In-sich-Kreisens der Affekte und Gedankenströme und eröffnet die Möglichkeit einer kognitiven Neustrukturierung der Situation. Wer seine Perspektive, in welch verstümmelter Form auch immer, zur Sprache bringt, hat sie bereits ein Stück weit objektiviert – und stellt sie damit indirekt zur Disposition. Im Darstellen und Erläutern der Ratlosigkeit ist man gezwungen, gleichzeitig auch die Perspektive des anderen einzunehmen, womit die eigene Weltsicht automatisch aufhört, das Maß aller Dinge zu sein. Insofern funktioniert das Reden hier als eine Art von außen veranlasster innerer Dialog und elementarer Akt der Selbstreflexion – und es ist gar nicht so selten, dass jemand das ernsthafte und einfühlsame Zuhören des anderen im Nachhinein als weiterführenden und kompetenten Ratschlag empfindet, obwohl in Wirklichkeit gar kein Rat gegeben wurde.⁹ Um die Abwärtsspirale der Ratlosigkeit aufzuhalten, bedarf es vor allem eines unmittelbaren Abstoppens, eines Einschnitts des situativen Erlebens, das es im Weiteren gestattet, das Problem aus einem gewissen Abstand heraus zu betrachten. Dabei gilt nicht nur „Kommt Zeit, kommt Rat“, sondern häufig auch: „Kommt Raum, kommt Rat“ (Hohl 1990, 59). Andererseits ist es irrig zu glauben, dass eine einfache Veränderung der äußeren Umgebung schon per se eine andere Perspektive oder Aufhellung des Gemüts bewirken könnte.¹⁰ Im Gegenteil: Nach einem großen Unglück erscheint uns schönes Wetter manchmal wie ein Hohn. Der innere Raum überformt den äußeren.Wo es aber, und sei es auf dem Umweg einer
Ein schönes Beispiel findet sich in Pascal Merciers Nachtzug nach Lissabon (vgl. Mercier 2004, 20). Vgl. hierzu auch Bollnow 1956, 55 ff.
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vorübergehenden Ablenkung oder Umorientierung des aktuellen Interesses, tatsächlich gelingt, die ausschließliche Fixierung auf das Gefühl der Ausweglosigkeit und die niederdrückende Stimmung zu durchbrechen, sind mit dem ersten Schritt gleichzeitig auch die Chancen weiterer Fortschritte einer kognitiven und affektiven Neujustierung der Situation deutlich erhöht. Das Grundproblem ist die Restituierung des Wollens. Der Ratlose ist jemand, dessen Ressourcen und Fähigkeiten die Lösung eines für ihn dringlichen Problems übersteigen, der aber gleichzeitig nicht in der Lage ist, eine andere Perspektive als die der Unlösbarkeit auf sein Problem einzunehmen. Mit anderen Worten: Er ist beseelt von einem starken Wunsch der Problemlösung, ohne diesen Wunsch jedoch in einen konkreten Willen, eine realistische Planung der Abhilfe, überführen zu können. Peter Bieri (2001, 61 ff.) diskutiert diese Problematik im Kontext der Herausbildung „substantieller Entscheidungen“. Anders als bei instrumentellen Entscheidungen, in denen ein feststehendes Ziel durch rational verkettete Handlungen erreicht werden soll, geht es bei substantiellen Entscheidungen um die – vielleicht sogar biographisch bedeutsame – Wahl zwischen konkurrierenden Wünschen und Ambitionen, die gerade nicht gleichzeitig realisiert werden können. Es handelt sich also nicht einfach darum, irgendeine Entscheidung zu treffen, sondern einen Entschluss zu fassen, der das Schwanken und die innere Ungewissheit beendet und unter den gegebenen Bedingungen eine klare Richtung vorgibt. Doch wie gelangt man dorthin? Die allgemeine Antwort lautet: Unterbrechen und Innehalten, und daran anschließend – Reflexion. Um im Widerstreit der Wünsche zu einem tragfähigen und verantwortbaren Ergebnis zu kommen, muss man überlegen: Erst das eingehende Nachdenken, das Prüfen und Abwägen der Gefühle und Gründe, erlaubt uns, unsere Wünsche zu sortieren, sachliche und moralische Prioritäten zu setzen und sie in einen konturierten Willen zu transformieren. Die Brücke zwischen dem Wünschen und dem Wollen ist das Überlegen. Und es ist eben diese Brücke, die dem Ratlosen versperrt oder die für ihn eingestürzt ist. Wir sprechen vom Überlegen gelegentlich als einem „Mit-sich-selber-zu-RateGehen“. Dies setzt jedoch ein Mindestmaß an Selbstobjektivierung, Ruhe und Konzentration voraus, also eine Einstellung, die dem Ratlosen aktuell unmöglich ist. Heillos in seinen Affekten verstrickt, ist er unfähig zu überlegen und dadurch in seinem Wollen blockiert. Das Problem der Überwindung der Ratlosigkeit ist mithin nichts anderes als die Wiedergewinnung des Vermögens, einen kontrollierten Willen auszubilden, der den Akteur fortan bindet und kontinuierlich verfolgt werden kann. Konkret geht es darum, Ratlosigkeit in Ratbedürftigkeit zu verwandeln. Wer sich selbst als ratbedürftig definiert, hat einen entscheidenden Schritt bereits
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getan: Er akzeptiert, dass er mit der Problemlösung überfordert und auf fremdes Wissen und kognitive Hilfe angewiesen ist. Anstatt weiterhin unbeirrt an seinem Selbstbild von Autarkie und Handlungsautonomie festzuhalten, gesteht er sich die offensichtliche Begrenzung seiner Ressourcen ein und öffnet sich damit zur Außenwelt. Weil er selbst keinen Rat weiß, richtet sich seine Aufmerksamkeit auf andere, die möglicherweise Rat wissen. Der drängende Wunsch nach unmittelbarer Problemlösung weicht der Orientierung hin zu einer Überwindung der Misere auf dem Umweg des sozialen Kontakts. Gewiss wird auf diese Weise die eigene Perspektive noch nicht zur Disposition gestellt oder gar durchbrochen, gleichzeitig jedoch impliziert schon die bloße Hinwendung zu den anderen die indirekte Anerkennung der Tatsache, dass auch andere Perspektiven auf das Problem denkbar wären, die es einer Lösung näher bringen könnten. Die bisherige Diffusion der Ratlosigkeit wird so in ein sukzessives Wollen übersetzt. Der Ratbedürftige überlegt, wo er vielleicht Rat finden könnte. Das Abgleiten in den Kerker der Isolation ist vorerst gestoppt; die Notwendigkeit, einem anderen gegenüber das Problem explizieren zu müssen, ordnet auch die eigene Wahrnehmung und entdramatisiert den inneren Konflikt. Andererseits unterliegt die tatsächliche Kontaktaufnahme oftmals einer hohen Hürde: Man muss nicht nur sich selbst, sondern auch anderen seine Ratbedürftigkeit eingestehen und das aufgerichtete Bild von Selbstständigkeit und Autonomie aufgeben. Dies ist im Fall der „profanen“ Alltagsprobleme, etwa bei der Inanspruchnahme einer angebotenen Dienstleistung, normalerweise keine größere Schwierigkeit; überall dort jedoch, wo die offenbarte Ratlosigkeit sonst sorgsam abgeschirmte Lebensbereiche der Privatsphäre oder intimer Beziehungen berührt, ist mit der Öffnung nach außen gleichzeitig eine dosierte Preisgabe personaler Identität verbunden, so dass nur besonders vertraute und vertrauenswürdige Personen dafür in Frage kommen. Hier zeigt sich erneut die soziale Dimension und Verwobenheit des Phänomens. Ratlosigkeit ist nicht nur ein Leiden und Verzagen angesichts eines übermächtigen Problems; sie ist darüber hinaus die kumulative Erfahrung einer von innen veranlassten Selbstausgrenzung, der Abschottung von sozialen Bezügen und des radikalen Rückzugs auf sich selbst.Wo das Problem überschaubar ist und die psychische Dynamik sich letztlich in Grenzen hält, sind auch die Folgewirkungen der Vereinsamung und Isolation nicht so dramatisch. Steigert sie sich hingegen bis zur Verzweiflung, so gibt es am Ende niemand, den man um Rat fragen könnte. Dennoch ist auch der Übergang von der Ratbedürftigkeit zur Ratsuche mitunter ein weiter Weg. Die Zäsur ist die Initiative, der Schritt von der Einsicht zum Tun. Um ihn machen zu können, muss der Wille so weit gefestigt sein, dass widerstreitende Empfindungen, aufkeimender Zweifel oder Angst vor Gesichtsver-
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lust ihn nicht mehr beeinträchtigen können. Wer ernsthaft Rat sucht, hat einen Großteil seiner Ratlosigkeit bereits überwunden: Wusste er vorher nicht mehr weiter, so weiß er jetzt, was er tun muss. Zwar ist das Problem nach wie vor ungelöst, aber die Möglichkeit einer Lösung ist nicht länger versperrt. Trotzdem bleibt die gewonnene Zuversicht weiterhin bedroht und fragil. Bleiben Anfangserfolge aus oder erweisen sich die geschöpften Hoffnungen als unrealistisch und überhöht, ist ein Rückfall in Agonie und Verzweiflung jederzeit möglich. Ob tatsächlich ein Fortschreiten von der Ratlosigkeit über die Akzeptanz der Ratbedürftigkeit bis zur Ratsuche stattfindet, ist stets eine empirische Frage. Andererseits ist die Verstetigung des Wollens ein expansiver Prozess. Jeder Teilfortschritt stabilisiert ihn. Das Tun verschafft die Gewissheit des Könnens und erzeugt neues Selbstbewusstsein. Allerdings kann das, was Ratsuchen im Einzelnen bedeutet, in der Intensität stark variieren und sich zudem in höchst unterschiedlichen Handlungen und Aktivitäten niederschlagen: Diese reichen vom planvollen Aufsuchen einer vertrauten Person oder einer Autorität, die man in einer vom Alltag abgesonderten Situation konsultiert, über das gezielte Sichten professioneller Dienstleistungsangebote bis zum verbreiteten Konsum einschlägiger Produkte der Ratgeberliteratur. Dabei liegen den jeweiligen Optionen und Handlungsweisen offensichtlich ganz verschiedene Interaktionsstrategien zugrunde, die gleichzeitig auf spezifische Mischungsverhältnisse von Motiven, Emotionen und Selbstlegitimierungen verweisen und die Beziehung von vornherein anders definieren. Die wesentliche Differenz liegt im Ausmaß und der Irreversibilität der Öffnung nach außen. Während der face-to-face-Kontakt mit der Offenlegung der Ratlosigkeit gegenüber dem anderen eine neue, intersubjektiv geteilte Wirklichkeit schafft, hält sich der Konsument von Ratgeberliteratur den Rückzug offen.Weil die Rezeption dieser Kollektivbelehrung¹¹ grundsätzlich anonym erfolgt, sind hierfür kaum weitreichende Revisionen des Selbstbilds erforderlich. Ja mehr noch: Weil die Ratgeberliteratur häufig auch als „Sachbuch“ firmiert, kann der Ratsuchende die Lektüre anderen,vor allem aber auch sich selbst gegenüber stets als ein bloßes Informieren oder allgemeines Erkunden interpretieren und auf diese Weise die Einsicht in die eigene Ratbedürftigkeit hintertreiben. Hierin liegt die zentrale
Man kann sogar bezweifeln, ob die ausufernde Ratgeberliteratur überhaupt Ratschläge gibt. Idealtypisch ist der Rat stets an eine konkrete Person adressiert, der er ein bestimmtes Verhalten nahelegt, um ein für sie dringliches Problem zu lösen. Die Ratgeberliteratur referiert demgegenüber von vornherein auf gruppenspezifische Problemlagen und überlässt es dem einzelnen Leser, die allgemeinen Empfehlungen auf den eigenen Fall zu applizieren. Doch wie immer man die begriffliche Abgrenzung vornimmt, in jedem Fall gilt: Je größer der Adressatenkreis, desto unpersönlicher und damit weniger qualifizierter der Rat.
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Ambivalenz und auch das eigentümlich Moderne und Zeitgemäße des heutigen Booms der Ratgeberliteratur: Sie erlaubt es, sich einerseits dem eigenen Leiden zuzuwenden und sich seine Ratlosigkeit zumindest ein Stück weit einzugestehen, doch dabei diese Einsicht auf der anderen Seite gleichzeitig so zu begrenzen und zu dosieren, dass damit das Selbstbild eigener Unabhängigkeit und Handlungsautonomie noch nicht gefährdet ist. Aber auch dann, wenn ich jemanden direkt um Rat frage, gebe ich nur einen Teil meiner Autonomievorstellung auf. Wichtig ist hier der Unterschied zwischen Rat- und Hilfsbedürftigkeit. Der Ratschlag ist lediglich eine kognitive Hilfestellung, die die Entscheidung dem anderen überlässt. Ob er den Rat beherzigt oder nicht, ist allein seine Sache. Deshalb ist es sehr viel leichter, sich Ratbedürftigkeit einzugestehen, als umgekehrt zu akzeptieren, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Einen anderen um Rat zu fragen, stellt die eigene Freiheit und Unabhängigkeit noch nicht zur Disposition: Weil ich den Rat ja verwerfen und ihn in den Wind schlagen kann, bleibe ich mein eigener Herr. Der Rat belässt die Verantwortung beim Empfänger und geht davon aus, dass dieser sein Problem letztlich selbst lösen werde. Hilfe hingegen bedarf der ausdrücklichen Autorisierung und ist daher stets ein mehr oder minder bedeutsamer Transfer von Entscheidungsmacht. Das eigentliche Drama der Ratsuche besteht häufig in der bitteren Erkenntnis, nicht nur ratlos, sondern hilfebedürftig, fortan von anderen abhängig zu sein.
4 Individuelle und kollektive Ratlosigkeit Ratlos sind wir mit uns allein. Der Ratlose zieht sich aus seiner Umgebung zurück und verharrt in seiner Isolation. Oft nimmt er die anderen nur noch schemenhaft wahr, und zwar auch dann, wenn er selber kein Einzelfall ist und der Mangel an Orientierung endemisch verbreitet ist. Die Ratlosigkeit der vielen vergemeinschaftet sie keineswegs. Die soziale Beziehung derjenigen, die jeder für sich ratlos sind, ist die Serie.¹² Im Nebeneinander der Serie kapseln die Menschen sich voneinander ab und sind ausschließlich um sich selber bekümmert. Im diffusen Gemisch und Strudel seiner Affekte nimmt der Ratlose von der Ratlosigkeit anderer kaum Notiz. Dennoch wirkt sich die Stimmung des Einzelnen auf die anderen aus. Sie strahlt auf sie ab und färbt auch ihr Erleben entsprechend ein. Und je stärker auch sie bereits von Ratlosigkeit beherrscht sind, umso mehr bestätigen sich die Ak-
Zum Konzept der Serialität vgl. Sartre 1967, 273 ff.
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teure in ihrem Parallelempfinden und beeinflussen sich wechselseitig. Die Ratlosigkeit des einen speist die Ratlosigkeit des anderen und lässt beiden die Situation umso auswegloser erscheinen. Auf diese Weise entsteht schließlich eine allgemeine Atmosphäre der Ratlosigkeit, die nach und nach in die Grundbefindlichkeit und das Alltagsbewusstsein aller einsickert und ihre Wahrnehmung überformt. Die Auswirkungen einer solchen Verbreitung der Ratlosigkeit auf den Einzelnen sind zwiespältig. Einerseits gilt durchaus: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Schon das einfache Registrieren der Tatsache, dass andere sich in einer ähnlichen Situation befinden, vermag die ausschließliche Fixierung auf die eigene Lage und sich selbst ein Stück weit aufzubrechen und die Maßstäbe zu relativieren. Das individuelle Problem erscheint jetzt im Horizont eines größeren Schicksals, Schuldzuschreibungen eigenen Versagens und bohrende Selbstvorwürfe können dadurch erfolgreich eingedämmt werden. Vor allem wenn darüber ein Gespräch und Austausch der Betroffenen, und sei es nur als Schimpfklatsch über Dritte und Sündenböcke, zustandekommt,vermögen die Kontakte die Barrieren der Serialität teilweise niederzureißen und können so das Abdriften in die Selbstabschottung und Isolation zumindest aufhalten. Andererseits kann die Misere der vielen die eigenen Gefühle der Ohnmacht und Ausweglosigkeit sogar noch verstärken. Wenn die Probleme trotz aller Häufigkeit und Verbreitung grundsätzlich individualisiert sind und es daher aus der Sicht der Akteure immer nur individuelle Lösungen geben kann, verspricht auch die kollektive Betroffenheit auf Dauer kaum Linderung. Ein Beispiel ist die Situation der Massenarbeitslosigkeit (vgl. Jahoda u. a. 1973; Kronauer u. a. 1994). Wo die Schließung von Großbetrieben in wirtschaftlichen Monostrukturen massenhaft vorhandene Qualifikationen entwertet und den Niedergang ganzer Regionen anzeigt, führen die anderen – jüngeren und besser qualifizierten – Arbeitslosen dem einzelnen Arbeitslosen unmissverständlich vor Augen, wie sehr er auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr hat und ihm die Rückkehr ins Erwerbsleben vermutlich für immer versperrt ist. Im Selbstverständnis nach wie vor an die Werte der Arbeitsgesellschaft gekettet, verdichtet sich in ihm mit zunehmender Dauer und abschmelzenden Ressourcen immer stärker das Gefühl, in jeder Hinsicht nutzlos zu sein und seinem Leben keinerlei Sinn mehr abgewinnen zu können. Allerdings zeigen neuere Arbeitslosigkeitsstudien auch, dass es keinen Automatismus des Absinkens in Apathie und Verzweiflung gibt. So identifizieren Kronauer u. a. (1994, 189 ff.) in ihrer Erfahrungstypologie der Arbeitslosigkeit unter anderem eine Gruppe von Arbeitslosen, denen es schließlich gelingt, die psychische Fixierung auf die Werte ihrer Umgebung allmählich zu lockern und sich mit Hilfe von „Identitätsstützpunkten“ selbstbestimmter Aktivitäten und Verkehrskreise in der schlechten Realität der Arbeitslosigkeit einzurichten. Charak-
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teristisch für diesen Typ ist, dass er sich von anderen Arbeitslosen gerade nicht abgrenzt und absondert, sondern stattdessen ihre Gesellschaft und den sozialen Austausch sucht. Auf diese Weise durchbrechen die Arbeitslosen den kumulativen Kreislauf von individueller und kollektiver Ratlosigkeit. Sie überführen ihre Ratlosigkeit in Ratbedürftigkeit und suchen bei anderen Rat. Mehr noch: Sie bieten auch ihnen Rat. Oftmals ist es ja leichter und einfacher, die Perspektive eines anderen einzunehmen, als die eigene Perspektive zu verlassen. Deshalb sind wir nicht selten ratkompetent für andere und ratlos für uns selbst. Und zuweilen kommt es auch vor, dass die Erörterung des individuellen Problems dazu führt, dass auch dessen allgemeinere Aspekte und Ursachen zur Sprache kommen und es so am Ende als ein gemeinsames Problem identifiziert wird, das auch eine kollektive Lösung erheischt. Dadurch geht die ursprünglich asymmetrische Interaktion zwischen demjenigen, der den Rat gibt, und dem, der ihn empfängt, nach und nach in ein gemeinsames Beratschlagen über, in dem sich beide um eine rationale Ursachendiagnose bemühen und versuchen, eine realistische Lösungsperspektive zu entwerfen. Wo Ratlose sich treffen und es ihnen gelingt, eine – wie immer rudimentäre – Öffentlichkeit herzustellen, ist ein großer Schritt zur Überwindung der Ratlosigkeit bereits getan. Das Entscheidende ist das Durchbrechen der Isolation und die Rückkehr zur Sprache als dem Medium des Überlegens. Gewiss gibt es keinerlei Garantie für eine tatsächliche Lösung des Problems, auch kann die wiederholte Erfahrung der Ergebnislosigkeit und des fruchtlosen In-sich-Kreisens der Diskussionen oder die darin stattfindende wechselseitige Bestätigung der Aussichtslosigkeit unter Umständen einen erneuten Rückzug bewirken – und doch ist schon das Zur-Sprache-Bringen, also das Artikulieren der eigenen Perspektive gegenüber einem aufgeschlossenen anderen eine probate Methode, den Selbstlauf der Affekte zu unterbrechen und dadurch Chancen des Überlegens einzuleiten. Dennoch bleibt festzuhalten: Ratlosigkeit ist immer individuell. Im strengen Sinne können nur Individuen ratlos sein. Wo viele ratlos sind, sind es stets viele ratlose Einzelne. Sicher kann die Ratlosigkeit des einen auf den anderen abfärben oder dessen Ratlosigkeit verstärken, und ebenso kann sich die Ratlosigkeit vieler zu einer allgemeinen Grundstimmung verdichten, die über Jahre anhalten und ganze Generationen prägen kann. Trotzdem sind Häufigkeit und Verbreitung nicht mit Kollektivität zu verwechseln. Die Ratlosigkeit separiert die Menschen und treibt sie auseinander. Wenn kollektive Akteure – Gruppen, Organisationen, Gesellschaften – in eine Sackgasse geraten und in ihren Entwicklungschancen blockiert sind, so sind sie nicht „ratlos“, sondern es mangelt ihnen an Führung. Auch diese liegt freilich in der Hand autorisierter Personen, die ihrerseits Berater haben oder gelegentlich andere um Rat fragen. Gesellschaft ist nach einer be-
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kannten Formulierung von Norbert Elias stets „die Gesellschaft der Individuen“. Wo Individuen in Ratlosigkeit verfallen, bedürfen sie anderer, die Rat wissen.
Literatur Becker, H.S., 1994: Die Kunst des professionellen Schreibens. Ein Leitfaden für die Geistesund Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M./New York. Bieri, P., 2001: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien. Bollnow, O.F., 1956: Das Wesen der Stimmungen, 3. Auflage, Frankfurt a.M. Hohl, L., 1990: Nuancen und Details, Frankfurt a.M. Jahoda, M., u. a., 1973 (1933): Die Arbeitslosen von Marienthal, Frankfurt a.M. Kierkegaard, S., 2002 (1849): Die Krankheit zum Tode, 4. Auflage, Hamburg. Kronauer, M., u. a., 1994: Im Schatten der Arbeitsgesellschaft. Arbeitslose und die Dynamik sozialer Ausgrenzung, Frankfurt a.M./New York. Mercier, P., 2004: Nachtzug nach Lissabon, München/Wien. Paris, R., 2005: Raten und Beratschlagen. In: sozialer sinn 6, 353 – 388. Paris, R., 2009: Gleichheit. Ein systematisches Argument. In: Merkur 63, 653 – 665. Paris, R., 2010: Der Verlierer. In: S. Moebius/M. Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin, 443 – 450. Rogers, C.R., 1972: Die nicht-direktive Beratung, München. Rogers, C.R., 1980: Empathie – eine unterschätzte Seinsweise. In: Ders./R.L. Rosenberg: Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit, Stuttgart, 75 – 93. Sartre, J.P., 1967: Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek bei Hamburg. Schütz, A./Luckmann, T., 2003: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz. Sofsky, W., 1983: Die Ordnung sozialer Situationen, Opladen. Sofsky, W., 1997: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M. Sofsky, W./Paris, R., 1994: Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition, Frankfurt a.M. Theunissen, M., 1993: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a.M.
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Willensschwäche als inhärent soziales Phänomen Mit Willensschwäche wird in der philosophischen Diskussion gemeinhin das Phänomen bezeichnet, dass „jemand nicht tut,was er für das Beste hält, obwohl er es tun könnte“ (Wolf 1985, 21). In Antike und Mittelalter wurde dieses Problem unter den Termini von akrasia und incontinentia primär als Gegenstand der Moralphilosophie und -psychologie diskutiert;¹ im 20. Jahrhundert hat Donald Davidson (1980) mit seinem epochemachenden Aufsatz „How is weakness of the will possible?“ den Fokus auf die Schwierigkeiten gelegt, die durch die Existenz dieses Phänomens in der Handlungstheorie entstehen. Sowohl die moralpsychologische als auch die handlungstheoretische Verortung leisten prima facie einer am Individuum orientierten Betrachtungsperspektive Vorschub, in der die beim einzelnen Akteur involvierten Handlungsdispositionen, Wünsche, Urteile, Überzeugungen oder Gefühle im Vordergrund der Analyse stehen. Überlegungen zu sozialen Dimensionen des Phänomens sind hingegen rar gesät; sie beschäftigen sich meistens mit einem der beiden folgenden Themenkomplexe: (1) Soziale Ursachen oder Hintergründe für individuelle Willensschwäche: Es gibt Fälle, in denen jemand das, was er nicht für richtig hält, aus sozialem Konformitätsdruck tut, z. B. aus peer pressure. Ein Beispiel hierfür ist der berühmte Birnendiebstahl, der von Augustinus im zweiten Buch seiner Confessiones als ein Beispiel für moralische Willensschwäche geschildert wird: Als ein ursächlicher Faktor für die eigene Sünde – wenn auch nicht als einziger – wird hier die gemeinsame Komplizenschaft genannt.² Viele Fälle von Mitläufer- bzw. Mittätertum, die in irgendeiner Weise gegen die eigene Überzeugung des individuellen Akteurs gehen, dürften in dieses Schema passen. Dabei kann es sich um episodische Vorkenntnisse handeln, aber es ist durchaus auch denkbar, dass hier eine habituelle bzw. charakterliche Ebene angesprochen ist. So meint etwa Amelie Oksenberg Rorty, dass viele akratische Konflikte des Individuums auf mixed messages der gesellschaftlichen Umgebung zurückgehen, die sein Präferenzsystem auf subkutaner Ebene inhaltlich widersprüchlich beeinflussen.³ Der sich in der
Vgl. hierzu umfassend: Müller 2009. Vgl. Augustinus, Confessiones II, 8, 16, wo die „Liebe zur Gemeinschaft“ mit seinen Spießgesellen eine wichtige Rolle in der Handlungsmotivation des jungen Augustinus spielt. Vgl. Rorty 2005, bes. 212: „Gemischte Botschaften gehören zum Repertoire der Gesellschaft; Ambivalenz ist das A und O der Kultur. Kooperative Gewohnheiten werden zwar gefördert, doch
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Willensschwäche oftmals offenbarende „gespaltene“ Charakter kann dann als ein Produkt seiner sozialen und politischen Umgebung gedeutet werden.⁴ (2) Analogien von individueller Willensschwäche und kollektiven Formen von Irrationalität: Im Ausgang von der social choice theory hat es Versuche gegeben, das intrapersonale Phänomen der Willensschwäche über interpersonale Analoga zu deuten oder zu beleuchten. So hat etwa Jon Elster (1985) impulsive Willensschwäche auf der Ebene des Individuums über das in der Theorie kollektiver Handlungen viel diskutierte „Schwarzfahrer-Problem“ modelliert, um die involvierten rationalitätstheoretischen Prämissen auszubuchstabieren. Eine andere Verbindungslinie zwischen individueller und sozialer Dimension zeichnet sich in den gegenwärtigen Forschungen zum gemeinsamen Handeln und zu kollektiven Formen von Intentionalität ab: Wenn Gruppen als solchen ein intentionales Wollen und Handeln zugeschrieben wird, das nicht bloß in den summierten mentalen und körperlichen Aktivitäten ihrer Mitglieder aufgeht, was spricht dann dagegen, dass Formen von Irrationalität, zu denen Willensschwäche ja gemeinhin gezählt wird, auch auf kollektiver Ebene mutatis mutandis auftreten? In diesem Sinne hat z. B. Philip Pettit (2003) untersucht, welche Gruppen überhaupt zu kollektiver akrasia fähig sind, wie sich diese konkret gestaltet und welche Rückschlüsse man vor hier aus ggf. wieder für die individuelle Willensschwäche ziehen kann. Auch wenn sich gerade dieser letzte Ansatz zur kollektiven Willensschwäche durchaus zur Vertiefung anbieten würde, möchte ich im Folgenden doch eine andere Linie verfolgen und eine Frage stellen, die in den bisherigen sporadischen Diskussionen zu sozialen Dimensionen des Problems m. E. noch keine angemessene Berücksichtigung gefunden hat: Ist Willensschwäche in bestimmten Aspekten selbst ein inhärent soziales Phänomen? Lassen sich aus der Art und Weise, in der dieses Phänomen in der Philosophie analysiert und in der Alltagssprache beschrieben wird, möglicherweise Tiefenstrukturen zu Tage fördern, für die Sozialität eine konstitutive Bedingung ist? zugleich bewundern wir radikale Unabhängigkeit. Aggressives Verhalten wird zwar verurteilt, doch zugleich preisen wir die ‚aggressive Initiative‘. […] Die Devisen einer Gesellschaft – selbst ihre Belohnungen und Sanktionen – bilden kein klares und leitendes Muster. Die Spannungen zwischen ihnen bieten eine reichhaltige und fruchtbare Brutstätte für die Konflikte, die sich in der Akrasia äußern.“ Gewissermaßen die umgekehrte Blickrichtung nimmt übrigens Platon ein, wenn er die schlechten Staatsverfassungen in Politeia VIII-IX auf die seelischen Verfasstheiten der (herrschenden) Bürger zurückführt. Die innerseelischen Konflikte, wie sie v. a. in Politeia IV als Bürgerkrieg (stasis) beschrieben werden, schlagen damit quasi auf staatlicher Ebene durch. Auch das erlaubt auf jeden Fall eine vergleichende Betrachtung von individueller und kollektiver Akrasia. Vgl. hierzu Rebentisch 2009.
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Auf richtungweisende Überlegungen zu dieser Frage stößt man m. E. nicht erst in der heutigen Diskussion, sondern bereits an den philosophiegeschichtlichen Wurzeln dieser Problematik, nämlich bei Aristoteles. Im Folgenden möchte ich deshalb zuerst in Anlehnung an die aristotelische akrasia-Analyse die verdeckte soziale Dimension der Willensschwäche freilegen (Teil 1). Anschließend möchte ich auf dieser Basis an Überlegungen aus der zeitgenössischen Diskussion, und zwar zu Willensschwäche und interpersonaler Zuschreibung, andocken, um den herkömmlichen intrapersonalen Diskussionsrahmen der Willensschwäche mit seiner Fokussierung auf individuelle Überzeugungen, Urteile und Emotionen in Richtung der sozialen Dimensionen des Phänomens weiter aufzuweichen (Teil 2). Um die Hintergrundbedingungen des daraus resultierenden Verständnisses noch klarer zu konturieren, wird auch ein kurzer Blick auf die rationalitätsspezifischen Erwartungsnormen in Bezug auf Selbstkontrolle, also auf den korrespondierenden Begriff der Willensstärke geworfen (Teil 3). Abschließend sollen die Resultate dieser Analysen im Blick auf die oben gestellte Leitfrage gebündelt werden, inwiefern die Rede von Willensschwäche als einem inhärent sozialen Phänomen gerechtfertigt werden kann (Teil 4).
1 Aristoteles: Unbeherrschtheit als Verfehlen einer sozial bestimmten Norm Im siebten Buch seiner Nikomachischen Ethik beschäftigt sich Aristoteles mit dem Phänomen der akrasia (wörtlich: der „Unbeherrschtheit“) unter zwei leitenden Gesichtspunkten:⁵ (I) Zum einen möchte er möglichst genau eingrenzen, was akrasia in Abgrenzung von anderen moralisch relevanten psychischen Dispositionen überhaupt ist. Zu diesem Zweck wird sowohl ihr Gegenstandsbereich als auch der mentale Zustand des Unbeherrschten so präzise wie möglich bestimmt. (II) Im Zuge dieses Unternehmens setzt Aristoteles sich in kritischer Absicht mit der sokratischen These auseinander, nach der niemand gegen sein besseres Wissen handelt,⁶ was der Alltagserfahrung massiv widerspricht. Er klärt dann Vgl. zum Folgenden Aristoteles, Nikomachische Ethik [= NE] VII 1– 11. Für eine ausführliche Analyse der akrasia-Problematik bei Aristoteles vgl. Müller 2009, 109 – 155. Zu dieser Leugnung der akrasia durch Sokrates vgl. Platon, Protagoras 351b-358e, sowie Xenophon, Memorabilia III, 9, 4. Aristoteles (NE VII 3, 1145b 25 – 27) stellt bündig fest: „Sokrates lehnte ja die fragliche Auffassung vollständig ab in der Überzeugung, es gebe keine Unbeherrschtheit (akrasia). Niemand, so pflegte er zu sagen, handelt gegen das Beste in der Überzeugung, dies zu tun, sondern [man handelt so nur] aufgrund von Unwissenheit (agnoia).“ Eine
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durch die Unterscheidung von aktuellem und habituellem Wissen sowie unter Rekurs auf die von ihm entwickelte handlungspsychologische Figur des praktischen Syllogismus, inwiefern ein Handeln gegen besseres Wissen bzw. Urteil trotz der sokratischen Einwände doch möglich ist. In der gegenwärtigen Literatur zur Willensschwäche wird fast ausschließlich die unter (II) geleistete logische und kausale Analyse des akratischen Handelns berücksichtigt, weil sie sich am besten mit den heute dominanten handlungstheoretischen Interessen an diesem Problem verbinden lässt. Die Klärung von (I), also wie akrasia von anderen verwandten Phänomenen abgegrenzt werden kann, wird hingegen meist eher stiefmütterlich behandelt. Genau hier lassen sich aber m. E. zentrale Einsichten zum sozialen Charakter von Willensschwäche gewinnen, weswegen nachfolgend zumindest die aristotelischen Grundideen in diesem Bereich skizziert werden sollen. Akrasia wird von Aristoteles elementar von zwei anderen Dispositionen, die zu schlechtem Handeln führen und deshalb zu meiden sind, unterschieden: (1) Grundlegend ist die Verhältnisbestimmung von Unbeherrschtheit und dem Laster der Unmäßigkeit (akolasia).⁷ Beiden Dispositionen gemeinsam ist das übermäßige Erstreben von bestimmten körperlichen Lüsten, nämlich solchen des gustativen und taktilen Bereichs; sie sind also zumindest in ihrem Gegenstandsbereich identisch. Aristoteles nennt nun vier zentrale Kriterien zur Unterscheidung von akrasia und akolasia: (a) Während der Unmäßige das übertriebene Streben nach solchen körperlichen Lüsten für richtig hält und deshalb in Einklang mit seinem Urteil handelt, heißt der Akratiker sein faktisches Handeln prinzipiell nicht gut. (b) Er verstößt nämlich explizit gegen seinen eigenen Vorsatz (prohairesis), d. h. gegen das Resultat seiner vorherigen rationalen Deliberation, während der Unmäßige gerade aus Vorsatz handelt. Obwohl sie also das Gleiche tun, haben sie verschiedene Einstellungen zu ihrem Tun, worin dann auch die unterschiedliche moralische Bewertung der Akteure begründet ist: Der Unmäßige ist bei Aristoteles im Vollsinne schlecht, der Unbeherrschte hingegen nur „halb schlecht“ (hêmiponêros: NE VII 11, 1152a 17), insofern bei ihm zumindest das Prinzip seiner Überlegungen und Entschlüsse nicht falsch justiert ist, auch wenn es de facto nicht handlungswirksam wird. (c) Diese Differenz zeigt sich auch darin, dass der Unbeherrschte im Unterschied zum Unmäßigen sein Tun im Nachhinein bereut und sich damit von seinem ähnliche Auskunft findet sich auch in den Aristoteles zugeschriebenen Magna Moralia II 4, 1200b 25 – 28. Vgl. zu den folgenden Unterschieden v. a. NE VII 4, 1146b 14– 24; VII 6, 1148a 13 – 22; VII 9, 1150b 29 – 36.
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Handeln ex post distanziert. Warum handelt der Unbeherrschte dann aber überhaupt schlecht, wenn dies im Gegensatz zu seinen Überzeugungen steht? Er steht zum Zeitpunkt des Handelns unter dem kausalen Einfluss einer Leidenschaft (pathos), nämlich der Begierde (epithymia), die massiv auf die entsprechenden körperlichen Güter ausgerichtet ist. Diese irrationale Strebung erweist sich als stärker als der rationale Vorsatz und übernimmt quasi die Handlungssteuerung. Auch darin liegt ein wichtiges, in der Forschung übrigens wenig beachtetes Unterscheidungskriterium: (d) Beim Unmäßigen muss nur eine sehr schwache Begierde vorhanden sein, um die Handlung auszulösen, denn bei ihm richtet sich ja schon das fehlgeleitete vernünftige Streben auf den übermäßigen Genuss körperlicher Güter; er ist affektiv in keinem besonders erregten Zustand (vgl. NE VII 8, 1150a 17– 21). Beim Unbeherrschten muss die quantitative Intensität der sinnlichen Begierde hingegen zumindest die des konträren rationalen Wunsches (boulêsis), der dem bereits gefassten Vorsatz zugrunde liegt, übersteigen, um sich der Handlung zu bemächtigen.⁸ Hier sind Begierde und rationaler Wunsch also im Widerspruch zueinander, während sie beim Unmäßigen auf einer Linie liegen. Der Unbeherrschte ist somit von psychischen Konflikten gekennzeichnet, während der Unmäßige letztlich in harmonischem Übereinklang mit seiner seelischen Verfasstheit bzw. seinem Charakter handelt. Maßstab für die Unterscheidung zwischen Unbeherrschtheit und Unmäßigkeit sind demgemäß v. a. die mentalen bzw. psychischen Zustände des Akteurs. (2) Die zweite, in der Literatur tendenziell etwas schamhaft übergangene Abgrenzung vollzieht Aristoteles zwischen Unbeherrschtheit und „tierischer Rohheit“ (thêriotês).⁹ Hier bezieht sich das Unterscheidungskriterium zuerst einmal auf äußere Handlungen: Während es sich bei akrasia (ebenso wie bei akolasia) um normale Fälle von Völlerei u. ä. handelt, bezeichnet theriôtês z. B. Fälle von Kannibalismus, die Aristoteles als besonders monströs schildert und die er letztlich auf fundamentale Defekte in der psychischen Disposition des Akteurs zurückführt. Solchen Akteuren erscheinen Dinge als angenehm, die den meisten anderen Menschen per se als widerwärtig erscheinen. Die anomale Disposition des tierisch Verrohten, die sich in verfehlten Lustempfindungen und daraus resultierenden Handlungen äußert, kann dabei auf drei Weisen zustande kommen:
Beim Unbeherrschten „verdrängt“ (ekkrouetai: EE II 8, 1224b 24) die Begierde die Überlegung, so „wie eine Kugel eine andere wegstößt“ (De anima III 11, 434a 13). Die hydraulische Metapher verweist auf einen durch die kausale Stärke regulierten inneren Konflikt. Zur dahinterstehenden Handlungspsychologie bei Aristoteles vgl. Corcilius 2008. Vgl. hierzu v. a. NE VII 6, 1148b 15 – 1149b 20; VII 7, 1149b 27– 1150a 8. Eine der wenigen Untersuchungen zu dieser Thematik bietet Thorp 2003.
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Sie kann (a) angeboren sein, oder (b) durch Gewöhnung oder (c) durch Krankheit erworben werden. Der Unterschied zum Akratiker ist dabei wie folgt zu markieren: Das Problem des Unbeherrschten ist nicht, dass er überhaupt körperlich lustvolle Dinge wie Essen und Trinken erstrebt (das liegt nach Aristoteles in der menschlichen Natur), sondern dass er sie gelegentlich im Übermaß und gegen sein eigenes vernünftiges Urteil begehrt; der tierisch Verrohte hingegen erstrebt und tut etwas, was jeden normalen Menschen – also auch den Unbeherrschten und Unmäßigen – grundsätzlich (und nicht erst im Übermaß) abstößt.¹⁰ Dass Aristoteles die tierische Rohheit oft explizit mit Barbaren in Verbindung bringt, ist hierbei nicht bloß Ausdruck eines kulturellen Präjudizes – es gibt nach Aristoteles durchaus auch „vertierte“ Griechen (vgl. NE VII 1, 1145a 30 – 32) –, sondern markiert zugleich einen normativen Maßstab, nämlich den des Menschlichen im Gegensatz zum Tierischen: Aus dem Menschlichen fällt der Verrohte heraus, während der Unbeherrschte sich gewissermaßen noch in dessen Rahmen hält: „Unbeherrschtheit überhaupt (akrasia haplôs) ist nur diejenige Unbeherrschtheit, die der menschlichen Unmäßigkeit entspricht.“¹¹ Hier könnte man schon argumentieren, dass Aristoteles unter der Hand de facto mit einem eher sozial verwurzelten Kriterium zur Abgrenzung der akrasia operiert, insofern die Distinktion von „menschlich“ und „unmenschlich“ erkennbar an mit der Barbarei kontrastierte Normalitätsvorstellungen der griechischen Gesellschaft rückgebunden ist. Der Begriff der Natur (physis) ist bei Aristoteles nun zwar insgesamt sehr eng an den der Normalität geknüpft, aber gerade
NE VII 6, 1148b 15 – 19: „Da nun einiges von Natur aus angenehm ist, und zwar das eine überhaupt, das andere für bestimmte Arten von Tieren und von Menschen, anderes hingegen nicht von Natur aus angenehm ist, sondern teils aufgrund von Defekten dazu wird, teils durch Gewöhnung, teils durch schlechte Naturanlagen, kann man auch bei jeder dieser Arten entsprechende Dispositionen (hexeis) erkennen. Ich meine nämlich die tierhaften Dispositionen (thêriôdeis) […]“ . Diesen tierhaften Dispositionen entsprechen auch andere, „durch Krankheiten oder durch Wahnsinn“ (ebd., 1148b 25) entstandene Verfassungen, die Aristoteles in NE VII strukturell analog verhandelt. NE VII 6, 1149a 19 – 20; Hervorh. J.M. Vgl. auch NE VII 7, 1149b 27– 30: „Denn wie am Anfang gesagt wurde [vgl. 1148b 15 – 19; Anm. 10; J.M.], sind einige Arten der körperlichen Lust sowohl der Gattung wie der Größe nach menschlich und natürlich, andere sind tierhaft, andere wiederum gehen auf Behinderungen und Krankheiten zurück. Nur mit den ersteren haben Mäßigkeit und Unmäßigkeit zu tun.“ Wenn also Menschen über eine solche tierische Disposition verfügen, können sie nur im übertragenen Sinne (kata metaphoran) als unbeherrscht oder unmäßig bezeichnet werden. Grundsätzlich grenzt Aristoteles die Unbeherrschtheit im eigentlichen Sinne (haplôs) sehr eng von anderen Formen ab, die nur aufgrund einer Ähnlichkeit oft mit ihr gemeinsam verhandelt werden. Zugrunde liegt hier eine Differenzierung der jeweiligen Güter; vgl. v. a. NE VII 6, 1148a 22– b 14.
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nicht in kulturrelativistischer Absicht, sondern eher im Sinne einer beobachtbaren und deskriptiv erfassbaren „Regularität“ von Erscheinungen.¹² Das Verhalten mancher Barbaren markiert also in seiner Konzeption eine eher irreguläre bzw. krankhafte Aberration von dieser universalistisch verstandenen menschlichen Natur und nicht bloß das Abweichen von einer griechischen Sozialnorm. Aber mit der Kennzeichnung der akrasia als „menschlich“ ist bei Aristoteles definitiv ein anderes soziales Moment verbunden. Das Unmenschliche der tierischen Rohheit und verwandter Dispositionen bezeichnet nämlich bei näherem Hinsehen nicht nur das Verfehlen eines deskriptiv erfassbaren Maßstabs von Normalität, sondern auch eine Grenze der Verantwortlichkeit für das Vorhandensein solcher Verfassungen und die aus ihnen resultierenden Handlungen: Sie liegen im strikten Sinne „außerhalb der Schlechtigkeit“,¹³ d. h. sie sind kein unmittelbarer Gegenstand des moralischen Tadels. Hier gilt, dass Lob und Tadel nicht aufgrund dessen verteilt werden, was durch Notwendigkeit, Zufall oder Natur gegeben ist, sondern nur aufgrund von Dingen, deren Urheber wir persönlich sind, für die wir also direkt verantwortlich sind (vgl. Eudemische Ethik [= EE] II 6, 1223a 9 – 15). Damit man in diesem Sinne verantwortlich für sein Handeln ist, setzt Aristoteles voraus, dass es beim Akteur selbst liegt, dieses Handeln zu vollziehen bzw. zu unterlassen.¹⁴ Was es heißt, dass etwas „beim Akteur“ liegt, wird nun wie folgt expliziert: Denn der Begriff ‚bei ihm‘ (eph’ hautô), auf den alles ankommt, bedeutet ‚das, was die Menschennatur (hê autou physis) zu tragen imstande ist‘.Was sie aber nicht tragen kann und was nicht im Bereich der naturgegebenen Strebung oder Überlegung des Handelnden ist, das steht nicht bei ihm. (EE II 8, 1225a 25 – 27)
Die von Franz Dirlmeier an dieser Stelle gewählte Übersetzung von hê autou physis mit „Menschennatur“ bezieht in einer gewichtigen Sachfrage Stellung, denn es
Vgl. hierzu Müller 2006, bes. 18 f., mit weiteren Überlegungen zur normativen Funktion des Naturbegriffs bei Aristoteles und seiner universalistischen Stoßrichtung. Vgl. NE VII 6, 1148b31– 1149a1: „Diejenigen, bei denen die Natur die Ursache ist, wird niemand unbeherrscht nennen, wie man auch nicht die Frauen unbeherrscht nennen würde, weil sie in der sexuellen Vereinigung nicht aktiv, sondern passiv sind. Dasselbe gilt auch für diejenigen, die aufgrund von Gewöhnung in einer krankhaften Disposition sind. Solche einzelnen Dispositionen zu haben, liegt außerhalb der Grenzen der Schlechtigkeit, wie auch die tierische Rohheit.“ Vgl. u. a. EE II 6, 1222b 41– 1223a 7; II 9, 1225b 8 – 10. Eine immer noch wegweisende Interpretation des Verständnisses von Willentlichkeit und Zwang im Vergleich der beiden aristotelischen Ethiken bietet Kenny 1979; vgl. auch Heinaman 1988, der v. a. die Differenzen von EE und NE hervorhebt.
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könnte ja auch statt der menschlichen Artnatur die individuelle Natur des Akteurs, also sein persönlicher Charakter, gemeint sein. Aristoteles changiert insgesamt in seinen ethischen Schriften bei der Frage der Zuschreibbarkeit von Handlungen an Individuen zwischen „bei ihm“ (im Singular), womit meist das individuelle Vermögen des Akteurs in der konkreten Situation gemeint ist, und „bei uns“ (eph’ hêmin) im Plural, womit eher so etwas wie eine generelle menschliche Fähigkeit gemeint ist (die dem Einzelnen in einer spezifischen Lage auch einmal abgehen kann).¹⁵ Im Kontext der zitierten Passage ist allerdings gerade von Zwangsphänomenen wie überwältigendem Eros oder prophetischer Wahnbegeisterung die Rede, die nach Aristoteles letztlich jeden Menschen zwingen können, „weil sie so stark sind und über die Natur hinausreichen“ (EE II 8, 1225a 21).¹⁶ Gerade deshalb sind sie kein Gegenstand des moralischen Tadels, sondern der Nachsicht (syngnômê): Man darf nämlich von keinem Menschen erwarten, dass er sich ihnen entziehen kann,¹⁷ und d. h., dass er ggf. nicht willentlich (hekôn), sondern unwillentlich (akôn) in diesem Zustand ist bzw. aus ihm heraus handelt. Insofern die hier involvierten psychischen Kräfte außermenschlich sind, liegen sie ebensowenig bei irgendeinem menschlichen Akteur wie die tierische Rohheit und die damit verwandten Dispositionen, die ebenfalls jenseits der menschlichen Natur liegen. Auf diese Weise ist ein deutliches Abgrenzungskriterium zur akrasia gegeben, denn diese wird von Aristoteles eindeutig als „willentlich“ gekennzeichnet¹⁸ und damit als etwas, das als Menschenmögliches beim Akteur liegt, insofern sich seine psychischen Zustände im Rahmen der normalen menschlichen Maßstäbe bewegen: Der Verrohte steht unter einem außermenschlichen psychischen Zwang (und ist damit gewissermaßen entschuldigt), während der Unbeherrschte nicht per se überfordert ist, deshalb aber auch die Verantwortung für sein Handeln trägt und Gegenstand des moralischen Tadels ist. Die Grenze zwischen Willensschwäche
Menschen haben generell die Fähigkeit, Steine zu werfen, ein gefesselter Akteur hat sie aber zumindest vorübergehend nicht. Vgl. hierzu auch meine Überlegungen zum Zusammenhang von eph’hêmin und Willentlichkeit bzw. Freiheit bei Aristoteles in Müller 2013. Vgl. zur Thematik der „preternaturally strong passions“ auch Kenny 1979, 45 – 48. Vgl. NE III 1, 1110a 23 – 25: „In manchen Fällen erfährt man […] Verzeihung, nämlich dann, wenn jemand Dinge, die man nicht tun soll, aufgrund von Bedingungen tut, welche die menschliche Natur übersteigen (tên anthrôpinên physin hyperteinei) und die keiner aushalten würde.“ Vgl. NE VII 11, 1152a 15 – 17: „Und er handelt zwar freiwillig (hekôn) – denn in gewisser Weise weiß er, was er tut, und ebenso zu welchem Zweck er es tut –, ist aber nicht schlecht, da sein Vorsatz gut ist.“ Auch die äußerst komplexe Diskussion zu Willentlichkeit und Zwang in EE II 7– 8, in der Aristoteles extensiv auf akrasia zur Problematisierung der Phänomene zurückgreift, basiert auf der Annahme des willentlichen Charakters der Unbeherrschtheit.
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und Zwang, die wir auch heute noch – und zwar gerade in bewertender Absicht – im Sprachgebrauch ziehen, verläuft bei Aristoteles somit zumindest teilweise entlang der Unterscheidung von Unbeherrschtheit und Rohheit. Damit sieht es erst einmal so aus, als ob Aristoteles die in die allgemeine Bestimmung von Willensschwäche als „Nicht-Tun dessen, was jemand für das Beste hält, obwohl er es tun könnte“ eingebaute Freiheitsklausel bestätigt: Was willensschwache Handlungen von zwanghaften unterscheidet, ist gerade, dass der Akteur sie auch hätte unterlassen und seinem Urteil über das Beste hätte folgen können. Das Kriterium für die Zuschreibung von akrasia wäre dann die faktisch vorhandene Fähigkeit des einzelnen Akteurs, seiner lustorientierten Begierde in der jeweiligen Situation zu widerstehen und seinem rationalen Urteil auch unter dem vorhandenen emotionalen Druck treu zu bleiben. Aber ein genauerer Blick weist in eine andere Richtung: De facto nimmt Aristoteles nämlich bei seiner Beschreibung von akrasia über die individuellen Zustände des Akteurs hinaus primär Bezug auf einen sozialen Vergleichsmaßstab. Dies belegen die folgenden Passagen: (i) [J]emand kann so verfasst sein, dass er dem unterliegt, dem die Vielen (hoi polloi) überlegen sind; es kann aber auch jemand das beherrschen, dem die Vielen unterlegen sind. In Bezug auf die Lust heißt der eine unbeherrscht (akratês), der andere beherrscht (enkratês); hinsichtlich der Unlust ist der eine weichlich (malakos), der andere ausdauernd (karterikos). Die Disposition der meisten Menschen (tôn pleistôn) liegt dazwischen, auch wenn sie mehr zum Schlechteren neigen. (NE VII 8, 1150a 11– 16) (ii) Die Unbeherrschtheit und die Beherrschtheit haben es mit dem zu tun, was über die Disposition der Vielen (tôn pollôn) hinausgeht. Denn der eine bleibt mehr, der andere weniger bei Dingen, als es die meisten Menschen (tôn pleistôn) vermögen. (NE VII 11, 1152a 25 – 27) (iii) Wer nun versagt, wo die Vielen (hoi polloi) widerstehen und dies vermögen, ist weichlich und verwöhnt. […] Ebenso verhält es sich auch bezüglich der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit. Denn es ist nicht erstaunlich, wenn jemand von starker und übergroßer Lust oder Unlust besiegt wird – vielmehr ist das verzeihlich, wenn er versucht hat zu widerstehen […]. Erstaunlich ist es hingegen, wenn jemand den Dingen, denen die Vielen (hoi polloi) widerstehen können, unterliegt und ihnen nicht Widerstand zu leisten vermag, und zwar nicht durch Vererbung oder Krankheit […]. (NE VII 8, 1150b 1– 14) (iv) Der Unbeherrschte gleicht ja denen, die schnell und von wenig Wein betrunken werden, das heißt von weniger Wein als die Vielen (hoi polloi). (NE VII 9, 1151a 3 – 5)
Schwäche erscheint hier nicht als eine Eigenschaft, die Akteuren und Handlungen an sich im Blick auf bestimmte Objekte zukommt, sondern die von der Relationalität des interpersonalen Vergleichs lebt: Man ist stärker oder schwächer als andere. Die soziale Bezugsnorm, auf die hin willensschwaches Verhalten diagnostiziert werden kann, sind bei Aristoteles die Vielen (hoi polloi), was hier ko-
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extensional mit die Meisten (hoi pleistoi) verwendet wird, wie die Texte (i) und (ii) zeigen. So wie „die Vielen“ bestimmte evaluative Konnotationen transportiert – hoi polloi hat im Griechischen generell einen pejorativen Zungenschlag in Richtung „Plebs“ –, verweist „die Meisten“ auch auf eine quantitative Dimension dieses Ausdrucks im Sinne einer ggf. auch statistisch nachweisbaren Mehrheit. Zusammen konstituieren diese beiden Ausdrücke also eine Art Durchschnittsnorm, ein gesellschaftliches Man.¹⁹ Die Pointe ist nun folgende: Die Affekte und Begierden des Akratikers sind entgegen einer Common-Sense-Annahme keineswegs stärker als die, welche man, also der Durchschnittsmensch, empfindet und denen die meisten keineswegs automatisch unterliegen; vielmehr sind sie tendenziell sogar schwächer, wie die Stellen (i) bis (iv) belegen – gerade deshalb hält Aristoteles das Unterliegen des Akratikers im inneren Kampf für moralisch tadelnswert. Die in Text (iv) hergestellte Analogie mit dem schnell Betrunkenen, mit dessen kognitivem Zustand der Unbeherrschte auch andernorts mehrfach verglichen wird,²⁰ ist hier sehr aussagekräftig: Der Unbeherrschte verträgt gewissermaßen nichts, d. h. er unterliegt sinnlichen Verlockungen, die den normalen Akteur nicht aus der Bahn werfen würden. Aber damit ist nicht unbedingt gesagt, dass der jeweilige Unbeherrschte unter identischen Umständen genauso gut auch anders hätte verfasst sein bzw. handeln können – mancher nicht so trinkfeste Mensch ist eben schon von einem Bier betrunken. Man muss die Freiheitsklausel für unbeherrschtes Handeln bei Aristoteles keineswegs im starken Sinne des Prinzips alternativer Möglichkeiten für diesen spezifischen Akteur in dieser konkreten Situation verstehen, sondern eher in der Weise, dass ein normaler Mensch in der jeweiligen Situation hätte widerstehen können – also im Sinne des allgemein Menschenmöglichen. Die Kennzeichnung eines unbeherrschten Akteurs bzw. seines Handelns als willentlich (hekôn) kann dann aber gerade nicht allein auf individueller Ebene erfolgen, indem man die beim Akteur involvierten inneren mentalen Zustände für sich betrachtet; vielmehr beruht sie wesentlich auf einer Zuschreibung in einem sozialen Vergleichsrahmen des Man, in dem sich Deskriptivität und Normativität kreuzen – ebenso, wie in der Aussage „Von einem Bier wird man noch nicht betrunken“ sowohl mitschwingt, dass das de facto so gut wie nie der Fall ist, als auch, dass sich der Verweis auf einen solchen Umstand kaum dazu eignet, um daraus resultierendes eigenes Fehlverhalten zu rechtfertigen.
Ich danke Ingo Günzler für eine klärende Diskussion zu diesem wichtigen Punkt. Vgl. NE VII 5, 1147a 14 und 1147b 7; VII 11, 1152a 15. Zur Ausdeutung dieser Metaphorik vgl. Gosling 1993.
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Der Unbeherrschte verfehlt in seiner inneren Verfasstheit also im Wesentlichen eine sozial bestimmte Norm, die Aristoteles als Ausdruck des durchschnittlich Menschlichen sieht. Der Beherrschte hingegen erfüllt diese Norm nicht bloß, sondern übererfüllt sie, denn er leistet ja gerade stärkeren Verlockungen bzw. Begierden Widerstand, als man es normalerweise tut (vgl. NE VII 3, 1146a 9 – 16). Durch diese Normverfehlung bzw. -übererfüllung erklärt sich dann auch die gegensätzliche moralische Bewertung der beiden Dispositionen bei Aristoteles. Man könnte die Beschreibung von Willensschwäche im Anschluss an die skizzierte Analyse also wie folgt reformulieren: „Willensschwach ist jemand, der nicht tut, was er für das Beste hält, obwohl man [statt: er] es könnte.“
2 Willensschwäche und interpersonale Zuschreibung Was lässt sich nun aus diesen Befunden für das allgemeine Verständnis von Willensschwäche ableiten? Gary Watson (2005 [1977]) hat in direkter Bezugnahme auf Aristoteles ein revisionäres Verständnis von Willensschwäche vorgeschlagen, in dem die konzeptuell unverzichtbare Abgrenzung dieses Phänomens zum grundsätzlich entschuldigten Zwangsverhalten nicht über das faktische Vermögen des Akteurs, in der Situation anders zu handeln, etabliert wird, sondern über die Relativität zu sozialen Erwartungen und Normen: Es gibt Fähigkeiten und Fertigkeiten des Widerstehens, die generell im normalen Gang der Sozialisation und Praxis erworben werden und für deren Erwerb und Aufrechterhaltung wir einander verantwortlich machen. Schwache Akteure werden den Maßstäben der ‚vernünftigen und normalen Selbstbeherrschung‘ nicht gerecht (und dafür machen wir sie verantwortlich), während zwanghafte Akteure von Wünschen motiviert werden, denen sie nicht einmal dann widerstehen könnten, wenn sie diesen Maßstäben gerecht würden. (Watson 2005, 121)²¹
Bei Zwangshandlungen sind laut Watson irresistible desires im Spiel, wobei deren Unüberwindlichkeit nicht in einer inneren Erfahrung des Akteurs begründet liegt, sondern in einer generalisierten Annahme, dass sie in ihrer Stärke die menschliche Natur – wie Aristoteles es ausdrücken würde – überfordern. Willensschwäche hat es hingegen mit menschlichen Anfechtungen zu tun, so dass der
Vgl. auch Audi 1979, 185: „[W]hat counts as weakness of will depends on some standard of how much will power a normal person may be reasonably expected to have and exercise in the relevant circumstances.“
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moralische Vorwurf, der in der Willensschwäche mitschwingt, sich auf das Versäumnis des Akteurs bezieht, normale Fähigkeiten der Selbstbeherrschung bzw. -kontrolle entwickelt zu haben, mit denen erfolgreicher Widerstand zu leisten gewesen wäre. Ob mit diesem Vorschlag nicht doch die in der philosophischen Tradition und im Sprachgebrauch markierte Grenze von Willensschwäche und Zwang irgendwie fällt, hängt im Wesentlichen davon ab, wie man die Freiheitsklausel des Andershandeln-könnens (could have done otherwise) in der Anwendung auf Willensschwäche interpretiert. Bei Aristoteles finden sich einige Überlegungen dazu, dass unsere Wahrnehmung von Situationen und das daraus resultierende Handeln kausal direkt aus unserem Charakter resultieren. Wenn man jemanden für sein Handeln tadelt, zielt das also letztlich auch auf das Versäumnis ab, sich einen anderen Charakter zugelegt zu haben. Auch der Willensschwache hätte richtig handeln können, wenn er eine willensstarke oder – im aristotelischen Verständnis natürlich noch besser – eine tugendhafte bzw. maßvolle Disposition erworben hätte.²² Man muss somit nicht unbedingt eine starke Willensfreiheit (libertas indifferentiae) in der Handlungssituation ansetzen, um den Willensschwachen für seine Tat zu tadeln; es reicht wohl letztlich eine Handlungsfreiheit, d. h. eine Freiheit von äußerem und innerem Zwang (libertas a coactione), aus, um eine distinkte Rede von Willensschwäche zu etablieren, die unserer sozialen Zuschreibungspraxis Genüge tut (vgl. Guckes 2005). Der Vorschlag von Watson, den er selbst übrigens später inhaltlich revidiert hat,²³ macht zugleich auf eine zentrale konzeptuelle Dimension von Willensschwäche aufmerksam, nämlich dass es sich dabei um einen „Erklärungsbegriff“ handelt. Der Terminus „Willensschwäche“ ist dadurch charakterisiert, dass er (a) bestimmte Klasse von Handlungen bezeichnet (die als „Handeln wider besseres Wissen“, acting against one’s judgment o. ä. rubriziert werden), (b) aber auch eine Eigenschaft bzw. ein Attribut von Personen anspricht, die man mit diesen Handlungen in eine ursächliche Verbindung bringt.
Der Vorwurf betont also die „Nachlässigkeit“ (ameleia) des Akteurs im Blick af seinen eigenen Charakter, in Analogie zum schuldhaften Unwissen; vgl. hierzu NE III 7, bes. 1113b 30 – 1114a 4, sowie Müller 2009, 141– 152. Zur Verantwortlichkeit für den eigenen Charakter bei Aristoteles vgl. auch Müller 2014. Vgl. Watson 2004, der seine frühere Redeweise von „irresistible desires“, durch die der Akteur zum Handeln gezwungen werde, kritisiert. Er trifft die Unterscheidung zwischen Willensschwäche und Zwang allerdings weiterhin im Blick auf bestimmte normative Fähigkeiten, auch unter emotionalem Druck Gründe abzuwägen; vgl. hierzu auch Schälike 2006, 24 f.
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Bei Aristoteles wird akrasia in erster Linie als hexis bzw. Habitus im Sinne von (b) verstanden, also als eine bestimmte Disposition im Ethos des Akteurs, die in der Analyse möglichst klar herauspräpariert werden soll.²⁴ Natürlich wird die externe Zuschreibung von Willensschwäche als Charakterzug an einen Akteur primär auf der wiederholten Beobachtung seiner Handlungen im Vergleich zu seinen Äußerungen beruhen, also quasi von außen her vollzogen. Umgekehrt kann dann aber Willensschwäche auch als eine kausale Erklärung für das jeweilige Verhalten in Anschlag gebracht werden: Man handelt gegen seinen Vorsatz, weil man willensschwach ist, so dass hier die Blickrichtung von innen nach außen geht. Willensschwäche erscheint im Kontext unserer alltäglichen interpersonalen Zuschreibungspraxis primär als eine Eigenschaft von Personen und erst im sekundären bzw. derivativen Sinne als ein Attribut, das man den Handlungen solcher Akteure zulegt. Solche Handlungen sind gewissermaßen die ratio cognoscendi für die Verfasstheit ihres Trägers; ihre ratio essendi liegt aber grundsätzlich im Charakter der Person. Die handlungstheoretische Fixierung im Anschluss an Davidson hat Willensschwäche als auf den Akteur und seinen Habitus abzielenden Erklärungsbegriff bewusst in den Hintergrund treten lassen, v. a. um sich der damit eng verbundenen moralphilosophischen Dimension des Charakterbegriffs so weit wie möglich zu entledigen. Wie die obige Analyse gezeigt hat, lässt sich die Freiheitsklausel in der klassischen Definition von Willensschwäche als Handlungstyp aber inhaltlich nur sinnvoll füllen, wenn man in irgendeiner Weise auf die Disposition des Akteurs – nämlich das sich in der Handlung offenbarende Defizit an Selbstkontrolle – und die darauf gerichteten interpersonalen Erwartungsnormen Bezug nimmt. Wie kann man diese Analyse der willensschwachen Person und der an sie gestellten sozialen Anforderungen nun weiter vertiefen? Der einleuchtende Vorschlag von Watson, Willensschwäche als personale Eigenschaft im Sinne des Fehlens einer sozial erwarteten Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu interpretieren, hat bei näherem Hinsehen einen Haken: Er läuft Gefahr, ein gänzliches Unvermögen zur rationalen Lebensgestaltung zu konnotieren, das man besser mit dem Begriff der Willenlosigkeit oder mit dem gänzlichen Fehlen von Willenskraft beschreiben könnte. Das entspricht aber nicht wirklich unserer Rede von „Schwäche des Willens“ in ihrer phänomenalen Breite. De facto fallen unter diese Beschreibung v. a. „Personen, die wiederholt und häufiger als normal (a) unzulängliche Anstrengungen unternehmen, (b) mit zu geringer Entschiedenheit Entschlüsse fassen, (c) ihre Vorsätze – seiʼs mit oder ohne vorheriges
Vgl. NE VII 1, 1145a 16 (êthos); VII 11, 1152a 35 (hexis).
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Ringen – brechen und/oder (d) allzu leicht ihre Vorhaben aufgeben“ (Hill 2005, 182). Willensschwäche kann zwar auch dafür stehen, dass man seine eigenen Urteile über das Beste überhaupt nicht in handlungsorientierte Absichten überträgt,²⁵ aber meist bezeichnet es doch eher eine Art Halbherzigkeit in der Umsetzung eigener Pläne und Vorhaben; das Problem ist also oft gar nicht, dass jegliches Handeln unterbleibt, sondern eher, dass es über die Zeit hinweg die Konstanz, Stabilität und Entschlossenheit vermissen lässt, die erforderlich wäre, um das jeweils gesetzte Ziel im Rahmen des Menschenmöglichen zu erreichen.²⁶ Mit Willensschwäche wird in Anwendung auf Handlungen dementsprechend oft weniger das Was (also der Handlungsinhalt) als das Wie (der Handlungsmodus) beschrieben und zugleich kritisiert. Auch hier sind sozial variable Maßstäbe im Spiel; d. h. was ein bloß halbherziges Bemühen ist, kann sowohl in Bezug auf die bewerteten Akteure (beispielsweise bei Kindern im Unterschied zu Erwachsenen) als auch seitens der jeweiligen Bewerter (z. B. von Karrieristen im Unterschied zu Lebenskünstlern) erheblich differieren.²⁷ Entscheidend ist jedoch, dass bei einer Person grundsätzlich die Fähigkeit, einen Willen zu haben, angenommen wird, um diese(n) überhaupt als „zu schwach“ beschreiben zu können. Was heißt es nun, jemandem einen Willen zuzuschreiben, der schwach werden bzw. sein kann? Im negativen Sinne muss erst einmal klargestellt werden,
Genau darin sieht letztlich Davidson (1980, 41 f.) die Irrationalität der Willensschwäche: in der Verletzung des principle of continence. In der neueren Literatur wird dementsprechend oft zwischen Akrasia und Willensschwäche unterschieden: Akrasia steht dann für das Handeln gegen das eigene Urteil über das Beste, während Willensschwäche das irrationale Aufgeben eigener Intentionen bzw. Entschlüsse bezeichnet (vgl. Holton 1999). Willensschwäche setzt dann aber nicht unbedingt das Vorhandensein bzw. die Verletzung von Werturteilen voraus (vgl. Roughley 2008), so dass die Phänomene nicht identisch sind, auch wenn sie sich in vielen Fälle überlappen dürften (und zwar immer dann, wenn die eigenen dezisionalen Absichten sich bestimmten Werturteilen über das Beste bzw. Richtige verdanken). Holton (1999) und Hill (2005) sehen in der Schwäche von Intentionen und Resolutionen die Semantik unserer heutigen Rede von Willensschwäche besser aufgefangen als in der klassischen Akrasia; die Gegenposition vertritt Mele 2010. Als Eigenschaft von Personen bzw. als Charakterzug verstanden scheint mir Willensschwäche in der Tat eher zu der revisionären Bedeutung zu tendieren; aber das ist für meine Analyse nicht wesentlich. Zu unterscheiden ist auch, wieviel Anstrengung für welche Ziele als adäquat betrachtet wird: Für unwichtige Ziele wird man von einem Akteur sicher nicht allzu viel an Aufwand verlangen und ggf. ein frühzeitiges Abbrechen der Bemühungen im Angesicht größer Widerstände eher für unproblematisch halten (weil die Kosten des Erfolgs den Wert des Ziels übersteigen würden). Handelt es sich hingegen um zentrale Lebensziele, werden die Erwartungen an den Akteur proportional entsprechend groß sein und ein frühzeitiges Abbrechen im Bemühen um den Erfolg als eklatanter Mangel an Willensstärke gebrandmarkt werden.
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dass im Kontext von Willensschwäche der Wille nicht in Anlehnung an Thomas Hobbes und Harry Frankfurt als effektiv handlungsdeterminierender Wunsch bestimmt werden kann: Ansonsten könnte es Willensschwäche überhaupt nicht geben, insofern der Wille ja in diesem Modell faktisch immer zum Handeln führt (vgl.Wolf 1985; Roughley 2008, 148). Für einen Willen, der schwach werden kann, erscheinen hingegen folgende Merkmale basal: (1) Wille als dezisionales Absichtsvermögen: Wir unterstellen auch einem willensschwachen Akteur, dass er dazu in der Lage ist, Deliberationsprozesse durch die Formung handlungsorientierter Intentionen abzuschließen, also bestimmte praktisch wirksame Vorsätze zu fassen. Das mag im Einzelfall scheitern – was dann eben ein Beispiel für episodische Willensschwäche ist; aber jemand, der nie zu einer dezisionalen Absicht bzw. zu einem Vorsatz vordringt, würde als ewiger Zögerer bzw. Zauderer oder auch als Prokrastinierer beschrieben werden, aber nicht als Willensschwacher. (2) Wille als Planungsvermögen: Zu einem temporal betrachteten Wollen gehört auch die Fähigkeit, künftige Handlungen wie auch weitere Entscheidungsprozesse planend zu antizipieren, also z. B. entsprechende Anschlusshandlungen, die sich aus unseren derzeitigen Intentionen ergeben, zu identifizieren und ins Auge zu fassen. Dies umfasst u. a. die „Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass die zu einem bestimmten Zeitpunkt angestellten Überlegungen in angemessener Weise unsere zu späterer Zeit getroffenen Entscheidungen beeinflussen“ (Hill 2005, 175). Diese Fähigkeit ist freilich unvollkommen, und eine Form von Willensschwäche besteht gerade darin, aus im Prinzip ernst gemeinten dezisionalen Absichten nichts Wesentliches folgen zu lassen; man denke hier an die lebenspraktisch meist nahezu folgenlos bleibenden Neujahrsvorsätze. Jemanden, der nur auf dem Niveau solcher Vorsätze verbleibt, würde man aber nicht als willensschwach, sondern eher als hochgradig träge oder inkonsequent beschreiben. (3) Wille als Durchhaltevermögen (Willenskraft bzw. -stärke): Sofern auf dem Weg zur Realisierung der Vorsätze innere und äußere Hindernisse zu überwinden sind, müssen wir dem Akteur eine Art motivationales Modul zuschreiben, das gerade bei Widerständen aktiv wird. Wollen hat es immer auch mit Anstrengungen zu tun, wodurch sich nicht zuletzt die quasi-mechanischen und körperlichen Metaphern von Willenskraft bzw. -stärke erklären, die das Wortfeld wesentlich bestimmen. Mit Willensschwäche wird in Symmetrie hierzu oft die unzureichende Motivation bezeichnet, die bereits an Widerständen scheitert, die unter normalen Maßstäben als irgendwie doch überwindbar betrachtet werden. Jemanden, der ohne Ausnahme bei der allerersten Schwierigkeit die Flinte ins Korn wirft, würden wir eher als ein willenloses „Fähnchen im Winde“ denn als einen willensschwachen Men-
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schen beschreiben; seine Willenskraft wäre nicht zu gering bzw. unterproportional ausgebildet, sondern in entscheidender Hinsicht gar nicht vorhanden. Wenn wir einen Akteur als willensschwach identifizieren, stehen diese Voraussetzungen im Sinne einer Theorie normaler Handlungsfähigkeit also immer im Hintergrund;²⁸ nur Akteure, die in der beschriebenen Form einen Willen haben und bestimmte volitional commitments eingehen, können überhaupt willensschwach werden.²⁹ Personen, die in Richtung Willenlosigkeit tendieren, wie es z. B. bei starken psychopathologischen Abhängigkeiten der Fall ist, werden hingegen ebenso von der Willensschwäche abgegrenzt, wie die tierisch Verrohten bei Aristoteles wegen ihrer außermenschlich deformierten Disposition vom Unbeherrschten im eigentlichen Sinne unterschieden werden. Nur ein Akteur, bei dem wir mit einer gewissen Regelmäßigkeit beobachten können, dass er zur willentlichen Selbststeuerung und -kontrolle fähig ist, kann gelegentlich willensschwach werden. Aristoteles vergleicht signifikanterweise den Unbeherrschten mit einem Epileptiker und grenzt ihn mit dieser Betonung bloß episodisch auftretender Erscheinungen vom Unmäßigen ab, der eher an einer Art chronischen Krankheit leidet, die sich quasi ständig und ausnahmslos manifestiert (vgl. NE VII 9, 1150b 32– 36). Eine „globale“ Willensschwäche, die alle Handlungs- und Gegenstandsbereiche erfasst und die sich nicht bloß mehr oder minder episodisch, sondern in ausnahmslos jeder Situation zeigt, ist in der sozialen Wahrnehmung keine Willensschwäche mehr, sondern eine die normale Handlungsfähigkeit letztlich verfehlende Willenlosigkeit, die eher in Richtung Zwanghaftigkeit auszudeuten ist. Offen bleiben kann dabei jedoch, ob wir mit der Zuschreibung von Willensschwäche an den Akteur zum Ausdruck bringen wollen, dass er (a) den erforderlichen Willen in den drei angesprochenen Dimensionen nur in zu gering ausgeprägtem Umfang besitzt und damit in bestimmten Situationen, die seine individuelle Kraft übersteigen, gar nicht reüssieren kann, selbst wenn er sich de facto voll einsetzt („privatives Modell“); oder ob er
Zu diesem Normalitätsmaßstab und seinen normativen Komponenten vgl. auch Rorty 2005, 201 f. Vgl.auch Rorty 1980, 336: „Ironically, akrasia is among the diseases only the strong can suffer. Among the radically conflicted, only those capable of strongly identifying themselves with one side of their conflicts, and of acting from that identification can suffer from this sort of akrasia. As long as radically conflicted agents do not primarily underwrite or commit themselves to one side of their conflict, they suffer vacillation, indecision, vertigo, but not this sort of akrasia.“
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(b) zwar über einen voll ausgeprägten Willen verfügt, ihn aber aus irgendwelchen Gründen in der jeweiligen Situation nur halbherzig zum Einsatz bringt („lack of trying-Modell“). Das lack of trying-Modell lässt eindeutig mehr Raum für synchrone alternative Möglichkeiten (also für ein starkes could have done otherwise im Sinne einer libertas indifferentiae) als das privative Modell, ist aber mit eigenen Problemen behaftet: Denn entweder spielen die auf den Willen einwirkenden äußeren oder inneren Umstände (z. B. eine Müdigkeitsattacke o. ä.) eine zentrale Rolle dafür, dass der Akteur seinen vorhandenen Willen situativ nicht voll aktiviert – dann ist man nicht mehr so weit weg von einem bloß auf den einzelnen Fall angewendeten privativen Modell, insofern die subjektiv in der Situation real verfügbaren Handlungsalternativen doch wieder fraglich sind. Oder man unterstellt, dass es allein der Entscheidung des Akteurs zu verdanken ist, dass der Wille nicht voll aktiviert wird – dann landet man in einer Art augustinischem Willensmodell, in dem der Wille eine sich unabhängig von allen kausalen Rahmenbedingungen spontan selbst bestimmende Größe ist. Es ist dann allerdings die Frage zu stellen, inwiefern man einen solch hochgradig autonomen Willen überhaupt noch „schwach“ nennen kann; außerdem würde sich die Frage, die doch eigentlich beantworten werden sollte, nur um eine Position weiter nach vorne verschieben: Warum wollte der Akteur seinen Willen (bzw. dieser sich selbst) nur halbherzig aktivieren, obwohl er ihn auch ganz hätte engagieren können?³⁰ Kurzum: Als Erklärungsbegriff leistet der auf eine ultimative Zuschreibung des Handelns an den Akteur hin konzipierte augustinische Willensbegriff verhältnismäßig wenig. Unabhängig davon, ob man dem privativen oder dem lack of trying-Modell den Vorzug gibt, bleibt der Bezugsmaßstab für die vollzogenen Zuschreibungen weitgehend unverändert: In beiden Fällen würde man – ganz im aristotelischen Sinne – bestimmte Zwangssituationen anerkennen, in denen jeder Akteur, also auch der mit einem voll ausgeprägten Willen ausgestattete, letztlich irgendwie überfordert wäre. Ebenso würde man einzelne Akteure, denen man ein eigenständiges Wollen ganz absprechen würde, gar nicht erst mit dem Terminus „Willensschwäche“ kennzeichnen. Die Zuschreibung von Willensschwäche an Handlungen oder Personen wird man dabei v. a. in einem sozialen Bezugsrahmen verorten, der bestimmt, wann Bemühungen als nur halbherzig angesehen werden
Augustinus selbst erklärt signifikanterweise die Schwäche des menschlichen Willens im Rückgriff auf seine Spaltung bzw. Zerrissenheit; vgl. Confessiones VIII, 5, 10, sowie Müller 2007. Mit dieser Partialität, welche die Kraft des Willens zur Realisierung des erkannten Guten grundsätzlich unter die Handlungsschwelle drückt, ist man aber doch eher wieder beim privativen Modell gelandet als beim lack of trying.
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bzw. welches Maß an Willenskraft von einem durchschnittlichen Akteur erwartet werden kann. Diese Größen haben wohl meist auch einen empirisch-deskriptiven Hintergrund, sind aber in ihrer sozialen Sprachverwendung unverkennbar mit einer wertenden und normativen Komponente angereichert: Willensschwäche ist, wie schon Aristoteles festgestellt hat, im Gegensatz zum Zwang eben kein Grund für eine Entschuldigung des Akteurs, sondern ein Anlass zum Tadel. Wer jemanden der Willensschwäche bezichtigt, schreibt ihm damit persönliche Verantwortung für seine Handlungen zu; Willensschwäche ist in diesem Sinne also nicht nur ein Erklärungsbegriff sondern auch ein moralisch konnotierter Zuschreibungsbegriff. In Bezug auf die charakterliche Bewertung als willensschwach verbindet sich damit explizit oder unausgesprochen die Aufforderung, künftig willensstärker zu sein bzw. zu werden, d. h. einen angemessenen Grad an Selbstkontrolle zu entwickeln, welcher der sozialen Erwartungshaltung entspricht.
3 Selbstkontrolle und Willensstärke als soziale Erwartungsnorm Was wird nun von einem normalen Akteur im Bereich der Selbstkontrolle bzw. Willensstärke erwartet, d. h. welche normativen Vorstellungen stehen hier im Hintergrund? Was es heißt, einen hinreichend starken Willen zu haben, lässt sich zumindest teilweise aus den oben ermittelten Zuschreibungsbedingungen dafür, überhaupt einen Willen zu haben, extrapolieren. Neil Roughley (2008) hat in diesem Sinne jüngst auf drei bei Willensschwäche oft verletzte Rationalitätsstandards hingewiesen, die sich letztlich spiegelbildlich in ein Bild von Willensstärke bzw. Selbstkontrolle übertragen lassen. Im Einzelnen sind die folgenden drei Aspekte zu nennen, die hinreichend ausgeprägt sein müssen, um von Willensstärke sprechen zu können: (1) Motivationale Stärke, verstanden als exekutive Kraft im Handeln: Selbst wenn keine unvorhergesehenen Hindernisse oder Widerstände auftreten, darf der Wille nicht zu früh in der Ausführung der Absichten erlahmen. (2) Absichtspervasivität, d. h. die regulative Steuerung von weiteren Absichtsbildungen und Anschlusshandlungen im Sinne des Willens als Planungsvermögen. (3) Absichtsstabilität: Die nach einer hinreichend überlegten Entscheidungsfindung gefassten dezisionalen Absichten sollten nicht zu schnell und auch nicht ständig wieder in Frage gestellt werden. Eine besondere Fähigkeit scheint hier eine Art von Willenskraft sein, die spezifisch darauf ausgerichtet ist, die ge-
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fasste Absicht gegen später zu erwartende Widerstände abzuschirmen. Wenn man sich z. B. eine Diät vorgenommen hat, aber darum weiß, dass man leider einen süßen Zahn hat, muss man sehr feste bzw. resistente Entschlüsse fassen, die sich direkt gegen die Begierden richten, die ja auch gegen den gefassten Vorsatz weiterhin von den kalorienreichen Objekten hervorgerufen werden. In diesem Sinne bestimmt etwa Richard Holton (2003, 42) „resolutions“ als „intentions part of whose function is to defeat contrary inclinations that I fear I might come to have“. Willensstärke hat dann wesentlich die Funktion, das Überdenken von solchen Resolutionen zu blockieren, insofern diese lediglich auf einer kurzfristig wirksamen Einflussnahme des Objekts der Begierde – etwa des in Griffweite befindlichen Törtchens – beruht.³¹ Auf diese Weise kann ein übermäßiges Oszillieren im Bereich der eigenen Überlegungen, Urteile und Vorsätze wirksam konterkariert werden, insofern hier eine aktive Gegenkraft angenommen wird. Diese kann sich beispielsweise in der gezielten Aufmerksamkeitssteuerung äußern, mittels derer bestimmte Eigenschaften des Objekts (z. B. die hohe Kalorienzahl des Törtchens) oder die zu erwartenden Konsequenzen der Handlung (z. B. der Verlust an Selbstachtung im Anschluss an den Genuss) in den Fokus des Bewusstseins geschoben werden. Diese Funktion kann übrigens auch im sozialen Kontext bewusst verstärkt werden, etwa durch wechselseitiges binding und gegenseitige Beobachtung, wie das Beispiel der Weight Watchers und anderer Selbsthilfegruppen zeigt. Ich belasse es hier bei dieser Skizze eines solchen will power account, der durchaus noch in verschiedene Richtungen vertieft werden kann;³² denn es geht mir an dieser Stelle letztlich nicht um die präzise Ausbuchstabierung aller im Konzept der Selbstkontrolle sinnvollerweise unterzubringenden Komponenten, sondern eher um die grobe Charakterisierung der normativen Erwartungshaltungen, die an Akteure im Bereich ihres Wollens gestellt werden damit sie einen sozial definierten Maßstab von Willensstärke erfüllen. Diesen Horizont hat übrigens teilweise auch schon Aristoteles artikuliert (vgl. NE VII 8, 1150a 32– b 1; b 22– 25). Wenn man Willensstärke in dieser Weise v. a. an der Stabilität und Pervasivität von Absichten festmacht, ergeben sich allerdings zwei Problemfelder, die zumindest kurz angesprochen seien; dies nicht zuletzt, weil sie auch schon in der Nikomachischen Ethik explizit diskutiert werden und zugleich einen informativen Ganz in diesem Sinne charakterisiert Watson (2003, 173) Willensstärke auch im Kern als „capacity for resisting adverse inclinations“. Weiterführende Überlegungen zu Willensstärke und Selbstkontrolle finden sich bei Mele 1987, Holton 2003 und Watson 2003.
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Blick auf die Verschränkung von normativen Erwartungen mit dem deskriptiven Konzept von Willensstärke freigeben: (1) Würde man jemanden wirklich willensstark nennen, wenn er à tout prix an seinen einmal gefassten Absichten festhält, was auch immer passiert? Aristoteles verneint dies, indem er Beherrschtheit explizit von Starrsinnigkeit unterscheidet: Es gibt auch Menschen mit der Tendenz, bei ihrer Meinung zu bleiben, die man starrsinnig (ischyrognômôn) nennt. […] Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Beherrschten, wie der Verschwender mit dem Freigebigen und der Tollkühne mit dem Mutigen; sie sind aber in vieler Hinsicht verschieden. Denn jener, der Beherrschte, ändert seine Meinung zwar nicht wegen eines Affekts (pathos) oder einer Begierde (epithymia); er ist aber unter Umständen leicht [durch Gründe zu überzeugen]. Die anderen [die Starrsinnigen] sind nicht durch einen Grund (logos) zu überzeugen […]. (NE VII 10, 1151b 4– 11)
Es spricht also keineswegs gegen Willensstärke, wenn jemand im Lichte neuer Informationen und Argumente seine dezisionalen Absichten überdenkt und ggf. ändert; das ist in gewisser Weise sogar Kennzeichen seiner Handlungsrationalität. Wie Aristoteles fein bemerkt, wäre es bei einer auf die Abwehr konträrer Begierden und Inklinationen gerichteten Beherrschtheit allerdings durchaus irrational und willensschwach, wenn sich solche Absichtsrevisionen dem Einfluss gerade dieser abzuwehrenden Größen verdanken würden.³³ Für andere Einflüsse und vernünftige Argumente darf und muss sich der Willensstarke hingegen sogar offenhalten, wenn er nicht in die irrationale und deshalb zu tadelnde Starrsinnigkeit abgleiten möchte. (2) Deshalb ist konsequenterweise auch nicht jede Änderung eines Vorsatzes ein Indiz für eine willensschwache Persönlichkeit bzw. einen Mangel an Willensstärke. Aristoteles diskutiert hier u. a. das Beispiel des Neoptolemos aus Sophokles’ Philoktet, der sich zuerst von Odysseus überreden lässt, Philoktet zu belügen, um in den Besitz seines Bogens zu gelangen, dann aber in der Situation selbst doch einem sittlich fundierten Mitleidsimpuls folgt und seine Absicht ändert (vgl. NE VII 10, 1151b 17– 22). Solche Fälle werden in der gegenwärtigen Diskussion recht intensiv unter dem Stichwort inverse akrasia dahingehend diskutiert, ob Willensschwäche nicht doch in manchen Fällen sogar rational sein kann (vgl. Döring 2009). Ich glaube allerdings, dass zumindest in der „standardisierten“ Zuschreibung von Willensschwäche als Erklärungs- wie auch als Zuschreibungsbegriff immer die Verletzung von Rationalitätsstandards im oben genannten
Vgl. in diesem Sinne auch Holton 2003, 42: „So weakness of will involves, I think, a normative element. It is the unreasonable revision of a resolution in the face of contrary desires (or inclinations more generally) that it was supposed to defeat.“
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Sinne mitschwingt,³⁴ die auch in noch so ausgefallenen Beispielen nicht vollständig ausgehöhlt wird. Aristoteles geht es bei seinem Neoptolemos-Beispiel weniger um die hier involvierte Handlungsrationalität, sondern primär um die moralische Bewertung des Akteurs und seines Handelns in dieser Situation: Insofern Neoptolemos von einem ehren- bzw. werthaften Gefühl (nämlich seiner Wahrheitsliebe) und nicht von einem „niedrigen“ Affekt zu seiner Absichtsänderung veranlasst wurde, ist sein Verhalten nicht zu tadeln. Generell gilt nach Aristoteles: Das Handeln nach der eigenen Meinung bzw. das Festhalten an eigenen Vorsätzen unter emotionalem Störfeuer ist nur dann Willensstärke im eigentlichen Sinne, wenn der Akteur mit seiner Einschätzung der Situation auch richtig liegt, also eine wahre Meinung (doxa alêthês) hinsichtlich des involvierten moralischen Gehalts hat (vgl. NE VII 10, 1151b 2– 4). Diese moralische Überformung von Willensstärke würde vermutlich die heutige Praxis bei der Zuschreibung dieses Prädikats überfordern: Auch einem Serienkiller kann in der Verfolgung seiner mörderischen Absichten ggf. durchaus empirisch nachweisbare Willensstärke bzw. Selbstkontrolle attestiert werden, obwohl wir natürlich nicht dazu geneigt sind, ihn dafür zu loben. Aber gerade in der Rede vom Gegenteil, also vom willensschwachen Verbrecher, steckt m. E. neben der deskriptiven doch noch eine normative Komponente, die sich eher auf die Akteursidentität in toto als auf die Evaluation der konkreten Ziele richtet, die damit verfolgt werden. Zu den Gründen der generellen moralischen Abwertung der Willensschwäche als tadelnswertem Charakterzug wäre sicherlich noch einiges zu sagen.³⁵ Auf jeden Fall ist aber Aristoteles mit Blick auf das Neoptolemos-Beispiel Recht zu geben, wenn er konstatiert, dass nicht jedes Abweichen von einem vorher gefassten Vorsatz immer schon das Stigma der Willensschwäche bzw. des Mangels an Willensstärke trägt.³⁶ Auch die Fähigkeit und Bereitschaft, auf relevante Veränderungen in der Welt mit einem Überdenken und ggf. einer Revision der ursprünglichen eigenen Entschlüsse zu reagieren, ist Bestandteil der sozialen Erwartungsnorm der Willensstärke.
4 Fazit: Willensschwäche und Sozialität Ich fasse den Gang der vorangegangenen Überlegungen noch einmal zusammen: Entlang der aristotelischen Demarkationslinie von willentlicher (menschlicher) Vgl. zu den involvierten Dimensionen von Irrationalität auch Audi 1990, bes. 274. Vgl. hierzu z. B. die Überlegungen bei Hill 2005, 185 – 190. Vgl. auch NE VII 3, 1146a 19 – 21: Neoptolemos ist dafür zu loben, dass er nicht bei dem unehrenhaften Verhalten bleibt, zu dem Odysseus ihn vorher überredet hat.
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Unbeherrschtheit und unwillentlicher (außermenschlicher) Rohheit lässt sich eine konzeptuelle Unterscheidung von Willensschwäche und Zwang etablieren, die primär auf einem sozialem Fundament ruht.Willensschwäche erweist sich bei Aristoteles als Verfehlen einer zugleich deskriptiv wie normativ gefassten Durchschnittsnorm in Gestalt eines Defizits an willentlicher Selbstkontrolle. Auf der Basis dieses Modells lassen sich weitergehende Überlegungen dazu anstellen, welche sozialen Erwartungshaltungen wir gegenüber Personen ansetzen, damit diese überhaupt als willensschwach bezeichnet werden können. Darüber lässt sich sowohl ein gehaltvoller Begriff des Willens – als Vermögen zur Formung und Verfolgung von Absichten – als auch ein normatives Modell von Willensstärke entwickeln, mit dem wir operieren, wenn wir andere als Personen für ihre willensschwachen Handlungen verantwortlich machen. Willensschwäche erweist sich dabei im sozialen Kontext sowohl als ein deskriptiver Erklärungsbegriff, mit dem wir eine kausale Verknüpfung zwischen Akteur und Handlung vornehmen, als auch als normativer Zuschreibungsbegriff im interpersonalen Kontext, mit dem wir uns mittels der moralischen Sanktion des Tadels dafür gegenseitig verantwortlich machen. Zur Einordnung dieses Ergebnisses hinsichtlich seiner Tragweite für die Ausgangsfrage meiner Überlegungen sei noch so viel gesagt: Man muss Willensschwäche deshalb nicht gleich als ein ausschließlich durch soziale Zuschreibung konstituiertes Phänomen betrachten. Sie hat durchaus ihr Fundament in der Sache, nicht zuletzt in der phänomenalen Selbsterfahrung von uns als irrationalen Akteuren in bestimmten inneren Konfliktsituationen – ebenso wie auch Willensstärke durchaus ein erfahrungsgetränktes Konzept ist. Natürlich ist nicht zu leugnen, dass Willensschwäche eine Eigenschaft von Individuen ist, die sie in ihrem Geist und in ihrem eigenen Handeln konkret erfahren. Eine auf das Individuum und seine mentalen Zustände abzielende Analyse des Phänomens hat dementsprechend weiterhin ihr Recht, ebenso wie eine auf die involvierte Urteilslogik fokussierte handlungstheoretische Problematisierung à la Davidson. Aber die vollständige Explikation von Willensschwäche als Erklärungs- und Zuschreibungsbegriff kann m. E. sowohl in ihren deskriptiven als auch in ihren normativen Aspekten ohne Berücksichtigung ihrer sozialen Dimension kaum überzeugend geleistet werden. Dies verdeutlicht nicht zuletzt der Blick auf die bei willensschwachem Handeln grundsätzlich involvierte Freiheitsklausel (could have done otherwise) in ihrem Rückbezug auf gesellschaftlich definierte und durchaus variable Erwartungshaltungen gegenüber dem Akteur im Bereich der Selbstkontrolle bzw. Willensstärke. Gerade als Eigenschaften von Personen scheinen mir Willensschwäche und -stärke dabei in höherem Maße durch soziale Erwartungsnormen und Zuschreibungspraktiken im Bereich des Willens als durch psychologische Erfahrungen konstituiert zu sein. Sofern man diese personale
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Dimension als semantisch und inhaltlich primär betrachtet – wozu ich persönlich tendiere –, kann man Willensschwäche also durchaus als ein inhärent soziales Phänomen beschreiben.³⁷
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Für wertvolle Kommentare zu diesem Text möchte ich mich bei Ingo Günzler, Karl Mertens und Christine Wolf bedanken.
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Thomas Buchheim
Soziale Implikationen individueller Handlungsfreiheit Freiheit, obwohl sie Qualifikation gerade des einzelnen Menschen und seiner individuellen Handlungen in Unabhängigkeit von der sozialen Gemeinschaft ist, der er angehört, ist doch wesentlich bezogen auf und spezifisch bedingt durch das Zusammensein mit anderen Seinesgleichen, d. h. ist ermöglicht durch die soziale Existenz jedes Menschen. Gerade durch seine Einbettung in Sozialgemeinschaften, so können wir pointiert sagen, ist das menschliche Individuum sie los, davon entfesselt und somit frei. Es verhält sich beim Menschen ganz anders als bei Ameisen und Bienen und allen Tieren, die besonders intensiv in Gemeinschaften leben. Während diese, indem sie von der Gemeinschaft profitieren, für ihr individuelles Leben auch an sie gebunden, der Gemeinschaft unterworfen sind, ist der Mensch, obwohl dank der Gemeinschaft frei, ihr als einzelner übergeordnet und die Gemeinschaft abhängig von seiner individuellen Freiheit. Man kann trefflich darüber spekulieren, welche höhere oder raffinierte Effektivität und welchen, sei es evolutionären oder geschichtlichen Sinn ein solch paradoxes Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft haben könnte. Aber das ist hier nicht mein Thema. Ich möchte vielmehr zunächst kurz erklären, welchen Begriff individueller Freiheit des Menschen man vernünftigerweise zugrunde zu legen hat, um dann aufzuzeigen, an welchen Punkten und warum dieser Sachverhalt der Freiheit allein unter Bedingungen einer grundlegend sozialen Existenz des Menschen aktualisiert werden kann. Von Hegels philosophischem Ansatz her ist insbesondere das Stichwort der Anerkennung und ihrer notwendigen Gegenseitigkeit als sozialer Aspekt der Freiheit bekannt und in der Gegenwart vor allem durch Axel Honneth und andere in seinem Umkreis viel diskutiert worden. Ich möchte mich mit meinen Überlegungen hier nicht einmischen, werde also keinen Beitrag zum Thema „Freiheit und Anerkennung“ leisten. Mir scheint freilich die Anerkennung mehr ein Indiz und Ausdruck der Freiheit als ihre Wurzel zu sein, so dass die Sozialität ihrer Ursprünge und Hintergründe damit (unter dem Stichwort „Anerkennung“) nicht eigentlich aufgedeckt und erörtert wird. Die Ursprünge und ihre soziale Prägung liegen tiefer in ihrem Begriff, als jene durchaus notwendige und gerechtfertigte Praxis gegenseitiger Anerkennung und auch gegenseitiger Begrenzung der Freiheit erkennen lässt.
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Thomas Buchheim
Zum Ausgangspunkt einer begrifflichen Erklärung dessen, was unter Freiheit zu verstehen ist, nehme ich zwei knappe aber nichtsdestoweniger geniale Definitionen, die Leibniz in seinen Nouveaux Essais sur l’entendement humain aufgestellt hat. Sie betreffen zum einen das, was man bis dato „Handlungsfreiheit“ nennt, und zum anderen, was ebenfalls bis heute als „Willensfreiheit“ bezeichnet wird. Leibniz trennt diese beiden Definitionen auch deshalb, weil er der These Lockes entgegentreten möchte, dass überhaupt nur Handlungsfreiheit des Menschen möglich und gegeben, während die Freiheit des Willens ein Unding und eine in sich unausführbare Vorstellung sei. Leibniz hat auf alle logisch-begrifflichen Einwände Lockes gegen die Willensfreiheit pünktlich Antworten gegeben und sie sämtlich entkräftet. Und es sind bis heute keine neuen begrifflichen Einwände gegen die Willensfreiheit erhoben worden.Was allein übrig bleibt, sind empirischwissenschaftliche Einwände gegen sie, die von der Voraussetzung ausgehen, dass Willensfreiheit unter dem Vorzeichen deterministisch beschreibbarer Naturprozesse (wie es insbesondere Neuroprozesse in unserem Gehirn sind) undenkbar und daher, wenn überhaupt, ein Phänomen jenseits der Natur sein müsse – was man kaum als einen begrifflichen Einwand gegen sie gelten lassen kann, da er vielmehr auf höchst fragwürdigen metaphysischen Grundannehmen basiert: 1. 2.
auf der Annahme, dass Willensfreiheit mit einem Determinismus welcher Art auch immer inkompatibel sei;¹ auf der Annahme, dass alles, was es gibt und kausale Spuren im Naturzusammenhang hinterlässt, selbst nach deterministischen Naturgesetzen zu beschreiben und zu erklären sei.²
Ich möchte in diese Debattenpunkte hier nicht einsteigen. Meiner Ansicht nach sind beide genannten metaphysischen Voraussetzungen mit guten Gründen zurückzuweisen und daher ist auch unter diesem Aspekt kein triftiges Argument gegen die Möglichkeit von Willensfreiheit zu gewinnen. Ich gehe also für den vorzustellenden Begriff der Freiheit davon aus, dass es Willensfreiheit gibt und des Menschen Freiheit darin besteht, zugleich die Kriterien der Willens- und der Handlungsfreiheit zu erfüllen. Denn wenn es bloß Willensfreiheit, aber nicht auch Handlungsfreiheit gäbe (wie viele Philosophen gelehrt haben, z. B. Epiktet und Kant), dann könnte der Mensch sich kraft seiner Freiheit nicht gegen äußere
Dass diese Annahme keine zwingenden Argumente auf ihrer Seite hat, sondern mehr einer metaphysischen Deklaration gleicht, habe ich gezeigt in Buchheim 2013. Für eine skeptische Position bezüglich des Prinzips der kausalen Geschlossenheit des Physischen vgl. z. B. Meixner 2008, 256 – 260; vgl. auch Buchheim 2006, 45 mit Berufung auf Matt 2004, 99 – 114.
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Umstände und Bedingungen seiner Situation zur Wehr setzen. Wenn es aber bloß Handlungsfreiheit und nicht ebenso Willensfreiheit gäbe (wie ebenfalls viele Philosophen gedacht haben, z. B. Locke und Hume sowie die meisten Standardkompatibilisten heute), dann könnte der Mensch sich kraft seiner Freiheit nicht selbst gedanklich auf das eine oder andere richten, d. h. sich nicht zwischen Gutem und Bösem, Richtigem oder Verfehltem entscheiden, und es würde so der Gedanke echter moralischer Verantwortung und der Vorwerfbarkeit des Tuns und Lassens hinfällig. Die Freiheit des Menschen muss sich, soll sie überhaupt ein leistungsfähiger Begriff sein, aus Handlungsfreiheit und Willensfreiheit zusammensetzen, und damit komme ich nun zu den beiden kurzen Definitionen, die Leibniz für sie gegeben hat und die mir auch nach Kant (der keine Definition zu geben scheint) äußerst begreiflich und plausibel vorkommen. Handlungsfreiheit bedeutet nach Leibniz ‚tun können, was man will‘; Willensfreiheit dagegen heißt, ‚wollen können, was man soll‘.³ Da beides, wie gesagt, nur zusammen einen tauglichen Begriff der Freiheit abgibt, ist zu sagen: „Wer wollen kann, was er soll, und zugleich tun kann, was er will, der ist frei.“ Bringen wir nun fünf zentrale Merkmale der Freiheit zur Abhebung, ohne die sie offensichtlich nicht stattfinden kann, so haben wir anhand dieser Merkmale eine feste und gute Basis dafür zu sehen, worin die sozialen Ursprünge und Hintergründe der Freiheit eigentlich gründen: (1) Der erste Merkmal der Freiheit besteht in dem, was das zweimal vorkommende „können“ ausdrückt: dass das, was ein Mensch frei tut, jedenfalls aus einer ihm selbst zukommenden Quelle der Kraft, einem Vermögen oder einer erworbenen Haltung her stammen muss, also nicht ein bloß an ihm hervorgerufener Effekt oder ein Echo von anderem sein darf (wie z. B. eine Reflexhandlung). Wir können diesen Grundzug mit Leibniz als Spontaneität oder „Von-ihm-selbst-Stammen“ des freien Handelns und eben auch des freien Wollens bezeichnen. Spontaneität im Sinne von Leibniz bedeutet nicht (wie bei Kant), dass die erforderliche Quelle der Kraft nicht ihrerseits innerhalb der Zeit gebildet und angeeignet worden sein darf. Vielmehr bedeutet es nur, dass sie in einem erklärbaren Sinn (a) dem Handelnden gehört und (b) kausal zuständig für das betreffende Wollen und Handeln genannt werden kann. So ist bspw. die Fähigkeit, Klavier zu spielen, obwohl in der Zeit angeeignet, kausal zuständig dafür, dass jemand „spontan“ eine gewisse Partita
Leibniz 1985, 254 f. (Buch I, Kap. 21, §8).
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von Bach spielt. Und die erworbene Fähigkeit eines Menschen, mathematische Sachverhalte zu erkennen, ist kausal zuständig dafür, dass er „spontan“ einen Beweis für den Satz des Pythagoras führt. Es gibt deshalb immer eine lange Vorbereitung dessen, was wir frei nennen dürfen, eine Vorbereitung, durch die ein Können zur tatsächlichen Eigenschaft des so-Handelnden geworden ist. Erst auf einer solchen, von längerer Hand gelegten Basis kommt ein gewisses Handeln und auch das ihm zugrundeliegende Wollen wirklich von dem Betreffenden selbst, d. h. ist spontan und als solches weder ein Zufallstreffer noch bloßes Echo oder Reflex. Dieses Merkmal der Spontaneität ist es, aufgrund dessen das Prädikat der Freiheit nur lebendigen Wesen und deren Verhalten zukommen kann:⁴ Freies Handeln und Wollen ist in jedem Fall spontan, d. h. es entspringt bestimmten, für häufig wiederkehrende Lebenslagen eigens angesammelten Vermögen des Handelnden selbst. (2) Das zweite der gegebenen Definition klar zu entnehmende Merkmal der Freiheit ist, dass sie in jedem Fall eine Sache des Denkens sein muss. Denn Wollen ist gerichtetes, direktives oder befehlendes Denken. Wo nicht gedacht wird, da ist unmöglich Freiheit (Hobbes z. B. war da vor Locke ganz anderer Auffassung: Für Hobbes ist ein Bach, der ungehindert fließt, so frei wie ein Mensch, der ungehindert handelt). Also ist Freiheit nicht möglich, ohne dass Denken ein tatsächlich ausschlaggebender Grund für unser Handeln ist.Wo Denken keine Rolle spielt, da kann man jemanden für sein Verhalten weder verantwortlich machen noch strafen. Man kann sich fragen, woran das liegt. Es sind die typischen Eigenschaften des Denkens, die Freiheit möglich machen: Reflexivität, Allgemeinheit, Verneinungsfähigkeit, Zukunftsbezug und Wertbewußtsein. (3) Das dritte Merkmal der Freiheit (und Definiens der Willensfreiheit nach Leibniz) ist die Engführung von allgemeinem Sollen – was man auch als Norm des Handelns bezeichnet – und eigenem Wollen. „Engführung“ bedeutet, dass der Wille (unser Denken) im Bewusstsein zugehöriger Normen dasjenige Wollen konfiguriert, das ihn selbst bestimmt – sei es der Norm entsprechend oder ihr zuwiderlaufend. Keine Freiheit ist denkbar ohne die Leistung einer solchen Engführung des Allgemeingültigen oder Üblichen mit dem Meinigen, das mein spezifisches Wollen ausmacht. Eine solche Engführung zu absolvieren, bewirkt, dass freies Handeln immer eine Rechtfertigungsleistung erbringt.
Vgl. dazu ausführlich Buchheim 2006, 37– 66.
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(4) Das vierte, auf (1) bis (3) aufbauende Merkmal der Freiheit ist die Bewahrung oder das Festhalten meines Verhältnisses zur Norm bis in die tatsächliche Handlung. Wir können dies auch die Kontrolliertheit sowohl des betreffenden Wollens als auch des ihm entsprechenden Handelns nennen. Wenn jemand zwar die Norm oder das Gebot kennt und befolgen möchte (z. B. „Du sollst Vater und Mutter ehren“), aber jede Ehrbezeugung mit krankhafter Ironie zugleich in Frage stellt, oder nicht in der Lage ist, einen als geschuldet bewussten Dank durch ein bestimmtes Verhalten auszudrücken, dann ist sein Wollen und Handeln insofern unkontrolliert. Ist es aber unkontrolliert, dann ist es eben auch nicht frei, sondern z. B. neurotisch oder zwanghaft oder entgleisend. (5) Schließlich ist ein fünfter, in der gegenwärtigen Debatte besonders umstrittener Zug der Freiheit zu nennen, der vor allem in dem zu Hause ist, was Leibniz als Willens- oder Geistesfreiheit bezeichnet, nämlich das sog. Anderskönnen oder die alternative Möglichkeit des Wollens und Handelns. Wer wollen kann, was er soll, aber dennoch in der geleisteten Engführung es nicht will, sondern anderes, das geltenden Normen zuwiderläuft, der hätte eben auch wollen können, was er soll. Und umgekehrt hätte der, der will, was das Sollen gebietet, ebenfalls anders, d. h. der Norm zuwider wollen können – nach dem Slogan Karl Valentins: „Wollen hätt’ ich schon mögen, aber dürfen hab’ ich mich nicht getraut!“ Noch einmal kurz aufzählend ist zu sagen, dass die Zuschreibung von Freiheit an das Wollen und Handeln eines Menschen es verlangt, (1) aus eigenen Fähigkeiten spontan (2) gemäß willentlichem Denken (3) angesichts einschlägiger Normen gerechtfertigt (4) in der Ausführung kontrolliert (5) und unter Verzicht auf mir mögliche Alternativen tätig oder untätig zu sein. Dies sind meiner Behauptung nach fünf definitorische Merkmale der Freiheit, ohne die es schlicht keine Freiheit gibt. Umgekehrt gilt: Wenn man zeigen kann, dass das Tun oder Lassen eines Menschen oder beliebigen Wesens diese fünf Merkmale erfüllt, dann liegt im vollen Sinn freies Handeln vor. Aus einigen der aufgezählten Merkmale zeigen zu können, dass sie nur im Rahmen einer Gemeinschaft von Handelnden möglich und sinnvoll sind, heißt zu zeigen, dass die Freiheit des Individuums aus begrifflichen Gründen nur in einem sozialen Feld gegeben sein kann.
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I Das Argument aus der Kontrolliertheit des Übergangs von Denken zu äußerem Handeln Weil Freiheit sich aus Handlungs- und Willensfreiheit zusammensetzt, muss jemand, der frei handeln will, sein direktives Denken in einen mehr oder weniger adäquaten Ausdruck davon überführen oder übersetzen. Sogar Kant, der dazu neigt, die Freiheit sich in der Gesinnung, d. h. im bloßen Denken erschöpfen zu lassen, erkennt diesen Punkt an: Es bedarf einer, wie er schreibt, „Typik“ der reinen praktischen Urteilskraft,⁵ um das Gesetz, was die reine praktische Vernunft aus Freiheit erfüllen will, im Feld des Sinnlichen wiedererkennbar zu machen, also praktisch sichtbar zu machen, wie konkret in der Sinnenwelt zu handeln wäre, um dem praktischen Gesetz der Freiheit zu genügen. Die gesuchte Regel der Urteilskraft ist die, dass man sich fragt, ob man – gesetzt den Fall, man wäre Glied einer Naturordnung, in der durch ein Naturgesetz jeder, um seinen Vorteil zu mehren, zu einer der eigenen Maxime gleichen Handlung verursacht wird – einer solchen Naturordnung mit Einstimmung des eigenen Willens angehören möchte. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist klar, dass eine entsprechende sinnliche Handlungsweise nicht Ausdruck eines freien sittlichen Willens im Sinne Kants wäre. Entscheidend ist der Gedanke, dass sinnlicher Ausdruck eines freien Willens nicht und niemals ein einzelnes Sonderprojekt des Handelns sein kann, sondern stets eine bestimmt gebaute Konformität mit einer allgemeinen Ordnung, einem allgemeinen kohärenten System von Verhaltensweisen und Handlungen aufweisen muss. Deswegen ist nach Kant ein allgemeiner Typus von Naturordnung insgesamt ein mögliches Schema für die Beurteilung von ihrem Anspruch nach freien Handlungen, nach welchem die Urteilskraft also Handlungen in Beziehung auf Gesetze der Freiheit allein beurteilen kann. Eine freie Handlung, so können wir sagen, muss eine Sprache konformer Regularien für die Ordnung eines Ganzen sprechen, sonst ist sie nicht Ausdruck, nicht eine kontrollierte Geste der Freiheit und des freien Wollens, sondern unkontrolliertes, unartikuliertes Sich-Gehen-Lassen in äußeres Verhalten. Freies Handeln und Wollen bedarf also notwendig einer Form, die allgemein kenntlich ist in ihrer Bedeutung, was meinen Willen und meine Absichten betrifft. Allgemein kenntliche Formen mit bestimmter Bedeutung aber sind sprachliche oder sprachanaloge Ausdrucksformen.Wer die Sprache der Freiheit gar nicht kennt, der ist auch nicht frei in dem, was er will und tut, sondern verhält sich aufs Geratewohl
Vgl. Kant, AA V, 67– 71.
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oder launisch oder einfach biologisch – was alles nicht als frei bezeichnet werden kann. Kant ist beileibe nicht der einzige Philosoph, der auf diesen Zusammenhang hingewiesen hat. Auch Thomas von Aquin fordert mit seinen Zurüstungen des actus humanus – vom einfachen Willen angefangen über intentio, consilium und electio, bis hin zu imperium, usus und fruitio – so etwas wie eine gemeinverständliche Grammatik oder Sprache oder Artikulationsform dessen, was beanspruchen kann, freies menschliches Tun zu sein.⁶ Es ist eine von der heutigen Diskussion viel zu wenig beachtete Merkwürdigkeit, dass gerade das, was als individuellster und einmaligster Akt des Einzelnen auftritt – der Akt der Freiheit – eine solch allgemeine und von vielen lesbare Struktur verlangt.⁷ Wenn die Freiheit aber nach sprachanaloger Artikulation und Formulierung im konkreten Handeln verlangt, dann ist sie, wie auch die Sprache selbst, eine eminent soziale Angelegenheit. In seiner vielleicht allgemeinsten Form hat das Problem und den besagten Zusammenhang Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen herausgestellt, wenn er das berühmte Regelfolge-Paradox so formuliert, dass der Regel zu folgen glauben, nicht dasselbe ist wie der Regel folgen (vgl. Wittgenstein 1971, § 202). Deshalb also kann ich gar nicht für mich allein auf kontrollierte Weise von einer gedanklichen Vorschrift oder einem Willen zu einem signifikanten oder richtigen Ausdruck des Gedachten übergehen – weder in der Sprache, wie Wittgenstein zeigt, noch in Sachen Freiheit, wie Thomas und Kant auf ihre Weise klargemacht haben. Schon die unerlässliche Kontrolliertheit (oder Disziplin) eines freien Tuns im Übergang vom direktiven Denken zu äußerem, konkretem Verhalten – dem Ausdruck der praktisch-sinnlichen Wehrhaftigkeit, die Freiheit jedenfalls braucht – schon dieses Merkmal erfordert die soziale Einbettung in den Interaktionsraum mit seinesgleichen, um über die geeigneten sprachanalogen Formulierungsweisen des Handeln zu verfügen, die meine Freiheit zum Ausdruck bringen könnten.
Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, qq.7– 17; vgl. dazu insbes. Franke 2012. Vgl. dazu Buchheim 2006, 132– 138, 151 f., 158.
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II Das Argument aus der zweifachen Rechtfertigung Mein zweites Argument für die Sozialität der individuellen Freiheit setzt bei der zu erbringenden Rechtfertigungsleistung freien Wollens und Handelns an. Hier trenne ich mich von Kant und versuche, etwas zu verdeutlichen, das m. E. erst Schelling in seiner Freiheitsschrift über Kant hinaus entdeckt und ins Bewusstsein gerückt hat. Normalerweise denkt man, dass freies Handeln nur dann verantwortlich und gerechtfertigt ist, wenn es den richtigen Gründen und den richtigen Normen gemäß ist und folgt. Mit Kant und mit der vorkantischen Tradition ausgedrückt: Das gute Handeln und Tun des Guten bzw. Unterlassen des Bösen ist gerechtfertigt; aber das böse Handeln und Tun des Bösen bzw. Unterlassen des Guten ist eben nicht gerechtfertigt. So schreibt Kant noch in seiner späten Metaphysik der Sitten: Nur das können wir wohl einsehen: daß, obgleich der Mensch als Sinnenwesen der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen, dadurch doch nicht seine Freiheit als intelligiblen Wesens definirt werden könne, weil Erscheinungen kein übersinnliches Object (dergleichen doch die freie Willkür ist), verständlich machen können, und daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subject auch wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann; wenn gleich die Erfahrung oft genug beweist, daß es geschieht (wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen können). […] Die Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen. Wie kann nun jene aus diesem erklärt werden? (AA VI, 226 f.)
Hier ist deutlich zu erkennen: Für Kant ist eine freie Handlung nur gerechtfertigt, wenn sie der Gesetzgebung der Vernunft entspricht. Handelt ein Mensch dagegen wider das Vernunftgesetz, so ist dies Ausdruck seines „Unvermögens“, dem Anspruch der Freiheit gerecht zu werden. Ein Unvermögen aber kann nicht zur Definition des Vermögens der Freiheit herangezogen werden. Dies hat die für Kant höchst unangenehme Folge, dass böses Handeln in letzter Konsequenz weder dem Vermögen der Freiheit im strengen Sinne entspringt noch also gerechtfertigt ist. Schelling sieht das berühmter (wenn auch oft nicht genügend verstandener) Weise ganz anders: Denn die Freiheit ist nach Schelling dasselbe Vermögen sowohl zum Guten wie zum Bösen. Daraus folgt unmittelbar, dass erstens auch böse Handlungen als Ausdruck der Freiheit gerechtfertigt sind; zweitens aber folgt, dass die Gesetzgebung oder die Vorschrift des Guten nicht unmittelbar von dem her stammen kann, der sich dazu in freier Weise verhält. Dies vielmehr war der Kerngedanke der Kantischen Autonomie: dass die Gesetzgebung wirklich von demselben stammt, der ihr auch unterworfen ist, und deshalb nur der, der ihr auch
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gehorcht, frei und zugleich gerechtfertigt ist. Der, der ihr zuwider handelt, ist unvermögend zur Freiheit in diesem Sinn, und deshalb eben auch nicht mehr frei und gerechtfertigt, sondern heteronom bestimmt. Es gibt also einen massiven Zusammenhang zwischen Freiheit qua Autonomie und der Kantischen These, dass man nur im Guten gerechtfertigt und deshalb auch nur im Guten frei sein könne. Indem Schelling nun die spezifisch menschliche Freiheit als Vermögen zum Guten und Bösen definiert, führt er gleichzeitig die Idee einer Rechtfertigung im Bösen ein und verwirft oder schränkt zumindest den Gedanken der Freiheit als Autonomie des individuellen Menschen ein, der da frei gut oder böse zu handeln hat. Vielmehr gibt es nach Schelling erstens und notwendigerweise eine überindividuelle, um nicht zu sagen allgemeine, Vorgegebenheit des Guten oder Bösen für denjenigen, der zum freien Wollen und Handeln schreitet. Die Norm des Guten und Bösen stammt nicht aus der Vernunft des einzelnen Menschen, sondern ist stets eine geschichtliche Größe, d. h. sie ist Ausdruck eines gemeinsamen „Geistes“, in dem das Leben und Dasein vieler Menschen über Generationen hinweg ein bestimmtes Gepräge angenommen hat. Der Einzelne hat sich immer zu einem solchen geschichtlichen Gepräge oder einer geschichtlich dimensionierten Norm des Guten oder Bösen zu verhalten, wenn es um freies Wollen und Tun geht. Man kann gar nicht denken, dass dies, wie Kant behauptet, der Vernunft des Einzelnen, der frei handelt, entspringen würde. Das ist vielmehr das Ärgernis der Norm, dass sie nicht von dem kommt, der sich frei zu ihr zu verhalten hat. Schon Paulus schreibt: „Die Sünde [=freie Verfehlung; T.B.] nahm Anstoß am Gesetz (hê hamartia aphormên labousa dia tês entolês)“ (Rö 7,8 – 11), ein Satz, den Kant mir zu harmlos zu verstehen scheint, wenn er meint, das bedeute nur, wir handelten als Sinnenwesen unter dem empfundenen Zwang oder der Pflicht eines gleichwohl von uns selbst als Vernunftwesen gegebenen Gesetzes. Vernunft- und Sinnenwesen sind nun mal eins, und dieses eine ist zugleich das, was auch beansprucht, frei zu sein; und was nicht dann seine Freiheit verwirkt oder in ein Unvermögen konvertiert, wenn es dem Anspruch des Gesetzes, an dem gut und böse sich scheiden, nicht genügt. Zweitens aber ist, neben der prinzipiellen Vorgegebenheit des Guten oder Bösen für den frei wollenden und handelnden Menschen, mit dem neuen Konzept Schellings verbunden, dass es auch eine Rechtfertigung des Handelnden im Bösen gibt und geben muss. Dies ist es, was Schelling „das positive Böse“ nennt. Der, der gegen eine vorgegebene Norm des Guten verstößt, sieht sich darin gerechtfertigt, so zu handeln, auch wenn er sich bewusst ist, dass es nicht die einzige Art und Weise darstellt, in seinem Fall gerechtfertigt zu sein. Die oben erwähnte Engführung einer allgemeinen, handlungseinschlägigen Norm mit dem Meinigen kann immer auf zwei Weisen vollbracht oder geleistet werden, und jede dieser Weisen ergibt eine Rechtfertigung für mein Wollen und Handeln: Die eine und gute
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Version der Rechtfertigung ist das „Einstehen“ eines Einzelnen für das Allgemeine der Norm oder der Ordnung des Ganzen mit den eigenen Vermögen und Kräften. Die andere, böse Version der Rechtfertigung ist die „Ausnutzung“ des allgemein normierten Zusammenhangs für die partikularen Interessen des Einzelnen, d. h. des frei Handelnden selbst. Auch Letzteres ist eine Form der Rechtfertigung.⁸ Denn man kann immer sagen: Das Allgemeine und Vorgeschriebene macht sich nicht von selbst. Es muss Leute geben, die sich der Sache annehmen, den Betrieb aufrecht erhalten und so das Allgemeine auch ausführen und zur Wirksamkeit bringen. Dann aber ist es gerechtfertigt, wenn ich das so mache, dass vor allem ich dabei auf meine Kosten komme. Es ist nur gerecht, dass ich den größten Vorteil habe, weil ich es auch am besten kann und meine Kraft dem allgemein normierten Zusammenhang leihe. Dies ist die Rechtfertigungsweise des „positiven“ Bösen, die Schelling vorzuschlagen hat und die m. E. ein sehr guter philosophischer Griff ist, auf den Kant nicht gekommen war. Er macht es möglich, eine Freiheit ebenso im Bösen wie im Guten zu denken. Und er qualifiziert den Einzelnen, der da frei ist, als einen „Geist“ zwischen zwei ihm möglichen Rechtfertigungsweisen angesichts von Normen, die nicht von ihm selbst gesetzt, sondern irgendwie geschichtlich erst an ihn herangetragen werden. Dies also ist die Situation, in der jemand, der frei ist, eine Entscheidung zu treffen hat, und es ist fast von allein deutlich, dass es sich um eine essentiell soziale Situation handelt. Die einschlägigen Normen wurden gerade nicht von mir gesetzt, sondern „sind“ gesetzt oder mir vorgegeben durch das Handeln und Tun und Lassen vieler anderer, oft über Generationen hinweg. Und nur, weil nicht ich sie gesetzt habe, kann ich mich frei dazu verhalten und mich entweder in ihrem Sinne einsetzen oder sie in meinem Sinne ausnutzen. Beides sind Stellungnahmen von mir als Einzelnem in Beziehung auf die sozialen Kreise und Ensembles, denen ich angehöre. Auch ist klar, dass nicht in jedem Fall die errichtete Norm eine ist, die mich im Guten salviert. Denn es kann sehr wohl sein, dass der Sinn des Einzelnen, der frei will und handelt, über der vorgegebenen Norm steht, und die Universalität, der er folgt, in Konkurrenz mit dem Allgemeinen der Norm steht, zu der er sich verhält. Dies ist in Kantischen Termini schlecht möglich, wo der Einzelne selbst sich für das Gesetz verantwortlich machen muss, dem er auch untersteht. Durch die Schelling’sche Art, die Autonomie der Freiheit einzuschränken, wird eine soziale Entwicklung und Konkurrenz der normativen Systeme und Ansprüche – im Geist des Guten oder Bösen – viel leichter denkbar und verständlich.
Vgl. dazu Buchheim 2012, 194– 197.
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III Das Argument aus der Alternativität des freien Wollens und Tuns Jede Entscheidung, jedes Wollen und Tun oder Lassen aus Freiheit ist, um dieses Prädikat zu verdienen, eine Reduktion von Möglichkeiten, die der Handelnde vor seiner Handlung besitzt. Sowohl die Handlungsfreiheit („tun können, was man will“) als auch die Willensfreiheit („wollen können, was man soll“) scheinen zu implizieren, dass man, gleichgültig, wie man aus Freiheit tätig wird oder untätig bleibt, jeweils auch „nicht“ tätig oder „nicht“ untätig hätte bleiben können. Wollen können, was man soll, und es so wollen, impliziert, auch nicht wollen zu können, was man soll, d. h. impliziert die Möglichkeit eines Dissens mit der Norm. Tun können, was man will, und es so tun, bedeutet, auch nicht tun zu können, was man doch will. Dies pflanzt wenigstens im Keim einen Dissens mit sich selbst in die betreffende Handlung. Die Freiheit als freies Wollen und Tun scheint stets durchsichtig zu sein in Beziehung auf das vermiedene Gegenteil, was man bei Kindern, die die Freiheit erst lernen, gut beobachten kann. Denn Kinder tun das, was sie aus Freiheit tun, mit einem „Fleiß“, der sagt: „ich könnte auch anders“, und sie wollen nicht, was man soll, indem sie zu erkennen geben: „schau her, wie anders ich doch will“. Die Freiheit ist offenbar so gebaut, dass sie in allem von ihr geprägten Tun und Lassen zwischen einem vermochten Dissens mit dem, was man tut oder nicht tut (der Norm) und einem ebenfalls möglichen Dissens mit sich selbst („ich könnte auch anders“) hindurchmanövriert. Ich sehe nicht, wie man jemandem, der nicht diese reflexive Distanz zu sich selbst als Befolger einer Norm und zum „generalisierten Anderen“ (um einen Ausdruck George Herbert Meads zu gebrauchen) als Stakeholder der Norm einzunehmen vermag, im vollen Sinne Freiheit zuschreiben kann. Es ist dieser beidseitig mögliche Dissens oder diese beidseitige Distanzierungsmöglichkeit, welche eigentlich die Zurechnungsfähigkeit eines Menschen ausmacht. Und darin besteht die Alternativität der Freiheit diesseits der Frage, ob solche alternativen Möglichkeiten wie sich verzweigende Schattengleise in die Zukunft existieren, auf denen jemand fahren könnte oder nicht fahren könnte – je nachdem, ob die Welt eine deterministisch ablaufende Welt ist oder nicht. Der frei Wollende und Handelnde tariert stets eine ihm mögliche Abweichung von dem aus, was er selbst will, und zugleich von dem, was andere tun oder nicht tun. Er balanciert so die Handlung in einem Zwischenraum oder Spielraum zwischen sich selbst und anderen an seiner Stelle. Freiheit bedeutet meiner Meinung nach nie das bloß ungehinderte Ausleben eines Wesens oder Charakters nach eigener Manier, wie sie von Spinoza, Hobbes und dem früheren Schelling (um nur einige von vielen Beispielen zu nennen) allzu simpel gedeutet wurde. Die interne Dif-
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ferenz zwischen dem, was von mir getan werden könnte (dem Typus, der Form), und dem, was ich de facto tue, wird die Freiheit nicht los. In diesem Moment aber weiß ich mich selbst als ein bloßes Beispiel für die Erfüllung einer Form oder Norm des Handelns, in die auch andere (oder ich selbst zu einer anderen Gelegenheit) eintreten könnten – oder auch nicht. So dass auch Gott, insofern er frei wollen und handeln würde, zumindest in sich selbst auch ein möglicher anderer zu sein hätte, der so nicht unbedingt handelt. Dies ist aus dem Begriff der Freiheit nicht wegzukriegen.
IV Das Argument aus der Personalität der Freiheit Dies führt schon zum letzten der Argumente, die ich erkennen kann, um die individuelle Freiheit als einen sozial verwurzelten Sachverhalt zu erweisen. Warum denken wir häufig, dass Freiheit, freies Wollen und Handeln eine Sache ausschließlich von Personen, nicht aber von Akteuren auch anderer Art sei? Auch ein Pferd im Zirkus oder ein Hund im wirklichen Leben ist oft Akteur dessen, was passiert oder vorgeführt wird, aber eben nicht handelnde und schon gar nicht frei handelnde und wollende Person. Warum eigentlich nicht? Ich denke, deshalb nicht, weil zum Beispiel ein Zirkuspferd, das durchaus auf das achtet, was die anderen Akteure tun, und sich entsprechend verhält und ins Geschehen eingliedert, nicht und niemals sich selbst in die Lage eines anderen versetzen oder andere an seiner Stelle sehen könnte. Dies ist m. E. die entscheidende Auszeichnung und das Privileg von Personen oder dessen, was man Geist nennt, dass sie sich in dem, was sie tun, prinzipiell an einer Stelle sehen, die auch andere einnehmen könnten, bzw. sich selbst auch an Stelle anderer sehen, deren Position im Verhältnis zu ihrer eigenen definiert ist. Die Person, obwohl sie jeweils nur eine Stelle in einem Feld des Handelns besetzt, denkt sich immer auch an anderer und andere an ihrer Stelle.⁹ Sie sieht sich wollend und handelnd in einem Gegenüber und Geflecht von Stellen, deren Besetzung durch sie und andere prinzipiell austauschbar oder ersetzbar wäre. Das erst macht sie frei, nun an ihrer Stelle und in diesem Fall genau das und nichts anderes zu wollen und zu tun, als das,was sie eben will und tut. Sie übernimmt es gewissermaßen stellvertretend für und anstatt von allen anderen, die jetzt nicht in ihrer Lage sind. Aber dadurch bekommt das, was jemand frei tut, ein eigentümliches Gewicht nicht nur für ihn, sondern für prinzipiell alle, die an der betreffenden Gemeinschaft oder in dem betreffenden Feld des Handelns sich zu schaffen machen. Ein schönes Stück von Beckett, nämlich ein einsames
Vgl. Buchheim 2006, 151– 154.
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Selbstgespräch einer Person über ihre eigene Lage in der Welt, trägt den treffenden Titel Company: „the fable of one fabling of one with you in the dark“ (wie Beckett schreibt). Freiheit kommt Personen zu, insofern diese, was sie wollen und tun, stets in einer Art von Selbstbegleitung, d. h. unter den Augen und stellvertretend für mögliche andere, tun.
Literatur Buchheim, T., 2006: Unser Verlangen nach Freiheit. Kein Traum sondern Drama mit Zukunft, Hamburg. Buchheim, T., 2012: Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ nach Schellings ‚Freiheitsschrift‘. In: F. Hermanni/D. Koch/J. Peterson (Hg.): ‚Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!‘. Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung, Tübingen, 187 – 217. Buchheim, T., 2013: Freiheit und Determination, in: A. Honneth/G. Hindrichs (Hg.): Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt a.M., 99 – 7. Franke, C.A., 2012: Actus humanus, actus hominis und das Prinzip des doppelten Effekts. Selbstbestimmung und die Idee moralischer Verantwortung nach Thomas von Aquins Handlungstheorie, Diss. München. Kant, I., 1968: Die Metaphysik der Sitten, in: Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Bd. VI, Berlin, 203 – 493. Kant, I., 1968: Kritik der praktischen Vernunft, in: Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Bd. V, 1 – 163. Leibniz, G.W., 1985: Nouveaux essais sur l’entendement humain, Darmstadt. Matt, G., 2004: Ein Vorschlag zur Auflösung des Trilemmas der psychophysischen Kausalität im Formalismus der Ereignisalgebra, Berlin. Meixner, U., 2008: Physikalismus, Dualismus und intellektuelle Redlichkeit, in: M.F. Peschl/ A. Batthyany (Hg.): Geist als Ursache? Mentale Verursachung im interdisziplinären Diskurs, Würzburg, 249 – 270. Schelling, F.W.J.: Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hg. von Th. Buchheim, Hamburg 22011. Thomas von Aquin, 1891: Summa theologiae. Quastiones I-LXX, Editio Leonina, Tom. 6, Rom. Wittgenstein, L., 1971: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.
Karl Mertens
Plurales, kollektives und institutionelles Wollen Können soziale Entitäten wie Gruppen, Gemeinschaften und Institutionen etwas wollen? Folgen wir unserer Alltagssprache, dann ist diese Frage mit einem klaren „Ja“ zu beantworten. „Ein großes Unternehmen will neue Arbeitsplätze schaffen“; „die Universität will die Zielvereinbarungen erfüllen“ oder – personal überschaubarer – „wir, ein paar Freunde und ich, wollen das Klavier in den vierten Stock tragen“. Und dennoch provoziert diese eindeutige Antwort Skepsis, die sich darauf berufen kann, dass Willenszuschreibungen an soziale Akteure nach Maßgabe individueller Willenszuschreibungen zu verstehen sind. Sozial Handelnde wie bestimmte Institutionen oder Gruppen aber verfügen mitnichten über einen eigenen Geist. Sie haben im Unterschied zu Individuen keine psychischen Zustände. Mit voluntativen Begriffen ebenso wie mit anderen intentionalen Konzepten wie Wünschen, Absichten, Einstellungen und dergleichen beziehen wir uns jedoch auf das Bewusstsein der Akteure, auf ihre psychischen Zustände.¹ Verwenden wir daher Willensbegriffe im Zusammenhang der Beschreibung von Handlungen sozialer Akteure, kann es sich allenfalls um Metaphern handeln oder gar um eine bloße façon de parler, die auf einer oberflächlichen Analogie mit dem individuellen Wollen beruht, das als das eigentliche Wollen verstanden wird. In den letzten Jahren sind solche und ähnliche Fragen immer wieder in Verbindung mit dem Problem gestellt worden, ob es soziale Akteure gibt, denen ein Verhalten als ein von ihnen zu verantwortendes Handeln zugeschrieben werden kann. Gewöhnlich wird die Diskussion dieser Frage mit dem Begriff der kollektiven Intentionalität verknüpft.Vor diesem Hintergrund möchte ich in einem ersten Abschnitt dafür argumentieren, dass die handlungstheoretische Standardauffassung, nach der ein bestimmtes Beabsichtigen oder Wollen für Handlungen konstitutiv ist,² sich nicht ohne Weiteres auf die Analyse des kooperativen oder gemeinsamen Handelns übertragen lässt. Solche Handlungen können auch diesseits eines auf die soziale Handlung gerichteten gemeinsamen Wollens oder Beabsichtigens zu Stande kommen. Insofern ist kollektive Intentionalität keine notwendige Bedingung kooperativer oder gemeinsamer Handlungen. Daraus er-
Zu einer knappen, handlungstheoretisch akzentuierten Darstellung dieses Problems vgl. Stoecker 2005, 174 f. Eine kritische Erläuterung dieses Modells mit Bezug auf das individuelle Handeln habe ich an anderer Stelle zu geben versucht (vgl. Mertens 2012, 260 ff.).
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gibt sich für die im zweiten und dritten Abschnitt vorgestellten Überlegungen, dass die Frage nach dem Willen sozialer Akteure als Frage danach zu verstehen ist, ob es spezifische kooperative Handlungen und damit verbunden spezifische soziale Entitäten gibt, bei denen wir mit Recht von einem gemeinsamen Wollen sprechen können. Ich werde versuchen, auf diese Frage eine bejahende Antwort zu geben.
1 Ist gemeinsames Beabsichtigen oder Wollen für kooperative Handlungen konstitutiv? In einer berühmten Formel hat Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe (1963) Handlungen als Ereignisse bestimmt, die unter einer Beschreibung absichtlich sind. Gemäß dieser Auffassung wird ein Verhalten aufgrund der Bezugnahme auf eine das Verhalten leitende Absicht als Handlung spezifiziert. Die gleiche Funktion erhält in der klassischen phänomenologischen Theorie des Handelns das Wollen. So verstehen etwa Alexander Pfänder (1963) oder Edmund Husserl (1988, 102 ff.) das Wollen als konstitutive Bedingung einer Handlung. Wenn Akteure handeln, dann tun sie etwas Bestimmtes. Sie kochen Kaffee, lesen ein Buch oder gehen spazieren. Handlungen und mit ihnen die handlungskonstitutiven Absichten sind daher immer als diese oder jene spezifiziert.Werden Handlungen und Absichten explizit thematisch, dann nicht als Handlungen oder Absichten überhaupt, sondern als jeweils konkrete. So loben wir Peter für seinen besonderen Einsatz beim Umzug, während wir den im gleichen Kontext nahezu untätigen Paul für seine unzureichende Hilfe tadeln.Wir fragen, ob Julians Bemerkung nur flapsig war oder ob er Petra beleidigen wollte. Oder hat er sie beleidigt, obwohl dies keineswegs seine Absicht war? Üblicherweise ist dies der Ansatz, mit dem auch kooperative Handlungen analysiert werden. Wenn wir etwa zusammen ein Klavier transportieren, gemeinsam eine Sauce Hollandaise kochen oder miteinander spazieren gehen, dann liegt solchem Tun, so die Standardauffassung, eine entsprechende gemeinsame Absicht, eine kollektive Intentionalität zu Grunde.³ Es gibt nun aber kooperative bzw. gemeinsame Handlungen, bei denen die spezifische Art der Kooperation Die genannten Beispiele finden sich in klassischen Texten der Debatte um kollektive Intentionalität: Tuomela/Miller 1988, 372/79, Searle 1990, 410 ff./111 ff., Gilbert 1990. (Bei Titeln, die sowohl im englischen Original als auch in der deutschen Übersetzung zitiert werden, werden die beiden Seitenangaben jeweils mit einem Schrägstrich getrennt, wobei die englische Quelle zuerst angegeben wird.) Die Bezugnahme auf kollektive Intentionalität wird von Schmid/Schweikard (2009a, 14) als Konsens in der Debatte um die Bestimmung gemeinsamen Handelns festgehalten.
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unabhängig von einer die Handlung konstituierenden gemeinsamen Absicht der Akteure zu Stande kommt – sei es, weil sich das, was zusammen getan wird, und eine entsprechende gemeinsame Intention erst im Verlauf des Handelns entwickelt, sei es, weil die Gesamthandlung ausgeführt wird, ohne dass alle beteiligten Akteure eine (kollektive) Absicht zu der fraglichen Handlung haben. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: (a) Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht ein guter Bekannter, den ich lange nicht mehr gesehen habe, und winkt. Ich überquere die Straße und spreche ihn an. Überrascht, mich zu sehen, erklärt mir der andere, er habe mich zuvor gar nicht bemerkt und eigentlich ein vorbeifahrendes Taxi heranwinken wollen. Der Taxifahrer sei jedoch weitergefahren, offenbar weil sein Taxi bereits besetzt war. Da mein Bekannter zum Bahnhof muss und ich ohnehin auf dem Weg zu meinem Auto bin, biete ich ihm an, ihn mitzunehmen, zumal ich ohnehin fast am Bahnhof vorbeifahre. Wir nutzen die Fahrt zu einer kleinen Unterhaltung. (b) Die Teilnehmer eines philosophischen Symposions besichtigen die historische Altstadt ihres Tagungsortes. Ein Fremdenführer führt die Gruppe durch Straßen und Gassen; an ausgewählten Stationen erläutert er die kunsthistorischen Sehenswürdigkeiten; er stellt Kapitel der Stadtgeschichte vor und erzählt die ein oder andere Anekdote. Für Passanten, die dieser Gruppe begegnen, ist das, was die Gruppe tut, eindeutig: Die Gruppe macht eine Besichtigungstour. Doch es handelt sich, wie gesagt, um Teilnehmer einer wissenschaftlichen Tagung, um engagierte Philosophen, deren gedankliche Auseinandersetzung mit den Vorträgen auch nach den Sektionen noch andauert. So gehören zu der Gruppe auch zwei Tagungsteilnehmer, die äußerst intensiv den letzten Vortrag diskutieren. Sie wissen nicht, dass sie inzwischen an einer Stadtführung teilnehmen. Auf Nachfrage würde sie möglicherweise die Überzeugung zum Ausdruck bringen, die Gruppe ginge zum Abendessen. Die Beispiele machen deutlich, dass kooperative oder gemeinsame Handlungen auch ohne eine entsprechende handlungskonstitutive kollektive Intentionalität realisiert werden können. Im ersten Fall kommt es zur handlungsbestimmenden Weise der Kooperation, obwohl die Teilnehmer zunächst auf je andere Kooperationen gerichtete Intentionen haben. Dabei schließen sich die jeweils individuell anvisierten Formen gemeinsamen Handelns bereits durch den Kreis der antizipierten Teilnehmer wechselseitig aus. Mein Bekannter hat die Absicht, ein Taxi heranzuwinken, während ich sein Handeln als an mich adressierte Gesprächsofferte verstehe. Die gemeinsame Handlung, die sich nach der anfänglichen Irritation ergibt, ist zunächst das klärende Gespräch und dann die daraus resultierende gemeinsame Fahrt zum Bahnhof. Sie lässt sich weder im Rekurs auf eine den Handlungszusammenhang insgesamt übergreifende gemeinsame Absicht aller teilnehmenden Akteure noch auf ein Beabsichtigen oder
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Wollen einer der beiden beteiligten Personen, das sich im Verlauf der Handlung durchsetzt, bestimmen. Die Weise, wie die Akteure aufgrund ihrer intentionalen bzw. volitionalen Verfasstheit das Gesamthandeln anfänglich verstehen, führt vielmehr zu Formen der Interaktion, die im Gesamthandeln zunächst störend sind. Die Bestimmtheit der Gesamthandlung und die Formung eines gemeinsamen Wollens oder Beabsichtigens ergibt sich schließlich durch eine Revision des initialen Wollens bzw. Beabsichtigens. Durchgängig ist auf der Seite der miteinander Agierenden im gesamten kooperativen Handlungsverlauf lediglich die Bereitschaft, mitzumachen und die auftretenden Schwierigkeiten miteinander zu lösen. Aus dieser im weitesten Sinne kooperativen Einstellung lässt sich jedoch die resultierende spezifische Form des kooperativen Handelns gerade nicht ableiten. Um die Weise des Zusammenwirkens von Akteuren im kooperativen Handeln zu analysieren, hat Ulrich Baltzer in seiner sozialontologischen Studie zum Gemeinschaftshandeln die Bedeutung sog. Anschlusshandlungen herausgestellt. Danach wird gemeinsames Handeln nicht durch kollektive Intentionen konstituiert, sondern dadurch, dass Handlungsinitiativen von anderen Akteuren, die den Handlungszusammenhang fortsetzen, aufgenommen werden.⁴ Der zweite Fall soll verdeutlichen, dass gemeinsame Handlungen von Gruppen auch dann zu Stande kommen können, wenn einigen der beteiligten Akteure durchgängig eine (kollektive) Absicht zu dieser Handlung fehlt. So würden wir sinnvollerweise das, was die Gruppe der Tagungsteilnehmer tut, auch dann als Teilnahme an einer Stadtbesichtigung bezeichnen, wenn einzelne Akteure in keiner Hinsicht – d. h. auch nicht nebenbei – an einer Besichtigungstour teilzunehmen beabsichtigen, weil ihr Handeln vollständig von anderen Absichten bestimmt ist – beispielsweise von der Absicht, eine begonnene Diskussion fortzusetzen, sich nach den Vorträgen die Zeit zu vertreiben, spazieren zu gehen usw. Denn trotz solcher individuellen intentionalen Abweichungen gibt es bestimmte Verhaltensmuster und -konstellationen sowie kontextuelle Umstände (etwa die Begleitung der Gruppe durch einen Fremdenführer, die spezifische Form des gemeinsamen Ganges durch die Stadt usw.), aufgrund derer wir die Gruppenhandlung als Stadtbesichtigung bestimmen. Es wäre daher nicht sinnvoll, die Charakterisierung der gemeinsamen Handlung aufgrund der unterschiedlichen Absichten der Teilnehmer dem minimalen intentionalen Konsens aller Teilnehmer anzupassen und etwa das fragliche Tun zu beschreiben als „sich mit anderen durch die Stadt bewegen“. Kurz: Der Rekurs auf die handlungskonstitutive Rolle von Absichten darf handlungstheoretisch nicht exklusiv verstanden werden.
Ein sehr schönes Beispiel für einen Handlungsverlauf, bei dem erst vom Ende her der Charakter der Gesamthandlung bestimmt werden kann, gibt Baltzer 1999, 193 f.
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Handlungen werden auch durch Verhaltensformen, Situationen und Kontexte bestimmt.⁵ Die Beispiele sollen plausibel machen, dass es kooperative oder kollektive Handlungen gibt, die sich nicht befriedigend mittels eines die Handlung konstituierenden kollektiven Beabsichtigens oder Wollens der beteiligten Akteure analysieren lassen, das sich auf die Ausführung der spezifischen Gesamthandlung richtet. Vielmehr kann sich die Form des gemeinsamen Handelns im Verlauf des Miteinanders allererst entwickeln oder auch quer zu den Intentionen einzelner Akteure zu Stande kommen. Damit komme ich zu meiner ersten These: Es gibt kooperative oder gemeinsame Handlungen, die auf einem pluralen Wollen oder Beabsichtigen der beteiligten Akteure beruhen. Ich verwende hier den Begriff eines pluralen Wollens für die Pluralität eines individuell je verschiedenen Wollens. Damit weiche ich, wie ich später noch ausführen möchte, z. B. von Gilberts Verständnis des Pluralwillens ab.⁶ D.h. Kooperation kommt auch dann zu Stande, wenn zumindest in großen Teilen des Handlungsverlaufs keine kollektive Absicht, kein gemeinsamer Wille der Akteure zu genau dieser gemeinsamen Handlung ausfindig gemacht werden kann. Dann aber ist ein gemeinsames Wollen oder Beabsichtigen nicht die konstitutive Bedingung kooperativer Handlungen. Im Folgenden möchte ich allerdings dafür argumentieren, dass es bestimmte Formen des kooperativen Handelns gibt, denen ein gemeinsames überindividuelles Wollen zu Grunde liegt. Dafür wird zunächst eine einfache Lösungsstrategie des Problems eines sozialen Wollens skizziert. Diese ist jedoch im Zusammenhang der eingangs aufgeworfenen Fragestellung theoretisch wenig attraktiv, weil sie das eigentliche Problem marginalisiert. Um dies zu markieren,wird terminologisch der Willensbegriff gegenüber dem handlungstheoretischen Begriff der Absicht spezifiziert (Abschnitt 2). Vor diesem Hintergrund sollen schließlich zwei Formen eines Wollens sozialer Akteure – das kollektive und das institutionelle Wollen – ausgezeichnet werden (Abschnitt 3).
Vgl. dazu ausführlicher Mertens 2013. Gilbert 1990, 7/165. Während bei Gilbert der Pluralwille das gemeinsame Wollen von Personen bezeichnet, die etwas zusammen tun, möchte ich mit der Rede vom pluralen Wollen auf die Möglichkeit von gemeinsamen Handlungen verweisen, die auf der Basis einer Pluralität individuellen Wollens zu Stande kommen.
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2 Zur Unterscheidung von Beabsichtigen und Wollen Auf den ersten Blick scheint es eine einfache Lösung des im ersten Teil skizzierten Problems zu geben. Folgt man nämlich der in der analytischen Philosophie etablierten Rede von Absichten, dann ist an die methodischen Bemerkungen zu erinnern, mit denen Anscombe den handlungstheoretischen Gebrauch des Absichtsbegriffs in die Diskussion eingeführt hat. Danach ist die Rede von Absichten an eine bestimmte Möglichkeit der Beschreibung von Ereignissen gebunden. Diese schließt weder andere Beschreibungsmöglichkeiten aus noch setzt sie voraus, dass Absichten von Handelnden in besonderer Weise selbst erfahren und erlebt werden. Dementsprechend impliziert die Absichtszuschreibung für Anscombe keine methodisch privilegierte Perspektive von Akteuren.⁷ In diesem Sinne könnte man versuchen, auch die im ersten Teil skizzierten gemeinsamen Handlungen ex post im Rekurs auf eine handlungskonstitutive kollektive Absicht zu beschreiben. Entscheidend ist dabei, dass eine solche Beschreibung unabhängig davon ist, ob eine entsprechende Absicht allen, einigen oder auch – zumindest über weite Strecken des Handlungsverlaufs – keinem der miteinander Handelnden als Absicht bewusst ist. Überdies ist ein methodisch verstandener Absichtsbegriff insgesamt von den psychischen Bedingungen befreit, die ihn auf eine individuelle Verwendung festzulegen scheinen. Absichten lassen sich daher auch einer Gruppe zuschreiben, insofern das Verhalten der Gruppe unter einer intentionalen Beschreibung als Handlung verstanden werden kann. Eine solche Absichtszuschreibung ist mit Blick auf ihren theoretischen Gewinn zu rechtfertigen. Sie bietet eine intentionale Erklärung für ein Verhalten. Erklären wir das Verhalten einer Gruppe mit Hilfe intentionaler Begriffe als Handlung, können wir z. B. Verantwortungsfragen stellen und das Verhalten im Kontext normativer Forderungen beurteilen.⁸
Anscombe 1963, § 4. Die Kritik eines methodisch privilegierten Zugangs zu Absichten schließt allerdings nicht aus, dass die Erste-Person-Perspektive gelegentlich empirisch privilegiert sein kann (vgl. ebd., § 25, 44). Der skizzierte Lösungsvorschlag verbindet in gewisser Weise einen funktionalistischen bzw. instrumentalistischen mit einem askriptivistischen Grundgedanken. Der etwa von Daniel Dennett (1987) vertretene Funktionalismus oder Instrumentalismus erklärt ein bestimmtes Verhalten durch Einführung eines intentionalen Vokabulars und gestattet bestimmte Prognosen; der Askriptivismus, wie ihn in seiner klassischen Form Hart (1949) entwickelt hat, versteht Handlungen als ausgezeichneten Gegenstand von Rechtfertigungsdiskursen. Eine solche Verbindung von intentionaler Erklärung eines Verhaltens und Rechtfertigungskontext scheint mir bei Anscombe (1963) angelegt, wenn sie darauf verweist, dass wir mit dem Rekurs auf Absichten ein
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Diese Lösung bietet jedoch keine befriedigende Antwort auf die Ausgangsfrage, und zwar nicht nur, weil eine solche Beschreibung im Blick auf Fälle der im ersten Abschnitt skizzierten Art von gemeinsamen Handlungen wenig überzeugend ist. Die angedeutete Strategie der intentionalen Analyse eines kooperativen Verhaltens scheitert vielmehr auch und vor allem daran, dass die Frage, ob soziale Akteure einen Willen haben können, auf mehr zielt als die Frage, ob kooperative Handlungen mit Hilfe der Zuschreibung kollektiver Absichten erklärt werden können. Der brisante Punkt dabei ist, ob von einem Wollen sozialer Akteure in dem gleichen oder zumindest in einem entsprechenden Sinn gesprochen werden kann wie vom Wollen individueller Akteure. – Um zu verstehen, was damit gemeint ist, möchte ich zwischen dem Begriff der Absicht und dem Begriff des Willens, zwischen Beabsichtigen und Wollen, terminologisch unterscheiden. Zwar dienen beide Begriffe der Zuschreibung von Handlungen, doch zeigen sich bei näherem Hinsehen folgende Differenzen: (a) Die Verwendung des Willensbegriffs impliziert im Unterschied zum Konzept der Absicht eine zeitüberdauernde personale Einheit desjenigen, der etwas will. Während Absichten spontan sein und sich lediglich auf die momentane Ausführung einer Handlung richten können, impliziert der Rekurs auf einen Willen auch bestimmte Annahmen über habituelle Dispositionen eines Akteurs. In diesem Sinne verweist das Wollen von Akteuren auf deren Charakter. Nun werden zwar in der alltäglichen und auch der philosophischen Rede „Wollen“ und „Beabsichtigen“ nicht immer distinkt gebraucht, so dass sich die beiden Begriffe in vielen Kontexten ohne Verlust austauschen lassen. Aber es gibt Zusammenhänge, in denen der skizzierte Unterschied recht deutlich wird. Zu denken ist hier z. B. an die Diskussionen des Phänomens der Willensschwäche. Denn nur unter der Voraussetzung, dass Handlungen von Akteuren ausgeführt werden, die einen Charakter haben und denen es nicht gleichgültig ist, welchen Charakter sie haben, kann es überhaupt sinnvoll sein, einem Handelnden Willensschwäche zu attestieren.⁹ Die alltägliche und die philosophische Sprache ist sich dessen bewusst, wenn sie interessanterweise – und nicht nur im Deutschen – in diesem Kontext auf den Begriff des Willens zurückgreift. Eine entsprechende Rede von einer Absichtsschwäche begegnet uns demgegenüber nicht. (b) In seiner habituellen Verankerung ist das Wollen mit deliberativen Prozessen verknüpft, aufgrund derer ein Wollender bestimmte Dinge tun und andere unterlassen will. Für das, was ein Akteur will, kann er daher in der Regel auf bestimmtes Verhalten begründen. Allerdings lässt sich auch ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen askriptivistischem und instrumentalistischem Ansatz herausstellen (vgl. dazu Stoecker 2005, 175 ff.). Vgl. hierzu den Beitrag von Jörn Müller in diesem Band.
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Gründe verweisen – d. h. er folgt nicht einer spontanen Eingebung, sondern hat sich das, was er will, auch überlegt. Von Überlegung ist hier in einem Sinne zu sprechen, der über das belief-desire-Modell hinausgeht. Während sich dieses Modell auch auf situationale Minimalreflexionen anwenden lässt, mit denen spontane Handlungen wie das Anschalten eines Lichtschalters u. ä. erklärt werden können, geht es beim hier skizzierten Verständnis des Wollens um die Ausrichtung personaler Existenz auf ein Leben, das dem Akteur nicht gleichgültig, sondern Gegenstand einer eigenen – deliberativ vermittelten – Orientierung oder gar eines Lebensplanes ist. (c) Deswegen übernimmt ein Wollender mit seinem Willen auch eine Verpflichtung, durch die er vor anderen und vor sich selbst verantwortlich ist und zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wer in diesem überdauernden personalen Sinne etwas will, kann daher grundsätzlich von anderen oder sich selbst ermahnend auf ein abweichendes – durchaus beabsichtigtes – Tun hingewiesen werden. Man denke an Einsprüche der folgenden Art: „Du wolltest Dir doch das Rauchen abgewöhnen!“ Oder auch in Selbstadressierung: „Eigentlich wollte ich mir das Rauchen abgewöhnen!“¹⁰ (d) Mit der Tatsache, dass handelnden Personen ihr Wille nicht gleichgültig ist, hängt es schließlich zusammen, dass der Begriff des Willens, im Unterschied zu dem der Absicht, in der Funktion eines rein methodischen Konzepts zur Handlungsbeschreibung nicht aufgeht. Die Rede von einem Wollen hat vielmehr eine deskriptive Dimension und verweist auf einen eigenen phänomenalen Gehalt. Anders als der handlungstheoretische Begriff der Absicht, der nicht notwendig die Existenz entsprechender mentaler Zustände impliziert, bezieht sich der Begriff des Wollens auf unsere Selbsterfahrung. Einem Wollenden ist sein Wille auch bewusst.¹¹ Bewusst aber ist das Wollen in einer bestimmten gefühlsmäßigen Einbettung, als ein affektiv bedeutsames bewusstes Streben nach etwas bzw. Abwenden von anderem. Je nachdem, durch welche Umstände und Kontexte das Wollen oder willentliche Abwenden unterstützt oder gestört wird, welche Erfolge und Misserfolge es zeitigt, ist das Wollen begleitet von Gefühlen wie Freude und
Die personale Zurechnung eines Willens, für den die handelnde Person verantwortlich ist, ist auch zentral in Mandrellas (2011, 2517 f.) Analyse des Willens. In diesem Kontext ließen sich z. B. auch Phänomene der Art von Frankfurts (1971) second order volitions als Dissonanz zwischen personalem Wollen und handlungskonstituierenden Absichten terminologisch analysieren. Die Involviertheit Wollender in ihr Wollen, die Bewusstheit des Wollens thematisiert auch Mandrella (2011, 2517): „Ob ein […] Verhalten nun willentlich oder unwillentlich genannt werden muss, hängt entscheidend vom Kriterium der Bewusstheit ab, denn etwas zu wollen schließt im strengen Sinn stets die bewusste Hinwendung auf etwas (und gleichzeitig die bewusste Ablehnung von etwas anderem) ein.“
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Enttäuschung, Zufriedenheit und Unzufriedenheit und wird auch ex post entsprechend affektiv bewertet.
3 Kollektives und institutionelles Wollen Mit solchen Überlegungen dürfte nun für eine positive Beantwortung der Ausgangsfrage, ob soziale Akteure etwas wollen können, kaum noch eine Chance bestehen. Denn schließt Wollen ein Bewusstsein des Wollens ein, dann scheint Wollen nur individuellen Handlungsträgern überhaupt möglich zu sein. Impliziert daher – so möchte ich eine Kritik aufgreifen, die Frederik Stoutland (1997, 67 ff./ 294 ff.) in etwas anderem Zusammenhang an der analytischen Handlungstheorie geäußert hat – der Rekurs auf das Wollen notwendigerweise einen ontologischen Individualismus? Bei der Beantwortung dieser Frage werde ich zwischen dem Wollen von Kollektiven und Institutionen unterscheiden. Unter Kollektiven verstehe ich hier überschaubare soziale Gemeinschaften, die sich selbst in einer emphatischen Weise als Wir-Gemeinschaften begreifen.Wir sind diejenigen, die gemeinschaftlich die Kinovorstellung besuchen, nicht jedoch all diejenigen, die mit uns ebenfalls die Filmvorführung sehen. Wir treffen uns jede Woche zum Streichquartettspiel; wir gehen miteinander spazieren; wir plakatieren in einer nächtlichen Aktion die öffentlichen Plätze Würzburgs usw. „Wir“ heißt hier jeweils eine Gemeinschaft, deren Mitglieder nicht beliebig auswechselbar sind. Darüber hinaus gibt es eine Verwendung des Begriffs „Kollektiv“ für Gemeinschaften, die sich auf einen anonymen Kreis möglicher Mitglieder beziehen.¹² Kollektive dieser Art sind im Folgenden nicht Gegenstand der Überlegungen.¹³ Zumindest heuristisch dürfte es m. E. allerdings aufschlussreich sein, sich dem schwierigen und diffusen Phänomenen anonymer Kollektive im Ausgang von handlungs- und willenstheoretischen Überlegungen zu überschaubaren Kollektiven zu nähern. Kollektive dieser Art können z. B. auf eine Nation, ein Geschlecht oder eine soziale Klasse, ja sogar eine Epoche bezogen sein: wir Franzosen oder Deutsche, wir Frauen oder Männer, wir Arbeiter oder Unternehmer, wir Menschen des 21. Jahrhunderts usw. Nicht zuletzt ist es ausgesprochen schwer, einen klaren Begriff des Handelns für solche Kollektive zu entwickeln. Interessant könnten hier insbesondere Situationen sein, in denen die entsprechende Mitgliedschaft mit einem emphatischen Sinn verbunden wird. Denn dies scheint vor allem dann der Fall zu sein, wenn solche Kollektive in besonderer Weise zu Handlungsträgern werden – etwa in einer kriegerischen Auseinandersetzung, in einer Revolution usw. Die kollektive Selbstbestimmung ist dabei in der Regel eng verbunden mit der Abgrenzung von anderen Kollektiven.
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Den Begriff der Institution werde ich nachfolgend auf Institutionen im engeren Sinne institutioneller Handlungsträger beschränken. In diesem Sinne wären die Universität Würzburg oder die Europäische Zentralbank Institutionen, nicht jedoch institutionelle Phänomene wie das Bildungssystem oder die Geldwirtschaft, die den Charakter von Regelsystemen haben und allenfalls als grammatische Subjekte, nicht aber als eigentliche Handlungsträger auftreten können (vgl. dazu Stoecker 2005, 173). Mit dieser Terminologie folge ich, soweit ich sehe, keiner etablierten Begrifflichkeit. So spricht z. B. Stoutland (1997, 46 f./268) von kollektiven und pluralen Akteuren, wobei seine Bestimmung kollektiver Akteure im Kern auf die zuvor skizzierten institutionellen Akteure zutrifft, während seine Rede von pluralen Akteuren im Wesentlichen meinem Verständnis kollektiver Akteure entspricht. Die terminologische Verschiebung scheint mir jedoch notwendig zu werden, wenn man die handlungstheoretische Vorgabe der analytischen Philosophie, gemäß der Handlungen strikt an handlungskonstitutive Absichten zu knüpfen sind, im Rahmen der Analyse gemeinsamen bzw. kooperativen Handelns in der im ersten Abschnitt angedeuteten Weise in Frage stellt. Denn dann wird es nötig, unterhalb des Handelns von ausgezeichneten Gemeinschaften und Institutionen auch Gruppenhandlungen zu thematisieren, die sich aus dem Zusammenspiel individueller, in ihren Absichten homogener Akteure ergeben, die etwas miteinander tun. Dies ist der Grund für die Einführung des Begriffs der pluralen Akteure. Gibt es nun im erläuterten Sinne so etwas wie ein kollektives oder institutionelles Wollen? Mit Blick auf die soeben skizzierten Kriterien für Wollen scheinen mir die Schwierigkeiten, die sich einer positiven Antwort entgegenstellen, jeweils an anderer Stelle aufzutauchen. Aus den Kontexten des öffentlichpolitischen Lebens sind wir mit einer Auffassung vertraut, gemäß der Institutionen als überindividuelle Akteure mit personalem Status gelten, die für ihre Handlungen ggf. zur Verantwortung gezogen werden können. Ein Unternehmen, das Lebensmittel herstellt, ist beispielsweise für den durch seine Produkte ausgelösten Lebensmittelskandal verantwortlich. Schwierig ist jedoch die Identifizierung eines spezifisch institutionellen affektiv erfahrbaren Bewusstseins. Bei Wir-Kollektiven scheint es umgekehrt zwar plausibel, von einer gemeinschaftlichen Erfahrung eines Wollens zu sprechen (beispielsweise wenn ein paar Freunde zusammen endlich eine lang geplante Reise unternehmen wollen). Schwierigkeiten bereitet hier jedoch der Versuch, das kollektive Wollen als personales Wollen zu verstehen, das mit einer entsprechenden ggf. einklagbaren Verantwortlichkeit verbunden ist. Philip Pettit hat in seinem Artikel „Groups with Minds of their Own“ (2003) gezeigt, dass Institutionen als „Gruppen, die Vernunft kollektivieren“, als „personale Subjekte“ anerkannt werden müssen (vgl. Pettit 2003, 175 ff./598 ff.). Die
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ausführlich entwickelte Position Pettits scheint mir in zwei entscheidenden Thesen zu kulminieren. Zum einen agieren nach Pettit Institutionen als rationale Einheiten, wobei deren handlungsleitende intentionale Einstellungen sich nicht mit den intentionalen Einstellungen der Mehrheit ihrer Mitglieder decken müssen. Dies ergibt sich aus der Art, wie zielorientiert und aufgrund von Überlegungen handelnde soziale Entitäten das Problem sog. diskursiver Dilemmata – d. h. den Konflikt zwischen prämissen- und konklusionsorientierten Entscheidungen sozialer Akteure – beantworten. Denn um Rationalität und Konsistenz der Entscheidungen zu wahren, orientieren sich die Entscheidungen institutioneller Akteure (Pettit spricht von Kollektiven) gewöhnlich an den entscheidungsrelevanten Prämissen, die über die Zeit hinweg Verbindlichkeit beanspruchen.¹⁴ Eine Institution, die dieser Strategie der Entscheidungsfindung unter Wahrung intentionaler Einstellungen folgt, hat nach Pettit den Status eines intentionalen Subjektes (ebd., v. a. 178 ff./603 ff.). Zum anderen argumentiert Pettit dafür, dass solchen Institutionen überdies auch ein personaler Status zukommt, insofern von ihnen ein Handeln eingefordert werden kann, das sich an deliberativ gefundenen und institutionell über die Zeit verbindlichen Entscheidungen orientiert (ebd., 184 ff./612 ff.). – Und zwar, so möchte ich ergänzen, besteht diese institutionelle Verantwortlichkeit sowohl nach innen als auch nach außen. So kann die Wahrung der die institutionellen Handlungen bestimmenden konstitutiven Einstellungen ebenso von Mitgliedern der Institution als auch von denen, die mit solchen Institutionen interagieren, erinnert und eingeklagt werden. Überdies nehmen integrierte Kollektive oder Institutionen auf sich in der ersten Person Bezug (ebd., 186 f./615 f.). Allerdings sieht Pettit den entscheidenden Unterschied zwischen natürlichen und institutionellen Personen darin, dass Institutionen die Bewusstheit ihrer intentionalen Einstellungen nicht zugesprochen werden kann
Dass dies so sein muss, wird deutlicher ex negativo. So schreibt Pettit (177/601): „Die Gruppe wird nicht in der Lage sein, sich selbst als effektiven Beförderer ihres Ziels darzustellen, wenn sie ausnahmslos versucht, in den behandelten Fällen Konsistenz und Kohärenz dadurch herzustellen, dass sie ein oder mehrere frühere Urteile verwirft: Wenn sie nie zulässt, dass ihre aktuellen Urteile durch frühere Urteile vorgegeben werden, dann gibt es keine Grundlage, solch eine routinemäßig inkonstante Entität ernst zu nehmen.“ Und er ergänzt: „Folglich muss jedes solche zielorientierte Kollektiv den automatisierten Rekurs auf das Verwerfen früherer Urteile vermeiden; es muss zeigen, dass jene Festlegungen hinreichend robust sind, damit wir erwarten können, dass die Gruppe sich in der Zukunft häufig von ihnen leiten lässt.“ – Ein Beispiel hierfür bietet in der jüngeren Vergangenheit der Fall Jakob von Metzler. Das im Falle der besonderen Notlage durchaus verständliche und konsequenzorientierte Vorgehen des stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten (Androhung von Folter) musste dabei aus Gründen der konsistenten Selbstverpflichtung des Staates auf unbedingte Wahrung und Schutz körperlicher Unversehrtheit des Einzelnen bestraft werden.
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(ebd., 188/617 f.). Damit ließe sich von einem institutionellen Wollen nur metaphorisch sprechen bzw. nur in den genannten Hinsichten des personalen Wollens. Mit Hilfe von Pettits Überlegungen lässt sich die Ausgangsfrage also bislang nur negativ beantworten. – Ich werde die Frage, ob die Rede von einem institutionellen Wollen auf erfahrbare Gehalte Bezug nimmt, am Schluss meiner Ausführungen noch einmal aufgreifen. Zunächst möchte ich den zweiten Strang der Überlegungen verfolgen. Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit dem kollektiven Wollen? Im Unterschied zu kooperativen Handlungen wie dem täglichen Einkauf oder der Buchung einer Reise, bei denen die Teilnehmer der Kooperation prinzipiell austauschbar sind, gibt es Gemeinschaftshandlungen der zuvor erwähnten Art wie der gemeinsame Besuch einer Kinovorstellung, die gemeinsame Urlaubsreise oder das gemeinsame Spazierengehen, zu denen es wesentlich gehört, dass sie mit bestimmten anderen ausgeführt werden. Es gibt sogar Gemeinschaftshandlungen, bei denen es allein darauf ankommt, etwas gerade mit diesen und keinen anderen zu tun, unabhängig vom Inhalt der Handlung.¹⁵ Für Gemeinschaftshandlungen, die diesen beiden zuletzt genannten Fällen entsprechen, scheint die Erfahrung eines gemeinsamen, affektiv bedeutsamen Wollens konstitutiv zu sein. Um anzudeuten, was damit gemeint ist, möchte ich Überlegungen aufgreifen, die Margaret Gilbert in ihren Ausführungen zum Phänomen des gemeinsamen Spazierengehens entwickelt hat. Wenn Gilbert (1990, 7/165) in ihrer Analyse des gemeinsamen Spaziergehens vom „Zusammenbinden einer Menge von Individualwillen zu einem einzigen „Pluralwillen“, der sich einem bestimmten Ziel verschreibt“, spricht, dann thematisiert sie genau das zuvor herausgestellte Phänomen eines kollektiven Wollens, das das Wollen der Wir-Gruppe ist und das nicht zurückgeführt werden kann auf das jeweilige Wollen der einzelnen Gruppenmitglieder. Die Gruppe handelt, so Gilbert, „wie Glieder eines einzigen Körpers, wobei der Körper sie beide einschließt“ (ebd., 8/166.). In dieser Verkörperung ist das kollektive Wollen (terminologisch nach Gilbert: das Wollen eines Pluralsubjektes oder der Pluralwille) als ein Wille zu bestimmen: „Wenn „wir““, so Gilbert, „sich auf ein Pluralsubjekt eines Ziels bezieht, bezieht es sich auf einen Willenspool, der sich als einer diesem Ziel verschreibt.“ (Ebd., 8/166 f.) Mit solchen Sätzen scheint mir mehr als nur eine rationale Einheit der Wir-Gruppe angesprochen zu werden. Um gleich zu dem hier entscheidenden Punkt zu kommen: Ich möchte vorschlagen, Gilberts Rede von einem einzigen Körper als Bestimmung der Gruppe im Sinne einer leibhaften Einheit zu verstehen. Meine Auslegung ist allerdings her-
Vgl. dazu mit Hinweis auf Charles Taylor die Ausführungen bei Baltzer 1999, 164 ff.
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meneutisch nicht unproblematisch, da sie kaum den Intentionen Gilberts entspricht.¹⁶ Das Wollen leiblicher Entitäten hat nun eine affektive Bedeutsamkeit. Verstehen wir soziale Akteure als Korporationen im Sinne leibhafter Entitäten, dann ist es plausibel, nach einem affektiv bedeutsamen willentlichen Erleben auch in der Sphäre des gemeinsamen Handelns zu fragen. Was hier unter einer affektiven Qualität einer Gemeinschaftserfahrung verstanden werden kann, möchte ich mit Hilfe einiger Passagen aus Aron Gurwitschs Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt andeuten. Im Rekurs auf Überlegungen von Ferdinand Tönnies und Gerda Walther stellt Gurwitsch den Unterschied zwischen einem bloßen unpersönlichen, d. h. auf prinzipiell auswechselbare Akteure bezogenen, gesellschaftlichen Zusammensein und dem gemeinschaftlichen Zusammensein heraus. Das gesellschaftliche Miteinander kann einen weitgehend anonymen Charakter haben, wie er elementaren Formen der Kooperation zwischen prinzipiell austauschbaren Akteuren entspricht. Vor diesem Hintergrund sind Gemeinschaften auszuzeichnen, in denen es den Akteuren in ihrem Tun um diese Gemeinschaft geht. Gurwitsch (1977, 172) schreibt: „Der Kühle und inneren Distanz des gesellschaftlichen Zusammenseins steht entgegen die menschliche Wärme, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit, die Gesinnung des Wohlwollens, der Solidarität und der gegenseitigen Förderung usw., d. h. alles, was unter den Ausdrücken ‚Sich-nahe-sein‘ und ‚Sich-nahe-fühlen‘ befaßt werden kann.“ Im Anschluss an solche Überlegungen lässt sich der Gebrauch der Begriffe „Gemeinschaftshandeln“ und „kooperatives Handeln“ terminologisch präzisieren. Denn das von Gurwitsch herausgestellte Gefühl der Verbundenheit der Akteure begegnet keineswegs in allen kooperativen Handlungen. Die innere Ver Zum einen ist die Darlegung Gilberts auf den Charakter sozialer Gruppen im Allgemeinen bezogen, insofern sie die Bildung eines Pluralsubjektes für die Konstitution einer sozialen Gruppe als „sowohl logisch notwendig als auch logisch hinreichend“ versteht (ebd., 9/168). Ausdrücklich wird dabei die entwickelte Konzeption auch auf anonyme Gruppen wie Nationen bezogen (ebd., 10 ff./170 ff.). Ihrem Allgemeinheitsanspruch entsprechend, ist Gilberts These darüber hinaus auch auf kooperative Handlungen zu beziehen, wie sie im ersten Teil diskutiert wurden. Demgegenüber rekurriere ich auf Gilberts Ausführungen nur im Zusammenhang der Analyse bestimmter sozialer Gruppen. Zum anderen sind die Überlegungen von Gilbert insgesamt kognitivistisch-instrumentalistisch grundiert, insofern das kollektive Wollen (ich verwende hier die von mir favorisierte Begrifflichkeit) von Gilbert auf eine gemeinsame Festlegung der beteiligten Akteure auf ein Ziel zurückgeführt wird (ebd., 7 f./165). Dies aber trifft gerade nicht auf Gemeinschaften zu, denen es lediglich um ein gemeinsames Tun geht und die keine bestimmten Zwecke verfolgen. Nun gesteht Gilbert zu, dass Pluralsubjekte nicht notwendig (klare kollektive) Ziele teilen müssen; in diesem Falle teilen sie nach Gilbert allerdings Überzeugungen oder Handlungsprinzipien (als Beispiel hierfür nennt Gilbert Familien). (Ebd., 9 f./168 ff.) Diese Auffassung scheint mir dem Phänomen sozialen Handelns in Gemeinschaften wie Familien jedoch phänomenal nicht angemessen zu sein.
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bundenheit der Akteure ist vielmehr das Kriterium, durch das sich kooperative Handlungen zu den eigentlich gemeinschaftlichen Handlungen spezifizieren. Gemeinschaftshandlungen sind demnach ausgezeichnete kooperative Handlungen. Mit Blick auf die hier verfolgte Fragestellung ist darüber hinaus bei der Analyse der von Gurwitsch angesprochenen sozialen Phänomene eine weitere Differenzierung erforderlich. Denn Gemeinschaftlichkeit ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für ein kollektives Wollen, wie es WirKollektiven zugesprochen werden kann. Das von Gurwitsch in der zuvor zitierten Passage erwähnte Wohlwollen z. B. oder auch Solidarität setzen zwar ein Gefühl der Verbundenheit voraus; aber es muss hier kein im eigentlichen Sinne gemeinsames Wollen geben. Während nämlich Wohlwollen oder Solidarität durchaus asymmetrisch sein können (und es in der Regel sogar sind) und keineswegs notwendig auf ein gemeinsames handeln zielen ist das gemeinsame Wollen ein von den Akteuren wechselseitig geteiltes, auf ein Gemeinschaftshandeln bezogenes Wollen. Allerdings geht es Gurwitsch in seinen Überlegungen zur Gemeinschaftlichkeit auch gar nicht um eine Bestimmung des kollektiven Wollens und Handelns. Ausdrücklich betont er, dass die von ihm herausgestellten Gefühle keine handlungskonstitutive Bedeutung haben: Für das soziale Handeln, so heißt es, „besagt das Hinzukommmen jener Gefühle nichts“ (ebd., 173). Dennoch sind Gurwitschs Überlegungen für die Analyse des kollektiven Wollens hilfreich, weil sie zeigen, dass in eine Untersuchung des Gemeinschaftshandelns und eines entsprechenden kollektiven Wollens eine bestimmte Art emotionaler Erfahrung einzubeziehen ist. Gemeinsames Wollen ist demnach ein Wollen, an dem die Akteure in affektiver Weise partizipieren. Was hier thematisch wird, ist letztlich ein atmosphärisches Moment. Es ist, wie Gurwitsch ausführt, der – oft durch Traditionen geprägte – „Geist“, der bestimmte Stile des gemeinschaftlichen Miteinanders prägt (ebd., 176). Und solche Atmosphären, so heißt es an anderer Stelle, können diejenigen, die hinzutreten, anstecken (ebd., 206). Warum soll man sich auf so vage Kategorien wie Gemeinschaftsgefühle und Atmosphären bei der Beschreibung sozialer Phänomene einlassen? Um Wollen nicht-individualistisch zu verstehen, ist das kollektive Wollen hinsichtlich seiner Erfahrbarkeit als ein Gemeinschaftsgefühl, als ein atmosphärisches Phänomen zu begreifen, bei dem die Grenzen der involvierten Individuen nicht fixierbar sind. Atmosphären sind nicht bloß innen und nicht bloß außen; sie sind nicht entweder subjektiv oder objektiv; vielmehr sind sie subjektiv erfahrbar und doch auch objektiv gegeben. Die genauere Analyse eines solchen Zwischenphänomens kann hilfreich sein, wenn wir verstehen wollen, inwiefern ein kollektives Wollen von strukturell anderer Art ist als ein Zusammensein von mehreren, auf andere und ihr
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Tun bezogenen Einzelwillen. Atmosphärisch erfahrbare Gemeinschaftsgefühle weisen die Erfahrungsqualität eines überindividuellen Wollens auf, in das zugleich individuelle Akteure eingebunden sind. Ein weiterer Aspekt betrifft das Problem der Verantwortlichkeit, das uns wieder zurückführt zu den Überlegungen von Gilbert zum gemeinsamen Spazierengehen. Denn das kollektive Wollen ist, wie Gilbert explizit verdeutlicht, mit Verantwortlichkeiten und einklagbaren Verpflichtungen verbunden. Ja, erst das gemeinsame Wollen berechtigt die Beteiligten zu entsprechenden Interventionen, etwa zur Aufforderung, der andere möge langsamer gehen o. ä. Solche Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen schließen nicht unbedingt explizite Deliberationen ein.Werden jedoch mit Berufung auf die eingegangenen Verpflichtungen Forderungen erhoben, können dafür prinzipiell auch Gründe expliziert werden. So müssen sich beispielsweise diejenigen, die miteinander spazieren, zumindest für eine gewisse Zeitspanne zur wechselseitigen Rücksichtnahme verpflichten, d. h. der Weg wird gemeinschaftlich – oder zumindest nicht gegen den Widerstand eines Beteiligten – gewählt, das Gehen vollzieht sich in bestimmter Weise usw. Damit wären in Umrissen beide Aspekte der sinnvollen Rede von einem kollektiven Wollen angesprochen, die Erfahrungsqualität und die Verantwortlichkeit, die aus dem gemeinsamen Wollen erwächst. Gilbert erläutert dabei den Aspekt der Verantwortung und die ihr zugeordneten Verpflichtungen lediglich in gruppeninterner Hinsicht: Diejenigen, die gemeinsam etwas tun, können gegeneinander bestimmte Ansprüche auf Einhaltung der implizit oder explizit eingegangenen Verpflichtungen geltend machen. Um aber kollektives Wollen zumindest annäherungsweise als ein personales Wollen verstehen zu können, müsste die interne Verpflichtung durch eine externe ergänzt werden. Hier scheinen wir jedoch mit Problemen konfrontiert zu werden, die eine Anwendung des zuvor skizzierten anspruchsvollen Willensbegriffs zumindest einschränken. Zwar haben Kollektive, die gemeinschaftlich etwas wollen, auch externe Verantwortlichkeiten, für die sie ggf. zur Rechenschaft gezogen werden können. Allerdings sind dies in der Regel Verantwortlichkeiten, die soziale Akteure aufgrund allgemeiner normativer Standards haben, die für handelnde Individuen gelten. So wird vor Gericht etwa bei Gewaltdelikten von Gruppen das Strafmaß auf die Beteiligten und den Grad ihrer individuellen Beteiligung bezogen. Andererseits scheint gerade im juristischen Kontext auch der Charakter eines gemeinschaftlichen Wollens in besonderer Weise Beachtung zu finden. Gewalttaten von Gruppen werden, ungeachtet der erwähnten individuellen Differenzierungen, insofern es sich um gemeinschaftlich begangene Verbrechen handelt, anders gewichtet als vergleichbare Taten von Einzelpersonen. Das gilt erst recht dort, wo solche Gruppen eine zeitüberdauernde Stabilität aufweisen, die sich in einem charakteristischen Muster wiederholter Straftaten bzw. einer Bereitschaft
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zu bestimmten Taten manifestiert. Zu denken ist hier etwa an kriminelle Banden. Diese lassen sich als quasi-personale Gruppen verstehen, deren kollektives Wollen über die bloß individuelle Verantwortlichkeit hinausgeht.¹⁷ Insofern erkennen wir zumindest in extremen Fällen eine besondere Gruppenverantwortlichkeit für ein gemeinschaftliches Wollen und Handeln an. Vor dem Hintergrund des Ausgeführten möchte ich abschließend noch einmal auf das institutionelle Wollen zurückkommen. Fraglich ist, ob diesem ein Erfahrungscharakter zugesprochen werden kann. Wie könnte im Falle des institutionellen Wollens ein Versuch aussehen, die phänomenale Qualität dieses Wollens ins Spiel zu bringen? Ein erster Schritt, der allerdings nicht hinreichend ist, ist die Reflexion auf die individuelle Perspektive, in der institutionell handelnden Akteuren ihr Handeln erscheint. Personen, die im institutionellen Rahmen agieren, erfahren sich sowohl als Individuen als auch als Träger institutioneller Rollen. Die damit verknüpfte Notwendigkeit von Deliberationen und Entscheidungsfindungen, die sowohl institutionell als auch individuell verantwortbar sein sollen, führt zur Auslotung und langfristig auch zu Modifikationen und Revisionen institutionellen Wollens. Damit zeigt sich bereits auf der Ebene individuellen Handelns, dass individuelle Akteure nicht nur benötigt werden, um die institutionell geforderten Handlungen zu vollziehen, sondern dass der einzelne Akteur sich zugleich als Teil eines institutionellen Ganzen erfährt – d. h. sich in seiner institutionellen Rolle erlebt, ganz gleich, ob er sich zustimmend oder kritisch dazu verhält.¹⁸ Allerdings ist die skizzierte Spiegelung institutioneller Intentionen im individuellen Wollen nicht hinreichend für die Bestimmung eines institutionellen Wollens, da sie sich immer individualistisch deuten ließe.¹⁹
Die Grenzen von Kollektiven und Institutionen dürften hier fließend sein. So können sich überschaubare, durch individuelle persönliche Beziehungen ausgezeichnete Banden zu kriminellen Vereinigungen entwickeln, die institutionellen Charakter haben, wenn die funktionale Struktur und zweckrationale Organisation zur Grundlage eines Handelns mit auswechselbaren Akteuren wird. Der Möglichkeit einer kritischen sowohl institutionell als auch individuell verantwortbaren Entscheidungsfindung steht das schlichte Zusammenfallen oder Auseinandertreten von individuellem und institutionellem Wollen entgegen. Dabei handelt es sich um Extreme – die Kälte der institutionellen Willensidentifikation einerseits, bei der das Individuum will, was die institutionelle Rolle verlangt, und die Willensdissoziation andererseits, in der sich das handelnde Individuum zwar vom institutionellen Willen distanziert, gleichwohl aber doch im institutionellen Sinne handelt, ohne dafür individuell Verantwortung zu übernehmen. Der Sinn institutionellen Handelns und Wollens würde dabei durch eine letztinstanzliche Berufung auf die individuelle Verantwortlichkeit aufgehoben. Pettit scheint mir in einer solchen individualistischen Position befangen zu sein, wenn er schreibt: „Die natürliche Person ist das
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Ich komme daher zum zweiten Schritt: Versteht man den Untergrund eines institutionellen Wollens letztlich als ein atmosphärisches Phänomen, bei dem die Grenzen der Individuen nicht fixiert sind, dann wird hier zugleich eine überindividuelle Erfahrungsmöglichkeit des institutionellen Willens sichtbar. Denn der in institutioneller Rolle Handelnde agiert im Geiste der Institution. Das aber scheint mir kein Mystizismus, sondern eine Erfahrung zu sein. Institutionen haben eine bestimmte Atmosphäre: Ein Betrieb beispielsweise ist weltoffen oder provinziell, familienfreundlich oder von Singles dominiert, international oder lokaldialektal bestimmt. Und in solcher Atmosphäre ist er erfahrbar in seinen Handlungen – nach innen und nach außen. Mein Fazit fällt schlicht aus: Kooperative Handlungen setzen nicht notwendig einen gemeinsamen oder auch nur wechselseitig geteilten Willen der Akteure voraus. Aber es gibt besondere Formen menschlicher Kooperation, in denen sich ein gemeinsames überindividuelles Wollen manifestiert, welches durch personale bzw. quasi-personale Verantwortlichkeit und Erfahrbarkeit ausgezeichnet ist. Kollektives Wollen überschaubarer Wir-Gruppen und institutionelles Wollen erfüllen – mit unterschiedlicher Akzentuierung und unterschiedlicher Reichweite – die Bedingungen für ein solches Wollen. Entscheidend ist in beiden Fällen, dass soziale Akteure einklagbare Verpflichtungen nach innen und außen eingehen und dass das überindividuelle Wollen als atmosphärisches Phänomen, als volitionales Gemeinschaftsgefühl erfahren werden kann.²⁰
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ultimative Zentrum des Handelns, und wenn es für einen Menschen rational ist, im Namen eines Kollektivs zu handeln – das heißt, rational in dem Sinn, dass die relevanten Präferenzen maximiert werden –, dann ist es in Bezug auf die Präferenzen der natürlichen Person rational.“ (Pettit 2005, 190/621; vgl. insges. 188 ff./617 ff.) Ingo Günzler, Jörn Müller und Christine Wolf danke ich für wertvolle Hinweise und kritische Bemerkungen.
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Die Sozialität intentionaler Einstellungen Ein Weg, der sozialen Natur menschlicher Akteure auf den Grund zu gehen, besteht darin, die Konstitution ihrer Intentionalität zu analysieren. Dies beinhaltet im Allgemeinen die Untersuchung verschiedener Spielarten derjenigen Einstellungen, mit denen sich Akteure auf ihre Umwelt beziehen und auf Grundlage derer sie urteilen und handeln. Ein besonderer Teil dieser Analyse ist Fällen gewidmet, in denen sich die Bildung von Überzeugungen einerseits und das Fassen von Absichten sowie der Vollzug absichtlicher Handlungen andererseits in sozialen Kontexten vollziehen, in denen mehrere Akteure interagieren oder kooperieren. Einschlägig sind hierbei Situationen, in denen einzelne Individuen sich im Überlegen und Urteilen auf Informationen berufen, die sie von anderen erhalten, und solche, in denen mehrere Individuen gemeinsam handeln. Zur Illustration mögen hier die folgenden Szenarien dienen: (1) Unsicher darüber, ob ich den Anschlusszug am Bahnhof noch erreiche, frage ich einen Mitreisenden nach der Uhrzeit, erkundige mich beim Schaffner nach Verspätungen und entscheide daraufhin, wie sehr ich mich am Bahnsteig beeilen werde. (2) Unfähig, das neue Sofa allein ins dritte Obergeschoss zu tragen, bitte ich meinen für gewöhnlich hilfsbereiten Nachbarn um Unterstützung, woraufhin wir das sperrige Sitzmöbel gemeinsam aus dem Leihwagen und durch das enge Treppenhaus nach oben wuchten. Im ersten Fall beziehe ich handlungsrelevante Informationen von anderen, im zweiten vollbringen der Nachbar und ich mit vereinten Kräften, wozu ich allein nicht in der Lage bin; im ersten Fall ist es ein Urteil, das auf eine außerhalb meiner selbst gelegene epistemische Quelle gestützt ist, im zweiten leitet eine gemeinsame Absicht ein Tun, das nur als gemeinsames erfolgreich sein kann. Diese Fälle verdeutlichen die spezifisch soziale Verfasstheit bestimmter intentionaler Einstellungen. Zwar führte es mit Blick auf derlei Fälle wohl zu weit, von einer vollständigen sozialen Durchdringung von Intentionalität zu sprechen, doch erscheint die demgegenüber bescheidenere Rede vom genuin sozialen Charakter einiger sozialer Einstellungen plausibel. Ich werde diese Redeweise und damit die These vom genuin sozialen Charakter einiger sozialer Einstellungen in diesem Beitrag stützen und dazu nutzen, Aussagen über charakteristische Merkmale menschlicher Akteurschaft zu treffen. Mein Ziel in diesem Beitrag ist, für die irreduzible Sozialität bestimmter inten-
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tionaler Einstellungen, Überzeugungen und Absichten zu argumentieren und so zur Entwicklung eines Verständnisses der sozialen Konstitution menschlicher Akteure beizutragen. Die Qualifikation dieser bestimmten Einstellungen als irreduzibel sozial zeigt die entscheidende Abgrenzung der hier vertretenen Positionen von jenen an, die behaupten, selbst in Situationen wie den geschilderten ließen sich die leitenden Überlegungen, Urteile und Absichten unter alleinigem Rekurs auf das geistige Innenleben, die epistemischen Ressourcen und volitionalen Haltungen der einzelnen Beteiligten explizieren. Diese Gegenposition bezeichne ich hier, im speziellen Kontext der Frage nach der Struktur von Intentionalität und Sozialität, als Solipsismus und visiere an zu zeigen, dass die eingangs geschilderten Phänomene Solipsisten vor Probleme stellen, insofern sie die zugrunde liegenden intentionalen Strukturen nicht vollständig und plausibel rekonstruieren können. Das Argument gegen solipsistische Konzeptionen führe ich in diesem Beitrag mit Blick auf zwei Typen intentionaler Einstellungen – Überzeugungen und Absichten –, für deren Analyse in den jeweiligen Theoriediskussionen Analogieargumente vorgebracht worden sind. Dabei geht es mir um die explikative Kraft und den Zusammenhang der jeweils behaupteten Analogien, die insoweit interessant sind, als sie jeweils die temporale und die soziale Dimension intentionaler Einstellungen betreffen und somit einer komplexen Charakterisierung der Konstitution von Intentionalität und Akteurschaft (agency) dienen. Die eine Analogie wird vor allem von Tyler Burge (1995, 1997) bezüglich der Erinnerung und des Zeugnisses anderer behauptet. Im Kern besagt sie, dass die Bildung von Urteilen wie demjenigen, das der Protagonist im obigen Fall (1) auf Basis der Information eines anderen bildet, analog zu der Urteilsbildung zu verstehen ist, bei der sich ein Subjekt auf seine Erinnerung beruft und verlässt. Die andere Analogie wird von Michael Bratman (1999, 2006) bezüglich Handlungsplänen und gemeinsamen Absichten aufgestellt. Dieser Analogie zufolge sind diejenigen Absichten, die gemeinsames Handeln von Akteuren leiten, nach der Struktur solcher Absichten zu modellieren, mit denen sich ein einzelner Akteur planend auf seine zukünftigen Handlungen bezieht. Burges Ausführungen lassen sich der in der sozialen Erkenntnistheorie geführten Debatte über das Zeugnis anderer als Wissens- oder Rechtfertigungsquelle zuordnen (vgl. Haddock et al. 2010). Die zentralen Fragen dieser Debatte zielen darauf ab zu klären, inwiefern das Zeugnis anderer wissens- bzw. rechtfertigungsgenerierend ist und inwiefern dabei der Gehalt oder die rechtfertigende Kraft von Überzeugungen übertragen werden und von einem epistemischen Akteur zum anderen erhalten bleiben. Burge vertritt die Auffassung, dass das Zeugnis anderer ebenso die epistemische Kraft erhält wie Erinnerung, und dass grundsätzlich der Rekurs auf beide Quellen gerechtfertigt und (in einem bestimmten Sinn) irredu-
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zibel ist. Unabhängig von der inhaltlichen Überzeugungskraft dieser Position, an der auch ich Zweifel habe,¹ lassen sich aus der Analogiebehauptung für die Erörterung der Sozialität menschlicher Akteure wertvolle Einsichten gewinnen. Bratman unternimmt die Ausweitung seiner Handlungsplantheorie auf die Theorie gemeinsamen Handelns und behauptet insbesondere, dass die Abstimmung und Koordination von Absichten und Beiträgen im gemeinsamen Handeln strukturell dazu analog ist, wie ein einzelner Akteur langfristige Projekte verfolgt und damit eine Art diachroner Koordination vollbringt. Bratman trägt hiermit zur Debatte über die Struktur kollektiven Handelns in der neueren analytischen Handlungstheorie bei (vgl. Schweikard 2011). Seine Analyse weist von ihm so genannte „geteilte Absichten“ als relationale Strukturen aus, die durch ineinander verschränkte Einstellungen der Beteiligten konstituiert werden. Eine solche relationale Konzeption der für gemeinsames Handeln leitenden Absichten – d. h. nicht unbedingt Bratmans eigene, aber eine in wichtigen Punkten übereinstimmende Konzeption – beinhaltet die Auffassung, dass Akteure in bestimmten Situationen auf Basis von Einstellungen handeln, die sich mit Blick auf ihr mentales Innenleben nicht vollständig erfassen lassen. Bratman formuliert die hier interessierende Aussage, dass diese sozialen intentionalen Einstellungen strukturelle Gemeinsamkeiten mit Handlungsplänen aufweisen. Es ließe sich wohl dafür argumentieren, dass die Sozialität intentionaler Einstellungen in der Eingebettetheit von Individuen (d. h. epistemischen Subjekten oder Akteuren) in soziale normative Praxen begründet ist. Dann wäre zu zeigen, dass jede Form intentionaler Einstellungen entscheidend durch soziale Normativität geprägt ist, oder dass jeder Form intentionaler Einstellungen soziale Beziehungen und Praktiken derart zugrunde liegen, dass ihre Struktur nur unter Berücksichtigung dieses sozialen Fundaments zu analysieren ist. Dies wäre dann für auf Erinnerung beruhende Überzeugungen und Handlungsabsichten im Allgemeinen aufzuweisen. Demgegenüber trete ich im Folgenden für eine speziellere Position ein, der zufolge (zumindest) ein Teil unserer Intentionalität in irreduzibel sozialen intentionalen Einstellungen besteht. Diese Irreduzibilitätsthese versuche ich hier im Zusammenhang mit Erörterungen zeitübergreifender Einstellungen mit dem Ziel zu plausibilisieren, ein konkretes Bild von Individuen in Zeit und sozialem Raum zu zeichnen. Solipsisten verneinen genau diese Irreduzibilität, haben aber deshalb, wie ich zu zeigen versuche, keine adäquate Konzeption von Individuen in Zeit und sozialem Raum. Ich wende mich in den nächsten Abschnitten der Reihe nach den von Burge und Bratman formulierten Analogiethesen zu und gehe der Frage nach, was die
Vgl. die Kritik an Burge bei Lackey 2008, Malmgren 2006.
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Festlegung auf diese Thesen für die Adäquatheit der jeweiligen Position hinsichtlich der Frage nach der Sozialität von Akteuren bedeutet.
1 Zur Analogie zwischen dem Zeugnis anderer und der eigenen Erinnerung Der nun folgenden Auseinandersetzung mit Burge ist vorauszuschicken, dass ich hier nicht eine vollständige Rekonstruktion seiner in einer Reihe von Beiträgen entwickelten Konzeption unternehme, sondern mich lediglich um eine Aufnahme einer Analogiethese in dem hier abgesteckten Rahmen bemühen. Dies dient dazu, den Zusammenhang zwischen den epistemischen Rollen von Erinnerung und dem Zeugnis anderer für eine Explikation der Sozialität bestimmter Überzeugungen nutzbar zu machen. In einem ersten Zugriff genügen dafür Überlegungen, die in der sozialen Erkenntnistheorie diskutiert werden und mit denen der Frage nachgegangen wird, unter welchen Bedingungen epistemische Akteure in bestimmten Situationen unter Rekurs auf Informationen anderer in der Bildung von Überzeugungen gerechtfertigt sind. Viele ganz alltägliche Überzeugungen, etwa bezüglich des eigenen Namens oder Geburtsorts, historischer Ereignisse oder Fakten über entlegene Gegenden und Planeten, stützen epistemische Subjekte nicht auf eigene Beobachtungen oder Erfahrungen, sondern auf Auskünfte anderer. Wir sind, wie John Hardwig (1985) es ausgedrückt hat, epistemisch abhängig, und zwar insbesondere, aber nicht nur von intellektuellen Autoritäten, die über besondere Expertise in einem Bereich verfügen, zu dem wir Überzeugungen bilden. Nichtsdestotrotz behandeln wir unter bestimmten weiteren Bedingungen, etwa wenn unsere Informanten glaubwürdig und tatsächlich in den relevanten Hinsichten in besserer epistemischer Position sind, durch Kommunikation aufgenommene Informationen als Prämissen in eigenen Überlegungen, ja: wir übernehmen sie für gewöhnlich in unseren Wissensbestand. Insofern liefert der Rekurs auf das Zeugnis anderer konkrete Anhaltspunkte dafür, bestimmte Überzeugungen als sozial verfasst zu verstehen.² Bei dieser einen Route zur Explikation der Sozialität von Überzeugungen werde ich es hier nicht belassen, sondern gerade dem Zusammenhang zwischen auf Zeugnis und auf Erinnerung basierenden Überzeugungen nachgehen. So gewinnen wir ein Bild von intentionalen Einstellungen und, dadurch vermittelt, von
Ein Überblick über Kontroversen in der Epistemologie des Zeugnisses anderer findet sich bei Lackey/Sosa 2006.
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epistemischen Akteuren, das sich in sozialer und zeitlicher Dimension erstreckt. Burges Analogiethese wird dazu einen ersten Anhaltspunkt liefern. Nehmen wir illustrationshalber Folgendes an: A reist mit dem Zug und will den nächsten Halt zu einem raschen Zugwechsel nutzen. Für A kommt es darauf an, hinsichtlich der Abfahrtszeit des Anschlusszuges verlässliche Informationen zu haben, um entscheiden zu können, wie sehr sie sich am nächsten Bahnhof beeilen muss bzw. um zu wissen, ob sie den Anschluss noch erreicht. Wir können hier zwei Varianten durchspielen: eine, in der A sich auf ihre Erinnerung verlässt, und eine, in der sie sich beim Schaffner oder bei Mitreisenden erkundigt. Im einen Fall steht also ihr Erinnerungsvermögen in Frage, wobei wir annehmen wollen, dass sie sich vor der Abfahrt die entsprechenden Fahrpläne angeschaut und die Abfahrtszeiten einzuprägen versucht hat. Im anderen Fall steht in Frage, unter welchen Bedingungen sie sich auf die Aussagen anderer und die damit übermittelten Informationen verlassen kann. In einer der beiden hier relevanten erkenntnistheoretischen Debatten geht es darum zu klären, ob und inwiefern Erinnerung die erforderliche Rolle spielen kann.Wird die hier handlungsrelevante Information in der Erinnerung gespeichert bzw. vorgehalten, sodass sie etwa wie eine aktuelle Wahrnehmung fungieren kann? Oder bedarf es einer erneuten Prüfung, weil die rechtfertigende Kraft der Erinnerung in der Zwischenzeit verloren geht? – In der anderen Debatte steht die Frage im Vordergrund, ob mittels Zeugnis ein Überzeugungsgehalt samt Rechtfertigungsgrund übertragen und damit eine entsprechend stark gestützte Überzeugung generiert wird. Anstelle einer Aufarbeitung dieser Diskussionen möchte ich hier nur die von Burge formulierte Analogiethese aufnehmen. Sie lautet: „[I]n communication, perception plays a connecting and preservative role analogous to the role memory plays in deductive reasoning.“ (Burge 1997, 24)³ Demnach spielt die Aufnahme von Information in kommunikativem Austausch eine verbindende und erhaltende Rolle, die derjenigen analog ist, die Erinnerung in deduktivem Überlegen spielt. Mit dieser letzteren Rolle meint Burge Überlegungsprozesse, in denen aus der Erinnerung Prämissen (oder Zwischenschritte) übernommen werden, die aktuell nicht oder nicht vollständig gewahr sind oder geprüft werden. Anstelle einer Bahnreisenden stellt sich Burge eine Mathematikerin vor, die sich im Bemühen um einen Beweis auf eigene frühere oder von anderen aufgenommene Überzeugungen stützt. Die Gemeinsamkeit dieser beiden Quellen besteht, wie es weiter heißt, in ihrer verknüpfenden und erhaltenden Rolle; mehr noch, er meint, beide Prozesse
In einem anderen Kontext, aber in ganz ähnlicher Formulierung schreibt Michael Dummett (1993, 266): „[M]emory must be treated in analogy with testimony.“
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seien rein erhaltend („purely preservative“),⁴ womit gemeint ist, dass Überzeugungsgehalt und epistemische Kraft bewahrt bleiben bzw. übertragen werden.⁵ Entscheidend ist für Burge hierbei die Diskussion der Bedingungen, unter denen man zu bestimmten (auf Erinnerung oder kommunikativem Austausch beruhenden) Überzeugungen berechtigt ist. Zur Erinnerung heißt es in derselben Studie: [A]s long as preservative memory works to preserve a warranted belief from its initial acquisition, one has at least a prima facie entitlement to the belief, which derives from entitlements or justifications originally associated with the belief. (Burge 1997, 41)
Erforderlich ist hier eine erhaltende Verknüpfung durch Erinnerung, die vom Zeitpunkt des Überzeugungserwerbs bis zum aktuellen Zeitpunkt reicht, und, sofern sie nicht ungebrochen ist, ein Mindestmaß an Kontinuität aufweist. Seine Position zu der Frage, unter welchen Bedingungen die Aufnahme von Überzeugungen anderer gerechtfertigt ist, formuliert er an anderer Stelle in dem von ihm so genannten Akzeptanzprinzip: „A person is entitled to accept as true something that is presented as true and that is intelligible to him, unless there are stronger reasons not to do so.“ (Burge 1995, 281) Die für den hiesigen Kontext relevante Analogie betrifft in Burges Konzeption also vor allem die Berechtigung (sc. das „entitlement“), die für ein epistemisches Subjekt mit dem Rekurs auf Erinnerung und das Zeugnis anderer gilt. Sie hängt auf der einen Seite am erhaltenden Merkmal von Erinnerung, auf der anderen an der anfechtbaren Nachvollziehbarkeit und Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses. Sind die jeweiligen Kriterien erfüllt, kommt es zur Übertragung der Überzeugung – entweder vom früheren auf das aktuelle Selbst, oder vom Zeugnisgeber auf den Zeugnisempfänger. Unsere Bahnreisende A ist demnach zu ihrer auf Erinnerung gestützten Überzeugung (wenigstens prima facie) berechtigt und im Vollzug der zugehörigen Handlung gerechtfertigt, insofern Gehalt und Rechtfertigungsgrund ihrer früheren Überzeugung, die sie beim Studieren der Fahrpläne gebildet hat, erhalten bleiben. Und ihr Rekurs auf die Auskunft anderer berechtigt sie zu ihrer Überzeugung, insofern ihre Quelle glaubhaft ist und es keinen übertrumpfenden Grund zum Zweifel daran gibt.⁶ Im Gegensatz dazu vertritt Audi (1997, 410) die Position, dass „[m]emory and testimony […] are not generative with respect to knowledge: characteristically, the former is preservative, the latter transmissive.“ Auf die Details dieser Auseinandersetzung kann ich hier nicht weiter eingehen. Zur Diskussion von Burges Auffassung, dass so jeweils apriorisches Wissen zustande kommen könne, siehe Malmgren 2006. Hier liegt es nahe, Fälle des Konflikts zwischen eigener Erinnerung und Auskünften anderer zu erwägen. So interessant sie insbesondere mit Blick auf die Frage sind, ob einer dieser epis-
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In Burges Konzeption spielt hinsichtlich des Zeugnisses anderer allerdings nicht der Akt der Zeugnisgabe, sondern die Übertragung von Überzeugungen samt Rechtfertigungsgründen die zentrale Rolle. Dies ist der umstrittenste Teil seiner Ausführungen. Entscheidend für Burges Ansatz ist, dass der Anhaltspunkt für die Übernahme einer Auskunft der epistemische Status der Quelle ist: Wenn der Zeugnisgeber um p weiß (mit allem, was dazu gehört), kann der Zeugnisnehmer, sofern das Akzeptanzprinzip erfüllt ist, die Überzeugung, dass p, übernehmen; sie wird vom einen zum anderen übertragen. Jennifer Lackey (2008) argumentiert mit einigem analytischen Aufwand dafür, dass mit der Konzeption der Überzeugungsübertragung („belief transmission view“) das falsche Vehikel gewählt ist, um die Epistemologie des Zeugnisses anderer aufzuschlüsseln. Ihrer alternativen Position zufolge sind es die Aussagen derer, die als Zeugnisgeber behandelt werden, um die es bei der Analyse der epistemischen Berechtigung von Zeugnisempfängern geht. Zu hinterfragen ist damit nicht, ob der Auskunftgeber glaubhaft ist, sondern ob die Auskunft selbst glaubhaft ist. Verlässliche Informationen können von Individuen kommen, die selbst gar nicht davon überzeugt sind, die Wahrheit zu sprechen. Lackey führt hierzu das Beispiel einer Biologielehrerin an, die solides Wissen über Evolutionstheorie vermittelt, obwohl sie selbst Anhängerin des Kreationismus ist (vgl. Lackey 2008, 48). Für die Qualität ihres Unterrichts über Evolutionstheorie ist eben nicht maßgeblich, dass die Lehrerin selbst glaubt, was sie zum Beispiel über die Abstammung des homo sapiens sagt, sondern dass ihre Ausführungen im Unterricht nachvollziehbar, evidenzbasiert und schlüssig sind. Demnach kommt es darauf an, inwiefern ihre Aussagen zum fraglichen Fachgebiet den dafür einschlägigen, sozial etablierten und transparenten Normen entsprechen. Selbst diese Normen, etwa die der Evidenz beigemessene Rolle, braucht sie nicht zu bejahen, um zuverlässiges Zeugnis zu geben, sie braucht sich nur ihnen gemäß zu verhalten.⁷ Eine Form des Akzeptanzprinzips bleibt auch in dieser Konzeption erhalten, doch bezieht es sich nicht auf die Überzeugung des Zeugnisgebers, sondern auf die Auskünfte selbst, die in Abwesenheit von Anfechtungsgründen als überzeugungsgenerierend aufgefasst werden können. Demgegenüber hat Burge zufolge der Fokus der epistemischen Bewertung des Zeugnisses auf dem Zeugnisempfänger zu liegen, denn ihm muss die fragliche Information nachvollziehbar und der Informant glaubhaft erscheinen. Dieses
temischen Quellen ein grundsätzlicher Vorrang einzuräumen ist, übersteigt eine ausführliche Erörterung doch den Skopus dieses Beitrages. Letztlich werden wir von einem verantwortlichen Informanten weit mehr verlangen als dies (vgl. Schweikard 2013), doch geht es in dieser Passage auch lediglich um die Frage, unter welchen Bedingungen eine Zeugnisgabe schon zuverlässig sein kann.
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Verständnis des Zeugnisses anderer scheint mir darin zu gründen, dass Burge dessen epistemische Rolle nach dem Modell der Erinnerung konzipiert. Er schließt per Analogie von der Struktur der Bezugnahme auf Erinnerungsgehalte auf die Struktur der Bezugnahme auf Zeugnisgehalte. Und genau dies offenbart einen für die Analyse letztlich schädlichen Individualismus, in dem die Verfasstheit von sozialen Beziehungen nach dem Modell zeitübergreifender Selbstbeziehung analysiert wird. Man sieht an der Deutung des Zeugnisses anderer, das er als epistemisch erhaltend auffasst, dass Burge seine Konzeption von seinem Verständnis von Erinnerung her aufbaut. Die Analogie erfährt so auf problematische Weise Schlagseite, wenn nicht einbezogen wird, dass der soziale Fall der Informationsweitergabe spezifischen Anforderungen, d. h. speziellen epistemischen Normen unterliegt. Der individualistische Zug, den man Burges Konzeption attestieren kann, nimmt hier nicht – wie in manch anderem Kontext – die Form eines Reduktionismus an, sondern beläuft sich auf eine Engführung des Personbegriffs. Hinsichtlich der epistemischen Rolle von Erinnerung und Zeugnis anderer vertritt Burge eine Gleichförmigkeit, die das spezifisch Soziale an der Zeugnisannahme, ihre Vermitteltheit durch Aussagenormen, ausblendet. Die Kontinuität bzw. zeitübergreifende Stabilität, um die es bei Erinnerungsleistungen geht, wird mitsamt des prinzipiellen Vorrangs der jeweiligen individuellen Perspektive auf die soziale Dimension übertragen.
2 Zur Analogie zwischen individueller und sozialer Handlungskoordination In diesem Abschnitt diskutiere ich die von Michael Bratman behauptete Analogie zwischen Handlungsplänen und geteilten Absichten, zwischen intrapersonaler, diachroner Handlungskoordination und interpersonaler, synchroner Handlungskoordination. Seine Analysevorschläge zu den Phänomenen auf beiden Seiten dieser Analogie bedürften einer deutlich ausführlicheren Darstellung als sie mir hier möglich ist; so werde ich mich auf einige Bemerkungen zum Theoriekontext von Bratmans Analogiethese beschränken und sie dann vorstellen. Bratmans übergreifende handlungstheoretische Konzeption ist die einer Handlungsplantheorie: Zeitübergreifendes individuelles Handeln und gemeinsames Handeln werden mit den Mitteln dieser grundlegenden Theorie analysiert.⁸ Die Handlungsplantheorie besteht im Wesentlichen in einer Explikation der
Diese Rekonstruktion beruht auf Bratman 2010.
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Struktur der menschlichen Fähigkeiten zu planvollem Handeln,⁹ die Bratman als grundlegend für zeitübergreifendes und gemeinsames Handeln ansieht und deren Analyse die begrifflichen, metaphysischen und normativen Ressourcen zu Tage fördere, welche die tragenden Säulen der genannten Handlungsformen bilden. Der Fokus der zentralen Explikation liegt allerdings hier nicht auf dem, was Akteure zu planvollem Handeln befähigt, sondern auf den Merkmalen planvollen Handelns und den Normen, denen es unterliegt. Damit erschließe sich das Fundament der aus dem Alltag vertrauten Phänomene, dass Akteure sowohl über die Zeit hinweg als auch gemeinsam Ziele verfolgen, Pläne koordinieren und realisieren. Planvolles Handeln begreift Bratman als eine Form zielgerichteten Handelns, die Absichten und zumeist auch zukunftsgerichtete Absichten umfasst. Absichten betreffen vor allem praktische Angelegenheiten, speziell das Wie der Ausführung einer Handlung, und sind für gewöhnlich in größere Planstrukturen eingefasst, die hierarchisch geordnet sind und eine Mittel-Zweck-Struktur aufweisen. Mein Plan etwa, den nächsten Urlaub auf Hawaii zu verbringen, gliedert sich in Teilpläne, die einzelne Schritte wie die Flug- und Hotelbuchung, zugehörige Einkäufe und Vorkehrungen betreffen und zu denen ich jeweils die geeigneten Mittel zu bestimmen habe. Pläne wie dieser können, so Bratman weiter, revidiert werden, sie weisen jedoch charakteristischerweise über die Zeit hinweg Stabilität auf. Wenn von Plänen im hier anvisierten Sinne die Rede sein soll, hat man sich vorzustellen, dass ein Akteur sich damit auf ein Ziel und auf einen mehr oder weniger konzise bestimmten Handlungsverlauf festlegt; dies kann er ändern oder verwerfen, im Normalfall bleiben solche Pläne aber (im Gegensatz zu bloßen Visionen oder Träumen) bestehen. Sie werden ferner Bratman zufolge in Richtung der Konsistenz von Absichten und Überzeugungen sowie der Kohärenz von Zwecken und Mitteln angepasst, indem dem rationalen Druck entsprochen wird, zum einen Absichten und Überzeugungen in Einklang zu bringen oder zu halten, zum anderen relativ zu den gewählten, teils voneinander abhängigen Zwecken geeignete Mittel zu bestimmen. Die Tendenzen zu diachroner Stabilität und synchroner Konsistenz und Kohärenz werden in dieser Konzeption als zugehörigen Normen korrespondierend aufgefasst, welche der planende Akteur wenigstens implizit akzeptiert. Nehmen wir noch einmal das Beispiel meines geplanten Hawaiiurlaubs. Um dieses Vorhaben in aussichtsreicher Weise zu verfolgen und um mich dabei zugleich als rationaler Akteur zu erweisen, habe ich nicht nur die Hierarchie anzuerkennen, die sich aus dem übergeordneten Plan und diversen Teilplänen ergibt; ich habe zudem darauf zu achten, dass ich das Vorhaben nicht durch damit
Er nennt sie „human capacities for planning agency“ (Bratman 2010, 8).
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inkompatible Festlegungen verhindere und zu den erforderlichen Teilschritten die jeweils geeigneten Mittel wähle. In der Umsetzung meiner Pläne zeigt sich, dass ich mich im Planen und bei meinen Überlegungen an verschiedenen Stellen auf mich, genauer: auf später zu vollziehende Handlungen oder auf zuvor gefasste Pläne beziehe. Bratman fasst diesen Aspekt planvollen Handelns als intrapersonale Koordination auf, die sich zwischen – wie man es ausdrücken könnte – meinen „Selbsten“ zu verschiedenen Zeitpunkten abspielt. Meine jetzigen Festlegungen auf Handlungsverläufe binden demnach mein späteres Selbst, wobei gilt, dass nur der Akteur erfolgreich langfristige Projekte verfolgen kann, dem es gelingt, bei dieser diachronen Koordination verschiedene Pläne in Einklang und in eine adäquate Ordnung zu bringen. Das Phänomen gemeinsamen Handelns ist Bratman zufolge ebenfalls mithilfe der Grundstruktur planvollen Handelns zu explizieren. In den Blick genommen werden dazu überschaubare Fälle, bei denen wenige Akteure gemeinsam ein Ziel verfolgen. Angenommen zwei Akteure haben vor, gemeinsam nach Berlin zu fahren. Bratmans Konzeption zufolge bedarf es zum Gelingen dieser gemeinsamen Handlung der folgenden Elemente: Die Beteiligten müssen beide beabsichtigen, dass sie gemeinsam fahren, d. h. dass sie zum Teil aufgrund der jeweils übereinstimmenden Absicht des anderen fahren, dass dabei ihre Subpläne zueinander passen, wobei die Interdependenz ihrer Absichten und zugehörigen Überzeugungen fortbesteht, und sie im Vollzug in relevanter Weise auf einander reagieren. So ergibt sich, was Bratman „geteilte Absicht“ („shared intention“) nennt, ein Netz ineinandergreifender individueller Absichten, Überzeugungen und Subpläne. In der Etablierung der genannten Elemente solcher geteilter Absichten vollbringen die Beteiligten – im Erfolgsfall – eine interpersonale Koordination ihrer zugehörigen Einstellungen und Beiträge (vgl. insbesondere Bratman 1999, Kapitel 6). Offenkundig sind in dieser Darstellung eine Reihe von Details ausgeblendet (vgl. wiederum Schweikard 2011, Teil II), doch die Grundstruktur des Ansatzes sollte Kontur gewonnen haben.Worauf es mir hier ankommt, ist, dass Bratman die Struktur planvollen Handelns als grundlegend für zeitübergreifendes individuelles Handeln einerseits und für gemeinsames Handeln andererseits ansieht. Behauptet wird also eine Isomorphie zwischen den beiden Formen des Handelns. Explizit wird sie an der Analogiethese, die Bratman im Aufsatz „Shared Intention“ von 1993 wie folgt formuliert: [O]ur shared intention help[s] to organize and unify our intentional agency in ways to some extent analogous to the ways in which the intentions of an individual organize and unify her individual agency over time. (Bratman 1999, 112)
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Die Analogie wird hier angeführt, um die Aufgabe zu charakterisieren, die eine adäquate Theorie geteilter Absichten im Rahmen einer umfassenderen Handlungstheorie zu erfüllen hat. Sie besteht Bratman zufolge darin zu zeigen, wie genau geteilte Absichten in Bezug auf gemeinsames Handeln diese organisierende und vereinheitlichende Rolle erfüllen können. Bratman selbst führt die Analogie nicht aus. Trotzdem legen die neueren Fassungen seiner Konzeption, in denen die Theorie planvollen Handelns als Fundament der spezielleren Handlungsformen fungiert, ein grundsätzliches Festhalten an einer Isomorphie- oder eben der Analogiethese nahe. Sie mag – auch weil Bratman die Analogie mit der Phrase „to some extent“ einschränkt – weder überraschend noch spannend erscheinen, wenn man sie auf die Aussage reduziert, dass jedem Handeln eine intentionale Struktur zugrunde liegt, die durch Rationalitäts- und praktische Normen reguliert ist. Abstrakt genug gefasst mögen schlicht alle Handlungsformen gemeinsam haben, dass sie nur erfolgreich realisiert werden können, wenn sie auf geeignete Weise koordiniert und gesteuert werden. In der Analogiethese steckt jedoch mehr. Aus der Sicht des einzelnen Akteurs mag sich seine Verfolgung langfristiger Projekte strikt von seiner Beteiligung an gemeinsamen Anstrengungen unterscheiden. Einmal geht es um ihn in der Zeit, ein anderes Mal um seine Vereinigung mit anderen. Drückt man die Analogiethese allerdings unter Rekurs auf Koordinationsprozesse aus, ergibt sich, dass die Koordination des eigenen Handelns über die Zeit hinweg mit sozialer Koordination strukturelle Gemeinsamkeiten hat.Wie ein Akteur zeitübergreifend seine Ziele und Handlungen in eine Linie bringt weist demnach Ähnlichkeiten dazu auf, wie er sich mit anderen zur Erreichung gemeinsamer Ziele abstimmt und wie die Beteiligten untereinander ihre Beiträge koordinieren. Sofern Koordination in beiden Fällen ein absichtliches Geschehen ist, werden so Gemeinsamkeiten zwischen „Beabsichtigen in der Zeit“ und „Beabsichtigen im sozialen Raum“ herausgestellt. Und genau dies ist hier von Interesse. Kommen wir kurz darauf zurück, wie Bratman das Verhältnis der genannten Koordinationsformen und der jeweiligen intentionalen Strukturen zueinander genau bestimmt. Er behauptet, die Struktur planvollen Handelns bilde das Fundament, die darin identifizierbaren Fähigkeiten lieferten eine allgemeine Charakterisierung menschlichen Handelns. Dieser Theorierahmen sorgt aber letztlich für eine individualistische Vorentscheidung, welche die Gestalt der Analyse geteilter Absichten vorzeichnet. Diese Kritik lässt sich an den folgenden vier Punkten festmachen: Erstens favorisiert die Planungskonzeption das Phänomen individuellen zeitübergreifenden Handelns, mithin die Analyse der Art und Weise, wie individuelle Akteure langfristige Projekte verfolgen. Dies äußert sich darin, dass die
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Explikationen der für planvolles Handeln leitenden Normen Stabilität, Konsistenz und Kohärenz allein mit Blick auf den erfolgreichen Vollzug und die Konstitution rationaler Akteure durchgeführt werden. An anderer Stelle schreibt Bratman zwar: Even in the case of an individual’s plans about her own activities, these concerns with organization have a social dimension: a main reason for constructing plans is to help make oneself a reliable participant in forms of social coordination. (Bratman 2007, 293)
Doch heißt dies für Bratman nicht, dass die Akzeptanz der genannten Rationalitätsnormen darauf abziele, von anderen als rationaler Akteur anerkannt zu werden; geschweige denn, dass die Rationalitätsnormen überhaupt nur über den Weg der sozialen Abstimmung etabliert würden. Eine Erfassung der Strukturen sozialer Koordination steht damit grundsätzlich unter den Vorzeichen eines individualistischen Verständnisses dessen, was Handeln und die für Handeln relevanten Rationalitätsnormen überhaupt ausmacht. Zweitens verdeutlichen auch Bratmans Bemerkungen zur in seinem Ansatz vorausgesetzten Personkonzeption, dass er auf eine Klärung der Struktur individueller Akteurschaft abzielt. Wie er an einigen Stellen angibt, setzt er eine Personkonzeption voraus, die er „broadly Lockean“ nennt (vgl. Bratman 1999, Kapitel 5 – 6). Innerhalb einer solchen Personenkonzeption sind es vor allem die zeitlich ausgedehnten und zeitübergreifend verschränkten Einstellungen eines Individuums, die seine personale Einheit herstellen. Dies stellt, wie auch sogenannte narrative Ansätze zum Problem personaler und praktischer Identität betonen, zweifellos einen wichtigen Aspekt personalen Lebens dar, erzählt aber gewissermaßen nur einen Teil der Geschichte. Denn einerseits liegt es nahe, auch das Herstellen transtemporaler Stabilität und Kohärenz im individuellen System von Überzeugungen und Absichten so aufzufassen, dass es in soziale Kontexte eingebettet und damit unter die Maßgabe intersubjektiver Interpretation und Anerkennung gestellt ist. Und andererseits erscheint soziales Handeln, also die Beteiligung an Gemeinschaftsprojekten, vor dem Hintergrund dieser Konzeption als Zugabe und eben nicht als wesentlicher Bestandteil aktiven personalen Lebens. In diesen beiden Hinsichten verengen die Präsuppositionen einer Locke’schen, auf psychische Kontinuität zugespitzten Personkonzeption die Darstellung der verschiedenen Dimensionen individueller Akteurschaft. Drittens zeigt sich der Zuschnitt von Bratmans Konzeption als individualistische Handlungstheorie an einem zentralen Baustein seiner Analyse geteilter Absichten, und zwar an der Form „I intend that we J“, die für die Beitragsabsichten der an einer gemeinsamen Handlung Beteiligten angegeben wird. Diese Analyse ist insbesondere mit Blick auf die drohende Zirkularität dieser Verbalisierung von
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Beitragsabsichten kritisiert worden.¹⁰ Entscheidend ist daran, dass Bratman zufolge Sozialität durch ein Verschränken individueller Einstellungen zustande kommt, wobei die aus dem Fall individuellen Handelns vertraute (und dafür auch adäquate) Ich-Form beibehalten wird. Anstatt also die Intentionalität gemeinsamen Handelns als Indikator und als Anlass zur Integration einer genuin sozialen Dimension individuellen Beabsichtigens zu nehmen, bleibt Bratman – wie schon bei seiner Anknüpfung an eine Locke’sche Personkonzeption – bei Einstellungen in der ersten Person Singular und lokalisiert Sozialität im Gehalt der Einstellungen sowie in der Gesamtstruktur, die er geteilte Absicht nennt. Nach meinem Verständnis wird so, viertens, die Relationalität gemeinsamen Beabsichtigens nicht konsequent (genug) ausbuchstabiert. Die drei zuletzt genannten Aspekte von Bratmans Ansatz machen klar, dass er auch gemeinsames Handeln in einem individualistischen Theorierahmen zu erfassen versucht, dessen Adäquatheit zu bezweifeln ist.¹¹ Als relational stellt sich bei ihm lediglich die Struktur geteilter Absichten dar, die er in markanter Formulierung als Netz ineinander greifender Einstellungen charakterisiert. Dies scheint mir der Tendenz nach korrekt zu sein. Die relationale Struktur ist aber erst dann konsequent expliziert, wenn auch die zugehörigen Einstellungen der Beteiligten als sozial verfasst dargestellt werden. Dazu ist die Verweisstruktur im Subjekt der Verbalisierung zu verorten, letztlich also im Wir des individuellen wie gemeinsamen Beabsichtigens. Während Bratman noch sagen würde, dass unser gemeinsames Beabsichtigen nichts anderes bedeutet, als dass jeder von uns in der Ich-Form und damit auf zirkuläre Weise das Gemeinsame beabsichtigt, sieht eine konsequent relationale Analyse vor, dass gemeinsames Beabsichtigen seitens der Beteiligten die nur gemeinsam im Vollsinne mögliche Verwendung des Wir erfordert. In diesem Sinne gewinnt eine Analyse gemeinsamer Handlungsabsichten dadurch an Adäquatheit, dass sie von der strikten Analogie zwischen Handlungsplänen und gemeinsamen Absichten Abstand nimmt. So wird gezeigt, dass sich an diesen beiden Formen konativer Einstellungen (gewissermaßen) zwei Dimensionen der Intentionalität zeigen: eine zeitliche und eine soziale. Hinsichtlich der zeitlichen Dimension ist dabei genauer zu untersuchen, wie die zeitübergreifende Selbstreferenz verfasst ist; hinsichtlich der sozialen Dimension ist aufzuklären, wie die Referenz auf das gemeinsame Tun verfasst ist – diese erfolgt mit einem Wir, das eben nicht als Zusammensetzung aus Ich-Einstellungen, sondern als irreduzibel aufzufassen ist. Eben dieser letztere Punkt markierte eine Abkehr vom Solipsismus.
Siehe dazu vor allem Schmid 2009 und Schweikard 2011. Für eine ausführlichere Darstellung dieser Diagnose siehe Schweikard 2011.
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Schließlich ist anzumerken, dass Bratman sich, soweit ich sehe, nirgends dazu äußert, wie der Rekurs auf zu einem früheren Zeitpunkt gefasste Handlungspläne erfolgt. Die Stabilitätsnorm sagt zwar etwas über die Persistenz von Plänen und über die Bedingungen aus, unter denen langfristiges Handeln rational ist. Im genannten Beispiel ist aber auch bei einzelnen Schritten der Vorbereitung meines Hawaiiurlaubs erforderlich, dass ich mich (relativ genau) an den übergreifenden Plan erinnere. Stabil und in dem Sinne rational kann mein planvolles Handeln vermutlich nur dann sein, wenn Erinnerung hier den erhaltenden Charakter hat, der in Burges Konzeption herausgearbeitet wird. – Mit dieser Ergänzung ergäbe sich eine Verschränkung der handlungstheoretischen mit den erkenntnistheoretischen Überlegungen, der ich allerdings hier nicht weiter nachgehen kann.
3 Wider den Solipsismus Abschließend trage ich nun einige der erarbeiteten Punkte zusammen und komme zurück auf eine Charakterisierung der Intentionalität menschlicher Akteure. Dabei unterscheide ich die selbstbezüglichen (intrapersonalen) von den sozialen (interpersonalen) Einstellungen. Erinnerung und Handlungspläne liefern gemeinsam den Schlüssel zur Erfassung der Art und Weise, wie sich Individuen über die Zeit hinweg auf ihre Einstellungen und Handlungen beziehen. Im Fall der Erinnerung geht es um rückblickende Selbstbezugnahme, d. h. um den Rekurs auf zu einem früheren Zeitpunkt erfolgte Überlegungen und dann gebildete Überzeugungen, deren epistemische Kraft aktuell genutzt wird. Im Fall von Handlungsplänen erfolgt eine vorausblickende Selbstbezugnahme, d. h. eine Festlegung auf Handlungen, die zu einem späteren Zeitpunkt vollzogen werden sollen. Hier ist jeweils entscheidend, inwiefern die zum früheren Zeitpunkt gefassten Einstellungen so fortbestehen, dass sie zum späteren Zeitpunkt die fraglichen Rollen spielen können, inwiefern also Erinnerung belastbare Prämissen liefert und Handlungspläne konsequent erfüllt werden. – Wer hieran schon eine soziale Dimension explizit machen will, hat sie an den jeweiligen Stabilitätsnormen aufzuweisen. Dies erfolgt bei Burge und Bratman nicht. Problematisiert habe ich die Thesen, das Zeugnis anderer und gemeinsame Absichten seien der Struktur nach analog zu Erinnerung und Handlungsplänen, sowie das Vorgehen, interpersonale Einstellungen nach dem Vorbild intrapersonaler Einstellungen zu modellieren. Plausible Konzeptionen der beiden sozialen Fälle brechen mit diesen Analogien, indem sie ihre individualistischen Präsuppositionen verwerfen und stattdessen die Überzeugungen, die sich auf kommu-
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nikative Akte anderer stützen, und die Absichten, mit denen Akteure ihr gemeinsames Handeln lenken, als irreduzibel sozial darstellen. Als derart irreduzibel haben sie insbesondere dann zu gelten, wenn einerseits die Akzeptanz von kommunikativen Akten als Zeugnis, d. h. als Prämissen in eigenen Überlegungen oder als Fundament eigener Überzeugungen, und wenn andererseits der Rekurs auf gemeinsames Handeln im Modus des Wir als irreduzibel sozial aufgefasst werden. Lässt sich also diese Explikation bestimmter intentionaler Einstellungen als irreduzibel sozial schlüssig durchführen, wovon ich überzeugt bin, so ist ein gewichtiger Schritt in Richtung einer Explikation der Sozialität von Akteuren getan. Eine Absage an die jeweiligen Analogiethesen läuft auf eine Absage an den Solipsismus hinaus – und genau dies hatte ich hier in Aussicht gestellt.¹²
Literatur Audi, R., 1997: The Place of Testimony in the Fabric of Knowledge and Justification. In: American Philosophical Quarterly 34, 405 – 22. Bratman, M., 1999: Faces of Intention: Selected Essays on Intention and Agency, Cambridge. Bratman, M., 2006: Dynamics of Sociality. In: Midwest Studies in Philosophy 30, 1 – 15. Bratman, M., 2007: Structures of Agency. Essays, Oxford. Bratman, M., 2010: Agency, Time, and Sociality. In: Proceedings of the American Philosophical Association 84, 7 – 26. Burge, T., 1995: Content Preservation. In: Philosophical Issues 6, 271 – 300. Burge, T., 1997: Interlocution, Perception, and Memory. In: Philosophical Studies 86, 21 – 47. Dummett, M., 1993: The Logical Basis of Metaphysics, Boston. Haddock, A./Millar, A./Pritchard, D. (Hg.), 2010: Social Epistemology, Oxford. Hardwig, J., 1985: Epistemic Dependence. In: The Journal of Philosophy 82, 336 – 49. Lackey, J., 2008: Learning from Words: Testimony as a Source of Knowledge, New York/Oxford. Lackey, J./Sosa, E. (Hg.), 2006: The Epistemology of Testimony, New York. Malmgren, A.-S., 2006: Is There A Priori Knowledge by Testimony? In: Philosophical Review 115, 199 – 241. Schmid, H.B., 2009: Plural Action, Dordrecht. Schweikard, D.P., 2011: Der Mythos des Singulären. Eine Untersuchung der Struktur kollektiven Handelns, Paderborn. Schweikard, D.P., 2013: Responsibility and Others’ Beliefs. In: T. Henning/D.P. Schweikard (Hg.): Knowledge, Virtue, and Action. Essays on Putting Epistemic Virtues to Work, New York/London, 53 – 71.
Für Anregungen zu früheren Fassungen dieses Beitrages danke ich Simon Derpmann, Dominik Düber, Karl Mertens, Amir Mohseni, Nadine Mooren, Jörn Müller, Tim Rojek und Hans Bernhard Schmid.
Handeln
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Intentions in Collective Agency: A Third-Person Approach 1 Introduction Elisabeth Anscombe’s contributions to the analysis of intentions and intentional action are widely acknowledged, but a common understanding of her analysis is still lacking. What I take to be at the core of Anscombe’s analysis in Intention is the thesis that the family of concepts that we associate with “intentions” is a family of non-referential concepts. Most importantly, the concept “intention” does not “refer” to any particular type of mental states. Rather, what we call “intentions” manifests itself in the form of certain types of descriptions that we use when we address what I will call “intelligent behavior,” that is to say, behavior or activities that are qualified by certain cognitive competences, or deliberation (cf. Anscombe 2000, 84 ff.). Famously, Anscombe addressed those competences as practical knowledge and reasons for action. Since it remains highly contested what those labels might mean, I prefer a neutral circumscription and will speak of “cognitive-cum-deliberative aspects.” Here I will focus on the “cognitive” part. The analysis of the cognitive aspects that might rightly be called practical knowledge in collective agency is the main task of this article, and cannot be summarized in advance. What I would like to emphasize in this introduction is the methodological point of Anscombe’s thesis that our accounts of those cognitive-cum-deliberative aspects derive from the form(s) of description that we use for characterizing intelligent behavior, and must not be identified with particular mental states (cf. Anscombe 2000, 84). Speaking of “descriptions” of intelligent behavior, I mean to include both the identification of activities as intentional as well as the individuation of what it is that a person does “under a description.” “Intentions”, thus understood, are, in an important sense, qualifications of “the stance,” to borrow a phrase of Dennett’s (1987), that an observer takes towards an agent or a happening. Given familiarity with the concept of intentions, human agents, at least, can use the concept abstractly and attribute it to themselves and others. They can express intentions when speaking about their activities, plans, or projects.¹ They
I will follow Bratman (1999a) and also include expressions of intentions such as ‘I intend to take a French class next semester’ in the scope of relevant phenomena.
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can also make intentions themselves objects of reflection and communication. In what follows, I will reserve the term “agency” for the performance of activities by beings who are able to reflect not only on their own activities, but also on the cognitive-cum-deliberative aspects that are involved in their performance and planning. That, I assume, restricts the group of relevant agents to human beings. It is important to note that the third-person approach to intentions is neither behavioristic nor anti-mentalistic, nor does it aim at the elimination of the firstperson perspective, as will become clear. Analogous to the communicative turn in philosophy of language, the third-person approach emphasizes the communicative aspects of intentional agency, which evidently manifests itself in our capacity to (mutually) “understand” each other’s activities, to “make sense” of (not only human) behavior, and to distinguish (at least with respect to human behavior) a variety of fine-grained differences in modes of performance expressed by such qualifications as intentional, purposive, inadvertent, negligent, (in‐)voluntary, absent-minded, and so on. The Wittgensteinian background of Anscombe’s analysis might be approximately summarized in the simplifying slogan: If “intentions” are understood as communicating the “meaning” of intelligent behavior, it cannot be something “in the mind of the agent” because nothing “in there” could do the job. For that reason I call Anscombe’s analysis a third-person approach. What the third-person approach, as I understand it, carefully tries to avoid, is simply the temptation to identify the cognitive and mental processes involved in activities that qualify as intentional with the form of the descriptions that we use to identify or individuate those activities.² Generally, many aspects – though not all – of the structure and functioning of our minds are not directly accessible to us, even from a first-person perspective. It therefore seems wise to assume that our understanding of mental concepts is helped by metaphors and the use of abstract, or ideal, models of those processes that are accessible to us because they operate on the level of conscious reasoning and can be made an object of reflection. The danger of idealization is especially acute when it comes to the analysis of cognitive-cum-deliberative aspects of intentional behavior, because of the tendency to explicate them by recourse to ideal models of thinking and cognition, such as canons of logical inference, probabilistic reasoning, decision and game theory, the so-called “desire-belief”-model of practical reasons, or teleological and means-end-accounts of practical deliberation. Although I am personally convinced that to some extent each of these models captures part of our mental
Throughout I will be interested in descriptions at the level of ‘rationalizations’, not at the level of neuro-physical data.
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activities, I still believe that as “descriptive” accounts of how the minds works, all have serious limitations even at the level of rationalizations. Since descriptive and explanatory questions are at least in part empirical questions, I think that they cannot be adequately answered purely by means of conceptual analysis and the tools of a priori philosophical psychology. The empirical part, of course, can hardly be supplied by philosophers. But for exactly that reason I think that philosophers are well advised to give careful analyses of relevant phenomena and raise questions about their explications, rather than try to make phenomena fit their preferred model of rationalization. Although Anscombe never extended her analysis of intentions to multipleperson activities, one advantage of the third-person approach to “intentions in collective agency” is fairly obvious: If “intentions” are not states of mind, “intentional collective agency” does not require a “collective mind,” even in activities whose performance requires collective agency. But ontology is not a main interest here. The difficult task of a third-person approach to collective agency consists rather in the exploration of the cognitive and deliberative structures that are required for it – and that, in fact, can help us to a better understanding of the cognitive-cum-deliberative aspects of human agency in the case of individual undertakings too. In this article I would like to address one preliminary issue and one important building block for any further account. First, I would like to elucidate the multifarious character of collective activities by distinguishing different types of collective activities and the differences in cognitive-cum-deliberative challenges that their performance raises. Notoriously, philosophical discussions focus on two challenges, i. e. mutual understanding and reciprocal adjustment of activities and plans of participating agents. That is the second topic that I will pick up in arguing that practical knowledge, understood as a form of knowing how, is crucial in interpersonal activities. I will also explore how intentions in collective agency differ from normative interpersonal commitments.
2 Not a Single Kind: Some Variations of Collective Agency Classifications are not interesting per se, but only if they help to focus the object of study. From a third-person approach the most interesting issue is the “interpersonal” or “interactive” quality of collective agency, sometimes also characterized as “togetherness”, which I will analyze as a special quality of “mutuality”
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and “reciprocity” in collective agency.³ Since neither quality is self-explanatory, it seems helpful to articulate more clearly what is special about collective agency. I will, therefore, suggest going beyond particular examples such as Gilbert’s “walking together” and Bratman’s “painting the kitchen together” by contrasting collective agency with other forms of interaction, which are similar but different. Given the fact that human agency is largely embedded in institutional and conventional structures, I would like to start my classification with a negative point by drawing a distinction between “collective agents” and “collective agency.” Collective agents are frequently found in institutional contexts,⁴ even though their range of activities is usually confined to rather special tasks and occasions. For example “the people” – conceived of as a technical political term that denotes the totality of all individual persons who have the status of citizens – is a collective agent. Whereas “the people” seems to be an agent that is mainly represented by official persons who act “in the name of the people,” the electorate, a subgroup of the people in a democratic regime consisting of the totality of individual citizens who have a right to vote, is undoubtedly a genuine agent because there are certain acts that only the electorate as a collective can perform: for example, “selecting a government by voting” or “deciding a referendum.” One collective dimension of the electorate is fairly obvious: It is not enough that some members of the electorate participate in an election, but at least a minimum quorum has to participate, otherwise what takes place will not count as an election in many places (and certainly not in democratic theory). Another collective dimension might be more contested, but can be defended along the following lines: The electorate cannot be reduced to its individual members if that means that we consider those individuals “simply” as individual persons. The reason is that the socio-political status of individuals is decisive for their group-membership, and that status is not an attribute that any individual has qua individual, but only qua member of the relevant socio-political institutional framework. That framework again is partly⁵ constituted by a web of relations that In the following I will speak of ‘mutually’ dependent intentions and of ‘reciprocally’ adjusted performances and plans in order to distinguish between interpersonal ‘intentions to do something together’ and the ‘intentional’ execution of collective activities. I will also use the technical term ‘agency’ when speaking of the abstract phenomenon of intelligent behavior, in contrast to ‘activity’ when speaking of particular bodily ‘doings’ that are performed when an agent is acting ‘intentionally’, or ‘with an intention’. For an interesting discussion see Stoutland 1997. In addition to those relations that hold between individuals as members of the socio-political institution, there are, of course, also relations that hold between different offices and positions, and also rules and norms that define the purpose, functioning, decision-making processes etc., but they are not relevant in the present context.
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hold between the individual members. Because relations cannot be reduced to properties of individual relata, it seems reasonable to concede that “having a specific socio-political status” is an exemplar of a genuine “group” quality. Usually, those relations include the ascription of mutual rights and duties, which seems to be the paradigm model for Gilbert’s account of a “plural subject”. This will be discussed in section 3.3.⁶ If we look at the activity of voting, however, that is to say, at how members of the electorate perform their task of selecting a government, it is usually the case that each member does so by acting “individually” in contrast to “interactively”, namely by registering and casting his vote in the right place at the right time, which is usually done “secretly” and separately from others. Although an electorate might serve as a paradigm example for a collective agent, the performance of elections, i. e. “voting”, is not an instance of collective agency as the term will be understood in the following, because it lacks an adequate interactive dimension of performance. I thus summarize a first interim result: although there exist “collective agents” (similar to “plural subjects” in Gilbert’s terminology), there is no necessary connection between the acceptance of their existence and collective performance. Putting the focus on interactivity and performative aspects of agency provokes some caveats in light of recent discussion of “collective action.” First, interactivity does not require that all participants in collective agency share the same goal or intend to promote a common (ultimate) goal.⁷ As Bratman rightly insists, it would seem strange to exclude activities like “painting the kitchen together “from the relevant class of activities, although participants frequently join in such activities despite the fact that they have very different, or even independent, goals: One painter might want to paint the kitchen in order to make it look more beautiful, whereas the other might want to do it just in order to please the first. Relevant for the collective quality of the activity are not the reasons why participants engage in it, but the joint performance itself. Second, whereas “painting the kitchen” is an example of a “face-to-face”type of joint performance, the “face-to-face” quality is not constitutive for jointness. Joint activities can also be performed at spatial distance or in temporal sequences, especially when communication is possible. Almost all moderately
I will refer mainly to Gilbert 1996, 2009a, 2009b and 2011. I will follow Anscombe and speak of a goal only if the aim of the activity is distinct from the action itself. I will speak of ‘shared’ goals when agents aim at the same result and, of ‘common goals’ when they cannot achieve that aim unilaterally. Characterizing collective agency by shared or common goals seems more common in social sciences than in philosophy, but has been proposed e. g. by Laurence 2011.
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complex undertakings involve “temporal acting at a distance” insofar as they require preparation, planning, step-by-step achievements, or intermediate goal achievements. The temporal dimension is already obvious in individual agency, e. g. if we allow that agents can intend to drive from Boston to New York or intend to major in physics, both of which are standard examples of temporally extended activities that require planning, intermediate-goal achievements, and also intraas well as interpersonal coordination roughly along Bratman’s account of intentions as plans. An analogous collective agency activity might be “establishing a business,” “forming a family,” or “raising kids.” Spatial distance is also a standard phenomenon, but may be less obvious, because it is often facilitated by more formal ways of communication and organization. Nevertheless, it seems that phenomena such as “scholars from different universities intend to organize a workshop,” and undertakings such as “constructing a pipeline” qualify no less as joint undertakings than does “painting the kitchen.” The cognitive problems they raise may indeed be different from those in face-to-face-performances, but that is exactly one of the questions to be explored in this article. Third, I would also like to argue that having a common or shared goal by itself is not only not necessary, but also not sufficient for collective agency because agents might pursue that goal by independent and unorganized activities, which involve no form of direct interaction, not even at a distance. One might simply know that there are others “out there,” who pursue the same goal. Given human psychology I would not exclude that some persons might feel, or experience, their activities as being part of an achievement of a larger group. But such self-characterizations need involve neither interaction nor any other interpersonal dimension: they can, although need not, be fully unilateral. Whether that is the case or not depends on how individual agents perceive of those others, with whom they (might) feel connected. For agents can take account of other persons’ activities and intentions in a purely prognostic or diagnostic sense, in which they treat them just as part of one’s “social environment,” i. e. as being there and predictably acting in certain ways. As a matter of fact, given the social nature of humans, agents constantly form intentions and perform activities against a background of “prognostic” assumptions about the behavior of other agents. For example, I simply count on the bus driver to show up on time, I assume that restaurants will be crowded on Friday nights, and I am trying to predict the next movements of the stock market by attempting to forecast how other investors will react to the latest developments. Agents also often do things because they think others will act likewise, and it might even be that there would be no point to their own activity unless they act under the assumption that others will do likewise; forms of “ecological” conduct (separating trash) or “politically correct consumer behavior” (fair trade) are standard examples.
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Fourth, since activities might not only be characterized by goals, but also by their products, I would also like to argue that not all “cooperative” achievements qualify per se as collective action in the interactive sense. That can be true even if no person could unilaterally produce it.⁸ Standard paradigms of collective achievements are various forms of division of labor: For example a group of employees might “collectively” produce a car by “each one doing his part at the assembly line.” They might also react to each other in part because their own activities build on the next person’s activities, and what one person can do partly depends on what others have done or will be expected to do. But each of the workers might do his part – or form the intention to do his part – just on the expectation that the others will do their parts because they each expect that each of them would like to keep her own job, but not because of one another’s intention or activity. Like prognostic and diagnostic accounting of other persons’ activities and intentions, adjustments of one’s own activities in the form of responses to and expectations of what others will do, will not count as “collective” in the relevant sense of this article. Although they are in some sense “interactive,” the interaction falls short of qualifying as “collective” here. In light of the four caveats, collective agency in the sense relevant here is characterized by the condition that agents perceive their activities and intentions as being mutually inter-related. The last point has also been explored by Michael Bratman, among others. His analysis entails two important qualifications which I would like to formulate in my own words as follows: First, in collective activities of the relevant sort, the agents must mutually intend to participate in the project because the other(s) intend(s) to participate. Second, the performance or execution of the activity must be pursued at least in part by reciprocal coordination of each agent’s activities and plans. Collective agency, as I would like to outline it for the present purpose, is thus characterized partly by what Max Weber called social agency (soziales Handeln).⁹ Social agency involves at least two agents who mutually respond to the intentions of each other. What makes social agency “interpersonal” and “interactive” in the sense of interest here is that the agents form intentions and perform activities because they think that others will form intentions and perform activities because of what they intend and do. This form of mutual interdependence is dif-
The latter qualification is part of the definition of PD-like situations and game-theory inspired accounts of ‘cooperation’ in contrast to game-theoretic characterization of ‘coordination’-problems. Cf. e. g. Hardin 1982. Cf. Weber 1980, 11 f., for the requirement that social agency is not only oriented to past, present, or expected actions of others, but must be ‘sinnhaft aufeinander bezogen’.
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ferent from both prognostic accounting of other persons’ intentions and activities and unilateral reactions to or expectations of other persons’ intentions and activities.¹⁰ Not all forms of social agency, however, qualify as collective agency, because adversarial activities – a fistfight, or the strategic planning of warfare – usually involve social agency too, but commonly do not count as “collective”. Collective agency seems to require in addition, again following Bratman, that each agent be prepared to mutually coordinate his performance with that of the other(s) and, if necessary, be prepared to assist the other(s), whereby the latter need not be mutual, but can be unilateral. The last point must be conceded because collective agency can bring together agents with asymmetrical competence or power of command, e. g. when “master and apprentice” or “parent and child” do things together. The resulting class of interactive activities is broad. It includes activities that cannot be performed by one person alone – such as “carrying a grand piano to the third floor” –, which might be called “strictly cooperative activities,” and also shared undertakings that concern activities that could also be performed by one person alone – such as Bratman’s “painting the kitchen” –, which might be called “joint activities.” In addition, the broader class includes face-to-face-activities as well as interaction at a distance. The cognitive-cum-deliberative aspects involved in such activities must, of course, be expected to vary because different sub-classes have different conditions of success and pose different cognitive and performative challenges.
3 Cognitive Aspects of Collective Agency In this section I will argue that an exploration of different aspects of what I will call “genuinely practical knowledge” can help us to better understand the cognitive and performative structure of mutually interdependent intentions and re-
Social action thus differs from game-theoretic models of strategic decision making, at least of the Bayesian variety, insofar as Bayesian agents make their decision exclusively on the basis of how they think the resulting consequences will affect the decision making of their counterparts. Bayesian decision making thus relies on mutual prognoses about another’s decision, and is no different from the case of strategic voting mentioned above. Social agency, by contrast, allows for the possibility that agents form their intentions because of other persons’s intentions. That for example seems frequently to be the case when agents ‘intend’ to cooperate with others because those others cooperate, and ‘intend’ not to cooperate with them because they are noncooperative.
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ciprocal coordination of performative tasks, or steps, in collective agency. That requires giving at least an outline of an account of practical knowledge. The argument will proceed in three steps, starting with a face-to-face case of collective agency that is characterized primarily by its performative aspects. I will then proceed to requirements of practical knowledge in agency at a distance. And finally, I will argue that collective agency does not require the formation of what Gilbert calls a “plural subject”.
3.1 Collective Performances and the Concept of Practical Knowledge The collective performance of carrying a piano upstairs can be considered a paradigm example of what is sometimes called practical knowledge, or knowing how, insofar as it is a skill. What makes skills exemplary cases of practical knowledge is the fact that mastery of them is usually achieved by practice, or training, and improved by experience. Practical knowledge in this sense is primarily characterized by the method of acquisition, or learning, or mastery that goes with it.¹¹ It is a species of knowledge insofar as others can judge whether it is done correctly, or well, or not.¹² Practical knowledge primarily differs in two respects from contemplative or speculative knowledge, the acquisition of which goes through methods of truth-finding, proof, reliance on secondhand sources, or similar modes of acquisition.¹³ First, practical knowledge is usually acquired “over time.” It is accordingly – again usually – difficult to mark the exact point in time at which someone has acquired or mastered it,¹⁴ whereas it often seems plausible to mark – if not the time when, – then at least the reason why, somebody came to believe something “for sure” in the case of contemplative knowledge.
There are some remarks in Ryle 2000, chap. II.6, that point to such an interpretation, but I think that the characterization of practical knowledge by the mode of acquisition is more strongly emphasized in Anscombe 2000, § 32, and more clearly pointed out in Anscombe 1985, and Wittgenstein 2000, §§ 198 – 242. I am here following Anscombe 2000. The qualification ‘primarily’ here seems necessary because I think that there are very few cases of ‘pure’ practical knowledge. As a matter of fact, I think that most activities require practical knowledge as well as other forms of knowledge, but I also think that most mental activities involve some forms of practical knowledge themselves. The distinction, therefore, is somewhat ideal, but I hope nevertheless useful. The point is especially emphasized by Wittgenstein 2000, §§ 155 – 171.
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Second, practical knowledge allows for meaningful degrees of better and worse in the sense that another person might say: “What you do is not incorrect, but it can still be improved.” Knowing in cases of contemplative knowledge, by contrast, seems an either-or-affair insofar as one either knows or does not know the truth, or correctness, of something, although there might be various approximations to knowledge, which are not knowledge proper, such as assuming, having an opinion that…, or thinking it likely or probable that…, and so on. Since a qualification of practical knowledge by its method of acquisition differs fundamentally from more recent attempts to distinguish knowing that and knowing how by the linguistic structure of utterances that ascribe knowledge,¹⁵ I would like to defend the account of practical knowledge proposed here because it has the advantage of responding to some well-known systematic problems in theories of action and cognition. Doing so will also indicate why I think that practical knowledge cannot be reduced to knowing that, or rather: why recent proposals to do so have no interesting point. One of the systematic problems concerns the cognitive dimension of motoric skills, i. e. bodily movements of all kinds, balancing, training of perceptual senses, and so on. Notoriously, we cannot tell how we do this, but we have learned how to exercise those competences and can improve or modify them by training. That and the lack of knowing exactly what goes on when we exercise such competences are a strong indication that the relevant skills are not based on contemplative knowledge. It is sometimes assumed to be characteristic of knowing how that one cannot describe what one is doing in terms of propositions. I do not find that qualification decisive. In fact, I believe that very often one can give such descriptions or approximations thereof,¹⁶ and therefore I would not want to exclude that somebody might give an accurate description in propositional terms of what goes on at the physiological level when he ties his shoelaces, rides his bicycle, or swings a golf club. It seems plausible, however, that there is hardly any skill for which there exists exactly one possible description that holds for all agents and for all empirically contingent circumstances, which is the description of what one has to do in order to execute the skill. I would contend that we need not be able to give such descriptive accounts in order to be trained in such performances. In addition, I
Cf. Stanley/Williamson 2001, Snowden 2003, and the criticism of Snowden by Rumfitt 2003. Similarly, I am even willing to concede that neurologists might one day be able to tell us how it is that we move our body parts, but lacking such knowledge is not an obstacle to doing it.
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would also maintain that usually (theoretically) knowing any such description does not in itself suffice for mastering the skill: training remains essential.¹⁷ The other systematic problem, to which the concept of practical knowledge responds, concerns cognitive processes. “Learning”, for example, in many cases seems to be genuinely practical, e. g. “learning how to read,” or “learning a first, or a foreign, language.”¹⁸ The fact that many cognitive competences can be trained, and that humans in their long history have developed various systematic training methods as well as auxiliary devices to support the training, does not diminish the practical quality of the relevant competences and their method of acquisition. Even if we understood how the training methods produce the positive effects that they generate, such theoretical knowledge would not by itself enhance the relevant competences. In some cases it even seems that one cannot “understand” the training method and its application to other persons, i. e. “teaching”, before one has mastered the relevant or related skills oneself; something similar seems to hold when we apply training methods that we used in one subject matter to another, e. g. when we autodidactically learn a second foreign language after having mastered a first one. One important point of relevance for any analysis of intentions is that the notion of practical knowledge allows us to make sense of a characteristic aspect of the first-person perspective of what we call “intentions”. For agents who exercise skills seem justified in having the feeling that their activities are under their “control”, even though most agents have no idea exactly what is going on when they exercise their skills. With respect to basic motoric and cognitive skills, I would even like to defend the probably more controversial claim that such skills are under an agent’s control even if they are performed “automatically”, as long as their performance is “not rigid.” I would call automatic performances “not rigid,” if they allow for modifications and adjustments to special circumstances, or for multiple patterns of performances (in the following called modi operandi), or can in principle be made an object of awareness and reflection, and are thus open for change and transformation by training, or sometimes mere awareness, There might be exceptions, though. I cannot exclude that especially talented or gifted persons need neither training nor practice. Whether that may be the case is an empirical question, but my point would still be valid if most average persons were not able to acquire the relevant skills without training or practice. It was reported that the late North Korean dictator Kim Yong Il hit eleven ‘holes-in-one’ when he played golf for the first time. That seems somewhat unlikely, but cannot be argued to be impossible for a priori reasons. Again, it must be conceded that there might be exceptions. There is one version of an anecdote about Thomas Macaulay who had not spoken a single word until the age of four, when his first sentence – in response to a lady’s concern after hot tea had accidentally been spilled over his legs – is said to have been: ‘Thank you Madam, the agony is somewhat abated.’
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e. g. when I manage to get rid of behavioral or cognitive patterns that I find unpleasant or bad.¹⁹ A second important point of relevance is that having mastered a skill seems to allow us to make sense of another crucial phenomenon of agency: the surprising competence that experienced agents exhibit in judging the skills of other persons. Anscombe refers to a saying of Aquinas’ to mark the point: “Practical knowledge is ‘the cause of what it understands’” (Anscombe 2000, 87). That seems true, however, not only for complicated skills, but also basic motoric competences. It is indeed striking that we usually judge quite correctly whether or not another person’s bodily movements are under her “control”, and whether somebody stepped on our toes “inadvertently” or “intentionally”, stumbled or jumped, fell or ducked down. Such knowledge is of special importance in collective agency, which brings me back to the example of “Three men carrying a piano upstairs.” It is obvious that the three men’s activity is a form of skill that can be improved by training and experience, that must be adjusted to the particular circumstances, and that requires coordination because many moves can be made in more than one way (e. g. tipping the piano in order to get around the corner). Less obviously, carrying the piano upstairs also requires mutual adjustments of each carrier’s performance, and the possibility of mutually reacting to the others’ controlled and also, in the worst case, uncontrolled movements. I would like to illustrate the point by developing the case a little bit further. I would, for instance, assume that if two of the men notice that the third man works with less effort, it would make them angry in such a way that they might want to reduce their own efforts, too; whereas they would react with increased effort if the third man loses control of his balance or strength or whatever,
I am inclined to think that such a feeling of control is tightly connected to the kind of firstperson awareness of what one is doing that Anscombe called ‘knowledge without observation’. But I don’t have enough space here to argue for such an interpretation of Anscombe. Anscombe’s own characterization of ‘knowledge without observation’ refers to one’s knowledge about the position of one’s limbs, or bodily movements, which one is aware of without its being necessary that one ‘observe’ what that position or movement is. The context makes it clear that it is not only knowledge derived from ‘observation’, but also knowledge derived from ‘inference’ that is contrasted with ‘knowledge without observation’; and that it is not only ‘bodily’ movements, but also mental activities, which can be known ‘without observation’. Such first-person knowledge, however, is not restricted to intentional activities. It is also a qualification of activities which are done for ‘no reason’, or ‘no particular reason’ such as doodling or humming a melody when in a good mood. Following Anscombe, I will distinguish the latter class of activities from intentional agency, which is characterized not exhaustively by ‘knowledge without observation’ but requires further cognitive-cum-deliberative aspects.
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even if they are angry at him because of his “failure” or “lack of attention.” Second, I would assume that if one of the men, who seems generally quite competent, makes an unexpected move which seems to be under his control, the others will think that he “has an idea of how to do things better,” and that he wants to modify their usual modus operandi. Accordingly, they will try to see the point of the unexpected movement and adjust their own behavior accordingly. Being able to distinguish deviant behavior from inadvertent failure on the one hand, and to distinguish failure from a modification or innovation of standard ways of performance on the other hand, are general competences that human agents exercise quite frequently and surprisingly often correctly. Although it is certainly true that agents’ competence for assessments of the performances of others is not foolproof, it is remarkable how accurate it is most of the time, and so it certainly needs to be in reciprocal adjustments of performances. What is important is not only to be able to tell a failure from an innovation or modification, but also to distinguish different sources of failures in order to react to them adequately. Even if we exclude complete incompetence, which is rather uninteresting because the collective performance most likely will not start in the first place, there still remains a rather broad range of failures (besides deviant behavior) that require different responses: e. g. inadvertent movements, failures of coordination, lack of awareness, misinterpretation of other carriers’ modus operandi, an incapacity to adjust one’s own performance to that of others, to mention only the most obvious. As the tentative list indicates, failures can be “motoric” as well as “cognitive”, and they can be caused by situational circumstances as well as personal features, such as varying degrees of competence, attention, or understanding. A diagnosis of failures that are caused by personal features will often take the form of judgments about particular actions that are reached against a background of a more general assessment of “the person’s” competence, attitude, motives, and so on. It is remarkable that skills do not show themselves in single instances of agency. A one-time-stumbling or one-time-lack-of-attention or a one-time-failure do not reveal lack of skill; and it is even more remarkable that we can usually recognize how well or poorly an agent has mastered a skill. If different failures require and suggest different reactions – which seems obvious –, then it is indeed very important, if not crucial, for successful collective performances that agents are able to recognize the differences among them and to tell the ones from the others. Anyone who has participated in collective performances will understand that point. One aspect of skills that an investigation of failures brings to light is that skills are rarely exhibited at any particular point in time. Even a master can fail in a particular situation, or under specific circumstances, whereas a single
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well-executed performance does not count as a skill. In order to be a skill, the relevant pattern of bodily or mental activities must be repeatable, trainable, modifiable, and adjustable to variable circumstances, as long as they do not amount to insurmountable obstacles to performance. The practical quality of practical knowledge, it seems, is most clearly revealed in the ability to recognize different failures in other agents’ performances.
3.2 The Concept of Common Knowledge in Collective Agency at a Distance Prima facie, knowing how seems to be discussed mainly in the context of performances, but as I would like to argue, it is also relevant for the analysis of cognitive-cum-deliberative aspects of more complex forms of collective agency that have been characterized above as “acting at a distance.” Generally, acting at a distance is facilitated by the fact that an overwhelming number of human activities are structured by social institutions and public practices (Anscombe 1981b). These include not only social and moral norms, and rules of etiquette, but also an extensive range of pragmatic conventions such as rules of economic exchange, professional procedures, standardized forms of conduct, and so on.²⁰ Those public rules and practices are a main source of what is frequently called common knowledge. ²¹ Roughly, the concept of common knowledge is defined for members of a group in terms of each member’s generalized expectations about the behavior of other members, based on those other members’ generalized expectations about members’ behavior, together with the assumption that all members have roughly similar preferences over alternative courses of action.²² Common knowledge assumptions are usually phrased in terms of expectations about other persons’ behavior etc. because Lewis was primarily interested in large groups, but it need not be so phrased. Bratman (1999b, Once one recognizes that seemingly ‘brute’ activities, such as buying and selling, are performed against a conventional background, which is simply taken for granted, it becomes obvious that there are very few activities that human agents perform that are not guided by public rules or practices even with regard to individual activities. Common knowledge is not a fixed concept, and different theorists offer different accounts, but most rely roughly on David Lewis’s use of the term in his account of conventions (cf. Lewis 2002, 78 f.) To give an illustration: An agent expects other agents to drive on the right side of the road based on the assumption that they will assume that others will drive on the right side, together with the assumption that each person prefers to drive on the right side if others do so, too, and each person assumes that all assumptions hold true within the group.
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Essays 5 – 8), among others, applies common knowledge to intentions by stipulating that participants in joint activities know that each participant intends to perform the activity because the other participant(s) intend(s) to perform it, and each participant knows that each participant is willing to do so in accordance with reciprocal adjustments of their plans and the subactivities that are required for the joint activity. In this section I am interested in the “in-accordance”-condition that concerns the task of reciprocal adjustments of the agents’ plans and activities. How do agents know when and how to adjust their plans and activities to those of other participants, and what kind of knowledge is that? In order to tackle that question, I would like to introduce a useful concept of Gilbert Ryle’s, i. e. the concept of chain-undertakings, which he originally applied to activities of individual persons (cf. Ryle 2000), but which is also characteristic of collective agency at a distance. Ryle uses the concept for temporally and spatially extended activities that consist of a plurality of what he calls “infra-acts.” Chain-undertakings are so called because infra-acts need not be closely linked to each other as a consecutive series of steps, but can be interrupted, taken-up again, followed-up, and co-exist with other simultaneous activities. Chain-undertakings of individual persons will be understood to include activities such as driving from Boston to New York, majoring in law, or learning German. Obviously, I might stop on my way from Boston to New York in order to visit my grandmother, and I might play German tapes while driving. I might marry while still at law school and have a child. And I might never master German to a degree that allows me to understand and recite poems by Hölderlin with perfect pronunciation and intonation. Many chain-undertakings are either skills themselves, or very closely resemble skills insofar as their accomplishment cannot be marked by a precise point in time. The performance of chain-undertakings, thus, cannot be identified with the performance of any of the infra-acts. To illustrate the point, I might recite my vocabulary cards from 8 to 8:10 a.m., but it would be wrong to say that it was from 8 to 8:10 a.m. that I have learned German. Prima facie, the case seems to be different when we consider driving from Boston to New York because it might be said that I accomplished that on Tuesday afternoon starting at 1 p.m., arriving at 7 p.m. But it would be misleading to say that I did it by changing gear soand-so-many times, stopping at so-and-so-many traffic lights, etc. Just as it would be misleading to say that I majored in law by taking the course of Professor X plus writing an exam on January 12th, 2010. Whereas it might be said that infra-acts are means for the achievement of the broader chain-undertaking, the interesting cognitive aspects of infra-acts obviously do not concern their instrumental usefulness, but the way in which they
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are organized, initiated, executed and coordinated within the chain-undertaking and also with other activities. Saying that the driver shifted gears because he believed that it would help him drive the car to New York is not merely uninformative. It seems wrong in a similar sense in which it seems wrong to say “he breathes in order to live.” A driver might shift gear because the engine stalled, but otherwise driving just involves gear shifting in a similar sense in which living involves breathing. It therefore seems an analytical mistake to think that one can “decompose” the cognitive structure of chain-undertakings into the cognitive structure of all-so-many infra-acts considered as means for or pieces of a greater aggregate. The interesting cognitive structure of chain-undertakings, rather, consists in the ability to continue and to return to the chain-undertaking at the right time, to foresee adequate means and intermediate goals, to train and exercise the right skills for the right tasks, to change and adjust to unexpected circumstances, and to be able to modify or give up the undertaking when it is reasonable to do so. The cognitive structure of chain-undertakings, therefore, is not adequately represented by models of means-end reasoning, or teleological descriptions of practical reasoning.²³ Although it is undoubtedly true that an agent’s knowledge of how to perform chain-undertakings regularly includes knowledge about appropriate means – including assessments of empirically-contingent circumstances, cost-benefit calculations and whatever one might want to deliberate about within the scope of means-end reasoning – that kind of deliberation does not fully capture its cognitive structure. The point that I want to emphasize is that the planning and execution of chain-undertakings includes knowledge about how to organize intermediate steps, recognize when to do what, how to react to specific circumstances and other persons, and many other cognitive aspects that are not represented by standard models of means-end-reasoning. It is difficult to give a general and informative abstract account of the cognitive competences that guide chain-undertakings, but that fact itself is no reason to deny that those competences are, indeed, cognitive competences, or to doubt that they are, indeed, relevant.
Although Anscombe explicitly argues that Aristotle’s model of the practical syllogism is not a description of mental processes (cf. Anscombe 2000, 62 ff. and 79 ff.), but only a model that can be used in order to highlight certain steps, or indicate certain failures – such as the difference between an akratic act, an involuntary act, and a vicious act –, she unfortunately seems to conceive of practical reasoning in her later writings exclusively in terms of teleological structures of reasoning, although she emphasizes the distinctive empirical-practical requirements – as opposed to logical inference – for such reasoning.
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I would certainly not object to summarizing those aspects by saying that chain-undertakings require the ability to form and execute plans or projects somewhat along Bratman’s lines. I am not sure, however, whether such an account of the cognitive-cum-deliberative aspects of chain-undertakings is really compatible with the claim that what we call intentions are “mental states,” as Bratman (1999a, 9) maintains. My personal assumption is closer to Ryle’s, who conceives of the cognitive structure of chain-undertakings as competences – similar to skills as discussed above – and warns against the tendency to model such competences as mental acts.²⁴ Be that as it may, the relevant point in the present context is the acknowledgment that the formation and execution of a plan manifest cognitive competences that very much resemble the knowing how quality of skills, as discussed in the previous section. After all, it clearly seems not only that we do not have a “master plan” for the organization and execution of chain-undertakings because, first, there is hardly a unique single way to do such things, and, second, the empirical contingent aspects within the organization and execution of chain-activities resist general formalizations, or translations into simple step-by-step guides. There certainly exist some fixed plans for some particular activities that are highly standardized or proceed according to formal institutional procedures, which are publicly known. But many human activities are non-strictly standardized – for good reasons. Human life, after all, is highly complex. Situational and personal circumstances require personal adjustments. Innovation and modification are generally desirable. Human agents seem able to act and react spontaneously; they are creative, innovative, and seem eager to continuously learn from others how to improve how to do things – especially when acting together. If chain-undertakings require practical knowledge, then reciprocal adjustments of plans and performative activities become a cognitively extraordinarily complex matter,²⁵ open to a huge range of genuine cognitive failures, such as misunderstandings, misperceptions, false assumptions, interpersonally diverging deliberative biases, interpersonally differing hierarchies of importance, etc. Anyone who has ever had the task of finding out what went wrong in an unsuc-
Although ‘mental states’ might not necessarily be ‘mental acts’, I am inclined to think that the problems of individuation that haunt the mental-act thesis apply equally to a mental-state thesis. I assume that the burden of proof is on the side of the defender of any such claim. More complicated cases concern joint activities of agents who have differing levels of competence because the less competent might not always correctly understand the more competent agents’ moves and deliberations. Unfortunately I don’t have the space to discuss the problem in more detail.
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cessful collective activity involving chain-undertakings knows that potential sources of cognitive failures are plentiful. Although I am convinced that it would not be very fruitful to try to develop an abstract and theoretical account of those cognitive competences, I think that they raise a general caveat with respect to the common knowledge assumption. Once it is acknowledged that cognitive aspects in chain-undertakings go beyond means-end reasoning, the common knowledge assumption loses much of its attraction. For the common knowledge assumption is very static, whereas the execution of chain-undertakings is dynamic, and very likely to cause some interpersonal interplay between the participating agents. The common knowledge assumption seems best suited for the particular context of Lewis’s original account, namely the choice among alternative equilibria in groups and situations that are characterized by the assumptions a) that all group members behave rather uniformly and b) that all group members have same preferences over alternative possible courses of action. In the context of more dynamic activities that involve chain-undertakings, which require mutual adjustment of plans and activities of persons who might have different reasons for engaging in a collective activity, might perform different courses of action, might face heterogeneous requirements of intra-personal coordination, might have diverging preferences about the execution of the collective activity, and so on – in such activities, the common knowledge assumption is either uninformative (because it does not specify what it is that agents need to know), or tendentially misleading because it is too static. Having seen that there are many possible reasons why the execution of collective agency might be unsuccessful, I will finally turn to Gilbert’s analysis of collective agency in terms of the formation of a “plural subject.”
3.3 Intentions as “Commitments”: Cognitive and Normative It has already been remarked that agents have a surprising capacity for the recognition of intentional performances, in contrast to non-intentional ones. When we look at activities that involve some degree of planning, preparation and intermediate-goal achievements, it becomes obvious that it rarely is a mystery whether another person “intends” to do something. Intentions in complex activities quite clearly “show” in the agents’ behavior, personal coordination of activities, and often in their communication. A more interesting issue in the analysis of collective intentions is not their recognition, but the question of their long-term stability, which seems to be Gilbert’s main concern.
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Public rules and practices facilitate long-term stability in collective agency using different tools. Two obvious tools for attitudinal stability are promises and informal agreements, because they generate specific forms of “commitments” to act in the intended way. But such “commitments”, I will argue, are neither a special characteristic of collective agency, nor are they a necessary condition for it. In order to see the point, it is necessary to further specify the kind of commitment that is generated by promises, and to understand whether and how that commitment is related to what we call “intentions” in general, and to mutually inter-dependent intentions in particular. According to one widespread account of “intentions”, someone who “intends” to do something might be said to be “committed” to act accordingly, as Bratman (1999a) says, and in that respect “intentions” might be understood as certain forms of “commitments” to act in a certain way. Why is that so? Intentions, it seems, are conceptually tied to actions insofar as we would say that somebody “intends” to do something if and only if he either acts immediately or plans and organizes his activities in such a way that he will be able to act when the time comes, unless other reasons interfere (cf. Bratman 1999a). In that respect “intentions” differ not only from other attitudes, such as “wishing”, “hoping”, “fearing”, etc., but also from another cognitive stance that one might take towards one’s own behavior, i. e. a “prognosis” about one’s own behavior.²⁶ For by “intending” the agent conceives of herself as the author of her activity (she refers to herself as an active agent). Such self-attitudes are closely related to another feature that is commonly considered as characteristic for the concept “intention”, i. e. the belief that one is able to perform the activity that one intends to do (which is not the same as being certain that one will succeed²⁷) in combination with the belief that one’s action is indeed
Although it is unusual, if not rare, to make prognoses about one’s own behavior, I think it is possible and that it sometimes occurs, e. g. when I predict that spending the weekend in the cottage will make me less eager to work than if I were to stay at home. In such cases, it seems reasonable to say that I foresee certain effects on my behavior which I do not actively bring about myself. Rather than deciding to change my work plans, I might just know through experience that I will be distracted. Success conditions are more complex and must also include agent-external aspects of agency. Since it is sometimes questioned whether a person can intend what she is not sure she can accomplish, I would like to argue that a person must have the general competence to perform the activity that under ‘normal’ circumstances can be thought to yield a certain result. But, obviously, circumstances might not be normal, and agents might also be doing something for the first time, and not yet know ‘for sure’ whether they can do it or whether what they do will have the expected effects.
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required.²⁸ In that sense, the concept of intentions, as it is used in practice, seems to include a form of reference to oneself as an agent who brings something about, and as the author of what one is going to do. Nevertheless, there is also the phenomenon that persons give up on their intentions, either because something interferes, or because new reasons, or circumstances, require a modification of their plans, etc. In that sense, “intending” to do something does not determine an agent’s behavior. She retains the authority to decide or to deliberate about what she is going to do, and whether she will actually realize her intention. To summarize, then, if we consider intentions as “commitments to act in a certain way,” such a characterization is fully compatible with the claim that it is simply up to the agent herself to change her mind and her intentions as long as she can provide a reason (a good one or a bad one) why she did so.²⁹ In that respect intention-commitments differ from interpersonal commitments such as promises, which are usually characterized by the fact that the authority to change her mind is no longer up to the agent herself – at least not exclusively –, but transferred to the promisee, who might release promisor from her promise, but who might also insist that promise be fulfilled.³⁰ When Gilbert speaks of “commitments” that constitute “plural subjects,” she clearly thinks of “commitments” in the second sense, which I call the promise-type of commitments. She has, in fact, even offered an analysis of promising in terms of her own account of “shared intentions” that identifies the “obligation” to keep promises with the constitution of a “mutual relationship” between promisor and promisee that has the form of a “joint commitment” and constitutes a “plural subject.”³¹ That suggests that Gilbert seems to think of engage-
Cf. Anscombe 2000, 35. If the agent can offer no reasons at all, we might wonder whether she really ‘intended’ to act at all. The difference between promises and intentions is also discussed in Anscombe 1981a and 1981c. For details see Gilbert 2011. I cannot here offer a full criticism of Gilbert’s account of the obligatoriness of promises, but would like to make two comments. The first concerns Gilbert’s thesis that the obligation to keep promises is grounded in the interpersonal relation between promisor and promisee, and does not derive from some moral principal, such as Scanlon’s principle of fairness. The first point, thus, concerns a question of metaethics. I would fully agree that the obligation to keep promises, indeed, does not derive from the instrumental usefulness of promise-keeping for promotion of some further value or (moral) good, but from the very nature of what a promise is: i. e. the generation of a prima facie special obligation. I would also agree with W.D. Ross (2009) that the prima facie obligation of promise-keeping is grounded in the special relation between promisor and promisee that is constituted by promisor’s making the
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ment in joint activities as a particular kind of (mental) act that marks the constitution of an entirely new agent, or rather special mode of agency. But a closer look at collective agency reveals that promise-type commitments are neither necessary for nor characteristic of collective agency. Although it often seems to be the case that collective agency is accidentally accompanied by promises, or informal agreements, there also exist spontaneous forms of collective agency – two persons seeing a third person drowning in the lake might cooperate to save her –, and frequently there are activities where reasons for discontinuing with the collective agency remain “up to the agent herself,” and where those reasons do not coincide with standard defeasibility conditions for promises. For example, it might be the case that the collective activity interferes with another of the agent’s projects which she finds more important, interesting, or rewarding; or it might be that one of the agents withdraws because she realizes that the other lacks the required competences for the performance, or is sim-
promise to promisee. I would, however, doubt that metaethical disputes between consequentialism and deontology are very instructive for the analysis of collective agency. The second point concerns Gilbert’s interpretation of the type of relation between promisor and promisee that is established by the promise, i. e. the thesis that promises constitute a ‘plural subject’. Here, I would like to defend the traditional view that by making the promise, promisor unidirectionally transfers the authority to decide about the very action, which is the content of promise, from himself to promisee, other things being equal. Promisee can release promisor from the promise, but if he does not, and if no other reasons speak against fulfilling the promise, and if no conditions or circumstances which defeat the promise obtain, then promisor is obliged to act as promised. Gilbert, by contrast, argues, first, that the promise makes promisee the ‘owner of promisor’s action’ (not of the authority to decide whether promisor must perform the action or not), in order to conclude that promisor’s action is now promisee’s action, in order to conclude that the promised action is one of promisor and promisee together as ‘one body’. That kind of highly artificial and metaphorical reasoning is supported by Gilbert with the claim that promising establishes a bidirectional commitment to a joint action insofar (or because) promissee needs to ‘accept’ the promise and is himself ‘bound’ to abstain from activities that make it impossible for promisor to fulfill his promise. I disagree with Gilbert’s analysis and would like to maintain that the relation between promisor and promisee is one of a unidirectional – or rather asymmetrical – transfer of the authority to decide about the relevant action. Promising is, by far, not the only asymmetrical relation. Relevant for the present context is that promising even differs structurally from reciprocal exchanges of asymmetrical relations. An example of the latter is gratitude. Duties of gratitude derive from the fact that one person (benefactor) has (unidirectionally) benefited another person (beneficiary). Accepting the benefit, one might say, beneficiary is obliged to show gratitude towards benefactor (if he is an honest person). But it would be strikingly absurd to say that gratitude is an attitude of benefactor and beneficiary as ‘one body’, or that by benefiting beneficiary benefactor ‘owes’ beneficiary’s action.
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ply unnerved by her.³² It would, indeed, be somewhat bewildering if an agent withdrew from a collective activity without offering any reason at all, but the class of reasons for withdrawal includes a wide range of agent-relative reasons that would never count as permission to break a promise. In many collective activities, the agents retain their authority to change their minds – at least as long as no formal promises were given or informal agreements were made. That seems sufficient to show that promise-type commitments might accompany collective activities, but are not constitutive of them. For an analysis of the deliberative structure of collective agency that does not involve promises, Gilbert’s analysis seems not very instructive. The distinction between intention-type and promise-type commitments does not strictly deny that collective agency can coincide with promise-type commitments – as Gilbert’s example of “walking together” seems to suggest. But, then again, any form of intentional activity can so coincide, not just collective agency. I can promise to weed the garden, and do it all alone. More importantly, promises are not the only type of agent-neutral standards of behavior that “commit” agents to certain forms of conduct – and entitle others to rebuke an agent if he does not act in a certain way. Rules of etiquette and legal norms are indeed pervasive in the sphere of human conduct, and – again – neither form of normative conduct control works exclusively within the context of collective agency. It would certainly be very rude of me not to respond in a friendly manner to a student who smiles at me in the cafeteria and says “Hello, Professor.” One might even say, following Gilbert, that the student would be entitled to rebuke me for not reacting to her. And certainly pedestrians whom I never knew, and with whom I am not at all involved, are entitled to rebuke me for failing to stop my car at a red traffic light. But none of these entitlements derives from the establishment of a plural subject, but from the simple fact that human conduct is widely regulated by rules of multiple kinds and by polymorphous standards of conduct. I conclude that public practices and rules can facilitate collective agency by generating promise-type commitments, but promise-type commitments are neither necessary for nor characteristic of collective agency. Promise-type commitments do not contribute to the understanding of the cognitive structure of collective agency.
In addition, Bratman (1999b, Essay 7) argues that there can also be cases of collective agency that conflict with validity conditions for promises, e. g. forced, or coerced, collective activities. Gilbert rejects that objection because she argues that constitutive for the obligation of promises is their ‘joint commitment’-quality, not moral considerations. As argued in fn. 32 above, the grounds of Gilbert’s objection are unconvincing.
Intentions in Collective Agency: A Third-Person Approach
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4 Synopsis Conceiving of “intentions” in terms of the cognitive-cum-deliberative aspects of collective agency, the article focused on cognitive aspects of mutual and reciprocal adjustments of agents’ activities. Section 2 distinguished different forms of cognitive interpersonal attitudes. It was argued that there is a special form of collective agency that is characterized by mutual and interdependent reference to other participants’ activities and cognitive attitudes as those of agents, who are actively involved in the shared activity. Section 3 attempted to clarify cognitive aspects of the concept of practical knowledge, introduced a distinction between face-to-face collective performances and collective agency at a distance, and distinguished cognitive intentions-type commitments from normative promise-type commitments. It was argued that practical knowledge in collective agency resembles intention-type commitments, and that it is unduly neglected in collective face-to-face performances as well as in collective agency at a distance. Such neglect ignores two of the striking features of human agency: its embeddedness in contingent empirical circumstances, and its potential for modification, innovation, change, and improvement.
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Hans Bernhard Schmid
Vertrauen im Gemeinschaftshandeln¹ Manche Theorien gemeinsamen Handelns und Beabsichtigens klingen so, als wären die Beteiligten nicht nur auf ein gemeinsames Ziel gerichtet, sondern ebenso sehr mit der Frage beschäftigt, was die anderen Beteiligten wohl vorhaben und tun mögen. Dies scheint plausibel, wenn das Ziel der Analyse darin besteht, gemeinsames Beabsichtigen und Handeln auf eine Kombination von individuellem Beabsichtigen bzw. Handeln und irgendwelchen wechselseitigen Einstellungen zwischen den Beteiligten zu reduzieren. Aber einige Philosophen der kollektiven Intentionalität haben diesen Reduktionismus mit starken Argumenten kritisiert, und sie haben die Tatsache in den Vordergrund gestellt, dass der Unterschied zwischen individuellem und gemeinsamem Handeln in der jeweiligen Form der Intentionalität liegt, und nicht in irgendeiner zusätzlichen Struktur von wechselseitigen Überzeugungen zwischen den Beteiligten. Aus phänomenologischer Perspektive scheint dies plausibel, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Handelnde, die gemeinsam etwas vorhaben, normalerweise auf dieses Vorhaben fokussiert sind und nicht auf das Handeln der anderen Beteiligten. Wenn gemeinsames Handeln glatt verläuft, denken die Beteiligten ebenso wenig über die anderen Beteiligten nach, wie sie über sich selbst nachdenken. Das bedeutet keineswegs, dass die Teilnehmenden an Gemeinschaftshandlungen völlig ignorieren, was die anderen Beteiligten tun. Da das Vorhaben als gemeinsames beabsichtigt wird, gibt es ein Hintergrundbewusstsein der Partner als Beitragende zum gemeinsamen Tun. Im Unterschied zu vereinzelt handelnden individuellen Akteuren verstehen sich Teilnehmende an Gemeinschaftshandlungen nicht nur selbst als Handelnde, sondern fassen auch die anderen als in demselben Vorhaben engagiert auf. Dieser Aufsatz geht der Frage nach, welche Art von Haltung dieses Hintergrundbewusstsein von den anderen als Partner im Gemeinschaftshandeln ist. Dazu gibt es verschiedene Vorschläge und Deutungen in der bisherigen Literatur.
Dieser Text ist eine überarbeitete Übersetzung von: ‚Trying to Act Together – The Structure and Role of Trust in Joint Action‘. In: Schmitz, M./Kobow, B./Schmid, H.B. (Hg): The Background of Institutional Reality, Dordrecht 2013, S. 37– 56. Ich danke dem Springer-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. Für Anregungen und kritische Kommentare bin ich jenen Foren verpflichtet, auf denen ich frühere Versionen dieses Aufsatzes präsentiert habe, sowie ganz besonders Herlinde Pauer-Studer, Martin Kusch, Andrew Ortony, Raimo Tuomela, Carol Rovane, Michael Schmitz, Beatrice Kobow, Philip Pettit, David Schweikard und Alessandro Salice.
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Die Entscheidungstheorie geht davon aus, dass nur das Vorliegen der Überzeugung, dass die anderen ebenfalls handeln werden, es für die Teilnehmenden rational macht, ihren Teil zu beabsichtigen und zu tun, so dass ein bestimmter Typ von Erwartung bezüglich des Verhaltens der anderen die entscheidende Rolle spielt. So plausibel das klingen mag, ist es doch eine ziemlich beschränkte Sicht auf die Angelegenheit. Die Literatur über kollektive Intentionalität hat überzeugend nachgewiesen, dass bestimmte Haltungen gegenüber den anderen nicht nur rationale Vorbedingungen des eigenen Beitragshandelns sind, sondern ein Teil der intentionalen Struktur des Beitragshandelns selbst. Wenn ein Akteur beabsichtigt, seinen Beitrag zu leisten, dann ist eine Bezugnahme auf das Handeln anderer dafür nicht bloß eine rationalisierende Voraussetzung. Vielmehr ist der Beitrag der anderen Handelnden ein integraler Bestandteil des Beabsichtigten selbst. Beim gemeinsamen Handeln können die Erfüllungsbedingungen der Absichten der Beteiligten nur dann erreicht werden, wenn alle relevanten anderen ihre Beiträge leisten.Wer beabsichtigt, seinen Beitrag zu leisten, beabsichtigt nicht bloß, das zu tun, was sein eigener Beitrag ist, falls die anderen ebenfalls beitragen. Vielmehr beabsichtigt er seinen Beitrag als seinen Beitrag, das heißt als etwas, was als Teil eines Ganzen aufgefasst und beabsichtigt wird. Der eigene Teil wird sozusagen de dicto beabsichtigt, nicht bloß de re. Das bedeutet, dass die Beitragsabsicht die anderen Teilnehmenden irgendwie als beitragend repräsentiert („Repräsentation“ im Sinne der Erfüllungsbedingungen verstanden). Die bisherige Literatur über kollektive Intentionalität ist vor allem mit der Frage befasst, wo diese Repräsentation des anderen zu platzieren sei: Ist sie ein Teil des Gehalts der Absicht, wie Michael Bratman zu glauben scheint? Ist sie ein Aspekt des Modus der Absicht, wie es Raimo Tuomela und John Searle vorzuschlagen scheinen? Oder ist sie eine Angelegenheit des Subjekts der fraglichen Absicht, wie Margaret Gilbert es in ihrer Pluralsubjekttheorie gemeinsamen Beabsichtigens behauptet? Jede dieser Antworten hat ihre Probleme. Wenn die Repräsentation des anderen im Gehalt wäre, wie könnte ein solcher Gehalt dann der einer Absicht sein angesichts der Tatsache, dass ein Akteur nur beabsichtigen kann, wovon er nicht annehmen muss, dass es unmöglich ist, dass er es tun kann? Wenn sie im Modus oder Subjekt wäre, würde sich die grundsätzliche Frage stellen, wie denn der Modus oder das Subjekt überhaupt repräsentieren können. So wichtig diese Fragen auch sind, werde ich mich in diesem Aufsatz doch einer fundamentaleren Problematik zuwenden. Die Frage lautet nicht, wo die Repräsentation platziert ist, sondern um was für eine Art von Repräsentation es sich dabei überhaupt handelt. Im ersten Abschnitt werde ich die in der Literatur verbreitetste Ansicht präsentieren und kritisch diskutieren. Dieser Sicht zufolge erwarten Kooperateure von ihren Partnern kognitiv, dass sie kooperieren werden. Das bedeutet, dass die Repräsentation der Teilnahme der anderen eine Geist-an-
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Welt-Passungsrichtung hat. Kognitivisten – wie ich sie nennen werde – behaupten, dass Teilnehmende beim Beabsichtigen ihres Teils die Teilnahme anderer grundsätzlich in Form einer Voraussage repräsentieren, und zwar entweder als Überzeugung oder in einer weniger anspruchsvollen kognitiven Haltung, wie zum Beispiel einer Voraussetzung, einer Annahme oder in Form des Sichverlassens (reliance). Im zweiten Abschnitt wende ich mich einem vielversprechenden Konkurrenten der kognitivistischen Sicht zu, den ich die normativistische Sicht zu nennen vorschlage. Dieser Sicht zufolge erwarten Kooperateure die Kooperation ihrer Partner normativ; sie sagen deren Kooperation nicht voraus, sie rechnen nicht mit der Kooperation, sondern zählen auf sie. Dieser Sicht zufolge hat die Repräsentation der anderen eine Welt-an-Geist-Passungsrichtung. Normativisten behaupten, dass die Teilnehmenden beim gemeinsamen Handeln sich im Wesentlichen auf normative Gesichtspunkte verlassen (die anderen werden als bezüglich ihrer Beiträge unter einer Verpflichtung stehend oder normative Gründe habend repräsentiert). Jede dieser beiden Sichten sieht sich mit ernsthaften Einwänden konfrontiert. Im dritten Abschnitt werde ich eine haltbare Alternative zu den beiden bisherigen Ansätzen skizzieren, die ich die affektive Sicht nennen werde. Die Grundidee besteht darin, die kognitivistische und normativistische Sicht geeignet zu kombinieren. In dieser neuen Sicht ist es so, dass die Beteiligten am Gemeinschaftshandeln die Absichten der anderen Teilnehmenden sowohl kognitiv als auch normativ repräsentieren; und weiter erwarten sie, dass die Intentionalität der anderen durch diese Repräsentation der Intentionalität beeinflusst wird. Die fragliche Haltung hat damit eine Art „doppelte Passungsrichtung“: Die Teilnehmenden repräsentieren die anderen als ihr Beitragen beabsichtigend in der Weise, dass angenommen wird, dass die kooperative Haltung der anderen zum Teil der Tatsache geschuldet ist, dass sie als ihr Beitragen beabsichtigend repräsentiert werden. Ich werde die Ansicht vertreten, dass die Haltung, welche diese scheinbar komplexe Struktur hat, schlicht und einfach eine besondere Version interpersonalen Vertrauens ist (nicht alles Vertrauen ist von dieser Form, aber diese Haltung ist eine Form des Vertrauens). In dieser Sicht wird behauptet, dass die Beteiligten an gemeinsamem Handeln sich auf Vertrauen verlassen, statt auf rein kognitive oder rein normative Gesichtspunkte. Am Schluss dieses Aufsatzes werde ich kurz die These vertreten, dass Vertrauen – oder zumindest diese spezielle Form davon – eine affektive Haltung ist.
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1 Kognitivismus „Kollektive Intentionalität“ ist ein Ausdruck, der ursprünglich von John Searle geprägt wurde. Daher ist es natürlich, mit seiner Konzeption anzufangen und zu untersuchen, was für eine Art interpersonaler Haltungen sie beinhaltet. Ein genauerer Blick auf Searles Schriften zu diesem Thema scheint aber anzuzeigen, dass seine Sicht ziemlich beträchtlichen Wandlungen unterliegt und sich die ursprüngliche Konzeption kollektiver Intentionalität in seinem grundlegenden Aufsatz von 1990 („Collective Intentions and Actions“) und den unmittelbar daran anknüpfenden Schriften stark von seinem jüngsten Beitrag in seinem Buch Making the Social World von 2010 unterscheiden, ganz besonders, was die Rolle interpersoneller Beziehungen beim gemeinsamen Beabsichtigen betrifft. Im Folgenden liste ich einige Zitatenpaare aus seinen früheren Werken und dem jüngsten Buch auf, um verschiedene Diskrepanzen aufzuweisen. Im Jahr 1990 vertrat Searle mit großer Überzeugung die Ansicht, dass „WirAbsichten nicht auf Ich-Absichten reduziert werden können, auch wenn sie mit Überzeugungen und Überzeugungen über wechselseitige Überzeugungen ergänzt werden“ (1990, 406). Im Jahr 2010 stellt er sehr viel vorsichtiger fest, dass „nicht alle Fälle von ‚wir beabsichtigen‘ […] auf ‚Ich beabsichtige‘ mit wechselseitiger Überzeugung reduziert werden können“ (2010, 50; Herv. H.B.S.). Somit wird nun Raum gelassen für die Möglichkeit, dass in manchen Fällen gemeinsame Absichten einfach Aggregate von individuellen Absichten plus wechselseitigen Überzeugungen sein könnten. Im Jahr 1998 wies Searle die gängige Nozick-Lewis-Aumann-Konzeption von gemeinsamem Wissen (common knowledge) oder gemeinsamer Überzeugung (mutual belief) explizit zurück, d. h. er erklärte es für unmöglich, dass es gemeinsames Wissen in dem Sinn geben könne, dass eine infinite Iteration von reziprokem individuellem Wissen vorliegt. Er vertrat die Ansicht, dass diese Analyse mit beschränkten mentalen Kapazitäten wie den unsrigen schlicht unverträglich sei: „Ich glaube nicht, dass mein Kopf groß genug ist, um so viele Überzeugungen aufzunehmen“ (Searle 1998, 119). Im Jahr 2010 scheint Searle seine Meinung geändert zu haben. „Kooperation impliziert die Existenz von gemeinsamem Wissen“, sagt er nun, und er fügt bloß bei, dass „das gemeinsame Wissen oder Überzeugtsein, zusammen mit individuellen Absichten, ein gemeinsames Ziel zu erreichen, nicht schon in sich hinreichend ist für Kooperation.“ (Searle 2010, 49). Searle sagt weder hier, noch – soweit ich sehe – andernorts in seinem Werk, dass sein Gebrauch des Terminus „gemeinsames Wissen“ sich auf die Nozick-Lewis-Aumann-Konzeption bezieht. Aber da dies in der Literatur die Standardkonzeption ist, und da Searle nichts Gegenteiliges äußert, scheint die
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Annahme plausibel, dass er die Möglichkeit von infinit iterierten reziproken Haltungen auch für endliche Geister wie uns nun akzeptiert. Sogar noch bedeutsamer für das Thema dieses Aufsatzes ist eine weitere Diskrepanz. In einer berühmten Passage am Schluss seines Aufsatzes von 1990 vertritt Searle die Auffassung, dass „die Fähigkeit, uns in kollektivem Verhalten zu engagieren, so etwas wie einen vorintentionalen Sinn für „den anderen“ als tatsächlichen oder potentiellen Akteur wie man selbst in kooperativen Aktivitäten“ impliziert. In derselben Passage erwähnt Searle verschiedene Arten von „Sinnen“ (senses) oder „Gewahrsein“ (awareness) für den (oder des) anderen, darunter den „Sinn für andere als kooperative Akteure“, den er als basalen „Sinn für Gemeinschaft“ identifiziert. Dieses „gemeinschaftliche Gewahrsein“ ist nach Searle (1990, 413 f.) „die allgemeine Voraussetzung von kollektiver Intentionalität“. In seinem Buch von 2010 nimmt er diese interessante (aber zugegebenermaßen vage) Überlegung nicht auf, und behauptet stattdessen einfach, dass die Beteiligten bestimmte Überzeugungen über einander haben müssen: Ich muss eine dahingehende Überzeugung haben, dass mein Partner im Kollektiv auch eine Handlungsabsicht von derselben Sorte wie die meinige hat […]. Es ist eine Überzeugung, die in der Idee kollektiven Verhaltens enthalten ist, aber es ist kein Teil des Gehalts meiner Handlungsabsicht. […] Um mich in kollektivem Verhalten zu engagieren, muss ich überzeugt sein (oder annehmen, oder voraussetzen), dass andere mit mir kooperieren. (Searle 2010, 52 f.)
Das ist besonders bezüglich einer Behauptung relevant, die Searle in seinem ursprünglichen Beitrag gemacht hat, wo er für folgende Sicht argumentiert: Da die Beitragsabsicht der anderen auf eine „vorintentionale“ Weise „repräsentiert“ ist, gibt es eine spezifische Fehlerquelle für gemeinsames Beabsichtigen, eine Form von Fehlgehen kollektiver Absichten, die sich vom gängigen Nichterreichen der Erfüllungsbedingungen und vom Zusammenbruch der Hintergrundannahmen unterscheidet (Searle 1990, 407). 2010 scheint Searle darin nichts besonders Rätselhaftes mehr zu sehen: „Man kann im Irrtum darüber sein, dass andere ihren Beitrag leisten, aber dies ist eine wesentliche Überzeugung oder Voraussetzung, die mit dem individuellen Bestreben einhergeht, wenn das individuelle Bestreben ein Teil eines gemeinsamen Bestrebens ist.“ (Searle 2010, 52 f.) Searle nimmt nun Folgendes an: Wenn ein Akteur fälschlicherweise davon ausgeht, in einem gemeinsamen Handeln engagiert zu sein, dann ist dieser Fehler nichts anderes als das Haben einer falschen Überzeugung, und diese Überzeugung kann von der Teilnahmeabsicht getrennt werden: „Also brauchen wir mindestens zwei Elemente in unserer Analyse kollektiver Intentionalität. Wir brauchen eine Repräsentation der Absicht selbst, […] und wir brauchen eine Repräsentation einer
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Überzeugung, und die Überzeugung ist eine Überzeugung davon, was die anderen Akteure tun“ (ebd.). Letztlich scheint Searles Sicht die zu sein, dass die Art und Weise, wie andere Akteure von den Teilnehmenden im gemeinsamen Handeln repräsentiert werden, jene einer Überzeugung, einer Annahme oder einer Voraussetzung ist. Diese Haltungen unterscheiden sich natürlich beträchtlich voneinander, aber sie gehören alle zur Gruppe kognitiver Haltungen mit einer Geist-an-Welt-Passungsrichtung. Dies ist eindeutig die Mehrheitsmeinung in der relevanten Literatur. Ein weiteres Beispiel dafür ist Michael Bratmans Ansatz, der sich von dem Searles in vielerlei Hinsicht unterscheidet, aber mit ihm die These teilt, dass Überzeugungen ein zentrales Ingrediens im Leim sind,welcher die individuellen Beitragsabsichten zusammenhält: Es muss gemeinsames Wissen zwischen den Beteiligten bestehen, dass sie entsprechend disponiert sind (vgl. z. B. Bratman 1999, 105), und es scheint plausibel anzunehmen, dass das in Bratmans Sicht eine Art Überzeugung beinhaltet. Alonso (2008) hat gegen Bratman eingewandt, dass die fragliche Haltung ein Sichverlassen (reliance) sei und keine Überzeugung (belief); Sichverlassen hat viel schwächere Evidenzbedingungen als eine Überzeugung, aber Sichverlassen teilt mit Überzeugungen das Merkmal, eine kognitive Haltung zu sein. Christian List und Philip Pettit verlangen in ihrer Konzeption gemeinsamer Absicht ein Gewahrsein voneinander (awareness); aber im Weiteren identifizieren sie dann dieses Gewahrsein mit Überzeugung (vgl. List/Pettit 2011, 33). Ein weiteres Beispiel für die kognitivistische Linie ist Raimo Tuomelas Analyse. Tuomela zufolge muss jemand überzeugt sein, dass die anderen ebenfalls geeignet disponiert sind, um ihren oder seinen Teil eines gemeinsamen Unterfangens als ihren oder seinen Teil zu beabsichtigen; zusätzlich muss sie oder er überzeugt sein, dass diese wechselseitige Überzeugung unter ihnen gegeben ist. Tuomela sagt, dass ein Mitglied einer Gruppe nur dann wir-beabsichtigen kann, zu x-en, wenn es eine Überzeugung hat, die dahin geht, dass die Gemeinschaftshandlungschance zu einer intentionalen Durchführung von x bestehen wird (oder wenigstens wahrscheinlicherweise bestehen wird) – insbesondere dass die richtige Zahl der vollwertigen und angemessen informierten Mitglieder der Gruppe ihren Teil zu x beitragen werden (oder doch wahrscheinlicherweise beitragen werden), so wie es die Durchführung von x verlangt, was unter normalen Bedingungen in einer absichtlichen gemeinsamen Durchführung von x durch die Beteiligten resultiert. (Tuomela 2007, 193)
Sogar noch mehr Überzeugung ist gefordert, da das fragliche Individuum nach Tuomela auch davon überzeugt sein muss,
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dass es eine wechselseitige Überzeugung unter den teilnehmenden Mitgliedern der Gruppe gibt […], die sich darauf bezieht, dass die Gemeinschaftshandlungschancen für eine absichtliche Durchführung von x bestehen werden (oder wenigstens wahrscheinlicherweise bestehen werden). (Ebd.)
Tuomelas Analyse ist besonders hilfreich, weil sie die fraglichen kognitiven Haltungen als Überzeugungen artikuliert, die sich auf Handlungschancen beziehen. Die dabei im Hintergrund stehende Problematik ist die folgende: In der früheren handlungstheoretischen Literatur wird manchmal behauptet, dass die Absicht zu haben zu φ-en, bedeutet, die Überzeugung zu haben, dass man φ-en wird. Im Singular-Fall: Um die Absicht zu haben, spazierenzugehen, muss ich der Überzeugung sein, dass ich spazierengehen werde. Der Plural-Fall scheint parallel zu sein: Damit wir beabsichtigen können, gemeinsam spazierenzugehen, müssen wir der Überzeugung sein, dass wir gemeinsam spazierengehen werden. Da unser gemeinsames Spazierengehen geeignete Teilnahmeabsichten impliziert, beinhaltet das eine Überzeugung, die sich darauf bezieht, was die anderen zu tun beabsichtigen. Wenn man im individuellen Fall davon überzeugt sein muss, dass man φ-en wird, damit man beabsichtigen kann zu φ-en, dann muss man im kollektiven Fall glauben, dass die anderen ihren Teil absichtlich beitragen werden, damit man beabsichtigen kann, seinen Teil als seinen Teil beizutragen. Aber es scheint, dass diese Annahme falsch ist. Um die Absicht zu haben zu φ-en, müssen Akteure nicht (kategorisch) der Überzeugung sein, dass sie φ-en werden oder dass sie wenigstens wahrscheinlich φ-en werden. Der locus classicus dafür ist Donald Davidsons Kohlepapier-Durchschlagsbeispiel; einiger Bekanntheit erfreut sich auch Gilbert Harmans Scharfschützenbeispiel. Mit einem technisch mittlerweile ziemlich überholten Beispiel illustriert Davidson den Punkt folgendermaßen: Wenn ich dieses Schreibmaschinenblatt kräftig tippe, habe ich vielleicht die Absicht, zehn lesbare Kohlepapier-Durchschläge anzufertigen. Ich weiß nicht und ich habe diesbezüglich auch keine zuversichtliche Überzeugung, ob es mir gelingen wird. Aber wenn ich tatsächlich zehn lesbare Durchschläge erzeuge, dann tue ich das gewiss absichtlich […]. Es ist schwierig, sich vorzustellen, dass dies nicht auf reines Beabsichtigen hinausläuft. (Davidson 2001, 92)
In seinem Buch Change in View (1986) argumentiert Gilbert Harman überzeugend für die Sicht, dass auch eine Person, die sich für einen schrecklich schlechten Schützen hält und die sich ziemlich sicher ist, dass sie nicht erfolgreich sein wird, immer noch die Absicht haben kann, ein Ziel zu treffen; auch in seiner Sicht läuft die Tatsache, dass diese Person dann, wenn sie tatsächlich trifft, absichtlich trifft, auf reines Beabsichtigen hinaus. Indes macht es einen wichtigen Unterschied, ob man einigermaßen sicher ist, dass man keinen Erfolg haben wird, oder ob man
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davon ausgeht, überhaupt keine Erfolgschance zu haben. Die meisten Philosophen denken, dass P nicht beabsichtigen kann zu φ-en, wenn sie sicher ist, dass sie nicht φ-en kann (vgl. z. B. Baier 1970).² Wenn wir das akzeptieren, dann scheint es möglich, die kognitiven Anforderungen für gemeinsames Beabsichtigen entsprechend zu modifizieren. Um seinen Teil als seinen Teil beabsichtigen zu können, muss man nicht überzeugt sein, dass die anderen ihren Teil ebenfalls zu tun beabsichtigen, da wir eine gemeinsame Aktivität auch dann beabsichtigen können, wenn wir nicht davon überzeugt sind, dass sie auch zustande kommen wird, und insbesondere auch ohne zu glauben, dass die anderen ihren Teil effektiv leisten werden (oder vielleicht auch nur zu leisten beabsichtigen). Das ist zu unterscheiden von der gültigen kognitiven Minimalanforderung, bei der es bleibt: Man kann nicht beabsichtigen, seinen Teil als seinen Teil zu tun, wenn man mit Sicherheit davon ausgeht, dass die gemeinsame Handlung unmöglich zustande kommen kann (z. B. weil die anderen auf keinen Fall beabsichtigen, ihren Teil zu tun). Man könnte allerdings die Meinung vertreten, dass auch das noch zu stark ist, und zwar sowohl im individuellen als auch im kollektiven Fall. Sogar wenn P sicher ist, dass er nicht φ-en kann, kann er es ja immer noch versuchen. Dies impliziert einen Begriff von „versuchen“, den nicht alle Menschen teilen,³ den aber die meisten Menschen natürlich finden. Frederick Adams illustriert diesen Begriff von „versuchen“ unter Unmöglichkeitsüberzeugung mit dem folgenden Beispiel: Nehmen wir an, dass Ken aus irgendeinem lächerlichen Grund den intensiven Wunsch hat, das Nordbein des St. Louis Gateway Arch mit bloßen Händen und ohne technische Hilfe um eine Fußlänge nach Norden zu verschieben. […] Ken platziert seine Füße fest auf dem Boden, packt fest an, und stößt mit aller Kraft gegen den rostfreien Stahl des Nordbeins des Bogens; derweil ist es ihm völlig klar, dass es für ihn völlig unmöglich ist, den Bogen eine Fußlänge nach Norden zu verschieben. (Adams 1995, 553)
Wenn wir diese Beschreibung akzeptieren, haben wir damit einen Fall, in dem jemand versucht zu φ-en, ohne zu beabsichtigen zu φ-en. Stellen wir uns vor, dass Ken falsch liegt mit seiner festen Überzeugung, dass er den Bogen nicht bewegen kann, und dass sich der Bogen bei Kens Versuch tatsächlich bewegt. Obwohl Ken letztlich wohl sehr erfreut wäre über das Resultat (erinnern wir uns an seinen seltsamen Wunsch), wäre er zunächst sicherlich ziemlich schockiert über den Effekt seines Treibens, ganz im Unterschied zu einer Person, deren Absicht gerade
Eine wichtige Ausnahme ist Ludwig 1992. Ich danke Andrew Ortony für diesen wichtigen Hinweis.
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ihre Erfüllungsbedingung erreicht hat! Das zeigt, dass hier ein relevanter Unterschied besteht. Es ist wichtig, die Konzeption von „versuchen“, die hier gebraucht wird, klar von einem gängigeren Sinn von „versuchen“ zu unterscheiden (diese Unterscheidung wird später für die Argumentation sehr wichtig werden). Was Ken beabsichtigte, war zu versuchen, den Bogen zu bewegen; die Absicht war nicht, den Bogen zu bewegen! In Kens Fall von „versuchen“ muss der Akteur nicht φ-en (den Bogen bewegen), damit seine Absicht ihre Erfüllungsbedingungen erreicht. „Beabsichtigen zu φ-en“ und „beabsichtigen zu versuchen zu φ-en“ haben verschiedene Erfüllungsbedingungen und sind somit verschiedene Handlungen (unter der Annahme, dass Handlungen über Erfüllungsbedingungen zu individuieren sind). „Versuchen“ der Ken-Art ist eine eigenständige, eigentliche Handlung. Aber es gibt einen ganz anderen Sinn von „versuchen“, nämlich jenen, in dem jedes Handeln einen Versuch beinhaltet: In dieser Bedeutung ist es so, dass jemand, um die Handlungsabsicht zu haben zu φ-en, auch versuchen muss zu φ-en. Dieses Versuchen gelingt allerdings nur, wenn der Akteur tatsächlich φ-t. Ich schlage vor, diese beiden Formen von „versuchen“ auf die folgende Weise voneinander zu unterscheiden: – Zuversichtliches Versuchen: Die Handlungsabsicht haben zu φ-en (die beabsichtigte Handlung ist zu φ-en). – Zuversichtsloses Versuchen: Die Handlungsabsicht haben zu versuchen zu φ-en (die beabsichtigte Handlung ist zu versuchen zu φ-en – und nicht zu φ-en).⁴ Wie also kann der Durchschlags-Davidson aus dem obigen Beispiel beabsichtigen zu φ-en, „ohne jede Zuversicht“, dass er φ-en wird? Das Wort „Zuversicht“ ist offensichtlich ebenfalls zweideutig: 1) Zuversicht als komplementär zu Unzuversicht: Ein Akteur ist sowohl zuversichtlich als auch unzuversichtlich, insofern er davon ausgeht, dass die Möglichkeit besteht, dass sein Handeln scheitern kann. Nicht ganz volle Zuversicht ist ein Grad von Unzuversicht; nicht ganz volle Unzuversicht ist ein Grad von Zuversicht. Zuversichtslosigkeit ist volle Unzuversicht.
P kann nur dann zuversichtslos versuchen zu φ-en, wenn er nicht mit Gewissheit glaubt, dass er nicht versuchen wird zu φ-en (es ist möglich, zuversichtlich zu versuchen, unzuversichtlich zu versuchen zu φ-en, aber es ist nicht möglich, zuversichtslos zu versuchen, zuversichtslos zu versuchen zu φ-en, aber es ist möglich, zuversichtslos zu versuchen, zuversichtlich zu versuchen, zuversichtslos zu versuchen, u.s.w. für alle ‚Versuche‘ höherer Ordnung).
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Zuversicht als Unzuversicht ausschließend: Ein Akteur ist entweder zuversichtlich (geschätzte Erfolgswahrscheinlichkeit ist eher hoch) oder unzuversichtlich (geschätzte Erfolgswahrscheinlichkeit ist eher tief).
Im Folgenden werde ich diese beiden Bedeutungen von „Zuversicht“ auf die folgende Weise unterscheiden. Ich werde von „Zuversicht“ und „Unzuversicht“ reden, wenn Zuversicht zu Unzuversicht komplementär ist (1). Ich werde das Wortpaar „Optimismus“ und „Pessimismus“ verwenden, wenn die damit gemeinte Zuversicht Unzuversicht ausschließt (2). In der vorgeschlagenen Terminologie ausgedrückt beabsichtigt Durchschlags-Davidson zu φ-en, ohne optimistisch zu sein bezüglich seines φ-ens. (Falls er vernünftig ist, braucht er dann einen Grund, aus dem es ihm den Versuch wert zu sein scheint). Es ist aber in der vorgeschlagenen Terminologie nicht so, dass er zuversichtslos ist. Er hält es ja für durchaus möglich (wenn auch unwahrscheinlich), dass er φ-en wird. Nachdem wir diese Unterscheidungen getroffen haben, können wir nun die folgenden drei Bedingungen für eine Absicht formulieren: i. Zuversichtsbedingung: Wenn eine Akteurin beabsichtigt zu φ-en, dann ist sie zu einem gewissen Grad zuversichtlich, dass sie φ-en wird. Wenn sie zuversichtslos ist, dann kann sie immer noch beabsichtigen zu versuchen, zu φ-en, aber das ist eine andere Handlung. ii. Optimismus-Bedingung: Wenn eine vernünftige Akteurin beabsichtigt zu φ-en, dann ist sie optimistisch, dass sie φ-en wird.Wenn sie pessimistisch ist, aber einen Grund hat, aus dem es der Mühe wert erscheint zu versuchen, dann kann sie beabsichtigen, zu versuchen, zu φ-en. iii. Bedingung hinreichender Gründe: Eine vernünftige Akteurin ignoriert keine Gründe für Zuversicht oder Unzuversicht bzw. Optimismus oder Pessimismus systematisch (sie ist z. B. fähig, aus Erfahrung zu lernen). Wenn das richtig ist und sich auf gemeinsames Beabsichtigen übertragen lässt, dann muss die Analyse gemeinsamen Beabsichtigens in den folgenden zwei Hinsichten geändert werden, um diesen Bedingungen zu genügen (ich beziehe mich auf Raimo Tuomelas Analyse): Erstens muss das Individuum klarerweise nicht glauben, dass es zusammen mit den anderen φ-en wird, wie Tuomela dies verlangt. Es reicht etwas Zuversicht. Zweitens muss das Individuum nicht glauben, dass seine eigene Zuversicht allgemein geteilt wird, geschweige denn, dass sie gemeinsames Wissen ist, solange es nur annimmt, dass die zuversichtslosen Mitglieder der Gruppe beabsichtigen, den Versuch zu machen, ihren Teil zu leisten. Dies ist eine wichtige Änderung, denn sie korrigiert eine Annahme, die in den meisten Analysen kollektiver Intentionalität gemacht wird, nämlich die An-
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nahme, dass gemeinsames Beabsichtigen gemeinsames Wissen oder sogar wechselseitige Überzeugung von der Beitragsabsicht verlangt. Für vernünftige Teilnehmende an gemeinsamen absichtlichen Unternehmungen folgen aus den obigen Bedingungen engere Restriktionen. Die folgende Analyse liegt im Ausgang von Tuomelas Analyse nahe: Ein vernünftiges Mitglied Ai eines Kollektivs G wir-beabsichtigt zu x-en, wenn: (1) Ai beabsichtigt, seinen Teil von x zu tun (als seinen Teil von x). (2) Ai optimistisch ist, dass G x-en wird, etwa dass er selbst und die relevanten anderen ihren Teil von x tun werden. (3) Ai optimistisch ist, dass G x-en wird, und keinen Grund für Pessimismus hat; Ai muss nicht annehmen, dass sein Optimismus allgemein geteilt wird oder gar gemeinsames Wissen ist, solange Ai annimmt, dass die pessimistischen und zuversichtslosen Mitglieder beabsichtigen werden zu versuchen, ihren Teil von x zu tun, und ihren Teil von x tun werden. (4) (1) teilweise wegen (2) und (3). Bevor wir diese Analyse einem Test unterwerfen, sollte bemerkt werden, dass wir damit eine extrem gelockerte und schwache Version des Kognitivismus vor uns haben, die keine großen Anforderungen stellt an die Evidenz für die fraglichen kognitiven Haltungen. So ist der Kognitivismus, den wir im Folgenden testen, nicht auf überzeugungsbasierte Ansätze beschränkt, wie sie zum Beispiel von Alonso (2008) kritisiert werden, welcher einen sichverlassensbasierten Ansatz favorisiert. Sogar wenn wir Alonsos eigene Version akzeptieren, oder einen Ansatz, der „Voraussetzungen“ oder „Annahmen“ gegenüber dem Sichverlassen (reliance) bevorzugt, haben wir es immer noch mit Haltungen zu tun, die kognitiv sind. Das bedeutet: Welche Haltung wir auch immer auswählen, sie ist unverträglich mit der Überzeugung, dass das Angenommene,Vorausgesetzte bzw. das, worauf man sich verlässt, keinesfalls gegeben ist.⁵ Und genau das ist die allgemeine kognitivistische These, die ich im Folgenden angreifen möchte.
2 Normativismus Mit sehr wenigen Ausnahmen ist die bisherige Literatur über kollektive Intentionalität auf Beispiele glatt laufender Gemeinschaftshandlungen fixiert, wie z. B.
Alonso (2008, 215) sagt so selbst: „It is a rational requirement that if I rely on you to do X, I lack the belief that you will fail to do it. In other words, what I rely on, if I am rational, has to be consistent with my beliefs“.
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Searles Köche, die eine Sauce Hollandaise zusammen anrühren, oder Raimo Tuomelas Passanten, die gemeinsam einen Wagen anschieben, oder Margaret Gilberts Spaziergänger. Während diese Wahl von Beispielen wohl hilfreich ist, um eine Analyse zu entwickeln, glaube ich, dass es besser ist, Fälle abnormalen oder scheiternden Gemeinschaftshandelns zu fokussieren, um bestehende Analysen zu testen. Die verschiedenen Arten und Weisen, auf welche gemeinsames Handeln zusammenbrechen oder scheitern kann, machen auf wichtige Komponenten funktionierender Kooperation aufmerksam, die an glatt laufenden Fällen kaum auffällig werden und unserer Aufmerksamkeit entgehen. Einer der berühmtesten Fälle scheiternder Kooperation in der Weltliteratur findet sich in Charles Schulz’ Peanuts. Es geht dabei um die Interaktion zwischen Lucy van Pelt und Charlie Brown im Rahmen ihres gemeinsamen Football-Abschusstrainings. Lucy soll als kick-off tee fungieren und den Football aufrecht halten, während Charlies Beitrag darin besteht, einen langen Anlauf zu nehmen und den Football mit aller Kraft zu treten. Stattdessen zieht aber Lucy den Ball im letzten Moment zurück, so dass Charlie ins Leere tritt, einen Rückwärtssalto dreht und elendiglich auf dem Rücken landet. Ich gehe davon aus, dass alle Leserinnen und Leser zumindest mit einer Version dieser scheiternden Gemeinschaftshandlung vertraut sind; aber es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, dass der Autor der Peanuts Charlie ein halbes Jahrhundert lang einmal jährlich ins Leere hat treten lassen, normalerweise in einem Comic-Strip, der im Herbst des jeweiligen Jahres erschien. Somit gibt es in Tat und Wahrheit 50 Variationen derselben Geschichte scheiternder Kooperation (alle Varianten sind in der mehrbändigen Ausgabe The Complete Peanuts publiziert), und dabei sind die Filmversionen davon noch nicht mitgezählt. Meines Wissens handelt es sich hierbei – cum grano salis – um die längste und hartnäckigste, wenn nicht sogar die tiefste und strengste Reflexion über fehlgehende Kooperation in der Weltliteratur, und ich darf bei dieser Gelegenheit meinem Erstaunen darüber Ausdruck geben, dass es in der bisherigen Literatur über gemeinsames Handeln nicht beachtet worden ist. Ich werde die Ansicht vertreten, dass einige sehr wichtige Lektionen über die Struktur von kollektiver Intentionalität und besonders der Art interpersoneller Haltung, die dabei erforderlich ist, von Charlie Browns leicht tragischem Beispiel gelernt werden können. Obwohl es nicht den Anschein macht, als ob Charlie in dem halben Jahrhundert seiner wiederholten Interaktion mit Lucy älter würde, ist doch klar, dass Charlie die Erfahrungen, die er früher gemacht hat, keineswegs vergisst. Trotzdem läuft er immer wieder an. Er zeigt damit ein Ausmaß an Kooperationswilligkeit, das wahrlich erstaunlich oder gar irritierend ist, und welches im Widerspruch steht zu dem, was wir oben das Prinzip des gerechtfertigten Optimismus genannt haben. Aus der Perspektive, die wir gerade entwickelt haben, scheint es, dass etwas mit Charlies Denken und Überlegen nicht stimmt.
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Schauen wir uns das Problem näher an. Erstens: Was beabsichtigt Charlie denn, wenn er einmal mehr anläuft? Seine Reaktion am Ende jeder Runde zeigt klar, dass seine Absicht ist, den Football zu treten, und nicht einfach die Absicht, den Versuch zu machen, den Football zu treten. Zumindest ist das in den meisten Fällen so, und dies wird durch die Tatsache belegt, dass Charlie am Ende, wenn er auf dem Rücken liegt, alle Anzeichen einer Person zeigt, deren Vorhaben gescheitert ist, statt die fatalistische Haltung von jemandem, der genau wusste, was kommen würde, und sich dazu entschieden hat, lieber mit wehenden Fahnen unterzugehen und das Seinige zu tun, obwohl es nicht erfolgreich sein kann. Charlie ist am Ende wirklich enttäuscht, was anzeigt, dass seine Absicht ihre Erfüllungsbedingung nicht erreicht hat. In einer Filmversion des Football-Scherzes nimmt Lucy Charlies Lauf mit der Kamera auf und analysiert die Aufnahme in Zeitlupe, wobei sie besonders den Ausdruck von Entschlossenheit auf Charlies Gesicht hervorhebt: Über die ganze Interaktion hinweg ist es sehr klar, dass Charlie wirklich beabsichtigt, den Ball zu treffen, statt bloß zu versuchen, den Ball zu treffen. In den oben definierten Termini ist sein Versuch, den Ball zu treffen,von der zuversichtlichen statt der zuversichtslosen Art. Als ein vernünftiger Akteur muss er unter Normalbedingungen deshalb – im oben definierten Sinn – optimistisch sein bezüglich seines Erfolgs. Da es seine Absicht ist, den Ball zu treten, und nicht einfach den Versuch zu unternehmen, den Ball zu treten, repräsentiert Charlies Absicht Lucy nach der allgemeinen Ansicht kognitiv als ihren Teil leistend (den Ball aufrecht haltend); oder zumindest ist seine Haltung unverträglich mit der Überzeugung, dass Lucy den Ball nicht festhalten, sondern ihn wegziehen wird. Aber in der ständigen Wiederholung wird doch immer deutlicher, dass Lucy den Ball wegziehen wird. Daher hat Charlie keinen Grund dafür, optimistisch zu sein. Indem er fortgesetzt beabsichtigt, den Ball zu treten, scheint er die Bedingung des hinreichenden Grundes für Optimismus zu verletzen. Da er Grund zur Annahme hat, dass Lucy den Ball wegziehen wird, gibt es keinen hinreichenden Grund für Optimismus bezüglich seiner Erfolgsaussichten beim Versuch, den Ball zu treten. In der so weit entwickelten Sicht, die von den Analysen von John Searle (2010), Raimo Tuomela und Michael Bratman gestützt zu werden scheint, ist etwas strukturell schief mit Charlies Intentionalität. Wenn er bei Trost ist, kann er nicht beabsichtigen, den Ball zu treten. Dieser Analyse zufolge ist Charlie schlicht und einfach tiefgreifend unvernünftig. Ich werde nun für die Ansicht argumentieren, dass dieses harsche Verdikt Charlie nicht gerecht wird. In einem ersten Schritt möchte ich dieses Urteil vor ein Appellationsgericht ziehen, nämlich die vortheoretischen Intuitionen von Alltags-
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menschen. Das werde ich im Rahmen eines kleinen philosophischen Experiments tun. Was denken Leute über den Fall Charlie Brown? Gute Ansatzpunkte sind die zahllosen Peanuts-Fansites im Internet. Sogar eine höchst oberflächliche Studie führt zu einem klaren Resultat. Die meisten Leute denken keineswegs, dass mit Charlie Brown etwas nicht stimmt. Die Leute denken, dass nicht Charlie, sondern Lucy etwas falsch macht: Lucy hat Grund, ihre Haltung zu ändern, nicht Charlie. Die Kommentare zu Charlie Brown sind üblicherweise mit so viel Sympathie und Ermutigung verfasst, dass erklärbar wird, warum Charlies Rückwärtssalto zum populärkulturellen Bestand werden konnte. Während einige Leute denken, dass Charlie schon etwas leichtgläubig ist, wird nie behauptet, dass seine Intentionalität strukturell fehlerhaft sei in dem Sinn, dass er angesichts der verfügbaren Evidenz keinen Grund hätte, den Ball zu treten, oder dass er völlig unvernünftig wäre. Ganz im Gegenteil: Viele Leute denken, dass Charlie niemals aufgeben sollte: „Never ever ever ever give up!“ Wie kommt das? Es folgt eine Überlegung, die zu suggerieren scheint, dass Charlie trotz aller früheren Evidenz immer noch einen hinreichenden Grund hat zu beabsichtigen, den Ball zu treten. Charles Schulz macht überdeutlich, dass in den späteren Runden des Spiels jeweils eine Art Verabredung zwischen Lucy und Charlie zustande kommt; der größte Teil der Geschichte dreht sich jeweils darum, wie es Lucy schafft, Charlies wohlinformierte Einwände zu überwinden und wie es ihr gelingt, ihn zu einer neuen Runde des gemeinsamen Handelns zu überreden. Daher ist die Situation ein paradigmatischer Fall für das kontraktualistische Argument. Die Tatsache, dass eine Vereinbarung zwischen den beiden besteht, schafft einen normativen Grund für beide Beteiligten, den eigenen Beitrag auch zu leisten. Das heißt, dass Lucy den Ball aufrecht halten sollte, während Charlie ihn treten sollte, und dies zumindest im Sinn einer prima facie-Verpflichtung. Die Tatsache, dass er seinen Teil beitragen sollte, liefert Charlie einen vollkommen hinreichenden Grund dafür zu beabsichtigen, seinen Teil zu tun. Daher ist die kognitivistische Behauptung, dass etwas mit Charlies Intentionalität im Argen liegt, falsch, und eigentlich eine Ungerechtigkeit Charlies Kooperationswilligkeit und Pflichtbewusstsein gegenüber.⁶ Da die Vereinbarung zwischen den beiden besteht, repräsentiert Charlies Absicht, seinen Teil zu tun, Lucy als einen normativen Grund habend, den ihrigen zu leisten. So repräsentiert Charlies Absicht Lucy mit einer Welt-an-Geist-Passungsrichtung, und nicht mit einer Geist-an-Welt-
Man könnte vielleicht einwenden, dass Charlies Verpflichtung, seinen Teil zu tun, von Lucys Bereitschaft abhängt, ihren zu tun, so dass es keinen Grund für Charlie gibt, seinen Teil zu tun, weil er keinen Grund zur Annahme hat, dass Lucy ihren tun wird. Aber diese Überlegung verkennt, dass eine Vereinbarung eine gemeinsame Absicht konstituiert, die Absicht eines gemeinsamen Subjekts und nicht der einzelnen Beteiligten ist (Gilbert 1989).
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Passungsrichtung. Aus dieser normativistischen Sicht ist seine Erwartung, dass Lucy den Ball aufrecht halten wird, von der normativen Art, also keine kognitive Erwartung. So kommen wir zum Punkt, an welchem wir die Möglichkeit zu erwägen haben, dass die Struktur von Erwartungen, die zwischen den Beteiligten besteht, aus normativen Erwartungen besteht. Die erste Frage lautet dann natürlich: Was genau ist hier der Unterschied? Normative Erwartungen unterscheiden sich von kognitiven Erwartungen (eigentlich Voraussagen) in ihrer Passungsrichtung, aber damit gehen zwei weitere Unterschiede einher, die erwähnt werden sollten. Erstens: Normative Erwartungen haben einen sehr viel engeren Gegenstandsbereich. Es scheint plausibel zu sagen, dass nur Personen Adressaten normativer Erwartungen sein können.⁷ Tatsächlich scheint es so zu sein, dass das Verständnis eines Wesens als Person gleichbedeutend ist mit dem Verständnis eines Wesens als geeigneter Adressat normativer Erwartungen, d. h. als Wesen, das für normative Gründe zugänglich ist. Einen Akteur als Person aufzufassen, bedeutet, davon auszugehen, dass die Chancen normalerweise einigermaßen gut stehen, dass dieser Akteur tun wird, wovon er selbst ausgeht, dass er es tun sollte. Das wiederum bedeutet: Gerechtfertigte (und akzeptierte) normative Erwartungen bezüglich des Verhaltens eines Akteurs liefern einen Grund für Optimismus. Zweitens: Normative Erwartungen sind rational immun gegen Enttäuschung, d. h., die Enttäuschung einer normativen Erwartung liefert keinen rationalen Grund, diese normative Erwartung in Zukunft aufzugeben.⁸ Das ist im Fall kognitiver Erwartungen anders: Was kognitive Erwartungen anbelangt, muss Enttäuschung der Erwartung angelastet werden, und nicht dem Adressaten der Erwartung (dass z. B. sich das Wetter wider Erwarten als schlecht herausgestellt hat, ist bestimmt nicht ein Fehler des Wetters, sondern ein Fehler der Wettervorhersage). Im Fall normativer Erwartungen liegen die Dinge umgekehrt. Dass Person P nicht ge-φ-t hat, heißt nicht, dass es falsch war und ist, normativ zu erwarten, dass P φ-t. Das bedeutet, dass vergangene Enttäuschungen den Optimismus bezüglich des Verhaltens einer anderen Person nicht per se ungerechtfertigt oder irrational macht. Ganz im Gegenteil: Eine Person, die von anderen Personen nur das nor-
Es ist offensichtlich, dass das unmittelbare Objekt normativer Erwartungen oft ein Gegenstand oder ein Sachverhalt ist, nicht eine Person. Zum Beispiel erwartet ein Hotelgast normativ, dass sein Hotelzimmer aufgeräumt ist, wenn er zurückkehrt von der Stadtbesichtigung. Das ultimative Objekt seiner Erwartung ist dann aber nicht das Zimmer bzw. dessen Zustand, sondern das Hotelpersonal. Das zeigt sich daran, dass sich im Enttäuschungsfall seine Wut nicht gegen die Zimmereinrichtung richtet, sondern gegen das Hotelpersonal. Niklas Luhmann nannte dies die „kontrafaktische Stabilität“ normativer Erwartungen.
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mativ erwartet,wovon sie voraussagt, dass es auch getan werden wird, und die ihre normativen Erwartungen an ihre kognitiven Erwartungen anpasst, ist irrational. Wenn die normativistische Sicht korrekt ist, dann scheint es, dass Charlie trotz seiner jahrzehntelangen enttäuschenden Erfahrung durchaus einen hinreichenden Grund für Optimismus hat. Insofern Charlie gerechtfertigt ist in der Annahme, dass Lucy eine Person ist – dass sie weiß, was sie tun sollte –, und insofern er richtig liegt in der Annahme, dass er eine Vereinbarung mit ihr getroffen hat, d. h. insofern er korrekterweise annimmt, dass sie den Ball aufrecht halten sollte, ist er gerechtfertigt in seinem Optimismus bezüglich ihres Aufrechthaltens des Balls. Wegen der kontrafaktischen Stabilität normativer Erwartungen ist sein Optimismus zudem von der Art, dass er von vergangener gegenteiliger Erfahrung nicht rational unterminiert werden kann. Daher scheint es so zu sein, dass Charlie voll dazu berechtigt ist nicht aufzugeben und die ganze Schuld Lucy trifft. Diese normativistische Sicht entspricht mehr oder weniger Margaret Gilberts Analyse von gemeinsamer Intentionalität und gemeinsamem Handeln. In ihrer Analyse ist es so, dass die Individuen A1…AN dann ein plurales Subjekt des X-ens bilden, wenn A1…AN gemeinsam auf das gemeinsame X-en festgelegt sind. Gemeinsame Festlegungen werden gebildet, wenn jede aus einer Anzahl von Personen implizit oder explizit eine Bereitschaft zur Teilnahme an der gemeinsamen Festlegung ausdrücken.Wenn die gemeinsame Festlegung einmal erfolgt ist, dann ist jedes Individuum individuell dazu verpflichtet, seinen Teil dazu beizutragen, und ist dazu berechtigt, dasselbe von den anderen einzufordern. Allerdings gibt es zwei gewichtige Gründe für Zweifel daran, dass diese normativistische Überlegungslinie dazu geeignet ist, das Charlie Brown-Problem zu lösen. Erstens: Die Behauptung, dass Charlie einen hinreichenden Grund dafür hat, seinen Teil zu erbringen, weil er in einer Vereinbarung mit Lucy steht, verschiebt das Problem nur auf die Frage, ob er einen hinreichenden Grund hat, die Vereinbarung einzugehen. Dieses Problem wird von Charles Schulz in den Peanuts sehr ansprechend aufgenommen, indem Lucy und Charlie oft über Meta-Vereinbarungen diskutieren, etwa in der Form, dass sie zur Vereinbarung kommen, sich künftig an Vereinbarungen zu halten. Mit anderen Worten: Die kontraktualistische Antwort auf diese Frage führt in einen infiniten Regress. Das bedeutet: Wenn es wahr ist, dass es etwas Normatives gibt in der elementaren Beziehung zwischen den Beteiligten an Gemeinschaftshandlungen, dann kann diese Normativität nicht in einer Vereinbarung begründet werden. Eine plausible Behauptung ist es, dass der Begriff des gemeinsamen Ziels fundamentaler ist als der Begriff der Vereinbarung (der ein gemeinsames Ziel, nämlich dasjenige der Verständigung, schon beinhaltet) und dass gemeinsame Ziele auch dann Gründe für normative inter-
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personale Erwartungen sind, wenn diese Ziele nicht in einem irgendwie substantiellen Sinn des Wortes vereinbart wurden. Der zweite Einwand ist schwieriger zu behandeln. Zugegeben, mit der bestehenden Vereinbarung hat Charlie einen guten Grund, seinen Teil zu leisten; aber es ist sehr schwer zu sehen, warum dies darauf hinauslaufen sollte, dass er seinen Teil als seinen Teil beabsichtigen soll. Er mag sich dazu verpflichtet fühlen, das zu tun, wozu er sich verpflichtet hat, aber es ist nicht offensichtlich, warum er dies als einen Teil eines Ganzen verstehen sollte, wenn es doch guten Grund zur Annahme gibt, dass Lucy ihren Teil zwar beitragen sollte, aber eben nicht beitragen wird, so dass es kein Ganzes geben wird,von dem der eigene Beitrag ein Teil sein wird. Wenn diese gegenläufige, wohlbegründete Überzeugung gegeben ist, berechtigt seine normative Erwartung Charlie nur zur Absicht zu versuchen, seinen Teil beizutragen, und nicht zur Absicht, seinen Teil beizutragen (vgl. dazu die Unterscheidung oben). Sofern er fortgesetzt den Ball zu treten versucht (zuversichtliches Versuchen), statt zu beabsichtigen, den Ball zu treten zu versuchen (was eine andere Handlung ist), fehlt ihm selbst der normativistischen Sicht zufolge ein hinreichender Grund. Das bedeutet, dass die normativistische Verteidigung von Charlie Brown gegen den Vorwurf, das Prinzip des hinreichenden Grundes für Optimismus zu verletzen, letztlich scheitert. Der kognitivistische Vorwurf bleibt bestehen. Wenn wir daran festhalten wollen, dass der Vorwurf unfair ist und dass zumindest strukturell nichts falsch ist an Charlies zugegebenermaßen leichtgläubigem Verhalten, werden wir eine andere Verteidigungslinie aufbauen müssen. Wahrscheinlich wollen wir Charlies Kooperativität dabei nicht bis zum Ende verteidigen. Und manchmal wird gesagt: „Fool me once, shame on you; fool me twice, shame on me“, aber das ist eine sehr engherzige, beschränkte Sicht und gewiss kein Postulat der Rationalität. Zumindest im Anfangsstadium werden wir Charlies kooperative Einstellung und die Tatsache, dass er optimistisch versucht, den Ball zu treten, so auffassen wollen, dass er dadurch nicht als unvernünftig dasteht. Ich werde im Folgenden eine Analyse vorschlagen, die dies kann. Mein Ansatz kombiniert die kognitivistische und die normativistische Sicht.
3 Ein affektiver Ansatz Es folgen drei entscheidende Schritte zu einer alternativen Sicht, die mehr Erfolg dabei haben soll, Charlie gegen den Vorwurf zu verteidigen, dass etwas mit seiner Intentionalität nicht stimmt. Der erste Schritt besteht darin, die Analogie zwischen intrapersonaler Koordination bei zeitlich erstrecktem individuellem Handeln und interpersonaler
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Koordination, wie sie im gemeinsamen Handeln vorliegt, zu betrachten (dieser Analogie hat sich u. a. schon Michael Bratmans Analyse gemeinsamen Beabsichtigens bedient). Ich nehme an, dass es plausibel ist, anzunehmen, dass auf der basalen (nicht-verständigungsbasierten) Ebene die Teilnehmenden an gemeinsamem Handeln das Beabsichtigen und Handeln der anderen Teilnehmenden auf dieselbe Art und Weise als willig und fähig repräsentieren, wie individuelle Akteure ihr eigenes zukünftiges Beabsichtigen und Handeln als fortbestehend und möglicherweise erfolgreich repräsentieren, wenn sie eine individuelle Absicht haben. Das bedeutet nicht, zu bestreiten, dass es fundamentale Unterschiede gibt zwischen dem Verhältnis eines Akteurs zu seinem „zukünftigen Selbst“ und seinem Verhältnis zu seinen Partnern in gemeinsamem Handeln – ein Punkt, der in der Diskussion von Derek Parfits Reasons and Persons immer wieder vorgebracht wurde –, aber die Analogie ist stark und direkt genug, um sich ihrer für die Analyse der basalen Struktur des Verhältnisses zwischen Teilnehmenden an Gemeinschaftshandlungen zu bedienen. Der zweite Schritt besteht darin, die Art der Repräsentation der eigenen zukünftigen Absichten und Handlungen im Fall individuellen Beabsichtigens zu untersuchen. Ich stelle hier die These zur Diskussion, dass diese Repräsentation weder rein kognitiv noch rein normativ ist, sondern eine sehr spezielle Kombination der beiden. Es folgt ein intuitives Argument dafür, warum sie nicht rein kognitiv und nicht rein normativ sein kann: Ein Individuum mit rein kognitiven Erwartungen bezüglich des eigenen zukünftigen Beabsichtigens und Verhaltens ist eine Prognostikerin ihres Verhaltens, nicht eine Absichtsträgerin. Und ein Individuum mit einer rein normativen Haltung ihrem zukünftigen Verhalten gegenüber ist eine Richterin oder Evaluatorin ihres Verhaltens, nicht eine Akteurin. Die Art und Weise, wie Absichtsträger auf ihr zukünftiges Verhalten bezogen sind, vereinigt die beiden Rollen (Prognose und Evaluation) auf eine sehr besondere Art und Weise. Der Absichtsträger ist sozusagen das Kind einer Vereinigung des Prognostikers mit der Evaluatorin. Beim individuellen Beabsichtigen sind Kognition (Prognose) und normative Erwartung (normatives Urteil) so miteinander verbunden, dass der Akteur annimmt, zur Annahme berechtigt zu sein, dass er den beabsichtigten Handlungsgang in Zukunft (bis zum Erreichen des beabsichtigten Ziels) weiter verfolgen wird. Dies ist der Fall, weil seine gegenwärtige Absicht ihn als so handelnd repräsentiert, und weil diese Repräsentation ihm in Zukunft einen (weiteren) motivierenden und rechtfertigenden Grund geben wird, so zu handeln. Die gegenwärtige Repräsentation macht es also zugleich wahrscheinlicher und rechtfertigt normativ, dass der Akteur auch tatsächlich so handelt.⁹
Man kann das als bootstrapping kritisieren. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Vorwurf um
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Im Kern ist das recht trivial.Wer auch immer eine zeitlich erstreckte Handlung beabsichtigt, geht davon aus, dass sie oder er jetzt in Sachen ihres oder seines zukünftigen Verhaltens etwas zu sagen hat. Aber der Teufel steckt im Detail, d. h. in der Frage, wie normative und kognitive Erwartungen dabei genau zusammenspielen. Ich gehe davon aus, dass die Weise, in der ein Absichtsträger von seiner gegenwärtigen Absicht annimmt, dass sie in Zukunft einen Unterschied machen wird, so geartet ist, dass er implizit denkt, dass die Ausführungswahrscheinlichkeit dadurch erhöht wird, dass ihm die gegenwärtige Absicht in Zukunft einen motivierenden und rechtfertigenden Grund liefert, sich entsprechend zu engagieren. Die Art von Repräsentation, die das leistet, und die Art von Haltung, die gegenwärtige Entscheidungen für rational und motivational autoritativ hält bezüglich der Zukunft, ist eine Version von Selbstvertrauen. Der dritte und letzte Schritt besteht darin, die Analogie zwischen zeitlich erstreckter individueller Handlung und sozial erstreckter (gemeinsamer) Handlung zu gebrauchen. Interpersonales Vertrauen (zumindest jene besondere Art, von der hier die Rede ist) funktioniert beim gemeinsamen Handeln auf dieselbe Weise wie Selbstvertrauen im individuellen Handeln. Die basale Haltung eines Kooperateurs gegenüber seinen Partnern ist so, dass er (implizit) annimmt, dass er dadurch, dass er die anderen als ihren Teil tuend repräsentiert, es wahrscheinlicher macht, dass die anderen auch tatsächlich so handeln, weil er davon ausgeht, dass diese Repräsentation die anderen mit einem motivationalen und rationalen Grund versorgt, so zu handeln. Wir können das in Anlehnung an Philip Pettit „Power of Trust“ nennen. Die Macht des Vertrauens liegt in der teilweise selbsterfüllenden Natur dieser Haltung: Der Adressat des Vertrauens wird teilweise dadurch motiviert werden zu tun, was von ihm erwartet wird, dass ihm vertraut wird. Bezüglich der Frage, warum denn ein Adressat der Macht des Vertrauens anheimfallen sollte, statt sich einfach nicht darum zu kümmern, ob ihr oder ihm vertraut wird, scheinen zwei Faktoren eine komplementäre Rolle zu spielen: Empfänglichkeit für Gründe und „trust-responsiveness“ (vgl. Pettit 2004). Die Gründeempfänglichkeit einer Person bedeutet, dass sie dazu disponiert ist, von normativen Gründen motiviert zu werden. Es mag scheinen, dass das irrelevant ist für die Reaktion einer Person auf Vertrauen, denn es ist klar, dass aus der Perspektive der Adressatin nicht jeder Fall von Vertrauen einen normativen Grund liefert, entsprechend zu handeln; manche Leute überdehnen die Ansprüche an jeden Preis vermieden werden sollte. Falls dieser Vorwurf doch gewichtiger sein sollte, als ich es zu sehen vermag, könnte man immer noch auf den Wert von Konstanz rekurrieren. Für diesen könnte man auch pragmatisch argumentieren, insofern er die die Reichweite unserer Ziele beträchtlich erhöht.
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andere und vertrauen ihnen in Dingen, zu welchen diese wirklich nicht im geringsten verpflichtet sind. Daher scheint es, dass die Frage, ob es einen normativen Grund für ein Handeln gibt, nicht davon abhängig ist, ob man Adressat von Vertrauen ist. Für sich selbst liefert Vertrauen keinen normativen oder rechtfertigenden Handlungsgrund. Ich denke jedoch, dass das unplausibel ist – zumindest in einer Gesellschaft, in der man annehmen kann, dass das Vertrauen einer Person in den meisten Fällen eine sinnvolle Interpretation der Art und Weise ist, in der ihr eigenes Leben von anderen Personen abhängig ist. Wir hängen auf fundamentale Art und Weise voneinander ab, und deshalb ist unsere Vertrauenshaltung ethisch durchaus nicht neutral. Unter solchen Bedingungen muss dem Vertrauen anderer Personen vertraut werden, und daher gibt es durchaus einen rechtfertigenden Grund für entsprechendes Verhalten; dann noch die Frage zu stellen, ob das Vertrauen des Vertrauenssubjekts denn auch gerechtfertigt sei, wäre eine Suche nach einem „reason too many“. Unter diesen Bedingungen liefert Vertrauen zumindest eine rechtfertigende prima facie-Begründung. Während Gründeempfänglichkeit konstant und fast universal ist, ist sie doch ein psychologisch sehr schwacher Faktor. Die Macht des Vertrauens beruht auch auf einem zweiten Pfeiler, der motivational stärker ist, auch wenn er etwas weniger vernünftig scheinen mag. „Trust-responsiveness“ ist die Disposition von Vertrauensadressaten, durch die psychologische Belohnung motiviert zu werden, die darin liegt, eine Vertrauensperson zu sein. Diese psychologische Belohnung ist ein wichtiger Bestandteil interpersonellen Vertrauens, wie Philip Pettit (2004) gezeigt hat. Leute mögen es, für vertrauenswürdig gehalten zu werden, und diese Tatsache spielt eine wichtige Rolle in der Erklärung dafür, warum ihnen vertraut werden kann – jemandes Vertrauen zu missbrauchen, führt zu einem Verlust an Vertrauenswürdigkeit, und das wollen Leute in der Regel vermeiden). Auf die Frage, warum Leute es mögen, wenn ihnen vertraut wird, sind viele Antworten denkbar. Wenn uns vertraut wird, dann bedeutet das, dass wir als Person betrachtet werden, deren Einstellungen und Taten eine gewisse Bedeutung haben und deren Status und Reputation so ist, dass sie in Dingen, die für andere wichtig sind, etwas zu sagen haben. Vielleicht spielt auch die simple Tatsache eine Rolle, dass wir dadurch, dass uns vertraut wird, als „jemand von uns“ anerkannt werden, d. h. als Wesen, das für normative Gründe zugänglich ist. Es könnte möglich sein, dass die Macht des Vertrauens in einigen Fällen bloß über „trust-responsiveness“ läuft, ohne dass dabei die Gründeempfänglichkeit eine Rolle spielt. Umgekehrt kann man sich eine Person vorstellen, die es überhaupt nicht mag, wenn ihr vertraut wird, weil sie denkt, dass sie das Vertrauen anderer mit Ansprüchen dieser anderen konfrontiert, denen sie nicht entsprechen möchte, weil sie gerne solitär lebt. Sogar solch einer Person kann man vertrauen,
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solange sie gründeempfänglich ist.¹⁰ Aber im normalen Fall scheinen Gründeempfänglichkeit und „trust-responsiveness“ so zusammenzuarbeiten, dass dadurch die Macht des Vertrauens etabliert wird. Die Frage, wie genau sie ineinandergreifen oder isoliert voneinander bestehen können, ist natürlich auch eine empirische Frage. Ein philosophischer Punkt, der hier markiert werden muss, ist hingegen der folgende: Da die Macht des Vertrauens bedeutet, dass Vertrauen eine teilweise selbsterfüllende Haltung ist, sind die Grenzen rationalen Vertrauens sehr schwer oder gar unmöglich zu bestimmen, denn es kann per definitionem keine Kriterien geben, die unabhängig von der entsprechenden Haltung sind. Unter welchen Bedingungen kann davon ausgegangen werden, dass Vertrauen wirksam sein wird? Simples Schließen aus vergangener Erfahrung scheint mit der Natur des Vertrauens unverträglich und zeigt ein fundamentales Missverständnis der Wirkweise von Vertrauen. Negative vergangene Erfahrung macht Vertrauen nicht irrational. Ganz im Gegenteil: Vergangene Fälle enttäuschten Vertrauens können eine gute Gelegenheit für die Macht des Vertrauens bieten. Vor dem Hintergrund vergangenen Verrats mag man eine mutige Vertrauenshaltung für besonders wirksam halten. Man stelle sich vor, einer Versuchung nachgegeben und das Vertrauen einer Person enttäuscht zu haben; nun begegnet man dieser Person wieder, aber sie rächt sich nicht, sondern vertraut uns noch einmal: Dies kann einen besonders starken psychologischen Effekt haben, denn man fühlt sich nun ganz besonders schuldig und dazu motiviert, das Vertrauen diesmal nicht zu enttäuschen. Nennen wir das den „Wagemut des Sichverlassens aufs Vertrauen“. Man kann nicht sagen, wann Vertrauen vom Wagemut zur Blindheit umschlägt und von der Blindheit in Stupidität. Ein ziemlich übertriebenes Beispiel dafür ist Charlie Browns Fall, und es ist schwierig zu sagen, zu welchem Zeitpunkt seiner Entwicklung man welches Verdikt sprechen sollte. Wahrscheinlich ist das eigentliche Rätsel an der Interaktion zwischen Charlie und Lucy nicht so sehr, wie Charlie so wagemutig oder ignorant sein konnte, bei seiner vertrauenden Haltung zu bleiben. Die Frage ist wohl vielmehr, wie Lucy so unempfänglich hat sein können für die Macht von Charlies zunehmend wagemutigem Vertrauen über ein halbes Jahrhundert hinweg.¹¹
Tatsächlich kann man sich vorstellen, dass eine Person, die besonders gründeempfänglich ist, auf der psychologisch-motivationalen Ebene gegenüber dem Vertrauen anderer besonders negativ eingestellt ist; ihre Gründeempfänglichkeit wird sie besonders sensitiv machen bezüglich der Verpflichtungen, welchen sie das Vertrauen anderer unterstellt. In der letzten Runde des Football-Spiels, die ein Jahr vor Charles Schulz’ Tod publiziert wurde, wird Lucy von ihrer Mutter nach Hause gerufen, und sie instruiert Linus, ihre Rolle zu
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Bevor wir zu einem abschließenden Versuch kommen, das Charlie BrownRätsel zu lösen, muss noch erklärt werden, warum diese Art von Vertrauen eine affektive Haltung genannt werden soll. Dies mag etwas rätselhaft erscheinen, weil diese Haltung eine doppelte Passungsrichtung zu haben scheint, die für Akzeptanz oder vielleicht Deklaration charakteristisch ist, wohingegen affektive (oder emotionale) Haltungen zumindest in John Searles Sicht keine Passungsrichtung haben. Alles, was ich an dieser Stelle tun kann, ist, einige Charakteristika affektiver Einstellungen aufzuzählen, die alle von dem Typ Vertrauen, der oben herausgestellt wurde, geteilt werden. Dies ist zumindest ein Indiz dafür, dass die in Frage stehende Haltung tatsächlich eine affektive Haltung sein könnte. Erstens hat dieses Vertrauen, wie alle Emotionen, wichtige phänomenale Aspekte. Basales interpersonales Vertrauen ist der „sense of interconnectedness“, der ominöse „sense of community“, von dem Searle am Ende seines wichtigen Aufsatzes von 1990 spricht, das „Wir-Gefühl“ im Hintergrund kollektiver Intentionalität. Die eine große Enttäuschung in der Entwicklung von Searles Nachdenken über kollektive Intentionalität liegt darin, dass er über dieses Thema später nicht mehr nachgedacht hat und diesen Ansatz zugunsten eines enger kognitivistisch konturierten Ansatzes aufgegeben hat. Zweitens beinhaltet Vertrauen sowohl Kognitionen als auch Handlungstendenzen, ganz so, wie es für affektive Zustände typisch ist. Jene Art von Vertrauen, die im Hintergrund von kollektiver Intentionalität wirksam ist, beinhaltet epistemische und normative Haltungen und disponiert das Subjekt dazu, sich in gemeinsamem Handeln zu engagieren. Drittens sind manche der Schwierigkeiten, die Rationalitätserfordernisse von Vertrauen zu bestimmen, von derselben Art wie bei jeder affektiven Haltung. Wenigstens ein wenig mehr sollte über die vierte und letzte Gemeinsamkeit zwischen dieser Art von Vertrauen und anderen affektiven Einstellungen gesagt werden. David Hume hat beobachtet, dass unsere affektiven Einstellungen üblicherweise durch Gründe informiert und dafür empfänglich sind. Normalerweise verschwindet die Furcht einer Person, wenn sie erfährt, dass es nichts zu befürchten gibt. Aber einige affektive Zustände sind für die Kognition nicht zugänglich: Es geschieht einer großen Zahl ansonsten rationaler Personen, dass sie sich in großer Höhe fürchten, obwohl sie wissen, dass sie ganz sicher und in keiner Gefahr sind herunterzufallen (vgl. Hume, A Treatise of Human Nature, 1.3.13.10; SBN 148). Dieses ziemlich seltsame Merkmal mancher affektiver Einstellungen wird normalerweise „emotionale Widerspenstigkeit“ (emotional recalcitrance)
übernehmen. Wir erfahren aber nicht, ob Charlie es am Ende doch noch geschafft hat, den Ball zu treten.
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genannt, und Karen Jones (1996) hat festgestellt, dass dies auch im Fall von Vertrauen geschehen kann, nämlich wenn eine Person herausfindet, dass sie einer Person vertraut, obwohl sie weiß, dass es dafür keinen Grund gibt und die Person sie gewiss enttäuschen wird. Dies eröffnet eine weitere Interpretation des Falls von Charlie Brown. Das schwierige Problem ist, ob sein unglaubliches Vertrauen nun ein beeindruckender (wenn auch letztlich scheiternder) Fall wagemutigen Vertrauens war – oder schlicht und einfach ein Fall emotionaler Widerspenstigkeit. Was Charlie beabsichtigt, ist zu versuchen, mit Lucy gemeinsam zu handeln; seine Absicht ist nicht, mit Lucy gemeinsam zu handeln, sondern vielmehr, den Versuch dazu zu unternehmen. Zu versuchen, gemeinsam mit Lucy zu handeln, bedeutet, das zu tun, was notwendig ist, um mit Lucy gemeinsam zu handeln, ohne dabei optimistisch zu sein bezüglich des Resultats. Da gemeinsames Handeln Vertrauen voraussetzt, muss Charlie Lucy vertrauen, damit er dazu fähig ist, zu versuchen, mit ihr gemeinsam zu handeln. Daher ist es eine Bedingung dafür, dass er beabsichtigt, zu versuchen, mit Lucy gemeinsam zu handeln, dass er optimistisch versucht, den Ball zu treten – er kann nicht einfach nur pessimistisch beabsichtigen, den Versuch zu machen, den Ball zu treten, da diese Haltung Lucy nicht als ihren Teil tuend repäsentiert und damit nicht die Macht des Vertrauens hätte. Um also ein richtiger Beabsichtiger des Versuchs zu sein, gemeinsam zu handeln, muss er unter den gegebenen Umständen als ein unvernünftiger Teilnehmender an der Kooperation erscheinen. Was als Defizit seiner Haltung erscheint, ist in Tat und Wahrheit eine notwendige Bedingung seiner Absicht. Dagegen könnte man nun einwenden, dass dies auf ein Toxin-Rätsel hinausläuft (Kavka 1983).¹² Kavkas Toxin-Rätsel zeigt – m. E. überzeugend –, dass es nicht möglich ist, eine Absicht zu bilden, wenn es keinen Grund für die beabsichtigte Handlung gibt, und es scheint, dass genau dies geschieht, wenn man Charlie so interpretiert, wie ich es vorgeschlagen habe. Schließlich bildet er ja die Absicht, den Ball zuversichtlich zu treten zu versuchen, weil er unzuversichtlich versucht, mit Lucy gemeinsam zu handeln, und das erinnert an die Person, die den Versucht machen will, eine Absicht zu bilden, obwohl sie zur beabsichtigten Handlung keinen Grund hat, sondern nur für das Beabsichtigen dieser Handlung (in Kavkas Fall: das Trinken einer Übelkeit verursachenden Substanz). Aber ich glaube nicht, dass Charlies Fall in meiner Interpretation zum Toxin-Fall wird. Der Unterschied zwischen dem Toxin-Fall und Charlies Fall liegt in der Beziehung zwischen der Absicht und dem Ziel (in Kavkas Fall: der Belohnung für das Haben der Absicht). In Charlies Fall ist die zuversichtliche (und unvernünftige) Absicht, den Ball zu treten, das konstitutive Mittel, um im Vertrauen auf die Macht des
Ich bin Herlinde Pauer-Studer dankbar für diesen Hinweis.
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Vertrauens das Ziel zu erreichen, gemeinsam zu handeln. Denn gemeinsam zu handeln bedeutet für den Beteiligten nichts anderes als seinen Teil mit Zuversicht zu tun. Somit ist Charlies Fall näher an einem Fall gelegen, in dem der Plan eines Akteurs sich über eine Phase erstreckt, von der der Akteur schon im Vorhinein weiß, dass er unabhängig vom Plan keinen hinreichenden Grund haben wird, das Geplante zu tun. Dieser Fall ist aber vom Toxin-Fall zu unterscheiden. Ich habe in diesem Aufsatz die Meinung vertreten, dass die fundamentale Art, auf welche die Absichten anderer Leute in den Absichten der Teilnehmenden an gemeinsamen Absichten repräsentiert sind, nicht bloß jene einer Überzeugung, einer Voraussage, eines Sichverlassens, einer Voraussetzung oder einer anderen kognitiven Haltung ist, wie es die meisten Philosophen der kollektiven Intentionalität behaupten. Die kognitivistische Sicht verstrickt sich in Probleme, wenn wir das bedenken,was wir das Charlie Brown-Phänomen nennen können, nämlich die Möglichkeit, sich auch dann in gemeinsamen Handlungen zu engagieren, wenn es überwiegende Evidenz gibt, dass die anderen ihren Teil nicht beitragen werden. Ich habe weiter argumentiert, dass die normativistische Sicht zwar für dieses Phänomen etwas zugänglicher ist, dass das Charlie Brown-Problem so aber auch nicht gelöst werden kann. Ich habe einen dritten Ansatz vorgeschlagen, der normative und kognitive Elemente so kombiniert, dass die Absicht jedes Teilnehmers die Absichten der anderen kognitiv und normativ repräsentiert, und zwar so, dass die anderen als durch diese Repräsentation mit einer Motivation und einem normativen Grund versorgt repräsentiert werden (die Macht des Vertrauens). Damit können wir das Charlie Brown-Problem lösen, wenn wir Charlie nicht nur als den Beabsichtiger des Tretens des Balls, sondern auch als Beabsichtiger des Versuchs betrachten, ein gelingendes gemeinsames Handeln zu initiieren.
Vertrauen im Gemeinschaftshandeln
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Guido Löhrer
Geben und Nehmen Teleologische Erklärungen gemeinsamen Handelns
1 Einleitung Manchmal tun wir etwas allein, und manchmal tun wir etwas zusammen, was wir zur Not oder bei gesteigerten individuellen Fähigkeiten auch allein tun könnten. Jemand kann ein Haus allein anstreichen, und wer kräftig und geschickt genug ist, kann ein Auto allein anschieben und zum Starten bringen, wenn auch beides mit vereinten Kräften rascher, bequemer und bisweilen vergnüglicher geschieht (siehe Bratman 1992, 93 f.; Searle 1990, 91 f.; 2010, 52). Manchmal aber führen wir Handlungen gemeinsam aus, die erstens von einer Einzelperson selbst bei beliebiger Erweiterung ihrer individuellen Fähigkeiten prinzipiell nicht allein ausgeführt werden könnten und für die es zweitens konstitutiv ist, dass unsere Teilhandlungen einander in abgestimmter Form ergänzen und beenden. Nicht nur Küssen kann man, in diesem Sinn verstanden, nicht alleine.¹ Es ist auch unmöglich, eine Vereinbarung durch Handschlag zu besiegeln, wenn kein Anderer einschlägt. Niemand kann im eigentlichen Sinn etwas kaufen, wenn ein Anderer es ihm nicht verkauft, und vice versa. Und selbst wer sämtliche Musikinstrumente zugleich spielen könnte, wäre außerstande, ernsthaft Kammermusik zu machen. Denn das Ensemblespiel lebt davon, dass verschiedene Musiker aufeinander hören und reagieren. Betrachten wir die zuletzt genannten Beispiele und ähnlich beschaffene Fälle als Spezimina gemeinsamen Handelns, sind wir auf der sicheren Seite. In einem kategorialen Sinn verstanden, handelt es sich um Fälle des Gebens und Nehmens. Gemeinsames Handeln dieser Art gibt es nur, wenn die Teilhandlungen einander in abgestimmter Form ergänzen und beenden. Keine der Teilhandlungen kann ohne die andere das sein, was sie ist, so wie ein Geben nicht ohne das Nehmen zustande kommt, und ein Nehmen nicht ohne das Geben.²
Vgl. den Songtitel von Annette Humpe und Max Raabe, Küssen Kann Man Nicht Alleine, Berlin 2011. Formal betrachtet kann darum Geben nicht seliger sein als Nehmen (vgl. dagegen Apostelgeschichte 20,35). – Die genannten Fälle gemeinsamen Handelns dürften auch zweifelsfrei Fälle sozialen Handelns sein. Sie schließen nicht nur kooperatives, sondern auch agonales soziales Verhalten ein. Niemand kann sich duellieren ohne die partiell abgestimmten Aktionen eines
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Wenn wir Handlungen erklären, wollen wir uns vergewissern, dass die beteiligten Akteure überhaupt gehandelt haben, und wissen, warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Dazu bedienen wir uns in der Regel eines alltagspsychologischen Vokabulars. Mit seiner Hilfe begreifen wir uns als Akteure, die aus Gründen handeln, die Ziele verfolgen und Vorhaben realisieren, an denen ihnen etwas liegt, und die für ihr Tun verantwortlich sind. Solche Erklärungen besitzen oftmals eine teleologische Form. Teleologische Handlungserklärungen durch Gründe erklären eine Handlung, indem sie das Ziel angeben, auf das die Akteure ihr Verhalten gerichtet haben. In ihrer kanonischen Gestalt führen sie die beteiligten Akteure, deren Verhalten, ein teleologisches Konnektiv („um zu“) sowie das Ziel an, auf das die Akteure ihr Verhalten gerichtet haben (vgl. Sehon 2010, 121; 2013a, 735). Sagen wir Lukas und Jim reichten einander die Hände, um ihre Vereinbarung zu besiegeln, dann meint dies, dass die Akteure Lukas und Jim ihr Verhalten, d. h. ihr jeweiliges Handreichen, in aufeinander abgestimmter Weise auf einen Zustand ausgerichtet haben, in dem ihre Vereinbarung besiegelt ist. Mitunter sehen Erklärungen durch Gründe jedoch anders aus. Sagen wir Lukas und Jim reichten einander die Hände, weil sie die Absicht hatten, ihre Vereinbarung zu besiegeln, dann scheint es, als erklärten wir die Handlung mittels eines ihr vorausgehenden mentalen Zustands, nämlich einer Intention. Kausalisten vertreten die Auffassung, dass alltagspsychologische Handlungserklärungen durch Gründe eine Spezies der Gattung Kausalerklärung sind.³ Denn nur Kausalerklärungen vermöchten die andernfalls mysteriöse Beziehung zwischen Grund und Handlung begreiflich zu machen (vgl. Davidson 1963, 3, 9, 11; Mele 2013, 169 f.). Kausalerklärungen erklären eine Handlung, indem sie den Grund angeben, der (bzw. dessen neuronale Realisierung) die Handlung verursacht hat. Gemäß der intentionalen Spielart dieses Ansatzes sind Gründe Intentionen. Intentionen wird dabei sowohl eine kausale als auch eine erklärende Rolle zugedacht (vgl.Velleman 1997,
weiteren Duellanten. Searle (1990, 103 f.) spricht in diesem Zusammenhang von einer Form von Kooperation höherer Ordnung. Vgl. auch Baltzer 1999, 17, 67 f. und Kap. 4.5. Für sich genommen ist das ‚weil‘ allerdings noch kein Indikator für eine Kausalrelation. Es kann wie in ‚Das konditionale Argument ist ungültig, weil das Antecedens verneint wird‘ offenbar non-kausal gebraucht werden. Wir haben es hier mit einer Rechtfertigungsbeziehung zu tun und behaupten nicht, die Verneinung des Antecedens verursache die Ungültigkeit. Vgl. auch die Beispiele in Child 1994, 91 f. Vgl. dagegen McLaughlin 2013, 108 f. und 113.
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32 f.), und man sagt, dass sie eine erklärende Rolle einnehmen, weil sie eine kausale Rolle besitzen. Gemeinsam Handelnden wird dazu die eine oder andere Art eines Wir-Beabsichtigens zugeschrieben, das ihr gemeinsames Handeln und dessen Teilhandlungen verursacht und erklärt.⁴ Intentionen dieser Art unterscheiden gemeinsames Handeln von einer bloßen Aggregation individueller Handlungen und helfen, die Ziele konzertierter Aktionen von den voraussehbaren, aber nicht intendierten Folgen solcher Handlungen abzugrenzen.⁵ Seit in den 1980er Jahren eine intensive Beschäftigung mit der Erklärung gemeinsamer Handlungen einsetzte (vgl. Bratman 1987; Tuomela/Miller 1988), wird die Diskussion von kausalistischen Ansätzen beherrscht, so wie sie seit Davidsons bahnbrechender Arbeit „Actions, Reasons, and Causes“ (1963) auch die Debatte über die Erklärung individuellen Handelns bestimmen. Ansätze dieser Art dominieren die Debatte zwar,⁶ doch sind sie mit einer Reihe gravierender Schwierigkeiten konfrontiert. Schwierigkeiten einer ersten Sorte betreffen sowohl die Frage, wer Akteur gemeinsamer Handlungen und Subjekt von Wir-Intentionen ist, als auch das Problem, ob in der Ordnung der Erklärungen und Ursachen WirIntentionen oder aber Einzel-Intentionen prioritär sind (vgl. Pettit/Schweikard 2006, §§ 3 – 5, und Bratman 1997, 143).⁷ Probleme einer zweiten Sorte rütteln an der
Searle 1990, 102: „The real distinction between the singular and the collective case is in the type of intention involved […]. [In the structure of collective action] it is an achieve-collective Bby-means-of-singular-A type of i.a. [intention-in-action]“. Für das gemeinsame Anrühren einer Sauce sieht das wie folgt aus: „i.a. collective B by means of singular A (this i.a. causes: A stirred, causes B mixed)“ (ebd.). Vgl. auch Velleman 1997, 45 und 47 f., und die Searle-kritische Position von Pettit/Schweikard 2006, 31 f. Vgl. den von Searle (1990, 92) diskutierten Fall einer Anzahl von Parkbesuchern, die vor einem Regenschauer Zuflucht unter einem zentralen Unterstand suchen – im Unterschied zu einer choreographischen Inszenierung derselben Bewegungen. Vgl. Searle 2010, 22, über die makroökonomischen Auswirkungen mikroökonomischer Aktivitäten der Teilnehmer am Markt. Vgl. u. a. die in Schmid/Schweikard 2009 versammelten Beiträge und Bratman 2006, 25 – 27. So ist erstens strittig, wie die Intentionen der einzelnen Akteure mit der Absicht zusammenhängen, die im Ganzen verfolgt wird. Zweitens ist fraglich, ob einzelne Akteure mehr beabsichtigen können als das, was jeweils in ihrer Macht steht, nämlich auch die in einer WirIntention eingeschlossenen Teilhandlungen der anderen Akteure. Weiterhin steht drittens das Problem im Raum, ob eine kollektive Absicht auf die Summe oder ein Ensemble von Intentionen der einzelnen Akteure reduziert werden kann (vgl. Bratman 1993, 129) oder ob und in welchem Sinn sich gerechtfertigter Weise von der Absicht einer kollektiven Entität sprechen lässt. Schließlich ist viertens klärungsbedürftig, wie diese Intentionen das gemeinsame Handeln verursachen. Wenn Absichten mentale Zustände sind, die in neuronalen Zuständen realisiert sind, gibt es dann neben den mentalen Zuständen der einzelnen Akteure noch einen Gruppengeist mit einem kausal wirksamen kollektiven neuronalen Zustand?
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These, dass Intentionen sowohl eine kausale als auch eine Erklärungsrolle besitzen. Kausale Theorien gemeinsamer Handlungen werden von vergleichbaren Schwierigkeiten verfolgt wie kausale Erklärungen von Einzelhandlungen. Hier steht das Problem der sogenannten abweichenden Kausalketten ebenso im Raum wie die Aufgabe, Erklärungen des Verhaltens konzertiert Handelnder von bloßen Rechtfertigungen ihres Tuns zu unterscheiden. Zwar sind sich Kausalisten sicher, bei Letzterem einen Trumpf in der Hand zu haben. Doch erweist sich ihr Punkt bei näherem Hinsehen als weit weniger stark als vermeint. Während Fragen der ersten Sorte seit Beginn der Debatte ausgiebig und intensiv diskutiert wurden (siehe auch Roth 2010, §§ 3 und 5), haben die besonderen Probleme, die sich dem kausalen Ansatz bei der Erklärung gemeinsamer Handlungen stellen, weniger Beachtung gefunden. Ungelöste Schwierigkeiten der zuletzt genannten Art sind mir Anlass genug, für eine alternative Auffassung zu plädieren: Gemeinsames Handeln wird am besten teleologisch erklärt. Wenn dieser Ansatz die Schwierigkeiten, in die sich intentionalistische und kausalistische Theorien verstricken, umgeht, ist dies ein guter Grund, diese Alternative ernst zu nehmen. Im Folgenden werde ich zunächst kausale Erklärungen gemeinsamen Handelns darlegen (2) und kritisch in Augenschein nehmen (3) und anschließend einen teleologischen Erklärungsansatz in seinen Grundzügen entwickeln (4) und verteidigen (5). Zuletzt rekapituliere ich die Hauptpunkte meiner Argumentation (6).
2 Kausale Erklärungen gemeinsamen Handelns Wie J. David Velleman es sieht, verlangt gemeinsames Handeln das Teilen von Absichten, die bei geeigneter Koordination die gemeinsame Handlung verursachen. Um dies darzustellen, importiert er Elemente einer kausalen Theorie individuellen Handelns in eine kausale Theorie gemeinsamen Handelns und passt sie ihr an.⁸ Abweichungen gibt es in mindestens zwei Punkten. Erstens werden Sätze über gemeinschaftlich ausgeführte Handlungen, anders als in der Theorie individuellen Handelns, nicht in der dritten, sondern in der ersten und zweiten Person formuliert. Zweitens atmen sie nicht länger das, was Davidson (1963, 16) die ex-
Chant 2011, 258: „[M]ost analyses of collective action depend on an assumption that the behavior of groups can be understood by employing an analogy to explanations of the behavior of individuals.“
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post-facto-Atmosphäre von Erklärung und Rechtfertigung genannt hat, sondern nennen die explanatorischen und kausalen Antecedens-Bedingungen der intentionalen Handlung im Präsens oder im Futur. In der Nachfolge Searles wird den Intentionen eine Doppelrolle zugedacht. Zum einen repräsentieren sie ein Ziel samt dem Verhalten, das die Verwirklichung dieses Ziels verursachen soll. Dies ist die Rolle, die der Intention qua Gehalt, d. h. dem Intendierten zukommt. Zum anderen verursachen sie dasjenige Verhalten, welches das repräsentierte Ziel verwirklichen soll. Diese Rolle kommt der Intention qua propositionaler Einstellung zum repräsentierten Gehalt zu bzw. qua Ereignis der Ausbildung einer solchen Einstellung. Nach dieser Auffassung verursachen Intentionen ein zielgerichtetes Verhalten dadurch, dass sie sich selbst als dieses Verhalten verursachend repräsentieren (vgl. Searle 1983, 408 f., und Velleman 1997, 36). Searle folgend gebraucht Velleman darum auch den Ausdruck attitude mehrdeutig, nämlich zum einen als Bezeichnung für eine Einstellung zu einem Gehalt und zum anderen als Bezeichnung für den Gehalt einer solchen Einstellung.⁹ Handeln nun verschiedene Akteure gemeinsam, repräsentiert sich die Intention eines jeden beteiligten Akteurs als das zielgerichtete Verhalten dieses Akteurs verursachend unter der Bedingung, dass sein Gegenüber sein eigenes Verhalten ebenso sub conditione als verursachend repräsentiert (und vice versa). Die Ursachen sind interdependent und werden als interdependent repräsentiert. Jeder der Akteure intendiert unter der Bedingung, dass die anderen Akteure ebenfalls konditional intendieren. Auf ein Geben und Nehmen übertragen, müsste es dann heißen: Meine Intention zu geben repräsentiert sich als mein Geben verursachend nur vor dem Hintergrund deiner Intention zu nehmen, während deine Intention zu nehmen sich nur vor dem Hintergrund meiner Intention zu geben als eine dein Nehmen verursachende Intention repräsentiert (vgl.Velleman 1997, 48). Philip Pettit und David Schweikard haben einem nah verwandten Ansatz eine präzisere Gestalt in Form jeweils notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen für eine gemeinsame Handlung gegeben:
Velleman 1997, 32 f.: „Your intentions, so defined, are the attitudes that resolve deliberative questions […]. That is, the presence of this attitude will cause the issue to turn out one way rather than another, thus resolving it in fact; while the attitude will also represent the issue as turning out one way rather than another […]. This issue-resolving attitude is an intention, in the usage that I have now adopted.“
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A number of people in a plurality perform a joint action in enacting a certain performance together only if 1. they each intend that they enact the performance; 2. they each intend to do their bit in this performance; 3. they each believe that others intend to do their bit; and 4. they each intend to do their bit because of believing this […] 5. they each believe in common that the other clauses hold (Pettit/Schweikard 2006, 23 f.; vgl. Bratman 1992, 98 – 103).¹⁰ Demzufolge handeln Lukas und Jim bei der Besiegelung ihrer Vereinbarung dann und nur dann gemeinsam, wenn 1. Lukas und Jim jeweils beabsichtigen, dass sie ihre Vereinbarung besiegeln; und 2. beide jeweils beabsichtigen, ihren Beitrag zur Besiegelung ihrer Vereinbarung durch Handschlag beizusteuern; und 3. beide jeweils glauben, der Andere intendiere ebenfalls seinen Beitrag zur Besiegelung ihrer Vereinbarung durch Handschlag beizusteuern; und 4. beide jeweils beabsichtigen, ihren Beitrag durch Handschlag beizusteuern, weil sie glauben, der Andere beabsichtige ebenfalls, seinen Beitrag durch Handschlag beizusteuern; und 5. beide jeweils gemeinsam glauben, dass die übrigen Bedingungen erfüllt sind. Die genannten Bedingungen geben die Gründe für das gemeinsame Handeln an. Nach kausalistischer Auffassung beantworten sie in expliziter Weise die Frage, warum Lukas und Jim sich so verhalten, wie sie sich verhalten.¹¹ Allerdings tun sie dies nur, wenn eine kausale Bedingung erfüllt ist, die der Intention als Definitionsmerkmal eingebaut worden ist. „An effective intention […] is a representation that causes behaviour by representing itself as causing it.“ (Velleman 1997, 43) Wenn die Repräsentation des Gehalts die richtige kausale Rolle („the right causal role“ (Velleman 1997, 38)) spielt, nämlich das von ihr repräsentierte Verhalten verursacht, und außerdem repräsentiert, dass sie ebendiese kausale Rolle spielt, dann haben wir es mit einer Intention im angezeigten Sinn zu tun. Um eine Intention handelt es sich demnach nur dann, wenn die Repräsentation die inten Die von Pettit und Schweikard vorgelegte Analyse der Bedingungen für gemeinsames Handeln setzt voraus, dass es so etwas wie ein Beabsichtigen-dass wie in Satz 1 (vgl. Bratman 1997, 143) überhaupt gibt. Zumindest grammatisch scheint dies mit einer gewissen Härte verbunden zu sein. Zu Handlungen als denjenigen Ereignisse, die sinnvoll mit einer Warum-Frage konfrontiert werden können, und Handlungserklärungen als Antworten auf solche Warum-Fragen vgl. Anscombe 1963, § 4 u. ö., und Davidson 1963, 3 u. ö.
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dierte Handlung verursacht bzw. bewirkt, dass die Realisierung des repräsentierten Gehalts befördert wird (vgl. Velleman 1997, 32 f., 38 f., 43 und 44). So betrachtet gibt es keine kausal inerten Intentionen. Entweder sind sie effektiv ursächlich, oder es handelt sich überhaupt nicht um Intentionen. Wenn die Kausaltheorie gemeinsamen Handelns zutrifft und mindestens eine ihrer Erklärungen wahr ist, dann gibt es mentale Zustände, die physische Zustände sind und eine gemeinsame Handlung verursachen und kausal erklären (vgl. Velleman 1997, 44, und Sehon 2013b, 175 f.). Warum reichen Lukas und Jim einander die Hände? Antwort: Sie reichen einander die Hände, weil das angezeigte Ensemble von auf die richtige Weise physisch kausal wirksamen Intentionen samt den jeweiligen Überzeugungen vorliegt.
3 Gründe, Ursachen und Erklärungen Kausale Handlungserklärungen können mehr oder minder vorsichtig daherkommen. Eine sehr vorsichtige Form der kausalen Erklärung individuellen Handelns präsentiert Alfred Mele (2013, 168) in Form einer Disjunktion: Necessarily, if E is an adequate explanation of an intentional action A performed by an individual agent S, then E cites (1) a reason that was a cause of A or (2) a belief, desire, or intention that was a cause of A or (3) a neural realizer of a belief, desire, or intention, which neural realizer was a cause of A or (4) a fact about something the agent believed, desired, or intended, which fact was a cause of A. Doch wie skrupulös eine intentionale Kausalistin auch immer sein mag, wird sie auch bei der Erklärung gemeinsamen Handelns einige hartnäckige Schwierigkeiten nicht loswerden, die bereits kausale Erklärungen individueller Handlungen tangieren. (1) Die erste Schwierigkeit ist diejenige der sogenannten abweichenden Kausalketten. Wenn Davidson diesen Einwand einführt, erzählt er die Geschichte eines Bergsteigers, der den Wunsch hat, sein eigenes Risiko zu verringern, und glaubt, dies erreichen zu können, indem er sich eines anderen Mitglieds seiner Seilschaft durch Lösen der Seilsicherung entledigt. Diese Absicht macht ihn so nervös, dass seine Hände unwillkürlich genau die Handbewegungen ausführen, die die Sicherung lösen.¹²
Vgl. Davidson 1973, 79. Zur Diskussion abweichender Kausalketten vgl. Sehon 1997, Löhrer 2006 und Keil 2007.
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Man kann sich leicht einen Fall abweichender Kausalketten ausdenken, der zwei oder mehr Akteure betrifft. Nehmen wir an, zwei Unterhändler beabsichtigen, dass sie ein Abkommen per Handschlag besiegeln (Wir-Intention). Nehmen wir weiter an, dass beide jeweils intendieren, ihren Beitrag dazu zu leisten, beide jeweils der Überzeugung sind, der Andere intendiere dies ebenfalls, und dass sie ihren Beitrag zu leisten intendieren, weil sie jeweils dieser Überzeugung sind und auch alle restlichen Bedingungen für erfüllt halten. Selbst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, könnte es immer noch vorkommen, dass ebendiese Intentionen und Überzeugungen nicht eine gemeinsame Handlung verursachen, sondern nervöse Zustände bei beiden Unterhändlern auslösen. So könnten sie einander infolge eines jeweiligen nervösen Zuckens wie von ungefähr, aber gänzlich unkontrolliert die Hände reichen und auf diese Weise das Abkommen besiegeln. Zwar wären die notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die Pettit/Schweikard und Velleman für gemeinsames Handelns anführen, erfüllt. In diesem Fall verursachten die effektiven Intentionen jedoch ein Verhalten, das gar kein zielgerichtetes und auch kein gemeinsames Handeln ist, weil in diesem Fall überhaupt nicht gehandelt wird. Zwar haben Kausalisten ihrer Definition gemeinsamen Handelns die Bedingung eingebaut, dass die Verursachung auf die richtige Weise zu erfolgen hat und die involvierten mentalen Größen die richtige kausale Rolle spielen müssen. Doch kann dies, bei Lichte besehen, nicht Teil einer Kausaltheorie sein. Denn „Richtigkeit“ ist ein normativer Begriff, der in einer Kausalerklärung streng genommen keinen Platz hat. Kausalbeziehungen bestehen oder bestehen nicht. Sie bestehen nicht auf korrekte oder inkorrekte Weise. Analoges gilt allerdings bereits für die Rede von den kausalen Abweichungen. Von Abweichungen bei Kausalketten zu sprechen, erscheint nur dann sinnvoll, wenn man damit Abweichungen von einem für richtig befundenen Verlauf meint.¹³ (2) Die zweite Schwierigkeit betrifft die Bestimmung des richtigen alltagspsychologischen Handlungsgrunds, der die Handlung nicht nur plausibel bzw. gerechtfertigt erscheinen lässt, sondern auch erklärt. Vor etwa fünfzig Jahren hat Donald Davidson mit „Actions, Reasons and Causes“ den Grundstein zu einer von Goldman (1970) und Danto (1973) sodann zur neuen Orthodoxie gemachten Auffassung gelegt, nach der alltagspsychologische Handlungserklärungen eine Spezies der Gattung Kausalerklärung bilden (vgl. D’Oro/Sandis 2013a, 21 f.). Er begründete seine These mit einem Schluss auf die beste Erklärung. Allein dieser Ansatz verspreche, eine Erklärung für den ansonsten geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Gründen und Handlungen zu geben. Denn Akteure können
Auf diesen Punkt hatte John Searle in Intentionality (1983, 139) hingewiesen.
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unterschiedliche Handlungsgründe haben, die ihr Verhalten allesamt rechtfertigen würden, aber nur aus einem dieser Gründe handeln. Hier ist ein Beispiel: Lukas und Jim haben lang und zäh miteinander über ein Abkommen verhandelt, Vorschläge und Positionen ausgetauscht und um einen Kompromiss gerungen. An einem bestimmten Punkt reichen sie einander die Hände. Diejenigen, die das Geschehen beobachten, können sich zwei Gründe denken, die das Verhalten der beiden rechtfertigen würden. Erstens, Lukas und Jim haben sich geeinigt und ihr Abkommen per Handschlag besiegelt. Zweitens, Lukas und Jim verabschieden sich per Handschlag, um den aktuellen Kompromissvorschlag noch einmal zu überdenken. Die Herausforderung, mit der Kausalisten Non-Kausalisten konfrontieren, lautet nun in etwa wie folgt: Es gibt Fälle, in denen wir zwar mehrere Ensembles von Rechtfertigungsgründen für eine gemeinsame Handlung haben, aber nur ein einziges Ensemble von Gründen existiert, aus denen tatsächlich gehandelt wurde. Wodurch ist es wahr, dass nur das eine dieser Gründe-Ensembles die Handlung erklärt, nicht aber das andere? Man möge dies mithilfe eines non-kausalen Ansatzes erklären. Was legt auf Basis einer non-kausalen Theorie fest, welches der erklärende Grund ist (vgl. Davidson 1963, 3, 9, 11, und Mele 2000, 279 f.)? Kausalisten wähnen sich an dieser Stelle im Vorteil. Der Grund, der Lukas’ und Jims Handlung erklärt, ist ihrer Auffassung nach genau derjenige, der ihr Verhalten verursacht. Weil aber Intentionen bzw. deren neuronale Realisierungen Handlungen verursachen, kann auch nur die geteilte Absicht sowohl die Handlungsursache als auch die Handlungserklärung sein. Denn bloß rechtfertigende, kausal inerte Intentionen gibt es per definitionem nicht (supra (2)). Doch diese Gewissheit ist trügerisch, und die Antwort dürfte mindestens aus zwei Gründen voreilig sein. (1) Wenn Intentionen notwendig Ursachen sind, muss die Erklärung die Intention finden und sie von vermeintlichen Intentionen unterscheiden. (2) Die Herausforderung kann auf zweierlei Weise verstanden werden, als epistemische und als ontologische. Wenn die Herausforderung epistemischer Natur ist, dürfte eine Kausalistin in keiner besseren epistemischen Situation sein als eine Non-Kausalistin. Denn auch sie kann nicht in Lukas’ und Jims Kopf schauen, um zu ermitteln, welche Gehirnzustände ihr Verhalten verursachen. Doch selbst wenn sie über derartige Informationen verfügte, fehlte ihr ein Manual, das es erlaubte, Hirnzustände mit alltagspsychologisch beschriebenen mentalen Zuständen wie Intentionen zu identifizieren. Hirnzustände oder andere kausale Größen tragen keine Etiketten, die anzeigen, mit welcher Intention sie von einem Gedankenleser identifiziert werden müssen (vgl. Löhrer/Sehon 2013, § 4). Ähnliches gilt, wenn wir die Herausforderung als ontologische begreifen. Bedienen wir uns dabei einer Wahrmacher-Terminologie, so gilt: Damit eine Er-
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klärung wahr ist, muss es etwas geben, das sie wahr macht, einen Wahrmacher. Selbst wenn wir in Lukas’ und Jims Fall nicht ermitteln können, welches der Gründe-Ensembles die gemeinsame Handlung erklärt, kann die Kausalistin doch geltend machen, dass es gleichwohl etwas gibt, das entweder die eine oder aber die andere Erklärung wahr macht: Der Wahrmacher für die richtige Erklärung durch Gründe ist das kausale Faktum über die mentalen Zustände bzw. Intentionen und Überzeugungen, die die gemeinsame Handlung tatsächlich verursacht haben. Doch kann eine teleologische Non-Kausalistin zum einen mit gleicher Münze zahlen: Teleologische Handlungserklärungen durch Gründe erklären eine Handlung, indem sie das Ziel angeben, auf das die Akteure ihr Verhalten gerichtet haben (supra (1)). Der Wahrmacher einer richtigen non-kausalen Erklärung ist das zugrundeliegende teleologische Faktum, dass das Verhalten von den beteiligten Akteuren in abgestimmter Weise auf ein bestimmtes Ziel gerichtet worden ist. Zum anderen genügt die Existenz eines kausalen Wahrmachers nicht, um sicherzustellen, dass die Kausalistin die Herausforderung selbst meistern kann. Die Herausforderung für die Non-Kausalistin betrifft Fälle, in denen zwei oder mehr Gründe für die Erklärung einer gemeinsam ausgeführten Handlung in Betracht kommen, während nur eine einzige sie tatsächlich erklärt. Wodurch ist es wahr, dass die eine und nicht die andere mögliche Erklärung die richtige ist? Diese Frage muss aber auch die Kausalistin beantworten. Selbst wenn wir anerkennen, dass Lukas’ und Jims Verhalten verursacht wurde – und dies sollten Handlungstheoretiker jeder Couleur tatsächlich tun – und dass Gehirnzuständen bei der Verursachung ihres Verhaltens eine entscheidende Rolle zukommt, darf die Kausalistin nicht ohne weiteres annehmen, dass diese Gehirnzustände mit bestimmten Gründen oder Intentionen identifiziert werden können. Eines ist es anzunehmen, dass ein Verhalten kausal erklärt werden kann. Dies sollte generell zugestanden werden. Non-Kausalisten auf dem Feld der Handlungserklärung sollten die kausale Abgeschlossenheit des physikalischen Bereichs keineswegs bestreiten. Etwas gänzlich anderes aber ist es anzunehmen, dass die Ursache, die die Kausalerklärung anführt, zu den Gründen der gemeinsam handelnden Akteure zählt. Folglich ist die Kausalistin nicht mehr als die von ihr herausgeforderten Opponenten im Recht anzunehmen, dass es einen Wahrmacher gibt, welcher der richtigen Erklärung durch Gründe für Lukas’ und Jims Verhalten korrespondiert (vgl. Löhrer/Sehon 2013, § 4).Wenn wir alle Informationen über die Gehirnzustände der involvierten Akteure besitzen, haben wir zwar alles, was nötig ist, um ihr Verhalten kausal zu erklären. Der springende Punkt ist jedoch, dass dies für sich nicht genügt, um ihr Verhalten alltagspsychologisch, d. h. durch Gründe zu erklären. Die These, dass eine Einstellung genau dann eine handlungserklärende Intention ist, wenn sie die Handlung verursacht, lässt sich nicht ohne Petitio
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principii zu einem Argument für den kausalistischen Ansatz machen. Denn sie setzt den Kausalansatz bereits voraus. Schwierigkeiten der hier aufgezeigten Art motivieren die Suche nach einer Alternative zum kausalistischen Ansatz. Mit der Theorie teleologischer Handlungserklärungen liegt eine solche Alternative vor.
4 Teleologische Erklärungen gemeinsamen Handelns Wenn wir eine Handlung teleologisch erklären, wollen wir wissen, ob das Verhalten der beteiligten Personen überhaupt zielgerichtet war, und falls es sich so verhält, auf welches Ziel es gerichtet war. Teleologen bedienen sich dazu einer Variante von Davidsons Principle of Charity. ¹⁴ Sie zielen auf eine Gesamttheorie, die das Verhalten der Akteure sowohl in der aktualen Welt als auch in naheliegenden kontrafaktischen Situationen so rational wie möglich erscheinen lässt (vgl. Sehon 1994, 67; 2005, 146 f.; 2007, 163 – 165; 2010, 125, und Löhrer/Sehon 2013, § 2). Nicht rational wäre es für Akteure, wertlose Ziele zu verfolgen oder die Ziele mit ineffektiven und unangemessenen Mitteln anzustreben. Rationale Akteure verfolgen wertvolle Ziele mit geeigneten Mitteln. Wenn eine Handlung zielgerichtet ist, ist dieses Ziel dasjenige, um das es beim Handeln geht. Es stellt einen Wert dar, der durch Handeln verwirklicht werden soll. Gemäß dem Principle of Charity kann aber auch nur dann von einem zielgerichteten Verhalten die Rede sein, wenn das Ziel aus Sicht der beteiligten Akteure einen nachvollziehbaren Wert besitzt (vgl. Sehon 2005, 144; 2007, 161). Ihre Rationalität bemisst sich darum an zwei Kriterien; erstens am Grad, zu dem das Handlungsziel, aus ihrer Perspektive betrachtet, wertvoll ist, und zweitens am Grad, zu dem ihr Verhalten angemessen ist, um dieses Ziel zu erreichen. Teleologen erwarten darum Folgendes: (R1) Agents act in ways that are appropriate for achieving their goals, given the agent’s circumstances, epistemic situation, and intentional states.
Davidson 1970, 221 f.: „[W]e cannot intelligibly attribute any propositional attitude to an agent except within the framework of a viable theory of his beliefs, desires, intentions, and decisions. […] Global confusion, like universal mistake, is unthinkable, not because imagination boggles, but because too much confusion leaves nothing to be confused about and massive error erodes the background of true belief against which alone failure can be construed. […] In our need to make him [an agent; G.L.] make sense, we will try for a theory that finds him consistent, a believer of truths, and a lover of the good (all by our own lights, it goes without saying).“
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(R2) Agents have goals that are of value, given the agent’s circumstances, epistemic situation, and intentional states. (Sehon 2005, 139; vgl. auch 2007, 159) Indem das Principle of Charity und die es begleitenden Rationalitätsprinzipien den Akteuren ein möglichst rationales Verhalten unterstellen, restringieren sie die möglichen Zuschreibungen von Zielen, Handlungsmitteln und intentionalen Einstellungen auf rationale Ziele, Mittel, Einstellungen und Gehalte. Sicher werden beim Handschlag von Lukas und Jim Luftmoleküle verdrängt, und ihr Händedruck trainiert ihre Handmuskulatur. Doch wären diese Ziele in der gegebenen Situation läppisch und durch ein anderes Verhalten wesentlich effektiver erreichbar. Zudem kann in der gegebenen Situation durch ihren Handschlag ein sehr viel wertvolleres Ziel verwirklicht werden als ein Luftstrom oder eine trainierte Handmuskulatur. Hintergrund teleologischer Handlungserklärungen sind somit erstens Rationalitätsannahmen, d. h. normative Annahmen darüber, wie sich Akteure vernünftigerweise verhalten sollten, und zweitens die Unterstellung, dass die Akteure diesen normativen Anforderungen gerecht werden. Geben wir dem Principle of Charity nun zusätzlich eine superlativische Wendung, erhalten wir zwei teleologische Prinzipien für die Handlungserklärung.¹⁵ Sie zielen auf eine Maximierung der Verständlichkeit (intelligibility) der Handlung. (I1) Suche dasjenige Ziel, für dessen Verwirklichung φ-en, im Lichte einer Theorie der intentionalen Zustände und Umstände des Akteurs betrachtet, optimal geeignet ist. (I2) Suche das wertvollste Ziel, das der Akteur, im Lichte einer Theorie seiner intentionalen Zustände und Umstände betrachtet, durch φ-en verwirklichen kann. Das erste Prinzip gebietet, dasjenige Ziel zu suchen, für dessen Realisierung das zu erklärende Verhalten die beste Strategie darstellt. Das zweite Prinzip fordert, das wertvollste Ziel ausfindig zu machen, das mit dem zu erklärenden Verhalten erreicht werden kann. Für beide Prinzipien gilt, dass die zu erklärende Handlung im Lichte einer Hintergrundtheorie der Handlungsumstände und der intentionalen
Sehon 2005, 146 f.: „(I1) Find a ψ such that φing is optimally appropriate for ψing, given a viable theory of the agent’s intentional states and circumstances.“ – „(I2) Find a ψ such that ψing is the most valuable state of affairs toward which φing could be directed, given a viable theory of the agent’s intentional states and circumstances.“ – Vgl. auch Sehon 2007, 163 – 165.
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Einstellungen der Akteure betrachtet werden muss.¹⁶ Diese Theorie ist selbstverständlich die Hintergrundtheorie des Handlungsinterpreten. Eine Handlung ist dann überzeugend teleologisch erklärt, wenn die Erklärung beiden Prinzipien hinreichend Rechnung trägt. Allerdings bedarf es der Ergänzung dieser beiden Prinzipien durch ein Einfachheits- und ein Konservativitätsprinzip. Hier kommen epistemische Werte wie Konsistenz, diachrone Kohärenz, Erklärungskraft und Einfachheit ins Spiel. Zwar mag es sein, dass das Herbeiführen eines Kurzschlusses die optimal angemessene Strategie ist, um ein Elektrogerät kaputt zu machen, und dass es kaputt zu machen das Beste ist, was man auf diese Weise bewerkstelligen kann. Ebenso sind Umstände denkbar, unter denen ein Handschlag den Abschluss einer Vereinbarung torpediert, der Handschlag das angemessenste Mittel für die Obstruktion ist und die Verhinderung der Vertragsbesiegelung das beste auf diese Weise erreichbare Ziel darstellt. Doch kann dieses Verhalten nur dann als intentionales, zielgerichtetes und rationales interpretiert werden, wenn uns dies nicht in eine der nachfolgenden Konsequenzen treibt: eine massive Revision der Hintergrundtheorie und ihre erhebliche Verkomplizierung sowie eine Rationalisierung dieses einen Verhaltens um den Preis, dass die Akteure, insgesamt betrachtet, irrationaler erscheinen. Somit ist ein Teleologe nicht gezwungen, ein Verhalten als zielgerichtet zu betrachten, das es intuitiv nicht ist. Das Verfahren einer teleologischen Handlungsepistemologie erlaubt es, zielgerichtetes, rationales Verhalten von irrationalem Verhalten zu unterscheiden und von solchem Verhalten abzugrenzen, das entweder kein absichtliches Handeln oder überhaupt kein Handeln ist. Für die teleologische Erklärung gemeinsamer Handlungen sind weitere Unterscheidungen nötig. Auch hier betrachten wir Gemeinschaftshandlungen zunächst analog zu individuellen Handlungen und arbeiten uns vom Verhalten der einzelnen Akteure zum gemeinsamen Verhalten durch und wieder zurück (aber auch vice versa). Dabei haben wir denjenigen Typ gemeinschaftlichen Handelns im Blick, den ich anfangs ausgezeichnet habe, nämlich solche Handlungen, die man prinzipiell nicht allein ausführen kann und für die es konstitutiv ist, dass die Teilhandlungen einander in abgestimmter Form ergänzen und beenden. Zur Unterscheidung: Streichen wir gemeinsam ein Haus, dann tun wir etwas, das wir auch allein tun könnten, und jede unserer Teilhandlungen ist ein Hausstreichen. Reichen dagegen Lukas und Jim einander die Hände, um ihre Vereinbarung zu besiegeln, dann ist keine ihrer Teilhandlungen für sich ein Handschlag und mit keiner von ihnen könnte für sich eine Vereinbarung besiegelt werden.
Zu Handlungserklärungen im Lichte von Handlungsumständen vgl. auch Tanney 2005.
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Den Prinzipien (I1) und (I2) entsprechend muss nun gefragt werden: Erscheint das Verhalten eines einzelnen Akteurs im Lichte einer Gesamttheorie seiner intentionalen Zustände und der Handlungsumstände als rationaler, angemessener und von größerem Wert, wenn man es als individuelle Handlung oder wenn man es als koordinierten Beitrag zu einer gemeinsamen Handlung betrachtet? Welches ist das wertvollere Ziel, das dadurch jeweils verwirklicht würde; dasjenige der Einzelhandlung oder das der gemeinsamen Handlung? Für die Verwirklichung welchen Ziels war das Verhalten des einzelnen Akteurs optimal angemessen? Wenn auf diese Weise herausgefunden worden ist, dass die Akteure in einer Gemeinschaftshandlung engagiert sind, kann abgeschätzt werden, für welches Ziel das gesamte aufeinander abgestimmte und sich wechselseitig beendende Verhalten der Akteure vor dem Hintergrund einer umfassenden Theorie ihre Verhaltens optimal geeignet ist und welches das beste Ziel ist, das mithilfe dieses Verhaltens erreicht werden kann. Die Hintergrundtheorie hilft, zahlreiche mögliche Ziele auszusortieren, die für die Akteure keinen nachvollziehbaren Wert besitzen. Ist die Vereinbarung bereits besiegelt worden und wird der Handschlag lediglich noch einmal nachgestellt, um Pressefotos zu schießen, scheidet eine Erklärung des Handschlags als Besiegelung einer Vereinbarung aus. Denn es hat keinen nachvollziehbaren Wert, etwas herbeizuführen, was bereits herbeigeführt worden ist. Ähnliches gilt für ein Verhalten, bei dem die Akteure gleichsam als Übersprungshandlung einander die Hände reichen und es nur vordergründig den Anschein hat, als besiegelten sie eine Vereinbarung. Auch hier würde eine Betrachtung der Umstände vermutlich darauf hinweisen, dass ein solches Ziel, wenn es vor dem Hintergrund einer Gesamttheorie der intentionalen Zustände der Beteiligten betrachtet würde, keinen nachvollziehbaren Wert hätte; es sei denn, wir nähmen zuvor massive Retuschen an dieser Hintergrundtheorie vor. In solchen Fällen liegt es nahe anzunehmen, das Verhalten sei unwillkürlich und überhaupt nicht auf ein Ziel gerichtet gewesen. Teleologische Erklärungen stützen kontrafaktische Konditionale über naheliegende mögliche Welten. Dies ist ein wichtiger Punkt. Denn teleologische Handlungserklärungen leisten damit etwas, was man sonst von Kausalerklärungen erwartet. Lukas und Jim reichten einander die Hände, um ihre Vereinbarung zu besiegeln. Hätten sie zu diesem Zweck ein Schriftstück unterzeichnen müssen, hätten sie – ceteris paribus – ein Schriftstück unterzeichnet. Hätten sie nicht das Ziel gehabt, ihre Vereinbarung zu besiegeln, hätten sie – ceteris paribus – nicht einander die Hände gereicht. Oder: Hätten sie mit ihrem Handschlag etwas bewerkstelligen können, das ihnen alles in allem wertvoller erschienen wäre, hätten sie – ceteris paribus – einander die Hände gereicht, um dieses wertvollere Ziel zu verwirklichen. In allgemeiner Form:
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Die Akteure führten die gemeinsame Handlung φ aus, um A herbeizuführen. Wäre durch φ ein wertvolleres Ziel B erreichbar gewesen, hätten sie – ceteris paribus – ge-φ-t, um B herbeizuführen. Wäre eine andere gemeinsame Handlung ψ die optimal angemessene Strategie gewesen, um das Handlungsziel A zu erreichen, hätten sie – ceteris paribus – ge-ψ-t um A herbeizuführen. Unterschiedliche teleologische Erklärungen desselben Verhaltens stützen also verschiedene kontrafaktische Konditionale über naheliegende mögliche Welten. Der teleologische Ansatz liefert damit ein Verfahren, mit dem sich der Grund herausfinden lässt, aus dem Akteure gemeinsam gehandelt haben und der die Handlung tatsächlich erklärt: das teleologische Faktum, dass die gemeinsame Handlung auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist und die entsprechende teleologische Erklärung wahr macht. Dies ist die teleologische Antwort auf Davidsons Herausforderung.
5 Einwände und Erwiderungen Nun scheinen sich jedoch für teleologische Handlungserklärungen ebenfalls Schwierigkeiten abzuzeichnen. (1) Die Ermittlung des Optimums ist unmöglich, wenn die zu vergleichenden und auf das Beste hin zu ordnenden Werte unvergleichbar sind. Dies dürfte allerdings mit Blick auf ein und dasselbe beobachtbare Verhalten kaum in Betracht kommen. Zwar mag es sein, dass es, im Lichte einer Hintergrundtheorie der intentionalen Zustände und Umstände der Akteure betrachtet, nicht klar ist, ob in einer bestimmten Situation ein kammermusikalisches Ensemblespiel oder ein Duell als Ziel höher zu bewerten ist, doch können beide Ziele kaum durch dasselbe auf einander abgestimmte Verhalten herbeigeführt werden.¹⁷ (2) Der handlungserklärende Grund kann nicht bestimmt werden, wenn alternative Erklärungen sich gleichermaßen auf alles in allem beste Handlungsmittel zu alles in allem besten Zielen stützen, beide Erklärungen gleichermaßen gut mit der Hintergrundtheorie zusammenstimmen sowie die Ansprüche an Einfachheit, Konservativität und Kohärenz gleich gut bedienen und zudem garantiert ist, dass die Akteure nur aus einem der beiden Gründe bzw. Gründe-Ensembles gehandelt haben. Auch dies ist vermutlich ein äußerst seltener Fall. Zwar
Vgl. auch die Argumente gegen die Stichhaltigkeit der These von der Unvergleichbarkeit von Werten in Chang 1997.
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mag es sein, dass sich ein bestimmtes Verhalten optimal für die Verwirklichung von zwei ganz unterschiedlichen Zwecken eignet. Doch werden die weiteren Umstände in der Regel eine Unterscheidung erlauben. (3) Kausalisten könnten allerdings geltend machen, dass ihre Erklärung einen außerordentlichen ökonomischen Vorteil gegenüber ihrer teleologischen Alternative besitzt. Um gemeinsame Handlungen zu erklären, bedarf es nach ihrem Dafürhalten keines anderen Erklärungstyps als zur Erklärung anderer Phänomene der Natur. Bei der Kausalerklärung bedienen wir uns zudem derselben Erklärungen wie die besten unserer Wissenschaften (die Mathematik einmal beiseitegelassen). Dagegen benötigen Teleologen zwei Typen von Erklärungen, einen ersten, kausalen Erklärungstyp für die Erklärung von Naturereignissen und einen zweiten, non-kausalen Typ für die Erklärungen von Handlungen. Doch stehen der Teleologin hier zwei Erwiderungen offen. Die erste Erwiderung hat Scott Sehon vorbracht. Betrachten wir zwei Theorien. Die erste Theorie stellt naturwissenschaftliche Prinzipien auf und umfasst zusätzlich non-kausale Erklärungen, die sich auf Rationalitätsprinzipien stützen, welche von den naturwissenschaftlichen Prinzipien gänzlich unabhängig sind. Die zweite Theorie dagegen ist reduktionstisch. Sie besitzt ausschließlich naturwissenschaftliche Prinzipien, die jedoch hinreichen, um zu erklären, warum die Rationalitätsprinzipien gelten. Sollten wir in diesem Fall schließen, dass die zweite Theorie einfacher ist, und darum die erste verwerfen? Sehons Antwort lautet: All we know is that, if philosophers can come up with such a reductionist account, then there is a simplicity argument in its favour […]. If there is no successful recipe for reduction, then there is no simplicity argument against non reductionist views. (Sehon 2010, 127; vgl. auch Sehon 2005, 219 – 222).
Wenn die oben vorgetragenen Einwände stichhaltig sind, steht der Nachweis einer erfolgreichen Reduktion aus. Die zweite Erwiderung ist mit der epistemischen Herausforderung verknüpft. Während Teleologen es bei einer Handlungserklärung allein mit einer Rationalisierung des Geschehens zu tun haben, mutet die kausale Handlungserklärung hybrid an. Sie sucht sowohl nach der physischen Ursache der Handlung als auch nach dem rationalen Grund, um dessentwillen gehandelt wurde. Hier liegt der ökonomische Vorteil auf Seiten des Teleologen. Weil Kausalisten jedoch in der Regel keine Kenntnisse über Gehirnzustände und Kausalketten besitzen, sind sie am Ende auf dieselbe Datenbasis und dieselben Verfahren zurückgeworfen, deren sich auch die Non-Kausalisten bedienen. Sie werden Lukas und Jim befragen, Überlegungen zu deren möglichem Verhalten unter ähnlichen Umständen an-
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stellen und nach einer Erklärung suchen, die ihr Tun im Rahmen einer umfassenden Theorie ihres Verhaltens möglichst sinnvoll erscheinen lässt.
6 Schluss Ich fasse den Gedankengang kurz zusammen. Eine interessante Form gemeinsamen Handelns stellen Handlungen dar, die von einer Einzelperson prinzipiell nicht allein ausgeführt werden können, weil die Teilhandlungen der beteiligten Akteure einander in abgestimmter Form ergänzen und beenden müssen. Andernfalls kommt die Handlung – ein Kauf, ein Handschlag, ein kammermusikalisches Ensemblespiel etc. – nicht zustande. Kausalisten erklären solche Handlungen mithilfe von Wir-Intentionen, die das gemeinsame Handlungsziel vorgeben, und koordinierten Einzelintentionen, die das gemeinsame Handeln zusammen verursachen. Wenn die Kausaltheorie gemeinsamen Handelns zutrifft und mindestens eine ihrer Erklärungen wahr ist, dann gibt es mentale Zustände, die physische Zustände sind und eine gemeinsame Handlung sowohl verursachen als auch kausal erklären. Als Alternative zur Kausalerklärung habe ich einen teleologischen Ansatz skizziert. Ihm zufolge ist der handlungserklärende Grund das beste Ziel, das mithilfe des zu erklärenden Verhaltens erreicht werden kann und für dessen Realisierung es die beste Strategie darstellt. Beim gemeinsamen Handeln dient das Verhalten der beteiligten Akteure einem wertvolleren Ziel, wenn wir es als Beitrag zu einer gemeinsamen Handlung begreifen, als wenn wir es als Einzelhandlung betrachten. Es handelt sich um das beste Ziel, das, im Lichte einer Hintergrundtheorie beurteilt, in der Situation durch gemeinsames Handeln erreichbar ist, und das gemeinsame Handeln stellt dafür das angemessenste Mittel dar. Kausalisten konfrontieren Teleologen mit einer Herausforderung. Es gibt Handlungen, bei denen mehrere Rechtfertigungsgründe vorliegen, aber nur aus einem einzigen Grund gehandelt wurde und alle teleologischen Mittel, den handlungserklärenden Grund zu finden, ausgeschöpft sind. Doch dürfen Kausalisten nicht ohne weiteres voraussetzen, dass die Ursachen, die eine Kausalerklärung wahr machen, mit den Wahrmachern einer alltagspsychologischen Erklärung durch Gründe identifiziert werden können. Sie stehen damit nicht besser da als die Teleologin. Zwar ist der Definition der kausalen Erklärung durch Gründe die Verursachung durch Intentionen eingebaut. Als Argument gegen einen teleologischen Ansatz kann dies jedoch nicht eingesetzt werden, ohne eine Petitio principii zu begehen.
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Gern helf’ ich dem Freunde? Pflichten in informellen Sozialbeziehungen Freundschaft ist ein paradigmatisches soziales Phänomen, das unser Fühlen, Wollen und Handeln auf verschiedene Weise beeinflusst. Freundschaft ist eine affektive Beziehung: Freunde sind durch das Gefühl der Sympathie miteinander verbunden. Freundschaft ist aber auch ein motivationaler Faktor: Freunde wollen einander wohl, stehen in ihrem Handeln einander bei und pflegen gemeinsame Aktivitäten.¹ Freundschaft ist ein alltägliches Phänomen. Doch schon bei Aristoteles können wir lesen, dass mit der Freundschaft nicht wenige theoretische Probleme verbunden sind (vgl. Nikomachische Ethik [=NE] VIII 2, 1155a 32). In diesem Aufsatz will ich mich einem dieser Probleme zuwenden, nämlich der Frage, ob Freundschaften als soziale Entitäten auf einer Ebene mit formellen Institutionen wie Ehen zu behandeln sind, die sinnvoll mit kontraktualistischen oder legalistischen Modellen beschrieben werden können. Durch einen Vertrag entstehen wechselseitige Verpflichtungen, die die jeweilige soziale Entität konstituieren. Unstrittig dürfte sein, dass es sich bei Freundschaften um soziale Beziehungen handelt, und dass ich jemandem, wenn ich ihn meinen Freund nenne, einen bestimmten sozialen Status zuschreibe. Unstrittig dürfte auch sein, dass wir unseren Freunden gegenüber Pflichten haben. Strittig ist jedoch, ob wir diese Pflichten gegenüber unseren Freunden qua Freunden haben, und ob sie durch kontraktualistische Modelle erklärt werden können. Ich werde dafür argumentieren, dass kontraktualistische Modelle dem Status der Freundschaft nicht angemessen sind und dass informelle soziale Phänomene wie Freundschaften deswegen ein anderes analytisches Instrumentarium erfordern als formelle Institutionen wie Ehen. Was ist Freundschaft? Es wäre vermessen, darauf eine schnelle Antwort geben zu wollen, wenn selbst der platonische Sokrates im Lysis (222e) gesteht, er vermöge dies nicht zu sagen. Dass die begriffliche Bestimmung von Freundschaft so schwierig ist, hat mindestens drei Ursachen: Erstens verwenden wir das Wort „Freundschaft“ für ganz unterschiedliche soziale Beziehungen – wie schon Aristoteles mit Bezug auf das griechische Wort philia feststellt, in dessen Extension er sowohl Beziehungen um des Nutzens oder der Lust willen findet (vgl. NE VIII 3) als auch solche, die auf der gegenseitigen Wertschätzung des guten Charakter des anderen beruhen (vgl. NE VIII 4). Freundschaft ist eben, um es mit Mark Vernon Telfer 1970/71 spricht in diesem Zusammenhang von „shared activities“.
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(2010, 3) zu sagen, „hugely diverse“, und das Wort „Freundschaft“ damit intensional vage. Die Sache wird, zweitens, nicht einfacher dadurch, dass Freundschaft eine graduelle Angelegenheit zu sein scheint. Schließlich sprechen wir von „engen Freunden“ und „dicken Freundschaften“ – im Unterschied zum weiten Freundeskreis und oberflächlichen Bekanntschaften. Das Wort „Freundschaft“ ist daher auch extensional vage; wir können deshalb nicht sagen, wo in diesem Spektrum die Freundschaft genau anfängt. Drittens kommt das epistemische Problem hinzu, wahre von falschen Freunden zu unterscheiden. Schon Cicero zitiert die Sentenz des Ennius: „Den wahren Freund erkennst du nur im schwankenden Glück.“² Auch wenn sich die platonischen Dialogfiguren über die Intension des Wortes „Freundschaft“ nicht einigen konnten, waren sie nichtsdestotrotz einig darüber, dass ihre eigene Beziehung durch das Wort „Freundschaft“ beschrieben werden könne (vgl. Platon, Lysis 223b). Bei aller Vagheit scheint es also zumindest in einigen Fällen Klarheit über die Extension des Wortes „Freundschaft“ zu geben. Auf dieser Grundlage werde ich wie folgt vorgehen: Zunächst werde ich die Freundschaft vor dem Hintergrund der beiden wichtigsten sozialontologischen Ansätze der Gegenwart diskutieren und zeigen, dass sowohl die Sicht von Freundschaften als Gilbert’sche Pluralsubjekte als auch eine Analyse von Freundschaften als Searle’sche Statusentitäten zu der Annahme der Existenz von Freundespflichten führen (1). Vor dem Hintergrund der Gilbert’schen und Searle’schen Sozialontologie würde sich ein kontraktualistisches Modell von Freundschaft nahelegen, so wie wir auch eine Ehe als Vertragsgemeinschaft ansehen können.³ Ich werde aber eine Reihe von entscheidenden Unterschieden zwischen der Freundschaft und der formellen Institution der Ehe benennen (2) und mit Hilfe dieser Unterschiede zeigen, dass das kontraktualistische Modell für Freundschaften inadäquat ist (3). Dann benötigen wir aber eine alternative Erklärung für unsere starke Überzeugung, dass man Freunden helfen soll, und ich werde mehrere mögliche Erklärungen anbieten: den wesensmäßigen Zusammenhang zwischen Freundschaft und Hilfsbereitschaft (4), Pflichten gegenüber Freunden als Spezialfall universaler Pflichten (5) und Freundschaft als Feld besonderer Handlungsoptionen (6). Jede dieser drei einander ergänzenden Strategien erklärt unsere Intuition, ohne eine basale Hilfspflicht unter Freunden annehmen zu müssen. Auch die von Kolodny formulierten Resonanzprinzipien konstituieren keine basalen Freundschaftspflichten (7). Aus diesem Ergebnis kann
Cicero, De Amicitia XVII 64: „[A]micus certus in re incerta cernitur“. Vgl. Montaigne, Über die Freundschaft, 112: Die Ehe sei „weiter nichts […] als ein Handelskontrakt, der nur beim Eingehen frei ist, dessen Dauer aber unfreiwillig und gezwungen“.
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ich eine Reihe von Konsequenzen ziehen – nicht zuletzt die, dass wir in der Sozialontologie nicht mit einer einheitlichen kontraktualistischen Theorie auskommen (8).
1 Die Ontologie der Freundschaft In der Antike gab es zwei wiederkehrende Probleme der Bestimmung des Wesens der Freundschaft: Es musste der Wechselseitigkeit entsprochen werden⁴ und eine zufällige Wechselseitigkeit musste ausgeschlossen werden. In der Tat wollen wir niemanden einen Freund nennen, der nicht auch uns so nennen würde. Bloße Liebe reicht deshalb für eine Freundschaft nicht aus, weil sie einseitig und sogar auf ein unbelebtes Objekt gerichtet sein kann; wechselseitige Liebe reicht auch nicht, weil diese Liebe dem jeweiligen Geliebten ganz verborgen bleiben kann. Aristoteles gibt daher als ein notwendiges Merkmal von Freundschaft an, dass die Freunde in sichtbarer Weise einander wohlwollen müssen (vgl. NE VIII 2, 1156a 2– 5). Schauen wir, wie sich heute die Ontologie der Freundschaft für die beiden wichtigsten Autoren der Sozialontologie darstellt, nämlich für John Searle und Margaret Gilbert. Mit Margaret Gilbert (2006) könnten wir Freundeskreise als Pluralsubjekte betrachten, die durch joint commitments zusammengehalten werden, aus denen wechselseitig bestehende Ansprüche auf das Handeln des anderen resultieren. Ein solches joint commitment entsteht, wenn die zukünftigen Mitglieder des Pluralsubjekts wechselseitig die Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln signalisieren und sich gemeinsam auf dieses gemeinsame Handeln einlassen – wenn sie, grob gesprochen, einen Mini-Gesellschaftsvertrag für das gemeinsame Handeln abschließen. Wenn Freundeskreise also Gilbert’sche Pluralsubjekte sind, dann entspringen aus dem Bestehen einer Freundschaft aufgrund der ihr zugrundeliegenden joint commitments entsprechende Verpflichtungen und Rechte der Gruppenmitglieder gegeneinander. John Searle (1995; 2010) analysiert soziale Entitäten als Statusentitäten, die durch konstitutive Regeln nach dem Schema „X zählt als Y im Kontext K“ beschrieben werden können. Als Beispiele für solche Statusentitäten nennt Searle Geld, Präsidenten oder Ehen, aber auch Freundschaften und Cocktailparties. Mit der Zuschreibung eines solchen Status geht die Übertragung „deontischer Kräfte“ einher, also von Rechten und Pflichten. Kausal wirksam werden solche Statusentitäten, so Searle, durch ihre Verankerung in den komplexen Verhaltensdis-
Für die Verankerung dieses Aspekts in der modernen Diskussion vgl. (mit weiteren Belegen) Goodin 1985, 98: „To count as true friendship, a relationship cannot be one-way.“
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positionen, die durch den „Background“ konstituiert werden, d. h. durch die neuronalen Netze unserer Gehirne. Searle mischt in seiner Analyse also charakteristische Elemente der formellen Institutionen mit solchen, die zu informellen Institutionen gehören, und er schlägt für beide Bereiche eine einheitliche Analyse vor: Die deontischen Kräfte gehören zu den durch explizite Statuszuweisung entstandenen formellen Institutionen, während die neuronal verankerten Verhaltensdispositionen zu den informellen Institutionen gehören. Hier setzt nun meine Kritik ein: Die beiden Elemente sind nämlich unabhängig voneinander. Gehirnstrukturen können in der Tat Verhaltensdispositionen konstituieren, nicht aber deontische Kräfte. Umgekehrt kann durch das Abschließen eines Vertrages in den Gehirnen der Vertragspartner ein bestimmtes neuronales Muster entstehen – muss es aber nicht. Dies ist eine wahrscheinliche kausale Folge des Vertragsschlusses, aber keine metaphysische Notwendigkeit. Umgekehrt könnten durch einen merkwürdigen kosmischen Zwischenfall Personen entstehen, die genau passende neuronale Muster in ihren Hirnen haben und sich so verhalten, als hätten sie einen Vertrag geschlossen. Das haben sie aber nicht, und so kann man nicht sagen, dass sie in einem besonderen Rechtsverhältnis zueinander stehen. Formelle und informelle Institutionen scheinen daher auf grundlegend verschiedene Weise konstituiert zu werden: formelle Institutionen durch explizite Statuszuweisung, informelle Institutionen durch Verhaltensdispositionen. Ich will dies nun an zwei paradigmatischen Sozialbeziehungen näher ausführen, nämlich an Ehen und Freundschaften.
2 Freundschaften versus Ehen Searle und Gilbert haben gemeinsam, dass sie beide jeweils nur ein Analyseschema vorschlagen, das dann eine breite Anwendung finden soll. Zweifel an der Möglichkeit einer solchen universell gültigen Analyse sozialer Entitäten können wir aber säen, wenn wir aus unserem Repertoire sozialer Beziehungen Freundschaften und Ehen miteinander vergleichen. Das Schließen von Freundschaften ist kein einmaliger instantaner Akt: Eine Freundschaft wächst zusammen, kann mehr oder weniger eng bzw. mehr oder weniger stark sein. Freundschaft ist graduell. Ehen sind dies nicht: ein bisschen verheiratet geht nicht. Ehepartner hat man in der Regel nur wenige, oft nur einen im ganzen Leben, und wir können genau sagen, wer das jeweils ist. Freunde hat man in der Regel mehrere, manchmal nur vorübergehend, und gelegentlich ist es nicht klar, ob jemand ein Freund ist oder nicht. Auch das ist bei Ehen anders. Wie man eine Ehe eingeht, ist schließlich gesetzlich geregelt, während es für das
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Eingehen einer Freundschaft solche Regeln nicht gibt. Und mit dem Schließen einer Ehe geht die Übertragung bestimmter wohldefinierter Rechte und Pflichten einher: Das Recht etwa, im Krankheitsfall Entscheidungen für den Ehepartner zu fällen, die Pflicht, gegenseitig für den Lebensunterhalt einzustehen und so weiter. Auch dies ist gesetzlich geregelt. Für Freundschaften fehlen solche gesetzlich einklagbaren Regelungen.⁵ Umgangssprachlich sprechen wir sowohl bei Ehen als auch bei Freundschaften davon, dass sie „geschlossen“ werden. Aber das Eingehen von Freundschaften und von Ehen sieht doch recht unterschiedlich aus. Ehen werden explizit geschlossen, in expliziten Sprechakten, die zwei Individuen mit Bezug aufeinander in Gegenwart von Dritten äußern. Dabei müssen die Anwesenden wissen, dass sie gerade heiraten und es muss auch das entsprechende Vokabular verwendet werden, es muss also von „Ehe“, „zum Ehemann nehmen“ etc. die Rede sein. Anders bei Freundschaften: Wörter wie „Freund“ oder „Freundschaft“ müssen dabei nicht vorkommen. Und keiner der Freunde muss wissen, dass er gerade dabei ist, eine Freundschaft zu schließen. Umgekehrt enden Ehen durch ein eindeutig zu bestimmendes Ereignis, durch Tod oder Scheidung. Durch ein Scheidungsurteil wird die Ehe explizit und datierbar beendet; in der Regel werden auch die Rechte und Pflichten der ehemaligen Eheleute explizit geregelt. Freundschaften können ebenfalls explizit aufgekündigt werden – sie müssen es aber nicht. Freundschaften können „zerbrechen“, ohne dass dies thematisiert wird, oder sie können einfach „einschlafen“, wenn sie nicht mehr gepflegt werden. Nun mag man einwenden, dass es in vielen Kulturen durchaus Rituale für das Schließen von Freundschaften gibt.⁶ Lukian beschreibt in seinem Dialog Toxaris beispielsweise das Blutsfreundschafts-Ritual der Skythen: Hat nun einer den Vorzug erhalten und ist zum Freunde angenommen worden, so beschwören sie mit dem heiligsten der Schwüre den Bund der Freundschaft, schwören, nicht nur miteinander zu leben, sondern, sobald es nötig wäre, auch füreinander zu sterben. Und dabei bleibt es denn auch. Von dem Augenblick an, da sich bei uns ihrer zwei in den Finger geschnitten, etliche Tropfen von ihrem Blute in einen Becher laufen lassen, die Spitzen ihrer Dolche darein getaucht, zum Munde gebracht und abgeschlürft haben, von diesem Augenblick an ist nichts in der Welt, das sie wieder trennen könnte. (Toxaris, 225)
Hier finden wir die Elemente wieder, die wir gerade am Beispiel der Ehe der Freundschaft gegenüber gestellt haben: Wir haben ein Ritual und einen expliziten Vgl. Goodin 1985, 93: „[T]he duties of friendship are almost nowhere legally enforcable.“ Vgl. dazu Eisenstadt 1956. Goodin 1985, 95, verweist auf Rituale wie Blutsbrüderschaften in „primitive societies“, um dann über „our own societies“ zu sagen: „[F]riendships are ordinarily initiated and terminated without any elaborate ritual.“
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Schwur, und die Teilnehmer des Rituals müssen wissen, dass sie gerade Freundschaft schließen. Lukian legt auch Wert darauf, dass dieses Ritual nicht mit vielen durchgeführt wird („höchstens drei auf einmal“; 247). Das Ritual besiegelt das Füreinandereintreten in „Innigkeit und Stärke“ (ebd.), zu dessen Erläuterung Lukian den Skythen Toxaris im Wettstreit mit dem Griechen Mnesippus eine Reihe von abenteuerlichen Beispielen erzählen lässt. Ein solches Ritual mit seinem expliziten Freundschaftsschwur bietet immerhin ein klares Modell für die Entstehung von Freundschaftspflichten, das im Folgenden eingehender zu diskutieren ist. Zuvor sollte aber noch auf eine alternative Deutung hingewiesen werden. Lukian geht nämlich keineswegs davon aus, dass das Blut-Ritual für eine Freundschaft notwendig ist. Denn am Ende des Dialogs schließen der Grieche Mnesippus und der Skythe Toxaris zwar Freundschaft miteinander, aber sie beschließen, „zur Bestätigung unseres neuen Freundschaftsbundes“ (265) auf solche blutigen Zeichen zu verzichten, die dem Griechen Mnesippus auch ein wenig suspekt sind. In dieser Perspektive besteht die Freundschaft schon vor dem Ritual, wird durch dieses aber zum Ausdruck gebracht, bekräftigt und in eine kulturell geprägte Form gegossen. Blutsfreunde verhalten sich dann zu Freunden nicht wie Spezies zur Gattung, sondern so wie das Ehepaar zum Brautpaar.
3 Das kontraktualistische Modell Freunde helfen einander, das steht außer Frage. Außer Frage steht auch, dass es gut ist, seinen Freunden zu helfen. Die Frage aber ist: Sind wir dazu verpflichtet? Und wenn ja: Ist es eine Pflicht gegenüber unseren Freunden qua Freunden? Wenn ja, wie und wann entsteht sie? Vielen gilt Freundschaft gerade als eine von Wahlfreiheit geprägte Sozialbeziehung: Freundschaft könne „weder vorgeschrieben noch von Autoritäten geregelt werden. Sie beruht auf Freiwilligkeit.“ (Bernsdorf 1955, 140; Herv. i.O.)⁷ Die Freunde, das sind ja die Wahlverwandten. Eine Wahlmöglichkeit besteht aber nicht nur hinsichtlich der Frage, mit wem man eine Freundschaft eingeht, sondern auch hinsichtlich der Ausgestaltung der Freundschaftsbeziehung.⁸ Freundschaf-
Vgl. auch Carrier 1999, 21: „Friendship is […] based on spontaneous and unconstrained sentiment or affection.“ Vgl. Nötzoldt-Linden 1994, 114: „Da Freundschaft kaum institutionalisierten Handlungsvorgaben Rechnung tragen muß, sind Freunde gezwungen, auf der Basis einer face-to-face-Interaktion im Laufe der Zeit ihr eigenes Werte-Regel-Muster zu entwerfen. Über kommunikative Akte entsteht ein spezifischer interner Code […]. Dieser Code ist in den seltensten Fällen bewußt
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ten bilden somit ein Gegengewicht zu Familienbeziehungen und auch zur Ehe, die, so heißt es, durch Konventionen und Verpflichtungen geprägt sei. Freundschaft sei eben eine „relationship of choice“ und keine „traditional relationship of obligation“ wie die Ehe.⁹ Man sucht sich nicht nur seine Freunde aus, sondern auch die Art, wie man die Freundschaft mit ihnen gestaltet. Andererseits kennt man seit altersher das ius amicitiae, das Gesetz der Freundschaft, das gebietet, dem Freunde zu helfen und das zu tun, was er erbittet.¹⁰ Dass die Bitte, für den Freund etwas Verbotenes zu tun, nicht klar abgeschlagen wird, sondern zu einem moralischen Dilemma führt, zeigt, dass wir eine tiefsitzende Intution haben, dass man dem Freunde helfen soll.¹¹ Lukian lässt Toxaris passenderweise sagen, dass die Skythen „die Freundschaft höher als alles andere“ schätzen und „keine größere Schande kennen, als für einen Verräter der Freundschaft gehalten zu werden“ (Toxaris, 225). Dass die sozialontologischen Ansätze von Gilbert und Searle Freundespflichten implizieren, habe ich schon gezeigt. Doch welche Pflichten mögen das sein? Robert Goodin stellt treffend fest: „Exactly what special duties friends have toward one another is somewhat difficult to establish.“ (Goodin 1985, 93) Einige Kandidaten für solche Pflichten werden aber regelmäßig genannt: Montaigne verweist auf „Belehrungen und Warnungen, welche unter die vornehmsten Pflichten der Freundschaft gehören“,¹² und Elisabeth Telfer (1970/71, 231) ergänzt die Pflicht: „to help the friend when under attack (physical or verbal) or in need or trouble of any kind“.¹³ Freundschaften müssen wechselseitig sein. Dieser Aspekt ließe sich gut erklären, wenn Freundschaften durch so etwas wie Verträge oder andere explizite verbalisiert. Seine Beschaffenheit führt entlang einer Zeitdimension zur gemeinsamen Definition der Beziehung als ‚Freundschaft‘.“ Mit diesen Worten referiert Vernon 2010, 1, diese Position. Vgl. Cicero, De Amicitia X 35: „[I]us tamen amicitiae deserere arguerentur ab iis, quibus obsequi nollent.“ De Amicitia XVII 63 vergleicht das ius amicitiae mit anderen Gütern. – Zum Topos „Freunden Gutes tun“ vgl. schon Platon, Menon 71a und Politeia I, 332a. Cicero, De Amicitia XXII 82 löst das Dilemma kurzerhand dadurch auf, dass er wahre Freundschaft nur unter Tugendhaften möglich sein lässt. Montaigne, Über die Freundschaft, 110. Argyle und Henderson (1984) haben eine Liste von „Freundschaftsregeln“ in einer interkulturellen empirischen Studie überprüfen lassen. Von vier Regeln stellte sich heraus, dass sie sowohl in England, Italien, dem damals noch selbständigen Hongkong als auch in Japan von vielen der Befragten bestätigt wurden: (a) Respektierung der Privatheit, (b) Vertrauen in und Verlässlichkeit auf den anderen, (c) freiwillige Hilfe in Zeiten, in denen es nötig ist, und (d) keine Eifersucht und Kritik an dritten Beziehungen (Argyle/Henderson 1984, 221; vgl. auch NötzoldtLinden 1994, 102). Dass dies nicht als ein Pflichtenkatalog verstanden werden kann, zeigt Punkt (c), denn eine Pflicht wäre mit der geforderten Freiwilligkeit unverträglich.
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Akte zustande kämen – wie eben auch Ehen. Durch Verträge oder ihre Analoga fänden auch Freundespflichten ihre gute Begründung. Gegen ein solches kontraktualistisches Modell können wir im Anschluss an Goodin (1985, 94– 97) aber drei gewichtige Einwände formulieren: 1. Anders als etwa bei Kaufverträgen (oder Ehen) gibt es in der Regel kein Ritual, auf das wir das Entstehen der Pflichten zurückführen können. 2. Anders als bei Kaufverträgen (oder Eheverträgen) stehen die Pflichten der Freundschaft nicht zur Disposition beim Eingehen der Freundschaft (noch gibt es für sie, wie bei der Ehe, einen gesetzlich festgeschrieben Rahmen). 3. Anders als Vertragspflichten sind Freundschaftspflichten nicht verhandelbar. Ein solches Feilschen um Freundschaftsdienste wäre mit dem Wesen der Freundschaft nicht vereinbar, weil es Interessen und Motive offenbart, die unter Freunden keine Rolle spielen sollten.¹⁴ Wir können diesen Überlegungen noch zwei weitere Argumente hinzufügen: 4. Beruht eine Pflicht auf Vertrag oder Gesetz, so entspricht ihr in der Regel ein Recht des Vertragspartners, ein entsprechendes Verhalten einzufordern. Die Unterhaltspflicht des Ehepartners ist eine solche Pflicht, die sogar vor Gericht einklagbar ist. Freundespflichten können rhetorisch eingefordert werden, sie sind aber vor Gericht nicht einklagbar. Das scheint mehr als ein kontingentes Faktum unseres Rechtssystems zu sein: Diesen mutmaßlichen Freundespflichten scheinen keine Rechte auf das von ihnen gebotene Verhalten zu entsprechen.¹⁵ 5. Wenn es Freundschaftspflichten gibt, dann müssen diese Pflichten ebenso graduell und vage sein wie das Phänomen der Freundschaft selbst. Diese Pflichten müssen ebenso wachsen wie Freundschaften. Wie oft aber muss ich mit jemandem Skat gespielt haben, damit sich eine solche Freundschaftspflicht ergibt? Sprechen diese Argumente gegen die Existenz von Freundschaftspflichten? Sie sprechen jedenfalls gegen die Existenz basaler Freundschaftspflichten, also gegen die Existenz solcher Pflichten, die wir unmittelbar gegenüber unseren Freunden als unseren Freunden haben und die nicht aus anderen Pflichten ableitbar sind.
Vgl. Goodin 1985, 96: „Negotiating behavior implies ulterior motives of a sort that is incompatible with true friendship.“ Vgl. Paton 1993, 141, im Anschluss an Kant: „I may be confident that my friend will give me help if I am in need, but I should not think that I am entitled to demand it: such help must be understood only as an outer manifestation of inner kindness in the heart, and it is dangerous to put it to the test.“
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4 Freundschaft als Disposition Außer Frage steht, dass wir Verhaltensdispositionen haben. Erinnern wir uns an Schillers Distichon „Gewissensskrupel“: „Gern dien’ ich den Freunden, doch tu ich’s leider mit Neigung. So wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“ Unseren Freunden helfen, das tun wir eben gerne. Gegen Schillers Konklusion wäre als erstes zu sagen, dass es durchaus tugendhaft sein kann, wenn man gerne hilft. Aber ist es eine Pflicht? Wenn ja, wie ist sie entstanden? Die analoge Frage bezüglich eines Ehepartners können wir genau beantworten, indem wir auf die Eheschließung und entsprechende gesetzliche Regelungen verweisen. Bei Freunden können wir das hingegen nicht. Mit Schiller könnten wir darauf verweisen, dass Freunde schlicht dazu neigen, einander zu helfen. Wir können sogar sagen, dass Freundschaft geradezu durch wechselseitige Hilfsbereitschaft konstituiert wird. Das Vorhandensein einer Disposition zur Freundeshilfe wäre dann eine notwendige Bedingung für das Freundsein. Dass wir unseren Freunden helfen, wäre durch ein solches dispositionales Modell treffend erklärt. Wer solche Dispositionen nicht hat, ist schlichtweg kein Freund.¹⁶ In einem solchen dispositionalen Modell sind keine Pflichten gegenüber Freunden als motivationale Faktoren notwendig. Aber kann es auch die normative Dimension des Freundschaftsverhaltens erklären? Dazu scheinen doch entsprechende Pflichten notwendig zu sein: Warum sollten Menschen sonst getadelt werden, wenn sie ihren Freunden nicht helfen? Von Freunden erwartet man Hilfe. Wenn wir nur auf die der Freundschaft zugrundeliegenden Verhaltensdispositionen schauen, dann wird diese Erwartung wohl eher eine epistemische sein als eine ethische. Denn, so haben wir gesehen, schon aus definitiorischen Gründen muss man bei Freunden die Disposition der Hilfsbereitschaft dem Freunde gegenüber annehmen; diese ist geradezu das Merkmal des wahren Freundes. Damit wäre eine epistemische Erwartung der Hilfeleistung gut begründet. Wie sieht es aber mit der Rechtfertigung für eine moralische Erwartung aus? Eine basale spezifische Freundschaftspflicht, wie sie aus dem kontraktualistischen Modell erwachsen würde, habe ich als unplausibel abgewiesen. Denn wie sollte aus dem geregelten Kontakt eine Pflicht erwachsen, und wann? Im Fol-
Vgl. Wasserstrom 1984, 33: „Part of the meaning […] of what it is to be someone’s friend is that one does and will prefer the interests of one’s friend over those of other persons. If there were no firm and dependable disposition to do so, that would be a powerful conceptual reason to suppose that one was not even considering a case of friendship at all.“
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genden werde ich aber zeigen, dass die normative Komponente der Freundeshilfe durch abgeleitete Pflichten gegenüber Freunden erklärt werden kann.
5 Freundschaft als Spezialfall universaler Pflichten Die Existenz von Freundschaftsdispositionen ist sowohl kompatibel mit der Existenz von Pflichten gegenüber Freunden als auch mit ihrer Nichtexistenz. Die Leugnung jedweder Pflicht gegenüber unseren Freunden wäre kontraintuitiv. Spezielle Freundschaftspflichten, die sich aus der individuellen Freundschaft ergeben, sind aus den genannten Gründen aber unplausibel. Es bleibt jedoch die Möglichkeit, dass sich Freundschaftspflichten als Spezialfall aus universalen Pflichten ergeben. Dann gilt: Es gibt Pflichten gegenüber Freunden, aber nicht gegenüber Freunden als solchen. Freunde sind Spezialfälle von allgemeineren Beschreibungen, mit denen Pflichten verknüpft sind: Sie sind Menschen, und zwar Menschen in unserem unmittelbaren Handlungsumfeld. Und so haben wir ihnen gegenüber Pflichten, die sich etwa aus den Menschenrechten oder dem Gebot der Nächstenliebe ableiten. Oder wir geben einem bestimmten Freund ein konkretes Versprechen. In all diesen Fällen haben unsere Pflichten ihnen gegenüber nichts damit zu tun, dass sie unsere Freunde sind. Die Pflichten haben ihr Fundament dann entweder in der Menschheit der Freunde oder in unserem Versprechen ihnen gegenüber. Damit haben wir eine zweite Quelle für unsere starke Intuition gefunden, dass man Freunden helfen soll: Denn unsere Freunde sind Spezialfälle von Menschen, und Menschen gegenüber gibt es universale Pflichten (oder zumindest universale Prima-facie-Pflichten).¹⁷
6 Die besonderen Handlungsoptionen von Freunden Wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen: Auch dadurch, dass Freunde zueinander oft in ganz besonders gearteten Handlungssituation stehen, können sie vorzügliche Träger von Prima-facie-Pflichten gegenüber ihren Freunden sein. Als ein Vertreter einer solchen Position kann Goodin gesehen werden, der als Gegenentwurf zum kontraktualistischen Modell eine Beschreibung der Freundschaft „in terms of mutual emotional vulnerability“ favorisiert: „Friends inevitably
Für dieses Argument ist es völlig ausreichend, von Prima-facie-Pflichten auszugehen, und solche sind hier und im Folgenden zunächst einmal gemeint.
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have unique opportunities to help or to hurt one another.“ (Goodin 1985, 98 und 97) Dann aber könnten Freundespflichten aus der allgemeinen Pflicht abgeleitet werden, niemandem zu schaden, ihn also auch emotional nicht zu verletzen. Und eine emotionale Verletzung kann in einer Freundschaft beispielsweise dann eintreten, wenn die epistemisch erwartete Hilfeleistung des Freundes nicht erbracht wird. Wenn die Vermeidung einer solchen Verletzung moralisch geboten ist, dann geht die epistemische Erwartung gewissermaßen in eine normative Erwartung über. Eine Hilfspflicht unter Freunden könnte man also mit folgendem Argument begründen: (P1)
Man soll niemandem schaden.
(P2)
Emotionale Verletzungen fügen Menschen Schaden zu.
Also:
Man soll niemanden emotional verletzen.
(P3)
Freunde verletzt man emotional, wenn man ihnen Hilfe verweigert.
Also: (K) Man soll Freunden helfen. Mit (K) haben wir einen Normsatz abgeleitet, der eine Freundespflicht ausdrückt. Es handelt sich allerdings um eine abgeleitete Freundespflicht. Denn wir haben diese Freundespflicht aus (P1) abgeleitet, einem universalen Normsatz, der keinerlei spezifischen Bezug auf Freundschaft nimmt. Der spezifische Bezug auf die Freundschaft kommt durch die deskriptive Prämisse (P3) ins Spiel, und ebenso wie (P3) nur eine Faustregel darstellt und keinen Anspruch auf unbedingte Gewissheit erheben kann, drückt auch der abgeleitete Normsatz nur eine schwache und leicht angreifbare Verpflichtung aus. Das wird deutlich, wenn wir (P3) etwas vorsichtiger – und damit vermutlich sachgemäßer – formulieren: (P3*)
Freunde verletzt man häufig/in der Regel, wenn man ihnen Hilfe verweigert.
Denn jetzt folgt nur noch: (K*)
Man soll Freunden häufig/in der Regel helfen.
Wir haben nun also eine dritte Quelle für unsere starke Intuition, dass man Freunden helfen soll, gefunden: Neben der definitorischen Notwendigkeit von Hilfsbereitschaft bei Freunden und der Tatsache, dass Freunde Spezialfälle von Menschen sind, ist es die besondere Handlungssituation, in der Freunde sich in der Regel befinden, die ihnen eine Hilfspflicht auferlegt. Ein solcher an Goodin angelehnter Vorschlag kann daher auch erklären, warum man Freunden mehr Gutes tun soll als anderen. Denn Freunde sind schneller verletzt, beleidigt oder
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enttäuscht als andere, wenn ihnen Hilfe ausgeschlagen oder sie nicht zur Party eingeladen werden. Goodins Vorschlag kommt auch mit dem graduellen und vagen Charakter der Freundschaft zurecht. Denn Verletzungen sind steigerbar und vielfältig, so wie die Facetten der Freundschaft. Und je nach Stärke der Freundschaft und entsprechend der Stärke der Verpflichtung können den Freunden unterschiedliche Handlungen geboten oder verboten sein. Und nun können wir auch die Rolle des geregelten Kontaktes besser verstehen. Denn durch den geregelten Kontakt wird nicht eine basale Pflicht etabliert, sondern die Freunde erlangen Zugang zu jenen besonderen Handlungsoptionen, etwa, sich in besonderer Weise helfen oder auch verletzen zu können. Und diese besonderen Handlungsoptionen waren es ja, aus denen sich die abgeleiteten Pflichten ergeben. Während sich aus der Eheschließung direkte, auf den Ehepartner bezogene Rechte und Pflichten ergeben, ergeben sich aus dem geregelten Kontakt mit dem Freund primär nur besondere Handlungsoptionen, die dann sekundär ethische Relevanz bekommen, etwa aufgrund des Noli nocere, des Nicht-schaden-Gebotes. Obwohl wir den Unterschied zwischen ethischer und epistemischer Erwartung unangetastet lassen, kann also im Falle der Freundschaft die epistemische Erwartung ethisch relevant werden, und zwar weil Enttäuschung der epistemischen Erwartung mit emotionaler Verletzung einhergehen kann.¹⁸ Bevor ich einige Konsequenzen der hier entwickelten Position entfalten kann, muss ich noch einen möglichen Einwand ausräumen.
7 Freundschaftpflichten als Resonanzphänomen? In der gegenwärtigen Ethik werden Freundespflichten oft unter dem allgemeineren Titel der Parteilichkeit diskutiert. Darunter fallen auch andere Phänomene, die eine bevorzugte Behandlung nahezulegen scheinen, wie etwa die sozialen Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Lebensgefährten oder zwischen Landsleuten. Ethische Standardtheorien wie der Utilitarismus, der Kantianismus oder auch Gerechtigkeitstheorien à la Rawls gehen aber von Unparteilichkeit und Gleichbehandlung als ethischem Standard aus; alle Abweichungen davon bedürfen der Begründung. Die beiden letzten von uns genutzten Strategien können für eine solche Begründung verwendet werden. Sie entsprechen in etwa den in der Diskussion als deduction und facilitation bezeichneten
Vgl. hierzu Goodin 1985, 96 n. 81: „[I]t is the other’s expectation rather than your intentions that matter morally.“
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Strategien: Deduktive Begründungen fassen Parteilichkeit als Sonderfall universaler Normen, während fazilitative Begründungen Parteilichkeit als (instrumentelles oder kausales) Mittel fassen, um universelle Normen zu verwirklichen (vgl. Kolodny 2010a und 2010b). Parteilichkeitsreduktionisten vertreten die These, dass sich alle gebotenen Parteilichkeiten durch Deduktion und Fazilitation auf nichtparteiliche Normen zurückführen lassen. Niko Kolodny (2002, 2003, 2010a und 2010b) hat nun in mehreren einflussreichen Aufsätzen für eine nicht-reduktionistische Theorie der Parteilichkeit ausgesprochen. Er argumentiert dafür, dass sich Gründe für die Bevorzugung von nahestehenden Personen auch aus „Resonanzprinzipien“ ergeben können: Gründe für Parteilichkeit können in Gründen für Reaktionen in anderen Dimensionen, beispielsweise für Gefühlsempfindungen oder Lebensprojekte, einen Resonanzraum finden, d. h. sich durch Entsprechung verstärken. Schauen wir uns zur Erläuterung Kolodnys eigenes Beispiel an (vgl. Kolodny 2010a, 43, und 2010b, 177): Nehmen wir an, ich habe einen Bandwurm und suche deswegen einen Arzt auf. Vom Arzt erwarte ich klarerweise ein parteiliches Verhalten, nämlich dass er um mein Wohlergehen bekümmert ist und nicht um das Wohlergehen des Parasiten. Sollte der Arzt nicht um meine Gesundheit besorgt sein, hätte ich nicht nur allen Grund für eine negative „nicht-reaktive Emotion“ (nonreactive emotion) wie Unruhe oder Sorge, sondern auch für die „reaktive Einstellung“ (reactive attitude) des Unmuts (resentment) über das Verhalten des Arztes. Die Gründe für die reaktive Einstellung verstärken also die Gründe für die nicht-reaktiven Emotionen. Nun ist das Haben von Gründen notwendig für das Haben von Pflichten, aber nicht hinreichend: Die Existenz einer Pflicht ist selbst schon ein Handlungsgrund, aber ein Handlungsgrund konstituiert allein noch keine Pflicht – denn nicht alle Handlungsgründe sind moralische Gründe. Also würde die Existenz von irreduziblen Gründen noch nichts über die Existenz basaler Pflichten sagen. Da aber Kolodny die Rede über Handlungsgründe als ein Passepartout für normative Aussagen im Allgemeinen verwendet (vgl. Kolodny 2010b, 171), könnten seine Argumente auch für den gegenwärtigen Kontext relevant sein (wiewohl ich denke, dass sie sich nicht ohne weiteres auf die Rede über Pflichten übertragen lassen). Entscheidend ist jedoch, dass Kolodnys Nicht-Reduzibilität nicht heißt, dass sich eine Freundschaftspflicht überhaupt nicht herleiten lässt, sondern dass sie sich nicht mit den beiden Strategien Deduktion und Fazilitation herleiten lässt. Denn jeder von Kolodny beschriebenen Resonanzart entspricht ein allquantifiziertes Konditional, das als Brückenprinzip zwischen den jeweiligen ResonanzDimensionen fungieren kann. Beispielsweise folgen meine Gründe für Unmut aus meinen Gründen für die Sorge und dem allgemeinen Prinzip (B):
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(B) Wenn ich Grund für Sorge in Bezug auf einen Sachverhalt S habe und ein Handelnder H der Verursacher von S ist, dann habe ich Grund dafür, Unmut gegenüber H zu empfinden. Dieses Prinzip bringt eine allgemeine Beziehung zwischen Sorge und Unmut zum Ausdruck; es ist eine allgemeingültige Aussage über diese beiden Arten von Emotionen und somit keine parteiliche Norm. Wenn sich also Freundschaftspflichten aus Kolodnys Resonanzprinzipien ergeben, sind sie dadurch noch keine basalen Freundschaftspflichten in unserem Sinne.
8 Korollarien 8.1 Formelle und informelle Institutionen Wir haben gesehen, dass das Postulat spezifischer Freundschaftspflichten mit so vielen Problemen belastet ist, dass es keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach dem Fundament einer bestimmten Freundespflicht darstellt. Diese Probleme treten nicht nur in Freundschaften auf, sondern allgemein in informellen Institutionen. Denn die Probleme, die wir bei Freundschaften sahen, haben alle informellen Institutionen gemeinsam: Sie kommen nicht durch einen datierbaren Einsetzungsakt in die Existenz, in der die zu schaffende Institution explizit thematisiert wird, sondern durch graduelles Wachstum.¹⁹ Wir können daher nie sagen, wie und wann eine mutmaßlich mit einer solchen Institution verbundene Pflicht denn entstanden sei. Und das zeigt, dass man in der sozialontologischen Analyse tatsächlich klarer als Gilbert und Searle es tun zwischen den formellen und informellen Aspekten der sozialen Wirklichkeit unterscheiden muss. Wir brauchen also mindestens zwei Ansätze für die Sozialontologie: eine Theorie der formellen und eine Theorie der informellen Institutionen, wobei die erstere für Ehen und die letztere für Freundschaften zuständig wäre.
8.2 Koinzidenz von formellen und informellen Institutionen Wir müssen aber sogleich hinzusetzen, dass die Aufgabenteilung zwischen diesen beiden sozialontologischen Theorien nicht so aussehen kann, dass wir immer nur genau eine dieser Theorien anwenden. Denn keine Ehe ist nur eine formelle In-
Vgl. Sumner 1907, 54: „Institutions […] are crescive when they take shape in the mores, growing by the instinctive efforts by which the mores are produced.“
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stitution, und eheliche Pflichten erschöpfen sich nicht darin, was vom Gesetzgeber in Paragraphen gegossen wurde. Gibt es eine Pflicht, mit seinem Ehepartner zu reden? Im Gesetz steht sie nicht. Aber sie kann wiederum aus dem Noli nocere und den besonderen Handlungsoptionen von Eheleuten abgeleitet werden. Eine Ehe ist also eine formelle Institution, aber in unserem Kulturkreis fällt sie normalerweise mit einer informellen Beziehung zusammen, nämlich mit der Partnerschaft zwischen den Ehenleuten, die wie die Freundschaft eine informelle Institution ist. Im Fall der Ehe ist besonders bemerkenswert, dass der Gesetzgeber die informelle Ebene als Bedingung für die Gültigkeit der formellen Ebene ansieht. Denn wer nur heiratet, aber keine Ehe führen will, geht nach dem Gesetz eine bloße Scheinehe ein. Den umgekehrten Fall, dass die informelle Ebene vorhanden ist und nur die formelle Ebene fehlt, bildet die einst sogenannte „wilde Ehe“ oder „eheähnliche Beziehung“.
8.3 Unausschöpfbarkeit informeller Institutionen Freundschaft, so stellt schon Aristoteles fest, erlaubt es in eminenter Weise, in Gesellschaft miteinander zu leben. In dieser Hinsicht übertrift sie für Aristoteles sogar die Gerechtigkeit: Und wenn die Menschen Freunde sind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit; hingegen bedarf es, wenn sie gerecht sind, zusätzlich der Freundschaft, und als das Gerechteste innerhalb des Gerechten gilt das Freundschaftliche. (NE VIII 1, 1155a 26 – 28)
Gerechtigkeit kann also durch Freundschaft ersetzt werden. Umgekehrt kann Freundschaft aber nicht auf Gerechtigkeit zurückgeführt werden, auch nicht auf Vertragsgerechtigkeit. Auch in dieser Beziehung ist Freundschaft paradigmatisch für den Bereich der informellen Institutionen im Allgemeinen: Informelle Institutionen funktionieren ohne eine vorlaufende Kodifizierung, ja sie lassen sich vielleicht gar nicht durch Kodifikation ausschöpfen. Sie sind deswegen nicht auf die Sprache als Instituierungsmittel angewiesen und machen dadurch das Entstehen sozialer Sachverhalte überhaupt erst möglich. Außerdem ließe sich eine Freundschaft niemals auf einen Vertrag allein gründen: Die Grundhaltung im Vertragsrecht ist Misstrauen, die Grundhaltung einem Freund gegenüber aber Vertrauen, und dieses kann durch einen Vertrag allein nicht entstehen. Das ist einer der Gründe, weswegen Freundschaften nicht kodifizierbar sind (vgl. Paine 1969, 521), und schon deswegen kann das Versagen von Hilfe unter Freunden nicht mit Strafe bewehrt werden. Zudem würde eine solche Strafandrohung in Konflikt
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mit dem Wesen der Freundschaft stehen. Denn der Freund soll helfen, weil er Freund ist, und nicht, weil ihm eine Strafe droht.²⁰
Literatur Argyle, M./Henderson, M., 1984: The Rules of Friendship. In: Journal of Social and Personal Relationships 1, 211 – 237. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. und hg. von U. Wolf, Reinbek bei Hamburg 2006. Bernsdorf, W. 1955: „Freundschaft“, in: W. Bernsdorf/F. Bülow (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, 140 – 142. Carrier, J.G. 1999: People Who Can Be Friends: Selves and Social Relationships. In: S. Bell/ S. Coleman (Hg.): The Anthropology of Friendship, Oxford/New York, 21 – 38. Cicero: Laelius de amicitia, hg. von C.F.W. Müller, Leipzig, 1884 (Deutsche Übersetzung in: Was Cicero vor 2000 Jahren über Greisenalter und Freundschaft schrieb. Cato maior de Senectute. Laelius de Amicitia, übers. von A. Kabza, München 1961). Eisenstadt, S.N., 1956: Ritualized personal relations. In: Man 56, 90 – 95. Gilbert, M. 2006: A Theory of Political Obligation, Oxford. Goodin, R. 1985: Protecting the Vulnerable, Chicago. Kolodny, N., 2002: Do Associative Duties Matter? In: Journal of Political Philosophy 10, 250 – 266. Kolodny, N., 2003: Love as Valuing a Relationship. In: Philosophical Review 112, 135 – 189. Kolodny, N., 2010a: Which Relationships Justify Partiality? The Case of Parents and Children. In: Philosophy & Public Affairs 38, 37 – 75. Kolodny, N., 2010b: Which Relationships Justify Partiality? General Considerations and Problem Cases. In: B. Feltham/J. Cottingham (Hg.): Partiality and Impartiality. Morality, Special Relationships, and the Wider World, Oxford, 169 – 193 Lukian: Toxaris. In: Ders.: Werke in drei Bänden, hg. von J. Werner und H. Greiner-Mai, übers. von C.M. Wieland, Bd. 2, 2. Aufl. 1981, Berlin/Weimar, 221 – 265. de Montaigne, M., 1793: Über die Freundschaft (Essais XXVII). In: Ders.: Essays, übers. von J.J. C. Bode, hg. von R. Noack, 3. Aufl., Leipzig 1990, 108 – 124. Nötzoldt-Linden, U., 1994: Freundschaft. Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie, Opladen. Paton, H.J., 1993: Kant on Friendship. Nachdruck in: N.K. Badhwar (Hg.): Friendship. A Philosophical Reader, Ithaca/London, 133 – 154 (zuerst in: Proceedings of the British Academy 22, 1956, 197 – 219). Paine, R., 1969: In Search of Friendship. An Exploratory Analysis of ‘Middle Class’ Culture. In: Man 4, 505 – 524. Platon: Werke in acht Bänden, hg. von G. Eigler, Darmstadt 1990. Schiller, F.: Gewissensskrupel. In: Ders.: Sämtliche Werke I, 8. durchges. Auflage, München 1987, 299. Searle, J.R., 1995: The Construction of the Social World, New York.
Vgl. Goodin 1985, 99: Die Androhung einer Strafe „would only confuse the crucial question of motivations“.
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Searle, J.R., 2010: Making the Social World, Oxford. Sumner, W.G., 1907: Folkways. A Study of the Sociological Importance of the Usages, Manners, Customs, Mores, and Morals, Boston. Telfer, E., 1970/71: Friendship. In: Proceedings of the Aristotelian Society 71, 223 – 241. Vernon, M., 2010: The Meaning of Friendship, New York. Wasserstrom, R., 1984: Roles and Morality. In: D. Luban (Hg.): The Good Lawyer. Lawyers’ Roles and Lawyers’ Ethics, Totowa NJ, 25 – 37.
Monika Betzler
Sekundäre Amoralität Eine ethische Analyse von Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser ¹
1 Unbeabsichtigte Immoralität Was die niedrigen Motive betraf, so war er sich ganz sicher, dass er nicht ‚seinem inneren Schweinehunde‘ gefolgt war; und er besann sich ganz genau darauf, dass ihm nur eins ein schlechtes Gewissen bereitet hätte: wenn er den Befehlen nicht nachgekommen wäre und Millionen von Männern, Frauen und Kindern nicht mit unermüdlichem Eifer und peinlicher Sorgfalt in den Tod transportiert hätte. Mit diesen Versicherungen sich abzufinden war nicht ganz einfach. Immerhin war ein halbes Dutzend Psychiater zu dem Ergebnis gekommen, er sei ‚normal‘ […] Ja, es war noch nicht einmal ein Fall von wahnwitzigem Judenhass, von fanatischem Antisemitismus oder von besonderer ideologischer Verhetzung. (Arendt 1978, 53 f.)
Mit diesen Worten skizziert Hannah Arendt das „schwerste moralische Problem“ des Falles Eichmann anlässlich ihrer Analyse des Jerusalemer Prozessmaterials. Dieses von Arendt so benannte, aber nicht näher erklärte Problem scheint darin zu bestehen, dass Gräueltaten von unvorstellbarem Ausmaß, wie der Holocaust, von Menschen begangen wurden, die keine bösen Absichten haben. Damit ist unsere traditionelle Erklärung unmoralischer Handlungen in Frage gestellt, die in der Regel auf die bösen Motive ihrer Täter rekurriert. Dass die Vernichtung der Juden (oder anderer) vielfach von ganz „gewöhnlichen“ Menschen begangen wurde, wird durch zahlreiche Zeugnisse von Opfern und deren Angehörigen belegt. Auch historische, anthropologische sowie manche philosophische Analysen unterstützen diese Diagnose. So bezeugt der AuschwitzÜberlebende Primo Levi, kein einziges Monster während seiner Zeit im Lager gesehen zu haben. Stattdessen sei er Menschen „wie Du und ich“ begegnet (Levi, 2001, 268; vgl. auch Morton 2004, 2). Die Anthropologin Inga Clendinnen (1999, 111) diagnostiziert, dass weder Judenhass noch andere ideologische Werte erklären können, warum „gewöhnliche“ Menschen zu Mördern wurden. Raul Hilbergs historische Studie Die Vernichtung der europäischen Juden (1990, 1062)
Dieser Text ist zuerst erschienen in dem von Sebastian Donat, Roger Lüdeke, Stephan Packard und Virginia Richter herausgegebenen, vorwiegend literaturwissenschaftliche Beiträge versammelnden Band Poetische Gerechtigkeit bei Düsseldorf University Press 2012, 307– 338. Er wird mit kleinen Veränderungen wiederabgedruckt.
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kommt zu dem Ergebnis: „Der deutsche Täter war kein besonderer Deutscher“. Vielmehr, so Hilberg, stellten die Täter „einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung dar“, der sich in der „moralischen Gesinnung“ nicht vom Rest der Bevölkerung unterschied (ebd., 1080). Die jüdische Philosophin Susan Neiman betont, dass die Nazis auf jeder Ebene „mehr Böses mit weniger Bösartigkeit [erzeugten], als die Zivilisation es je gesehen hatte“², und der jüdische, aus einer Überlebenden-Familie stammende Philosoph Raimond Gaita macht darauf aufmerksam, dass die Kategorie des Bösen derartige Gräueltaten nicht als Motiv erklären kann: die Täter begingen derartigen Horror in der Regel nicht, weil sie böse Motive hatten (vgl. Gaita 2000, 45 f.). Diese Zeugnisse und Belege sind freilich so wenig umfassend wie eindeutig; doch auch wenn sie die These, dass Gräueltaten – wie der Holocaust – unzureichend durch die Bösartigkeit der Täter erklärbar sind, nicht beweisen können, lassen sie diese Einschätzung immerhin plausibel genug erscheinen, um sie als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen anzunehmen. Dazu sind vorab weitere Präzisierungen erforderlich: Zum einen möchte ich nicht behaupten, dass eine erschöpfende Erklärung des Holocaust – den ich hier als beispielhaft für kollektiv hervorgebrachte Gräueltaten betrachte – nicht auch auf Täter und Täterinnen rekurrieren muss, die böse Motive besitzen. An dieser Stelle kann ich nur betonen, dass die Nazi-Verbrechen auch maßgeblich von sadistischen und moralisch pervertierten Personen begangen wurden, und ohne deren Täterschaft nicht erklärbar sind.³ Zum anderen geht es mir im Folgenden ohnehin nicht um eine hinreichende Erklärung eines so komplexen und in vielerlei Hinsicht unbeschreiblichen Grauens, wie es der Holocaust darstellt. Mein Anspruch ist weitaus bescheidener. Ich möchte lediglich zeigen, aus welchen motivierenden Gründen ganz „gewöhnliche“ Personen zu Gräueltaten beitragen. Um meinen Anspruch einzulösen, setze ich einerseits voraus, dass es zur Erklärung von kollektiven Handlungen dieser Art notwendig ist, dass viele, ja die meisten der daran beteiligten Akteure über keine entsprechenden bösen Motive verfügen. Andererseits ist es nicht hinreichend, kollektive Schreckenshandlungen auf diese Weise zu analysieren. Vielmehr ist der Beitrag jener, die aus Motiven wie Hass und ideologischen Überzeugungen sowie nach unmoralischen bzw. pervertierten Werten oder Prin-
Neiman 2004, 396. Vgl. auch Neiman 2006, 47. Bernhard Schlink hat in persönlicher Korrespondenz und nach Lektüre dieses Beitrags zu Recht betont, dass es einen „überproportionalen Anteil von Intellektuellen unter den Mitgliedern der Einsatzgruppen“ gab. Diesen Personen mangelte es nicht an rationalen Fähigkeiten und es liegt nahe anzunehmen, dass sie – um ihr Verhalten überhaupt plausibel zu machen – häufig böse Motive für ihr Tun hatten.
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zipien handeln, zum Verständnis kollektiver Gräueltaten unabdingbar. Im Folgenden wird es mir jedoch nur um die Erklärung von Gräueltaten gehen, sofern sie von Personen mitverursacht werden, denen keine solchen Motive zugeschrieben werden können. Es geht um die Bürokraten, Mitläufer und Mittäter, denen selbst böse oder pervertierte Motive fehlen, die gleichwohl aber ihren Beitrag zur Realisierung grauenvoller Ziele geleistet haben. Eine nähere Untersuchung dieses Beitrags macht einsichtig, wie es zu solchen kollektiv begangenen Gräueltaten überhaupt kommen kann. Darüber hinaus hilft eine solche Analyse, besser zu verstehen, in welch verschiedenen Weisen Personen unmoralisch sein können. Bevor ich mich diesem Anliegen im Einzelnen zuwende, soll zuvor präziser gefasst werden, wie böse Motive genauer charakterisierbar sind. Dies kann helfen, die These zu profilieren, dass diejenigen, die ich im Folgenden „Mittäter“ nenne, ganz „gewöhnliche“ Menschen sind, denen solche Motive fehlen. Es lassen sich zwei Arten böser Motive unterscheiden. (i) Eine Person kann zum einen in einem pervertierten Sinne böse sein. In diesem Fall besitzt sie die Absicht, Schlechtes bzw. Unmoralisches zu tun. Dieses Motiv ist pervertiert, da die Person die Tatsache, dass ihre Handlung schlecht oder falsch ist, als ein Kriterium ihrer Güte und damit als Grund für die Handlung betrachtet. Sie fällt somit ein falsches Urteil, da sie das Böse für das Gute hält. Im Kontext des Holocaust würde dies z. B. bedeuten, dass eine Person beabsichtigt, die Juden zu vernichten, weil sie eine solche grauenvolle Tat als gut oder richtig beurteilt. Es gibt wiederum zwei Versionen dieser pervertiert bösen Motive. Die Person kann in einem phänomenalen Sinne das Schlechte positiv werten. In einem solchen Fall ist sie sadistisch: Sie empfindet subjektiv Freude, wenn sie einer anderen Person Leid zufügt, und handelt aus diesem Grund.⁴ Das Schlechte kann jedoch auch mit Verweis auf ideologische Anschauungen positiv beurteilt werden, etwa der Art „Es ist gut, Nicht-Arier auszumerzen, da sie die arische Rasse bedrohen“. (ii) Eine Person kann zum anderen „aus Neigung böse“⁵ sein. In diesem Fall misst sie einem nicht-moralischen Ziel – wie z. B. großen Gewinn zu machen – einen ungerechtfertigt hohen Wert bei, obwohl sie (im Gegensatz zur pervertiert bösen Person) weiß, dass sie dadurch gewichtige moralische Forderungen vernachlässigt. Dies lässt sich auch so beschreiben, dass sie zur Realisierung eines ihrer prudentiellen Ziele ein nicht zu rechtfertigendes unmoralisches Mittel wählt oder unmoralische Nebenfolgen billigend in Kauf nimmt. Ein aus Neigung böser Nazi würde z. B. einen Juden verraten oder gar umbringen –
Diese Auffassung des Bösen vertritt Steiner 2002. Diesen Begriff („preferential wickedness“) verwendet Milo 1984, 218.
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wohlwissend, dass dies moralisch falsch, ja böse ist –, um sich an seinem Vermögen zu bereichern. Zur Realisierung seines Ziels ist er bereit, grob unmoralische Mittel zu wählen.⁶ Die sogenannten „gewöhnlichen“ Menschen, ohne deren Beteiligung der Holocaust nicht möglich gewesen wäre, sind jedoch häufig weder pervertiert noch aus Neigung böse. Zugleich unterscheidet sich ihr Tun von „herkömmlichem“ moralischen Fehlverhalten, wie etwa Lügen, dem Bruch von Versprechen, oder der punktuellen Bevorzugung eigener Interessen gegenüber den berechtigten Ansprüchen ihrer Mitmenschen, insofern sie anderen direkt oder indirekt große Qualen zufügen. Ihre Taten sind daher besonders schockierend. Somit stellt sich die Frage, wie sich ihr Tun moralpsychologisch genauer erklären lässt. Aus welchen Gründen handeln sie? Was genau ist der Gehalt der partizipatorischen Absicht, mit der die „gewöhnlichen“ Mittäter zum kollektiven Ziel der Judenvernichtung beitragen? Um einerseits die Tatsache zu berücksichtigen, dass der Beitrag zum Holocaust und dem damit verbundenen Horror nicht auf einer Skala mit anderen unmoralischen Handlungen anzusiedeln ist, und um andererseits anzuerkennen, dass die Mittäter weder pervers böse noch böse aus Neigung sind oder waren, haben manche Philosophinnen und Philosophen versucht, die Kategorie des Bösen auszuweiten.⁷ Auf diese Weise sollen auch Handlungen als böse klassifiziert werden können, die nicht auf die bösen Motive ihrer Täter rückführbar sind. Eine Handlung kann demnach als böse betrachtet werden, wenn sie die folgenden Eigenschaften aufweist: (i) Sie ruft bei Beobachtern physisch verankerte Reaktionen wie Ekel, Übelkeit, Schrecken und Abscheu hervor; (ii) sie lässt sich scheinbar nicht mehr durch Gründe erklären und wirkt daher unverständlich; (iii) sie lässt sich über ihre Folgen bzw. über ihr Ziel individuieren: Sie fügt anderen großes physisches und/oder psychisches Leid zu; (iv) diese Folgen werden auf bestimmte Weise hervorgebracht bzw. die diese Folgen hervorbringende Handlung lässt sich auf eine bestimmte Weise beschreiben: Sie drückt eine dehumanisie-
Eine aus Neigung böse Person weiß, dass sie falsch handelt, besitzt jedoch kein Interesse, moralisch zu sein. Vgl. u. a. Formosa 2008, 220, der verschiedene „Quellen des Bösen“ anerkennen will und daher für eine Kombinationstheorie des Bösen plädiert. Böse Motive sind ihm zufolge nicht notwendig, um böse Handlungen zu individuieren. Vgl. Russell 2006, 104, der für eine „psychologisch reichhaltige Konzeption des Bösen“ plädiert. Vgl. auch Russell 2007, 675 f., sowie Russell 2010, 53 f. Card 2002, 14, will auf Motive zur Erklärung des Bösen verzichten und rekurriert auf die Natur des zugefügten Leids. Hinzu kommt jedoch, dass ihrer Meinung nach dem Täter/der Täterin Schuldfähigkeit zugeschrieben werden muss.
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rende Haltung der Missachtung gegenüber den betroffenen Personen aus, indem deren basale Ansprüche auf Vermeidung von Schmerz sowie auf Erhaltung ihrer physischen, psychischen und sozialen Integrität verletzt werden. Es handelt sich hierbei um eine besondere Verletzung ihrer Würde. Dies geht damit einher, dass die Täter ihre Opfer nicht als freie Personen mit gleichen Rechten betrachten.⁸ Doch selbst wenn Handlungen auch ohne Rekurs auf entsprechende Motive als böse klassifiziert werden können, bleibt meines Erachtens immer noch zu klären, worin die spezifische Bosheit der „gewöhnlichen“ Mittäter an Gräueltaten besteht. Ihnen böse Absichten abzusprechen und ihr Tun nahezu ausschließlich über andere Eigenschaften ihrer Handlungen – wie die gravierenden Folgen und die Reaktionen anderer – zu individuieren genügt nicht, um die Gründe dieser Mittäter verständlich zu machen. Ohne Rekurs auf ihre motivierenden Gründe kann jedoch nicht erklärt werden, worin genau ihr gravierendes moralisches Fehlverhalten besteht. Auch wenn ihr Tun häufig unverständlich erscheinen mag, so heißt dies nicht, dass keine sie motivierenden Gründe ausfindig zu machen sind. Diese sind nur nicht in den unmittelbaren, eine Handlung verursachenden bösen Absichten zu lokalisieren. Dass ihr Tun jedoch absichtlich ist, insofern es aus Gründen geschieht, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie sich weder unfreiwillig noch aus bloßem Zwang beteiligen. Ihr Tun ist ihnen ferner zuschreibbar und sie müssen sich auch ohne böse Absichten für ihre Taten verantworten. Um die distinkte, „unbeabsichtigte“ Immoralität von absichtlicher Mittäterschaft an Gräueltaten besser zu verstehen, werde ich folgendermaßen vorgehen. Ich werde den Roman Der Vorleser von Bernhard Schlink, insbesondere die Figur der Lageraufseherin Hanna, analysieren. Die in ihrer moralpsychologischen Verfassung präsentierte Figur eignet sich meines Erachtens besonders gut, die Gründe aufzuspüren, die eine Person veranlassen, unbeabsichtigt (und insofern nicht aus bösen Motiven), aber absichtlich unmoralische Handlungen zu begehen. Inwiefern ist das Verhalten einer Person wie Hanna in besonderer Weise unmoralisch? Aus welchen Gründen handelt sie? Und welchen moralischen Defekt hat sie genau? Betrachten wir zunächst den Handlungsgang.
Für einen ähnlichen Definitionsversuch vgl. Morton 2004, 13 f.
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2 Der Vorleser: Moral und Unmoral Das zentrale Thema von Schlinks 1995 erschienenen, in 39 Sprachen übersetzten und mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Roman Der Vorleser ⁹ ist die NaziVergangenheit der ehemaligen Lageraufseherin Hanna, die aus der Perspektive ihres ehemaligen, weit jüngeren Geliebten erzählt wird. Der erste Teil dreht sich um die Liebesgeschichte zwischen dem 15-jährigen Gymnasiasten Michael und der über 20 Jahre älteren Straßenbahnschaffnerin Hanna. Eines Tages ist Hanna aus (zu diesem Zeitpunkt) unerklärlichen Gründen verschwunden. Der zweite Teil des Romans setzt sieben Jahre später ein. Inzwischen studiert Michael Jura und besucht mit einem Seminar einen Kriegsverbrecherprozess. Im Gerichtssaal erkennt er in einer der Angeklagten Hanna wieder, die sich nun als ehemalige Lageraufseherin zu verantworten hat. Im Laufe der Verhöre entdeckt Michael, dass Hanna Analphabetin ist.Weil Hanna vor Gericht verheimlichen will, dass sie weder lesen noch schreiben kann, gibt sie fälschlicherweise zu, einen in den SS-Akten befindlichen Bericht geschrieben zu haben. Aus diesem Bericht geht hervor, dass Hanna eine von ihr und ihren Kolleginnen zu beaufsichtigende größere Gruppe jüdischer Frauen gegen Kriegsende während des Marsches gen Westen in eine Kirche gesperrt hat. Als die Kirche, von einer Bombe getroffen, zu brennen begann, wurden die jüdischen Frauen nicht aus den Flammen gerettet. Aufgrund der ihr fälschlicherweise zuerkannten Hauptverantwortung sowie aufgrund ihrer Mitwirkung an Selektionen wird Hanna zu lebenslanger Haft verurteilt. Zu Beginn des dritten Teils erfahren wir, dass Michael Rechtshistoriker geworden ist und sich nicht von seiner Liebe zu Hanna befreien konnte. Als Hannas Entlassung bevorsteht, kommt es zu einer letzten Begegnung zwischen Michael und Hanna. Es wird nun deutlich, dass Hanna während ihrer Gefangenschaft nicht nur lesen und schreiben gelernt, sondern sich auch intensiv mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Als er sie am Tag ihrer Entlassung abholen will, wird sie erhängt in ihrer Zelle gefunden. Der Roman exemplifiziert Moral und Unmoral in mehrfacher Hinsicht. Zum Ersten betrifft dies den formalen Aufbau: Hanna wird als Figur eingeführt, die Fürsorge für den 15-jährigen Michael zeigt und ihm dann als Geliebte begegnet. Sie verfügt über sekundäre Tugenden, wie besondere Sauberkeit, Disziplin und Fleiß (wozu sie Michael anhält). Sie wird als verletzbar (sie fühlt sich bisweilen von
Im Folgenden werden Zitate und andere Textverweise in Klammern mit der Abkürzung ‚VL‘ angegeben.
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Michael nicht genügend geachtet und straft ihn mit kühler Distanz) und mitunter kindlich (so wie sie die von Michael vorgelesenen Klassiker kommentiert) dargestellt. Beim Lesen entsteht dadurch ein bestimmtes Bild vom Verhalten Hannas und ihrem Charakter¹⁰, der sich im zweiten Teil infolge dieser Erwartungshaltung umso überraschender als gravierend unmoralisch entpuppt. Zum Zweiten kreist der Roman inhaltlich um die Themen Schuld und moralisches Fehlverhalten,Verantwortung und Scham von Tätern und Nachgeborenen. Ob und inwiefern Täter oder Nachgeborene unmoralisch und daher schuldig sind, wird zum einen auf der interpersonellen Ebene (Michaels Schuld am Verrat an Hanna, da er gegenüber seinen Freunden nicht zu ihr stand), zum anderen auf der Ebene zwischen den Generationen verhandelt (Michael in seiner Beziehung zum kühl, aber moralisch urteilenden Vater; Hannas Schuld gegenüber Michael, den sie benutzt) sowie unmittelbar zwischen Tätern und Opfern (Hannas Schuld an dem Leid der jüdischen Frauen; Hannas Scham aufgrund ihres Analphabetismus). Zum Dritten wird im Medium der Literatur ethisch gewertet. Die Täterin Hanna wird nicht dämonisiert, sondern als „gewöhnlicher“ Mensch charakterisiert, der schließlich im Gefängnis dazu gelangt, seine Taten einzusehen und zu bereuen.¹¹ Zum Vierten spiegeln sich die Themen der Moral und Unmoral in der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung. Dies betrifft insbesondere die Debatte, ob Schlink die Nazi-Greuel auf diese Weise exkulpiert.¹² Im Rahmen dieses Beitrags richtet sich mein Interesse vornehmlich darauf, die spezifische Immoralität der Mittäterin Hanna, und somit einen bestimmten Gehalt des Romans, zu analysieren. Es geht mir also weder um eine literaturwissenschaftliche Interpretation noch um eine umfassende Analyse des Moralischen und Unmoralischen im Roman Schlinks. Und ebenso wenig geht es mir um eine Klärung des Anliegens Schlinks, das insbesondere das Verhältnis von Nachgeborenen zu ihrer unmittelbaren schrecklichen Vergangenheit betrifft. Ich möchte vielmehr Hannas moralpsychologische Voraussetzungen klären und verdeutlichen, was genau es ist, das ihr Verhalten – über die Konsequenzen ihrer Taten hinaus – unmoralisch macht. Diese Klärung erlaubt meines Erachtens interessante Rückschlüsse auf die Ursachen des Unmoralischen und ist insofern keine bloß philosophische Fingerübung. Es ist jedoch nicht üblich, moraltheoretische Einsichten aus literarischen Figuren zu gewinnen. Um zu zeigen, welcher Erkenntnisgewinn sich auf diese
Kaul 2008, 259, spricht von der „moralischen Entlastung“ Hannas im ersten Teil. Vgl. Lüderssen 2004, 169, der v. a. der Frage nach der „moralischen Wahrheit“ des Romans nachgeht. Vgl. hierzu die literaturwissenschaftliche Rezeption und Feuilleton-Debatte in Heigenmoser 2005, v. a. 113 ff.
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Weise erzielen lässt, werde ich dieses Verfahren gegen mögliche Einwände verteidigen.
3 Zum Verhältnis von Literatur und Moralphilosophie Es lassen sich mehrere Einwände gegen den Versuch formulieren, moralphilosophische Einsichten aus der Analyse einer literarischen Figur zu gewinnen. Der erste Einwand betrifft die Arbitrarität des Fiktiven. So könnte moniert werden, dass das Verhalten Hannas nichts über die tatsächliche Immoralität der Mittäter von Nazi-Greueln aussagt, sondern allein der Fantasie Schlinks entspringt. Gegen diesen Einwand lässt sich anführen, dass das Verhalten Hannas in einer breiten Evidenzbasis verankert ist. Es deckt sich nicht nur mit Tagebuchaufzeichnungen und Briefen¹³ von realen Mittätern sowie mit anderen historischen Zeugnissen,¹⁴ sondern auch mit sozialpsychologischen Erkenntnissen über das Verhalten von Menschen unter autoritär geprägten Umständen.¹⁵ Mit anderen Worten: Hanna ist zwar eine fiktive, aber sie ist zugleich eine äusserst realitätsnahe Figur. Der zweite Einwand richtet sich gegen die Singularität des Fiktiven. Selbst wenn zugestanden wird, dass die Figur der Hanna realistische Züge trägt, so könnte sie eine bloße Einzelerscheinung sein. Dies erlaubt dann keine verallgemeinernden Schlüsse über die besondere Natur des Unmoralischen. Ebensowenig lässt dies eine allgemeingültige Erklärung solch horrender Gräueltaten wie dem Holocaust zu. Meine Entgegnung auf diesen Einwand besteht aus einem Zugeständnis: Hannas moralpsychische Verfassung ist nicht die einzig mögliche, die zu grausamen Verhalten führt bzw. führen kann. Sie ist jedoch typisch für Mittäter im Holocaust. Damit schließe ich dezidiert nicht aus, dass es auch andere moralpsychologische Erklärungen für den Holocaust gibt. Ich beschränke mich in diesem Beitrag jedoch darauf, den Fall Hanna als Form der unmotivierten, d. h. der unbeabsichtigten Immoralität (neben anderen Formen, die der gesonderten Analyse bedürfen) zu untersuchen. Gegen literarische Vorlagen als Gegenstand philosophischer Analyse lässt sich zum dritten anführen, dass sie eine bloß illustrative Funktion besitzen. Der in der Literatur repräsentierte moralische Gehalt lässt sich demzufolge auf moralische Begriffe reduzieren. Literatur ist insofern verzichtbar, da sie der Begriffs-
Vgl. etwa Pauer-Studer/Velleman 2011, 340 ff. Vgl. exemplarisch Browning 2009, Kap. 8. Vgl. z. B. Welzer 2005, bes. 246 – 268.
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analyse nichts hinzufügt. Dieser Einwand lässt sich mit Verweis darauf entkräften, dass moralische Theorien – sieht man einmal von neueren Versuchen ab, die Kategorie des Bösen zu fassen – ihrerseits wenig Ressourcen besitzen, die vielen unterschiedlichen Formen des Unmoralischen zu beschreiben. Als ideale Theorien widmen sie sich primär der Frage, was eine Person aus moralischen Gründen tun soll, sehen aber von nicht-idealen Bedingungen ebenso häufig ab wie von den spezifischen moralpsychologischen Voraussetzungen unmoralischer Motive und Gründe (Vgl. auch Bittner/Kaul 2005, 8). Es scheint daher so, dass sich die moralische Theoriebildung anderer Quellen bedienen muss, will sie das oben beschriebene Phänomen unmotivierter oder unbeabsichtigter Immoralität fassen. Die Literatur ist eine solche Quelle menschlichen Handelns und menschlicher Erfahrungen unter nicht-idealen Bedingungen. Sie stellt die moralpsychologischen Voraussetzungen der Protagonisten häufig differenzierter und umfassender dar, als dies die philosophische Analyse von moralischen Begriffen vermag. Sie lässt daher häufig besser nachvollziehen, wie es zu Gräueltaten kommt (Vgl. Palmer 1992, Kap. 8, und Murdoch 1977, 86). Dies liegt u. a. daran, dass wir in der literarischen Darstellung Einblick in die jeweilige Perspektive eines – wenn auch fiktiven – unmoralisch handelnden Akteurs erhalten. Dies wird nicht – wie etwa in einem psychiatrischen Gutachten oder in einem Zeitzeugnis über das Verhalten anderer – lediglich aus der unbeteiligten Perspektive eines Beobachters beschrieben, sondern aus der Sicht des jeweiligen Akteurs (oder, wie im Roman Schlinks, aus der Perspektive eines beteiligten Beobachters). Die unmittelbaren Erfahrungen der Täter und Mittäter werden im Medium der Literatur als kohärentes Narrativ plausibilisiert. Wenn ich der Literatur diese irreduzible Rolle zubillige, möchte ich jedoch nicht so weit gehen zu behaupten, dass sie selbst eine moralische Erziehungsfunktion hat bzw. unmittelbaren epistemischen Zugang zu moralischen Wahrheiten vermittelt.¹⁶ Meine These ist bescheidener: Die in partikularen Situationen dargestellten Charaktere lassen psychologische Voraussetzungen erkennen,¹⁷ die als Rohmaterial die moralphilosophische Begriffsbildung präzisieren und ggf. korrigieren können. Ich werde mich diesem Rohmaterial nun zuwenden und untersuchen, um welche Form des Unmoralischen es sich im Fall Hannas handelt. Hierfür wird der zweite Teil des Romans, v. a. Hannas unterlassene Hilfeleistung, die das Verbrennen der jüdischen Frauen zur Folge hat, besonders relevant sein.
Diese Auffassung vertritt prominent Nussbaum 1990, 148. So ist Posners Kritik an Nussbaum zu verstehen, der einwendet, die von Literatur vermittelte Einsicht sei nicht moralisch, sondern psychologisch. Vgl. Posner 1997, 22.
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4 Formen des Unmoralischen 4.1 Pervertierte Bosheit und Bosheit aus Neigung Zunächst möchte ich präzisieren, inwiefern Hanna weder pervertiert böse noch böse aus Neigung ist. Es wird an keiner Stelle deutlich, dass Hanna Juden negativ bewertet. Sie scheint weder aus Hass noch aus sadistischer Freude noch aufgrund antisemitischer Auffassungen dazu motiviert, sie zu vernichten. Ebensowenig hängt sie der Nazi-Doktrin an, derzufolge die Deutschen sich gegen Juden wehren müssen, um nicht selbst vernichtet zu werden. So weiß sie denn auch auf die Frage des Richters nach den Gründen ihres Handelns keine Antwort. Sie fragt lediglich zurück, was er denn gemacht hätte (vgl. VL 107). Weder verweist sie auf eine partikularistische „Erlösungsmoral“ (Zimmermann 2009, 17) der Nazis noch begründet sie ihr Tun damit, dass die Ermordung der Juden „gut“ war. Zugleich legt ihre Ehrlichkeit vor Gericht – als einzige gibt sie offen und unumwunden zu, dass alle Angeklagten an der Auswahl jüdischer Frauen zur Deportation beteiligt waren (vgl. VL 106) – nahe, dass ihre Antworten nicht auf falscher Rationalisierung, Selbsttäuschung oder Lüge beruhen. Es lässt sich folglich aus dem Text nicht schließen, dass Hanna aus pervertiert bösen Motiven handelt. Ebensowenig scheint sie aus Neigung böse zu sein. So wird nicht offenkundig, dass sie ein nicht-moralisches Ziel als deutlich wichtiger erachtet, als der moralischen Forderung nachzukommen, die jüdischen Frauen aus der brennenden Kirche zu retten. Sie nimmt das Verbrennen der Frauen nicht billigend in Kauf oder wählt dies gar bewusst als Mittel, um dadurch etwa Lob, soziale Billigung durch ihre Kolleginnen oder etwaige Auszeichnungen für ihre Dienste zu erlangen. Derartige Ziele hätten in den Wirren des Kriegsendes wohl gar nicht realisiert werden können. Hanna befand sich mit den jüdischen Frauen auf dem Marsch nach Westen. Sie konnte annehmen, dass der Krieg bald zu Ende sein würde und durch die unterlassene Hilfeleistung weder negative noch positive Sanktionen zu erwarten wären. Es ist also nicht davon auszugehen, dass sie die Frauen verbrennen lässt, um ihre prudentiellen Interessen zu verfolgen. Selbst wenn sie Angst vor den Folgen ihrer möglichen Hilfe gehabt haben mag, so gewichtet sie ihr Interesse, diese Angst zu minimieren, nicht höher als das Leben der Frauen. Sie scheint deren Anspruch auf Hilfe vielmehr gar nicht wahrzunehmen. Gegen eine Interpretation ihres Verhaltens als einer Form von Bosheit aus Neigung spricht schließlich, dass Hanna ihre Unterlassung nicht selbst als falsch beurteilt. Dies zeigt sich darin, dass sie weder Reue noch Schuldgefühle für ihre Unterlassung empfindet bzw. zeigt.Wie sie selbst Jahre später im Gefängnis zugibt, weiß sie zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung nicht, dass das, was sie tat,
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moralisch falsch ist (VL 187). Aus diesem Grund handelt sie auch nicht gegen ihre eigenen moralischen Überzeugungen. Böse Motive können daher ausgeschlossen werden, um Hannas Verhalten zu erklären. Ihre unterlassene Hilfeleistung ist weder mit Bezug auf pervertierte Wünsche oder Werturteile noch mit Bezug auf die absichtliche Wahl unmoralischer Mittel zur Erlangung prudentieller Ziele erklärbar. Ich möchte nun herausfinden, welcher Fehler ihr dann in der moralischen Bewertung zugeschrieben werden kann. In der Moralphilosophie werden die verschiedenen Arten unmoralischen Handelns eher stiefmütterlich behandelt. Es lassen sich jedoch mindestens vier weitere Varianten spezifizieren: Könnte Hannas unterlassene Hilfeleistung als moralische Schwäche, moralische Fahrlässigkeit, moralische Indifferenz oder als Amoralität interpretiert werden?
4.2 Moralische Schwäche Moralische Schwäche ist dadurch definiert, dass eine Person moralische Prinzipien als für sie bindend betrachtet, es jedoch im Einzelfall unterlässt, ihnen entsprechend zu handeln. Im Gegensatz zu dem aus Neigung Bösen hält der moralisch Schwache sein Tun für falsch und wünscht, moralisch zu handeln. Die moralisch schwache Person tut folglich etwas moralisch Falsches, obwohl sie generell wünscht, moralisch Falsches zu vermeiden, und glaubt, dass das, was sie tut, moralisch falsch ist. Darüber hinaus glaubt sie, dass es besser ist, moralisch Falsches zu vermeiden, als so zu handeln, wie sie es tut (vgl. Milo 1984, 117). Ist es denkbar, dass Hanna moralisch schwach ist? Meines Erachtens wäre dies eine falsche Erklärung ihres Handelns. Zum einen spricht gegen eine solche Erklärung, dass Hanna kein moralisches Urteil der Art gefällt zu haben scheint, dass sie die verbrennenden Frauen retten soll. Im Gegenteil: Sie verweist auf das „Durcheinander“ (VL 122), das entstanden wäre, wenn sie die Frauen aus der Kirche befreit hätte. Davon abgesehen lässt sich zudem keine besondere Art der Schwäche nachweisen. Weder handelt sie aus starker Leidenschaft noch scheint es ihr an Willenskraft zu mangeln. Sie wird nicht vom Hass auf die jüdischen Frauen dazu getrieben, sie einfach verbrennen zu lassen, und ebenso wenig zaudert sie in ihrer Unterlassung. Hanna handelt also nicht aus moralischer Schwäche. Sie scheint vielmehr gar kein Interesse an den jüdischen Frauen und deren Anspruch auf Hilfe zu haben.
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4.3 Moralische Gleichgültigkeit Die bisherige Diagnose könnte nahelegen, dass Hanna moralisch gleichgültig ist. In diesem Fall würde sie zwar das Urteil fällen, dass Menschen in Not geholfen werden müsse, sie wäre jedoch nicht motiviert, diesem Urteil zu folgen. Insofern wäre sie gegenüber ihrem eigenen Urteil gleichgültig. Im Gegensatz zu moralischer Schwäche ist das Fehlverhalten im Fall von moralischer Gleichgültigkeit nicht darauf zurückzuführen, dass der Handelnden andere Neigungen in die Quere kommen. Ihr Defekt besteht vielmehr in der Unfähigkeit, moralische Urteile als präskriptiv und für sich selbst bindend zu betrachten. Es fehlen ihr daher auch die entsprechenden Motive. Die moralisch gleichgültige Person behandelt moralische Prinzipien, wie z. B. die Norm „Menschen in Not soll geholfen werden“, wie deskriptive Sätze. D.h., sie bemerkt lediglich, dass viele Menschen diese Auffassung teilen und den entsprechenden Standard als geltend betrachten. Sie selbst bleibt diesem Standard gegenüber jedoch unmotiviert (vgl. Milo 1984, 183). Ebenso wie im Fall moralischer Schwäche liefert meines Erachtens der Text keinerlei Hinweis darauf, dass Hanna selbst nur deskriptive Urteile über bestimmte Standards fällt und diesen gegenüber gleichgültig ist. Wenn Hanna Gleichgültigkeit attestiert werden kann, dann in dem Sinne, dass ihr basale Interessen anderer Menschen gleichgültig scheinen gegenüber der Tatsache, dass sie ihrer Pflicht als Aufseherin nachzukommen hatte. Sie selbst scheint jedoch nicht einmal den Standard beschreiben zu können, dass Menschen in Not geholfen werden muss. „Wir hätten sie doch nicht einfach fliehen lassen können!“, gibt sie dem Richter auf seine Frage, ob sie Angst gehabt hätte, auf der Flucht verhaftet, verurteilt oder erschossen zu werden, zur Antwort, und fährt fort: Wir waren doch dafür verantwortlich… Ich meine, wir hatten sie doch die ganze Zeit bewacht, im Lager und im Zug, das war doch der Sinn, dass wir sie bewachen und dass sie nicht fliehen. Darum haben wir nicht gewusst, was wir machen sollen. Wir haben auch nicht gewusst, wie viele Frauen die nächsten Tage überleben. (VL 122)
Hanna ignoriert tatsächlich das Schreien der im Feuer verbrennenden Frauen in seiner normativen Bedeutung (obwohl sie zugibt, es gehört zu haben). Diese Gleichgültigkeit ist jedoch nicht von der Art, dass sie die entsprechenden moralischen Standards kennt, aber nicht für sich als bindend betrachtet. Sie ist nicht gegenüber bestimmten Standards, sondern gegenüber den schreienden Frauen gleichgültig. Doch wie lässt sich diese Art der Gleichgültigkeit anders fassen?
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4.4 Moralische Fahrlässigkeit Einer alternativen Interpretation zufolge wäre Hanna in einem moralischen Sinne fahrlässig: Sie glaubt dann fälschlicherweise, dass das, was sie tut, richtig ist. Und dies ist deshalb der Fall, weil sie nicht die nötigen Vorkehrungen getroffen hat, um diese falsche Einschätzung zu vermeiden (vgl. Milo 1984, 84). Ist sie also gegenüber den Interessen der Jüdinnen gleichgültig, weil sie die Situation falsch beurteilt? Und welche Vorkehrungen hätte sie treffen sollen, um eine solche Fehleinschätzung zu vermeiden? Möglichkeiten der Vorkehrung bestehen darin, besser nachzudenken und keine relevanten Tatsachen zu vergessen. Dies betrifft zum einen ihre Fähigkeit des Schließens, zum anderen ihren epistemischen Zugang zu moralischen Sachverhalten oder Tatsachen. Ein Fehler des Schließens wäre etwa, dass sie ihre Überzeugung oder ihr Urteil, dass Menschen in Not geholfen werden muss, nicht auf den vorliegenden Fall anzuwenden vermag. Ein weiterer Fehler des Schließens wäre, dass sie nicht den richtigen Schluss aus den beiden Prämissen zieht, dass Menschen in Not geholfen werden muss, und die schreienden Frauen in der Kirche Menschen in Not sind. Der erste Fehler setzt einen epistemischen Irrtum voraus. Demzufolge übersieht oder verkennt Hanna, dass die schreienden Frauen in der Kirche Menschen in Not sind. Sie täuscht sich darüber hinweg, dass ihr Verhalten falsch ist. Sie tut dies, weil sie gar nicht genauer erkennen oder hinsehen möchte, was in der gegebenen Situation zu tun geboten ist. Der zweite Fehler impliziert, dass sie die Folgen ihres Tuns nicht angemessen einschätzt und daher leichtsinnig handelt. In diesem Fall denkt sie nicht hinreichend über die Konsequenzen und Implikationen ihres Tuns nach (obwohl sie dies hätte tun können) und unterlässt daher die Hilfe.¹⁸ Doch auch diese Interpretation geht an der Figur Hannas vorbei, so wie sie in Schlinks Roman präsentiert wird. Hanna scheint sich ausreichend im Klaren darüber zu sein, dass die Frauen in der Kirche hilflose Menschen sind, die um ihre Rettung flehen. Sie begeht folglich keinen epistemischen Fehler, über den sie sich dann hinwegtäuscht. Ebensowenig glaubt sie, dass eine realistische Chance für die Frauen besteht, den Flammen zu entrinnen. Ihre Rückfrage an den Richter, „Was hätten Sie denn gemacht?“ (VL 123), legt ja nahe, dass sie die Konsequenzen ihres Tuns richtig einschätzte, gleichwohl aber ein anderes Handlungsprinzip als gewichtiger erachtete. Die Hilfsbedürftigkeit der Frauen stellt vielmehr keinen alternativen Handlungsgrund für sie dar. Dies ist aber nicht so, weil sie die Gefahr,
So definiert Milo 1984, 99, „moral recklessness“.
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in der sie sich befinden, unterschätzt hat. Sie hätte dann geantwortet, dass sie um deren Gefahr nicht wusste. Ihre Antwort impliziert jedoch, dass sie nicht wusste (und insofern gar keinen anderen Handlungsgrund sieht), was sie sonst hätte machen sollen. Hanna kann daher nicht vorgeworfen werden, fahrlässig gehandelt zu haben. Sie begeht weder Fehler im Schließen noch hat sie falsche Überzeugungen über die Gefahrenlage und die Konsequenzen ihres Tuns.
4.5 Amoralität Der bisherigen Diagnose zufolge hat Hanna also kein moralisches Urteil gefällt, dem sie aufgrund von anderweitigen Impulsen (im Fall von moralischer Schwäche) oder aufgrund mangelhafter Vorkehrungen (im Fall von moralischer Fahrlässigkeit) oder aufgrund fehlender Motive (im Fall von moralischer Gleichgültigkeit) zuwiderhandelt. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass Hanna amoralisch ist. Es gibt zwei Arten, wie sich ein Akteur „außerhalb“ der Moral befinden kann: Er ist sich entweder der Falschheit seiner Handlung nicht bewusst oder er ist gleichgültig gegenüber dem moralischen Unrecht, das er begeht. Er handelt nicht wider seine moralischen Urteile, Überzeugungen oder Prinzipien. Vielmehr scheint er solche gar nicht zu besitzen. Wenn Hanna amoralisch ist, dann glaubt sie weder, dass das, was sie tut, falsch ist, noch, dass es richtig ist. Sie scheint den Unterschied zwischen „moralisch richtig“ und „moralisch falsch“ gar nicht zu kennen – zumindest nicht in dem zu analysierenden Fall. Ihre Reaktion vor Gericht unterstützt diese Deutung. Sie verweist auf keine moralischen Gründe, die ihre Unterlassung motiviert und im Nachhinein erklärt hätten oder deren Verletzung ihr bewusst wäre. Um besser zu verstehen, inwiefern Hanna amoralisch sein und sich insofern außerhalb der Moral befinden könnte, ist eine von Richard Hare (1963, 100 ff.) prominent gemachte Unterscheidung zwischen stillschweigender und gleichgültiger Amoralität hilfreich. Der gleichgültige Amoralist glaubt, dass keine Handlung moralisch falsch ist. Zwar beurteilt er eine Handlung, doch das Prädikat „moralisch falsch“ findet dabei keine Anwendung. Der stillschweigende Amoralist versäumt es hingegen einfach zu glauben, dass irgendeine Handlung moralisch falsch ist. Er bleibt gegenüber jeder möglichen Anwendbarkeit des Prädikats „moralisch falsch“ agnostisch. Der Unterschied besteht also darin, dass der Akteur im Fall gleichgültiger Amoralität eine Überzeugung hat, im Fall stillschweigender Amoralität jedoch einer solchen entbehrt. Wäre Hanna eine gleichgültige Amoralistin, würde sie urteilen, dass es weder der Fall ist, dass man die Frauen retten soll, noch, dass man sie nicht retten soll.
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Wäre Hanna eine stillschweigende Amoralistin, würde sie sich eines Urteils einfach enthalten. Welche Einstellung könnte auf Hanna tatsächlich zutreffen? Als gleichgültig-amoralische Akteurin hätte Hanna die Überzeugung, dass ihre Unterlassung nicht moralisch falsch ist. Diese wäre Teil ihres gleichgültigen Überzeugungssystems, demzufolge die Frauen nicht zu retten ebenso richtig ist wie sie zu retten (vgl. Milo 1984, 68 f.). Der Gehalt ihrer Überzeugung besteht hierbei in einer Indifferenz bezüglich der moralischen Falschheit ihres Tuns. So scheint Michael Hannas Aussagen vor Gericht zu beschreiben: Nicht dass man sich die Rat- und Hilflosigkeit, die Hanna beschrieb, nicht hätte vorstellen können. Die Nacht, die Kälte, der Schnee, das Feuer, das Schreien der Frauen in der Kirche, das Verschwinden derer, die den Aufseherinnen befohlen und sie begleitet hatten – wie hätte die Situation einfach sein sollen. Aber konnte die Einsicht, dass die Situation schwierig gewesen war, das Entsetzen über das, was die Angeklagten getan oder auch nicht getan hatten, relativieren? Als sei es um einen Autounfall auf einsamer Strasse in kalter Winternacht gegangen, mit Verletzungen und Totalschaden, wo man nicht weiß, was tun? Oder um einen Konflikt zwischen zwei Pflichten, die beide unseren Einsatz verdienen? (VL 123)
Michael fügt seinem Deutungsversuch jedoch hinzu: „So konnte man, aber man wollte sich nicht vorstellen, was Hanna beschrieb“ (VL 123). Dies mag daran liegen, so meine Vermutung, dass man Hanna in diesem Fall hätte zugestehen müssen, dass sie sich damals in einer Art moralischem Dilemma befunden hätte. Doch kann sie plausiblerweise als eine Person verständlich gemacht werden, die das Verbrennen zahlreicher jüdischer Frauen mitverantwortet und dies „bloß“ aufgrund einer Pflichtenkollision in Kauf nimmt? Da Hanna den Tod der Frauen nicht bereut, scheint diese Beschreibung nicht wirklich zuzutreffen. Hanna scheint viel plausibler als überzeugungslose, stillschweigende Amoralistin charakterisierbar: Sie glaubt weder, dass ihr Tun moralisch falsch ist, noch glaubt sie, dass es moralisch nicht falsch ist. Sie fällt keine Urteile bezüglich der moralischen Qualität ihres Tuns. Sie scheint es vielmehr zu versäumen, überhaupt moralische Fragen zu stellen, relevante moralische Sachverhalte als solche zu erkennen und entsprechend zu urteilen. Dies kann als Ausdruck ihres mangelnden Interesses am Wohlergehen bzw. an den legitimen Ansprüchen anderer gedeutet werden (vgl. Milo 1984, 77). Hannas Immoralität besteht darin, dass sie auf keine moralischen Gründe reagiert und entsprechend keinerlei Urteile über die mögliche Falschheit ihres Handelns fällt. Sie ist in diesem Sinne eine moralische Analphabetin. Doch selbst wenn Hanna am plausibelsten als stillschweigende Amoralistin klassifiziert werden kann, bleibt zu klären, welchen Motiven sie folgt und inwiefern ihr Tun absichtlich ist. Bisher habe ich nur gezeigt, welchen Fehler sie in der moralischen Bewertung macht (sie wertet nämlich gar nicht moralisch) und
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insofern dargelegt, in welcher Weise sie unmoralisch ist. Doch aus welchem Grund unterlässt sie es, die eingesperrten Frauen aus der Kirche zu befreien? Mein Ziel ist es nun, Hannas motivierende Gründe genauer zu individuieren, um ihr Tun einsichtig zu machen.
5 Sekundäre Amoralität Meine bisherige Diagnose, nach der Hanna stillschweigend-amoralisch ist, beschränkt sich ausschließlich auf ihr Verhalten zum Zeitpunkt ihrer unterlassenen Hilfeleistung. Dies ist jedoch insofern unvollständig, als ihre tatsächlichen Motive, die sie zum einen zu diesem Verhalten führen und zum anderen zeigen, warum sie über kein entsprechendes moralisches Urteil verfügt, noch nicht spezifiziert sind. Wie kommt es überhaupt dazu, dass Hanna gegenüber den verbrennenden Frauen in moralischer Hinsicht agnostisch ist? Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn wir berücksichtigen, wie Hanna sich vor dem Hintergrund ihrer eigenen, nicht vollständig ausgebildeten rationalen Fähigkeiten und im Kontext eines autoritären Systems zu einer Person mit einer solchen Haltung entwickelt hat. Ich werde zu zeigen versuchen, dass sie es verlernt hat, moralische Gründe wahrzunehmen und als normativ zu betrachten. Aus diesem Grund und in Anlehnung an das Phänomen des sekundären Analphabetismus¹⁹ führe ich aus, dass Hanna eine sekundäre Amoralistin ist. Es lassen sich hierbei drei motivierende und kausal miteinander verbundene Gründe rekonstruieren, aus denen Hanna handelt. Ich werde mit ihrem unmittelbaren Handlungsgrund beginnen und darlegen, wie dieser von zwei weiteren Motiven abhängt.
5.1 Die speziellen Pflichten als Aufseherin Es liegt nahe, zunächst Hannas Gründe aufzudecken, die sie selbst für ihr Verhalten bezüglich der in der brennenden Kirche eingeschlossenen jüdischen
Nach Definition der UNESCO liegt „sekundärer Analphabetismus“ vor, wenn nach mehr oder weniger erfolgreichem Erwerb der Schriftsprache während der Schulzeit in späteren Jahren ein Prozess des Verlernens einsetzt und Kenntnisse und Fähigkeiten verloren gehen (vgl. UNESCO 1962). In der Regel wird dies als Sonderfall des „funktionalen Analphabetismus“ verstanden, demzufolge die schriftsprachlichen Kenntnisse den gesellschaftlich bestimmten Mindeststandards entsprechen müssen. Im Fall Hannas handelt es sich um einen moralisch verstandenen sekundären Analphabetismus, nicht jedoch um einen funktionalen Analphabetismus, wenn mit gesellschaftlichen Mindeststandards diejenigen der Nazis gemeint sind.
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Frauen anführt. Sie erklärt ihre Unterlassung mit Verweis auf zwei Gründe. Zum einen bezieht sie sich auf ihre Pflicht als Aufseherin. Diese scheint ihr zufolge darin zu bestehen, für andere Verantwortung zu tragen, sie zu bewachen, Chaos zu vermeiden und Ordnung zu halten.²⁰ Zum anderen und nicht unabhängig von ihrer Pflicht als Aufseherin erwähnt sie den Mangel an Handlungsalternativen.²¹ Diese beiden Erklärungen finden sich auch bei vielen anderen Nazi-Tätern und Mittätern. So berichtet etwa Franz Stangl, der Kommandant der Konzentrationslager Sobibor und Treblinka, in Interviews, dass das System „irreversibel“ war (Sereny 1974, 202). Stangl war sich (im Gegensatz zu Hanna) nicht nur klar, dass das, was er tat, falsch war (und insofern war er ein Täter); er erklärte sein Tun (ähnlich wie Hanna) v. a. mit Verweis auf die mit seinem Beruf verbundenen speziellen Pflichten.²² Der Auschwitz-Arzt Johann Paul Kremer – um ein weiteres typisches Beispiel zu zitieren – erklärte seine Tätigkeit bei den Vergasungen mit Verweis auf sein professionelles Selbstverständnis: Er rationalisiert sie u. a., indem er sich eine Rolle als Anatom zuweist, der Gewebeproben entnimmt.²³ So zeigt sich auch im Fall Hannas, dass die mit ihrem Beruf als Aufseherin verbundene Pflicht, „Ordnung zu halten“ und für die jüdischen Frauen „Verantwortung“ gegenüber ihren Vorgesetzten zu tragen, diejenigen Handlungsregeln sind, an denen sie sich orientiert und die sie als ihre eigentlichen Gründe betrachtet. Sie begreift diese als spezielle Pflichten, die sie aus ihrem beruflichen Selbstverständnis als Aufseherin ableitet. Es erweist sich hierbei als hilfreich, näher zu betrachten, wie die Handlungsregel, ihre Pflicht als Aufseherin zu erfüllen, in der praktischen Überlegung Hannas funktioniert. Sie sieht diese Regeln ähnlich wie andere Nazi-Mittäter als modal stringent an. Doch was ist mit modaler Stringenz gemeint? Das normative Gewicht oder die Stringenz dieses Prinzips, den speziellen Pflichten, die sich aus ihrem beruflichen Selbstverständnis herleiten, zu folgen, ist dergestalt, dass es keine mögliche Welt zu geben scheint, in der Hanna Aufseherin ist und dieses Prinzip hinterfragen oder gar revidieren würde. Dies erklärt, warum sie keine Handlungsalternativen zur Befolgung dieses Prinzips erkennt. Die modal
„Wie hätten wir die vielen Frauen bewachen sollen? […] aber wie hätten wir da noch mal Ordnung reinbringen sollen? Das hätte ein Durcheinander gegeben, mit dem wir nicht fertiggeworden wären. […] Wir waren doch dafür verantwortlich“ (VL 122). „Wir wussten uns nicht anders zu helfen“ (VL 121); „wir hätten sie doch nicht einfach fliehen lassen können“ (VL 122); „Was hätten Sie denn gemacht?“ (VL 123). Vgl. Sereny 1974, 200: „[M]y professional ethos was that if something wrong was going on, it had to be found out. That was my profession; I enjoyed it. It fulfilled me.“ Aus seinen Tagebüchern zitieren Pauer-Studer/Velleman 2011, 343.
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stringente Funktion dieses Prinzips lässt sich durch folgende Gedankenexperimente erhärten: So können wir fragen, ob eine mögliche Welt denkbar wäre, in der Hanna Aufseherin ist und den drohenden Tod der Frauen als Grund angesehen hätte, sie zu retten. Was wäre in einer möglichen Welt, in der keine von Hannas Kolleginnen anwesend gewesen wäre? Auch wenn sie deren mögliche Missbilligung nicht hätte fürchten müssen (weil sie den Frauen aufsperrt), hätte sie die Frauen wahrscheinlich nicht gerettet. Hanna erklärt schließlich ihre Unterlassung nicht mit dem Verweis darauf, dass sie sonst Sanktionen der Gruppe zu befürchten gehabt hätte. Die negativen Reaktionen ihrer Kolleginnen halten sie ja selbst vor Gericht nicht davon ab, die Wahrheit bezüglich der Beteiligung aller an den Deportationen zu sagen (vgl. VL 106). Hätte sie die Frauen in einer möglichen Welt gerettet, in der sie gewusst hätte, dass sie nach dem bevorstehenden Kriegsende eine Auszeichnung von den Siegermächten für ihr rühmliches Verhalten erhalten und in der Folge straffrei ein neues Leben hätte beginnen können? Diese Frage ist zwar nicht ganz so eindeutig zu beantworten. Es scheint mir jedoch auch hier naheliegender, dass Hanna ihr eigenes Wohlergehen nicht höher gewichtet hätte als die Treue gegenüber ihrem Berufsethos. Auch dieser Verdacht wird durch ihr ehrliches Verhalten vor Gericht erhärtet. Sie zeigt im Gegensatz zu ihren Kolleginnen keinerlei zweckrationales Kalkül und stellt ihre Pflichterfüllung über jedes persönliche Interesse. Diese Szenarien verschiedener möglicher Welten legen nahe, dass Hanna ihre Pflicht, eine gute Aufseherin zu sein, als unbedingt gebietendes Prinzip betrachtet. Gleich welche anderen Gründe es geben mag, die gegen die Einhaltung dieses Prinzips sprechen, sie betrachtet es als absolut bindend. Dies erklärt, warum Hanna das Schreien der verbrennenden Frauen auch nicht als neuen Grund (zur Hilfe) beurteilt, der in ihrer Überlegung und in ihrem Handeln berücksichtigt hätte werden müssen. Schließlich impliziert die modale Stringenz dieses Prinzips, dass es nicht hinterfragt oder gar revidiert wird. Entsprechend werden keine veränderten Sachverhalte als mögliche neue Gründe erwogen. Denn eine solche Erwägung käme bereits dem Versuch einer Revision ihres bisherigen Handlungsprinzips gleich. Würde sie einen solchen Versuch unternehmen, dann hätte sie das Schreien der Frauen zumindest als potentiellen moralischen Grund wahrgenommen. Dass sie dies nicht tut, zeigt sich auch daran, dass sie nicht zu dem Schluss gelangt, dass ihre Treue gegenüber den Pflichten als Aufseherin gewichtiger ist als ein neuer moralischer Grund. Vielmehr wird deutlich, dass Hanna sich dem Prinzip, ihren speziellen Pflichten als Aufseherin zu folgen, in einer Weise unterwirft, die sie nicht einmal einen mit diesem Prinzip inkompatiblen Grund als neu zu gewichtenden Grund wahrnehmen lässt. Bisher habe ich aus ihren eigenen Äusserungen versucht herauszuschälen, welchem Handlungsprinzip sie folgt und welche Funktion diesem Prinzip in ihren
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Überlegungen zukommt. Es bleibt nun zu klären, warum und in welcher Weise sie sich dieses Prinzip überhaupt zueigen macht. So ist es nicht dem Prinzip inhärent, modal stringent zu sein. Diese Funktion geht vielmehr auf ein bestimmtes Motiv Hannas zurück.
5.2 Der Wunsch, das zu tun, was gefordert ist Hannas Unterwerfung unter die mit ihrem Beruf verbundenen speziellen Pflichten erfolgt deshalb, weil sie dadurch ihren Wunsch erfüllt, das zu tun, was von ihr gefordert ist. Dieser Wunsch ist ein Handlungsmotiv der besonderen Art. Wer ihn hat, wird sich nie gegen das Geforderte entscheiden, sondern alles unternehmen, um ihn zu erfüllen. Dies ist sogar dann der Fall, wenn die Person wüsste, dass das Geforderte moralisch falsch ist, oder wenn sie sich, sobald sie anfangen würde, mögliche Gründe zu vergleichen, gegen die Realisierung dieses Wunsches entscheiden würde.²⁴ Dies erklärt die besondere, über alle möglichen Welten hinweg bestehende Stringenz ihrer beruflichen Pflichten. Wer tun möchte, was gefordert ist, hat nämlich dann keine Alternative, wenn das Geforderte durch soziale Normen definiert ist (wie im Fall beruflicher Pflichten) oder durch die Absichten anderer inhaltlich vorgegeben ist (wie im Fall der Befehlsausübung). Dass Hanna das tun möchte, was gefordert wird, zeigt sich auch vor Gericht. Sie wird beschrieben als eine, die „es richtig machen [wollte]“ (VL 105). Im Folgenden möchte ich zeigen, dass der Wunsch, es „richtig zu machen“ im Fall Hannas dem Wunsch entspricht, das Geforderte zu tun, was jedoch von einem Wunsch, aus guten oder gar den besten Gründen zu handeln, wesentlich unterschieden ist.²⁵ Denn in einem Kontext, in dem das, was gefordert ist, durch soziale Normen und die Absichten anderer vorgegeben ist, ist der Wunsch, es richtig zu machen, nichts anderes als ein Wunsch, das zu tun, was die sozialen Normen und Absichten anderer vorschreiben. Ein solcher Wunsch schließt aus, dass die betreffende Person das, was sie tut, mit Verweis auf Sachverhalte zu stützen versucht, die für ihre Handlung aus ihrer
Bok 1996, 178, spricht in diesem Zusammenhang von Handeln, ohne Alternativen zu vergleichen. Pauer-Studer 2009, 89, bemerkt, dass die Täter der „Normativität ihres eigenen Selbstverständnisses“ folgten. Diese gab ihrem Tun einen Sinn und machte sie zugleich zu mehr als bloßen Rädchen einer Maschinerie. Gegen eine rein situationistische Deutung wendet sich auch Zangwill 2003, 99: „The German people […] thought that they were obeying orders that were right and proper. That was their reflectively endorsed political culture, not a mere behavioural regularity.“
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Sicht sprechen, und die erklären, warum sie ihr Tun als gesollt betrachtet. Er schließt ebenso aus, dass das, was sie tut, in einem kohärenten Zusammenhang mit ihren Meinungen und Urteilen stehen muss. Und er schließt aus, dass das, was sie tut, hinterfragt und entsprechend verändert wird. Es richtig zu machen und in diesem Sinne das Geforderte zu tun, ist vielmehr die bloße Beschreibung, dass ihre Handlung mit vorgegebenen Standards oder mit den Absichten anderer konform ist. Der Gehalt ihres Wunsches, es richtig zu machen, ist hierbei, die Absichten anderer oder die mit ihrem Beruf als Aufseherin verbundenen, sozial normierten speziellen Pflichten aufzugreifen und ohne erneute Autorisierung ihrerseits auszuführen. Hanna überlässt auf diese Weise die Handlungsautorität anderen, ohne deren Kompetenz, Glaubwürdigkeit und Begründung zu hinterfragen.²⁶ Der Wunsch, das Geforderte oder Richtige zu tun, lässt sie sowohl die Absichten ihrer Vorgesetzten als auch die mit ihrer beruflichen Rolle verbundenen Prinzipien als Quasi-Gründe für ihr Handeln betrachten. Sie sind Quasi-Gründe, sofern diese ihr Handeln einsichtig machen. Sie sind Quasi-Gründe, weil sie den Gehalt dieser Absichten und Prinzipien nicht selbst als Gründe autorisiert. Insofern handelt sie nicht „aus“ diesen Gründen, sondern nur entsprechend diesen Gründen. Diese Interpretation lässt sich durch ihre Antwort erhärten, die sie dem Richter auf seine Frage hin gibt, ob sie nicht gewusst habe, dass sie bei den regelmäßigen Auswahlprozessen die Gefangenen in den Tod schickte: „Doch“, antwortet sie, und fügt als Quasi-Grund hinzu: „aber die neuen kamen, und die alten mussten Platz machen für die neuen“ (VL 106). Dies ist offensichtlich kein von ihr verteidigbarer Grund, Gefangene in den Tod zu schicken, aber eine Beschreibung der Norm, deren Anwendung sie wiedergibt. Um Handeln aus Gründen von Handeln aus Quasi-Gründen zu differenzieren, hilft eine in der Sprachphilosophie häufig bemühte (wenn auch nicht unumstrittene) Unterscheidung zwischen Wünschen de re und Wünschen de dicto. Sie betrifft den Gehalt des Wunsches und dessen Realisierungsbedingung. Der Satz „Hanna wünscht, dass das Richtige geschieht“ lässt sich in die folgenden beiden Lesarten übersetzen: (De re)
Es gibt das Richtige R, und Hanna möchte R.
(De dicto)
Hanna glaubt, dass es das Richtige R gibt, und möchte R.
Roth 2004, 390 ff., zeigt zum einen, dass gemeinsames Handeln eine Disposition erfordert, die Absichten anderer direkt auszuführen. Zum anderen verweist er aber ebenso darauf, dass diese Ausführung der Absichten anderer nur dann als gemeinsame Handlung gelten kann, wenn die Autorität der anderen vom Handelnden hinterfragt wird.
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In der de dicto-Lesart möchte Hanna das Richtige tun, weil sie glaubt, dass es richtig ist.²⁷ Was ihr Tun motiviert, ist folglich, dass es dem von ihr so verstandenen Richtigen entspricht. In der de re-Lesart geht es einfach darum, das zu tun, was moralischen Eigenschaften oder Tatsachen entspricht. Ihr Gedanke, das Richtige zu tun, kann gerade verhindern, dass sie tatsächlich auf moralische Tatsachen reagiert. In diesem Sinne ist Hannas Wunsch de dicto. Es geht ihr nicht darum, auf moralische Gründe zu reagieren, sondern „das Richtige“ (egal, ob dies moralisch begründbar bzw. als Grund rechtfertigbar ist) zu tun. Entscheidend ist hierbei ihre Überzeugung, dass dies dem entspricht, was gefordert ist. Bisher habe ich zu zeigen versucht, wie Hannas Verhalten – insbesondere ihre unterlassene Hilfeleistung – mit Rekurs auf ihre Motive aus ihrer Sicht zu erklären ist. Ich habe ferner zu zeigen versucht, wie die aus ihrem de dicto-Wunsch, das Geforderte oder Richtige zu tun, resultierenden Handlungsprinzipien (d. h. ihre berufliche Rolle gut zu erfüllen und den Absichten anderer zu entsprechen) funktionieren: Sie sind modal stringent; sie unterbinden einen Vergleich mit alternativen Gründen, und sie dienen als Quasi-Gründe. Das wirkte hochmütig, und hochmütig wirkte auch, dass sie nicht mit den anderen Angeklagten und kaum mit ihrem Anwalt sprach. […] Die Erwiderungen misslangen regelmäßig, und regelmäßig sanken die Schultern herab. Sie zuckte nie mit den Schultern, schüttelte auch nie den Kopf. […] Sie saß wie gefroren. So sitzen musste weh tun. (VL 95 f.)
Die äußere Beschreibung Hannas vor Gericht lässt sich in Analogie zu der modalen Stringenz ihrer Handlungsprinzipien lesen. Sie sind „wie gefroren“, und Gründe mit anderen werden nicht ausgetauscht oder verglichen. Wenn diese Analyse der Funktion ihrer Motive und der sie leitenden Prinzipien richtig ist, so stellt sich immer noch die Frage, wie Hanna dazu kommt, sich den Absichten und Normen anderer zu unterwerfen. Was disponiert sie zu dem de dicto-Wunsch, das Richtige zu tun, und inwiefern handelt es sich daher um einen motivierten Wunsch? Gehen wir in ihrer Motivlage noch weiter zurück.
5.3 Analphabetismus und Scham Ein Schlüssel zum Verständnis dieses Wunsches ist ihr vieldiskutierter und häufig kritisierter Analphabetismus sowie ihre daraus resultierende Scham. Meiner
Vgl. Zangwill 2003, 99, der betont, dass die Überzeugungen der Täter über Autorität entscheidend sind. Er glaubt, dass die Akzeptanz dieser Autorität zwar nicht unabhängig von dem Urteil über ihre Richtigkeit ist, räumt allerdings mögliche Divergenzen ein.
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Ansicht nach bezeichnet er metaphorisch, dass Hanna nahezu unzugänglich für Gründe ist.²⁸ Sie kann diese nicht nur nicht hinreichend erkennen („lesen“), sondern sie kann v. a. auch nicht aus Gründen, die sie selbst als Gründe autorisiert, konsequent handeln („schreiben“). Damit geht einher, dass sie kein Zutrauen in ihr eigenes Urteilsvermögen bezüglich ihrer Gründe hat. Ihre Scham drückt eine negative Selbstbewertung und eine Abwertung ihres Status in Bezug auf andere aus. Wer sich schämt, wird sich bewusst, dass man eine Eigenschaft, die man wesentlich wertschätzt, nicht selbst realisiert (vgl. Deonna/Teroni, 2009, 46). In Hannas Scham wird folglich deutlich, dass sie um ihre Schwäche im Zugang zu Gründen sowie um ihre Schwäche in der Führung ihrer selbst durch Gründe weiß. Diese Schwäche mag durch das durch Konformismus und Gehorsam geprägte politische Klima ebenso erklärbar sein wie durch ihre Herkunft aus einer bildungsfernen Schicht. Dies heißt jedoch nicht, dass Hanna – bevor sie mit 21 zu den Soldaten geraten war (VL 49) – Gründe grundsätzlich unzugänglich waren. Ansonsten wäre es ihr nicht möglich, sich zu schämen. Dies zeigt sich z. B. daran, dass sie, obwohl sie eine moralische Analphabetin ist, im ersten Teil des Buchs dem kranken Michael hilft und ihn in die Arme nimmt, als er zu weinen beginnt (VL 6). Doch ihr Vermögen, Gründe zu erkennen und aus diesen zu handeln, scheint derart rudimentär, dass sie die Autorität für ihr Handeln weitgehend anderen überträgt. Für diese zunächst freiwillige Übertragung der Autorität an andere sprechen zwei Erwägungen: Sie kann nicht nur die Verantwortung vermeintlich abgeben, sondern muss sich auch ihrem eigenen Unvermögen nicht stellen. Nun spricht nichts Prinzipielles gegen die Übertragung der Autorität bezüglich unserer Handlungsgründe. Es gibt zum einen Fälle, in denen wir moralisches Wissen nur durch das Zeugnis anderer erwerben und uns auf deren Autorität verlassen müssen.²⁹ In engen zwischenmenschlichen Beziehungen führen wir zum anderen häufig die Absichten anderer unmittelbar aus, ohne diese zu hin-
Zu einer metaphorischen Lesart des Analphabetismus vgl. Donahue 2004, 183, der ihn als „geschmeidige Metapher für einen generellen Zustand des Mangels“ bezeichnet. Vgl. MoschytzLedgley 2009, 71 ff., die ihn als „Mangel an Bildung“ deutet. MacKinnon 2003, 10 f., spricht Hanna die „clarity of moral perception“ ab, die sie benötigen würde, um moralische Prinzipien zu erkennen. Ihren Analphabetismus interpretiert er auch als Abhängigkeit. Conway 1999, 289, meint, dass Hannas Analphabetismus ihren Zugang zu Fragen, Kritik und Alternativen blockiert. Diese Deutungsversuche eint meines Erachtens, dass Hannas Gründe kaum zugänglich sind und sie nicht in der Lage ist, diese als ihre Gründe zu autorisieren. Dies ist etwa der Fall, wenn wir selbst keine Erfahrung mit bestimmten moralischen Sachverhalten haben. So können wir uns von türkischen MitbürgerInnen bezeugen lassen, was es heißt, sie diskriminierend zu behandeln.
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terfragen (wenn etwa ein Partner einzig und allein deswegen etwas tut, weil es seine Partnerin möchte). Doch in beiden Fällen der Übertragung von Autorität kann diese nur gerechtfertigt werden, wenn wir, im Fall vom Zeugnis anderer, deren Vertrauenswürdigkeit autorisieren (vgl. K. Jones 1999, 74). Im Fall der unmittelbaren Ausführung der Absichten anderer muss deren Glaubwürdigkeit und Kompetenz autorisiert werden (vgl. Roth 2004, 391). Beides ist nicht der Fall, wenn Hanna Befehle ausführt und ihrer Pflicht als Aufseherin folgt. Sie scheint gar nicht über die Fähigkeit zu verfügen, die Absichten anderer bzw. das Zeugnis über soziale Normen kritisch zu beurteilen und entsprechend zu befürworten. Und falls sie diese Fähigkeit besitzen sollte, so wendet sie sie nicht an und täuscht sich in der Folge darüber hinweg, dass ihr Tun auf verwerflichen Gründen beruht. Insofern mangelt es Hanna an der rationalen Fähigkeit, ein angemessenes Verständnis ihrer Gründe zu erwerben, die Gründe anderer ggf. zu kritisieren, neue mögliche Gründe zu erkennen und aus für sie rechtfertigbaren Gründen zu handeln. Dies liegt u. a. daran, dass sie unter äußeren Bedingungen lebt, die ihr dies nicht ermöglichen. Sie hat nicht genügend Selbstvertrauen und kognitive Kompetenz, Gründe zu vergleichen und entsprechend einem von ihr selbst verteidigten Vergleich auf der Basis ihrer Werte und Überzeugungen zu handeln. Ebensowenig hat sie genügend Möglichkeiten, ihre eigenen Auffassungen über Gründe im Austausch mit anderen zu schärfen und geltend zu machen. Vor diesem Hintergrund wird plausibel, dass sie sich den Gründen anderer nicht hinreichend widersetzen kann. Unter diesen Voraussetzungen erfolgt eine graduelle Entwicklung zur sekundären Amoralität. D.h. die bereits erworbene, aber unzureichende Fähigkeit, Gründe zu erkennen und aus Gründen zu handeln, wird durch die Übertragung der rationalen Autorität an andere zunehmend verlernt. In einem System, in dem weder die Absichten anderer noch die speziellen Pflichten zur Erfüllung eines bestimmten Berufs moralisch rechtfertigbar sind, führt eine solche Übertragung vor dem Hintergrund des zunehmenden Verlernens der eigenen Fähigkeit, auf moralische Gründe zu reagieren und entsprechend zu handeln, zu einer sekundären, d. h. erworbenen Amoralität.
5.4 Die Erosion der moralischen Wahrnehmung Ich habe darzulegen versucht, dass Hanna über mangelhafte Fähigkeiten verfügt, aus Gründen zu handeln. Wer nicht aus selbst autorisierten Gründen handeln kann, überlässt es zunehmend anderen, Handlungsgründe vorzugeben. Sich den Gründen anderer zu unterwerfen und entsprechend zu handeln, impliziert, sich
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an deren Autorität zu binden. Dies geschieht nicht nur aufgrund äußerer Sanktionsmechanismen (schließlich hätte Hanna nicht so einfach ihre Dienste verweigern können). Es geschieht auch durch den daraus erwachsenden Rationalitätsdruck, der einmal übertragenen Autorität zu gehorchen. Dies ist umso leichter, wenn diese nur schrittweise unmoralische Handlungen gebietet. So hätte Hanna mit ihren basalen Fähigkeiten ihren neuen Beruf bei der SS nicht aufgenommen, hätte sie von vornherein gewusst,welche Tätigkeiten sie dann ausführen muss. Als ihr jedoch die Auswahl zur Deportation von jüdischen Frauen übertragen wurde, hatte sie bereits durch ihre viel früher erfolgte Übertragung der Autorität zugestimmt, daran mitzuwirken. Jedes Zugeständnis an die einmal übertragene Autorität macht weitere Zugeständnisse naheliegender und damit wahrscheinlicher. Die Fähigkeit, aus selbst autorisierten und damit aus ihrer Sicht rechtfertigbaren Gründen zu handeln und sich zu widersetzen, falls Gründe nicht rechtfertigbar sind, erodiert auf diese Weise zunehmend. Sofern sich überhaupt noch eigene Bedenken regen sollten, werden diese aus Gründen der Vermeidung kognitiver Dissonanz zum Schweigen gebracht.³⁰ Dies mag durch gesuchte Betäubung – so greifen viele Mittäter zu Alkohol oder lenken sich ab (Hanna lässt sich regelmäßig vorlesen) – oder durch Selbsttäuschung geschehen. Die tägliche Arbeitsroutine trägt ferner dazu bei, dass Hanna, ebenso wie andere Nazi-Mittäter, gegenüber moralischen Gründen abstumpft. Diesen Prozess der Abstumpfung beschreibt Schlink sowohl in der Reaktion der Richter und Schöffen, der KZ-Häftlinge als auch der Täter: Die „sichtbare Erschütterung“ der Richtenden weicht später der Normalisierung: Auch in den spärlichen Äußerungen der Täter begegnen die Gaskammern und Verbrennungsöfen als alltägliche Umwelt, die Täter selbst auf wenige Funktionen reduziert, in ihrer Rücksichts- und Teilnahmslosigkeit, ihrer Stumpfheit wie betäubt und betrunken. Die Angeklagten kamen mir vor, als seien sie noch immer und für immer in dieser Betäubung befangen, in ihr gewissermaßen versteinert. (VL 98 f.)
Häufig geht dies mit einer Dehumanisierung der Opfer einher, die es „erleichert“, sie nicht mehr als Personen mit berechtigten moralischen Forderungen wahrzu-
Freiman 2010, 200, neigt dagegen zu der These, dass Gehorsam zur Internalisierung der Normen führt, denen man gehorcht, und spricht von „character invasion“. Im Fall Hannas und anderer Mittäter scheint mir dies jedoch nicht plausibel. Die meisten kamen nicht zu der Auffassung, dass das, was sie tun, nun moralisch richtig ist. Sie gelangten vielmehr in einen Zustand, der sie moralische Gründe nicht mehr wahrnehmen ließ. Es handelt sich daher nicht um Internalisierung, sondern um Entmoralisierung. Diese Lesart unterstützen auch die Aussagen Stangls (vgl. Sereny 1974, 200 ff.)
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nehmen. So werden sie nicht als Individuen mit partikularen Interessen, sondern als Masse gesehen:³¹ Hanna beschrieb, dass sich die Aufseherinnen verständigt hatten, aus ihren sechs gleich großen Zuständigkeitsbereichen gleich große Gefangenenzahlen zu melden, jeweils zehn und insgesamt sechzig, dass die Zahlen aber bei niedrigem Krankenstand im einen und hohem im anderen Zuständigkeitsbereich divergieren konnten und dass alle diensthabenden Aufseherinnen letztlich gemeinsam beurteilten, wer zurückgeschickt werden sollte. (VL 106)
Die jüdischen Frauen werden als Objekte beschrieben, mit denen etwas zu geschehen hat. Wer nicht in der Lage ist, Gründe zu erkennen und aus diesen Gründen zu handeln (was die Einsicht voraussetzt, dass es sich um rechtfertigbare Gründe handelt), ist auch nicht in der Lage zu erkennen, dass andere berechtigte Gründe haben. Dieser Prozess der Entmoralisierung wird durch historische ebenso wie durch sozialpsychologische Forschung über die Motive von Mittätern gestützt. So zeigt Christopher Browning in seiner Untersuchung der Hamburger PolizeiReserve, die 1942 nach Polen zu einem Sonderauftrag gebracht wird und die dortigen nicht mehr arbeitsfähigen Juden erschießen soll, wie sich trotz anfänglicher Widerstände und trotz der Möglichkeit, sich nicht an den Erschießungen zu beteiligen, von 500 Männern nur 12 weigern. Als erklärende Faktoren nennt Browning (2009, 208) Brutalisierung in Kriegszeiten, Rassismus, arbeitsteiliges Vorgehen verbunden mit wachsender Routine, besondere Selektion der Täter, Karrierismus, blinden Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit, ideologische Indoktrinierung und Anpassung. Im Fall von Hanna spielen weder Rassismus noch Karrierismus eine nachweisbare Rolle. Auch die ideologische Indoktrinierung dürfte weniger einflussreich sein. Aber ihr blinder Gehorsam sowie ihre Autoritätsgläubigkeit, die Anpassung an die zunehmend unmoralischeren Umstände, die wachsende Routine und das arbeitsteilige Vorgehen erklären ihre zunehmende Entwicklung zur Amoralität. Dieses Ergebnis wird ebenso von verschiedenen sozialpsychologischen Experimenten unterstützt. Im Gefängnis-Experiment von Philip Zimbardo – um nur eines der prominenten Beispiele herauszugreifen – werden 1971 an der Stanford Universität Studierende arbiträr in zwei gleich große Gruppen eingeteilt und bekommen jeweils die Rolle als Wächter (markiert durch das Tragen dunkler Sonnenbrillen, Uniform und die Ausstattung u. a. durch Schlagstöcke) und die Rolle als Gefangene (markiert durch die Kleidung und das Tragen von Nummern) zugewiesen. Auf diese Weise wird eine Gefängnis-Situation simuliert. Innerhalb
So drückt sich auch Franz Stangl (in: Sereny 1974, 201) aus, der u. a. von „Ware“ („cargo“) spricht: „I rarely saw them as individuals. It was always a huge mass.“
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kürzester Zeit (nach ca. zwei Tagen) wird deutlich, dass „ganz normale“ Studenten zu teilweise sadistischen Wächtern werden. Zimbardo erklärt diesen Effekt durch eine Reihe von Faktoren, von denen keiner für sich genommen sonderlich dramatisch war, die zusammen genommen jedoch zu teilweise grauenhaften Folgen führten. Die Häftlinge werden gedemütigt, misshandelt oder zumindest strengstens behandelt. Zu den unterstützenden Faktoren einer solchen Entwicklung gehören Zimbardo zufolge Anonymität und Deindividuation, Macht der Regeln und Vorschriften, Rollen und Verantwortung für Übertretungen, kognitive Dissonanz (die zur Internalisierung von Rollen und Regeln führt) sowie das Bedürfnis sozialer Billigung (das die nicht-sadistischen Wächter tatenlos bei Überschreitungen anderer Wächter zusehen lässt).³² Die meisten Misshandlungen der Häftlinge wurden mit Verweis auf die Vorschriften und die Rolle als Wächter gerechtfertigt. Die Häftlinge hatten wiederum ihre Rolle so internalisiert, dass sie das simulierte Gefängnis nicht verließen (obwohl dies bei Verzicht auf Bezahlung möglich gewesen wäre).³³ Trotz der Kritik, die das Gefängnis-Experiment erfahren hat, bestätigt es, dass ganz gewöhnliche Menschen ohne spezifisch böse Motive zu grausamen Taten in der Lage sind. Abschließend möchte ich einige zentrale Ergebnisse dieser Analyse festhalten. Ich habe zu zeigen versucht, dass die Moralphilosophie eine besondere Kategorie des Unmoralischen vernachlässigt hat. Insbesondere in Fällen kollektiven Handelns lassen sich die dafür notwendigen Beiträge von MittäterInnen nicht über deren pervertierte Absichten oder böse Motive erklären. Damit ist keinesfalls ausgeschlossen, dass es auch Täter gibt, die über solche Motive verfügen. Diejenigen, die darüber nicht verfügen, sind gleichwohl nicht einheitlich charakterisierbar. Es gibt unterschiedliche Faktoren, die ihre Beteiligung an Gräueltaten motivieren. Mir ging es in diesem Beitrag darum zu zeigen, dass Autoritätsgläubigkeit und die damit verbundene Internalisierung von Rollen, Pflichtbewusstsein und Dienstbeflissenheit ebenso wie der Wunsch, das zu tun, was gefordert ist, zentrale Merkmale sind, die eine Person in einem Unrechtssystem unmoralisch werden lassen. Sofern dieser Prozess zur Erosion ihrer rationalen und damit auch ihrer moralischen Fähigkeiten führt, handelt es sich um eine spezielle Form der Immoralität: der Amoralität. Sofern diese Amoralität erworben wird, ist sie sekundär. Ich habe ebenso zu zeigen versucht, dass Personen, deren rationale Fähigkeiten bereits mangelhaft ausgebildet sind und die daher über ein geringeres
Zum Stanford Gefängnis Experiment siehe die Dia-Schau von Philip Zimbardo: www.prisonexp.org. So zeigen etwa Reicher/Haslam 2006, dass die Rolle eines ‚Führers‘ wesentlich ist, um die Internalisierung solcher Rollen zu bewirken. Auch Hanna hat eine Rolle internalisiert.
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Selbstvertrauen verfügen und ein nur schwaches Vermögen besitzen, auf Gründe zu reagieren, besonders anfällig sind, ihre eigene Autorität an andere abzugeben.
6 Fazit und Konsequenzen Um mein Ergebnis zu verteidigen, möchte ich noch kurz einigen möglichen Einwänden begegnen. Zum einen könnte meine Untersuchung nahelegen, dass Personen wie Hanna nicht verantwortlich für das sind, was sie anderen Menschen angetan haben. Schließlich scheint sie durch bestimmte Faktoren in eine Situation hineingeschlittert zu sein, die zunehmend ihre eigenen rationalen Fähigkeiten ausschaltet. Auf diese Weise, so könnte man zugespitzt einwenden, werden Täter zu Opfern ihrer Umstände gemacht. Mein Ergebnis scheint daher unzumutbar exkulpatorisch.³⁴ Es impliziert jedoch nicht, dass Hannas Verhalten nicht tadelnswürdig ist oder keine Strafe verdient. Ihr Beitrag zu einem kollektiv begangenen Schrecken bleibt genauso furchterregend! Ihre moralische Verantwortung hängt schließlich davon ab, wie sehr sie das Verlernen ihrer eigenen rationalen Fähigkeiten hätte verhindern können. Dies muss Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. Mein Ergebnis macht Mittäter nicht nur zu Opfern der Umstände, sondern zeigt, wie sie sich unter diesen Umständen zu sekundär amoralischen Personen entwickeln.³⁵ Zum zweiten liegt der Einwand nahe, dass meine Analyse schließlich dazu führt, Mittäter gar nicht mehr als Beteiligte an einer kollektiv begangenen Gräueltat auszeichnen zu können. Schließlich verfügen sie weder über entsprechende kollektive Absichten noch notwendigerweise über ein kollektives Ziel (wie etwa die Judenvernichtung). Diese Diagnose spricht meiner Ansicht nach nur dafür, unsere Theorien kollektiven Handelns auszuweiten. Der Beitrag einzelner zu Gräueltaten muss nicht über ihre partizipatorische oder Wir-Absicht individuiert werden, ein unmoralisches Ziel mitzuverursachen. Er kann auch in der Absicht bestehen, das zu tun, was die sozialen Normen, die Rolle oder die Pflicht erfordern, sofern dies in Abstimmung mit anderen ausgeführt wird.
Dieser Vorwurf wurde Schlinks Roman mehrfach gemacht. Vgl. z. B. Donahue 2004, 179; MacKinnon 2003, 9. Zu einem aufschlussreichen Ergebnis kommt D.H. Jones 1999, bes. Kap.5. Seiner Meinung nach ist die politische Kultur Deutschlands bereits vor Hitlers Machtergreifung durch Antisemitismus, Autoritätsgläubigkeit und Nationalismus geprägt. In einer solchen Kultur erwachsen zu werden, führt zu einer verminderten kognitiven Fähigkeit zu wissen, dass das Töten von Juden falsch ist.
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Zum dritten lässt sich einwenden, dass die Figur der Hanna viel zu blass bleibt, um meine Analyse zu motivieren. Ich habe diesen Einwand bereits zu entkräften versucht, indem ich das Verhalten Hannas durch andere (historische und sozialpsychologische) Quellen zu stützen versucht habe. Mir scheint sie daher prototypisch für Mittäter einer bestimmten Art. Wie bereits angedeutet, impliziert dies nicht, dass es nicht andere Täter gab – solche etwa, die wussten, dass sie unmoralisch handeln, die böse Absichten hegten und die moralisch höchst pervertierte Auffassungen vertraten.³⁶ Die moralpsychologischen Voraussetzungen, die Täter und Mittäter von kollektiv begangenen Gräueltaten auszeichnen, sind vielfältig und komplex. Ich habe hier lediglich versucht, einen Typus näher zu analysieren. Eine Analyse der Hanna lehrt uns, wie Entmoralisierung durch das Zusammenwirken persönlicher Fähigkeiten wie sozialer Umstände entstehen und zur Beteiligung an grausamen Taten führen kann.³⁷ Dies sind die motivierenden Gründe, die ihr Verhalten erklären. Dass sekundäre Amoralität eine eigene Kategorie des Unmoralischen ist, sollte von einer Theorie gemeinsamen Handelns ebenso berücksichtigt werden wie von der Moraltheorie. Es muss einer weiteren Arbeit überlassen werden zu zeigen, welche Eigenschaften Personen erwerben sollten, um sekundäre Amoralität zu vermeiden.³⁸
Besonders interessant sind die Vorschläge von Steiner 2003, 81, sowie Pauer-Studer, H./ Velleman, D. 2011, 350 ff. In diesem Sinn spricht Schlink 2007, 116, von der „völlige[n] Hilflosigkeit individueller Moral beim Fehlen von Institutionen, in denen sie sich anerkannt wissen, an die sie appellieren, auf die sie rechnen kann“. Für wertvolle schriftliche Kommentare zu diesem Beitrag danke ich ganz herzlich Susanne Boshammer, Virginia Richter, Christian Seidel und Bernhard Schlink. Christian Budnik, André Chapuis und David Widerker bin ich für hilfreiche Diskussionen über die hier verhandelten Themen dankbar. Sie haben mich vor vielen Unklarheiten und Fehlern bewahrt. Ebenso danke ich den ZuhörerInnen verschiedener Vortragsversionen dieses Beitrags an den Universitäten Wien (2010) im Rahmen des ERC „Distortions of Normativity“, Luzern (2012), Würzburg (2012) im Rahmen des Symposions „Fühlen, Wollen, Handeln als soziale Phänomene“, Düsseldorf (2012) und München (2012) für anregende Hinweise. Insbesondere Jörn Müller und Karl Mertens bin ich sehr dankbar für die Einladung zum Wiederabdruck dieses Beitrags in diesem Band. Christine Wolf danke ich für ihre wertvolle redaktionelle Hilfe.
Sekundäre Amoralität
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Sprechhandlungen verstehen Überlegungen zu einer askriptivistischen Sprechakttheorie Handlungstheorien in der Nachfolge von Herbert L.A. Harts Skizze „The Ascription of Responsibility and Rights“ (1949) betonen die soziale Genese des Konzepts ‚Handeln‘, die noch in jeder Verwendung eines Handlungsverbs präsent ist. Damit kann die philosophische Grundfrage, was eine Handlung gegenüber einer Körperbewegung auszeichnet,¹ nicht mehr im Rückgriff auf notwendige und hinreichende physische und/oder psychische Bedingungen auf Seiten des handelnden Individuums und damit unabhängig von einer sozialen Zuschreibungspraxis beantwortet werden.² Diese Zuschreibungspraxis selbst eröffnet einen sozialen Raum, in dem Begriffe wie Freiheit und Verantwortung in Kombination mit möglichen Subjekten einer Handlung³ ihren Sinn bekommen und der mit (auch normativen) Erwartungen gefüllt ist. Askriptivistische Handlungstheorien teilen folglich mindestens drei Prämissen: 1. Handlungen haben einen anderen ontologischen Status als Tische, Lawinen oder auch Körperbewegungen – sie sind das Produkt interessierter Deutungen. 2. Wir verstehen ein Geschehen oder dessen Ausbleiben⁴ als beabsichtigt, ein Verhalten als gewollt oder bewusst durchgeführt und schreiben es Akteuren als Handeln zu. Diese Zuschreibung kann in mehreren Hinsichten durchaus
Vgl. Hart 1949, 188: „’What distinguishes the physical movement of a human body from a human action?’ is a famous question in philosophy.“ Hart (1949, 189) macht seine Grundüberlegungen in wenigen Sätzen deutlich: „In other words, though of course not all the rules in accordance with which, in our society, we ascribe responsibility are reflected in our legal code nor vice versa, yet our concept of an action, like our concept of property, is a social concept and logically dependent on accepted rules of conduct. It is fundamentally not descriptive, but ascriptive in character; and it is a defeasible concept to be definded through exceptions and not by a set of necessary and sufficient conditions whether physical or psychological.“ In diesem sozialen Raum ist einerseits festgelegt, welche Handlungssubjekte außer Menschen noch in Frage kommen – Tiere, Gottheiten, Kollektive, Institutionen. Andererseits setzen einige Handlungszuschreibungen bestimmte Eigenschaften des Handelnden voraus: So können Kleinkinder in unserer Kultur nicht beleidigen und, anders als in den USA, Zehnjährige nicht morden. Gerade bei Unterlassungen wie auch bei magischen oder göttlichen Handlungen spielt der Askriptivismus seine Trümpfe aus.
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strittig sein⁵ – erst recht, wenn weitere Handlungsziele bzw. -folgen in sie eingehen, aber auch in Interaktionen, oder wenn Institutionen ins Spiel kommen. Ob eine Handlung und welche Handlung begangen wurde oder wird, ist eine Frage, bei der derjenige, dem die Handlung zugeschrieben wird, keine unbestreitbare Autorität besitzt.
Die Schwierigkeiten beim Verstehen und richtigen Deuten hat die Philosophie zumeist am Fall sprachlicher Gebilde reflektiert.⁶ Will man nun Sprechhandlungen askriptivistisch untersuchen, scheint es sich um einen Kurzschluss zu handeln: Was soll dabei herauskommen, wenn man gerade das Verfahren im Umgang mit Handlungen, das aus der Theorie des Verstehens gespeist wurde, nun seinerseits auf solche Handlungen anwendet, bei denen ohnehin verstanden werden muss?⁷ Mein Ziel ist zu zeigen, dass dieser vermeintliche Kurzschluss ertragreich ist. Ich bin der Auffassung, dass wir von einer askriptivistischen Handlungstheorie etwas über Sprechakte lernen können. Vielleicht lässt sich sogar die inzwischen mumifizierte Sprechakttheorie mittels einiger Grundüberlegungen des Askriptivismus wiederbeleben und so in zeitgenössische Theorien des Sozialen einbringen. Wenn wir aber den Askriptivismus ernst nehmen und auf Sprechhandlungen beziehen, hat das erhebliche Auswirkungen auf unsere Theorie der Sprache. Ich werde folgendermaßen vorgehen: Zunächst möchte ich das problematische Erbe John Searles beschreiben – Searle leitete die Reduktion von Pragmatik auf Semantik ein und verhinderte so eine genauere Untersuchung von Sprechhandlungen als Handlungen. Dass auch andere Theorieentwicklungen möglich gewesen wären, zeigen im zweiten Teil zwei Aufsätze der Linguistin Ann Weiser. Indem Weiser in sorgfältigen Einzelanalysen Kommunikation als bedeutungsoffenen und damit kreativen Prozess darstellt, bricht sie mit dem Primat der Se-
Askriptivisten betonen, dass diese Zuschreibungen nur angemessen oder unangemessen sein können, nicht wahr oder falsch. Auch wenn G.E.M. Anscombe in Intention (1976) den Ausdruck description, gegen den Hart zu Felde zieht, verwendet, macht sie ebenso auf den problematischen Status von Handlungen aufmerksam. Ohnehin scheinen mir viele ihrer Überlegungen (wie auch die von John L. Austin) den askriptivistischen Ansatz zu plausibilisieren. Unser besonderes Interesse an Handlungen thematisiert Anscombe (1976) in den §§46 und 47. Aristoteles’ handlungstheoretischer Exkurs in seiner Erörterung der Gerichtsrede (Rhetorik I, 10) wäre allerdings ein frühes Gegenbeispiel, dessen Bedeutung – im Zusammenspiel mit den bekannteren Ausführungen in der Nikomachischen Ethik III, 1– 7 – für die hier genannten Autoren ins Auge fällt. Hart hat ja sogar das Konzept der Zuschreibung aus dem Sprechakt der Zuschreibung entwickelt.
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mantik. Auf die Parallelität zwischen askriptivistischer Handlungstheorie und einer von der Pragmatik her verstandenen Sprechakttheorie werde ich im dritten Teil aufmerksam machen. Diese Parallelität stützt mein Plädoyer für einen Verzicht auf das Konzept einer ‚wörtlichen Bedeutung‘. Im vierten Teil möchte ich kurz auf den Vorwurf eingehen, die Welt sprachlicher Äußerungen löse sich unter diesen Prämissen in die Welt beliebiger Interpretationen auf. Im Gegenteil: Es ist die leiblich-situativ geteilte Pragmatik, die das Verstehen von Sprechhandlungen ermöglicht. Auch hier hilft der Vergleich mit der keineswegs beliebigen Deutung nicht-sprachlichen Verhaltens im Askriptivismus. Es folgt noch eine kurze Schlussbemerkung, die ein Arbeitsfeld umreißt.
1 Searles Erbe Der Begriff ‚Sprechakttheorie‘ wird heute zumeist mit dem Namen John Searles verbunden. Begründet wird dies in der Regel damit, Searle habe Ordnung in John L. Austins unbefriedigende Einteilung illokutionärer Akte gebracht.⁸ Tatsächlich unterschied sich das Vorgehen beider Autoren radikal: Wo Austin den verschlungenen Pfaden sprachlicher Interaktion zu folgen versuchte, hinterließ Searle wohlabgegrenzte Felder illokutionärer Akttypen, deren eingängigstes Unterscheidungsmerkmal „direction of fit“ auf den Handlungscharakter eben solcher Äußerungen aufmerksam machte, die die Welt verändern. Klassische Beispiele sind das Jawort beim Heiraten oder ein Befehl. Dass Austin primär durch die Searle’sche Brille gelesen wird, ließe sich beispielhaft an der wirkmächtigen Rezeption von Habermas zeigen.⁹ Und es hat eine gewisse Ironie, wenn angesichts der Angriffe von Derrida auf die Sprechakttheorie gerade Searle sich dazu berufen fühlt, Austin beizustehen.¹⁰ Ich denke, man sollte Austins How to do Things with Words nicht nur als Beitrag zur sprachphilosopischen Wende und gegen deren verifikationistische Verengung lesen, sondern versuchen, den Text auch als Teil seiner Handlungs Habermas (1982, Bd.1, 429) z. B. spricht von einer durch Searle (1982a) „bereinigten Fassung“. Reingehalten werden muss aber vor allem sein eigener, moralisch aufgeladener Begriff der Verständigung, und diesem Bestreben fallen zunächst Austins Perlokutionen als „verdeckt strategische[] Handlungen“ (Habermas 1982, Bd.1, 395) zum Opfer. Aber gerade auch innerhalb der Linguistik hat Searles Ansatz an der Satzbedeutung die Sprengkraft von Austins Sprechakttheorie gänzlich überdeckt – letztlich mit dem absurden Ergebnis, dass die explizit performativen Sprechakte von einigen Autoren als Beschreibungen (und damit als indirekte Sprechakte) aufgefasst wurden, entgegen den hellsichtigen Warnungen Austins (1985, 81 und 90). Sowohl Austin als auch Derrida gerecht zu werden, versucht hingegen Stanley Cavell (2002).
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theorie zu rezipieren. Schon auf den ersten Blick lassen sich methodische Parallelen zwischen Austins sprechakttheoretischen und handlungstheoretischen Texten erkennen, denn in beiden Fällen setzt die Handlungsanalyse an Fehlschlägen an. Besonders deutlich wird der Handlungscharakter aller sprachlicher Äußerungen in der berühmten Weigerung, Behauptungen von performativen Sprechakten grundsätzlich zu trennen – diese Unterscheidung wird ja von Austin u. a. deshalb eingeholt, weil Behauptungen als konstative Sprech-Handlungen scheitern können. Genannt sei hier nur sein wunderbares Beispiel „Frankreich ist sechseckig“ – ist das nun wahr oder falsch? Schön, bis zu einem gewissen Grade, wenn Sie so wollen; wenn Sie in gewissen Zusammenhängen sagen, es sei wahr, dann kann ich natürlich verstehen, was Sie meinen. Es reicht vielleicht für einen Dreisternegeneral, aber nicht für einen Geographen […]. Es ist eben eine grobe Beschreibung, keine zutreffende oder unzutreffende./Was das Zutreffen von Feststellungen angeht, sind außerdem – ganz wie bei der Frage, ob ein Rat gut ist – Ziel und Zweck und der ganze Zusammenhang der Äußerung von Bedeutung. (1985, 161 f.)
Für den Handlungstheoretiker Austin lassen sich auch Sprechhandlungen nicht von den Situationen abtrennen, in denen sie stattfinden. Sie können sowohl institutionell scheitern – weil der Rahmen nicht stimmt – als auch individuell, beides auf mehreren Ebenen.¹¹ Nicht weniger interessant als die Einordnung sprachlicher Äußerungen in Handlungen sind Austins sprachphilosophische Überlegungen innerhalb seiner Handlungstheorie. Seine äußerst wichtigen (und mit dem Label ‚ordinary language philosophy‘ häufig ignorierte) methodologischen Erläuterungen in „A Plea for Excuses“ betrifft das Verhältnis von Sprache und Welt. Austin bricht nämlich aus dem Korsett der sprachanalytischen Wende, die Philosophie primär als verifikationistische Bedeutungsanalyse begreift, in dreifacher Weise aus: Es geht ihm nicht nur darum, dass es Sätze gibt, die philosophisch interessant sind, aber weder wahr noch falsch; und darum, dass die Alltagssprache primärer Gegenstand der Analyse sein soll. Vielmehr zieht er wesentlich radikaler in Zweifel, dass es Sprache immer gelingt, Welt abzubilden: Und außerdem, wie gut unsere Sprache auch immer ausgerüstet sein mag, sie kann niemals gegen alle Fälle gewappnet sein, die sich ergeben können und beschrieben werden müssen – das Faktische ist reichhaltiger als das Wort. (Austin 1986, 256)
So ist es nicht verwunderlich, dass für die jüngste Beachtung des Performanz-Begriffs eben nicht Searle, sondern Austin Pate steht.
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Austins linguistische Phänomenologie bleibt an Sprache gebunden, doch er möchte sich nicht durch die Sprache gängeln lassen. Und weil es letztlich um die Phänomene geht – und nicht um eine Analyse der Sprache –, gilt: Wir müssen sie [die Wörter] aus der Welt herauswuchten, sie von ihr entfernt und gegen sie halten, so daß wir ihre Unzulänglichkeiten und ihre Willkürlichkeiten erkennen und die Welt neu betrachten können, ohne zu blinzeln. (Ebd., 239)
Während Austin sich also gegen Wittgensteins durchaus auch sprachskeptisch zu verstehenden Satz „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Tractatus logico-philosophicus, 5.6.) auflehnt, greift Searle dieses Diktum in gewandelter Form wieder auf. Sein berühmtes Prinzip der Ausdrückbarkeit – also die Grundannahme, dass wir alles, was wir meinen, prinzipiell auch ausdrücken können¹² –, ist letztlich Garant dafür, dass die Pragmatik weitgehend zur Funktion der Semantik wird.¹³ Der Sprechakt oder die Sprechakte, die mit der Äußerung eines Satzes vollzogen werden, bilden allgemein eine Funktion der Bedeutung des Satzes. Es ist nicht immer die Bedeutung eines Satzes allein, die bestimmt, welcher Sprechakt mit einer bestimmten Äußerung dieses Satzes vollzogen wird, denn ein Sprecher kann mehr meinen, als er wirklich sagt. Aber prinzipiell ist es für den Sprecher immer möglich, genau zu sagen, was er meint. Deshalb ist im Prinzip jeder Sprechakt, den man vollzieht oder vollziehen könnte, durch einen gegebenen Satz (oder durch eine Reihe von Sätzen) eindeutig bestimmbar, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, daß der Sprecher aufrichtig spricht und daß der Zusammenhang passend ist. Aus diesen Gründen ist die Untersuchung der Bedeutung von Sätzen nicht grundsätzlich verschieden von einer Untersuchung der Sprechakte. (1971, 32 f.)
Sätze haben für Searle eine Bedeutung, aus der neben dem propositionalen Bestandteil eben auch die illokutionäre Rolle des Sprechaktes hervorgeht. Damit bedient Searle das sprachphilosophische und auch linguistische Klischee einer Sprache, der selbst die Bedeutungen anhaften. In diesem Primat der Semantik sind ihm die meisten philosophischen und linguistischen Sprechakttheoretiker
„Ich halte es für eine analytisch wahre Aussage in bezug auf die Sprache, daß man alles, was man meinen kann, auch sagen kann.“ (Searle 1971, 32) Recht ausführlich habe ich diese Semantisierung der Pragmatik im Ausgang von Searle in Heuft 2004, Kapitel III.2. behandelt. Das Prinzip der Ausdrückbarkeit wird von vielen philosophischen Autoren explizit oder implizit in Anspruch genommen; in der Searle’schen Formalisierung ist es unsinnig, weil es ein Sprachgebilde mit einem Bewusstseinsvorgang identifiziert. Meine Hauptkritik richtet sich allerdings gegen eine schlichte, aber offenbar gerne übersehene Folgerung aus diesem Prinzip: Wenn ich alles, was ich meinen kann, auch sagen kann, ist es prinzipiell nicht möglich, mehr bzw. anderes zu meinen, als ich sagen kann.
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gefolgt. Von Austin blieb bloß noch die Einsicht, dass nicht alle Sätze wahr oder falsch sind und dass die Bedeutungstheorie entsprechend erweitert werden müsse.¹⁴ – Aus einem systematischen Interesse, das Austin fremd war, hat sich die Pragmatik damit selbst obsolet gemacht. Indem die Sprechakttheorie so den Blick ablenkte von den Mühen und Chancen tatsächlichen Verstehens und Missverstehens, wurde Kommunikation wieder zu eben dem Paketversand, bei dem der Sprecher seinen Gedanken eins-zu-eins in ein sprachliches Gebilde verpackt und der Hörer aus diesem sprachlichen Gebilde das Gemeinte deshalb herausholen kann, weil es das Gemeinte bedeutet. Die einzige Rolle der Pragmatik jenseits ihrer semantischen Reduktion dient allein der Festigung genau dieses Konzepts.Wenn die semantische Analyse an ihre Grenze kommt, d. h. unklar ist, ob ein Satz dieses oder jenes oder warum er überhaupt etwas bedeutet, muss die Pragmatik einspringen. Die Pragmatik mit ihren Begriffen wie Situation, Kontext, das vom Sprecher Gemeinte etc. wird zum Helfer in der Not, wenn Menschen es wagen, nicht-eindeutig oder gar nichtwörtlich zu sprechen. Sie muss dann festsetzen, was eigentlich gesagt wurde oder hätte gesagt werden müssen.¹⁵ Bevor ich im nächsten Teil auf ein Nest der Widerstandsbewegung gegen die Semantisierung der Pragmatik eingehe, seien noch einmal die Kräfteverhältnisse mit einem Zitat des Sprachwissenschaftlers Armin Burckhardt verdeutlicht. Nach Burckhardt sind Sprechakte gar keine Handlungen im strikten Sinne und die Analyse der Handlungen ist deshalb kein pragmatisches, sondern ein rein semantisches Problem, das von einigen pragmatischen Aspekten begleitet wird. Das Fazit seines Aufsatzes „Speech Act Theory – the Decline of a Paradigm“ von 1990 lautet: Aber was ich meine, ist, dass im Laufe von drei Jahrzehnten ihrer Geschichte die Sprechakttheorie eine Entwicklung durchgemacht hat von den pragmatischen Anfängen Austins über verschiedene, mehr oder weniger intentionalistische Annäherungen und Searles hybride Konstruktion zu dem, was man eine (lexikalisch‐)semantische Sicht auf Sprechakte nennen könnte. Hier, denke ich, ist die Sprechakttheorie zu einem Ende gekommen. (Burckhardt 1990, 175; Übers. M.H.)
Austin hingegen hat darauf beharrt, dass Sätze ohnehin nie etwas bedeuten. Doch Situation und Kontext sind immer schon vorab dabei; sie bilden Teile des Erwartungshorizontes, der Möglichkeiten des Verstehens erst eröffnet und leitet.
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2 Gegen das Primat der Semantik Es gab jedoch Stimmen, denen dieser Abgesang auf die Sprechakttheorie nicht gerecht wurde; Stimmen, die weniger ein systematisches Interesse an (einer) Sprache denn ein Interesse an den Phänomenen sprachlicher Kommunikation hatten.¹⁶ Als Kronzeugin dient mir die wenig rezipierte amerikanische Linguistin Ann Weiser, die Mitte der 70er Jahre in zwei gänzlich furchtlosen Artikeln die Neuartigkeit und Eigenständigkeit des pragmatischen Ansatzes in der Sprachwissenschaft hervorhebt und bereits verteidigt: Als theoretische Linguisten, die sich auf das Studium der Pragmatik einlassen, erweitern wir nicht einfach geringfügig unser Untersuchungsgebiet, sondern wir nehmen einen gänzlich anderen Blickpunkt gegenüber der Sprache ein. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht mit theoretischen Konstrukten belasten, die nicht zu unseren neuen Bestrebungen passen, sonst werden wir die Gelegenheit verpassen, die frischen und sich enthüllenden Einblicke in die Sprache und in die Menschen zu bekommen, die die Pragmatik so verlockend anbietet. (Weiser 1974, 729; Übers. M.H.)
Beide Aufsätze von Weiser behandeln unsere alltägliche Nutzung irreduzibler Zwei- oder Mehrdeutigkeit von Äußerungen und sind komplementär. ‚Irreduzibel‘ heißt hier, dass keine Analyse diese Mehrdeutigkeit aufheben kann, ohne die Äußerungen zu zerstören – dasselbe lässt sich also nicht anders (und das heißt eindeutig) sagen. Das unterscheidet sie von indirekten Sprechakten, Ironie oder Gesprächsimplikaturen, also von allen nicht-wörtlichen Sprachverwendungen, die sich (angeblich) in wörtliche umformen lassen. Der erste Text „Deliberate Ambiguity“ thematisiert diese irreduzible Ambiguität, insofern sie vom Sprecher mehr oder weniger bewusst eingesetzt wird. Dabei geht es um Situationen, die der Sprecher vorsichtig vorantreiben will, obwohl er nicht weiß, wie der Adressat die Dinge sieht. So unterstellt die Äußerung „Ich bin wirklich neugierig, wie die Anhörung so lief“, die von einem Außenstehenden gegenüber einem befreundeten, zum Schweigen verpflichteten Ausschussmitglied gemacht wird, keinen Zweifel an dessen Loyalität und hält doch die Möglichkeit offen, dass der Angesprochene einen Hinweis gibt – eben dann, wenn er sich so streng nun doch nicht gebunden fühlt.¹⁷ Tatsächlich ist diese
Dazu gehören neben Ann Weiser auch Roland Posner (1979) und Dorothea Franck (1980). Könnte man nicht so ‚übersetzen‘: ‚Ich wüsste gerne, was der Ausschuss beschlossen hat. Aber es ist mir nicht so wichtig, dass Du Deine Schweigepflicht verletzen sollst.‘? Ja, aber allein die Länge dieser Äußerung gibt ihr einen Nachdruck, den die ursprüngliche nicht hat. Außerdem würde sie mich irritieren – im Grunde handelt es sich um ein (rein sprachliches) Doublebind. Und selbst wenn wir in diesem Falle also sagen könnten, was wir meinen, hätten wir
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Äußerung performativ nicht eindeutig: Anders als z. B. bei der Aufforderung „Haben Sie eine Uhr dabei?“ kann sich der Sprecher darauf berufen, er habe den anderen nicht nötigen wollen. Je nach den genauen Umständen kann der Sprecher durch leicht variierte Wortwahl und passenden Tonfall ein ganzes Spektrum mehr oder weniger nachdrücklichen Bittens abdecken: von einer Äußerung, die sein Interesse an dem Fall kund gibt und zugleich dem anderen in seiner Rolle Respekt erweist, bis hin zu einer deutlichen Aufforderung, die aber beiden noch eine Rückzugsmöglichkeit lässt. „Wirklich schade, dass ich nicht weiß, wie die Anhörung so lief“ ist nachdrücklicher, „Ich bin ganz gespannt, wie die Anhörung so lief“ ist nach meinem Empfinden im Aufforderungscharakter eher schwächer. Nach Weiser muss man sich davor hüten, solche Fälle zu moralisieren oder eine besondere Planmäßigkeit zu unterstellen. Sie stehen vor einem Tischchen in einem Antiquitätenladen, sind über den Preis erschrocken und sagen „So viel wollte ich eigentlich nicht ausgeben“, und sind wirklich überrascht, dass die Besitzerin es Ihnen deutlich billiger geben will.¹⁸ Oft ist es nach Weiser die schiere Not, die uns zu solchen Äußerungsformen greifen lässt: Sie sind bei einem Katzennarren eingeladen, der in der Küche werkelt. Die Vorspeise steht schon auf dem Tisch und der Kater macht sich ganz unbeeindruckt von Ihren Blicken an den Schinken. Genießt das Tier hier Vorrecht oder riskieren Sie, dass der Gastgeber beschämt gleich das Hauptgericht auftischen muss? Vielleicht versuchen Sie es mit „Dein Kater hat ja ganz schön Appetit“. Hier macht die Not natürlich erfinderisch – doch man verkennt die Pointe von Weisers Überlegungen, wenn man durch die Analysen verleitet strategisches Vorgehen in ausgesuchten Situationen vermutet. Gehen wir noch einmal zurück zum ersten Beispiel: Ich weiß, dass mein Freund Mitglied in dem bekannten Ausschuss ist und dass er dort seine Arbeit so gewissenhaft ausführt, dass seine Familie manchmal klagt. Nun sehe ich ihn zufällig in der Stadt, denke unwillkürlich an seine derzeitige Tätigkeit und sage „Wie läuft es denn im Ausschuss?“ – Mir scheint, dass es in solchen Fällen völlig sinnlos ist zu fragen, was ich eigentlich gemeint habe. Mich interessieren die Vorgänge im Ausschuss, mich interessieren die Belastungen, die auf ihn als Ausschussmitglied zukommen, mich interessiert, wie es ihm geht,wie seine Familie mit seinen Überstunden zurechtkommt, ich will, dass er weiß, dass ich mich für ihn und seine derzeitige Tätigkeit interessiere. Unsere Begegnung eröffnet ein Knäuel von Möglichkeiten, und meine Äußerung – die keineswegs nur eine Frage war – hält viele Möglichkeiten offen, ohne dass ich immer noch das Problem, dass die ursprüngliche Äußerung in einer bestimmten Situation zwei Bedeutungen hat – und genau diese Folgerung wollte Searle in „Indirekte Sprechakte“ (1982a) vermeiden. Dieses und das folgende Beispiel stammen von mir.
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auch nur eine durchdacht hätte. Deutet er mir nun den Zwischenstand an oder erzählt von den Klagen seiner Kinder, nimmt er einen der Fäden auf und etwas später vielleicht noch einen anderen, wenn er von dem Alkoholproblem eines anderen Mitglieds erzählt. Möglicherweise merke ich im Gespräch, dass ich noch gerne etwas anderes gewusst hätte, aber es kann auch gut sein, dass mich der Umgang mit Alkoholproblemen von Kollegen interessiert und ich hier nachhöre. – Erzähle ich nun einer Freundin von dieser Begegnung, dann ist es nicht falsch, wenn ich sage: „Gestern traf ich H., du weißt ja, dass er im Moment in diesem Ausschuss sitzt, und ich habe ihn gefragt, wie denn seine Familie mit der Arbeitsbelastung zurechtkommt.“ In ihrem zweiten Aufsatz richtet Weiser ihre Aufmerksamkeit auf den Hörer – der Titel „How to Not Answer a Question“ (1975) verrät das Ziel, und da am Ende deutlich wird, dass das zentrale Beispiel ihre eigene Geschichte ist, sei die Autorin gleich als Protagonistin eingesetzt: Weiser geht mit einem neuen Bekannten vom Campus der Universität Richtung Stadt; ganz unvermittelt fragt er sie, wie alt sie sei. Ihre Antwort lautet: „Keine Sorgen, sie werden mich bei Jimmy’s reinlassen.“ Diese Antwort – Jimmy’s ist eine beliebte Kneipe in Richtung des eingeschlagenen Weges – nutzt die situative Mehrdeutigkeit der Frage. Eine Mehrdeutigkeit, die in diesem Fall vom Fragenden wahrscheinlich nicht intendiert war, aber hätte intendiert sein können. (Man vergleiche: „Hast du den Führerschein dabei? – Keine Sorge, sie werden mich bei Jimmy’s reinlassen.“) Von den vorgestellten sechs möglichen Kandidaten einer Reaktion auf die gestellte Frage, ohne das Alter tatsächlich zu nennen, ist diese Antwort die netteste; zudem hat sie das Potential, die Frage längerfristig abzuwehren. Allerdings ist sie auch keine ungefährliche Strategie: Der Gebrauch von sprachlichen Strategien könne zu mehr als nur mehr Konversation führen, warnt Weiser am Ende des Artikels. Deute ich die Situation richtig, wurde die Frage für den Fragenden ohnehin genau genug beantwortet, zielte sie doch darauf ab zu klären, ob er es hier mit einer noch nicht-volljährigen Studentin zu tun habe, also besondere Regeln gelten? Und ihre Antwort ist eben nicht einfach nur eine gute, wenngleich ‚gefährliche‘ Umgehung, das Alter nicht zu nennen; sie muss die Option, mit diesem Mann etwas zu unternehmen, ja schon im Kopf gehabt haben. Frage und Antwort bringen die Situation tatsächlich voran – und darum ist die Kommunikation geglückt. Gegen die üblichen Konzepte indirekter Sprechakte betonte Ende der 1970er Jahre auch die Linguistin Dorothea Franck den Spielraum von Deutungs- und damit Anschlussmöglichkeiten: Ein solcher Unterhandlungsspielraum ist eine wesentliche Eigenschaft von Konversationsbeiträgen, keine versehentliche Undeutlichkeit oder Unzugänglichkeit für einen außenste-
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henden Beobachter. Ein allzu kategorisch-distinkter Gebrauch des Etiketts „indirekte Sprechakte“ verwischt diese wichtige Funktion der Überlagerungen mehrerer Bedeutungen und der bewussten Offenheit für mehrere Interpretationen. (Franck 1980, 155)
Nimmt man den Vorrang der Pragmatik ernst, so reicht es nicht, im Krisenfall ‚den Kotext‘, ‚den Kontext‘ oder ‚die Situation‘ hinzuzusetzen, um den Sprechakt eindeutig werden zu lassen. Es geht um einen radikalen Standortwechsel: Bedeutung haftet nicht den Wörtern an, sondern wir verleihen einer Rede oder einem Text Bedeutung. Wir haben bewusste und unbewusste Wünsche und Ziele, Vormeinungen und Erwartungen, und deswegen hören wir etwas heraus, was uns den erhofften Anschluss ermöglicht – oder vielleicht vor lauter Sorge auch das, was diesen Anschluss zu hindern scheint.Verstehen ist zielstrebiges Zusammenreimen – ohne irgendein noch so vages Ziel gibt es kein Verstehen, weil es keinen Grund gibt, verstehen zu wollen. Und deshalb gibt es keinen Nullkontext oder neutralen Kontext oder wie auch immer man den Kontext nennen mag, der das Konzept wörtlicher Bedeutung retten soll. Wir machen mit etwas aus dem Sinnangebot weiter auf unsere Weise, mal stereotyp, mal kreativ und meistens irgendwo dazwischen. Weisers zweifacher Ansatz, der pragmatischen Dimension von Sprachverwendung gerecht zu werden, spiegelt genau die doppelte Überschüssigkeit jeglichen Sprechens wider: Wir meinen häufig mehr, als wir ausdrücken können, und zugleich bietet das Gesagte immer Möglichkeiten des Verstehens, die wir nicht im Blick hatten.¹⁹
3 Zur Parallelität zwischen sprachlichem und nicht-sprachlichem Handeln aus askriptivistischer Sicht Diese Überlegungen verdeutlichen, warum eine askriptivistische Handlungstheorie die Kräfteverhältnisse in der Sprechakttheorie entgegen dem oben beschriebenen Trend wieder zugunsten der Pragmatik verschieben kann. Es ist ja genau die Offenheit für mehrere Interpretationsmöglichkeiten, die den Askrip-
Bernhard Waldenfels schreibt (1980, 158): „Die Nichtkoinzidenz von Gemeintem, Gelebtem und Gesagtem, die Inadäquation von Ausgedrücktem und Ausdruck hält die Sprache in Bewegung. Dabei ergibt sich, genauer gesagt, ein wechselseitiger Überschuß: Was man sagen will, kann über das hinausgehen, was man sagt, und was man sagt, kann über das hinausgehen, was man sagen will, parole und langue beflügeln und überflügeln sich wechselseitig.“
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tivismus als Handlungstheorie so plausibel macht. Nach meiner Auffassung handelt es sich hier um eine zweifache Parallelität: 1. So wenig wie Körperbewegungen allein eine Handlung individuieren, bestimmen Lautfolgen den Sprechakt – Körperbewegungen und Lautfolgen bedeuten nur für uns etwas, nicht an sich. 2. Das vom Sprecher Gemeinte teilt mit der Absicht eines Handelnden viele (oder vielleicht sogar alle) Probleme der Analyse: Weder geht dem Sprechen immer ein Gemeintes voraus, noch meinen wir alle Laute, die wir äußern – wir können uns versprechen, wie wir das falsche Holzstück sägen können –, noch sind wir uns über das Gemeinte immer ganz im Klaren; es hat oft nur eine diffuse Tendenz. Und natürlich stehen wir bei Handlungen wie bei Äußerungen anderer vor dem Problem, dass uns die Absicht/das Gemeinte anderer nicht direkt zugänglich ist. Aus diesem Grund sind Summenmodelle „Körperbewegung + deren Absicht“ oder „Lautfolge + deren Bedeutung (Gemeintes)“ eher Beschreibungen eines Problems als dessen Lösung. Betrachtet man nicht nur isolierte nicht-sprachliche oder sprachliche Handlungen, sondern Interaktionen, wird der irreführende Hang der Philosophie zur Vereindeutigung von Handlungen noch offensichtlicher – tatsächlich interessiert uns die Absicht oder das Gemeinte häufig gar nicht oder jedenfalls nicht genau. Dorothea Franck schreibt mit Blick auf eine semantisch verkürzte Sprechaktheorie: „Interaktionsrelevante Bedeutungen werden zu einem großen Teil in der Interaktion erst ausgehandelt.“ (Franck 1980, 149) Die Bedeutung einer Äußerung ist dann die Bedeutung, die im Nachhinein die Interaktionspartner dieser Äußerung unterlegen. Es geht ums Weiterreden, Weitermachen, ums Anschließen. Der begeisterte Volleyballer Paul hat einen Ball mitgebracht, Johannes fängt damit an herumzukicken, es wird ein Fußballspiel draus. In Interaktionen muss eine Handlung selten vollständig bestimmt sein, um erfolgreich daran anzuschließen. Auch eine Theorie der Zuschreibung muss sich vor solchen (hermeneutischen) Zerrbildern hüten: Der Rückgang auf die Absicht oder auf das Gemeinte wäre oft hinderlich. Das gilt gerade für standardisierte Situationen wie das Bezahlen an der Kasse: „DreiEuroNeunzig“ sagt die Kassiererin und denkt dabei an den wunderbaren Shake ihres letzten Urlaubs – oder ihr geht durch den Kopf, dass das Produkt im Billigmarkt nebenan nur 2,99 € kostet. Aber es gilt eben auch für Situationen, in denen Neues entsteht: „Ja genau, das ist der Punkt“ sagt jemand in einem philosophischen Gespräch zur Verwunderung des anderen. Oder noch einmal eine kleine Szene aus dem Alltag: Ich schwärme vom letzten Film, den ich gesehen habe. „Wie hieß noch mal dieser französische Schauspieler, der so ähnlich aussieht wie Dustin Hoffmann? Kennt Ihr Dustin Hoffmann überhaupt?“ – „Natürlich, der hat doch in Rain Man den Autisten gespielt.“ – „Jetzt läuft ja auch wieder ein
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Film über einen Autisten, im Kino Central.“ – „Das ist doch hier um die Ecke.“ – „Oh, da war ich noch nie, ist es schön da?“ – „Wann läuft der Film denn?“ In dieser Szene hat niemand den Vorschlag gemacht, gleich ins Kino zu gehen, oder alle.
4 Kein Universum von (Fehl‐)Deutungen Eine solche Sprechakttheorie, die in ihrer Ausrichtung an der Pragmatik vom Askriptivismus neuen Schub gewinnt, ist einem naheliegenden Einwand ausgesetzt: Folgt aus dem Verzicht auf eine fundierende Semantik nicht eine Auflösung sprachlicher Kommunikation in vielfältige Deutungen und Fehldeutungen – zerfließt die soziale Welt nicht in beliebige Interpretationen? Und spricht nicht das Funktionieren der Gesellschaft gegen eine solche Theorie? Richtig ist daran, dass tatsächlich niemand auf die Bedeutung eines Satzes pochen kann, auch nicht auf das vom Sprecher Gemeinte, das in den Wörtern niedergelegt ist. Doch das spiegelt ja vor allem unsere Erfahrung, dass ein Streit um Worte zumeist sinnlos ist; zumal Kommunikation, wie Paul Valéry bemerkt hat, über die Wörter hinweggeht. Ich spreche zu Ihnen, und wenn Sie meine Worte verstanden haben, sind diese Worte null und nichtig. Wenn Sie verstanden haben, so heißt das, diese Worte sind aus Ihrem Geist verschwunden; sie sind durch einen Gegenwert ersetzt worden, durch Bilder, Beziehungen, Impulse; und sie selbst sind dann in der Lage, diese Bilder und Vorstellungen wiederum in eine sprachliche Form weiterzugeben, die sehr verschieden sein kann von jener, die Sie entgegennahmen. Verstehen ist ein mehr oder weniger schnelles Ablösen eines Systems von Lauten, Längen und Zeichen durch etwas ganz anderes, durch etwas, das letzten Endes eine innere Veränderung oder eine Umgestaltung der angesprochenen Person ist. Und hier ist die Gegenprobe zu dieser Behauptung: die Person, die nicht verstanden hat, wiederholt die Wörter oder läßt sie sich wiederholen. (Valéry 1975, 149 f.)
Umgekehrt kann gerade die Pragmatik deutlich machen, wieso sich der Hörer an einem Ausdruck festbeißen kann, auch wenn er nur uneigentlich gebraucht oder sogar negiert wurde. Gerade diese tonalen Qualitäten der Kommunikation, die das Verstehen eher leiten als aus ihm folgen, erhalten hier ihr Gewicht. Zudem bedeutet die Vorrangsstellung der Pragmatik keineswegs den Verzicht auf eine leistungsfähige Semantik. Da die askriptivistische Handlungstheorie ähnlichen Vorbehalten ausgesetzt ist, lässt sich von hier Verstärkung erhoffen. Besonders hilfreich erscheint mir ein Text von Anne Mazuga mit dem Titel „Ausdruck und Zuschreibung von Handlungen. Nachlese und Neusaat im Feld des Askriptivismus“ (2011), in dem sie sich vor allem auf Herbert Hart bezieht. Mich interessiert an ihrem Text die „Neusaat“ – ihre Ausgangsfrage ist hier:
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Wenn die Unterscheidung zwischen Handlungen und sonstigen Geschehnissen nicht durch artspezifische Merkmale von Handlungen begründet ist, wie ist sie dann gerechtfertigt? Woran bemisst sich, ob wir auf ein Verhalten mit Lob oder Tadel reagieren können? Wodurch sind Willkür und Beliebigkeit bei der Zuschreibung von Handlungen ausgeschlossen? (Mazuga 2011, 8)
Anne Mazuga sucht also nach guten Gründen für die Angemessenheit unserer Zuschreibung – und zwar diesseits einer Debatte über deren Unangemessenheit, die ja immer möglich ist und die Hart besonders interessiert hat. Diese guten Gründe liegen nach Mazuga darin, dass wir Personen handeln sehen. Weil wir selbst Personen mit Interessen, Absichten und Wünschen sind, verstehen wir „ihr körperliches Verhalten unmittelbar als Realisierung ihrer Interessen, Wünsche und Absichten“ (ebd., 10). Sie schreibt weiter: Darum ist es ein Irrtum anzunehmen, wir könnten Körperbewegungen als physikalische Prozesse wahrnehmen und diese Prozesse dann in einem zweiten Erkenntnisschritt als Handlungen identifizieren, etwa indem wir bestimmte mentale Ursachen entdecken. Es ist umgekehrt: Das körperliche Verhalten lebendiger Personen hat für uns, da wir uns selbst als Personen verstehen, in sehr vielen Situationen unmittelbar die Bedeutung als absichtliches Handeln. […] Bemühen müssen uns wir hingegen, um von der Handlungsgeltung eines Verhaltens abzusehen und eine physikalische Beschreibung bloßer Körperbewegung zu generieren, in der die Personalität des Ausführenden keine Rolle spielt. (Ebd.)
Ich habe diese Stelle so ausführlich zitiert, weil sie – aus einer durchaus phänomenologischen Perspektive, ohne dass das Wort hier fällt – die Unplausibilität eines summativen Modells (Körperbewegung + mentale Ursachen) besonders eindrücklich zeigt. Es ist dieselbe Unplausibilität, die ich oben auch für summative Modelle des Verstehens sprachlicher Äußerungen behauptet habe.Weil wir Äußerungen ganz ähnlich verstehen, wie wir Handlungen sehen, ist ihre Bedeutung nicht beliebig. Es gibt Beschränkungen dafür, welches Verhalten in welcher Situation welche Handlung sein kann. Man könnte daher von einer Semantik des körperlichen Verhaltens von Personen sprechen. So wenig wie man für Ausdrücke einer Sprache beliebige Bedeutungen beanspruchen kann, so wenig kann man für das körperliche Verhalten von Personen beliebige Bedeutungen beanspruchen. (Ebd., 11)
Auch wenn ich gewisse Vorbehalte gegen Mazugas Begriff der Verhaltenssemantik (ebd., 13) habe und nicht sicher bin, ob es sinnvoll ist, das Verstehen eines körperlichen Ausdrucks über das Verstehen von sprachlichem Ausdruck zu erläutern
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– dass die genetische Abhängigkeit umgekehrt ist, scheint mir wichtig²⁰ –, sehe ich hier doch erhebliche Unterstützung im Kampf gegen den Vorwurf an den Askriptivismus, dass unsere soziale Welt in der Welt unendlicher Interpretationen aufgeht. Zwar haben Äußerungen nur einen Sinn, weil wir ihnen diesen Sinn verleihen, doch ist dieser Sinn keineswegs beliebig: Genausowenig, wie man bei jemandem, der einem anderen das Messer an die Kehle setzt, glaubt, dass er das Leben dieses Menschen retten will (vielleicht aber seine Seele; oder bereitet er einen Luftröhrenschnitt vor?), wird man eine Beleidigung als Lob deuten.Wie beim Handlungsverstehen ist es die gemeinsame Pragmatik leibgebundener Wesen, die Bedürfnisse haben und auf Sozialität angelegt sind, die die Möglichkeit von hinreichendem Verstehen auch dann sichert, wenn Wörter nicht selbst Bedeutungen tragen.
5 Schlussbemerkung: ein Arbeitsfeld Einige meiner Beispiele haben vielleicht deutlich gemacht, dass wir – auch bezogen auf sprachliche Äußerungen – den Askriptivismus nicht allein als eine Theorie begreifen sollten, die sich mittels des Konzepts der Zuschreibung um die Abgrenzung von Handlungen gegenüber Verhalten kümmert mit dem Ziel, den Begriff der Verantwortung zu verorten. Eine Handlungstheorie, die sich, möglicherweise noch von moralphilosophischen Überlegungen angestachelt, auf unser Leben als autonomes Subjekt beschränkt, erfasst zu wenig von unserer gesellschaftlichen Praxis. Ich denke, dass heute zu Recht schon auf der Ebene des Verhaltens Sinnhaftigkeit wieder zunehmend thematisch wird. „Askriptivistisch“ würde ich daher gerne alle Theorien nennen, die bei der Zuschreibung von sinnhaftem verbalen und non-verbalen Verhalten ansetzen, das ein mehrdimensionales Kontinuum bildet zwischen Reflexen und gewollten, wohlgeplanten und durchgängig bewusst ausgeführten Handlungen, die im stärksten Sinne „absichtlich“ genannt werden können und bei denen sich die Frage nach unserer Verantwortung in nachdrücklicher Weise stellt.²¹ Das bedeutet aber für eine Philosophie der Sprachverwendung, dass wir auf die Absicht des Sprechers nicht fokussiert sein sollten: Gerade bei Kommunikationen in Institutionen oder von Institutionen folgen (individuelle) Absichten dem Sprechen oft genug nach, sofern sie überhaupt für das kommunikative Geschehen relevant sind. Mir scheint, dass
Ohnehin beginnt Kommunikation beim Verstehen und nicht bei der Mitteilung. Austin (1986) hat auf die besondere Rolle von Adverbien (und adverbialen Ausdrücken) bei der Untergliederung dieses Kontinuums hingewiesen.
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mit diesen Überlegungen die große Kluft zwischen Handlungstheorie und solchen systemtheoretischen Beschreibungen²² gesellschaftlicher Realität überwunden werden kann, in denen wir unsere versehrte kommunikative Praxis wiedererkennen.
Literatur Anscombe, G.E.M., 1976: Intention, Oxford. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. und hg. von U. Wolf, Reinbek bei Hamburg 2006. Aristoteles: Rhetorik, übers. und erl. von C. Rapp, 2 Halbbände, Berlin 2002. Austin, J.L., 1985: Zur Theorie der Sprechakte (How to do Things with Words), dte. Bearbeitung von E. v. Savigny, Stuttgart. Austin, J.L., 1986: Ein Plädoyer für Entschuldigungen, in: Ders.: Gesammelte Philosophische Aufsätze, Stuttgart 1986, 229 – 268. [Orig.: A Plea for Excuses, in: Proceedings of the Aristotelian Society, New Series, Vol. 57, 1 – 30.] Burckhardt, A., 1990: Speech Act Theory – the Decline of a Paradigm, in: Ders. (Hg.): Speech Acts, Meaning and Intentions. Critical Approaches to the Philosophy of John R. Searle. Berlin/New York, 91 – 128. Cavell, S., 2002: Gegen-Philosophie und die verpfändete Stimme, in: Ders.: Die andere Stimme. Philosophie und Autobiographie, 91 – 189. Franck, D., 1980: Grammatik und Konversation, Königstein/Ts. Habermas, J., 1982: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt a.M. Hart, H.L.A., 1949: The Ascription of Responsibility and Rights, in: Proceedings of the Aristotelian Society, New Series, Vol. 49, 171 – 194. Heuft, M., 2004: Sagen und Meinen. Sprechen als sprachphilosophisches Problem, München. Luhmann, N., 1984: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. Mazuga, A., 2011: Ausdruck und Zuschreibung von Handlungen. Nachlese und Neusaat im Feld des Askriptivismus (Beitrag zum XXII. Kongress der DG Phil. Sektion: Handlungs- und Rationalitätstheorie) (http://epub.ub.uni-muenchen. de/12388/1/DGPhil2011_Mazuga_Askriptivismus.pdf). Posner, R., 1979: Bedeutung und Gebrauch der Satzverknüpfer in den natürlichen Sprachen. In: G. Grewendorf (Hg.): Sprechakttheorie und Semantik, Frankfurt a.M., 345 – 385. Searle, J.R., 1971: Sprechakte, Frankfurt a.M. Searle, J.R., 1982a: Eine Taxonomie illokutionärer Akte, in: Ders.: Ausdruck und Bedeutung, Frankfurt a.M., 17 – 50. Searle, J.R., 1982b: Indirekte Sprechakte, in: Ders.: Ausdruck und Bedeutung, Frankfurt a.M., 51 – 79. Weiser, A., 1974: Deliberate Ambiguity, in: Chicago Linguistic Society 1974 (CLS 10), 723 – 731.
Da in der Handlungs- bzw. Kommunikationstheorie von Luhmann (1984) der Begriff der Attribution eine zentrale Rolle spielt, ist der askriptivistische Ansatz selbst Garant für eine solche Möglichkeit.
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Weiser, A., 1975: How to Not Answer a Question, in: Chicago Linguistic Society 1975 (CLS 11), 649 – 660. Valéry, P., 1975: Dichtkunst und abstraktes Denken, in: Ders.: Zur Theorie der Dichtkunst, Frankfurt a.M., 136 – 168. Waldenfels, B., 1980: Die Offenheit sprachlicher Strukturen bei Merleau-Ponty, in: Ders.: Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt a.M., 145 – 162. Wittgenstein, L., 1984: Tractatus logico-philosophicus, in: Ders.: Tractatus logico-philosophicus [u. a.] (Werkausgabe Band 1), Frankfurt a.M., 7 – 85.
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Wissen als soziales Phänomen Wissenssoziologische Analysen im Anschluss an Karl Mannheim
1 Wissenssoziologie als Methode 1.1 Der soziale Charakter des Wissens – Was ist Wissenssoziologie? Die philosophische und wissenschaftstheoretische Tradition hat das Wissen und seine Voraussetzungen in verschiedenen Hinsichten zum Thema gemacht. Untersucht wurden vor allem die sinnliche Wahrnehmung, die kognitiven Tätigkeiten wie Erinnerung oder Einbildungskraft, das Urteilen und das logische Schließen, die Sprache als Medium des Denkens, aber auch hirnphysiologische Prozesse als materialer Unterbau der Erkenntnis. So vielfältig und verschieden diese Perspektiven auf Erkenntnis und Wissen auch sein mögen, eines ist ihnen doch gemeinsam: Sie stellen die Produktion und Rezeption von Wissen in der Regel als einen solitären Prozess dar, als Tätigkeit eines entweder konkreten oder abstraktallgemeinen Individuums. Diese Beschränkung ist zunächst einmal durchaus nachvollziehbar, denn die typischen Tätigkeiten, die man mit der Gewinnung von Erkenntnis verbindet, sind offenbar zumeist solche, die ein Individuum betreffen, das aus seinen sozialen Bezügen herausgelöst ist. Tätigkeiten wie das Lesen oder Schreiben eines Buches, die Analyse einer Laborprobe oder das Nachdenken sind schließlich meist so verfasst, dass eine einzelne Person mit materiellen Objekten zu tun hat, aber nicht mit anderen Menschen interagiert, wie dies etwa bei einem Gespräch, beim Bezahlen an der Supermarktkasse oder bei einem Mannschaftsspiel der Fall ist. Betrachtet man das Phänomen des Wissens auf diese Weise, so scheint es gerade kein soziales Phänomen zu sein. Einer solchen Auffassung liegt offenbar die Unterscheidung von individuellen und sozialen Handlungen zugrunde. Individuelle Handlungen sind für eine einzelne Person möglich, ohne dass ein Bezug zu einer zweiten Person hergestellt werden muss. Soziale Handlungen dagegen kommen nur zustande, wenn die individuellen Handlungen von mindestens zwei Personen aufeinander bezogen werden oder wenn wenigstens die Handlung einer Person sich auf eine andere Person bezieht. Soziale Handlungen setzen sich somit aus individuellen Hand-
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lungen zusammen, während das Umgekehrte nicht gilt. Dieses Modell hat eine hohe Plausibilität und ist folglich sehr weit verbreitet. Unter einem solchen Blickwinkel muss es daher geradezu paradox anmuten, dass sich seit den 1920er Jahren eine breite Forschungsrichtung formiert hat, die Wissen und Erkenntnis dezidiert als soziale Phänomene in den Blick rückt: die Wissenssoziologie. Das Paradoxe der wissenssoziologischen Bestrebungen verliert sich aber sogleich, wenn man bedenkt, dass Wissen zwar kein unmittelbar soziales Phänomen ist, aber mittelbar ein Bezug zu anderen Menschen und zur Gesellschaft besteht und damit auch soziale Voraussetzungen des Wissens anerkannt werden müssen. So sind etwa die typischen Orte der Produktion und Rezeption von Wissen, wie z. B. Schulen oder Universitäten, gesellschaftliche Institutionen und damit Räume sozialer Interaktion. Die Wissenschaftssoziologie hat dieses Feld in den letzten Jahrzehnten sehr differenziert erforscht.¹ Eine wichtige Frage ist nun, wie man wissenssoziologische Untersuchungen methodisch interpretiert und insbesondere ihr Verhältnis zur klassischen Erkenntnistheorie bestimmt. Hier kann man idealtypisch zwei Möglichkeiten unterscheiden. Die erste besteht in der Auffassung, dass wissenssoziologische Untersuchungen die traditionelle Erkenntnistheorie ergänzen und bislang vernachlässigte Seiten des Wissensprozesses thematisch in den Blick rücken. Wissenssoziologische Untersuchungen wären dabei analog zur hirnphysiologischen Wissensforschung zu verstehen, wenn man diese so auffasst, dass traditionell wenig beachtete biologische Voraussetzungen des Erkennens näher beleuchtet werden. Wissenssoziologische Forschungen werden auf diese Weise als ergänzender Teil vielfältiger anthropologischer Untersuchungen zur menschlichen Erkenntnis verstanden. Eine zweite Möglichkeit besteht jedoch darin, die Wissenssoziologie als Vertreterin eines neuen methodischen Ansatzes aufzufassen, die gegenüber der traditionellen Erkenntnistheorie eine grundlegende Blickwendung vollzieht. Diesen Ansatz könnte man als methodischen Sozialansatz bezeichnen, der sich von einem methodischen Individualansatz kritisch abhebt. In diesem Sinne würde man wissenssoziologische Untersuchungen so verstehen, dass nicht nur die Produktion und Rezeption von Wissen, sondern auch seine Struktur von vornherein als Funktionen sozialer Prozesse und Zusammenhänge bestimmt werden. Der methodische Sozialansatz beruht nicht auf der Annahme, dass individuelle Handlungen grundlegend sind und soziale Handlungen darauf aufbauen, sondern geht von der Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren sozialen Handlungen aus. Prima facie individuelle Handlungen der Produktion und Re-
Einen guten Überblick über die Forschung gibt Weingart 2003.
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zeption von Wissen werden als mittelbare soziale Handlungen betrachtet, die eine soziale Ordnung bereits voraussetzen und nur in einer solchen möglich sind. Das Basismodell des methodischen Individualansatzes wird also gewissermaßen umgekehrt. In der weit verzweigten gegenwärtigen Diskussion um Wissenssoziologie, Wissensforschung und Erkenntnistheorie sind auf jeden Fall beide hier idealtypisch unterschiedenen methodologischen Ansätze produktiv vertreten.² Von den beiden klassischen Vertretern der deutschsprachigen Wissenssoziologie kann man Max Scheler eher der ersten Möglichkeit zuordnen, da er die individualistisch orientierte Erkenntnistheorie anthropologisch zu ergänzen bestrebt ist. Dem methodischen Sozialansatz verpflichtet ist demgegenüber Karl Mannheim, der die Wissenssoziologie als grundlegende methodische Neuorientierung von der traditionellen Erkenntnistheorie abhebt.
1.2 Ansätze und Methoden der Wissenssoziologie Die Wissenssoziologie ist heute ein breites interdisziplinäres Forschungsfeld zwischen Soziologie und Wissenschaftstheorie.³ Neben den in den 1920er Jahren entstandenen Ansätzen von Scheler und Mannheim ist der 1966 vorgelegte systematische Neuentwurf von Berger/Luckmann als zweiter Klassiker bzw. „als Bezugsrahmen dessen, was die moderne Wissenssoziologie heutzutage umtreibt“ (Maasen 2009, 34) anerkannt. Außerdem finden sich theoretische Ansätze wie sie z. B. Comte, Marx und Nietzsche vertreten neben Konzeptionen wie denen von Weber und Durkheim sowie rezentere Ansätze wie etwa bei Foucault oder Bourdieu. Die methodischen Ausrichtungen und systematischen Schwerpunkte kann man nach mehreren Gesichtspunkten ordnen. So reicht die Untersuchung der verschiedenen Wissensformen von alltagsweltlichem Wissen, das z. B. in Familien weitergegeben wird, bis hin zu elaborierten Formen in der Wissenschaft. Die Wissenschaft war und ist dabei natürlich ein bevorzugter Gegenstand, wobei sich manche Theoretiker wie z. B. Mannheim vor allem auf die Sozial- und Geisteswissenschaften konzentriert haben. Aber schon Scheler hatte die Betrachtung der Naturwissenschaften ausdrücklich mit einbezogen, und das sogenannte strong programme David Bloors hat auch die Mathematik nicht mehr ausgeklammert. Die stark empirisch ausgerichteten Laborstudien von Latour und Knorr-Cetina be-
Zu den vielfältigen Ansätzen vgl. Schützeichel 2007 und Knoblauch 2010. Zu diesem Abschnitt vgl. Knoblauch 2010, Maasen 2009 sowie Weingart 2003.
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wegen sich dann weit hinein in Mikroanalysen des sozialen Handelns im Labor oder in anderen Forschungsreinrichtungen und verlassen damit den traditionellen Rahmen der eher auf die wissenschaftlichen Texte bezogenen Analysen von Inhalten und Methoden. Die Laborstudien wollen der Gefahr begegnen, dass die alleinige Betrachtung der Inhalte und Texte die Wissenschaft als reine Folge von Artefakten erscheinen lässt und somit ihr sozialer Charakter verdeckt wird. Kritisch gegen die Fokussierung auf Mikroanalysen des Handelns ist aber z. B. von systemtheoretischer Seite eingewendet worden, dass die publizierten Texte für das Funktionssystem Wissenschaft und seine Anschlusskommunikation zentral bleiben (Nassehi 2004, 107). Die textanalytischen Ansätze sind daher in der Wissenssoziologie weiterhin wichtig; das Feld fächert sich je nach Hauptfokussierung in handlungstheoretische, institutionstheoretische und text- sowie diskurstheoretische Ansätze auf. Besonders die handlungstheoretischen Zugänge sind oft mikroanalytisch ausgerichtet, während sonst naturgemäß ein makrostrukturelles Interesse vorherrscht.
1.3 Zur Spezifik des Ansatzes von Karl Mannheim Aus dem Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass es heute eine Fülle von vielversprechenden Ansätzen gibt, an die man anknüpfen kann, wenn man das Wissen ausdrücklich als soziales Phänomen und im Zusammenhang mit der Gesellschaft in den Blick rücken möchte.Wir werden uns nun speziell dem Ansatz von Karl Mannheim zuwenden, der zwar auch heute noch als klassischer Bezugspunkt in fast allen wissenssoziologischen Diskussionen unentbehrlich ist, dem aber viele eine nur noch historische Bedeutung beimessen. Eine in systematischer Absicht an Mannheim anknüpfende Analyse versteht sich daher nicht von selbst, sondern bedarf einer Erläuterung und Rechtfertigung. Im Vergleich mit modernen Ansätzen fällt zuerst auf, dass Mannheim die Wissensproduktion nicht in ihrem unmittelbaren Zusammenhang mit sozialen Strukturen analysiert, sondern sich – ganz traditionell – vor allem um das Verständnis von Texten bemüht. Seine Wissenssoziologie ist daher nicht integrativ, sondern in einem unbefriedigenden Sinne korrelationistisch, wie Knoblauch (2010, 21) hervorhebt, weil sie Wissen und Gesellschaft zunächst entkoppelt, um sie erst dann wieder aufeinander zu beziehen. Mannheims Begriff der sozial freischwebenden Intelligenz scheint dies auf fatale Weise zu bestätigen (vgl. Mannheim 1929, 123), weil dadurch die Wissensarbeit als sozial herausgelöst erscheint, so dass die Nähe zum individualmethodischen Ansatz gewissermaßen auf der Hand liegt. Mannheims Konzentration auf Texte als sozial entkoppelte Produkte der Wissensarbeit erhält jedoch in der gegenwärtigen Diskussion den bereits er-
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wähnten Beistand von systemtheoretischer Seite, wenn die zentrale Bedeutung der publizierten Texte für das Funktionssystem der Wissenschaft gegen die Akzentverlagerung der Laborstudien kritisch rehabilitiert wird. Auch Mannheim geht von dem durchaus plausiblen Befund aus, dass die Tätigkeit der Wissensproduktion keine unmittelbar soziale Handlung ist (wie etwa der Handschlag beim Grüßen) und dass eine gewisse soziale Entkoppelung des Wissens für dieses offenbar konstitutiv ist. Die Herauslösung des Wissens aus den sozialen Kontexten auf einer ersten Stufe ermöglicht vielmehr einen andersartigen Bezug des Wissens zum sozialen Raum auf einer zweiten Stufe, den man als reflexiv bzw. metastufig kennzeichnen kann. Die systematische Bedeutung von Mannheims Ansatz besteht nämlich u. a. darin, dass mithilfe der von ihm entwickelten Kategorien elaborierte Wissensformen als reflexive Thematisierung makrosozialer Strukturen gelesen werden können. Diese Reflexion wird nicht im Sinne einer reinen Beobachtung verstanden, sondern als reflektierte Teilnahme am sozialen Geschehen in legitimierender bzw. kritischer Absicht. Im Folgenden soll also eine Lesart des Mannheim’schen Denkens entwickelt werden, in der die systematischen Anknüpfungsmöglichkeiten herausgearbeitet werden.⁴ Dazu wird im hinteren Teil des Aufsatzes eine wissenssoziologische Analyse von konkreten philosophischen und geisteswissenschaftlichen Texten durchgeführt, um die Leistungsfähigkeit des Mannheim’schen Ansatzes zu erproben und anschaulich vor Augen zu führen. Zunächst jedoch soll dieser in seinen systematischen Hauptaspekten charakterisiert und von anderen Ansätzen unterschieden werden. Als 1929 sein bis heute bekanntestes Werk Ideologie und Utopie erscheint, ist Mannheim Hauptrepräsentant der wissenssoziologischen Denkrichtung im deutschen Sprachraum. Wie der ein Jahr zuvor verstorbene Scheler ist er ein Grenzgänger zwischen Philosophie und Soziologie und versucht seit Anfang der 1920er Jahre die Konsequenzen auszuloten, die sich aus den neuen Beschreibungsmöglichkeiten des noch jungen Faches Soziologie für die Kultur- und Geisteswissenschaften ergeben. Anders jedoch als Scheler, der die Soziologie als dienende Hilfswissenschaft in seine Anthropologie und Metaphysik zu integrieren versucht, geht Mannheim den Weg eines konsequenten sozialmethodischen Ansatzes, in dem die Gesellschaft und das Soziale nicht mehr nur ontologisch als spezieller Gegenstandsbereich betrachtet werden, sondern umgekehrt den transzendentalphilosophischen Ansatz sozial unterbauen. Die Spezifik und Origina-
Mit einer solchen Absicht stehen wir natürlich nicht allein. Von den Forschern, die auch in jüngerer Zeit systematisch an Mannheim anknüpfen, seien hier nur Bohnsack 2007 und Barboza 2005 exemplarisch genannt.
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lität des Mannheim’schen Denkens besteht deshalb vor allem darin, dass er für die soziale Interpretation methodologischer und theoretisch-kategorialer Begrifflichkeiten wesentlich subtilere Beschreibungsmöglichkeiten entwickelt, als sie etwa in der positivistischen oder marxistischen Tradition ausgearbeitet worden sind. Möglich wurde dies, indem Mannheim einerseits an die avanciertesten transzendentalphilosophischen Ansätze seiner Zeit wie den Neukantianismus und die Phänomenologie anknüpft und andererseits das etwa durch Tönnies, Simmel,Weber und Troeltsch erreichte Niveau des soziologischen Denkens in sich aufnimmt. Verfolgt man den Mannheim’schen Denkweg in den 1920er Jahren, so sieht man, dass er auf sein Kernthema – die Wissenssoziologie – von zwei Seiten aus zusteuert. Auf der einen Seite untersucht er das Problem der Erkenntnistheorie vor allem im Horizont neukantianischer Ansätze. In seiner Strukturanalyse der Erkenntnistheorie von 1922 gelangt er schon zu der Auffassung, dass die Erkenntnistheorie eine Hilfswissenschaft benötigt, aus der sie ihre Begrifflichkeit entlehnen kann. In den vorhandenen Erkenntnistheorien sieht er entweder die Logik, die Psychologie oder die Ontologie als diese Hilfswissenschaft eingesetzt (vgl. Mannheim 1922, 45 – 50). Die Soziologie erwähnt Mannheim hier aber noch nicht. Auf der anderen Seite befasst er sich in den Jahren 1922/23 intensiv mit der Frage, wie eine soziologische Beschreibung von Kulturphänomenen, d. h. eine Kultursoziologie, möglich ist.⁵ Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist für Mannheim, wie man die Begrifflichkeit zur Beschreibung kultureller Phänomene, z. B. Religion und Kunst, mit der Begrifflichkeit zur Beschreibung sozialer Phänomene in Beziehung setzen kann. Ungefähr um das Jahr 1924 zeigt sich aber in Mannheims Denken eine deutliche Verschiebung. Während in den Schriften bis 1923 noch eine eher kontemplative erkenntnis- und begriffstheoretische Haltung vorherrscht, kommt in den Jahren 1924/25 ein deutlich pragmatistischer Zug in sein Denken.⁶ In klarer Ausprägung zeigt sich dies in Mannheims Habilitationsschrift über das altkonserva-
Mannheims diesbezügliche Untersuchungen wurden in vollem Umfang erst aus dem Nachlass veröffentlicht. Vgl. Mannheim 1980. Von Bedeutung für diesen Wandel war wahrscheinlich auch die intensive Auseinandersetzung mit zwei 1922/23 erschienen Schriften, nämlich mit Troeltschs Der Historismus und seine Probleme sowie mit Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein. Der Bezug auf Troeltsch ist besonders intensiv in Mannheims Aufsatz Historismus von 1924. Er verweist dort auf „seine [Troeltschs; H.M.] zentrale Behauptung, daß Geschichtserkenntnis erst möglich wird von einem fixierbaren, geistigen Standorte (S. 116, 169), von einem die Zukunft wollenden, auf sie aktiv hinstrebenden Subjekte aus […]“ (Mannheim 1964a, 268). Die Seitenangaben im Zitat beziehen sich auf Troeltsch 1922.
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tive Denken, die er 1925 abschloss.⁷ Er sieht sich hier bereits explizit als Wissenssoziologe, aber es geht ihm nicht mehr nur um eine Koppelung von soziologischer und erkenntnistheoretischer Begrifflichkeit, sondern um die Perspektive des sozialen Handelns. Die Teilnehmerperspektive ist für ihn nun der entscheidende Ausgangspunkt: Gerade darin besteht die ungeheure Bedeutung der sozialen Gebundenheit des historischen Erkennens, daß dieses Engagiertsein des den Prozeß erkennenden Subjektes an diesem Prozeß selbst, das Verankertsein seines Standortes im Prozeß lebendige Beziehungen schafft, in dessen Medium erst das Denken entsteht. Man muß vom geschichtlichen Prozeß etwas wollen, um ihm etwas erkenntnismäßig abgewinnen zu können. (Mannheim 1984, 156)
Den Schlüssel für wissens- und erkenntnissoziologische Untersuchungen sieht Mannheim in der Perspektive des engagierten Teilnehmers am Prozess des sozialen Handelns, und genau aus diesem Grund rückt die Sphäre des Politischen und die politische Begrifflichkeit in den Fokus der Wissenssoziologie. Um die systematisch zentrale Stellung des Politischen in Mannheims Wissenssoziologie besser zu verstehen, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, worin die Spezifik politischen Handelns besteht. Für unseren Zusammenhang ist dabei besonders der Aspekt wichtig, dass politisches Handeln explizit auf die Gestaltung des Gemeinwesens gerichtet ist. Politik ist also erstens eine Form des Handelns mit bestimmten Zielen, und sie ist zweitens ein Handeln, das explizit die Veränderung bzw. Erhaltung sozialer Strukturen und Lebensformen anstrebt. Politik ist damit paradigmatisch für eine reflexive und zugleich praktische Haltung zum Sozialen, denn das Soziale ist dabei intentionaler Gegenstand, jedoch nicht in rein kontemplativer Beobachtung, sondern in praktischer Absicht. Während Mannheim bis etwa 1923 vor allem danach fragte, wie Formen des Wissens und Formen des sozialen Lebens aufeinander bezogen werden können, und diese Frage erkenntnistheoretisch analysierte als Beziehungen der begrifflichen Beschreibung des Wissens zur begrifflichen Beschreibung des Sozialen, so verschiebt sich danach sein Blickwinkel ganz entscheidend. Seit 1924/25 koppelt Mannheim die Kategorien politischer Theorien mit der Analyse von Wissens- und Denkformen. Sowohl der Streit der politischen Theorien als auch der Streit der Methoden im Bereich des Wissens werden letztlich als Auseinandersetzungen um die Gestaltung des sozialen Seins gelesen. Die bis zum heutigen Tag gängigen Grundbegriffe zur Charakterisierung politischer Theorien wie Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus (vgl. Heidenreich 2002, 9) werden von Mannheim in einem erweiterten und abstrakteren Sinne interpretiert, so dass sie auch
Vollständig veröffentlicht wurde sie erst 1984 aus dem Nachlass.
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zur Charakterisierung von Methoden und Denkweisen im Bereich des theoretischen Wissens angewendet werden können. Eine bestimmte Stellungnahme für oder gegen eine wissenschaftliche Methodologie ist damit interpretierbar als implizite Stellungnahme in Bezug auf die grundlegende Gestaltung des sozialen Lebens bzw. des Gemeinwesens, die mithilfe von politischen Begriffen explizit gemacht werden kann. So schreibt er in seiner Studie über das konservative Denken im 19. Jahrhundert: Da wir im Laufe der folgenden Untersuchung Kategorien wie „konservatives“, „liberales“, „sozialistisches“ Denken, also politische Kategorien benutzen, bedarf dies einer Rechtfertigung. Diese Bezeichnung will keineswegs anzeigen, daß wir der Ansicht sind, daß in der Entwicklung des geistigen Kosmos das Politische irgendwie immer einen Primat hat, sondern nur, daß die grundlegenden Strömungen des Geistigen in der zu untersuchenden Epoche ganz besonders von den politischen Strömungen aus charakterisierbar und erfaßbar sind. (Mannheim 1984, 67)
Mannheims Wendung müsste in der hier entwickelten Lesart systematisch so reformuliert werden, dass die im Diskurs der politischen Theorie erarbeiteten Grundbegriffe als Explikationsbegrifflichkeit und Metatheorie zum Verständnis der Auseinandersetzungen auch im Bereich der Wissenschaften eingesetzt werden können. Die politische Theorie wird folglich jetzt als weitere Hilfswissenschaft der Erkenntnistheorie herangezogen und tritt neben Logik, Psychologie und Ontologie, die Mannheim in seiner Strukturanalyse der Erkenntnistheorie bereits untersucht hatte. Politische Theorie wäre hier zu verstehen als Theorie der Gestaltung des sozialen Seins in teilnehmender Perspektive und nicht als Theorie der bloßen Beobachtung des sozialen Seins. Durch die enge Kopplung von Politik und Wissenschaft scheint Mannheim zum einen ganz in die Nähe ideologiekritischer Ansätze zu geraten; zum anderen steht seine Konzeption in einem klaren Gegensatz zur Position Max Webers mit ihrer strengen Trennung von Politik und Wissenschaft. Die Differenz zu diesen beiden Ansätzen genauer zu bestimmen, wäre sehr hilfreich für die Charakterisierung der Mannheim’schen Position. Im Einzelnen können wir das hier nicht tun, es seien aber zumindest einige Aspekte genannt. Aus der Warte Webers scheint es zunächst so zu sein, dass Mannheim aus dem Wissenschaftler einen „Kathederpropheten“ macht, indem er ihm eine politische Haltung unterschiebt.⁸ Im Grunde läuft die Webersche Position darauf hinaus, eine möglichst gründliche Trennung des Faktischen und Normativen zu erreichen.
So betont Weber (1922, 544), dass „der Prophet und der Demagoge nicht auf das Katheder eines Hörsaals gehören“.
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Tatsache und Wert, Wissenschaft und Politik sollen klar separiert werden, wobei jedem Bereich eine andere Rolle zugeschrieben wird. Eine solche strikte Trennung ist nach Mannheim aber nicht möglich. Dass ein enger Begriff des Politischen auf die Wissenschaft nicht anwendbar sein kann, ist auch für Mannheim evident, aber dass die Wissenschaft als ein Bereich erscheint, wo die Gestaltung des sozialen Seins keine Rolle spielt, ist für ihn eine unhaltbare Idealisierung. Aus seiner Sicht wird in der Weberschen Position die Irreduzibilität der normativen Dimension nicht gesehen. Die Irreduzibilität des Normativen ist wiederum in ideologiekritischen Ansätzen als Grundlage anerkannt. Dort jedoch erscheinen wissenschaftliche Theorien tendenziell als bloße Epiphänomene wirtschaftlicher und politischer Interessen und die Auseinandersetzung in der Wissenschaft lediglich als Fortsetzung des Kampfes um die Durchsetzung außerwissenschaftlicher Interessen. Mannheim steht ideologiekritischen Ansätzen insofern nahe, als auch er davon ausgeht, dass die elaborierten Wissensformen an der Auseinandersetzung um die Gestaltung des sozialen Seins teilnehmen. Dass sie aber die politischen Positionen tendenziell nur spiegeln und reproduzieren, d. h. einseitig von ihnen abhängig sind, wäre für Mannheim eine verkürzte Sicht. Vielmehr leisten die elaborierten Wissensformen einen ganz eigenen Beitrag in Hinsicht auf die Gestaltung des sozialen Seins, indem sie für bestimmte Themenbereiche die „politischen“ Positionen allererst erarbeiten und eine Auseinandersetzung konkret in Gang bringen. Eine gänzlich „unpolitische“ Position ist aber nach Mannheim bei keiner Wissensform erreichbar, zumindest nicht im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich. Um Mannheims Ansatz im Vergleich mit anderen wissenssoziologischen Ansätzen zu charakterisieren, kann man weiter auf drei entscheidende Aspekte verweisen: die konflikttheoretische Ausrichtung, den wesentlich historischen Zug seines Denkens sowie die philosophisch-erkenntnistheoretische Orientierung. So ist Mannheims Ansatz erstens dezidiert konflikttheoretisch, denn er sieht die Stellungnahmen hinsichtlich des sozialen Seins, die in bestimmten Wissensformen aufweisbar sind, als notwendigerweise anderen Stellungnahmen gegenläufig an. Dabei formen sich natürlich auch Assoziationen, so dass sich die Wissensformen in einer Anzahl von Gruppen zusammenfassen lassen, die in einer Auseinandersetzung stehen.⁹
Besonders deutlich wird dies z. B. am Titel eines Vortrages, den Mannheim 1928 auf dem Soziologentag in Zürich gehalten hat: ‚Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen‘ (Mannheim 1964d).
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Zweitens ist Mannheims Ansatz der Wissenssoziologie wesentlich historisch. Seine Analysen berücksichtigen stets die historische Entwicklung sozialer, politischer und geistiger Konstellationen. Mannheim beachtet also immer zugleich den Querschnitt einer historischen Momentaufnahme in ihren vielfältigen Aspekten sowie den Längsschnitt einer historischen Entwicklung von sich verschiebenden konfligierenden geistigen „Fronten“. Wichtig ist dabei, dass man die historische nicht im Gegensatz zu einer systematischen Ausrichtung sieht. Die historischen Betrachtungen sind bei Mannheim Teil der systematischen Überlegungen. Wichtige systematische Grundbegriffe seines Ansatzes wie z. B. liberales oder konservatives Denken sind zugleich makrohistorische Begriffe, die in eine makrostrukturelle Interpretation der Sozial- und Geistesgeschichte eingebettet sind. Man kann Mannheim deshalb einem Theorieparadigma zuordnen, das in der deutschen Soziologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts besonders einflussreich war und das Kruse (1990, v. a. 158 – 162) als „historische Soziologie“ bezeichnet hat. Als weitere namhafte Vertreter dieses Paradigmas nennt Kruse z. B. Max Weber, Werner Sombart und Hans Freyer. Dieses Theorieparadigma steht im Kontrast zu einem Ansatz, den Mannheim (1980, 27) selbst als flächenhaft typisierend beschrieben hat und dessen prototypisches Theoriemodell darin besteht, dass ein Zusammenhang von systematischen und zeitlosen Grundbegriffen als Theorie entfaltet wird und die systematischen Begriffe an tendenziell beliebigen konkreten Beispielen aus Gegenwart und Vergangenheit veranschaulicht werden. Aus der Sicht der „historischen Soziologie“ fehlt im flächenhaft-zeitlosen Modell eine Reflexion auf die Historizität der systematischen Grundbegriffe selbst. Drittens ist Mannheims Ansatz philosophisch und erkenntnistheoretisch motiviert und orientiert. Die Schriften der frühen 1920er Jahre zeigen deutlich sein erkenntnistheoretisches, methodologisches und begriffsanalytisches Interesse. Er fragt nach den Voraussetzungen des Erkennens und Wissens und versucht, das transzendentalphilosophische Denken historistisch und soziologisch zu unterbauen. Im Anschluss an Hegel, die historische Schule und Dilthey sowie die neue deutsche Soziologie eines Simmel, Weber, Tönnies oder Troeltsch wird das transzendentale Subjekt als geschichtlich und sozial situiert begriffen. Die Wissenssoziologie ist bei Mannheim also eine soziale Transformation der Transzendentalphilosophie. Betrachtet man diese drei grundlegenden Merkmale des Mannheim’schen Ansatzes, so unterscheidet er sich in allen diesen Aspekten deutlich vom späteren Ansatz bei Berger/Luckmann. Dort wird die Wissenssoziologie so ausgerichtet, dass sie ihren Platz in einer zur Normalwissenschaft gewordenen Soziologie
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finden kann.¹⁰ Das erkenntnistheoretische Interesse wird ausdrücklich in den Hintergrund gerückt und der Fokus von der Analyse von Methodologien, Großtheorien und Weltanschauungen weg verschoben auf die Untersuchung des Zusammenhangs von Wissen und sozialem Handeln in alltagsweltlichen Strukturen.¹¹ Die Wissenssoziologie wird nun dezidiert als Teil der empirischen Soziologie entworfen. Bei Berger/Luckmann wird die Wissenssoziologie im Sinne Schelers und Mannheims zwar zu Recht als erkenntnistheoretisch motiviert dargestellt, aber sie wird so gelesen, als würde sie nur nach den sozialen Determinanten und Ursachen des Wissens suchen, die dann folgerichtig neben die biologischen und psychologischen Determinanten gestellt werden. Dass Mannheim die elaborierten Wissensformen daraufhin untersucht, welche Stellungnahmen hinsichtlich der Gestaltung des sozialen Seins in ihnen enthalten sind, und damit auch der in dieser Hinsicht schöpferische Aspekt der Wissensformen berücksichtigt wird, ist dann nicht mehr erkennbar. Auch tritt bei Berger/Luckmann an Stelle von Mannheims Historismus eine flächenhaft-zeitlose Ausrichtung in den Vordergrund. Das Theoriemodell besteht aus systematischen Grundbegriffen wie Alltagswelt, Institutionalisierung, Internalisierung und Identität, die an vornehmlich gegenwärtigen Beispielen erläutert werden und gerade keinen genuin historischen Gehalt haben. Das konflikttheoretische Modell schließlich wird bei Berger/Luckmann durch eine Auffassung von nebeneinander existierenden Sinn- und Handlungswelten ersetzt, die eher unter dem Blickwinkel einer arbeitsteiligen Struktur aufeinander bezogen gedacht sind.
1.4 Mannheims Analysen zur Entstehung des konservativen Denkens im 19. Jahrhundert Wie wir mit Kruse betont haben, gehört Mannheims Denken einem Theorietyp an, in welchem die Historizität der theoretischen Grundkategorien anerkannt und eine Reflexion darauf als wesentlicher Bestandteil ins eigene Denksystem aufgenommen wird. In dieser Hinsicht sollte Mannheim in eine Reihe mit Hegel,
Mannheim bewegt sich noch nicht im Rahmen einer zur Normalwissenschaft (im Sinne Kuhns) gewordenen Soziologie, sondern innerhalb einer in diesem Sinne als vorparadigmatisch oder revolutionär anzusehenden Phase dieser Wissenschaft. So bezeichnet Mannheim einmal in geradezu emphatischer Weise die Soziologie als „Organon der neuen Menschwerdung“ (Mannheim 1964c, 616). Vgl. Berger/Luckmann 1974, 14 f.
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Dilthey, Weber oder Heidegger gestellt werden. Historische Untersuchungen sind in diesem Theoriemodell nicht als bloße Verlängerungen von empirischen Untersuchungen in die Vergangenheit hinein zu verstehen, sondern als Teil der Reflexion auf den zeitlichen Gehalt von grundlegenden Kategorien. Mannheims Wissenssoziologie ist deshalb eingebettet in eine makrostrukturelle Interpretation zum einen der Sozialgeschichte und zum anderen der Theorie- und Geistesgeschichte seit etwa 1800. Die Interpretation legt ihren Schwerpunkt dabei auf den deutschen Sprachraum, bezieht aber Vergleiche zur gesamteuropäischen Entwicklung immer wieder mit ein. Wenn wir den spezifisch Mannheim’schen Ansatz in der Wissenssoziologie erläutern und in einer exemplarischen Analyse dann auch selbst daran anknüpfen wollen, müssen wir also diese makrostrukturelle Interpretation der historischen Entwicklung in ihren Grundzügen skizzieren. Besonders einschlägig hierfür ist Mannheims Habilitationsschrift von 1925 über die Entstehung des konservativen Denkens.¹² Hauptziel dieser Schrift ist es, einen einflussreichen Bestandteil des geistigen Kosmos im deutschen Sprachraum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts näher zu charakterisieren, den Mannheim als konservatives Denken bezeichnet. Dabei geht er auf ganz bestimmte Texte dieser Zeit näher ein, die er als exemplarisch für dieses Denken ansieht, z. B. auf Adam Müllers Die Elemente der Staatskunst von 1809. Die Interpretation dieser Texte erfolgt aber in stetem Bezug auf die soziale und politische Entwicklung in dieser Zeit. So zeigt sich hier deutlich Mannheims genuin historischer Ansatz, indem er einen Vorschlag macht, wie der Zusammenhang zwischen der sozial- und geistesgeschichtlichen Entwicklung in Deutschland seit der französischen Revolution idealtypisch charakterisiert werden kann, um die Herausbildung des konservativen Denkens besser zu verstehen. Auch der konflikttheoretische Ansatz Mannheims zeigt sich in dieser Schrift sehr deutlich, denn das konservative Denken wird nicht als isolierte geistige Strömung angesehen, sondern als Gegenspieler einer anderen mächtigen Weltanschauung der Zeit: des liberalen Denkens. Seine These ist, dass man die Entwicklung des geistigen Kosmos nach 1789 im deutschen Sprachraum besser versteht, wenn man sie als sich herausbildende Auseinandersetzung zwischen dem liberalen und konservativen Denken auffasst. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ist es nach Mannheim sinnvoll, noch die sozialistische Weltanschauung als dritten idealtypischen Akteur mit hinzuzuziehen, die zunächst Elemente der beiden anderen Gegenspieler übernimmt, aber dann ein eigenes spezifisches Gewicht erhält.
Wir beziehen uns dabei auf den vollständigen Text, der erst posthum veröffentlicht wurde: Mannheim 1984. Eine etwas gekürzte Fassung erschien aber bereits 1927: Mannheim 1964b.
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Mannheim nutzt also ganz bewusst die gängigen Begriffe zur Charakterisierung politischer Theorien und überträgt sie auf den geistigen Kosmos, um dort in idealtypischer Weise die Hauptakteure zu benennen. Auf den Sinn dieses Vorgehens hatten wir schon hingewiesen. Man muss aber im Auge behalten, dass die genannten Begriffe bei Mannheim eine gewisse Bedeutungsverschiebung erfahren. Nimmt man sie ganz strikt im eng politischen Sinne, erscheinen seine Interpretationen als sinnwidrig.¹³ Den allgemeinen sozialgeschichtlichen Rahmen um 1800 sieht Mannheim im allmählichen Übergang von einer Ständeordnung zu einer mehr nach Klassen bzw. ökonomischen Schichten gegliederten Gesellschaft, in der das Individuum aus seinen ständischen Bindungen gelöst wird. Während aber in Frankreich mit der französischen Revolution ein wesentlicher Schritt in diese Richtung getan wurde, war in Preußen zu dieser Zeit die Ständeordnung noch fest verankert, so dass die Reaktion auf die französische Revolution hier eine ganz andere war als in Frankreich selbst. Dort war, laut Mannheim, der Gegensatz zwischen Volk und Herrscher, zwischen Bürgertum und Königtum entscheidend; etwas Gleichartiges ist in Deutschland nicht zu verzeichnen. Insbesondere in Preußen war der entscheidende Punkt vielmehr, dass das Bündnis zwischen Königtum und Adel zerfiel und der wesentliche Gegensatz sich zwischen diesen beiden entfaltete: Um es auf die Spitze getrieben auszudrücken: Der für uns relevante Einfluß der französischen Revolution in Preußen besteht darin, daß sich der Gegensatz von Volk und Herrscher in Frankreich hier eine Ebene ‚höher‘ wiederholt und als der Kampf zwischen den den Staat von unten aufbauenden Ständen (Adel) und dem ‚von oben‘ regierenden Königtum, repräsentiert durch dessen Bureaukratie, uns entgegentritt. Hierbei entsteht eine eigentümliche Kreuzung der Einwirkungen: das revolutionäre Element der französischen Ereignisse verlebendigt die Intentionen des Adels, der den Aufbau von ‚unten‘ will, d. h. den ständischen Aufbau zu verlebendigen sucht und auf ein organisches Werden ausgerichtet ist, wogegen das mechanistische, zentralistische, rationalistische Element der Revolution beim Beamtentum Eingang findet und gegen die Wollungen des Adels ausgespielt wird. (Mannheim 1984, 140)
Die Eigenart oder – wenn man so will – auch das Paradoxe der Entwicklung in Deutschland zu dieser Zeit besteht also darin, dass vom Adel eine Art Oppositi Auch wohlwollende Interpreten wie Barboza haben Mannheims Gebrauch der politischen Begriffe als missverständlich kritisiert: „Der Leser wird ständig mit einem Konservatismus konfrontiert, der nicht dem entspricht, was man darunter vermutet. Eine Begriffsklärung wäre deswegen von Anfang an nötig gewesen.“ (Barboza 2009, 75) Es hängt hier alles davon ab, dass man Mannheim zum einen im historischen Theoriemodell verortet und zum anderen die Zentralisierung der politisch-theoretischen Begriffe zugleich als deren erweiterte Benutzung als Explikationsbegriffe für die Grundpositionen der teilnehmenden Gestaltung des sozialen Seins versteht.
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onsbewegung ausgeht, die sehr produktiv ist. Diese Bewegung revitalisiert dabei ständische Denkweisen und verbündet sich mit der Romantik gegen aufklärerischrationalistische Denkformen, die von der Bürokratie aufgenommen werden. So erklärt sich nach Mannheim, dass in Deutschland eine bestimmte Art von konservativem Denken so produktiv und einflussreich werden konnte und auch ein hohes Reflexionsniveau erreichte. Das Denkmodell, das er als ständisch-romantisch bezeichnet, hat für ihn bis ins 20. Jahrhundert hinein in Deutschland einen wesentlichen Einfluss. Mannheim arbeitet in seiner Schrift detailliert die einzelnen Merkmale des konservativen, aber auch des liberalen und teilweise des sozialistischen Denkens heraus¹⁴ und versucht, innerhalb dieses Rahmens die verschiedenen Wissensformen bis in seine Zeit in ihrer sozialen Verankerung zu beleuchten. Auffällig ist dabei, dass er weniger die Inhalte der Wissensformen analysiert als vielmehr die kategoriale Apparatur, die methodologischen Grundentscheidungen sowie die vorausgesetzte Ontologie und auf diese Weise eine Parallelisierung zu den – zunächst – politischen Grundtheorien herstellt. Darin wird auch wieder das erkenntnistheoretische Interesse seines wissenssoziologischen Ansatzes deutlich. Mannheim zeigt aber nicht nur auf, wie die sozialgeschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert zur Polarisierung von liberalem und konservativem Denken geführt hat, sondern versucht auch eine detaillierte methodologische Charakteristik der beiden Denkmodelle. Die grundlegende These besteht darin, dass man in den methodologischen Grundkonzepten eines theoretischen Modells die strukturellen Parallelen zu den Grundbegriffen der politischen Theorien herstellen kann. Wir wollen hier einige Hauptaspekte seiner diesbezüglichen Überlegungen wiedergeben. Die liberale Denkweise sieht Mannheim durch einen entschiedenen Individualismus und Universalismus geprägt (vgl. ebd., 128 f.). Recht und Gesetz werden aus Vernunftprinzipien heraus legitimiert. Demgegenüber steht auf konservativer Seite ein Primat der Kollektivgebilde vor dem Individuum und eine Verteidigung des Besonderen gegenüber universalen Prinzipien. Mannheim benennt idealtypisch sechs Merkmale des liberalen Denkens (vgl. ebd., 132): (1) Fundierung/Legitimierung von der Vernunft aus (2) Deduktion des Besonderen aus einem allgemeinen Prinzip (3) Generelle Geltung der Gesetze für alle Individuen (4) Anwendbarkeit von allgemeinen Prinzipien auf alle historischen Körper (5) Konstruktion der Kollektivgebilde vom Vereinzelten aus (Atomismus)
Eine übersichtliche Darstellung der Details der Mannheim’schen Charakterisierung des konservativen und liberalen Denkstils findet man bei Barboza 2009, 77– 88.
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(6) Primat des statischen Denkens, Zeit- und Geschichtsunabhängigkeit Auf der konservativen Seite verortet Mannheim dagegen Folgendes (vgl. ebd., 133 f.): (1) Fundierung/Legitimation aus Geschichte/Leben/Volk, Seins- statt Denkprimat (2) Irrationalität des Besonderen (3) Individuelle Besonderheiten und Privilegien vor universaler Geltung (4) Besonderheit organisch-historischer Körper als Makro-Individuen (5) Primat der Totalität vor dem Einzelnen (6) Dynamisierung und Historisierung des Denkens Wie Mannheim diese Charakteristika selbst an einschlägigen Texten des 19. Jahrhunderts aufzeigt, kann hier nicht näher untersucht werden. Wir wollen vielmehr eine eigene wissenssoziologische Analyse auf dieser Grundlage durchführen, die eine konkrete Anwendung exemplarisch veranschaulichen soll.
2 Zur Wissenssoziologie existenzphilosophischen Denkens – eine exemplarische Analyse 2.1 Die Operationalisierung des Mannheim’schen Ansatzes Wir haben versucht, das systematische Programm der Wissenssoziologie Karl Mannheims in seinen Grundzügen zu skizzieren. Was nun noch fehlt, ist eine konkrete Anwendung, die die Operationalisierbarkeit dieses Ansatzes vor Augen führt. Zunächst müssen wir dabei in Erinnerung rufen, dass eine wissenssoziologische Analyse, die sich an Mannheim orientiert, vor allem eine Analyse von Texten ist. Die Texte werden auf bestimmte Merkmale hin untersucht und Theorietypen zugeordnet, die Mannheim auch Denkstile nennt. Ein Theorietyp wiederum kann einer bestimmten Stellungnahme hinsichtlich der Gestaltung des sozialen Seins zugeordnet werden. Ein Text oder Theorietyp wird nicht als vereinzeltes Phänomen betrachtet, sondern eingebettet in Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Theorietypen zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt. Das Ziel der wissenssoziologischen Analyse eines philosophischen oder wissenschaftlichen Textes besteht also darin, diesen in einer bestimmten Übersicht von Theorietypen zu verorten, und ist daher als metatheoretisch zu kennzeichnen.
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Für unsere Analyse wollen wir uns auf ein bestimmtes Ereignis der deutschen Philosophiegeschichte konzentrieren, und zwar auf das existenzphilosophische Denken, das in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg bis zum Anfang der 1930er Jahre zu einer einflussreichen Größe in der Fachphilosophie wird. Interessant ist diese Denkströmung für eine wissenssoziologische Analyse, weil sie weder eine prototypische Ausprägung des liberalen noch des konservativen Denkstils darstellt. Vielmehr wird in den Texten dieser Denkströmung eine Art Auseinandersetzung zwischen liberalen und konservativen Aspekten zum Austrag gebracht, die zu einer eigentümlichen Synthese aus beiden Theorietypen führt. Dafür sollen ausgewählte Texte genauer analysiert werden, die für diese Teilströmung der damaligen Philosophie relevant wurden, um daran eine gegenüber der problemgeschichtlichen anders akzentuierte Perspektive für die Interpretation anzusetzen. In der akademischen Philosophie waren nach dem ersten Weltkrieg typische Themen des existenzphilosophischen Denkens wie etwa Grenzsituationen und Tod ein Novum. Während z. B. der Tod in der älteren Philosophie immer eine wichtige Rolle gespielt hatte (etwa bei Platon und Montaigne), traf dies auf die Fachphilosophie am Anfang des 20. Jahrhunderts offenbar nicht zu, so dass die zeitgenössischen Beobachter das Neue daran durchaus empfanden.¹⁵ Am bekanntesten wurden in dieser Hinsicht in den 1920er Jahren die Werke von Jaspers und Heidegger. Wir wollen uns einer Fußnote in Sein und Zeit zuwenden, in der Heidegger sich als Teil einer geistigen Strömung entwirft, indem er zeitgenössische Denker nennt, mit denen er eine Art Bündnis schließt. Die Fußnote ist am Ende des §49 eingefügt und steht damit im Themenkontext der Frage nach dem „Sein zum Tode“ (vgl. Heidegger 1986, 249). Heidegger führt in dieser sehr langen Fußnote u. a. drei Autoren mit ausdrücklicher Textbenennung an: einen Aufsatz aus der Spätphilosophie Georg Simmels von 1918, Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen von 1919 und eine Studie zum Todesproblem bei Herder, Novalis und Kleist des Literaturwissenschaftlers Rudolf Unger von 1922. Es wird sich zeigen, dass alle diese Texte zwar auf dem Boden eines liberalen Denkstils stehen, diesen aber an bestimmte Grenzen führen und durch methodische Grundfiguren des konservativen Denkens konterkarieren.
So wird in einer theologischen Dissertation von 1938 darauf hingewiesen, dass die explizite Betrachtung der Frage des Todes bei Heidegger und Jaspers in der akademischen Philosophie ein Novum darstellt. Eine ähnliche Auffassung vertrete allenfalls noch Simmel (vgl. Lehmann 1938, 65).
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2.2 Wissenssoziologische Analysen zu Simmel, Jaspers und Unger Der erste Text ist ein Aufsatz von Georg Simmel mit dem Titel „Tod und Unsterblichkeit“, der 1918 erschien. Simmel betrachtet den Tod hier nicht als eine äußere Grenze des Lebens, die es einfach irgendwann beendet, sondern als innere Grenze, die das Leben in allen seinen Inhalten und Momenten von innen her bestimmt. Dass der Zeitpunkt des Todes nicht von vornherein feststeht, verschafft uns dabei zwar eine gewisse Erleichterung, aber das Bewusstsein von der Unvermeidlichkeit des Todes führt doch zu einer unaufhebbaren „Bedrücktheit“ (Simmel 1922, 101). Die Bedrücktheit verstärkt sich für Simmel dadurch, dass wir uns in der Moderne als besondere Individuen entwerfen und damit unsere Zerstörung durch den Tod einen unwiederbringlichen Verlust bedeutet. Für den Menschen als Individuum wird damit sein Ende zu einem besonderen Problem: Es entsteht „eine unerhörte Spannung zwischen Leben und Tod“ (ebd., 133). Simmel folgert daraus, dass wir auf irgendeine Form von Unsterblichkeitsvorstellung nicht verzichten können und dass sich das Leben Inhalten zuwenden müsse, die über es selbst hinausreichen. Seine Lösungsansätze bleiben hier aber relativ vage und abstrakt. Fragt man nun, wie der Text wissenssoziologisch zu verorten ist, so muss man zunächst festhalten, dass sowohl die von Simmel kritisierte Auffassung als auch seine eigene einem dezidierten methodischen Individualismus verpflichtet sind. Das Problem, wie Leben und Tod zusammenhängen, wird ganz selbstverständlich und fast ausschließlich auf der Ebene des isolierten Individuums verhandelt. Die ganze Argumentation basiert darauf, dass als Grundwert die individuelle Autonomie fraglos vorausgesetzt wird. Dies kann man in Mannheim’schen Kategorien klar einer liberalen Denkhaltung zuordnen, die den Simmelschen Text trägt. Die nach Simmel vorherrschende Auffassung des Todes als äußere Grenze des Lebens könnte man als konsequent liberale Haltung interpretieren. Da der Tod für eine Lebensführung gemäß dem Grundwert der individuellen Selbstbestimmung ein unvermeidliches Hindernis und Problem darstellt, ist es nur folgerichtig, ihn als dem Leben äußerlich anzusehen und seine Unvermeidlichkeit einfach nur hinzunehmen. Dass der unvermeidliche Tod dabei als Thema marginalisiert wird, ist leicht nachvollziehbar, denn jedes tiefsinnige Nachdenken über den Tod kann innerhalb einer vordergründig liberalen Haltung keine sinnvollen Resultate zeitigen. Nun schließt sich Simmel aber dieser Haltung nicht einfach an, sondern kritisiert sie als unzureichend. Zu dem vorausgesetzten Grundwert der individuellen Autonomie fügt er noch den vor allem aus der romantischen Tradition herkommenden Grundwert der individuellen Besonderheit hinzu und stellt dann
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heraus, dass eine vornehmlich auf diesen Grundwerten basierende Lebensführung die „Bedrücktheit“ vor dem unvermeidlichen Tod nicht loswerden kann und die Spannung zwischen Leben und Tod sich verschärft. Das Besondere an Simmels Text ist damit, wissenssoziologisch gesehen, eine Verknüpfung des liberalen Individualismus mit dem romantischen Differenz-Individualismus, den man mit Mannheim eher dem konservativen Denkstil zuzurechnen hätte, der aber auch eine große Nähe zum liberalen Individualismus aufweist. Durch diese eigentümliche Verknüpfung von Komponenten ist Simmels Argumentation damit einerseits eine Selbstkritik des individualistisch zugespitzten liberalen Denkens und andererseits bereits auch schon eine Öffnung hin zum konservativen Denken, aus dem her Lösungsansätze für die aufgezeigten Spannungen übernommen werden könnten, die bei Simmel aber lediglich angedeutet werden, z. B. die Zuwendung zu Inhalten, die über das individuelle Leben hinausgehen. Der zweite Text, den Heidegger in der genannten Fußnote von Sein und Zeit anführt, ist der Abschnitt „Die Grenzsituationen“ aus Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen von 1919 (vgl. 202– 247). Ähnlich wie Simmel ist auch Jaspers ein methodischer Individualist. Da Jaspers sich aber eng an Kierkegaard anschließt, wird die Perspektive des Einzelnen bewusster und emphatischer eingenommen als dies bei Simmel der Fall war. Grenzsituationen sind für Jaspers solche Situationen, in denen der handelnde Mensch an unüberwindliche und auch unausweichliche Grenzen stößt. Phänomene wie Kampf, Tod, Zufall und Schuld rechnet er darunter und beschreibt sie auch im einzelnen ausführlich. In engem Zusammenhang mit den Grenzsituationen spricht Jaspers von der antinomischen Struktur der Welt und unseres Daseins und verweist damit auf unvermeidliche Widerstände und Widersprüche, mit denen der Mensch konfrontiert ist (vgl. Jaspers 1919, 203). Hier wird das Problematische des menschlichen Lebens hervorgehoben. Man könnte Jaspers einen Pessimisten nennen, und er gibt auch selbst zu, dass angesichts aller Schwierigkeiten der Handlungswille des Menschen durchaus gelähmt oder gebrochen werden kann (vgl. ebd., 212). Aber der Pessimismus soll nicht das letzte Wort behalten, sondern Jaspers will zeigen, wie der Mensch gerade angesichts der Grenzsituationen Kraft gewinnen und standhaft bleiben kann (vgl. ebd., 213). Ob und wie ihm dies gelingt, soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Wir wollen vielmehr das Szenario und den Rahmen der Jaspers’schen Darstellung mit den Mannheim’schen Kategorien untersuchen. Jaspers steht ebenfalls auf dem Boden eines methodischen Individualismus. Die grundlegende Perspektive ist die des Einzelnen, der sich dann in seinem Handeln auch auf die Welt und auf andere Menschen bezieht. Anders als bei Simmel, wo diese Perspektive ganz selbstverständlich und gleichsam geräuschlos
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eingenommen wird, ist das selbstbestimmte Handeln des Einzelnen bei Jaspers ein Ideal und eine Forderung. Charakteristisch für Jaspers ist nun, dass die Grundsituation des Einzelnen nicht einfach als ungehindert freie Entfaltung dargestellt wird, sondern in all ihren möglichen Schwierigkeiten ans Licht kommt. Grundtenor gerade im Abschnitt über die Grenzsituationen ist, dass der Einzelne den Schwierigkeiten ins Auge blicken soll und trotzdem standhaft aus individueller Autonomie heraus handeln kann. So entwirft Jaspers angesichts der Grenzsituationen Tod und Schuld ein in Einsamkeit ringendes Individuum, das keine Hilfe von außen in Anspruch nimmt (vgl. ebd., 230), sondern mit den unvermeidlichen Schwierigkeiten allein fertig wird. Mit seinem methodischen Individualismus steht Jaspers ganz klar im Kernbereich des liberalen Denkens. Es sind aber wenigstens zwei Komponenten deutlich erkennbar, die aus dem konservativen Denken stammen und seinen Liberalismus konterkarieren. Zum einen ist dies ein anti-rationalistischer Zug, der in der Betonung der antinomischen Struktur von Welt und Dasein deutlich zum Ausdruck kommt. Zum zweiten kommt eine aristokratische Tendenz in sein Denken, die sich darin zeigt, dass der Einzelne sein selbstbestimmtes Handeln den mit den Grenzsituationen gegebenen Schwierigkeiten abtrotzen muss, was offenbar nicht mehr einfach alle betreffen kann, sondern nur noch eine gewisse Elite. Jaspers’ Individualismus ist also nicht mehr universal, wie Mannheim dies für das typisch liberale Denken ausmacht, sondern eingeschränkt und dadurch gewissermaßen ständisch-aristokratisch. Insgesamt kann man Jaspers’ Denken der Grenzsituationen im Kern dem liberalen Denkstil zuordnen, der mit Komponenten aus dem konservativen Denkstil angereichert und konterkariert wird. Der dritte in Heideggers Fußnote genannte Text ist eine Monographie über Herder, Novalis und Kleist des Literaturwissenschaftlers Rudolf Unger von 1922. Wir konzentrieren uns hier auf die Studie über Kleist (vgl. 88 – 143). Unger untersucht die Einstellung zum Tod in Kleists Dramen und sieht darin eine dreistufige Entwicklung am Werk. In einer ersten Phase erscheint der Tod als unüberwindliche Macht, dem die Charaktere gegen ihren Willen ausgeliefert sind (vgl. ebd., 120 ff.). Die zweite Phase sieht Unger dadurch gekennzeichnet, dass die Charaktere ihren Tod als bevorstehendes Ereignis innerlich annehmen (vgl. ebd., 128 ff.). In der dritten und letzten Phase endlich sind die in den Dramen gezeichneten Figuren bereit, sich für eine höhere Sache zu opfern (vgl. ebd., 134). Wie kann man diese Interpretation Ungers wissenssoziologisch deuten? Zunächst einmal sollte man den Blick darauf richten, dass der Tod nicht nur um seiner selbst willen thematisiert wird, sondern exemplarisch als Grenze des Handelns aus individueller Autonomie. Insbesondere in Ungers Phase 1 der Entwicklung in Kleists Dramen stößt die Strategie der individuellen Entfaltung an
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eine Grenze, weil sie eine unüberwindliche Macht vorfindet. Phase 2 in seiner Kleist-Auslegung kann man daher so verstehen, dass die innerliche Annahme des Todes exemplarisch für die Anerkennung der Legitimität überindividueller Instanzen steht. Die Phase 3 steht dann vor allem dafür, dass sich das autonome Individuum bewusst in den Dienst einer über ihm stehenden Macht stellt. Mit Mannheim kann man dies einer Ethik der ständischen Gesellschaft zuordnen, die vom konservativen Denken in die moderne Gesellschaft hinübergerettet wird. Festzuhalten ist abschließend, dass Unger sich zunächst – wie Simmel und Jaspers – in liberalen Denkbahnen bewegt. Das frei handelnde einzelne Individuum beherrscht die Szenerie. Die Übernahme konservativer Denkmuster ist jedoch noch auffälliger als bei den anderen beiden Autoren. Dies wird am von Unger entworfenen Ideal des Individuums deutlich, das sich freiwillig in den Dienst einer höheren Macht und damit auch einer über es selbst hinausreichenden Gemeinschaft stellt. Ungers Kleist führt somit schon sehr weit in typisch konservative Gestaltungen des sozialen Raumes hinein, auch wenn die liberale Basis vernehmbar bleibt.
3 Zusammenfassung Ausgangspunkt war für uns die Frage nach dem sozialen Charakter des Wissens, der in der Wissenssoziologie systematisch untersucht wird. Während manche Ansätze, wie z. B. derjenige Schelers, zwar anerkennen, dass Wissen immer eine Rolle in sozialen Kontexten spielt, aber die innere Form des Wissens als unabhängig von der Gesellschaft betrachten, gehen andere Ansätze von einer konstitutiven Verflochtenheit von Wissen und sozialer Welt aus. Als besonders einschlägig hierfür erwies sich das Denken von Karl Mannheim, auf das wir uns im Weiteren konzentriert haben. Das Hauptaugenmerk haben wir dabei auf die These Mannheims gelenkt, dass elaborierte Wissensformen, wie z. B. in der Wissenschaft, in ihrer kategorialen Grundstruktur eine bestimmte Prägung aufweisen, durch die sie eine Stellungnahme zur Gestaltung des sozialen Seins enthalten. Diese Stellungnahme kann nach Mannheim mit Hilfe von Strukturbegriffen aus der politischen Theorie wie liberal und konservativ explizit gemacht werden. Wir haben versucht, den Mannheim’schen Ansatz in seiner systematischen Spezifik als konflikttheoretisch, historisch und metatheoretisch zu kennzeichnen. Die konstituierenden Aspekte eines theoretischen Modells sind danach nicht als neutral und zeitlos zu betrachten, sondern als Stellungnahmen in theoretischen Auseinandersetzungen mit makrostrukturell historischem Gehalt. Die Einbettung der methodologischen Auseinandersetzungen der Wissenschaft in einen makrostrukturell entworfenen sozial- und geistesgeschichtlichen Rahmen seit etwa 1800
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haben wir als systematischen Kernpunkt des Mannheim’schen Denkens hervorgehoben und deshalb in groben Zügen in unsere Darstellung integriert. Um die produktiven Möglichkeiten eines solchen Ansatzes zu veranschaulichen, haben wir eine Beispielanalyse an konkreten Texten durchgeführt, die dem Kontext des existenzphilosophischen Denkens entstammen. Die Analyse dieser Texte zeigt sie getragen von liberalen Denkformen, die aber durch konservative Akzentuierungen überlagert und konterkariert werden. Das für das existenzphilosophische Denken typische Themenfeld von Tod und Grenzsituationen wurde aufgewiesen als einerseits innovatives thematisches Feld (z. B. in der Fachphilosophie) und andererseits als eine Art blinder Fleck liberaler Denkstile und geeignetes Einfallstor typisch konservativer Denkmuster. Inhaltliche Innovation und sozialontologische Reflexion erweisen sich folglich in diesen Texten als eng ineinander verflochten.
Literatur Barboza, A., 2005: Kunst und Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims, Konstanz. Barboza, A., 2009: Karl Mannheim, Konstanz. Berger, P. L./Luckmann, T., 1974: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 4. Auflage, Frankfurt a.M. Bohnsack, R., 2007: Dokumentarische Methode und praxeologische Wissenssoziologie. In: Schützeichel, 2007, 180 – 190. Heidegger, M., 1986 (1927): Sein und Zeit, 16. Auflage, Tübingen. Heidenreich, B., 2002: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts als Grundlage des demokratischen Diskurses. In: Ders. (Hg.): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus – Liberalismus – Sozialismus, 2. Auflage, Berlin, 9 – 18. Jaspers, K., 1919: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin. Knoblauch, H., 2010: Wissenssoziologie, 2. Auflage, Konstanz. Kruse, V., 1990: Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie. Ein Paradigmenwechsel in den deutschen Sozialwissenschaften um 1900. In: Zeitschrift für Soziologie 19, 149 – 165. Lehmann, K., 1938: Der Tod bei Heidegger und Jaspers, Heidelberg. Maasen, S., 2009: Wissenssoziologie, Bielefeld. Mannheim, K., 1922: Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie, Kant-Studien, Ergänzungsheft Nr. 57, Berlin. Mannheim, K., 1929: Ideologie und Utopie, Bonn. Mannheim, K., 1964a (1924): Historismus. In: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Herausgegeben und eingeleitet von K. H. Wolff, Neuwied, 246 – 307. Mannheim, K., 1964b (1927): Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland. In: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Herausgegeben und eingeleitet von K. H. Wolff, Neuwied, 408 – 508.
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Mannheim, K., 1964c (1929): Zur Problematik der Soziologie in Deutschland. In: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Herausgegeben und eingeleitet von K. H. Wolff, Neuwied, 614 – 624. Mannheim, K., 1964d (1929): Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen. In: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Herausgegeben und eingeleitet von K. H. Wolff, Neuwied, 566 – 613. Mannheim, K., 1980: Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis. In: Ders.: Strukturen des Denkens, Frankfurt a.M., 33 – 154. Mannheim, K., 1984: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt a.M. Nassehi, A., 2004: Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik. In: Zeitschrift für Soziologie 33, 98 – 118. Simmel, G., 1922: Tod und Unsterblichkeit. In: Ders.: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, 2. Auflage, München/Leipzig, 96 – 149. Schützeichel, R. (Hg.), 2007: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz. Troeltsch, E., 1922: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen. Unger, R., 1922: Herder, Novalis und Kleist. Studien über die Entwicklung des Todesproblems in Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur Romantik, Frankfurt a.M. Weber, M., 1922: Wissenschaft als Beruf. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 524 – 555. Weingart, P., 2003: Wissenschaftssoziologie, Bielefeld.
Angaben zu den Autorinnen und Autoren Monika Betzler, geb. 1962, Studium der Philosophie, der deutschen und französischen Literaturwissenschaft sowie der Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, an der Université Lyon II sowie der Philosophie und „Public Administration“ an der Harvard University in Cambridge/USA. Promotion 1992 (München), wissenschaftliche Assistentin an den Universitäten Göttingen und LMU München, Habilitation 2005 (München), Feodor-Lynen-Research Fellow der Humboldt-Stiftung an der University of California at Berkeley/USA 2002– 2003, Professorial Fellow am Center for Ethics and Public Affairs, Murphy Institute, Tulane University in New Orleans 2012– 2013, seit 2006 Ordinaria für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Bern. Neuere Veröffentlichungen u. a.: „Willensschwäche und schleichende Irrationalität“, in: Über die Seele, hg. von K. Crone u. a., Frankfurt 2010; „Macht uns die Veränderung unserer selbst autonom? Überlegungen zur Rechtfertigung von Neuro-Enhancement der Emotionen“, in: Philosophia Naturalis 2011; „The Normative Significance of Personal Projects“, in: Autonomy and the Self, hg. von M. Kühler und N. Jelinek (2013); „Enhancing the Capacity for Autonomy: What Parents Owe Their Children to Make Their Lives Go Well“, in:The Wellbeing of Children, hg.von A. Bagattini und C. MacLeod (2013); Autonomie der Person (hg., 2013). Thomas Buchheim, geb. 1957, Studium der Philosophie, Gräzistik und Soziologie in München. Promotion 1985, Habilitation 1991, 1994 Professor für Philosophie in Mainz, seit 2000 Ordinarius für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Geschäftsführender Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs der Görresgesellschaft. Mitglied der Schelling-Kommission und Mitherausgeber der historisch-kritischen Schellingausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 2010 – 2013 Vorsitzender der Gesellschaft für antike Philosophie (GANPH). Veröffentlichungen u. a.: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens (1986); Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie (1992); Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt (1994); Unser Verlangen nach Freiheit (2006); Das Leib-Seele-Problem (hg., zs. mit F. Hermanni 2006); Freiheit auf Basis der Natur? (hg., zs. mit T. Pietrek 2007). Christine Chwaszcza, geb. 1962, Studium der Politischen Wissenschaft, Soziologie, Germanistik und Philosophie in München. Promotion 1994 (München), Habilitation 1999 (Kiel), 2005 Professor of Social and Political Philosophy (European University Institute, Florenz), 2010 Professorin für Politische und Sozialphilosophie (Universität Köln). Veröffentlichungen u. a.: Praktische Vernunft als vernünftige Praxis (2003); Moral Responsibility and Global Justice. A Human Rights
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Angaben zu den Autorinnen und Autoren
Approach (2. Aufl. 2010); zahlreiche Aufsätze zur Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Christoph Demmerling, geb. 1963, Studium der Philosophie, deutschen Literaturwissenschaft und theoretischen Linguistik in Konstanz und Florenz, Promotion 1992 (Konstanz), Habilitation 1998 (Dresden), Assistent und Oberassistent in Dresden, seit 2008 Professor für Philosophie in Marburg.Veröffentlichungen u. a.: Sprache und Verdinglichung (1994); Grundprobleme der analytischen Sprachphilosophie (zs. mit T. Blume, 1998); Sinn, Bedeutung, Verstehen (2002); Philosophie der Gefühle (zs. mit H. Landweer, 2007). Eva-Maria Engelen, geb. 1963, Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Philosophie in Mannheim, Freiburg und Konstanz, Promotion 1990, Habilitation 1996, 1995 Visiting Scholar in Harvard (Mass.), Professorin für Philosophie in Konstanz. Veröffentlichungen u. a.: Zeit, Zahl und Bild. Studien zur Verbindung von Philosophie und Wissenschaft bei Abbo von Fleury (1993); Das Feststehende bestimmt das Mögliche. Semantische Untersuchungen zu Möglichkeitsurteilen (1996); Erkenntnis und Liebe. Zur fundierenden Rolle des Gefühls bei den Leistungen der Vernunft (2003); „Tell me about love“ – Kultur und Natur der Liebe (hg., zs. mit B. Röttger-Rössler 2006); Gefühle (2007); Special Issue on Empathy in Emotion Review (zs. mit B. Röttger-Rössler als guest editors); Vom Leben zur Bedeutung. Philosophische Studien zum Verhältnis von Gefühl, Bewusstsein und Sprache (2014). Heiner Hastedt, geb. 1958, Studium u. a. der Philosophie in Göttingen, Hamburg und Bristol, Promotion 1987 (Hamburg), Habilitation 1991 (Paderborn), 1984– 1987 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Hamburg, 1988 Forschungsstipendiat der DFG, 1989 – 1992 Wissenschaftlicher Assistent in Paderborn (im Wintersemester 1991/92 Humboldt-Gastprofessor in Ulm), seit 1992 Professor für Praktische Philosophie in Rostock; 1998 bis 2002 Prorektor der Universität Rostock.Veröffentlichungen u. a.: Das Leib-Seele-Problem. Zwischen Naturwissenschaft des Geistes und kultureller Eindimensionalität (1988); Der Wert des Einzelnen. Eine Verteidigung des Individualismus (1998); Gefühle. Philosophische Bemerkungen (2005); Moderne Nomaden. Erkundungen (2009); Toleranz (2012); Ethik. Ein Grundkurs (hg., zs. mit Ekkehard Martens 1994); Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Zwölf philosophische Antworten (hg., zs. mit H. Schnädelbach und G. Keil 2009); Was ist Bildung? (hg. 2012). Markus Heuft, geb. 1960, Studium der Philosophie, Germanistik und Pädagogik in Freiburg und Köln, Promotion 2002 (Köln), seit 2004 Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Würzburg. Veröffentlichungen: Sagen und Meinen.
Angaben zu den Autorinnen und Autoren
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Sprechen als sprachphilosophisches Problem (2004); „Nach der Postmoderne? Ein Umgang mit postmoderner Pluralität“, in: Phänomenologische Forschungen (2006). Christoph Horn, geb. 1964, Studium von Philosophie, Griechisch und Theologie in Freiburg, München und Paris, Promotion 1993 (München), Habilitation 1999 (Tübingen), 2000 – 2001 Professor für Philosophie an der Universität Gießen, seit 2001 Professor für Antike und Praktische Philosophie in Bonn, 2003 – 2004 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, 2006 – 2007 Gastprofessuren in Lausanne, Wien und Porto Alegre (Brasilien). Veröffentlichungen u. a.: Plotin über Sein, Zahl und Einheit (1995); Augustinus (1995); Antike Lebenskunst (1998); Einführung in die Politische Philosophie (2003); Philosophie der Antike. Von den Vorsokratikern bis Augustinus (2013); Gründe und Zwecke. Texte zur aktuellen Handlungstheorie (hg., zs. mit G. Löhrer, 2010); Platon, Symposion (hg., 2012); Platon, Nomoi/Gesetze (hg., 2013); Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie (2014). Ludger Jansen, geb. 1969, Studium der Philosophie, Theologie und Publizistik in Münster, St. Andrews, Berlin, Tübingen und Padua, Promotion 2001 (Münster), Habilitation 2011 (Rostock), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Bonn (2002), Saarbrücken (2005) und Rostock (2006), Lehrstuhlvertreter an der RWTH Aachen (2011) und seit 2013 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Münster. Veröffentlichungen u. a.: Tun und Können (2002); Biomedizinische Ontologie (hg., zs. mit B. Smith 2008); Philosophische Anthropologie in der Antike (hg., zs. mit C. Jedan 2010); Analytische Philosophie des Sozialen (in Vorbereitung); zahlreiche Aufsätze. Guido Löhrer, geb. 1960, Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Bonn, Freiburg i.Br. und Bologna, Promotion 1993 (Freiburg i.Br.), Habilitation 2001 (Bern), 2003 – 2006 Nationalfondsprojekt „The Dynamics of Moral Belief“ Bern, 2006 – 2007 Lehrstuhlvertretung in Regensburg, seit 2008 Professor für Praktische Philosophie an der Universität Erfurt.Veröffentlichungen u. a.: Menschliche Würde. Wissenschaftliche Geltung und metaphorische Grenze der praktischen Philosophie Kants (1995); Praktisches Wissen. Grundlagen einer konstruktiven Theorie menschlichen Handelns (2003); Philosophische Anthropologie und Lebenskunst. Rainer Marten in der Diskussion (hg. mit C. Strub und H. Westermann 2005); Gründe und Zwecke. Texte zur aktuellen Handlungstheorie (hg., zs. mit C. Horn 2010); zahlreiche Aufsätze zur Handlungstheorie, Metaethik und weiteren Gebieten der praktischen und theoretischen Philosophie.
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Angaben zu den Autorinnen und Autoren
Holger Maaß, geb. 1969, Studium der Philosophie, Romanistik und Mathematik in Leipzig, Rennes und Turin, Promotion in Philosophie 2001 (Leipzig), seit 2003 berufstätig als Medizin-Informatiker. Veröffentlichungen: Phänomenologie im Dialog. Sprachphilosophische Interpretationen zu Husserl, Heidegger und Lévinas (2002), mehrere Aufsätze zu Phänomenologie und Wissenssoziologie. Karl Mertens, geb. 1958, Studium der Philosophie, Deutschen Philologie und Geschichte in Köln, Freiburg i.Br. und Zürich; 1988 – 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter in Köln; Promotion 1993 (Köln); 1994 wissenschaftliche Hilfskraft am Kant-Archiv in Marburg; 1995 – 1996 DFG-Forschungsstipendiat; 1996 – 2004 wissenschaftlicher Assistent und Oberassistent in Kiel; Habilitation 2000 (Kiel); 2002– 2004 Vertretung einer C 3-Professur für Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Logik an der Universität Köln; seit 2004 o. Professor für Philosophie (Schwerpunkt Praktische Philosophie) in Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Letztbegründung und Skepsis. Kritische Untersuchungen zum Selbstverständnis der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls (1996); Wahrnehmen, Fühlen, Handeln. Phänomenologie im Wettstreit der Methoden (hg. zus. mit I. Günzler, 2013). Aufsätze zur Handlungstheorie, Sozialphilosophie, Ethik, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes und Phänomenologie. Jörn Müller, geb. 1969, Studium der Philosophie, Geschichte und Pädagogik an den Universitäten Bonn und Edinburgh, Promotion 2001 (Bonn), Habilitation 2008 (Bonn), 2002– 2007 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Universität Bonn, 2007– 2010 Lehrstuhlvertretungen für Geschichte der Philosophie in Würzburg und Bochum, 2010 – 2014, Akademischer Rat und apl. Professor am Institut für Philosophie in Würzburg, seit 2014 o. Professor für antike und mittelalterliche Philosophie. Veröffentlichungen u. a.: Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus (2001); Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik (2006); Willensschwäche in Antike und Mittelalter (2009); Wille und Handlung in der Philosophie der Kaiserzeit und Spätantike (hg., zs. mit R.H. Pich 2010); Heinrich von Gent: Ausgewählte Fragen zur Willens- und Freiheitslehre (2011); zahlreiche Aufsätze zur Philosophie der Antike und des Mittelalters sowie zur praktischen Philosophie. Rainer Paris, geb. 1948, Studium der Soziologie, Psychologie und Germanistik an der Freien Universität Berlin, Promotion 1983 (Bremen), 1985 – 87 Forschungstätigkeit in einem DFG-Projekt über Machtprozesse in Organisationen an der Universität Göttingen, 1992 Habilitation (Berlin), ab 1994 Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal, seit 2013 im Ruhestand. Veröffentlichungen u. a.: Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition (zs. mit W.
Angaben zu den Autorinnen und Autoren
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Sofsky 1994); Stachel und Speer (1998); Normale Macht (2005); Gender, Liebe & Macht. Vier Einsprüche (2008); Neid. Von der Macht eines versteckten Gefühls (2010); zahlreiche Aufsätze in soziologischen Fachzeitschriften und im Merkur. Sonja Rinofner-Kreidl, geb. 1965, Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Graz, Promotion 1997 (Graz), Habilitation 2002 (Graz), seit 2002 Ao. Univ.Professorin am Institut für Philosophie der Universität Graz, seit 2008 European Editor der Husserl Studies. Veröffentlichungen u. a.: Edmund Husserl. Zeitlichkeit und Intentionalität (2000); Mediane Phänomenologie. Subjektivität im Spannungsfeld von Naturalität und Kulturalität (2003); „Representationalism and Beyond. A phenomenological Critique of Thomas Metzinger’s Self-model Theory“, in: Journal of Consciousness Studies vol. 11, no. 10 – 11 (2004); „Motive, Gründe und Entscheidungen in Husserls intentionaler Handlungstheorie“, in: Die Aktualität Husserls, hg. von V. Mayer, C. Erhard und M. Scherini (2011); „Moral Philosophy“, in: Routledge Companion to Phenomenology, hg. von S. Overgaard und S. Luft (2011). Julius Schälike, geb. 1966, Studium der Philosophie, der Neueren Geschichte und der Kunstgeschichte in München und Berlin. Promotion 2000 (Berlin), Habilitation 2008 (Konstanz). Akademischer Rat am Philosophischen Seminar der Universität Mannheim. Veröffentlichungen u. a.: Wünsche, Werte und Moral. Entwurf eines handlungstheoretischen und ethischen Internalismus (2002); Spielräume und Spuren des Willens. Eine Theorie der Freiheit und der moralischen Verantwortung (2012). Zahlreiche Aufsätze zur Praktischen Philosophie. Hans Bernhard Schmid, geb. 1970, Studium der Soziologie, Philosophie und allgemeinen Geschichte des Mittelalters in Basel, Promotion 1998, Habilitation 2005 (Basel). Seit 2011 Professor für Politische und Sozialphilosophie an der Universität Wien. Wichtige Publikationen: Subjekt, System, Diskurs – Edmund Husserls Begriff transzendentaler Subjektivität in sozialtheoretischen Bezügen (2000); Wir-Intentionalität – Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft (2005); Plural Action (2009); Collective Epistemology (hg., zs. mit M. Weber und D. Sirtes, 2010); Moralische Integrität – Kritik eines Konstrukts (2011); Self-Evaluation – Affective and Social Grounds of Intentionality (hg., zs. mit A. Konzelmann Ziv und K. Lehrer, 2012); The Background of Social Reality (hg., zs. mit M. Schmitz und B. Kobow, 2013). Rainer Schützeichel, geb. 1958, Studium der Philosophie und der Sozialwissenschaften in Bonn und Bochum, Promotion 2002, Habilitation 2011 (Hagen), Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Neuere Veröffentli-
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Angaben zu den Autorinnen und Autoren
chungen u. a.: „Sozialer Externalismus und soziologische Theorie“, in: Konstruktion und Geltung, hg. von J. Renn, C. Ernst und P. Isenböck (2012); „‚Implizites Wissen‘ in der Soziologie. Zur Kritik des epistemischen Individualismus“, in: Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, hg. von J. Loenhoff (2012); „Ties, Stories, and Events. Plädoyer für eine prozessuale Netzwerktheorie“, in: Berliner Journal für Soziologie 22(3), 2012; Emotionen, Sozialstruktur und Moderne (hg., zs. mit A. Schnabel, 2012); Hauptwerke der Emotionssoziologie (hg., zs. mit K. Senge, 2012). David P. Schweikard, geb. 1976, Studium der Philosophie, Kommunikationswissenschaft und Soziologie in Münster und Padua, Magister Artium 2002, 2003 – 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Philosophischen Instituten in Münster, Duisburg-Essen und Köln, Promotion 2009 (Köln), seit 2009 Akademischer Rat (auf Zeit) am Philosophischen Seminar der WWU Münster. Forschungsaufenthalte in Pittsburgh, Princeton, New York (Columbia University) und Wien. Veröffentlichungen u. a.: Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen (hg., zs. mit H.B. Schmid, 2009); Der Mythos des Singulären. Eine Untersuchung der Struktur kollektiven Handelns (2011); Aufsätze zur philosophischen Handlungstheorie, praktischen Philosophie und zur Philosophie des 19. Jahrhunderts.
Personenindex Hinweis: Erfasst wurden nur Personen bzw. Autorennamen, die sich im Haupttext oder in den Anmerkungen der Beiträge finden. Explizit ausgenommen sind dabei alle Namen in den Literaturverzeichnissen am Ende jedes Beitrags, ebenso wie das Verzeichnis der Autorinnen und Autoren am Schluss des Bandes. Adams, F. 294 Adorno, T. W. 95 Alonso, F. M. 292, 297 Anscombe, G. M. E. 14, 228, 232, 263 – 265, 267, 271, 274, 276, 278, 282, 318, 382 Arendt, H. 351 Argyle, M. 339 Aristoteles 1 – 3, 8, 13, 76, 93, 100, 191 – 201, 204, 206 – 210, 333, 335, 347, 382 Audi, R. 199, 209, 250 Augustinus 4, 85, 87, 189, 205 Aumann, R. 290 Austin, J. L. 16, 382 – 386, 394
Bratman, M. 3, 14, 58, 246 f., 252 – 258, 263, 266 – 270, 276, 279, 281, 284, 288, 292, 299, 304, 313, 315, 318 Breger, C. 136 Breithaupt, F. 128, 136 Brentano, F. 24 f., 35 Brown, C. 14, 298, 300, 302 f., 307 – 310 Browning, C. R. 358, 375 Bucher, A. 118 Buchheim, T. 13, 213 f., 216, 219, 222, 224 Budnik, C. 378 Burckhardt, A. 386 Burge, T. 14, 246 – 252, 258 Burke, P. J. 55
Bach, J. S. 215 f. Bacon, F. 103, 120 Baier, A. C. 294 Baier A. 3, 5 Baltzer, U. 3, 54, 230, 238, 314 Barboza, A. 401, 409 f. Becker, H. S. 173 Beckett, S. 224 f. Bedford, E. 67 Beier, K. 105 Berger, P. L. 399, 406 f. Bernsdorf, W. 338 Betzler, M. 15 f., 351 Bieri, P. 181 Bittner, R. 359 Blair, R.J. 132, 148, 150 Bloor, D. 399 Boethius 4 Bohnsack, R. 401 Bok, H. 369 Bollnow, O. F. 180 Borges, J. L. 79 Boshammer, S. 378 Bourdieu, P. 98, 399 Braeges, J. 148, 152
Card, C. 354 Carrier, J. G. 338 Cavell, S. 383 Chalmers, D. 36 f. Chang, R. 293, 327 Chant, S.R. 316 Chapuis, A. 378 Child, W. 314 Chwaszcza, C. 14, 263 Cicero 334, 339 Clark, A. 36 f. Cleckley, H. M. 148, 151, 153 Clendinnen, I. 351 Colombetti, G. 37 Comte, A. 399 Conway, J. P. 372 Coplan, A. 127 Corcilius, K. 2, 193 Crane, T. 25 Danto, A. C. 320 Darwin, C. 134 f., 138 Davidson, D. 2, 189, 201 f., 210, 293, 295 f., 314 – 316, 318 – 321, 323, 327 Decety, J. 132
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Personenindex
Demmerling, C. 10, 21, 23 – 25, 37, 52, 120, 123 Dennett, D. 232, 263 Deonna, J. A. 372 Derrida, J. 383 Descartes, R. 4, 66 f., 74 Dilthey, W. 406, 408 Donahue, W. C. 372, 377 Donat, S. 351 Döring, S. 9, 208 D’Oro, G. 320 Dummett, M. 249 Durkheim, É. 41, 43 f., 399 Eichmann, A. 351 Eisenstadt, S. N. 337 Ekman, P. 134 Elias, N. 187 Elster, J. 190 Engelen, E.-M. 12, 127 f., 131, 136 Epiktet 214 Epstein, J. 107, 117 Farber, L. 107 Fehige, C. 143, 162, 164 f. Fisher, M. 97 Foot, P. 145 Formosa, P. 354 Foucault, M. 77 – 79, 399 Franck, D. 387, 389 – 391 Frank, R. H. 164 Franke, C. A. 219 Frankfurt, H. 84 f., 89, 92 f., 95 f., 100, 203, 234 Freiman, C. 374 Freud, S. 27, 47, 51 f., 57, 67, 72 f., 106, 128, 135, 138, 234, 353, 360 Freyer, H. 406 Gaita, R. 352 Gallagher, S. 136 Gebauer, G. 136 Geer, B. 173 Gilbert, M. 5 f., 14, 22, 29, 31, 45, 58, 228, 231, 238 f., 241, 266 f., 271, 277, 280, 282 – 284, 288, 293, 298, 300, 302, 334 – 336, 339, 346
Gill, M.B. 161 Goldie, P. 4, 23 f., 52, 127, 131, 136 Goldman, A. I. 320 Goodin, R. 335, 337, 339 f., 342 – 344, 348 Gosling, J 198 Greene, J. 159 Griffin, J. 91 Guckes, B. 200 Günzler, I. 198, 211, 243 Gurwitsch, A. 4, 6, 239 f. Habermas, J. 383 Haddock, A. 246 Hardin, R. 269 Hardwig, J. 248 Hare, R. M. 148, 364 Harman, G. 293 Hart, H. L. A. 7, 16, 232, 381 f., 392 f. Haslam, A.S. 376 Hastedt, R. 4, 11, 65 Hatfield, E. 56 Hegel, G. W. F. 13, 42, 213, 406 f. Heidegger, M. 16, 68, 408, 412, 414 f. Heidenreich, B. 403 Heigenmoser, M. 357 Heinaman, R. 195 Heise, D. R. 42 Heller, A. 65 Helm, B. 22, 27, 52, 55, 81 f., 97 Henderson, M. 339 Herder, J. G. 412, 415 Heuft, M. 7, 16, 381, 385 Hilberg, R. 351 f. Hill, T. E. 202 f., 209 Hobbes, T. 203, 216, 223 Hochschild, A. 33 Hohl, L. 173, 180 Hölderlin, F. 277 Holton, R. 202, 207 f. Homer 76 f., 135 Honneth, A. 93, 95, 213 Horn, C. 4, 9, 11, 81, 90 f. Hughes, E. 173 Hume, D. 3, 143, 164, 215, 308 Husserl, E. 106, 228 Hutcheson, F. 4, 164 Hutto, D. 136
Personenindex
Illouz, E. Ismer, S.
74 44, 56 f.
Jahoda, M. 185 James, W. 21, 76 Jansen, L. 15, 333 Jaspers, K. 16, 412 – 416 Jones, D. H. 377 Jones, K. 309, 373 Joyce, J. 76 Kant, I. 13, 33, 75 f., 78 f., 90 – 92, 98, 143, 145, 149 f., 154 – 156, 159, 161 f., 214 f., 218 – 222, 340 Kaul, S. 357, 359 Kavka, G. 309 Keil, G. 319 Kemper, T. D. 42, 48 Kennett, J. 143, 148 – 151, 153 Kenny, A. 21, 26, 195 f. Kierkegaard, S. 176, 414 Kim Yong Il 273 Kittsteiner, H. D. 78 Kleist, H. von 75, 412, 415 f. Knoblauch, H. 399 f. Knorr-Cetina, K. 399 Kobow, B. 287 Kobusch, T. 4 Kolnai, A. 123 Kolodny, N. 334, 345 f. Kolumbus, C. 77 Konzelmann, A. 22, 29 Krebs, A. 4, 6, 45, 58 Kronauer, M. 185 Kruse, V. 406 f. Kusch, M. 287 Kutter, P. 114 La Caze, M. 108, 125 Lackey, J. 247 f., 251 Lamarque, P. 136 Lamb, R. E. 81 Landweer, H. 23 f., 42, 120, 123 Latour, B. 399 Laurence, B. 267 Lawler, E. J. 42 Le Bon, G. 42 f.
427
Le Breton, D. 72 Le Doux, J. 135 Lehmann, K. 412 Leibniz, G. W. 13, 214 – 217 Levi, P. 351 Levine, R. 72 Lewis, D. 276, 280, 290 List, C. 36, 87, 292, 339 Locke, J. 86, 94, 214 – 216, 256 f. Lohmann, G. 98 f. Löhrer, G. 9, 15, 313, 319, 321 – 323 Luckmann, T. 174, 399, 406 f. Lüdeke, R. 351 Lüderssen, K. 357 Ludwig, K. 67, 139, 173, 294 Luhmann, N. 3, 88, 301, 395 Lukács, G. 402 Lukian 337 – 339 Lukrez 90 Maaß, H. 16, 397 Maasen, S. 399 Macaulay, T. 273 Mackie, J. L. 58, 146 MacKinnon, J. E. 372, 377 Maibom, H. 143, 148 – 153 Malmgren, A.-S. 247, 250 Mandrella, I. 234 Mannheim, K. 16, 397, 399 – 411, 413 – 417 Markowitsch, H. 131 Marx, K. 72, 399 Matt, G. 214 May, L. 107 Mazuga, A. 392 f. McLaughlin, B. 314 Mead, G. H. 4, 223 Meinong, A. 48 Meixner, U. 214 Mele, A. R. 202, 207, 314, 319, 321 Meltzoff, A. N. 132 Menary, R. 37 Mercier, P. 180 Mertens, K. 1, 5, 13, 211, 227, 231, 259, 378 Miller, K. 3, 228, 315 Milo, R. D. 353, 361 – 363, 365 Montaigne, M. 334, 339, 412 Moon, D. 43
428
Personenindex
Morton, A. 351, 355 Moschytz-Ledgley, M. 372 Müller, A. 408 Müller, J. 1, 13, 58, 189, 191, 195 f., 200, 205, 233, 243, 259, 378 Murdoch, I. 359 Nagel, T. 65 Nassehi, A. 400 Neiman, S. 352 Nichols, S. 143 f., 146 – 148, 159, 161, 164 Nietzsche, F. 72, 399 Noё, A. 37 Nötzoldt-Linden, U. 338 f. Novalis 412, 415 Nozick, R. 11, 92 f., 97, 290 Nucci, L. 147 Nussbaum, M. C. 21, 70 f., 90, 93, 359 Nusser, K.-H. 109 Nygren, A. 87 Odysseus Ortony, A.
76, 208 f. 287, 294
Packard, S. 351 Paine, R. 347 Palmer, F. 359 Panksepp, J. 135 Parfit, D. 304 Paris, R. 12, 47, 114, 171, 175, 179 Paton, H. J. 340 Pauer-Studer, H. 287, 309, 358, 367, 369, 378 Paulus 221 Petersen, R. D. 43 Pettit, P. 5, 190, 236 – 238, 242 f., 287, 292, 305 f., 315, 317 f., 320 Pfänder, A. 228 Platon 85, 87, 89 f., 190 f., 334, 339, 412 Posner, R. 359, 387 Prinz, J. 21, 143, 147 f., 153, 155, 163 Putnam, H. 36 Pythagoras 216 Rapp, C. 2 Ratcliffe, M. 52 Rawls, J. 344
Rebentisch, J. 190 Reicher, S. 376 Reisenzein, R. 48 Richter, V. 351, 360, 362 f., 370, 374, 378 Rimé, B. 42 Rinofner-Kreidl, S. 11, 103 – 105, 113, 118 Roberts, R. C. 55 Rogers, C. R. 173 Rorty, A. O. 189, 204 Rorty, R. 73 Ross, W. D. 282 Roth, A. S. 316, 370, 373 Röttger-Rössler, B. 127 f. Roughley, N. 202 f., 206 Rousseau, J.-J. 4, 100 Rovane, C. 287 Rumfitt, I. 272 Russell, L. 354 Ryle, G. 5, 45, 271, 277, 279 Salice, A. 287 Salmela, M. 44, 55, 59 Sánchez Guerrero, H. 22, 29 Sandis, C. 320 Sartre, J. P. 184 Scanlon, T. 282 Schälike, J. 12, 143, 164 f., 200 Schechtman, M. 131 Scheler, M. 4, 6, 11, 22, 30, 44, 47, 56 f., 60, 114 f., 117, 120 f., 399, 401, 407, 416 Schelling, F. W. J. 13, 220 – 223 Scheve, C. von 44, 56 f. Schiller, F. 341 Schlink, B. 15, 351 f., 355 – 359, 363, 374, 377 f. Schmid, H. B. 2 f., 5, 14 f., 22, 29, 31, 44, 52, 57 f., 228, 257, 259, 287, 315 Schmitz, H. 6, 22, 37, 44, 65 f., 77 Schmitz, M. 287, 423 Schoeck, H. 108, 110 Scholl, W. 42 Schönecker, D. 152, 161 Schulz, C. 298, 300, 302, 307 Schütz, A. 174, 293 Schützeichel, R. 10, 41 – 43, 45, 53, 60 f., 399
Personenindex
Schweikard, D. 2 f., 14, 29, 58, 228, 245, 247, 251, 254, 257, 287, 315, 317 f., 320 Searle, J. 3, 16, 228, 288, 290 – 292, 298 f., 308, 313 – 315, 317, 320, 334 – 336, 339, 346, 382 – 386, 388 Sehon, S. 314, 319, 321 – 324, 328 Seidel, C. 378 Sellars, W. 7, 67 Sereny, G. 367, 374 f. Seyfert, R. 41 Shaftesbury, 3. Earl of 4 Sheffield, F. 90 Shweder, R. A. 163 Sier, K. 90 Simmel, G. 16, 43, 402, 406, 412 – 414, 416 Simner, M. 147 Singer, I. 81 Singer, P. 156, 164 f. Singer, T. 127, 132 Slaby, J. 37, 52 Slote, M. 143, 164 f. Smetana, J. 148, 152 Smith, A. 42 Smith, E. R. 58 f. Smith, M. 154 Smith, R. 105 Snell, B. 76 f. Snowden, P. 272 Soble, A. 81 Sofsky, W. 176, 179 Solomon, R. C. 21 Sombart, W. 406 Sophokles 208 Sosa, E. 248 Spinoza, B. de 223 Spitzer, M. 74 Stanley, J. 272, 383 Stein, E. 4, 6, 44, 95, 196 Steiner, H. 353, 378 Stemmer, P. 157, 159 Stets, J. 55 Stoecker, R. 7, 227, 233, 236 Stoutland, F 3, 235 f., 266 Stueber, K. 127, 136 Sugden, R. 22, 42 Sumner, W. G. 346
429
Tanney, J. 325 Taylor, C. 4, 73, 78, 238 Taylor, G. 93 Telfer, E. 333, 339 Teroni, F. 372 Theunissen, M. 176 Thomä, D. 81 Thomas von Aquin 219 Thorp, J. 193 Titchener, E. 127 Titelman, P. 104, 112 Tomasello, M. 137 Tönnies, F. 42, 239, 402, 406 Troeltsch, E. 402, 406 Tscherepanow, M. 131 Tsoory-Shamay, S. G. 132 Tuomela, R. 3, 58 f., 228, 287 f., 292 f., 296 – 299, 315 Turiel, E. 146 Unger, R.
412 f., 415 f.
Valentin, K. 217 Valéry, P. 392 van Hooft, S. 108 Velleman, J. D. 314 – 320, 358, 367, 378 Vendrell-Ferran, I. 35, 104 Vernon, M. 333, 339 Voss, C. 4 Waal, F. de 128 f. Waldenfels, B. 124, 390 Wallace, R. J. 5, 163 Walter, H. 127 Walther, G. 4, 22, 239 Wasserstrom, R. 341 Watson, G. 199 – 201, 207 Weber, M. 269, 399, 402, 404, 406, 408 Weingart, P. 398 f. Weiser, A. 16, 382, 387 – 390 Welzer, H. 131, 358 Widerker, D. 378 Williamson, T. 272 Wittgenstein, L. 8, 11, 67 – 69, 72, 84, 139, 219, 271, 385 Wolf, C. 211, 243, 378
430
Personenindex
Wolf, U. 189, 203 Wood, A. W. 152, 161 Xenophon
191
Zahn-Waxler, C. 147 Zangwill, N. 369, 371 Zimbardo, P. 375 f. Zimmermann, R. 360