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German Pages 655 [656] Year 1953
D I E
D E U T S C H E
T H O M A S - A U S G A B E
Vollständige,
ungekürzte
deutsch-lateinische
SUMMA
Ausgabe
der
THEOLOGICA
Übersetzt von DOMINIKA KERN
UND
DEUTSCHLANDS
BENEDIKTINERN
UND
ÖSTERREICHS
Herausgegeben von der ALBERTUS-MAGNUS-AKADEMIE WALBERBERG
BEI
KÖLN
Hauptschriftleiter: P. H E I N R I C H
M. C H R I S T M A N N OP
18.
BAND
1953
GEMEINSCHAFTSVERLAG F. II. K E R L E HEIDELBERG-MÜNCHEN
ANTO N P U STE T GRAZ-
WIEN-SALZBURG
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RECHT UND G E R E C H T I G K E I T K o m m e n t i e r t von A. F . U T Z OP
II — I I 57 — 7 9
1953
G E M E I N S (' II A F T S V K R L A G F. H. K E R L E HEIDELBERG-MÜNCHEN
ANTON
PUSTET
GRAZ-WIEN-SALZBURG
S ä m t l i c h e Rechte für die d e u t s c h e und l a t e i n i s c h e Sprache und Ausgabe vorbehalten C o p y r i g h t 1953 by V e r l a g A n t o n P u s t e t , G r a z W i e n - S a l z b u r g — F. H. K e r l e , H e i d e l b e r g - M ü n c h e n Das I m p r i m a t u r w u r d e e r t e i l t vom P r o v i n z i a l der n o r d d e u t s c h e n D o m i n i k a n e r p r o v i n z P. D r . W u n i b a l d M. B r a c h t h ä u s e r OP u n d d e m F ü r s t e r z b i s e h ö f l i c h e n O r d i n a r i a t zu S a l z b u r g
SCHRIFTLEITER-KOLLEGIUM H a u p t s c h r i f t l e i t e r P. H e i n r i c h M. C h r i s t m a n n OP, S. T h e o l . L e c t . — P. D r . E b e r h a r d W e l t y OP, R e g e n s d e r A l b e r t u s - M a g n u s - A k a d e m i e zu W a l b e r b e r g . — A r t h . F r i d o l i n U t z OP, U n i v . - P r o f e s s o r , Freiburg, S c h w e i z . — P. B e r n w a r d D i e t s c h e OP, S. T h e o l . L e c t . , W a l b e r b e r g bei Köln
MITARBEITER
DIESES
BANDES
Einleitung, Anmerkungen, Kommentar s e h r i e b A r t h . F r i d o l i n U t z OP. F ü r d i e
und Exkurse Übersetzung
z e i c h n e t P. H e i n r i c h M. C h r i s t m a n n OP. Die R e d a k t i o n des l a t e i n i s c h e n T e x t e s s o w i e die V e r z e i c h n i s s e b e s o r g t e n P. C ö l e s t i n M. D o r l ö c h t e r OP u n d H e i n r i c h Weyer in Gemeinschaftsarbeit. F ü r d i e A r i s t o t e l i c a z e i c h n e t Dr. E g e n o l f Röder F r e i h e r r von D i e r s b u r g
Einbandentwurf Druck:
von
Prof. Rudolf
Koch,
Universitäts-Buchdruckerei
Offenbach
„Styria",
Graz
EINLEITUNG
Der vorliegende Band überrascht wohl den modernen Leser durch die Reichhaltigkeit an Themen, die unter dem Sammelbegriff „Recht und Gerechtigkeit" zusammengefaßt werden. Thomas breitet hier eine Rechtsphilosophie aus, die sich mit vielen Einzelheiten des gesellschaftlichen Zusammenseins befaßt und die darum schon rein äußerlich in die Richtung weist, nach welcher alle Einzeltraktate eingestellt sind: in die Richtung des Naturrechts. Mit modernen Begriffen ausgedrückt: es handelt sich hier um eine „Rechtsphilosophie", eine „Gesellschafts- und Staatsphilosophie" und nicht zuletzt um eine „Wirtschaftsethik", wobei der Begriff der Wirtschaftsethik nicht etwa nur ein allgemein sittlich-gutes Verhalten in wirtschaftlichen Fragen besagen, sondern das Rechtsverhältnis ausdrücken will, das in der Wirtschaftsgesellschaft geltend sein soll. Es gibt kaum ein Thema dieses Bandes, das uns Moderne nicht zutiefst anspricht oder wenigstens aufhorchen läßt und zu intensiverem Studium anregen wird. Neben den grundsätzlichen Erörterungen über die Wesenheit des Rechts, seine Entstehung, seine völkerumfassende Spannweite, seine Beziehung zur Moral, vernehmen wir Wichtiges über die Grundrechte des Menschen, über das Recht auf Leben — in Verbindung damit über das Recht der Staatsgewalt, die Todesstrafe zu verhängen — und über das Recht auf körperliche Unversehrtheit, womit für uns das Problem der zwangsmäßigen Sterilisation aufgeworfen ist. Nicht zuletzt kommt auch das Recht auf Eigentum zur Sprache. Mit diesem letzten Fragenkomplex führt Thomas bereits ins Gebiet der Wirtschaftsethik ein. Hier sind es dann vor allem die mit dem Kapital und der Kapital-
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rendite, dem arbeitslosen Einkommen, zusammenhängenden Fragen, mit denen sich Thomas beschäftigt. In Wahrheit also eine Summe des Naturrechts als einer rechtlich friedlichen Regelung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung. Um nicht über all diese brennenden Gegenwartsfragen nur Allgemeines zu sagen, sei kurz auf die aktuelle Bedeutung zweier grundlegenden Erkenntnisse hingewiesen, die dem modernen Leser des vorliegenden Bandes als neu und unerwartet auffallen dürften und müßten: 1. die thomasische Begründung des Naturrechts,
die
durch die traditionelle Kommentierung manche Verschiebung, wenn nicht gar Verzeichnung erfahren hat; 2. die Rückorientierung der Eigentumslehre und der damit zusammenhängenden Probleme auf die altchristliche Tradition, die in der modernen wirtschaftsethischen Diskussion allzu leicht übersehen wird. 1. An Naturrechtslehrern hat es bis heute nicht gefehlt. Und auch an der Berufung auf Thomas von Aquin mangelt es nicht. Ob man sich aber jeweils der Tragweite feiner solchen Berufung auf Thomas bewußt war? So hoch auch die Lehre des hl. Thomas von den ewigen Normen des Rechts und von dem damit gegebenen erkenntnistheoretischen Standpunkt eines gemäßigten Realismus anzuschlagen ist, so wäre der menschlichen Gesellschaft damit noch nicht viel gedient, da diese Lehre allein rechtsphilosophisch nur ein Bruchstück wäre, utopisch, unbrauchbar für die Wirklichkeit.
Man redet eigentlich noch gar nicht vom
spezifisch thomasischen Naturrecht, solange man nur die ewig
geltenden
Normen
menschlichen
Zusammenseins
meint. Und der Kampf mit dem Rechtspositivismus wird von seiten der Scholastiker mit papiernen Waffen ausgefochten, solange sie einzig auf absolute Sittennormen für
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die Menschen pochen, aber nicht beweisen, daß diese Sittennormen zugleich auch Rechtsnormen im Sinne der Organisation des äußeren Lebens der Menschen untereinander sind, und dazu Rechtsnormen, die nicht nur ewig gelten, sondern vor allem hier und jetzt in dieser genau bestimmten Form. Die Rechtspositivisten haben darum immer den Finger auf den wunden Punkt der Naturrechtslehre vieler Scholastiker gelegt, indem sie Antwort verlangten auf
die
Frage: Auf welchem rechtslogischen Wege gelangt der Mensch zu dem i m k o n k r e t e n
Leben
geltenden
Naturrecht, nicht also nur zu irgendwelchen Naturrechtsnormen, sondern zu einem hier und jetzt geltenden natürlichen R e c h t ?
Wo ist das Organ, welches rechtserzeu-
gend die ewigen Normen in konkret geltendes
Recht
umformt? Den Rechtspositivisten von heute geht es wahrhaftig nicht eigentlich um die Leugnung ewiger Gewissensnormen, die unser Gemeinschaftsleben regeln sollen. Die moderne Soziologie beweist zur Genüge, daß das Rechtliche bei weitem nicht die einzige Kategorie ist, welche das gesellschaftliche Leben ordnet. Und alle Juristen sind sich darüber im klaren, daß isoliertes Recht die Gesellschaft nicht erhält, sondern ertötet, gemäß dem angeblichen Ausspruch Ferdinands I.: Fiat justitia, pereat mundus. Die absolute Notwendigkeit einer wenigstens einigermaßen standfesten Moral besagt noch lange nicht, daß die Moral schon eine Rechtskategorie sei.
Dem Modernen will es
nicht einleuchten, daß man hier das Gewissen in den rechtslogischen Prozeß, der von den Normen zum geltenden Recht führt, einschalten könne, zumal die Soziologie nachzuweisen glaubt, daß das Gewissen der Menschen keine einheitliche Struktur besitze. W. F r i e d m a n n macht in seinem Buch „An introduc-
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tion to world politics" (London 1951) die traurig stimmende, aber durchaus treffende Feststellung, daß dasselbe Individuum im politischen Raum mit einem ganz anderen Gewissen urteile, als es im persönlichen Leben zu tun gewohnt sei. Der duldsamste und nachsichtigste Privatmann kann als Politiker in der Verteidigung seiner nationalen Interessen über Menschenleben, über ganze Nationen hinwegschreiten! Mit wieviel spöttischer Verachtung spricht nicht oft genug der Christ von der andern Nation, während er sich sonst im persönlichen Leben um die christliche Nächstenliebe zu bemühen glaubt! Und was F r i e d m a n n vom Politiker auf internationaler Plattform sagt, das gilt entsprechend auch — leider! — im nationalen Raum, hier allerdings oft in umgekehrtem Verhältnis: Das Gewissen des einzelnen Menschen schreckt meistens noch (!) vor öffentlichen sittlichen Verbrechen zurück, während es im geheimen Winkel des privaten Lebens zu ähnlichen Untaten schon längst fähig und gewillt ist. Bei dieser Sachlage scheint es also unmöglich, das Gewissen als Richter über die rechtlich zu formulierende Moral anzurufen. Mit andern Worten: es fehlt an der rechtserzeugenden Kraft, welche die ewigen Normen menschlichen Handelns und menschlichen Zusammenseins in Form eines naturhaften Prozesses — denn dies wäre für ein wirkliches Naturrecht unumgänglich — auf die jeweilige Gegenwart anwendet. Solange es nicht möglich ist, diesen natürlichen Prozeß bis ins konkrete Recht hinein durchzuführen, verbleiben die Naturrechtsforderungen am Himmel der Ideen, die höchstens für eine Rechtspolitik, nicht aber für eine eigentliche Rechtserzeugung in Frage kommen. In der Ungewißheit, auf diese ernste Frage des Rechtspositivismus eine stichhaltige Antwort zu geben, haben sich eben die Scholastiker allzuoft mit der uner(8)
müdlichen Wiederholung der ewigen Gültigkeit des Naturrechts begnügt, ohne zu beweisen, daß dieses Recht gerade in diesem Augenblick und in dieser Situation nur in einmaliger Weise gelten kann. Hier ist eine ernste Besinnung auf die Naturrechtslehre des hl. Thomas gefordert, wie er sie w i r k l i c h vorgetragen hat, und nicht, wie sie als in seinem vermeintlichen „Geiste" von einigen Erklärern neueren und älteren Datums dargestellt wird. Diese genuin thomasische Naturrechtsauffassung ist gar wohl imstande, den soziologischen Befund einer Zeit mitaufzunehmen in die konkrete Formulierung eines wirklichen Naturrechts, nicht bloß eines an den ewigen natürlichen Sittennormen gemessenen positiven Rechts. Thomas vermag dies, weil er erstens das Recht — auch das Naturrecht — wirklich als einen k o n k r e t e n Inhalt erkennt, und weil es ihm zweitens gelungen ist, das Gewissen trotz aller menschlichen Dekadenz und Gewissensmißbildung im rechtslogischen Prozeß der Rechtserzeugung zu retten. Nach Thomas bedarf beispielsweise der Katalog der Menschenrechte zur konkreten Gültigkeit nicht unbedingt der positiven Anerkennung durch die jeweiligen Verfassungen der einzelnen Nationen (unter der Voraussetzung, daß die Menschenrechte der UNO dem eigentlichen Naturrecht entsprechen würden). Damit ist dann zugleich die Frage eines Kriegsverbrecherprozesses gelöst, mit der sich der Thomaskommentator V i c t o r i a ausdrücklich auseinandersetzt. 1 Weitere Ausführungen über 1 Vgl. die ausgezeichnete Einleitung von Paul Hadrossek zu: Francisco de Victoria, De Indis recenter inventis et de jure belli Hispanorum in Barbaros relectiones. Vorlesungen über die kürzlieh entdeckten Inder und das Hecht der Spanier zum Kriege gegen die Barbaren (1539). Lateinischer Text nebst deutscher Ubersetzung, herausgegeben von W. Schätzel, Tübingen 1952. Zur Deutung der Völkerrechtslehre Victorias durch Paul Hadrossek vergleiche meine Besprechung in POLITEIA. (Fribourg/Schweiz), Band IV, 1952, 2. Heft. Ich konnte auf diese bedeutende Veröffentlichung in meinem Kommentar nicht mehr zu sprechen kommen.
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diese Probleme können wir uns mit dem Hinweis auf den Kommentar zu Fr. 57 ersparen. 2. In der Eigentumsfrage sind wir heute durchweg der selbstverständlich scheinenden Anschauung, daß die Begründung des Eigentumsrechts des einzelnen Menschen in erster Linie auf dem individual-personalen Charakter des Menschen beruhe, so daß man von einem unabänderlichen „Naturrecht" des Einzelmenschen auf „sein" Eigentum redet. Wenngleich sich auch aus der thomasischen Eigentumslehre diese Schlußfolgerung bei folgerichtigem Weiterdenken der Naturrechtsauffassung des hl. Thomas e r g i b t , so hätte Thomas selbst diese Schlußfolgerung niemals von vornherein als philosophischen Grundsatz aufgestellt. Für ihn ergibt sich die Legitimierung des Rechts auf Privateigentum aus dem G e m e i n w o h l , ganz im Einklang mit der gesamten christlichen Tradition. Mit dieser Anschauung ist er, der „Aristoteliker", der auch in diesem Punkte beinahe alle Einzelheiten seinem philosophischen Lehrmeister verdankt, eben doch n i c h t Aristoteliker, sondern d e r a n d e r c h r i s t l i c h e n Ü b e r l i e f e r u n g geb i l d e t e T h e o l o g e . Dies hervorzuheben dürfte besonders wichtig sein, weil man gemeiniglich die Abhängigkeit des hl. Thomas von A r i s t o t e l e s allzusehr übertreibt. Der Geist und die Grundauffassung der thomasischen Eigentumslehre ist durchaus altchristlich, nicht aristotelisch. Ganz im Gegensatz hierzu haben die christlichen Liberalisten den aristotelischen Gedanken von einem apriorischen „Naturrecht" auf Privateigentum — nicht zwar als Gefolgsmänner des Stagyriten, sondern vielmehr des Individualismus des 19. Jahrhunderts — allzu leichtfertig und ohne Rückbesinnung auf den eigentlich christlich-logischen Weg, der in Wahrheit zu dieser Schlußfolgerung führen kann, das „Naturrecht" auf Privateigentum zur unumstöß
secundum absolutam sui rationem, sed secundum aliquid quia ex ipso consequitur: puta proprietas possessionum. Si enim consideretur iste ager absolute, non habet unde magis sit hujus quam illius: sed si consideretur quantum ad opportunitatem colendi et ad pacificum usum agri, secundum hoc habet quamdam commensurationem ad hoc quod sit unius non alterius, ut rit)üa2i patet per Philosophum in 2 Pol. [c. 5], Absolute autem apprehendere aliquid non solum convenit homini, sed etiam aliis animalibus. Et ideo jus quod dicitur naturale secundum primum modum, commune est nobis et aliis 1254 a 31* animalibus [cf. Pol. 1, 5]. „A jure autem naturali" sic dicto „recedit jus gentium", ut Jurisconsultus dicit [ib.] : „quia illud omnibus animalibus, hoc solum hominibus inter se commune est". Considerare autem aliquid comparando ad id quod ex ipso sequitur, est proprium rationis. Et ideo hoc quidem est naturale homini secundum rationem naturalem, quae hoc dietat. Et ideo dicit Gajus jurisconsultus [ib. 9] : „Quod naturalis ratio inter omnes homines constituit. id a pud omnes gente.s custoditur, vocaturque jus gentium." Et per hoc patet responsio ad primum.
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Z u 2. Daß dieser Mensch eher Sklave ist als ein anderer, 57, 4 hat, in sich betrachtet, keinen natürlichen Grund, sondern besteht nur auf Grund einer sich ergebenden Nützlichkeit, insoweit es diesem zukommt, von einem weiseren gelenkt zu werden, und jenem, daß ihm von einem solchen geholfen werde (Aristoteles). So ist die Knechtschaft, die zu dem Völkerrecht gehört, naturgegeben in der zweiten Weise, nicht in der ersten. Z u 3. Weil das, was zum Völkerrecht gehört, von der natürlichen Vernunft bestimmt wird — da es schon aus naheliegendem Grunde eine Angemessenheit aufweist —, daher kommt es, daß diese Dinge keine besondere Regelung nötig haben, sondern die natürliche Vernunft selbst es regelt, wie das aus dem [am Schluß der Antwort] angeführten Wort hervorgeht. 4. Muß man
Vaterrecht
ARTIKEL
und Herrschaftsrecht unterscheiden?
noch
besonders
1. Zur Gerechtigkeit gehört, „einem jeden zu geben, was sein ist" (Ambrosius). Das Recht aber ist Gegenstand der Gerechtigkeit. Also steht das Recht einem jeden gleicherem U A E S T I O 57, .
AD SECUNDUM dicendum quod hune hominem esse servuin, absolute considerando, magis quam alium, non habet rationem naturalem: 6ed solum secundum aliquam utilitatem consequentem, inquantum utile est huic quod regatur a sapientiori, et illi quod ab hoc juvetur, ut dicitur 1 Pol. [c. 6]. Et ideo servitus 1255 b 5 pertinens ad jus gentium est naturalis secundo modo, sed non primo. AD TERTIUM dicendum quod quia ea quae sunt juris gentium naturalis ratio dictat, puta ex propinquo habentia aequitatem; inde est quod non indigent aliqua speciali institutione, sed ipsa naturalis ratio ea instituit, ut dictum est in auctoritate inducta. ARTICULUS Utrum
IV
debeat specialiter distingui p a t e r n u m et d o m i n a t i v u m
jus
[Infra 58,7 ad 3; 2 d 44: 2,1; 3 d 9: 1,1 qa 4; Etil 5,11]
AD QUARTUM sic proceditur. Videtur quod non debeat specialiter distingui jus paternum et dominativum. Ad justitiam enim pertinet „reddere unieuique quod suum est"; ut dicit Ambrosius 1 de Officiis [c. 24]. Sed jus est objectum PL 16/57 A justitiae, sicut dictum est. Ergo jus ad unumquemque aequa-
13
T)7,4 weise zu. Und deshalb braucht man nicht noch besonders zu unterscheiden Vaterrecht und Herrschaftsrecht. 2. Die Regel für das Gerechte ist das Gesetz. Das Gesetz aber berücksichtigt das Gemeinwohl des Gemeinwesens und des Reiches (I—II 90, 2: Bd. 13); nicht aber berücksichtigt es das persönliche Gut eines Einzelnen oder einer Familie. Es darf also kein besonderes Herrschaftsoder Vaterrecht oder -gerechtes geben. Denn der Herr und der Vater gehören zum Hauswesen (Aristoteles). 3. Es gibt noch viele andere Unterschiede in den Stufengraden der Menschen; so zum Beispiel sind einige Krieger, einige Priester, einige Fürsten. Also ist auch für sie ein Sonderrecht festzusetzen. ANDERSEITS unterscheidet der Philosoph im Fünften der Ethik im besonderen vom bürgerlichen Recht das Herrschaftsrecht und das Vaterrecht und anderes dergleichen. ANTWORT: Von Recht oder Gerechten spricht man mit Beziehung auf ein anderes. Ein ,anderes' aber kann in doppelter Weise so heißen. Einmal das, was schlechthin ein anderes ist, wie das, was in jeder Beziehung unterschieden ist; wie das ersichtlich ist bei zwei Menschen, von denen der eine nicht unter dem anderen steht, sondern beide unter dem einen Oberhaupt des staatlichen Gemeinwesens. Und unter solchen gibt es dem Philosophen geQ U A Ii STIO 57, < liter pertinet. Et sic non debet distingui specialiter jus patris et domini. 2. PRAETEREA, ratio justi est lex, ut dictum est. Sed lex respicit commune bonum civitatis et regni, ut supra habitum est: non autem respicit bonum privatum unius personae, aut etiam unius familiae. Non ergo debet esse aliquod speciale jus vel justum dominativum vel paternum: cum dominus et 1253 b 5 pater pertineant ad domum, ut dicitur 1 Pol. [c. 3]. 3. PRAETEREA, multae aliae sunt differentiae graduum in hominibus: ut puta quod quidam sunt milites, quidam sacerdotes, quidam prineipes. Ergo ad eos debet aliquod speciale justum determinari. 1134b 8 SED CONTRA est quod Philosophus, 5 Eth. [c. 10], specialiter a justo politico distinguit dominativum et paternum, et alia hujusmodi. RESPONDEO dicendum quod jus, sive justum, dicitur per commensurationem ad alterum. Alterum autem potest dici 1054 b 23* dupliciter [cf. Metaph. 10, 3]. Uno modo, quod simpl'iciter est alterum, sicut quod est omnino distinetum: sicut apparet in duobus hominibus quorum unus non est sub altero, sed ambo sunt sub lino principe civitatis. Et inter tales, secundum Philo-
T4
maß das schlechthin Gerechte. — In anderer Weise spricht 57, i man von ,anderem' nicht schlechthin, sondern als von etwas, das ihm zugehört. Und in dieser Weise ist in den menschlichen Dingen der Sohn etwas, was dem Vater gehört, weil er gewissermaßen ein Teil seiner ist (Aristoteles); und der Knecht ist etwas, was dem Herrn gehört, weil er sein Werkzeug ist (Aristoteles). Und so ist das Verhältnis des Vaters zum Sohn nicht wie zu etwas schlechthin anderem aufzufassen; und deshalb gibt es dort kein schlechthin Gerechtes, sondern ein bestimmtes Gerechtes, nämlich das Vatergerechte. Aus demselben Grunde auch nicht zwischen Herrn und Knecht; sondern zwischen ihnen besteht das Herrschaftsgerechte. Die Gattin aber, obgleich sie etwas ist, das dem Manne gehört, weil sie sich zu ihm verhält als zu ihrem eigenen Leibe — wie das hervorgeht aus dem Apostel Eph 5, 28 —, ist doch von ihrem Manne mehr unterschieden als der Sohn vom Vater und der Knecht vom Herrn; denn sie wird in ein gewisses Gemeinschaftsleben, nämlich das der Ehe, hineingenommen. Deshalb gibt es, w i e der Philosoph sagt, zwischen Mann und Frau viel eher die Bewandtnis des Gerechten als zwischen Vater und Sohn oder zwischen Herrn und Knecht [7]. W e i l aber Mann und Frau eine unmittelbare Beziehung zur häuslichen Gemeinschaft haben (Aristoteles), deshalb besteht zwischen ihnen nicht schlechthin das bürgerliche Recht, sondern das Hausrecht. Q U A E S T 1 O 57,
!). =
RESPONDEO dicendum quod sicut objectum justitiae est aliquid aequale in rebus exterioribus, ita etiam objectum injustitiae est aliquid inaequale: prout scilicet alicui attribuitur plus vel minus quam sibi competat [cf. Eth. 5, 7]. Ad hoc läiibiB* autem objectum comparatur habitus injustitiae inediante proprio actu, qui vocatur „injustificatio". Potest ergo contingere quod qui facit injustum non est injustus, dupliciter. Uno modo, propter defectum comparationis operationis ad proprium objectum, quae quklem recipit speciiem et nomen ab objecto per se, non autem ab objecto per accidens. In his autem quae sunt propter finem, per se dicitur aliquid quod est intentum: per accidens autem quod est praeter intentionem. Et ideo si aliquis faciat aliquid quod est injustum non intendens injustum facere, puta cum hoc facit per ignorantiam, non existimans se injustum facere; tunc non facit injustum per se et formaliter loquendo, sed solum per accidens [cf. Eth. 5, 10], et 1136 a 17« quasi materialiter faciens id quod est injustum. E t 1 talis operatio non denominatur injustificatio. — Alio modo potest contingere propter defectum comparationis ipsius operationis ad habitum. Potest enim injustificatio procedere quandoque i P: linde.
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i
>9,2 einer Leidenschaft hervorgehen, z. B. aus Zorn oder Begierlichkeit; zuweilen aber aus einer [freien] Wahl, wenn nämlich das Unrechttun in sich Wohlgefallen erregt; und dann geht es im eigentlichen Sinne vom Gehaben aus, denn jedem Inhaber eines Gehabens ist an sich das genehm, was jenem Gehaben entspricht. — Unrechttun mit Absicht und aus [freier] Wahl also ist das Eigentümliche des Ungerechten, sofern ,Ungerechter' heißt, wer das Gehaben der Ungerechtigkeit hat. Unrechttun ohne Absicht oder aus Leidenschaft kann man jedoch auch ohne das Gehaben der Ungerechtigkeit. Z u 1. An sich und formell gefaßt, gibt der Gegenstand dem Gehaben seine Artbestimmtheit, nicht aber, sofern er nur ,dinglich' und als ,zufällig' aufgefaßt wird. Z u 2. Es kommt nicht leicht vor, daß einer mit [der] Absicht [, Unrecht zu tun,] irgendwem Unrecht tut, als etwas, was in sich selbst Vergnügen macht, und nicht um eines anderen [Zieles] willen. Das ist vielmehr für den bezeichnend, der das Gehaben [der Ungerechtigkeit] hat, wie der Philosoph ebendort sagt. Z u 3. Der Gegenstand der Maßhaltung ist nicht etwas, was im äußeren Leben festgelegt ist, wie der Gegenstand der Gerechtigkeit; sondern der Gegenstand der Maßhaltung, das heißt das Gemäßigte, wird nur gefaßt mit Rücksicht auf den Menschen selbst. Deshalb kann das, was QUAESTI O 59, =
quideni ex aliqua passione, puta irae vel concupiscentiae : quandoque autem ex electione, quando scilicet ipsa injustificatio per se placet; et tunc proprie procedit ab häbitu, quia unicuique habenti aliquein habitum est secundum se acceptum quod convenit illi habitui. — Facere ergo injustum ex inten1134a l* tione et electione est proprium injusti [cf. Eth. 5, 9], secundum quod injustus dicitur qui habet injustitiae habitum. Sed facere injustum praeter intentionem, vel ex passione, potest aliquis absque habitu injustitiae. AD PRIMUM ergo dicendum quod objectum per se et formaliter acceptum specificat habitum: non autem prout accipitur materialiter et per accidens. AD SECUNDUM dicendum quod non est facile cuicumquts facere injustum ex electione, quasi aliquid per se placens et non propter aliud, sed hoc proprium est habentis habitum, ut 1137 a 22 ibidem Philosophus dicit [Eth. 5, 10. 14]. 1134a 17 AD TERTIUM dicendum quod objectum temperantiae non est aliquid exterius constitutum, sicut objectum justitiae: sed objectum temperantiae, idest temperatum, accipitur solum in comparatione ad ipsum hominem. Et ideo quod est per accidens
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zufällig und unbeabsichtigt geschieht, nicht mäßig heißen, 59,3 weder dinglich noch formell; und ebenso nicht unmäßig. Und insoweit besteht keine Ähnlichkeit zwischen der Gerechtigkeit und den anderen sittlichen Tugenden. In bezug auf das Verhältnis der Handlung zum Gehaben aber ist es bei ihr ganz das gleiche wie bei den anderen. 3. A R T I K E L Kann einer willentlich Unrecht leiden? 1. Das Ungerechte ist das Unausgeglichene (Art. 2). So aber jemand sich selbst verletzt, entfernt er sich vom Ausgleich genau so, wie wenn er einen anderen verletzt. Also kann er sich selbst genau so gut Unrecht tun wie einem anderen. Wer immer aber Unrecht tut, tut es willentlich. Also kann einer willentlich Unrecht erleiden, am ehesten von sich selbst. 2. Keiner wird vom bürgerlichen Gesetz bestraft, es sei denn dafür, daß er eine Ungerechtigkeit begangen hat. Diejenigen aber, die sich selbst getötet haben, werden nach den Gesetzen der Gemeinwesen dadurch bestraft, daß sie in alter Zeit der Ehre des Begräbnisses beraubt wurden; wie das aus dem Philosophen im Fünften der Ethik erhellt. Also kann einer sich selbst Unrecht tun. Und so kommt es vor, daß einer willentlich Unrecht leidet. Q HAESTIO
58. »
et praeter intentionem non potest dici teniperatuni nec materialiter nec formaliter: et similiter neque intemperatum. Et quantum ad hoc est dissimile in justitia et in aliis virtutibus morali'bus. Sed quantum ad comparationem operationis ad habitum, in omnibus similiter se habet. ARTICULUS Utruin
aliquis
possit
pati
Iii in jus tum
volens
[Infrn 64,5; 66,4; Kth 5,14]
AD TERTIUM sie proceditur. Videtur quod aliquis possit pati injustum volens. Injustum est enim inaequale, ut dictum est. Sed aliquis laedendo seipsum recedit ab aequalitate, sicut et laedendo alium. Ergo aliquis potest sibi ipsi facere injustum, sicut et alteri. Sed quicumque facit injustum volens facit. Ergo aliquis volens potest pati injustum, maxime a seipso. 2. PRAETEREA, nullus secundum legem civilem punitur nisi propter hoc quod facit aliquam injustitiam. Sed illi qui interimunt seipsos puniuntur secundum leges civitatum, in hoc quod privabantur antiquitus honore sepulturae; ut patet per Philosophum 5 Eth. [c. 15]. Ergo aliquis potest sibi ipsi facere injustum. Et ita contingit quod aliquis injustum patiatur volens.
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H3g a i2
59,3
3. Keiner tut Unrecht, es sei denn einem, der dieses Unrecht leidet. Es kommt aber vor, daß einer jemandem Unrecht tut, der dieses Unrecht will; zum Beispiel, wenn er ihm eine Sache teurer verkauft, als sie wert ist. Also kommt es vor, daß einer willentlich Unrecht leidet. ANDERSEITS ist Unrecht leiden der Gegensatz von Unrecht tun. Keiner aber tut Unrecht, es sei denn willentlich. Also — in genauer Entsprechung —: keiner leidet Unrecht, es sei denn unwillentlich. ANTWORT: Es liegt im Begriff der Handlung, daß sie vom Handelnden ausgeht; im Begriff des Erleidens dagegen, daß es von einem anderen [auferlegt wird]; deshalb kann dasselbe in bezug auf dasselbe nicht zugleich handelnd und erleidend sein, wie es im Dritten und Fünften der Physik heißt. Der eigentliche Ursprungsgrund des Handelns bei den Menschen ist aber der Wille. Deshalb ,tut' der Mensch das im eigentlichen Sinne und ,an sich', was er willentlich tut; umgekehrt erleidet der Mensch das im eigentlichen Sinne, was er gegen seinen Willen erleidet; denn sofern er willens ist, liegt der Grund [des Handelns] in ihm selbst, und deshalb ist er, insoweit, mehr handelnd als leidend. Man muß also sagen, daß, an sich und formell gesprochen, keiner Unrecht tun kann, es sei denn willentlich, und keiner Unrecht leiden kann, es sei denn gegen seinen Willen. .Zufällig' aber und gleichsam ,äußerlich' betrach( J l ' A E S T I O 59, 3
2-2 a 23* 123 b 3*
201 a l» 256 b 20 1139 a 31* 433a 21*
3. PRAETEREA, nullus i'acit injustam nisi alicui patienti injustam. S e d contingit quod aliquis i'aciat injustum alicui hoc volenti: puta si vendat ei rem carius quam valeat. Ergo contingit aliquem volentem injustum pati. SED CONTRA est quod injustum pati oppositum est ei quod est injustum facere [cf. De Interpr. 13]. Sed nullus facit injustum nisi volens. Ergo, per oppositum |cJi. Top. 4, 3 j , nullus patitur injustum nisi nolens. RESPONDEO dicendum quod actio, de sui ratione, procedit ab agente; passio autem, secundum propriam rationem, est ab alio: unde non potest esse idem, secundum idem, agens et patiens, ut dicitur 3 [c. 1] et 8 [c. 5] Phys. Principium autem proprium agendi in hominibus est voluntas [cf. Eth. 6, 2; De An. 3, 10]. Et ideo illud proprie et per se liomo facit quod volens facit: et e contrario illud proprie homo patitur quod praeter voluntatem suam patitur; quia inquantum est volens, principium est ex ipso, et ideo, inquantum est hujusmodi, magis est agens quam patiens. Dicendum est ergo quod injustum, per se et formaliter loquendo, nullus potest facere nisi volens, nec pati nisi nolens. Per accidens autem et quasi materialiter loquendo, potest ali-
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tet, kann einer etwas, was an sich Unrecht ist, unwillent- 59, 3 lieh tun, wie wenn er etwas ohne Absicht tut; oder willentlich leiden, zum Beispiel, wenn einer dem andern freiwillig mehr gibt, als er ihm schuldet. Z u 1. Wenn einer einem anderen freiwillig gibt, was er ihm schuldet, so begeht er weder ein Unrecht noch setzt er eine Ungleichheit. Denn der Mensch besitzt die Dinge durch seinen Willen; und deshalb liegt es nicht außerhalb des rechten Verhältnisses, wenn ihm nach seinem eigenen Willen etwas abgezogen wird, sei es von ihm selbst, sei es von einem anderen. Z u 2. Eine Einzelperson kann doppelt aufgefaßt werden. Einmal an sich. Und so, wenn sie sich selbst Schaden zufügt, kann das zwar die Bewandtnis einer anderen Sünde haben, zum Beispiel der Unmäßigkeit oder der Unklugheit, nicht aber die Bewandtnis der Ungerechtigkeit; denn so wie die Gerechtigkeit immer [nur] mit Bezug auf den anderen gegeben ist, so auch die Ungerechtigkeit. — In anderer Weise kann ein einzelner Mensch betrachtet werden, sofern er etwas ist, was dem Gemeinwesen gehört, nämlich als Teil; oder insofern er etwas ist, was Gott gehört, nämlich als Sein Geschöpf und Sein Bild. Deshalb, wer sich tötet, begeht Unrecht, nicht zwar gegen sich selbst, aber gegen das Gemeinwesen und gegen Gott. Daher wird er auch bestraft, sowohl nach göttlichem wie nach menschlichem Recht; wie der Apostel vom Unzüchtigen sagt: Q U A E S T I 0 59, J
•quis id quod est de se injustum vel facere nolens, sicut cum quis praeter intentionem operatur; vel pati volens, sicut cum quis plus alteri dat sua voluntate quam debeat. AD PRIMUM ergo dicendum quod cum aliquis sua voluntate dat alicui id quod ei non debet, non facit nec injustitiam nec inaequalitatem. Homo enim per suam voluntatem possidet res: et ita non est praeter proportionem si aliquid ei 6ubtrahatur secundum propriam voluntatem, vel a seipso vel ab alio. AD SECUNDUM dicendum quod aliqua persona angularis dupliciter potest considerari. Uno modo, secundum se. Et sie, si sibi aliquod nocumentum inferat, potest quidem habere rationem alterius peccati, puta intemperantiae vel imprudentiae, non tarnen rationem injustitiae: quia sicut justitia Semper est ad alterum, ita et injustitia. — Alio modo potest considerari aliquis homo inquantum est aliquid civitatis, scilicet pars; vel inquantum est aliquid Dei, scilicet creatura et imago. Et sie qui occidit seipsum injuriam quidem facit non sibi, sed civitati •et Deo. Et ideo punitur tarn secundum legem divinam quam secundum legem humanam: sicut et de fornicatore Apostolus 5
18
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59, 4 „Wenn aber einer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören" [1 Kor 3, 17; vgl. Gn 9, 6]. Z u 3. Das Erleiden ist Wirkung einer äußeren Handlung. Beim Unrechttun oder -erleiden wird nun das, was dinglich daran ist, nach dem aufgefaßt, was äußerlich geschieht, sofern dies in sich betrachtet wird (Art. 2); das aber, was dort formgebend ist und an sich, wird aufgefaßt nach dem Willen des Handelnden oder des Erleidenden (Antw. und Art. 2). Es ist also zu sagen, daß, wenn der eine Unrecht tut, der andere Unrecht leidet, diese beiden, dinglich gesprochen, immer zusammengehen. Sprechen wir aber formell, so kann einer Unrecht tun und auch Unrecht beabsichtigen, und doch erleidet der andere kein Unrecht, weil er willentlich leidet. Und umgekehrt kann einer Unrecht leiden, wenn er das, was Unrecht ist, gegen seinen Willen erleidet; und doch tut der, der das Unrecht unwissentlich zufügt, nicht formell Unrecht, sondern nur dinglich. 4. A R T I K E L Begeht der, der Unrecht tut, eine Todsünde? 1. Die läßliche Sünde wird der Todsünde gegenübergestellt. Zuweilen aber ist es nur eine läßliche Sünde, wenn Q U A E S T I O 59, i
dicit: „Si quis templum Dei violaverit, disperdat ipsuni Deus". AD TERTIUM dicendum quod passio est effectus actionis 426 a 9* exterioris [cf. De An. 3, 2 ] . I n hoc a u t e m quod est facere et pati injustum, id quod est materialiter attenditur secundum id quod exterius agitur, prout in se consideratur, ut dictum est: id a u t e m quod est ibi formale et per se, attenditur secundum voluntatem agentis et patientis, ut ex dictis patet. Dicendum est ergo quod aliquem facere injustum, et alium pati injustum, materialiter loquendo, Semper se concomitantur. Sed si formaliter loquamur, potest aliquis facere injustum, intendens injustum f a c e r e : tarnen alius non patietur injustum, quia volens patietur. Et e converso potest aliquis pati injustum, si nolens id quod est injustum p a t i a t u r : et tarnen ille qui hoc facit ignorans, non faciet injustum formaliter, sed materialiter tantum. A R T I C U L U S IV Utrum
quicumque facit injustum m orta1ite r
peccet
[Infra 69,1; 70,4; 2 d 42: 1,4]
AD QUARTUM sie proceditur. Videtur quod non quicumq u e facit i n j u s t u m peccet mortaliter. Peccatum enim veniale mortali opponitur. Sed quandoque veniale peccatum est quod
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einer Unrecht tut; denn der Philosoph sagt im Fünften der 59,4 Ethik, wo er von denen spricht, die Unrechtes tun: „Wo immer man nicht nur i n Unwissenheit, sondern a u s Unwissenheit sündigt, handelt es sich um verzeihliche Dinge". Also begeht der, der Unrecht tut, keine Todsünde. 2. Wer in einer kleinen Sache Unrecht tut, weicht nur wenig von der rechteii Mitte ab. Das aber scheint erträglich zu sein und unter die kleineren Übel zu rechnen, wie das aus dem Philosophen im Zweiten der Ethik erhellt. Also begeht der, der Unrecht tut, keine Todsünde. 3. „Die Liebe ist die Mutter aller Tugenden" [Petrus Lombardus]; was zu ihr in Gegensatz steht, heißt Todsünde. Nun sind aber nicht alle Sünden, die den anderen Tugenden entgegengesetzt sind, Todsünden. Also ist auch Unrechttun nicht immer Todsünde. ANDERSEITS: Was immer gegen das Gesetz Gottes ist, ist Todsünde. Wer immer aber Unrecht tut, handelt gegen ein Gebot im Gesetze Gottes; denn entweder wird es auf Diebstahl zurückgeführt, oder auf Ehebruch, oder auf Mord, oder auf sonst etwas dergleichen, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird (Fr. 64 ff.). Demnach begeht jeder, der Unrecht tut, eine Todsünde. A N T W O R T : Wie oben ( I — I I 72, 5: Bd. 12), wo es sich um die Verschiedenheit der Sünden handelte, gesagt worden, ist Todsünde das, was der Liebe, durch welche die Q U A E S T I O 59, «
aliquis i'aciat injustum: dicit enim Philosophus 5 Eth. [c. 10], de injusta agentibus loquens: „Quicumque 1 non solum ignorantes, sed et propter ignorantiam peccant, venialia sunt". Ergo non quicumque facit injustum mortaliter peccat. 2. P R A E T E R E A , qui in aliquo parvo injustitiam facit, parum a medio declinat. Sed hoc videtur esse tolerabile, et inter minima malorum computandum: ut palet per Philosophum 2 Eth. [c. 9 ] . Non ergo quicumque facit injustum peccat mortaliter. 3. P R A E T E R E A , Caritas est „mater omnium virtutum", ex cujus contrarietate [cf. Metaph. 10, 4 ] aliquod peccatum dicitur mortale. Sed non omnia peccata opposita aliis virtutibus ßunt mortalia. Ergo etiam neque facere injustum Semper est peccatum mortale. SED C O N T R A , quidquid est contra legem Dei est peccatum mortale. Sed quicumque facit injustum facit contra praeceptum legis D e i : quia v e l reducitur ad furtum, vel ad adulterium, vel ad homicidium, vel ad aliquid hujusmodi, ut ex sequentibus patebit. Ergo quicumque facit injustum peccat mortaliter. RESPONDEO dicendum quod, sicut supra dictum est cum de diflerentia peccatorum ageretur, peccatum mortale est quod 1 L: Quaecumque.
5*
67
H36a6
lioöbis
I055a3*
59,4 Seele das Leben hat, entgegen ist. Jede Schädigung aber, die dem Nächsten zugefügt wird, widerspricht in sich der Liebe, die dazu treibt, dem anderen Gutes zu wollen. Da also die Ungerechtigkeit immer in einer Schädigung des anderen besteht, ist es offenbar, daß Unrechttun, seiner Gattung nach, Todsünde bedeutet. Z u 1. Das Wort des Philosophen ist zu verstehen von der Unwissenheit des Tatbestandes, die er „Unwissenheit der besonderen Umstände" nennt; diese verdient Verzeihung; nicht aber von der Unwissenheit des Rechtes, welche nicht entschuldigt. Wer aber unwissend Unrecht tut, tut es nur zufällig, wie oben (Art. 2) gesagt wurde. Zu 2. Wer in kleinen Dingen Unrecht tut, kommt an die volle Bewandtnis dessen, was Unrechttun heißt, nicht heran, sofern man annehmen kann, daß es nicht durchaus gegen den Willen dessen ist, dem es widerfährt; zum Beispiel, wenn einer einem anderen einen einzelnen Apfel oder etwas Ähnliches fortnimmt, wobei es wahrscheinlich ist, daß der andere damit keinen Schaden erleidet, noch auch, daß es diesem mißfällt. Z u 3. Die Sünden, die gegen die anderen Tugenden begangen werden, sind nicht immer zum Schaden eines anderen, sondern bringen eine Unordnung mit sich in bezug auf die menschlichen Leidenschaften. Es liegt daher nicht derselbe Grund vor. Q U A E S T I O 59, «
contrariatur caritati, per quam est animae vita. Omne autem nocumentum alteri illatum ex se caritati répugnât, quae movet ad volendum bonum alterius. Et ideo, cum injustitia semper consistât in nocumento alterius, manifestum est quod facere injustum ex genere suo est peccatum mortale. AD PRIMUM ergo dicendum quod verbum Philosophi inluob 31 telligitur de ignorantia facti, quam ipse vocat [Eth. 3, 2] „ignorantiam particuiarium circumstanuarum u , quae meretur veniam: non autem de ignorantia juris, quae non excusat. Qui autem ignorans facit injustum, non facit injustum nisi per accidens, ut supra dictum est. AD SECUNDUM dicendum quod ille qui in parvis facit injustitiam, deficit a perfecta ratione ejus quod est injustum facere, inquantum potest reputari non esse omnino contra voluntatem ejus qui hoc patitur: puta si auf erat aliquis alicui unum pomum vel aliquid tale, de quo probabile sit quod ille inde non laedatur, nec ei displiceat. AD TERTIUM dicendum quod peccata quae sunt contra alias virtutes non semper sunt in nocumentum alterius, 6ed important inordinationem quamdam circa passiones humanas. Unde non est similis ratio.
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60. F R A G E VON DER RECHTSPRECHUNG Darauf ist die Rechtsprechung zu betrachten. Dazu ergeben sich sechs Einzelfragen: 1. Ist die Rechtsprechung ein Akt der Gerechtigkeit? 2. Ist es erlaubt, Recht zu sprechen? 3. Darf man auf Verdachtsgründe hin Recht sprechen? 4. Müssen die Zweifel nach der günstigeren Seite hin gelöst werden? 5. Muß das Urteil immer den geschriebenen Gesetzen entsprechend erfolgen? 6. Wird das Urteil durch Anmaßung zum Fehlurteil? 1.
ARTIKEL
Ist die Rechtsprechung
ein Akt der
Gerechtigkeit?
1. Der Philosoph sagt im Ersten der Ethik: „Jeder beurteilt gut, was er erkennt"; und so scheint die Rechtsprechung zum Erkenntnisvermögen zu gehören. Die Erkenntniskraft aber wird durch die Klugheit vollendet. Also gehört die Rechtsprechung eher zur Klugheit als zur Gerechtigkeit, die im Willen ist (58, 4). 2. Der Apostel sagt 1 Kor 2, 15: „Der geistige [ = über-
QUAESTIO LX DE JUDICIO Deinde considerandum est de judicio. Et circa hoc quaeruntur sex: 1. Utrum judicium sit actus justitiae. — 2. Utrum sit licitum judicare. — 3. Utrum per suspiciones sit judicandum. — 4. Utrum dubia sint in meliorem partem interpretanda. — 5. Utrum judicium semper sit secundum leges scriptas proferendum. — 6. Utrum judicium per usurpationem pervertatur. Utrum
ARTICULUS I j u d i c i u m sit actus j u s t i t i a e [2 d 24: 1,1 ad 3]
AD PRIMUM sic proceditur. Videtur quod judicium non sit actus justitiae. Dicit enim Philosophus 1 Eth. [c. 1], quod I094 b27 „unusquisque bene judicat quae cognoscit": et sic judicium ad vim cognoscitivam pertinere videtur. Vis autem cognoscitiva per prudentiam perficitur [cf. Eth. 6. 5]. Ergo judicium magis mobil* pertinet ad prudentiam quam ad justitiam, quae est in volúntate, ut dictum est. 2. PRAETEREA, Apostolus dicil 1 ad Cor. 2: „Spiritualis
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60, l natürliche] Mensch beurteilt alles." Der Mensch wird aber vor allem ,geistig' durch die Tugend der Liebe, die „in unseren Herzen ausgegossen ist durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist" (Rom 5, 5). Also gehört die Rechtsprechung eher zur Liebe als zur Gerechtigkeit. 3. Zu jeder Tugend gehört das rechte Urteil bezüglich des eigenen Gegenstandsbereiches, denn „der Tugendhafte ist in den einzelnen Dingen Regel und Maß" (Aristoteles). Die Rechtsprechung gehört also nicht eher zur Gerechtigkeit als zu den anderen sittlichen Tugenden. 4. Die Rechtsprechung scheint ausschließlich Sache der Richter zu sein. Die Akte der Gerechtigkeit aber finden sich in allen Gerechten. Da also nicht nur die Richter gerecht sind, scheint es, daß die Rechtsprechung kein der Gerechtigkeit eigener Akt ist. ANDERSEITS heißt es im Psalm [94 (93), 15]: „ . . . bis die Gerechtigkeit sich zum Gerichte wendet". ANTWORT: Rechtsprechung bedeutet im eigentlichen Sinne den Akt des Richters, sofern er Richter ist. ,Richter' aber heißt soviel wie der ,Recht Sprechende'. Das Recht aber ist Gegenstand der Gerechtigkeit (57, 1). Rechtsprechung bedeutet also, nach der ersten Bedeutung des Namens, die Bestimmung und Umgrenzung des Gerechten oder des Rechtes. Daß aber einer in den Werken der Tugend etwas gut [ = richtig] bestimmt, kommt vom GehaQ U AE
s T I 0 60,
1
judicat omnia". Sed homo maxime eflicitur spiritualis per virtutem caritatis, quae „diffunditur in cordibus nostris per Spiritum Sanctum, qui datus est nobis", ut dicitur ¡Rom. 5. Ergo judicium magis pertinet ad caritatem quam ad justitiam. 3. PRAETEREA, ad unamquamque virtutem pertinet rectum judicium circa propriam materiam: quia „virtuosus in singulis est regula et mensura", secundum Philosophum, in libro Eth. 1113 a 32 [3, 6 ] . Non ergo judicium magis pertinet ad justitiam quam ad alias virtutes morales. 4. PRAETEREA, judicium videtur ad solos judices pertinere. Actus autem juetitiae invenitur in omnibus justis. Cum igitur non soli judices sint justi, videtur quod judicium non sit actus proprius justitiae. SED CONTRA est quod dicitur in Psalm.: „Quoadusque justitia convertatur in judicium". RESPONDEO dicendum quod judicium proprie noininat actum judicis inquantum est judex. Judex autem dicitur quasi „jus dicens". Jus autem est objectum justitiae, ut supra habitum est. Et ideo judicium importat, secundum primam nominis impositionem, definitionem vel determinationem justi sive juris. Quod autem aliquis bene definiat aliquid in operibus virtuosis proprie procedit ex habitu virtutis: sicut castus recte
70
ben der Tugend; so bestimmt der Keusche das richtig, was 60, 1 zur Keuschheit gehört. Also gehört die Rechtsprechung, die nichts anderes ist als die richtige Bestimmung dessen, was gerecht ist, zur Gerechtigkeit. Deshalb sagt der Philosoph im Fünften der Ethik: Die Menschen „nehmen zum Richter ihre Zuflucht wie zu einer lebendigen Gerechtigkeit". Zu 1. Der Ausdruck Rechtsprechung', der nach seiner ersten Bedeutung die richtige Bestimmung dessen besagt, was gerecht ist, ist in seiner Bedeutung erweitert worden zur Bezeichnung der richtigen Bestimmung irgendwelcher anderen Dinge, sowohl im Bereich des reinen Denkens wie in dem Bereich des Tuns. Überall aber sind zur richtigen Rechtsprechung zwei Dinge erfordert. Das erste der beiden ist die Kraft, die das Urteil spricht. Und so ist das Urteil ein Akt der Vernunft: Sprechen oder etwas bestimmen ist nämlich Sache der Vernunft. Das andere aber ist die Ausrüstung des Richtenden, auf Grund deren er die Eignung besitzt, richtig zu urteilen. In den Dingen also, die zur Gerechtigkeit gehören, geht die Rechtsprechung hervor aus der [Tugend der] Gerechtigkeit; so wie in den Dingen, die zur Tapferkeit gehören, aus der Tapferkeit. So ist also die Rechtsprechung ein Akt der Gerechtigkeit, als derjenigen [Tugend], welche die Neigung verleiht zum richtigen Urteilen; [ein Akt] der Klugheit jedoch als derjenigen, die das Urteil ausspricht. Deshalb heißt auch die Q U A E S T I O 60, 1
determinai ea quae pertinent ad castitatem. Et ideo judicium, quod importai rectam determinationem ejus quod est justum, proprie pertinet ad justitiam. Propter quod Philosophus dicit 5 Eth. [c. 7 ] , quod homines „ad judicem confugiunt sicut ad H32a20 quamdam justitiam animatam". AD PRIMUM ergo dicendum quod nomen judicii, quod secundum primam impositionem significai rectam derterminationem justorum, ampliatum est ad significandum rectam determinationem in quibuscumque rebus, tam in speculativis quam in practicis. In omnibus tamen ad rectum judicium duo requiruntur. Quorum unum est ipsa virtus proferens judicium. Et sic judicium est actus rationis: dicere enim vel definire aliquid rationis est [cf. Eth. 6, 2 et Metaph. 7, 15]. Aliud est H39aii* autem dispositio judicantis, ex qua habet idoneitatem ad recte 1039 b 31* judicandum. Et sic in his quae ad justitiam pertinent judicium procedit ex justitia: sicut et in his quae ad fortitudinem pertinent e x fortitudine. Sic ergo judicium est quidam actus justitiae sicut inclinantis ad recte judicandum: prudentiae autem sicut judicium proferentis. Unde et synesis, ad pru-
71
60, i Verständigkeit, die zur Klugheit gehört, eine Kraft, die „zutreffend zu urteilen weiß" (51, 3: Bd. 17). Z u 2. Der geistliche' Mensch [13] besitzt aus dem Gehaben der [göttlichen] Liebe heraus eine Neigung, über alles richtig zu urteilen nach den göttlichen Regeln, nach denen er durch die Gabe der Weisheit das Urteil spricht; wie der Gerechte durch die Tugend der Klugheit das Urteil spricht nach den Regeln des Rechtes. Z u 3. Die anderen Tugenden ordnen den Menschen in sich selbst, die Gerechtigkeit aber ordnet die Beziehung des Menschen zum anderen (58, 2). Der Mensch aber ist Herr über das, was ihm gehört, nicht aber über das, was zum anderen gehört. In den Dingen also, die in den Bereich der anderen Tugenden gehören, ist lediglich das Urteil des tugendhaften Menschen verlangt, allerdings in der erweiterten Bedeutung des Ausdrucks ,Urteil' (Zu 1). In den Dingen aber, die in den Bereich der Gerechtigkeit gehören, ist darüber hinaus das Urteil eines Höheren verlangt, „der beide zurechtweisen und seine Hand auf beide legen darf" [Job 9, 33]. Und deshalb gehört die Rechtsprechung eigentlicher zur Gerechtigkeit als zu irgendeiner anderen Tugend. Z u 4. Die Gerechtigkeit ist im Fürsten als führende Tugend, gleichsam befehlend und vorschreibend, was gerecht ist. In den Untergebenen aber ist sie als ausführende Q U A E S T I O 60, 1
dentiam pertinens, dicitur „bene judicativa", ut supra habitum est. AD SECUNDUM dicendum quod homo spiritualis ex habitu caritatis habet inclinationem ad recte judicandum de omnibus secundum regulas divinas, ex quibus judicium per donum sapientiae pronuntiat: sicut justus per virtutem prudentiae pronuntiat judicium ex regulis juris. AD TERTIUM dicendum quod aliae virtutes ordinant hominem in seipso, sed justitia ordinat hominem ad alium, ut ex dictie patet. Homo autem est dominus eorum quae ad ipsum pertinent, non autem est dominus eorum quae ad alium pertinent. Et ideo in his quae sunt secundum alias virtutes non requiritur nisi judicium virtuosi, extenso tamen nomine judicii, ut dictum est. Sed in his quae pertinent ad justitiam requiritur ulterius judicium alicujus superioris, „qui utrumque valeat arguere, et ponere manum suam in ambobus". Et propter hoc judicium specialius pertinet ad justitiam quam ad aliquam aliam virtutem. AD QUARTUM dicendum quod justitia quidem in principe 1260 a 17 est sicut virtus architectonica [cf. Pol. 1, 13], quasi imperans et praecipiens quod justum est: in subditis autem est tanquam
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und dienende Tugend. Und so gehört die Rechtsprechung, 60,2 weil sie die Bestimmung des Gerechten bedeutet, zur Gerechtigkeit, sofern sie vornehmer im Oberhaupt ist. 2. A R T I K E L Ist es erlaubt, Recht zu
sprechen?
1. Strafe wird nur verhängt f ü r Unerlaubtes. Dem Richtenden aber droht Strafe, der die nicht Richtenden entgehen; nach Mt 7, 1: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet". Also ist Rechtsprechen unerlaubt. 2. Rom 14, 4 heißt es: „Wer bist du, der du einen fremden Diener richtest? Er steht oder fällt seinem eigenen Herrn." Der Herr aller Herren aber ist Gott. Also ist es keinem Menschen erlaubt zu richten. 3. Kein Mensch ist ohne Sünde; nach 1 Jo 1, 8: „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, täuschen wir uns selbst". Dem Sünder aber ist es nicht erlaubt zu richten; nach Rom 2, 1: „Darum bist du unentschuldbar, o Mensch, jeder, der du richtest. Denn worin du über den anderen zu Gericht sitzest, darin verurteilst du dich selbst; denn du tust gerade das, was du verurteilst." Also ist es keinem erlaubt zu richten. ANDERSEITS heißt es Dt 16, 18: „Innerhalb aller deiQ U A E S T I 0 60, i
virtus executiva et ministrans. Et ideo judicium, quod importat deflnitionem justi, pertinet ad justitiam secundum quod est principaliori modo in praesidente.
Utrum
ARTICULUS
II
sit
judicare
licitum
[ I I I 59,1; C I 21; R o m 2,1; 14,1; 1 Cor 4,1]
AD SECUNDUM sie proceditur. Videtur quod non sit licitum judicare. Non enim infligitur poena nisi pro illicito. Scd judicantibus imminet poena, quam non judicantes efiugiunt: 6ecundum illud Matth. 7: „Nolite judicare, ut non judicemini". Ergo judicare est illicituni. 2. PRAETEREA, Rom. 14 dicitur: „Tu quis es, qui judicas alienum servum? Suo domino stat aut cadit". Dominus autem omnium Deus est. Ergo nulli homini licet judicare. 3. PRAETEREA, nullus homo est sine peccato: secundum illud 1 Joan. 1: „Si dixerimus quia peccatum non habemus, nosipsos sedueimus". Sed peceanti non licet judicare: secundum illud Rom. 2: „Inexcusabilis es, o homo omnis qui judicas: in quo enim alterum judicas, teipsum condemnas; eadem enim agis quae judicas". Ergo nulli est licitum judicare. SED CONTRA est quod dicitur Deut. 16: „Judices et magietros 6
18
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60,2 ner Tore sollst du Richter und Vorsteher einsetzen, damit sie das Volk mit gerechtem Gerichte richten." ANTWORT: Rechtsprechen ist soweit erlaubt, als es Akt der Gerechtigkeit ist. Wie aus dem Vorhergehenden (Art. 1 Zu 1 und 3) erhellt, sind aber dazu, daß die Rechtsprechung ein Akt der Gerechtigkeit sei, drei Stücke erforderlich. Und zwar erstens, daß sie hervorgeht aus der Neigung der Gerechtigkeit; zweitens, daß sie hervorgeht aus der Vollmacht des Oberhauptes; drittens, daß sie geschehe nach der rechten Vernunft der Klugheit. Sobald eines dieser drei Stücke fehlt, ist die Rechtsprechung verfehlt und unerlaubt. Einmal, wenn sie erfolgt gegen die Rechtheit der Gerechtigkeit, und so heißt das Urteil ,fehl' oder ,ungerecht'. Sodann, wenn der Mensch in Dingen Recht spricht, in denen er keine Befugnis hat; und so spricht man von einem ,angemaßten Urteil'. Drittens, wenn die Gewißheit der Vernunft fehlt, zum Beispiel, wenn einer über das, was zweifelhaft oder verborgen ist, auf Grund einiger leichter Mutmaßungen urteilt; und dann spricht man von einem ,unsicheren' oder freventlichen' Urteil. Z u 1. Der Herr verbietet dort das freventliche Urteil über die Absicht des Herzens oder sonst unsichere Dinge (Augustinus). — Oder er verbietet dort das Urteil über die göttlichen Dinge, über die wir, da sie uns übersteigen, nicht urteilen dürfen, die wir vielmehr schlechthin glauQUAESTI0
60, !
constitues in omnibus portis tuis, ut judicent populum justo judicio". RESPONDEO dicendum quod judicium intantum est licitum inquantum est justitiae actus. Sicut autem ex praedictis patet, ad hoc quod judicium sit actus justitiae tria requiruntur: primo quidem, ut procedat ex inclinatione justitiae; secundo, quod procedat ex auctoritate praesidentis; tertio, quod proferatur secundum rectam rationem prudentiae. Quodcuinque autem horum defuerit, est judicium vitiosum et illicitum. Uno quidem modo, quando est contra rectitudinem justitiae: et sie dicitur judicium „perversum" vel „injustam". Alio modo, quando homo judicat in his in quibus non habet auetoritatem : et sie dieitur judicium „usurpatum". Tertio modo, quando deest certitudo rationis, puta cum aliquis de his judicat quae sunt dubia vel occulta per aliquas leves conjecturas: et sie dicitur judicium „suspiciosum" vel „temerarium". AD PRIMUM ergo dicendum quod Dominus ibi prohibet judicium temerarium, quod est de intentione cordis vel de aliis incertis: ut Augustinus dicit, in libro de Serm. Dom. in Monte PL [lib. '2, 18]. — Vel prohibet judicium de rebus divinis, de qui34/1297 A c u m S U p r a n 0 g 5 n o n debemus judicare, sed simpliciter
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ben müssen (Hilarius). — Oder er verbietet das Urteil, 60,2 das nicht aus Wohlwollen, sondern aus der Bitterkeit der Seele geboren ist (Chrysostomus). Z u 2. Der Richter wird eingesetzt als Diener Gottes. Deshalb heißt es Dt 1, 16: „Richtet, was recht ist"; und später [v. 1 7 ] : „Denn Gottes ist das Gericht." Z u 3. Diejenigen, die in schweren Sünden sind, sollen die nicht richten, die in den gleichen oder in weniger schweren Sünden sind, wie Chrysostomus zu Mt 7, 1: „Richtet n i c h t . . . " erklärt. Das ist vor allem zu verstehen für den Fall, daß jene Sünden öffentlich bekannt sind; denn daraus entsteht Ärgernis in den Herzen der anderen. Sind sie aber nicht öffentlich, sondern geheim, und liegt des Amtes wegen eine Notwendigkeit vor, Recht zu sprechen, kann er [der Richter] in Demut und Furcht, sei es zurechtweisen, sei es richten. Deshalb sagt Augustinus: „Wenn wir finden, daß wir in demselben Fehler befangen sind, mögen wir seufzen und uns aufmuntern, miteinander zu überwinden." — Doch richtet der Mensch sich deswegen nicht selbst, indem er etwa eine neue Verurteilung verdiente; sondern, indem er den anderen verurteilt, erweist er sich [nur] im selben Sinne verdammungswürdig wegen derselben oder einer ähnlichen Sünde. Q U A E S X I O 60, !
ea credere: ut Hilarius dicit, super Matth, [c. 5 ] . — Vel prohibet judicium quod non sit e x benevolentia, sed e x animi amaritudine: ut Chrysostomus dicit [Op. Imperii, in Matth, hom. 17]. AD SECUNDUM dicendum quod judex constituitur ut minister Dei. Unde dicitur Deut. 1: „Quod justum est judicate"; et postea subdit: „Quia Dei est judicium". AD TERTIUM dicendum quod Uli qui sunt in gravibus peccati« non debent judicare eos qui sunt in eisdem peccatis vel minoribus: ut Chrysostomus dicit [In Matth., hom. 2 3 ] , super illud Matth. 7, „Nolite judicare". Et praecipue est hoc intelligendum quando ilia peccata sunt publica: quia e x hoc generatur scandalum in cordibus aliorum. Si autem non sunt publica, sed occulta, et necessitas judicandi immineat propter officium, potest cum humilitate et timore vel arguere vel judicare. Unde Augustinus dicit, in libro de Serm. Dom. in Monte [lib. 2, 19] : „Si invenerimus nos in eodem vitio esse, congemiscamus, et ad pariter conandum invitemus." — Nec propter hoc homo sic seipsum condemnat ut novum condemnationis meritum sibi acquirat: sed quia, condemnans alium, ostendit se similiter condeinnabilem esse, propter idem peccatum vel simile.
6*
75
PL 9/950 B PG 56/725 A
PG 57/310 B
PL 43/1992 A
3. A R T I K E L Ist ein Urteil,
das auf bloßem Verdacht beruht, unerlaubt?
[Argwohn]
1. Argwöhnischer Verdacht scheint eine unsichere Meinung über etwas Böses zu sein; deshalb nimmt der Philosoph im Sechsten der Ethik an, daß der Verdacht sowohl wahr wie falsch sein kann. Über die zufälligen Ereignisse läßt sich aber nur eine unsichere Meinung bilden. Da also das menschliche Urteil sich auf menschliche Handlungen bezieht, die sich im Bereich des Einzelnen und Zufälligen bewegen, scheint es überhaupt kein erlaubtes Urteil zu geben, wenn es unerlaubt sein soll, auf Verdacht hin zu urteilen. 2. Durch ein unerlaubtes Urteil begeht man ein Unrecht gegen den Nächsten. Nun besteht aber ein böser Verdacht lediglich in der Meinung des Menschen, und so scheint er nichts mit Beleidigung des anderen zu tun zu haben. Also ist ein Urteil auf Verdacht hin nicht unerlaubt. 3. Wenn es unerlaubt ist, muß es auf Ungerechtigkeit zurückgeführt werden; denn richten ist ein Akt der Gerechtigkeit (Art. 1). Ungerechtigkeit aber ist seiner Gattung nach immer Todsünde (59, 4). Demnach wäre das Q U A E S T I O 60, j
ARTICULUS Utrum
III
J u d i c i u m ex s u s p i c i o n e sit illicitum
procedens
[Qlb XII, 22,2]
AD TERTIUM sic proceditur. Videtur quod judicium ex suspicione procedens non sit illicitum. Suspicio enim videtur esse opinio incerta de aliquo malo: unde et Philosophus 6 Eth. 1139 b 17 [c. 3] ponit quod suspicio se habet ad verum et ad falsum. Sed de singularibus contingentibus non potest haberi opinio 1026 b 3 nisi incerta [cf. Metaph. 6, 2], Cum igitur judicium humanuni sit circa humanos actus, qui sunt in singularibus et contingentibus, videtur quod nullum judicium esset licitum, si ex suspicione judicare non liceret. 2. PRAETEREA, per judicium illicitum fit aliqua injuria proximo. Sed suspicio mala in sola opinione hominis consistit, et sic non videtur ad injuriam alterius pertinere. Ergo suspicionis judicium non est illicitum. 3. PRAETEREA, si sit illicitum, oportet quod ad injustitiam 1 reducatur: quia judicium est actus justitiae, ut dictum est. Sed injustitia ex suo genere semper est peccatum mortale, ut supra 1 P:
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justitiam.
Urteil, das sich auf [bloßen] Verdacht gründet, immer 60,3 Todsünde, wenn es unerlaubt wäre. Das ist aber falsch; denn „wir können den Verdacht gar nicht vermeiden", wie die Glosse des hl. Augustinus sagt zu 1 Kor 4, 5 : „Wollet nicht vor der Zeit urteilen". Also scheint ein Urteil, das sich auf [bloßen] Verdacht gründet, nicht unerlaubt zu sein. ANDERSEITS sagt Chrysostomus zu Mt 7, 1 ,Richtet nicht usw.': „Der Herr verbietet den Christen mit diesem Befehl nicht, aus Wohlwollen andere zurechtzuweisen; sondern daß sie aus Einbildung auf ihre Gerechtigkeit als Christen die anderen Christen verachten, indem sie meist auf bloße Verdachtsgründe hin die anderen hassen und verurteilen." ANTWORT: Wie Cicero sagt, besagt der Argwohn einen Verdacht auf etwas Böses auf Grund von geringfügigen Anzeichen. Und das geschieht aus drei Gründen. Einmal daraus, daß einer in sich selbst böse ist, und eben daraus, gleichsam aus seinem schlechten Gewissen heraus, auch bei anderen sehr leicht Böses vermutet; nach Prd 10, 3: „Wenn der Tor unterwegs ist, hält er, da er selbst ein Tor ist, alle für Toren". — In anderer Weise kommt das daher, daß er [der Richter] irgendwie gegen den anderen eingenommen ist. Wenn nämlich einer den anderen verachtet oder haßt oder einen Zorn oder Neid auf ihn hat, Q U A E S T I 0 60, s
habitum est. Ergo suspicionis Judicium Semper esset peccatum mortale, si esset illicitum. Sed hoc est falsum: quia „suspiciones vitare non possumus", ut dicit Glossa [ord. et Lomb.] Augustini 1 p L super illud 1 ad Cor. 4 : „Nolite ante tempus judicare". Ergo l ! ) 1 / l 5 ( i 6 B Judicium suspiciosum non videtur esse illicitum. SED CONTRA est quod Chrysostomus, super illud Matth. 7 : ,Nolite judicare' etc., dicit [Op. Imperf. in Matth, hom. 1 7 ] : PG „Dominus hoc mandato non prohibet Christianos ex benevolen- B 6 / 7 2 5 A tia alios corripere: sed ne per jactantiam suae justitiae Christiani Christianos despiciant, ex solis plerumque suspicionibus odientes ceteros et condemnantes." RiESPONDEO dicendum quod, ßicut Tullius * dicit, suspicio importat opinionem mali quando ex levibus indiciis procedit. Et contingit e x tribus. Uno quidem modo, e x hoc quod aliquis in seipso malus est, et ex hoc ipso, quasi conscius suae malitiae, faciliter de aliis malum opinatur: secundum illud Eccles. 10: „In via stultus ambulans, cum ipse sit insipiens. omnes stultos aeetimat". — Alio modo provenit ex hoc quod aliquis male afficitur ad alterum. Cum enim aliquis contemnit vel odit aliquem, 1 cf. Aug., In Ioan. tr. 90 (PI. 35/1859 C). 2 cf. Alex. Hai., Sum. Theol. II—II n. 355 (QR III/362); vide Cicero.
Tuscul. 4,7.
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60, 3 so vermutet er aus geringen Anzeichen Böses bei ihm; denn jeder glaubt gern, was er wünscht. — Drittens kommt das aus einer langen Erfahrung; deshalb sagt der Philosoph im Zweiten der Redekunst: „Die Greise sind am meisten argwöhnisch, weil sie so oft das Versagen der anderen erlebt haben." Die ersten beiden Ursachen des Argwohns beweisen offenbar eine Verkehrtheit des Willens. Die dritte aber mindert die Bewandtnis des Argwohns, insofern die Erfahrung ein Hilfsmittel der Gewißheit ist, die der Eigenheit des Argwohns entgegengesetzt ist. Deshalb bedeutet der Argwohn ein Laster, und je mehr er sich vertieft, um so mehr ist er ein Laster. Es gibt aber drei Grade des Argwohns. Der erste besteht darin, daß der Mensch aus leichten Anzeichen an der Gutheit des anderen zu zweifeln beginnt. Und das ist eine läßliche oder leichte Sünde, denn „es gehört nun einmal zur menschlichen Versuchung, ohne welche dieses Leben nicht gelebt wird", wie die Glosse sagt zu 1 Kor 4, 5: „Wollet nicht vor der Zeit urteilen". — Der zweite Grad liegt dann vor, wenn einer die Bosheit des anderen aus leichten Anzeichen mit Sicherheit annimmt. Handelt es sich dabei um eine schwere Verfehlung, so ist das Todsünde, weil es nicht ohne Verachtung des Nächsten abgeht; weshalb die Glosse ebendort beifügt: „Wenn wir deshalb Q U A E S T I O 60, > aut irascitur v e l invidet ei, e x levibus signis opinatur mala de ipso: quia unusquisque faciliter credit quod appétit. •— T e r t i o modo p r o v e n i t e x longa e x p e r i e n t i a : unde Philosophus dicit 1389 b 21 2 Rhet. [c. 1 3 ] , q u o d „ s e n e s sunt m a x i m e suspiciosi, quia multoties e x p e r t i sunt aliorum defectus". P r i m a e a u t e m d u a e suspicionis causae manifeste pertinent ad p e r v e r s i t a t e m affectus. T e r t i a v e r o causa diminuit rationem suspicionis: inquantum e x p e r i e n t i a ad certitudinem proficit, quae est contra rationem suspicionis. Et i d e o suspicio Vitium quoddam i m p o r t â t : et quanto magis procedit suspicio, tanto magia est vitiosum. Est autem t r i p l e x gradus suspicionis. P r i m u s q u i d e m gradus est ut homo e x levibus indiciis de bonitate alicujus dubitare incipiat. Et hoc est v e n i a l e et l e v e peccatimi : „ p o r t i n e t " enim ..ad tentationem humanam, sine qua vita ista non ducitur", ut habePL tur in Glossa super illud 1 ad Cor. 4 : „ N o l i t e ante tempus judi191/1566 A c a r e " . — Secundus g r a d u s est cum aliquds p r o certo malitiam 35/1859 C alterius aestimat e x levibus indiciis. Et hoc, si sit de aliquo g r a v i , est peccatum mortale, inquantum non est sine contemptu PL p r o x i m i : unde Glossa i b i d e m subdit: „Etsi e r g o suspicionis v i 191/1566 B 35/1859 C
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auch nicht allen Argwohn meiden können, weil wir Men- 60,3 sehen sind, so müssen wir doch das Urteil, das heißt den endgültigen und festen Richterspruch, hintanhalten". — Der dritte Grad ist dann gegeben, wenn ein Richter aus bloßem Verdacht heraus zur Verurteilung eines Menschen schreitet. Und das gehört direkt in den Bereich der Ungerechtigkeit und ist deshalb Todsünde. Z u 1. Bei den menschlichen Handlungen gibt es eine gewisse Sicherheit, nicht zwar wie bei den Dingen, die streng bewiesen werden können, sondern so wie es diesem bestimmten Bereich entspricht, zum Beispiel, wenn etwas durch geeignete Zeugen bewiesen wird. Z u 2. Schon dadurch, daß einer vom anderen ohne genügende Ursache eine schlechte Meinung hat, verachtet er ihn zu Unrecht. Also beleidigt er ihn damit. Z u 3. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben es mit den äußeren Handlungen zu tun (58, 5. 10. 11; 59, 1 Zu 3). Deshalb gehört das Urteil, das sich auf bloßen Verdacht stützt, unmittelbar in den Bereich der Ungerechtigkeit, sobald es in einer äußeren Handlung wirksam wird. Und dann ist es Todsünde (Antw.). Das innere Urteil aber gehört in den Bereich der Gerechtigkeit, sofern es zum äußeren Urteilsspruch in Beziehung steht als innerer Akt zum äußeren; wie die Begierde zur Unzucht und der Zorn zum Mord. Q D A E S T I 0 60, a
tare non possumus, quia homines sumus, judicia tamen, idest definitivas flrmasque sententias, continere debemus." •— Tertius gradus est cum aliquis judex ex suspicione procedit ad aliquem condemnandum. Et hoc directe ad injustitiam pertinet. Unde est peccatum mortale. AD PRIMUM ergo dicendum quod in humanis actibus invenitur aliqua certitudo, non quidem sicut in demonstrativie [cf. Eth. 6, 2], sed secundum quod convenit tali materiae: puta 1139a 6» cum aliquid per idoneos testes probatur. AD SECUNDUM dicendum quod ex hoc ipso quod aliquis malam opinionem habet de alio sine causa sufficienti, indebite contemnit ipsum. Et ideo injuriatur ei. AD TERTIUM dicendum quod quia justitia et injustitia est circa exteriores operationes, ut dictum est, tunc judicium suspiciosum directe ad injustitiam 1 pertinet quando ad actum exteriorum procedit. Et tunc est peccatum mortale, ut dictum est. Judicium autem interius pertinet ad justitiam secundum quod comparatur ad exterius judicium ut actus interior ad exteriorem: sicut concupiscentia ad fornicationem, et ira ad homicidium. 1 P: j u s t i t i a m .
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4. A R T I K E L Müssen
die Zweifel nach der milderen gelöst werden?
Seite
hin
1. Die Rechtsprechung muß sich nach dem richten, was in den meisten Fällen vorkommt. In den ineisten Fällen aber geschieht es, daß die Menschen schlecht handeln, denn „die Zahl der Toren ist unendlich groß" (Prd 1, 15) und „der Sinn des Menschen ist von Jugend auf zum Bösen geneigt" (Gn 8, 21). Also müssen wir die Zweifel mehr nach der bösen als nach der guten Seite hin lösen. 2. Augustinus sagt: „Heilig und gerecht lebt der, der ein unbestechlicher Beurteiler der Dinge ist" und nach keiner Seite hin [vom rechten Urteil] abweicht. Wer aber zur günstigeren Seite hin auslegt, was zweifelhaft ist, weicht nach einer Seite hin ab. Also darf man das nicht tun. 3. Der Mensch muß den Nächsten lieben wie sich selbst. In bezug auf sich selbst aber muß der Mensch seine Zweifel lösen nach der schlimmeren Seite; nach Job 9, 28: „Ich fürchtete alle meine Werke". Es scheint also, daß das, was beim Nächsten zweifelhaft ist, nach der schlimmeren Seite hin auszulegen ist. ANDERSEITS sagt die Glosse zu Rom 14, 3 ,Wer nicht Q U A E S T I O 60, «
ARTICULUS Utrum
dubia
IV
s i n t in m e l i o r e m interpretanda
partem
AD QUARTUM sic proceditur. Videtur quod dubia non eint in meliorem partem interpretanda. Judicium enim magis debet esse de eo quod ut in pluribus accidit. Sed in pluribus accidit quod aliqui male agant: quia „stultorum infinitus est numerus", ut dicitur Eccles. 1: „proni enim sunt sensus hominis ad malum ab adolescenza sua", ut dicitur Gen. 8. Ergo dubia magis debemus interpretari in malum quam in bonum. PL 2. PRAETEREA, Augustinus dicit [De Doct. Christ. 1, 27] 34/29 d (]UOC j _jHe p i e vei juste vivit qui rerum integer est aestimator", in neutram partem declinando. Sed ille qui interpretatur in melius quod dubium est declinat in alteram partem. Ergo hoc non est faciendum. 3. PRAETEREA, homo debet diligere proximum sicut seipsum. Sed circa seipsum homo debet dubia interpretari in pejorem partem: secundum illud Job 9: „Verebar omnia opera mea". Ergo videtur quod ea quae sunt dubia circa proximos sint in pejorem partem interpretanda. SED CONTRA est quod Rom. 14 super illud: ,Qui non man-
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ißt, soll den, der ißt, nicht richten': „Zweifel müssen nach 60, 4 der günstigeren Seite hin ausgelegt werden." ANTWORT: Schon dadurch, daß einer ohne genügenden Grund eine schlechte Meinung vom anderen hat, beleidigt und verachtet er ihn (Art. 3 Zu 2). Keiner aber darf den anderen ohne zwingenden Grund verachten oder ihm irgendwelchen Schaden zufügen. Wo deshalb keine klaren Anzeichen der Schlechtigkeit eines Menschen vorliegen, müssen wir ihn als guten Menschen betrachten und zu seinem Besten auslegen, was zweifelhaft ist. Z u 1. Es kann vorkommen, daß der, der [die Zweifel über den anderen] günstig auslegt, häufig getäuscht wird. Doch ist es besser, daß einer häufiger getäuscht wird, indem er eine gute Meinung von einem schlechten Menschen hat, als daß er selten getäuscht wird, aber eine schlechte Meinung von einem guten Menschen hat. Denn dieses bedeutet ein Unrecht, das erste jedoch nicht. Z u 2. Ein anderes ist das Urteil über Sachen und ein anderes das über Menschen. In dem Urteil, mit dem wir über Sachen urteilen, gibt es nicht gut oder böse von seiten der Sache selbst, über die wir urteilen, die keinen Schaden davon hat, gleichgültig, wie wir über sie urteilen; sondern es kommt dabei nur das Gut des Richtenden in Frage, wenn er richtig, und das Übel, wenn er falsch urteilt; denn Q U A E S T I O 60, i
ducat manducantem non judicet', dicit Glossa [ord., Lomb. et PL Aug. 1 ] : „Dubia in meliorem partem sunt interpretanda". RESPONDEO dicendum quod, sicut dictum est, ex hoc ipso quod aliquis habet malam opinionem de alio absque sufficienti causa, injuriatur ei et contemnit ipsum. Nullus autem debet alium contemnere, vel nocumenti™ quodcumque inferre, absque causa cogente. Et ideo ubi non apparent manifesta indicia de malitia alicujus, debemus eum ut bonum habere, in meliorem partem interpretando quod dubium est. AD PRIMUM ergo dicendum quod potest contingere quod ille qui in meliorem partem interpretatur, frequentius fallitur. Sed melius est quod aliquis frequenter fallatur habens bonam opinionem de aliquo malo homine, quam quod rarius fallatur habens malam opinionem de aliquo bono: quia ex hoc fit injuria alicui, non autem ex primo. AD SECUNDUM dicendum quod aliud est judicare de rebus, et aliud de hominibus. In judicio enim quo de rebus judioamus non attenditur bonum vel malum ex parte ipsius rei de qua judicamus, cui nihil nocet qualitercumque judicemus de ipsa: sed attenditur ibi solum bonum judicantis si vere judicet. vel malum si falso; quia „verum est bonum intellectus, f als um 1 Do Sorm. Dom. 1,9 (l'L 34/1241 C).
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60, 4 „das Wahre ist das Gut des Verstandes, das Falsche aber sein Übel", wie es im Sechsten der Ethik heißt. — In dein Urteil aber, mit dem wir über Menschen urteilen, steht vor allem in Frage gut oder böse auf seiten dessen, der gerichtet wird, der als ehrenwerter Mensch dasteht, wenn er als gut, und als der Verachtung würdig, wenn er als schlecht beurteilt wird. Deshalb müssen wir bei einem solchen Urteil vielmehr dahin trachten, den Menschen als gut zu beurteilen, solange nicht ein ganz offenbarer Grund f ü r das Gegenteil aufscheint. Für den richtenden Menschen selbst aber schlägt das falsche Urteil, mit dem er über einen [schlechten] Menschen gut urteilt, nicht zum Schaden des Verstandes aus, wie es auch an sich nicht zu seiner Vollkommenheit gehört, die Wahrheit der zufälligen Einzeldinge zu erkennen; viel eher gehört es zum guten Willen. Z u 3. Etwas nach der guten oder schlechten Seite auslegen geschieht auf doppelte Weise. Einmal auf dem Wege einer Unterstellung. Wenn wir daher f ü r bestimmte Übel, seien es eigene, seien es fremde, ein Heilmittel anwenden müssen, ist es gut, damit das Heilmittel um so sicherer wirkt, das Schlimmere anzunehmen; denn das Heilmittel, das gegen ein größeres Übel wirksam ist, ist es erst recht gegen ein kleineres Übel. — In anderer Weise legen wir etwas zum Guten oder Bösen aus, indem wir eine EntQ U A E S T I O 60. 4
1139 a 27 autem est malum ipsius", ut dicitur 6 Eth. [c. 2; cf. Metaph. 6, 1027 b 25 ¡ ( j e o unugquisque debet niti ad hoc quod de rebus judicet secundum quod sunt. — Sed in judicio quo judicamus de hominibus praecipue attenditur bonum et malum ex parte ejus de quo judicatur, qui in hoc ipso honorabilis habetur quod bonus judicatur, et contemptibilis si judicetur malu8. Et ideo ad hoc potius tendere debemus in tali judicio quod hominem judicemus bonum, nisi manifesta ratio in contrarium appareat. Ipsi autem homini judicanti, falsum judicium quo bene judicat de alio non pertinet ad malum intellectus ipsius, sicut nec ad ejus perfectionem pertinet secundum se cognoscere veri1140b 31* tatem singularium contingentium [cf. Eth. 6, 6; Metaph. 2, 6 ] : 1003 a 15* g e ( j m a c r j s pertinet ad bonum affectum. AD TERTIUM dicendum quod interpretari aliquid in deteriorem vel meliorem partem contingit dupliciter. Uno modo, peir quandam suppositionem. Et sic, cum debemus aliquibue malis adhibere remedium, sive nostris sive alienis, expedit ad hoc ut securius remedium apponatur, quod supponat .ir iu qucd deterius est: quia remedium quod est efficax contra majus malum, multo magis est efficax contra minus malum. — Alio modo interpretamur aliquid in bonum vel malum definiendo sive
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Scheidung treffen. Dann müssen wir im Urteil über Sachen 60,5 darauf achten, daß wir jede Sache auslegen nach dem, was sie ist; beim Urteil über Personen aber, daß man zum Günstigeren auslegt (Antw. und Zu 2). 5. Muß man immer
A R T I K E L
nach dem geschriebenen sprechen?
Gesetz
Recht
1. Ein ungerechtes Urteil ist immer zu vermeiden. Zuweilen aber enthalten die geschriebenen Gesetze [offenbare] Ungerechtigkeiten; nach Is 10, 1: „ W e h e denen, die ungerechte Gesetze erlassen und Ungerechtigkeiten niederschreiben!" Also darf man nicht immer nach den geschriebenen Gesetzen Recht sprechen. 2. Die Rechtsprechung muß die einzelnen Vorkommnisse erfassen. Kein geschriebenes Gesetz aber kann alle einzelnen Vorkommnisse berücksichtigen, wie das aus dem Philosophen erhellt im Fünften der Ethik. Also scheint es, daß man nicht immer nach geschriebenen Gesetzen Recht sprechen darf. 3. Das Gesetz wird schriftlich niedergelegt, damit die Ansicht [der W i l l e ] des Gesetzgebers offenbar werde. Manchmal aber kommt es vor, daß, wenn der Gesetzgeber Q U A E S T I O 60, s
determinando. Et sie in rerum judicio debet aliquis niti ad hoc ut interpretetur unumquodque secundum quod est: in judicio autem personarum, ut interpretetur in melius, sicut dictum est. A R T I C U L U S U t r u m sit S e m p e r s e c u n d u m judicandum
V leges
scriptas
[ l n f r a 120,1 ad 3]
A D Q U I N T U M sie proceditur. Videtur quod non sit Semper secundum leges scriptas judicandum. Semper enim vitandum est injustum judicium. Sed quandoque leges scriptae injustitiam continent: secundum illud Isaiae 10: „ V a e qui condunt leges iniquas, et scri'bentes injustitias s e r i p s e r u n f . Ergo non sempeir est secundum leges scriptas judicandum. 2. P R A E T E R E A , judicium oportet esse de singularibus eventibus. Sed nulla lex scripta potest omnes eingulares eventus comprehendere: ut patet per Philosophum 5 Eth. [c. 14]. Ergo videtur quod non semper sit secundum leges scriptae judicandum. 3. P R A E T E R E A , lex ad hoc scribitur ut eententia legislatoris manifestetur. Sed quandoque contingit quod si ipse lator legis
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H37bi3 27
60, 5 selbst anwesend wäre, er anders urteilen würde. Also darf man nicht immer nach dem geschriebenen Gesetz Recht sprechen. ANDERSEITS sagt Augustinus: „Wenn auch die Menschen über diese zeitbedingten Gesetze urteilten, als sie dieselben erließen, so ist es doch den Richtern, nachdem die Gesetze erlassen und bestätigt worden sind, nicht erlaubt, ü b e r sie zu richten, sondern sie müssen n a c h ihnen richten [ = Recht sprechen]." ANTWORT: Wie gesagt (Art. 1), ist der Rechtsspruch nichts anderes als eine Bestimmung und Umgrenzung dessen, was gerecht ist. Etwas wird aber gerecht auf doppelte Weise. Einmal aus der Natur der Sache heraus, und das nennt man Naturrecht; in anderer Weise auf Grund einer Vereinbarung unter den Menschen, und das nennt man geschaffenes [oder gesatztes] Recht (57, 2). Die Gesetze aber werden geschrieben, um beiderlei Recht zu erklären, freilich je und je anders. Denn das schriftlich niedergelegte Gesetz enthält zwar das Naturrecht, aber es begründet es nicht; denn es hat seine (verbindliche) Kraft nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Natur. Das geschaffene Recht aber ist im schriftlich niedergelegten Gesetz enthalten und begründet, indem jenes von diesem aus Ansehen und (verbindliche) Kraft erhält. Deshalb muß die Rechtsprechung erfolgen nach dem geschriebenen Gesetz; sonst würde der Rechtsspruch entweder das Naturrecht oder das geschaffene Recht verfehlen. Q U A E S T I 0 60, s
praesens esset, aliter judicaret. Ergo non est semper secundum legem scriptam judicandum. SED CONTRA est quod Augustinus dicit in libro de Vera PL Relig. [c. 3 1 ] : „In istis temporalibus legibus, quanquam de his 34/148 B honünes judicent cum eas instituerint, tarnen cum fuerint institutae et firmatae, non licebit judicibus de ipsis judicare, sed secundum ipsas". RESPONDEO dicendum quod, eicut dictum est, judicium nihil est aliud nisi quaedam definitio vel determinatio ejus quod justum est. Fit autem aliquid justum dupliciter: uno modo, ex ipsa natura rei, quod dicitur jus naturale; alio modo, ex quodam condicto inter homines, quod dicitur jus positivum, ut supra habitum est. Leges autem scribintur ad utriusque juris declarationem: aliter tarnen et aliter. Nam legis scriptura jus quidem naturale continet, sed non instituit: non habet enim robur ex lege, sed ex natura. Jus autem positivum scripturam legis et continet et instituit, dans ei auctoritatis robur. Et ideo necesse est quod judicium fiat secundum legis scripturam: alioquin judicium deficeret vel a justo naturali, vel a justo positivo.
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Z u 1. Wie das geschriebene Gesetz dem Naturrecht nicht 60,5 die [verpflichtende] Kraft erst gibt, so kann es auch seine Kraft nicht mindern oder aufheben; denn auch der menschliche Wille kann die Natur nicht ändern. Wenn deshalb das geschriebene Gesetz etwas gegen das Naturrecht enthält, ist es ungerecht und hat nicht die Kraft zu verpflichten; denn nur dort kommt das geschaffene Recht überhaupt in Frage, wo es dem Naturrecht gegenüber nichts ausmacht, ob etwas so oder anders bestimmt wird (57, 2 Zu 2). Deshalb werden solche Schriften auch nicht Gesetze genannt, sondern eher Verderbnis des Gesetzes (I—II 95, 2: Bd. 13). Also darf man nicht nach ihnen Recht sprechen. Z u 2. Wie die ungerechten [gottlosen] Gesetze an sich entweder immer oder doch in den meisten Fällen dem Naturrecht widersprechen, so versagen auch die ordnungsgemäß geschaffenen Gesetze in manchen Fällen, und wenn sie in diesen Fällen beobachtet würden, wäre es gegen das Naturrecht. Deshalb darf man in diesen Fällen nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes Recht sprechen, sondern man muß zu jener Billigkeit zurückkehren, die der Gesetzgeber im Auge hat. Deshalb sagt der Gesetzesgelehrte: „Keine Rechtsvernunft und keine Güte der Billigkeit leidet es, daß wir das, was heilsamerweise zum Nutzen der Menschen eingeführt wird, durch eine härtere Auslegung gegen ihren Vorteil zum Strengen vortreiben." Q U A E S T I O 60, s
AD PRIMUM ergo dicendum quod lex scripta, sicut non dat robur juri naturali, ita nec potest ejus robur minuere vel auferre: quia nec voluntas hominis potest immutare naturam [cf. Eth. 5, 10]. Et ideo si scriptura legis contineat aliquid contra 1134 b 19» jus naturale, injusta est, nec habet vira obligandi: ibi enim jus positivum locum habet ubi quantum ad jus naturale „nihil differt utrum sie vel aliter fiat", ut supra habitum est. Et ideo nec tales scripturae leges dicuntur, sed potius legis corruptiones, ut supra dictum est. Et ideo secundum eas non est judicandum. AD SECUNDUM dicendum quod sicut leges iniquae secunduin se contrariantur juri naturali, vel S e m p e r vel ut in pluribus; ita etiam leges quae sunt recte positae in aliquibus casibus deficiunt, in quibus si servarentur, esset contra jus naturale. Et ideo in talibus non est secundum litteram legis judicandum, eed recurrendum ad aequitatem, quam intendit legislator. Unde Jurisperitus dicit: „Nulla ratio juris aut aequitatis benignitas patitur ut quae salubriter pro utilitate hominum introdueuntur, ea nos duriore interpretatione contra ipsorum commodum pro-
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60, 6 In solchen Fällen würde auch der Gesetzgeber anders urteilen und, wenn er es in Betracht gezogen hätte, gesetzlich festgelegt haben. Daraus ergibt sich die Lösung Z u 3. 6. A R T I K E L Wird
der Rechtsspruch
durch
Anmaßung
zum
Fehlurteil?
1. Die Gerechtigkeit ist eine gewisse Rechtheit im Handeln. Nichts aber geht der Wahrheit verloren, von wem immer sie ausgesprochen wird, sondern sie ist von jedem anzunehmen. Also geht auch nichts der Gerechtigkeit verloren, von wem immer das Gerechte bestimmt werden mag; das gehört aber zur Bewandtnis des Rechtsspruches. 2. Die Sünde zu bestrafen ist Sache des Richters. Es ist aber zu lesen, daß einige dafür gelobt wurden, daß sie die Sünde straften, wiewohl sie keine Machtbefugnis über die hatten, welche sie bestraften. Wie Moses dafür, daß er den Ägypter tötete (Ex 2, 11 ff.) [vgl 1 Makk 2, 6 ] ; und Phinees, der Sohn des Eleazar, den Cambri, den Sohn Saloms (Nm 25, 7 ff.), „und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet", wie es im Psalm heißt [Ps 106 (105), 31]. Also hat die Anmaßung des Richteramtes mit Ungerechtigkeit nichts zu tun. Q U A E S T I O 60, « ducamus ad severitatem." 1 Et in talibus etiam legislator aliter judicaret: et, si considerasset, lege determina&set. Et per hoc patet responsio ad tertium. Utrum
A R T I C U L U S VI Judicium per u s u r p a t i o n e m perversum
reddatur
[Infra 67,1; Rom 14,1] AD SEXTUM sie proceditur. Videtur quod judicium per usurpationem non reddatur perversum. Justitia enim est quaedam rectitudo in agendis. Sed nihil deperit veritati a quocumque dicatur, sed a quocumque est aeeipienda. Ergo etiam nihil deperit justitiae, a quocumque justum determinetur: quod pertinet ad rationein judieii. 2. PRAETEREA, peccata punire ad judicium pertinet. Sed aliqui laudabiliter leguntur peccata punisse qui tarnen auetoritatem non habebant super illos quos puniebant: sicut Moyses occidendo Aegyptium, ut habetur Exod. 2; et Phinees, filius Eleazari, Zambri, filium Salomi, ut legitur Num. 25, „et reputatum est ei ad justitiam", ut dicitur in Psalm. Ergo usurpatio judieii non pertinet ad injustitiam.
1 Uig. 1. 3 leg. 25.
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3. Die geistliche Gewalt wird unterschieden von der 60,6 weltlichen. Zuweilen aber mischen sich die kirchlichen Vorgesetzten, die eine geistliche Gewalt haben, in Dinge, die zum Bereich der weltlichen Gewalt gehören. Also ist ein angemaßter Rechtsspruch nicht unerlaubt. 4. Wie zum rechten Urteilsspruch die Machtbefugnis gehört, so auch die Gerechtigkeit und die Wissenschaft des Richtenden (Art. 1 Zu 1 und Zu 3; Art. 2). Der Rechtsspruch heißt aber nicht ungerecht, wenn einer Recht spricht, der nicht das Gehaben der Gerechtigkeit hat oder nicht das für einen Richter nötige Wissen. Also wird auch das angemaßte Richten, das auf den Mangel der Machtbefugnis zurückgeht, nicht immer ungerecht sein. ANDERSEITS heißt es Rom 14, 4: „Wer bist du, der du einen fremden Diener richtest?" ANTWORT: Da der Rechtsspruch nach dem geschriebenen Gesetz zu fällen ist (Art. 5), legt derjenige, der das Urteil fällt, den Spruch des Gesetzes gewissermaßen aus, indem er ihn auf den besonderen Fall anwendet. Da es aber zu derselben Machtbefugnis gehört, ein Gesetz auszulegen und es zu erlassen, so kann, wie das Gesetz nur in öffentlicher Machtbefugnis erlassen werden kann, auch der Rechtsspruch nur in öffentlicher Machtbefugnis gefällt werden, die sich erstreckt auf diejenigen, die der Gemeinschaft angehören. Wie es daher ungerecht wäre, wenn einer den anderen zur Beobachtung eines Gesetzes, das nicht Q U A E S T I 0 60, «
3. PRAETEREA, potestas spiritualis distinguitur a temporali. Sed quandoque praelati habentes spiritualem potestatem intromittunt se de his quae pertinent ad potestatem saecularem. Ergo usurpatum judicium non est illicitum. 4. PRAETEREA, sicut ad recte judicandum requiritur auctoritas, ita etiam et justitia judicantis et scientia, ut ex supradictis patet. Sed non dicitur judicium esse injustum si aliquis judicet non habens habitum justitiae, vel non habens scientiam juris. Ergo neque etiam judicium usurpatum, quod fit per defectum auctoritatis, Semper erit injustum. SED CONTRA est quod dicitur Rom. 14: „Tu quis es, qui judicas alienum servum?" RESPONDEO dicendum quod, cum judicium sit ferendum secundum leges scriptas, ut dictum est, ille qui judicium fert legis dictum quodammodo interpretatur, applicando ipsum ad particulare negotium. Cum autem ejusdem auctoritatis sit legem interpretari et legein condere, sicut lex condi non potest nisi publica auctoritate, ita nec judicium ferri potest nisi publica auctoritate, quae quidem se extendit ad eos qui communitati subduntur. Et ideo sicut injustum esset ut aliquis constrin-
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60,6 durch die höhere Gewalt bestätigt worden wäre, verpflichten wollte, so ist es auch ungerecht, wenn einer den anderen zwingen wollte, einen Rechtsspruch zu fällen, der nicht mit öffentlicher Vollmacht gefällt wird. Z u 1. Die Verkündigung der Wahrheit enthält keine Nötigung, sie anzunehmen, sondern es steht in eines jeden Willen, sie nach Belieben anzunehmen oder nicht anzunehmen. Der Rechtsspruch aber enthält eine Aufforderung. Deshalb ist es ungerecht, wenn einer gerichtet wird von dem, der keine öffentliche Machtbefugnis hat. Z u 2. Moses scheint den Ägypter getötet zu haben, nachdem er gleichsam aus einer göttlichen Eingebung heraus die Befugnis dazu empfangen hatte, wie das angedeutet zu sein scheint Apg7, 25: „Nachdem erden Ägypter erschlagen, war Moses der Meinung, seine Brüder würden [jetzt] verstehen, daß Gott Israel durch seine Hand Rettung bringen wolle". — Oder man kann sagen, Moses habe den Ägypter getötet, indem er den, der Unrecht litt, mit abgewogener, schuldfreier Schutzmaßnahme verteidigte. Deshalb sagt Ambrosius: „Wer von seinem Gefährten das Unrecht, so er kann, nicht abwendet, ist genau so in die Sünde verstrickt wie der, der es zufügt", und er führt Moses als Beispiel an. — Oder man kann sagen, wie Augustinus sagt: „Wie die Erde vor der Aufnahme nützlicher Samen wegen der Fruchtbarkeit unnützer Kräuter gelobt wird, so war Q U A E S T I 0
PL 16/75 D PL 34/597 c
60, s
geret alium ad legem servandam quae non esset publica auctoritate sancita, ita etiam injustum est si aliquis aliquem compellat ferre Judicium quod publica auctoritate non fertur. AD PRIMUM ergo dicendum quod pronuntiatio veritatis non importat compulsionem ad hoc quod suscipiatur, sed liberum est unicuique eain recipere vel non reeipere prout vult. Sed Judicium importat quaindam impulsionem. Et ideo injustum est quod aliquis judicetur ab eo qui publicam auctoritatem non habet. AD SECUNDUM dicendum quod Moyses videtur Aegyptium occidisse quasi ex inspiiatione divina auctoritatem adeplus: ut videtur per hoc quod dicitur Act. 7, quod „percusso Aegyptio, aestimabat Moyses intelligere fratres suos quoniam Dominus per manuin ipsius daret salutein Israel". — Vel potest dici quod Moyses occidit Aegyptium defendendo eum qui injuriam patiebatur cum moderamine inculpatae tutelae. Unde Ambrosius dicit in libro de Offic. [1, 36], quod „qui non repellit injuriam a socio cum potest, tarn est in vitio quam ille qui facit"; et inducit exemplum Moysi. — Vel potest dici, sicut Augustinus dicit in Quaestionibus Exod. [qu. 2] 1 , quod „sicut terra, ante utilia semina, herbarum inutilium fertilitate laudatur; sie illud 1 cf. C o n t r a F a u s t . 22,70 (l'L 42/444 C).
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jene Tat des Moses zwar in sich fehlerhaft, aber sie barg 60, 6 das Zeichen großer Fruchtbarkeit", insofern sie nämlich das Zeichen seiner Kraft war, mit der er das Volk befreien sollte. Von Phinees aber ist zu sagen, daß er das, vom Eifer Gottes getrieben, auf göttliche Eingebung tat. — Oder weil er, wenn auch noch nicht selbst Hoherpriester, so doch der Sohn des Hohenpriesters war und ihm dieses Gericht zustand, wie auch den anderen Richtern, denen dieses geboten war [Ex 22,20; Lv c. 20; Dt c. 13.17]. Z u 3. Die weltliche Gewalt ist der geistlichen untergeordnet wie der Leib der Seele. Deshalb ist es kein angemaßter Urteilsspruch, wenn der geistliche Vorgesetzte sich in weltliche Dinge einmischt in bezug auf das, worin die weltliche Gewalt ihm untersteht oder was ihm von der weltlichen Gewalt überlassen ist. Z u 4. Das Gehaben der Wissenschaft und der Gerechtigkeit sind Vollkommenheiten der Einzelpersonen; und deshalb spricht man bei ihrem Fehlen nicht von einem angemaßten Rechtsspruch, wie beim Fehlen der öffentlichen Befugnis, aus der das Urteil erst seine zwingende Kraft erhält. Q U A E S T I 0 60, i Moysi factum vitiosum quidem fuit, sed magnae fertilitatis Signum gerebat": inquantum scilicet erat Signum virtutis ejus qua populum liberaturus erat. De Phinee autem dicendum est quod ex inspiratione divina, zelo Dei commotus, hoc fecit. — Vel quia, licet nondum esset summus sacerdos, erat tarnen filius summi sacerdotis, et ad eum hoc Judicium pertinebat, sicut et ad alios judices, quibus hoc erat praeceptum. AD TERTIUM dicendum quod potestas saecularis subditur spirituali sicut corpus animae. Et ideo non est usurpatum judicium si spiritualis praelatus se intromittat de temporalibus quantum ad ea in quibus subditur ei saecularis potestas, vel quae ei a saeculari potestate relinquuntur. AD QUARTUM dicendum quod habitus scientiae et justitiae sunt perfectiones singulariß personae: et ideo per eorum defectum non dicitur usurpatum judicium, sicut per defectum publicae auctoritatis, ex qua judicium vim coactivam habet.
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61. F R A G E ÜBER DIE TEILE DER GERECHTIGKEIT Darauf sind die Teile [14] der Gerechtigkeit zu betrachten. Und zwar erstens die subjektiven Teile, welche Arten der Gerechtigkeit sind, nämlich die austeilende und die ausgleichende Gerechtigkeit [15]; zweitens die gleichsam vervollständigenden Teile; drittens die Mächtigkeitsteile, nämlich die angeschlossenen Tugenden. Zum Ersten drängt sich uns eine doppelte Betrachtung auf: erstens über die Teile der Gerechtigkeit selbst; zweitens über die entgegenstehenden Laster. Und weil die Zurückerstattung ein Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit zu sein scheint, ist erst zu handeln von der Unterscheidung in ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit, und zweitens über die Zurückerstattung. Zum Ersten ergeben sich vier Einzelfragen: 1. Gibt es zwei Arten von Gerechtigkeit: die austeilende und die ausgleichende Gerechtigkeit? 2. Wird bei ihnen in derselben Weise die Rechtsmitte bestimmt? 3. Ist ihr Gegenstandsbereich eingestaltig oder vielgestaltig? 4. Ist nach einer der beiden Arten das Gerechte dasselbe wie das Wiedervergoltene?
QUAESTIO LXI DE PARTIBUS JUSTITIAE Deinde considerandum est de partibus justitiae. Et primo, de partibus subjectivis, quae sunt species justitiae, scilicet distributiva et commutativa; secundo, de partibus quasi integralibus; tertio, de partibus quasi potentialibus, scilicet de virtutibus adjunctis. Circa primum occurrit duplex consideratio: prima, de ipsis justitiae partibus; secunda, de vitiis oppositis. Et quia restitutio videtur esse actus commutativae justitiae, primo considerandum est de distinctione justitiae commutativae et distributivae; secundo, de restitutione. Circa primum quaeruntur quatuor: 1. Utrum sint duae justitiae species, justitia distributiva et commutativa. — 2. Utrum eodem modo in eis medium accipiatur. — 3. Utrum sit earum uniformis vel multiplex materia. — 4. Utrum secundum aliquam earum specierum sit justum idem quod contrapassum.
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1. A R T I K E L Ist es sinnvoll, zwei Arten der Gerechtigkeit anzunehmen: die austeilende und die ausgleichende Gerechtigkeit? 1. Es kann keine Art der Gerechtigkeit geben, die einer Vielheit schadet, da die Gerechtigkeit auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Die gemeinsamen Güter aber auf die vielen verteilen, schadet dem Gemeinwohl der vielen; sowohl weil die Quellen des Gemeingutes erschöpft werden, als auch, weil die Sitten der Menschen verdorben werden. Denn Cicero sagt: „Wer empfängt, wird schlechter und immer mehr bereit, stets dasselbe zu erwarten." Also gehört die Zuteilung nicht zu irgendeiner Art Gerechtigkeit. 2. Der Akt der Gerechtigkeit ist: einem jeden zu geben, was sein ist (58, 2). Bei der Zuteilung aber wird dem Einzelnen nicht gegeben, was sein war, sondern es wird ihm ganz neu zueigen gegeben, was [vorher] Gemeinbesitz war. Also gehört das nicht zur Gerechtigkeit. 3. Die Gerechtigkeit findet sich nicht nur im Fürsten, sondern auch in den Untergebenen (58, 6). Austeilen aber ist immer Sache des Fürsten. Also gehört das Austeilen nicht zur Gerechtigkeit. 4. „Das Austeilungsgerechte betrifft die gemeinsamen Q
U
AE
S T I O 61, 1
ARTICULUS I Utrum convenienter ponantur duae species j u s t i t i a e , j u s t i t i a d i s t r i b u t i v a et c o m m u t a t i v a [I 21,1; 2 d 27: 1,3; 3 d 33: 1,3 qa 2; 3,4 qa 5 ad 2; 4 d 46: 1,1 qa 1; Eth 5,4; 6]
AD PRIMUM sie proceditur. Videtur quod inconvenienter ponantur duae species justitiae, justitia distributiva et commutativa. Non enim potest esse juetitiae species quod multitudini nocet: cum justitia ad bonum commune ordinetur. Sed distribuere bona communia in multos nocet bono communl multitudinis: tum quia exhauriuntur opes communes; tum etiam quia mores hominum corrumpuntur; dicit enim Tullius in libro de Offic. [2, 15]: „Fit deterior qui aeeipit, et ad idem semper exspectandum paratior". Ergo distributio non pertinet ad aliquam justitiae speciem. 2. PRAETEREA, justitiae actus est reddere unieuique quod suum est, ut supra habitum est. Sed in distributione non redditur alicui quod suum erat, sed de novo appropriatur 6ibi id quod erat commune. Ergo hoc ad justitiam non pertinet. 3. PRAETEREA, justitia non solum est in principe, sed etiam in subjeotis, ut supra habitum est. Sed distribuere Semper pertinet ad prineipem. Ergo distributiva non pertinet ad justitiam. 4. PRAETEREA,
„distributivum
jusluni
est bonorum
com-
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61, i Güter", wie der Philosoph sagt im Fünften der Ethik. Die gemeinsamen Güter aber gehören in den Bereich der Gesetzesgerechtigkeit. Also ist die austeilende Gerechtigkeit nicht ein Teil der Einzelgerechtigkeit, sondern der Gesetzesgerechtigkeit. 5. Das Eine und Viele macht in der Art der Tugend keinen Unterschied. Die ausgleichende Gerechtigkeit nun beruht darauf, daß etwas einem Einzelnen gegeben wird. Die austeilende Gerechtigkeit aber darauf, daß etwas Vielen gegeben wird. Also sind es nicht zwei verschiedene Arten von Gerechtigkeit. ANDERSEITS nimmt der Philosoph im Fünften der Ethik zwei Arten von Gerechtigkeit an und sagt, „ die eine regelt die Zuteilung, die andere die Tauschhandlungen". ANTWORT: Die Einzelgerechtigkeit ist ausgerichtet auf eine Privatperson, die sich zur Gemeinschaft verhält wie der Teil zum Ganzen (58, 7). Man kann aber zu einem Teil eine doppelte Ordnung feststellen. Einmal die Ordnung vom Teil zum Teil; der entspricht die Ordnung der einen Privatperson zur anderen. Und diese Ordnung regelt die ausgleichende Gerechtigkeit, die in jenen Handlungen obwaltet, die zwischen Personen gegenseitig gesetzt werden. — Die andere Ordnung ist die des Ganzen zu den Teilen. Und dieser Ordnung entspricht die Ordnung dessen, was gemeinsam ist, zu den einzelnen Personen. Und diese Q U A E S T I O 61, 1
1131 b 27 munium", ut dicitur 5 Eth. [c. 7]. Sed communia pertinent ad 1129 b 17* justitiam legalem [cf. Eth. 5, 3]. Ergo justitia distributiva non est species justitiae particularis, sed justitiae legalis. 5. PRAETEREA, unum et multa non diversificant speciem 1018 a 12« [cf. Metaph. 5, 9] virtutis. Sed justitia commutativa consistit in hoc quod aliquid redditur uni; justitia vero distributiva in hoc quod aliquid datur multis. Ergo non sunt diversae species justitiae. 1130 b 31 SED CONTRA est quod Philosophus 5 Eth. [c. 5] ponit duas partes justitiae, et dicit quod „una est directiva in distributionibus, alia in commutationibus". RESPONDEO dicendum quod, sicut dictum est, justitia particularis orcìinatur ad aliquam privatam personam, quae comparatur ad communitatem sàcut pars ad totum. Potest autem 1023 b 28» ad aliquam partem duplex ordo attendi [cf. Metaph. 5, 26]. Unus quidem partis ad partem: cui similis est ordo unius privatae personae ad aliam. Et hunc ordinem dirigit commutativa justitia, quae consistit in his quae mutuo fiunt inter duas personas ad invicem. —• Alius ordo attenditur totiu6 ad partes: et huic ordini assimilatur ordo ejus quod est commune ad singulas personas. Quem quidem ordinem dirigit
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Ordnung regelt die austeilende Gerechtigkeit, die die Ge- 61, l meinschaftsgüter nach einem bestimmten Verhältnis zuteilt. Und so gibt es zwei Arten von Gerechtigkeit: die ausgleichende und die austeilende. Z u 1. Wie in den Schenkungen der Privatpersonen Mäßigung empfohlen, ein Übermaß aber getadelt wird, so ist auch bei der Austeilung der Gemeinschaftsgüter Maßhaltung geboten, die von der austeilenden Gerechtigkeit geregelt wird. Z u 2. Wie Teil und Ganzes in etwa dasselbe sind, so gehört auch das, was dem Ganzen gehört, in gewisser Weise dem Teil. Wenn daher aus den Gemeinschaftsgütern den Einzelnen etwas zugeteilt wird, so empfängt ein jeder in bestimmtem Sinne das, was sein ist. Z u 3. Der Akt des Austeilens, bei dem es sich um die Gemeinschaftsgüter handelt, ist allein Sache dessen, der den Gemeinschaftsgütern vorsteht; und doch ist die austeilende Gerechtigkeit auch in den Untergebenen, denen da ausgeteilt wird, insofern sie mit der gerechten Zuteilung zufrieden sind. Wiewohl zuweilen eine Zuteilung von Gemeinschaftsgütern erfolgt, die nicht dem Gemeinwesen, sondern einer einzelnen Familie gehören; deren Zuteilung kann erfolgen auf die Machtbefugnis einer einzelnen Privatperson hin. Z u 4. Bewegungen empfangen ihre Art von dem EndQ U A E S T I O 61, i justitia distributiva, quae est distributiva communium secundum propartionalitatem [cf. Eth. 5, 7]. Et ideo duae ßunt ii3ibio» justitiae species, scilicet commutativa et distributiva. AD PRIMUM ergo dicendum quod sicut in largitionibus privatarum personarum [cf. Eth. 4, 1] commendatur moderatio, 1119 b 34* efiusio vero culpatur; ita etiam in distributione communium bonorum est moderatio servanda, in quo dirigit justitia distributiva. AD SECUNDUM dicendum quod sicut pars et totum quodammodo sunt idem [sed cf. Top. 6, 13], ita id quod est totius 150 a 15* quodammodo est partis. Et ita cum ex bonis communibus aliquid in singulos distribuitur, quilibet aliquo modo recipit quod suum est. AD TERTIUM dicendum quod actus distributionis quae est communium bonorum pertinet solum ad praesidentem communibus bonis: sed tarnen distributiva justitia est et in 6ubditis, quibus distribuitur, inquantum scilicet sunt contenti justa distributione. Quamvis etiam distributio quandoque flat bonorum communium non quidem civitati, sed uni familiae: quorum distributio fieri potest auctoritate alicujus privatae personae. AD QUARTUM dicendum quod motus accipiunt speciem a
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61,2 punkt, auf den sie zulaufen. Deshalb ist es Sache der Gesetzesgerechtigkeit, das, was den Privatpersonen gehört, auszurichten auf das Gemeinwohl; aber umgekehrt: das Gemeinwohl durch die Zuteilung auszurichten auf die Einzelperson ist Sache der Einzelgerechtigkeit. Z u 5. Die austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit unterscheiden sich nicht nur durch das Eine und Viele, sondern nach der verschiedenen Bewandtnis des Geschuldeten; denn in anderer Weise ist das Gemeinschaftsgut einem geschuldet und in anderer Weise das Eigengut. 2. A R T I K E L Wird die Rechtsmitte bei der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit in derselben Weise bestimmt? 1. Beiderlei Gerechtigkeit ist unter der Einzelgerechtigkeit enthalten (Art. 1). In allen Teilen der Maßhaltung und Tapferkeit aber wird die Tugendmitte in derselben Weise bestimmt. Also ist auch in der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit die Rechtsmitte in derselben Weise zu bestimmen. 2. Die Form der sittlichen Tugend liegt in der Tugendmitte, die von der Vernunft bestimmt wird. Da nun die eine Tugend immer nur eine Form hat, scheint es, daß in beiden die Rechtsmitte in derselben Weise zu bestimmen ist. QUAESTIO 61, t 201 a 8* termino ad quem [sed cf. Phys. 3, 1]. Et ideo ad justitiam legalem pertinet ordinare ea quae 6unt privatarum personarum in bonum commune: sed ordinare e converso bonum commune ad personas particulares per distributionem est justitiae particularis. AD QUINTUM dicendum quod justitia distributiva et commutativa non solum distinguuntur secundum unum et multa, sed secundum diversam rationem debiti: alio eniin modo debetur alicui id quod est commune, alio modo id quod est proprium. A R T I C U L U S II U t r u in m e d i u m e o d e m m o d o a c c i p i a t u r i n j u s t i t i a d i s t r i b u t i v a et c o m m u t a t i v a [3 d 33: 1,3 qa 2; Eth 5,4]
AD SECUNDUM sie procediitur. Videtur quod medium eodem modo aeeipiatur in justitia distributiva et commutativa. Utraque enim sub justitia partir,ulari continetur, ut dictum est. Sed in omnibus temperantiae vel fortitudinis partibus aeeipitur 1107 a 33* uno modo medium [cf. Eth. 2, 7]. Ergo etiam eodem modo est 1107 b 4» aeeipiendum medium in justitia distributiva et commutativa.
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3. In der austeilenden Gerechtigkeit wird die Rechts- 61,2 mitte bestimmt mit Rücksicht auf die verschiedene Würde der Person. Die Würde der Person wird aber auch in der ausgleichenden Gerechtigkeit berücksichtigt, zum Beispiel in den Strafen; denn schwerer wird gestraft, wer den Fürsten geschlagen hat, als wer eine Privatperson geschlagen hat. Also wird die Rechtsmitte in beiden [Arten der Gerechtigkeit] in derselben Weise bestimmt. ANDERSEITS sagt der Philosoph im Fünften der Ethik, in der austeilenden Gerechtigkeit werde die Rechtsmitte nach dem geometrischen, in der ausgleichenden nach dem arithmetischen Verhältnis bestimmt. ANTWORT: In der austeilenden Gerechtigkeit wird einer Privatperson etwas zugeteilt, sofern das, was dem Ganzen gehört, auch dem Teil geschuldet ist. Das ist natürlich ucn so größer, je größer der Vorrang des Teiles im Ganzen ist. Deshalb wird in der austeilenden Gerechtigkeit um so viel mehr von den Gemeinschaftsgütern einem zugeteilt, je größer der Vorrang ist, den jene Person in der Gemeinschaft hat. Diese Vorrangstellung wird in der Adelsherrschaft nach der Macht bestimmt, in der Herrschaft der Vornehmen nach dem Reichtum, in der Volksherrschaft nach der Freiheit und in anderen wieder Q U A E S T I O 61, 1
2. PRAETEREA, forma virtutis moralis in medio consistit quod secundum rationem determinatur [cf. Eth. 2, 6]. Cum ergo unius virtutis sit una forma, videtur quod in utraque eit eodem modo medium accipiendum. 3. PRAETEREA, in justitia distributiva accipitur medium attendendo diversam dignitatem personaruni [cf. Eth. 5, 7j. Sed dignitas personarum attenditur etiam in commutativa justitia, sicut in punitionibus: plus enim punitur qui percussit principem quam qui percussit privatam personam [cf. Eth. 5, 8]. Ergo eodem modo accipitur medium in utraque justitia. SED CONTRA est quod Philosophus dicit 5 Eth. [c. 6; 7], quod in justitia distributiva accipitur medium secundum „geometricam proportionalitatem", in commutativa autem secundum „arithmetical»". RESPONDEO dicendum quod, sicut dictum est, in distributiva justitia datur aliquid alicui privatae personae inquantum id quod est totius est debitum parti. Quod quidem tanto inajus est quanto ipsa pars majorem principalitatem habet in toto [cf. Eth. 5, 7], Et ideo in distributiva justitia tanto plus alicui de bonis communibus datur quanto ilia persona majorem principalitatem habet in communitate. Quae quidem principalitas in aristocratica communitate attenditur secundum virtutem, in oligarchica secundum divitias, in democratica secundum liber-
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1106 b 36»
1131 b 29*
1132 b 29* 1131 a 29 b 32
1131 b 29*
61,2 anders. Und so wird in der austeilenden Gerechtigkeit die Rechtsmitte nicht bestimmt nach dem Gleichmaß von Sache und Sache, sondern nach dem Verhältnis der Sachen zu den Personen; so daß im selben Verhältnis, in welchem die eine Person die andere überragt, so auch die Sache, die der einen Person gegeben wird, die Sache überragt, die der anderen gegeben wird. Deshalb sagt der Philosoph, eine solche Rechtsmitte sei die auf Grund des geometrischen Verhältnisses, worin der Ausgleich nicht nach der Menge bemessen wird, sondern nach dem Verhältnis. So wenn wir sagen würden: Wie 6 sich zu 4 verhält, so verhält sich 3 zu 2, denn auf beiden Seiten haben wir das Verhältnis von anderthalb, wobei das Größere das Ganze des Kleineren und dazu dessen Hälfte beträgt; nicht aber haben wir dort eine Gleichheit des Überschusses der Menge nach, denn 6 übersteigt 4 um 2, 3 jedoch 2 nur um 1. In den Tauschhandlungen aber gibt man einer Einzelperson etwas wieder wegen einer von ihr empfangenen Sache; wie das am besten zu ersehen ist bei Kauf und Verkauf, in denen die Bewandtnis der Tauschhandlung ein erstes Mal aufscheint. Und deshalb muß man die Sache der Sache angleichen, so daß dieser so viel, wie er von der Sache des anderen über das hinaus, was sein ist, besitzt, dem zurückgibt, dem es gehört. Und so findet ein Ausgleich statt nach der arithmetischen Mitte, die auf dem Q U A E S T I O Cl, i
1294 a lü* tatem [cf. Pol. 4, 8], et in aliis aliter. Et ideo in justitia distributiva non accipitur medium secundum aequalitatem rei ad rem, sed secundum proportionem rerum ad personas: ut scilicet, sicut una persona excedit aliam, ita etiam res quae datur uni personae excedit rem quae datur alii. Et ideo dicit 1131 a 29 Philosophus [Eth. 5, 6] quod tale medium est secundum „geometricam proportionalitatem", in qua attenditur aequale non secundum quantitatem, sed secundum proportionem. Sicut si dicamus quod sicut se habent sex ad quatuor, ita se habent tria ad duo, quia utrobique est sesquialtera proportio, in qua majus habet totum minus et mediain partem ejus: non autem est aequalitas excessus secundum quantitatem, quia sex excedunt quatuor in duobus, tria vero excedunt duo in uno. Sed in commutationibus redditur aliquid alicui singulari personae propter rem ejus quae accepta est: ut maxime patet in emptione et venditione, in quibus primo invenitur ratio 1132b il* commutation^ [cf. Eth. 5, 7]. Et ideo oportet adaequare rem rei: ut quanto iste plus habet quam suum sit de eo quod est alterius, tantumdem restituât ei cujus est. Et sic fit aequalitas secundum „arithmeticam" medietatem, quae attenditur secun-
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gleichen Übermaß der Menge beruht; so wie 5 die Mitte 61,2 ist zwischen 6 und 4; es ist nämlich genau um 1 mehr und weniger. Wenn also zu Anfang [des Tauschgeschäftes] ein jeder 5 hatte, und der eine erhält 1 von dem, was 'dem anderen gehört, so hat der Empfangende 6 und der andere nur noch 4. Es wird also erst dann Gerechtigkeit sein, wenn jeder wieder auf die Mitte zurückgeführt wird, so daß also von dem, der 6 hat, 1 genommen und dem gegeben wird, der nur 4 hat. So nämlich hat jeder wieder 5, was die Mitte bedeutet [16]. Z u 1. In den anderen sittlichen Tugenden gilt die vernunftbestimmte Mitte und nicht die sachbestimmte Mitte. In der Gerechtigkeit aber gilt die sachbestimmte Mitte. Und deshalb wird die Mitte nach der Verschiedenheit der Sachen auch verschieden bestimmt. Zu 2. Die allgemeine Form der Gerechtigkeit ist das Gleichmaß, in welchem die austeilende mit der ausgleichenden Gerechtigkeit übereinkommt. Doch findet sich in der einen der Ausgleich nach dem geometrischen Verhältnis, in der anderen nach dem arithmetischen Verhältnis. Z u 3. In den Handlungen und Erleidungen macht die Stellung der Person etwas aus in der Bestimmimg der Sachgröße; denn größer ist die Beleidigung, wenn ein Fürst, als wenn eine Privatperson geschlagen wird. Und so wird die Stellung der Person in der austeilenden Gerechtigkeit SQ Ü A E S T I O
61, !
dum parem quantitatis excessum: sicut quinque est medium inter sex et quatuor, in unitate enim excedit et exceditur. Si ergo a principio uterque habebat quinque, et unus eorum accepit unum de eo quod est alterius; unus, scilicet accipiens, habebit sex, et alii relinquentur quatuor. Erit ergo justitia si uterque reducatur ad medium, ut accipiatur unum ab eo qui habet sex, et detur ei qui habet quatuor: eie enim uterque habebit quinque, quod est medium. AD PH1MUM ergo dicendum quod in aliis virtutibus moralibus aeeipitur medium secundum rationem, et non secundum rem. Sed in justitia aeeipitur medium rei: et ideo secundum diversitatem rerum diversimode medium aeeipitur. AD SECUNDUM dicendum quod generalis forma justitiae est aequalitas, in qua convenit justitia distributiva cum commutativa [cf. Eth. 5, 6. 7]. In una tarnen invenitur aequalitas 1131 a 20» secundum proportionalitatem geometricam, in alia secundum 1132 a 18* arithmeticam. AD TERTIUM dicendum quod in actionibus et passionibus conditio personae facit ad quantitatem rei: major enim est injuria si percutiatur prineeps quam si percutiatur privata persona. Et ita conditio personae in distributiva justitia atttnditur 7 18
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61, 3 an sich berücksichtigt; in der ausgleichenden aber insofern, als die Sache verschieden bestimmt wird. 3. A R T I K E L Ist der Gegenstandsbereich jeder der beiden Gerechtigkeiten verschieden? 1. Die Verschiedenheit des Gegenstaudsbereiches bewirkt eine Verschiedenheit der Tugend; wie das deutlich ist bei der Maßhaltung und Tapferkeit. Wenn also austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit verschiedenen Gegenstandsbereich haben, scheint es, daß sie nicht unter e i n e r Tugend, nämlich unter der Gerechtigkeit, enthalten sind. 2. Die Austeilung, die zur austeilenden Gerechtigkeit gehört, bezieht sich auf „Geld oder Ehre oder andere Güter, die unter die Angehörigen eines Gemeinwesens zur Verteilung gelangen können", wie es im Fünften der Ethik heißt. Von diesen gibt es aber auch einen gegenseitigen Austausch unter den Personen, der zur Tausch- oder ausgleichenden Gerechtigkeit gehört. Also gibt es keinen verschiedenen Gegenstandsbereich der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit. 3. Wenn auf Grund ihrer Artverschiedenheit der Gegenstandsbereich der austeilenden Gerechtigkeit ein anderer QUAESTIO 61, j secundum se: in commutativa autem secundum quod per hoc diversificatur res. ARTICULUS Utrum
materia
utriusque diversa
III justitiae
sit
[III 85,3; Etil 5,1]
AD TERTIUM sie proceditur. Videtur quod materia utriusque justitiae non sit diversa. Diversitas enim materiae facit diversitatem virtutis: ut patet in temperantia et fortitudine 1115 a 6* [ c f . Eth. 3, 9. 13], Si igitur distributivae justitiae et commuta1117 b 23* t j v a e s j t diversa materia, videtur quod non contineantur sub una virtute, scilicet sub justitia. 2. PRAETEREA, distributio, quae pertinet ad distributivam justitiam, est „pecuniae vel honoris vel aliorum quaecumque dispertiri possunt inter eos qui communitate communicant"; 1130 b 31 ut dicitur 5 Eth. [c. 5]. Quorum etiam est commutatio inter personas ad invicem, quae pertinet ad commutativam justitiam. Ergo non est diversa materia distributivae et commutativae justitiae. 3. PRAETEREA, si sit alia materia distributivae justitiae et
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ist und ein anderer der Gegenstandsbereich der ausglei- 61, 3 chenden Gerechtigkeit, dann darf es dort, wo keine Artverschiedenheit besteht, auch keine Verschiedenheit des Gegenstandsbereiches geben. Der Philosoph nimmt aber [nur] eine Art der ausgleichenden Gerechtigkeit an, die doch einen vielgestaltigen Gegenstandsbereich hat. Es scheint also nicht, daß es einen mehrfachen Gegenstandsbereich dieser Arten [von Gerechtigkeit] gibt. DAGEGEN spricht, was im Fünften der Ethik gesagt ist: „Die eine Art von Gerechtigkeit hat die Führung in den Zuteilungen, die andere in den Tauschhandlungen". ANTWORT: Wie oben (58, 8. 10) gesagt, hat die Gerechtigkeit es mit bestimmten äußeren Handlungen zu tun, nämlich mit der Verteilung und dem Tausch; beides sind Verwendungen bestimmter äußerer Dinge, seien es Sachen oder Personen oder Arbeiten; von Sachen, wenn zum Beispiel einer dem anderen seine Sache wegnimmt oder zurückerstattet; von Personen, wenn einer ein Unrecht begeht gegen die Person eines Menschen, zum Beispiel, wenn er sie schlägt oder lästert, oder auch, wenn er ihr seine Ehrfurcht bezeigt; von Arbeiten, wenn einer gerechterweise vom anderen eine Arbeit verlangt oder dem anderen leistet. Wenn wir nun als Gegenstandsbereich jeder der beiden Arten von Gerechtigkeit die Dinge annehmen, deren Verwendung im G e b r a u c h liegt, so ist der GeQ U A E S T I O 61, •
alia materia commutativae propter hoc quod differunt ßpecie, ubi non erit differentia speciei, non debebit esee materiae 1024 b 8* diversitas [cf. Metaph. 5, 28; 7, 12]. Sed Philosophus ponit [Eth. 5, 5] unam speciem commutativae justitiae, quae tarnen habet multiplicem materiam. Non ergo videtur esse multiplex materia harum specierum. IN CONTRARIUM est quod dicitur 5 Eth. [c. 5] quod „una H30b3i species justitiae est directiva in distributionibus, alia in commutationibus". RESPONDEO dicendum quod, sicut supra dictum est, justitia est circa quasdam operationes exteriores, scilicet distributionem et commutationem, quae quidem sunt usus quorumdam exteriorum, vel rerum vel personarum vel etiam operum: rerum quidem, sicut cum aliquis vel aufert vel restituit alteri rem suam; personarum autem, sicut cum aliquis in ipsam personam hominis mjuriam facit, puta percutiendo vel conviciando, aut etiam cum reverentiam 1 exhibet; operum autem, sicut cum quis juste ab alio exigit vel alteri reddit aliquod opus. Si igitur accipiamus ut materiam utriusque justitiae ea quorum operationes sunt usus, eadem est materia distributivae et commui P: irreverentiam.
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61,3 genstandsbereich der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit ein und derselbe; denn einmal können die Sachen vom Gemeinbesitz den einzelnen zugeteilt werden oder durch Tausch vom einen auf den anderen übergehen; und wiederum kann eine Zuteilung der zu leistenden Arbeiten und eine Entschädigung durch entsprechenden Entgelt erfolgen. Wenn wir aber als Gegenstandsbereich einer jeden der beiden Arten von Gerechtigkeit d i e H a u p t h a n d l u n g e n s e l b s t nehmen, mittels deren wir uns der Personen, Sachen oder Arbeiten bedienen, so haben wir auf beiden Seiten einen anderen Gegenstandsbereich. Denn die austeilende Gerechtigkeit hat die Leistung der Zuteilung; die ausgleichende Gerechtigkeit die der Tauschhandlungen, welche zwischen zwei verschiedenen Personen getätigt werden. Manche dieser Tauschhandlungen sind unfreiwillig, manche aber freiwillig. Sie sind unfreiwillig, wenn einer die Sache oder Person oder die Arbeit des anderen gegen dessen Willen verwendet. Zuweilen geschieht das heimlich durch Betrug, zuweilen offen durch Gewalt. Beides kann geschehen gegen die Sache oder gegen die eigene Person [des anderen] oder gegen einen Verwandten. Gegen die Sache: wenn einer heimlich die Sache eines anderen wegnimmt, und dann heißt es Diebstahl; wenn aber offen, dann heißt es Raub. — Gegen die eigene Person [des anderen], entweder gegen den Bestand der Person selbst oder gegen ihre Würde. Wenn gegen den Bestand Q U A E S T I O 61, J tativae justitiae: nam et res distribuí possunt a communi in singulos, et commutari de uno in alium; et etiam est quaedam distributio laboriosorum operum, et recompensatio. Si autein accipiamus ut materiam utriusque justitiae actiones ipsas principales quibus utimur personis, rebus et operibus, sie invenitur utrobique alia materia. Nam distributiva justitia est directiva distributionis: commutativa vero justitia est directiva commutationum quae attendi possunt inter duas personas. Quarum quaedam sunt involuntariae; quaedam vero volun1131 a 2* tariae [cf. Eth. 5, 5], Involuntariae quidem, quando aliquis utitur re alterius vel persona vel opere, eo invito. Quod quidem contingit quandoque occulte per fraudem; quandoque etiam manifeste per violentiam. Utrumque autem contingit aut in rem aut in personam propriam, aut in personam conjunctam. In rem quidem, si occulte unus rem alterius aeeipiat, vocatur furtum; si autem manifeste, vocatur rapiña. — In personam autem propriam, vel quantum ad ipsam consistentiam personae; vel quantum ad dignitatem ipsius. Si autem quan-
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der Person selbst: so wird einer heimlich verletzt durch 61, 3 hinterlistige Tötung oder durch Schlagen oder durch Darreichung von Gift; offen aber durch offene Tötung oder Einkerkerung oder Durchprügelung oder Verstümmelung. — In bezug auf die Würde der Person wird einer heimlich verletzt durch falsche Zeugenaussage oder Verleumdung, durch die einer seinen guten Ruf raubt, und durch anderes dergleichen; offen aber durch Anklage vor Gericht oder durch Lästerung. — In bezug auf die verwandte Person wird einer geschädigt in der Person der Gattin durch Ehebruch, was meistens heimlich geschieht; in der Person des Knechtes, wenn einer den Knecht verführt, daß er seinen Herrn verläßt; und diese Dinge können auch offen geschehen. Dasselbe gilt von den anderen Verwandten, gegen die auf alle Weise Unrecht geschehen kann genau wie gegen die eigene Person [des anderen]. Ehebruch aber und die Entführung des Knechtes sind Unrecht gegen diese Personen selbst; weil aber der Knecht ein gewisser Besitz ist, wird das als Diebstahl gerechnet. Von freiwilligen Tauschhandlungen aber spricht man, wenn einer freiwillig sein Eigentum auf den anderen überträgt. Und zwar, wenn er sein Eigentum schlechthin auf den anderen überträgt ohne Entgelt, wie bei der Schenkung, so ist das kein Akt der Gerechtigkeit, sondern der Freigebigkeit. Insoweit aber gehört die freiwillige Übertragung [einer Sache auf den anderen] in den Bereich Q U A E S T I O 61, 3
tum ad consistentiam personae, sie laeditur aliquis occulte per dolosam occisionem seu percussionem, et per veneni exhibitionem; manifeste autem per occisionem manifestam, aut per incarcerationem aut verberationem seu membri mutilationem. — Quantum autem ad dignitatein personae, laeditur aliquis occulte quidem per falsa testimonia seu detractiones, quibus aliquis aufert famam suam, et per alia hujusmodi; manifeste autem per accusationem in judicio, seu per convicii illationem. — Quantum autem ad personam conjunctam, laeditur aliquis in uxore, ut in pluribus occulte, per adulterium; in servo autem, cum aliquis servum seducit, ut a domino discedat; et haec etiam possunt manifeste fieri. Et eadem ratio est de aliis personis conjunctis, in quas possunt etiam Omnibus modis injuriae committi sicut et in personam principalem. Sed adulterium et servi seduetio sunt proprie injuriae circa has personas: tarnen, quia servus est possessio quaedam, hoc refertur ad furtum. Voluntariae autem commutationes dicuntur quando aliquis voluntarie transfert rem suam in alterum. Et 6i quidem simpliciter in alterum transferat rem suam absque debito, sicut in donatione, non est actus justitiae, sed liberalitatis. Infantum autem ad justitiam voluntaria translatio pertinet inquantum est
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61, 3 der Gerechtigkeit, als dabei die Bewandtnis des Geschuldeten in Frage steht. Das kann nun in dreifacher Weise vorkommen. Einmal, wenn jemand sein Eigentum schlechthin auf den anderen überträgt als Entgelt f ü r die Sache des anderen, wie das geschieht bei Verkauf und Kauf. — Zweitens, wenn einer sein Eigentum auf den anderen überträgt, indem er ihm den Gebrauch gestattet, mit der Auflage, die Sache zurückzugeben, und zwar heißt es, wenn er den Gebrauch der Sache umsonst gestattet, Nutznießung bei den Sachen, die irgendwie Frucht bringen; oder man spricht schlechthin von Darlehen oder Leihgut bei den Dingen, die keine Frucht bringen, wie bei Münzen oder Gefäßen und dergleichen. Wenn aber nicht einmal der Gebrauch umsonst gestattet wird, spricht man von Vermietung oder Verpachtung. — Drittens, wenn einer sein Eigentum überträgt, aber so, daß es wieder zurückgegeben werden muß, nicht für den Gebrauch, sondern entweder zur Verwahrung, wie beim Hinterlegten; oder aus Verpflichtung, so, wenn einer sein Eigentum verpfändet als Zeichen der Verpflichtung oder als Bürgschaft f ü r einen anderen. Bei all diesen Handlungen, seien sie freiwillig oder unfreiwillig, kommt dieselbe Bewandtnis der Rechtsmitte in Betracht nach der Gleichheit der Gegenleistung. So gehören demnach alle diese Handlungen zu e i n e r Art der Gerechtigkeit, nämlich der ausgleichenden. Daraus ergibt sich die Lösung der Einwände. Q U A E S T I O 61, >
ibi aliquid de ratione debiti. Quod quidem contingit tripliciter. Uno modo, quando aliquis transfert rem suam simpliciter in alterum pro recompensatione alterius rei: sicut accidit in venditione et emptione. — Secundo modo, quando aliquis tradit rem suam alteri concedens ei usum rei cum debito recuperandi rem. Et si quidem gratis concedit usum rei, vocatur ususfructus in rebus quae aliquid fructificant; vel simpliciter mutuum seu accommodatum in rebus quae non fructificant, sicut sunt denarii, vasa et hujusmodi. Si vero nec ipse usus gratis conceditur, vocatur locatio et conductio. — Tertio modo aliquis tradit rem suam ut recuperandam, non ratione usus, sed vel ratione conservationis, sicut in deposito; vel ratione obligationie, sicut cum quis rem suam pignori obligat, seu cum aliquis pro alio fidejubet. In Omnibus autem hujusmodi actionibus, sive voluntariis sive involuntariis, est eadein ratio accipiendi medium secundum aequalitatem recompensationis. Et ideo omnes istae actiones ad unam speciem justitiae pertinent, scilicet ad commutativam. Et per hoc patet responsio ad objecta.
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4. A R T I K E L Ist das Recht schlechthin dasselbe wie
Wiedervergeltung?
1. Das göttliche Gericht ist schlechthin gerecht. Das aber ist die Form des göttlichen Gerichtes, daß einer nach dem leidet, was er getan hat; nach Mt 7, 2: „Mit dem Urteil, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit dem Maße, mit dem ihr messet, wird euch wieder zugemessen werden." Also ist das Recht dasselbe wie Wiedervergeltung. 2. In jeder der beiden Arten von Gerechtigkeit wird einem etwas gegeben nach einem gewissen Gleichmaß; mit Rücksicht auf die Würde der P e r s o n in der austeilenden Gerechtigkeit, wobei die Würde der Person hauptsächlich bemessen wird nach den Diensten, die einer der Gemeinschaft leistet; mit Rücksicht auf die S a c h e , in welcher jemand geschädigt wurde, in der ausgleichenden Gerechtigkeit. In jeder der beiden Formen des Gleichmaßes aber wird einem vergolten nach dem, was er getan hat. Es scheint also, daß Recht schlechthin dasselbe ist wie Wiedervergeltung. 3. Am meisten scheint es, daß einem nach dem, was er getan, nicht wiedervergolten werden darf, wegen des Unterschiedes von freiwillig und unfreiwillig; wer nämlich Q I I A E S T I O 61,