Die Boom-Autoren heute: García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa, Donoso und ihr Abschied von den grossen identitätsstiftenden Entwürfen 9783964563460

Analyse des Paradigmenwechsels in der lateinamerikanischen Literatur, den die Boom-Autoren als Protagonisten der großang

173 64 27MB

German Pages 328 Year 2004

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
I. EINLEITUNG
1. Der Boom - ein einheitsstiftendes Phänomen in der lateinamerikanischen Literatur
2. Vergleichsobjekt der Boow-Romane und Textauswahl
3. Möglichkeiten der Übertragung des Begriffs Paradigmenwechsel auf die Literatur
4. Forschungsperspektiven
II. DIE BOOM-ROMANE ALS GROßE IDENTITÄTSSTIFTENDE ENTWÜRFE
Einleitung
1. Ringen um Identität als epische Herausforderung
2. Die relative Autonomie des literarischen Feldes in Lateinamerika in den sechziger Jahren
III. ROMANE DER NEUNZIGER JAHRE
A) Individuelle Entwicklungslinien
1. Carlos Fuentes: Abschied von der Beschwörung eines mythischen Mexikos
2. Gabriel García Márquez: Abschied vom Magischen Realismus
3. José Donoso: Alternative Lösungswege zur Subjektproblematik und fragmentarischen Wirklichkeitsdarstellung
4. Mario Vargas Llosa: Abschied von der novela totalizadora
B) Parallele Entwicklungslinien
1. Eine parallele Entwicklung? - Austausch von Romanfiguren
2. Retrospektives Schreiben
3. Metahistorische Fiktion
4. Grenzen interkultureller Kommunikation
5. Versöhnendes Verhältnis zu Europa
6. Ethischer Konformismus als politischer „Auftrag"
7. Intertextuelle Elemente in spielerischer Funktion: „Formular en vez de encarnar"
C) Ein vollzogener Paradigmenwechsel: Abschied von den großen identitätsstiftenden Entwürfen
IV. KONTEXTE DES ANDEREN SCHREIBENS
1. Absage an eine genuin lateinamerikanische Identität und ihre epische Inszenierung
2. Nach der relativen Autonomie des literarischen Feldes
V. SCHLUßBETRACHTUNGEN
VI. LITERATURVERZEICHNIS
Primärliteratur
Sekundärliteratur
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Die Boom-Autoren heute: García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa, Donoso und ihr Abschied von den grossen identitätsstiftenden Entwürfen
 9783964563460

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Die Boom-Autoren heute: García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa, Donoso und ihr Abschied von den großen identitätsstiftenden Entwürfen Gesine Müller

STUDIA HISPANICA Herausgegeben von Christoph Strosetzki Band 10

STUDIA HISPANICA

Gesine Müller

Die Boom-Autoren heute: García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa, Donoso und ihr Abschied von den großen identitätsstiftenden Entwürfen

Vervuert • Frankfurt am Main • 2004

Bibliografîsche Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografîsche Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Alle Rechte vorbehalten © Vervuert, 2004 Wielandstr. 40 - D-60318 Frankfurt am Main Tel.:+49 69 597 46 17 Fax: +49 69 597 87 43 [email protected] www.ibero-americana.net ISBN 3-86527-134-0 Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 2003 Gedruckt in Deutschland Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier gemäß ISO 9706

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort I. EINLEITUNG

9 11

1. Der Boom - ein einheitsstiftendes Phänomen in der lateinamerikanischen Literatur

11

2. Vergleichsobjekt der fioow-Romane und Textauswahl

12

3. Möglichkeiten der Übertragung des Begriffs Paradigmenwechsel auf die Literatur

14

4. Forschungsperspektiven

17

II. DIE BOOM-ROMANE IDENTITÄTSSTIFTENDE

ALS GROßE ENTWÜRFE

1. Ringen um Identität als epische Herausforderung

25 31

1.1. Konstituenten eines essentialistischen Identitätsverständnisses 1.1.1. Mythische Elemente 1.1.2. Zyklisches Zeitverständnis 1.1.3. Masken als Identitätskomplexe 1.2. Vertrauen in die Gestaltungskraft der Sprache: „Autor-Dios" 1.2.1. Novelas totales 1.2.2. Utopische Gegenentwürfe

31 32 40 45 52 54 59

1.3. Identitätsstiftendes Moment epischen Schreibens

69

2. Die relative Autonomie des literarischen Feldes in Lateinamerika in den sechziger Jahren

74

2.1. Mandantpueblo als Legitimationsinstanz

83

2.2. Unabhängigkeit vom Regierungssystem

87

2.3. Intellektuelle und Identitätsmanagement

88

6

Inhaltsverzeichnis

III. ROMANE DER NEUNZIGER JAHRE A) Individuelle Entwicklungslinien

95 95

1. Carlos Fuentes: Abschied von der Beschwörung eines mythischen Mexikos

95

1.1. La campaña [1990]

95

1.2. El Naranjo [1993]

100

1.3. Diana o la cazadora solitaria [1994]

110

1.4. La frontera de cristal [ 1995]

115

1.5. Los años con Laura Díaz [1999]

121

1.6. Relikte einstiger Identitätsentwürfe im Spätwerk von Fuentes

125

2. Gabriel García Márquez: Abschied vom Magischen Realismus

133

2.1. Doce cuentos peregrinos [1992]

133

2.2. Del amor y otros demonios [1994]

134

2.3. Noticia de un secuestro [1996]

139

2.4. Relikte einstiger Identitätsentwürfe im Spätwerk von García Márquez

141

3. José Donoso: Alternative Lösungswege zur Subjektproblematik und fragmentarischen Wirklichkeitsdarstellung

147

3.1. Donde van a morir los elefantes [1995]

147

3.2. Conjeturas sobre la memoria de mi tribu [1996]

149

3.3. El Mocho [1997]

151

3.4. Relikte einstiger Identitätsentwürfe im Spätwerk von Donoso

153

4. Mario Vargas Llosa: Abschied von der novela totalizadora

155

4.1. El pez en el agua [1993]

155

4.2. Lituma en los Andes [1993]

159

4.3. Los cuadernos de Don Rigoberto [1996]

162

4.4. Relikte einstiger Identitätsentwürfe im Spätwerk von Vargas Llosa.. 166 B) Parallele Entwicklungslinien

172

1. Eine parallele Entwicklung? - Austausch von Romanfiguren

172

2. Retrospektives Schreiben

174

2.1. Explizite Retrospektive auf das Frühwerk: autobiographische Hinterfragung von compromiso und poetologischen Konzepten 2.1.1. Donde van a morir los elefantes: „El boom en perspectiva"

175 177

Inhaltsverzeichnis 2.1.2. Diana o la cazadora solitaria: Anspruch und Wirklichkeit des escritor comprometido 2.2. Implizite Retrospektive: Konstruktion von Nicht-Identität 2.2.1. Doce cuentos peregrinos und der „Tod des Autors" 2.2.2. Exkurs: Goytisolos alternative Lesart von El Naranjo 3. Metahistorische Fiktion 3.1. La campaña als Modell der nueva novela histórica 3.2. Verbindende Elemente zwischen La campaña und El general en su laberinto

7

181 184 185 186 189 193 197

4. Grenzen interkultureller Kommunikation

204

5. Versöhnendes Verhältnis zu Europa 5.1. Del amor y otros demonios: Synkretismus als Bejahung des europäischen Elements

207 208

5.2. Die Kontinuität der europäischen Kulturtradition in La campaña

211

5.3. Lituma en los Andes: Vereinigung von andiner und griechischer Mythologie

215

6. Ethischer Konformismus als politischer „Auftrag"

217

7. Intertextuelle Elemente in spielerischer Funktion: „Formular en vez de encarnar"

220

C) Ein vollzogener Paradigmenwechsel: Abschied von den

großen identitätsstiftenden Entwürfen IV. KONTEXTE DES ANDEREN SCHREIBENS

225 229

1. Absage an eine genuin lateinamerikanische Identität und ihre epische Inszenierung

229

1.1. Illusorische Emanzipation von Europa

230

1.2. Verlust des Vertrauens in die Gestaltungskraft von Sprache

231

2. Nach der relativen Autonomie des literarischen Feldes

236

2.1. Desillusionierung von der institutionalisierten Utopie und Abschied vom Panlateinamerikanismus

236

2.2. Neue Rezeptionsbedingungen

242

2.3. Aktionsradius der 5oom-Autoren in ihrer Funktion als Intellektuelle in den neunziger Jahren 2.3.1. Ethischer Konformismus 2.3.2. Reaktionen von jüngeren Autoren auf die Identitätsdiskurse des Boom

247 247 255

8

Inhaltsverzeichnis 2.3.2.1. Polemische Haltung der Essayistik 255 2.3.2.2. McOndo und Crack Strömungen, die sich als „postmacondinisch" verstehen 257 2.3.2.3. Narrative Gegenentwürfe zu den Identitätsdiskursen des Boom. 262 2.3.3. Antwort der Äoom-Autoren auf diese Reaktion 265 2.4. Aufgabe der Autonomie 2.4.1. Abschied vom makrogesellschaftlichen Repräsentationsanspruch des Intellektuellen 2.4.2. Vom pueblo zum público

267 267 271

V. SCHLUßBETRACHTUNGEN

275

VL LITERATURVERZEICHNIS

283

Primärliteratur

283

1. José Donoso

283

2. Carlos Fuentes

284

3. Gabriel García Márquez

285

4. Mario Vargas Llosa

286

Sekundärliteratur

289

VORWORT Vorliegende Untersuchung wurde im Frühjahr 2003 an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Der Zeitpunkt ihrer Publikation soll dazu genutzt werden, den an ihrem Zustandekommen beteiligten Personen herzlich Dank zu sagen. Bei Prof. Dr. Christoph Strosetzki möchte ich mich herzlich für seine Unterstützung, sein Interesse und seine Offenheit bedanken, mit der er diese Arbeit begleitet hat; außerdem sei ihm für die Aufnahme dieser Studie in seine Reihe Studia Hispánica gedankt. Dem Korreferenten Prof. Dr. Ulrich Prill bin ich dankbar für seine Bereitschaft, das Zweitgutachten zu übernehmen, und für die darin enthaltenen Anregungen. Eine entscheidende Unterstützung war die großzügige finanzielle und ideelle Graduiertenförderung des Cusanuswerks, bei dem ich mich besonders bedanken möchte. Dadurch wurden mir viele Freiheiten während der ganzen Dissertationsphase und außerdem ein 5-monatiger Forschungsaufenthalt am Colegio de México ermöglicht. Der VG Wort sei für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses zur Publikation gedankt. Bei Frau Dr. Anne Wigger möchte ich mich herzlich für das rasche und gründliche Lektorat vor der Drucklegung bedanken. Die wichtigste Unterstützung kam aus meinem nächsten persönlichen Umfeld. Ich hoffe an anderer Stelle als dieser allen, die während dieser langen Phase für mich da waren, gezeigt zu haben, daß ich sehr dankbar dafür bin, daß mir solch eine Art der Auseinandersetzung mit Lateinamerika möglich war.

I. EINLEITUNG In dieser Arbeit geht es um die Entwicklung der Boom-Autoren von ihren bereits früh kanonisierten Monumentalwerken der sechziger Jahre bis in die Gegenwart. Ich gehe davon aus, daß nicht nur jeder dieser Autoren einen Wandel im Schreiben durchgemacht hat, sondern daß es sich dabei um ein umfassenderes Phänomen handelt, das auf einen Paradigmenwechsel in der lateinamerikanischen Literatur insgesamt zurückzuführen ist — einen Paradigmenwechsel, den die Äoom-Autoren als herausragende Protagonisten der großangelegten inner- und außerliterarischen Identitätsdebatte der sechziger Jahre jedoch in spezifischer Weise parallel vollzogen haben, wobei ihre Literatur der neunziger Jahre als Endpunkt dieser Entwicklung anzusehen ist.

1. Der Boom - ein einheitsstiftendes Phänomen in der lateinamerikanischen Literatur Die Zusammenfassung lateinamerikanischer Bestseller der sechziger Jahre unter dem Oberbegriff Boom ist in der Literaturwissenschaft nach wie vor umstritten.1 Die Bezeichnung evoziert marktwirtschaftliche Kriterien2 und scheint sich daher als literarischer Genrename zu diskreditieren. Die Arbeit mit diesem Begriff und eine damit verbundene Textauswahl bedürfen also einer näheren Begründung. Für eine rezeptionsorientierte Studie dürfte der Anklang der Romane bei den Lesern ein hinreichendes Kriterium für die Übernahme des Begriffs sein. Allerdings muß selbst von diesem Blickwinkel aus berücksichtigt werden, daß es letztlich das lesende Europa war, das — gelangweilt durch die künstlerische Flaute FrancoSpaniens und angetrieben von einer Modewelle der Exotik — den Romanen nicht nur zu ihrem Weltruhm, sondern auch zu ihrer Popularität in Lateinamerika verhalf. Aus (einseitig) rezeptionsorientierter Perspektive läge es näher, Bestseller mit Bestsellern zu vergleichen, so beispielsweise die heutigen Kassenschlager von Erfolgsautoren 1

So äußerte sich beispielsweise Vargas Llosa: „Lo que se llama boom y que nadie sabe exactamente qué es — yo particularmente no lo sé — es un conjunto de escritores, tampoco se sabe exactamente quiénes, pues cada uno tiene su propia lista, que adquirieron de manera más o menos simultánea en el tiempo, cierta difusión, cierto reconocimiento por parte del público y de la crítica." Ángel Rama: La novela latinoameriana 1920-1980. Bogotá (Instituto colombiano de cultura) 1982, S. 242. Zur Genealogie des Begriffs und seinen Implikationen vgl. Kristine Vanden Berghe: „Los mañosos del boom: literatura y mercado en los años sesenta y setenta". In: Nadia Lie, Yolanda Montalvo Aponte (Hg.): Literatura y dinero en Hispanoamérica. Brüssel (Koninklijke Vlaamse Academie van Belgie voor Wetenschappen en Künsten) 2000, S. 4563.

2

Vgl. dazu Burkhard Pohl: Bücher ohne Grenzen. Der Verlag Seix Barrai und die Vermittlung lateinamerikanischer Erzählliteratur im Spanien des Franquismus. Frankfurt/M. (Vervuert) 2003; Vgl. auch: Mario Santana: Foreigners in the Homeland. The Spanish American New Novel in Spain 1962-1974. Lewisburg (Buckneil University Press) 2000, S. 33-64.

12

I. Einleitung

wie Isabel Allende oder Laura Esquivel mit den kanonisierten Boom-Romanen. Denn im Vergleich zu den genannten Schriftstellern „boomen" die aktuellen Werke der Helden von damals nicht mehr. Für eine Begründung der textuellen Basis dieser Arbeit sollen weder ökonomische Bestimmungen noch soziologische Verbindungen der einzelnen Vertreter untereinander ausschlaggebend sein. Was zählt, sind die Gemeinsamkeiten auf rein literarischer Ebene. Es lassen sich nämlich sehr wohl thematische Parallelen in zentralen Aspekten der verschiedenen dem Boom zugerechneten Romane aufzeigen: Das zentrale Charakteristikum aller Boom-Romane ist die Suche nach einer spezifischen lateinamerikanischen Identität - in wohldosierter Abgrenzung von der abendländisch geprägten Zivilisation und unter Hervorhebung des Erbes einer einheimischen Kultur. Die Emanzipation von den (bis dahin quasi omnipräsenten) europäischen kulturellen Vorbildern manifestiert sich auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene. Die utopischen Entwürfe rekurrieren meist auf eine literarisch (aus)geformte vorkoloniale Geschichte, in der wirkungsmächtige kollektive Mythen das konstitutive Element bilden. Die alternativen Modelle zum linearen (okzidentalen) Zeitverständnis schlagen sich nicht nur im Inhalt, sondern gerade auch in der formalen Erzählstruktur der Romane nieder. Das Bekenntnis zur kubanischen Revolution und der Einfluß zeitgenössischer Strömungen der lateinamerikanischen Philosophie und Befreiungstheologie äußern sich literarisch relevant - im Anspruch der Autoren, als escritores comprometidos zu wirken, d.h. zu den Fragen des sozialen Lebens aktiv Stellung zu beziehen, mehr noch: einzugreifen und das Wort als Mittel der Veränderung zu fuhren;3 was die Boom-Autoren sich also selbst abverlangten, war die Einheit von Schreiben und Handeln.

2. Vergleichsobjekt der Ztoom-Romane und Textauswahl Die Elemente und Motive der Boom-Romane verlieren spätestens seit Beginn der siebziger Jahre an Bedeutung. Neue Themen beherrschen die Literatur. Mittlerweile Vgl. Gustav Siebenmann: „Der lateinamerikanische Roman als Reflex der sozialen Situation". In: Johann Anton Doerig u.a. (Hg.): Kultur in Lateinamerika. Sankt Gallen (Lateinamerikanisches Institut) 1968, S. 25-44, hier S. 43. Siebenmann, Gustav: „Der lateinamerikanische Roman als Reflex der sozialen Situation". In: Johann Anton Doerig u.a. (Hg.): Kultur in Lateinamerika. (Lateinamerikanisches Institut Sank Gallen) Sankt Gallen 1968, S. 25-44 Das Selbstverständnis der Boom-Autoren in den sechziger Jahren leitet sich von Jean Paul Sartres Theorie der „littérature engagée" ab. In Qu 'est-ce que la littérature? legt er 1947 ein Verständnis einer „littérature engagée" zugrunde, die die Aufdeckung gesellschaftlicher Widersprüche aus der Perspektive ihrer zukünftigen Überwindung verlangt. Vgl. Jean-Paul Sartre: Qu'est-ce que la littérature? [1967] Paris (Gallimard) 1997. Zum Begriff des Engagment vgl. auch Volker Roloff: „Macht, Medien und Maskierungen. Zum Engagement lateinamerikanischer Autoren". In: Rolf Grimminger (Hg.): Kunst - Macht - Gewalt. Zum ästhetischen Ort der Aggressivität. München (Fink) 2000, S. 179-191, hier S. 183.

I. Einleitung

13

gilt es als anerkannte Tatsache, daß der Boom nicht nur in Europa vorüber ist, sondern vor allem auch in der literarischen Szene Lateinamerikas selbst, wo eine neue Generation zum Zuge gekommen ist, die sich zwar nicht einer bestimmten Etikettierung unterwirft und allenfalls von seiten der Literaturwissenschaft mit „los de fin de siglo" 4 , „escritura del vacio" 5 oder vor allem als „Postboom" 6 bezeichnet wird, die sich aber trotzdem bewußt von den vorherrschenden Themen aus den Romanen der Boo/w-Autoren abwendet. Wenn nun einerseits ein Generationenwechsel stattgefunden hat, so ist andererseits von besonderem Interesse, welche Inhalte die gegenwärtigen Romane der einstigen Boom-Autoren haben. Warum gerade ein Vergleich der inzwischen kanonisierten Literatur der BoomAutoren mit ihren weniger bekannten Werken der neunziger Jahre? Wenn sich ein Bruch auch schon in den siebziger und achtziger Jahren abzeichnet, liegt eine Entscheidung für die neunziger Jahre als Vergleichsobjekt deshalb nahe, weil zum einen diese Werke noch einen relativ weißen Fleck auf der Landkarte der literaturwissenschaftlichen Forschung bilden, zum anderen der größere zeitliche Abstand die Differenzen weitaus deutlicher zutage treten läßt, was wohl vornehmlich mit der weltpolitischen Zäsur des Jahres 1989 zusammenhängt: Der Zerfall des kommunistischen Blocks zog einen Schlußstrich unter die lange Zeit der Desillusionierung, die schon mit der Breznevschen Stagnationsphase auf globalem - und der Veralltäglichung des kubanischen Kommunismus auf lateinamerikanischem - Niveau einherging. In gewisser Weise wurden mit der Niederlage des Sowjetsystems die letzten Keime „marxistischer Hoffnung" begraben, so daß sich die meisten Intellektuellen zu einer mehr oder weniger offenen Umorientierung, zumindest jedoch zu einer Neudefinition ihres Standpunktes veranlaßt sahen.7 Aus der biographisch angesetzten komparatistischen Perspektive ergeben sich die Kriterien für die Textauswahl: Es werden die Werke derjenigen Autoren untersucht, die in den neunziger Jahren noch publiziert haben. Zum unangefochtenen Kern der 4

Vgl. Luis Arturo Ramos: „Los de fin de siglo". In: Karl Kohut (Hg.): Literatura mexicana hoy II Los de fin de siglo. Frankfurt/M. (Vervuert) 1993, S. 36-42.

5

Vgl. Luz Mery Giraldo: „Fin de milenio y escritura del vacío". In: Universitas 24, 42, 1995, S. 60-66, hier, S. 61.

6

Vgl. Michael Rössner: „Post-fioom, noch immer Boom oder gar kein Boom? Gedanken zu den Problemen von Übersetzung und Vermarktung lateinamerikanischer Literatur im deutschen Sprachraum". In: Ludwig Schräder (Hg.): Von Góngora bis Nicolás Guillen. Spanische und lateinamerikanische Literatur in deutscher Übersetzung. Tübingen (Narr) 1993, S. 13-24, hier S.18.

7

„Para la izquierda, la caída del socialismo en la Unión Soviética y en Europa Oriental representa el fin de una utopía motivadora y real con casi un siglo de antigüedad. [...] la idea misma de la revolución, crucial para el pensamiento radical latinoamericano durante décadas, perdió su significado. [...] la idea de revolución se ha marchitado porque el resultado de ésta se ha vuelto indeseable o inimaginable; y también, después de las elecciones nicaragüenses de 1990, se ha vuelto reversible. [...] Para todos los movimientos políticos y corrientes ideológicas en América Latina, el derrumbe del socialismo significó la pérdida de un paradigma." Jorge G. Castañeda: La utopía desarmada. México, D.F. (Joaquín Mortiz) 1993, S. 285 f.

Humanística,

14

I. Einleitung

Boom-Autoren zählen Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, Carlos Fuentes und Julio Cortázar.8 Weitere Nennungen differieren und schließen unterschiedlich viele der folgenden Autoren ein bzw. aus: Juan Rulfo, Alejo Carpentier, Juan Carlos Onetti, José Lezama Lima, Ernesto Sàbato, Guillermo Cabrera Infante, Augusto Roa Bastos, José María Arguedas, José Donoso, Miguel Ángel Asturias. Das Auswahlkriterium für eine repräsentative Gruppe von Autoren orientiert sich an der Zugehörigkeit zum unangefochtenen Kern und der Voraussetzung, noch in den neunziger Jahren zu publizieren. Damit fällt die Wahl auf García Márquez (Kolumbien), Fuentes (Mexiko) und Vargas Llosa (Peru). Die zusätzliche Entscheidung für Donoso (Chile) hängt neben seiner Zugehörigkeit zum Boom mit zwei seiner Werke zusammen, die die jeweiligen literarischen sowie literaturtheoretischen Entwicklungen der entsprechenden Dekade auf einer narrativen Ebene kritisch beurteilen.9

3. Möglichkeiten der Übertragung des Begriffs Paradigmenwechsel auf die Literatur Für die vergleichende Konturierung der literarischen Produktion in zwei Dekaden, die 30 Jahre auseinanderliegen, bietet sich die Arbeit mit dem Begriff des Paradigmenwechsels an. Zunächst ruft der Begriff des Paradigmas möglicherweise Befremden hervor. Ist doch damit eine Diskussion um wissenschaftstheoretische Fragen verknüpft, die die Bedeutung außerwissenschaftlicher Aspekte im Wissenschaftsprozeß an den Tag gebracht hat. Wenn damit eine weitere Erschütterung des auf Rationalität gegründeten Selbstverständnisses von Wissenschaft einhergeht, kann die Rede von Paradigma in der Literatur keinesfalls auf eine vollständige Analogie abzielen, wenn anders Literatur sich niemals in jenem Sinn als rational verstehen wollte. Im Gegensatz zur rationalistischen Auffassung, die das (theoretische) Paradigma (in den Naturwissenschaften) klar als Mittel zur Verfolgung einer Erkenntnisabsicht Angel Rama bezieht sich in der Frage auf den einflußreichen Verleger Carlos Barrai aus Barcelona, der mit dem „unangefochtenen Kern" die genannten vier Autoren meint. Vgl. Rama 1982. Vgl. auch Claudia Wiese: Die hispanoamerikanischen Boom-Romane in Deutschland. Literaturvermittlung, Buchmarkt und Rezeption. Frankfurt/M. (Vervuert) 1992, S. 41. Vgl. auch Vicente Lecuna: La ciudad letrada en el planeta electrónico. La situación actual del intelectual latinoamericano. Madrid (Pliegos) 1999, S. 26. José Donoso: Historia personal del Boom. [1972] Barcelona (Seix Barrai) 1983; Donde van a morir los elefantes. Buenos Aires (Alfaguara) 1995. Die zusätzliche Auswahl Donosos aus diesem speziellen Grund bringt zwingenderweise mit sich, daß er nicht in jeder Hinsicht gleich intensiv betrachtet werden kann wie die anderen drei Autoren. Hinzu kommt, daß seine Lebensdaten (1924-1996) verhindern, daß in Kapitel IV. jüngste gesellschaftspolitische Stellungnahmen unter die Lupe genommen werden. Donosos Nicht-Zugehörigkeit zum „unangefochtenen Kern" des Boom wurde auch von Gerald Martin explizit erwähnt:,.Despite the criticai success of El obsceno pájaro, Donoso never quite managed to tum the Boom's big four into a big five." Gerald Martin: „Narrative since 1920". In: Leslie Bethell (Hg.): A cultural history of Latin America. Literature, Music and the Visual Arts in the I9th and 20th Centuries. Cambridge (Cambridge University Press) 1998, S. 133-226, hierS. 186.

I. Einleitung

15

definiert, das sich im Falle eines Erklärungsdefizites automatisch selbst desavouiert, wendet Thomas S. Kuhn den Begriff Paradigma grob gesprochen auf ein ganzes (naturwissenschaftliches) Weltbild an, das aus einem komplexen Gebäude von Theorien und ihren Anwendungsmodellen besteht. Seine zentrale These, daß sich beobachtbare Phänomene überhaupt erst als solche konstituieren im Licht eines bestimmten Paradigmas, daß die phänomenale Wahrnehmung also je nach Paradigma des Forschers variieren kann und somit die Paradigmen untereinander inkommensurabel sind, fuhrt ihn zu der Schlußfolgerung, daß nicht etwa Falsifizierung einer Theorie durch Beobachtung zu einer wissenschaftlichen Revolution, d.h. zur Ablösung eines herrschenden Paradigmas fuhrt, sondern der quasi als Glaubenssache unter den Wissenschaftlern ausgetragene Kampf des alten mit einem neuen Paradigma, dessen „Auftauchen" freilich mit einer Häufung von Anomalien, d.h. von Erklärungsnotständen einhergeht. Das Defizit, die beobachtbare Realität mit der Theorie zu fassen, wird allerdings nicht rational analysiert. Vielmehr „werden die wissenschaftlichen Revolutionen [und das meint dann Paradigmenwechsel] durch ein wachsendes [...] Gefühl eingeleitet, daß ein existierendes Paradigma aufgehört hat, bei der Erforschung eines Aspekts der Natur [...] in adäquater Weise zu funktionieren."10 Von diesem „Gefühl" angetrieben findet der Kampf auf der Ebene der Überredung, nicht auf der der Überzeugung statt. Eine klare Distinktion von Paradigma (als Mittel) und Absicht (Zweck) ist unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Betrachtet man die Literatur in Analogie zum Spannungsfeld der beiden kurz skizzierten Auffassungen von wissenschaftlichen Paradigmen, so lassen sich zwei Grundprobleme herauskristallisieren: die Frage, inwieweit sich Absicht und Paradigma differenzieren lassen, und die Problematik der Kommensurabilität verschiedener Paradigmen, d.h. der Möglichkeit, eine inter-paradigmatische Kommunikationsebene zu etablieren. Schärfer gefaßt: Kann der Autor über sein Werkzeug, das Medium Text, frei verfugen oder schließt ein paradigmatisches Weltbild den Autor soweit ein, daß er sozusagen auf einer Stufe mit seiner literarischen Produktion steht? Auf die Literatur angewendet müßte das komplexe Kuhnsche Paradigma einer Art diskursivem Weltbild entsprechen. Das wirft die Frage auf, ob und inwieweit der Autor aus seinem diskursiven Weltbild ausbrechen bzw. sich auf eine andere, auf eine MetaEbene begeben kann, von der aus es ihm möglich ist, das eigene Paradigma zu thematisieren, es zum Gegenstand der Analyse zu machen." Vom Standpunkt der klaThomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 199714, S. 104 (Hervorhebungen G.M.). Den Begriff „Paradigmenwechsel" hat der Physiker Kuhn bereits in seinem Buch Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte 1962 in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingeführt. Von James Robertson wird er ausgeweitet zu einer Bezeichnung jener von Zeit zu Zeit stattfindenden Wechsel in grundlegenden Annahmen und Glaubenssätzen, die Wahrnehmungen und Handlungen regulieren. Die Konstanzer Schule mit Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß verwendet diesen Begriff als Metapher für die Innovation im Bereich der Literaturwissenschaft. Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1970. Die Möglichkeit eines Gbenenwechsels und damit einer Überwindung des Irrationalitätsdilemmas wird bei Kuhn selbst nicht explizit entwickelt. Vgl. Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Band II Theorie und Erfah-

16

I. Einleitung

ren Unterscheidung zwischen Absicht und Paradigma wäre auf dem Niveau der Absicht bereits eine Meta-Ebene erreicht, von der aus sich die Eignung verschiedener Paradigmen diskutieren lassen würde. Vom Standpunkt der radikalen Interdependenz von Absicht und Paradigma müßte die Meta-Ebene die Absicht mitthematisieren können. So erschiene unter klassisch rationalistischen und Kuhnschen Vorzeichen nicht nur ein Paradigmenwechsel, sondern auch eine Revision der Absicht in völlig unterschiedlichem Licht. Für die Boom-Autoren ergibt sich daraus folgendes Problemfeld: Für die Romane der sechziger Jahre scheint die politische Absicht, integriert in eine lateinamerikanische Ausformung des Marxismus, ein eindeutig außertextuelles Residuum darzustellen, das sich bestimmter literarischer Mittel zum Zwecke politischer und kultureller Bewußtseinsbildung bedient. Für die neunziger Jahre hingegen gestaltet sich das Verhältais weitaus ambivalenter: Dadurch, daß ein — wenn nicht das wesentliche - Charakteristikum der aktuellen Texte in der Beschäftigung der Literatur mit sich selbst besteht, drängt sich der Eindruck auf, daß die Autoren viel mehr als das in den sechziger Jahren der Fall war im Bann ihres Mediums stehen. Andererseits suggerieren sie, daß sie sich mit ihrer Selbstbeschäftigung gerade auf eine Meta-Ebene begeben, von der sie die damaligen Paradigmen in den Blick nehmen. Es steht zur Disposition, inwieweit dieser Ebenenwechsel gelingt und ob im Zuge der Abwendung vom alten tatsächlich ein neues Paradigma entsteht. Die Absicht läßt sich nicht mehr so klar ausmachen wie in den fioom-Romanen, und sie scheint ihre Emanzipation vom literarischen Medium einzubüßen. Stellt man die Absicht in den Hintergrund, so bietet der Begriff des Erfahrungsgehaltes12 einen umgekehrten Zugang zur Problematik des Paradigmas. Während die Rede von der Absicht das Schreiben gleichsam als Produktion auffaßt, die durch ein vorgestelltes Ziel motiviert wird, rückt die Erfahrung den Aspekt der Realitätswahrnehmung in den Mittelpunkt, deren Verarbeitung sich die Literatur widmet. Analogisiert man den Zugang zur Realität über die Wahrnehmung mit der Beobachtung in den Naturwissenschaften, so ließe sich der Wirkungsbereich des Paradigmas auf zwei verschiedenen Ebenen denken: Vom rationalistischen Standpunkt begänne der Einfluß des Paradigmas auf der Ebene der literarischen Verarbeitung und ließe die Wahrnehmung der Realität selbst unbeeindruckt. Dahingegen müßte man in der Kuhnschen Perspektive von einer selektiven, durch das diskursive Weltbild gefilterten Wahrnehmung sprechen. Unter diesen Vorzeichen könnte über Literatur, verstanden als Ausdruck von Erfahrung, nicht mehr frei verfügt werden, wenn auch durch rung. Zweiter Halbband Theorienstrukturen und Theoriendynamik. Berlin, Heidelberg, New York (Springer) 1973, S. 169 f. Literatur setzt als konkrete, anschauliche Repräsentanz konkreter und materieller Praxis im Bereich menschlicher Erfahrung an und kann diese ins Bewußtsein heben. Vgl. Jochen SchulteSasse: „Gebrauchswerte der Literatur. Eine Kritik der ästhetischen Kategorien .Identifikation' und .Reflexivität', vor allem in Hinblick auf Adorno". In: Christa Schulte, Peter Bürger, Jochen Schulte-Sasse (Hg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1982, S. 62-142, hier S. 90.

I. Einleitung

17

einen zweiten Vermittlungsprozeß — den der unmittelbaren literarischen Verarbeitung einer (bereits ohne seinen bewußten Einfluß) vorselektierten Wahrnehmung - noch ein (allerdings begrenzter) Spielraum für individuelle Ausformung durch den Autor besteht, ein Spielraum, den es unter Kuhnschen Prämissen in der Naturwissenschaft so nicht geben kann.

4. Forschungsperspektiven Während die Entwicklung des literarischen Werks der Boom-Autoren im Rahmen einer Zusammenschau bisher nicht untersucht wurde, gibt es einzelne Monographien, die das jeweilige Gesamtwerk eines Autors, häufig aber nur bis Ende der achtziger Jahre unter einer speziellen Fragestellung in den Blick nehmen. Zu erwähnen sind in bezug auf Vargas Llosa die Arbeiten von Sabine Köllmann13, Efrain Kristal14, Julio Roldàn15, Thomas M. Scheerer16, Norbert Lentzen17, Raymond L. Williams18 und die beiden Kongreßakten, die jeweils von José Morales Saravia19 und Roland Forgues20 herausgegeben wurden. Bezogen auf Fuentes zählen zur jüngeren Forschung die Arbeiten von Rosa Maria Sauter de Maihold21, Bärbel Bohr22, Maarten van Delden23, Williams24, Chalene Helmuth25, Barbara Dröscher und Carlos Rincón26.

Vgl. Sabine Köllmann: Literatur und Politik - Mario Vargas Llosa. Frankfurt/M. u.a. (Peter Lang) 1996. Vgl. Efrain Kristal: Temptation of the word: the novéis of Mario Vargas Llosa. Vanderbilt (University Press) 1998. Vgl. Julio Roldan: Vargas Llosa. Entre el mito y la realidad. Posibilidades y limites de un escritor comprometido. Marburg (Tectum) 2000. Vgl. Thomas M. Scheerer: Mario Vargas Llosa: Leben und Werk. Eine Einfiihrung. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1991. Vgl. Norbert Lentzen: Literatur und Gesellschaft: Studien zum Verhältnis zwischen Realität und Fiktion in den Romanen Vargas Llosas. Bonn (Romanistischer Verlag) 1996. Raymond Leslie Williams: Vargas Llosa: Otra historia de un deicidio. México, D.F. (Aguilar) 2001 Vgl. José Morales Saravia (Hg.): Das literarische Werk von Mario Vargas Llosa. Akten des Colloquiums im Ibero-Amerikanischen Institut Berlin, 5.-7. November 1998. Frankfurt/M. (Vervuert) 2000. Vgl. Roland Forgues (Hg.): Mario Vargas Llosa. Escritor, ensayista, ciudadano y político. Lima (Minerva) 2001. Vgl. Rosa María Sauter de Maihold: Del silencio a la palabra - Mythische und symbolische Wege zur Identität in den Erzählungen von Carlos Fuentes. Frankfurt/M. (Lang) 1995. Vgl. Bärbel Bohr: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte, Kultur und Literatur Europas im Werk von Carlos Fuentes. Hamburg (Kovac) 1998. Vgl. Maarten van Delden: Carlos Fuentes, Mexico and modernity. Liverpool (Liverpool University Press) 1998.

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I. Einleitung

Sauter de Maiholds Arbeit ist für die Fragestellung der vorliegenden Dissertation von besonderem Interesse, da sie die Identitätsfrage und ihre Bedeutung ñir Fuentes ins Zentrum stellt. Nach einem allgemeinen Abriß über die Identitätsdiskussion in Mexiko stellt sie in einem zweiten Teil Fuentes' Position darin dar. Im Anschluß daran unterteilt sie sein Gesamtoeuvre in verschiedene Phasen, die die Auseinandersetzung mit Identität jeweils neu artikulieren oder zumindest leicht variieren. Innovativ an ihrer Untersuchung ist, daß sie im letzten Kapitel den „realismo simbólico" als neue Kategorie in der lateinamerikanischen Literaturgeschichte präsentiert. Ihre Studie ist ein wertvoller Beitrag für die vorliegende Arbeit, konzentriert sich aber, wie ihr Titel schon sagt, vor allem auf die Erzählungen des mexikanischen Autors. Ebenso bedeutsam ist die Arbeit von Bohr, die sich mit dem Stellenwert der Geschichte, Kultur und Literatur Europas im Werk von Fuentes beschäftigt. Gerade im Blick auf Fuentes' Identitätsprojekt stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der abendländischen Kultur. Bohr beginnt ihre Untersuchung mit dem Fundament spanischer Identität im Werk des mexikanischen Autors und analysiert seine Auseinandersetzung mit den kulturgeschichtlichen Stereotypen .Amerika als Utopie Europas" und „Europa als Utopie Amerikas". Das letzte Kapitel bildet eine Darstellung seines gewandelten Utopieverständnisses. Neben ihrer Analyse spezifisch europäischer Elemente im narrativen Œuvre war für das Anliegen der vorliegenden Studie gerade dieses letzte Kapitel von Bedeutung, tangiert es doch am ehesten die Frage nach einer Entwicklung des Gesamtwerks. Im Zusammenhang mit García Márquez ist die Reihe neuer Monographien weniger umfangreich. Zu erwähnen sind die zweibändige Aufsatzsammlung, die von Juan Gustavo Cobo Borda27 im Auftrag des Instituto Caro y Cuervo herausgegeben wurde, und die Arbeit von Karsten Düsdieker28. Düsdiekers komparatistische Studie, die den kolumbianischen Autor als Mittler zwischen latein- und nordamerikanischem Roman darstellt, eröffnet eine neue Perspektive auf dessen Hauptwerk, da sie herausarbeitet, inwiefern durch die im Roman präsente literarische Oralität eine Methode eingeleitet wird, der sich die postkolonial bemühte Soziologie, Ethnographie und Anthropologie verpflichtet fühlen.

Vgl. Raymond Leslie Williams: Los escritos de Carlos Fuentes. México, D.F. (Fondo de Cultura Económica) 1998. Vgl. Chalene Helmuth: The postmodern Fuentes. Lewisburg (Bucknell University Press) 1997. Barbara Dröscher, Carlos Rincón (Hg.): Carlos Fuentes' Welten. Kritische Relektüren. Berlin (ed. tranvía, Verl. Frey) 2003. Vgl. Juan Gustavo Cobo Borda (Hg.): Repertorio crítico sobre García Márquez. Tomo I y II. Santafé de Bogotá (Instituto Caro y Cuervo) 1995. Vgl. Karsten Düsdieker: Kulturtransfer Renarrativierung InterAmerika. Gabriel García Márquez als Mittler zwischen latein- und nordamerikanischem Roman. Berlin (Wissenschaftlicher Verlag Berlin) 1999.

I. Einleitung

19

Donosos Werk ist im Vergleich zu dem der drei heute noch schreibenden Hauptrepräsentanten des Booms wenig erforscht. Erwähnenswert sind die Monographien von Carlos Cerda29, Enrique Luengo 30 und Philip Swanson 31 . Erst die unlängst erschienenen Monographien von Brent J. Carbajal 3 und Michael Colvin 33 berücksichtigen auch die ab 1990 erschienenen Romane. Wie sich in Kapitel II. zeigen wird, liegt die Gemeinsamkeit der ßoow-Romane in der Suche nach einer spezifisch lateinamerikanischen Identität.34 Ab den siebziger Jahren wird dieses als zentral erachtete Thema als zu dominanter literaturwissenschaftlicher Diskurs vereinzelt in Frage gestellt; allerdings wird die entscheidende Studie erst 1994 von Vittoria Borsò publiziert. 35 Obwohl sie das Phänomen des Boom nicht als Ganzes in den Blick nimmt und sich auf mexikanische Autoren (José Revueltas, Juan Rulfo und Elena Garro) konzentriert, ist ihr „kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus" ein Ansatz, der die Frage eines Paradigmenwechsels nach dem Boom grundsätzlich sehr bereichert. Daß der Begriff des Magischen Realismus im Falle des hier zu untersuchenden Romankorpus nur auf Garcia Márquez anzuwenden ist, tut einer grundsätzlich kritischen Retrospektive keinen Abbruch. Ebenfalls wichtig sind die Studien Andrea Pagnis 36 , die sich sowohl mit dem Wandel von Identitätskonzepten als auch von Intellektuellenkulturen in Lateinamerika be-

29 30 31 32

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36

Vgl. Carlos Cerda: Donoso sin límites. Santiago (Lom Ed.) 1997. Vgl. Enrique Luengo: José Donoso: Desde el texto al metatexto. Concepción (Pinto) 1991. Vgl. Philip Swanson: José Donoso. The boom and beyond. Liverpool (Cains) 1988. Vgl. Brent J. Carbajal: The veracity of disguise in selected works of José Donoso. Lewiston u.a. (The Edwin Mellen Press) 2000. Vgl. Michael Colvin: Las últimas obras de José Donoso: Juegos, roles y rituales en la subversión del poder. Madrid (Pliegos) 2001. Daß sich die Beschäftigung mit der Identitätsfrage in der Lateinamerikanistik geradezu inflationär entwickelt hat, erübrigt nicht eine notwendige Auseinandersetzung mit dieser Kategorie in den Romanen, um eine zentrale gemeinsame Ebene zu schaffen, von der aus die Romane verglichen werden können. Vgl. Vittoria Borsö: Mexiko jenseits der Einsamkeit - Versuch einer interkukturellen Analyse. Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus. Frankfurt/M. (Vervuert) 1994. Einen wichtigen kritischen retrospektiven Beitrag liefert auch Michael Rössner. Er betont, daß das Streben nach Selbstfindung, nach Ausbildung einer nichteuropäischen Identität sich auf Grund der Anregung durch die Pariser Avantgarde und die europäische Ethnologie doch wieder als „europäisch vermittelt" darstelle. Vgl. Michael Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies: zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jh. Frankfurt/M. (Athenäum) 1988, S. 179. Vgl. Andrea Pagni, Erna von der Walde „Qué intelectuales en tiempos posmodernos o de cómo ser radical sin ser fiindamentalista? Aportes para una discusión con Beatriz Sarlo." In: Roland Spiller (Hg.): Culturas del Río de la Plata (1973-1995). Frankfurt/M. (Vervuert) 1995, S. 286312; Andrea Pagni: „Ficciones fundacionales y trabajo de la memoria: La búsqueda de la identidad en la literatura latinoamericana de los siglos XIX y XX en retrospectiva". In: Michael Riekenberg, Stefan Rinke, Peer Schmidt (Hg.): Kultur-Diskurs: Kontinuität und Wandel der

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I. Einleitung

fassen. Was die Frage nach Selbstverständnis und Aktionsradius der lateinamerikanischen Intelligenzija betrifft, so ist nach den zu Klassikern avancierten Veröffentlichungen von Angel Rama37 und Alejandro Losada38, die sich um einen sozialgeschichtlichen Ansatz in der lateinamerikanischen Literaturgeschichtsschreibung bemühten, vor allem die neue Arbeit von Vicente Lecuna bemerkenswert: Bereits ihr Titel La ciudad letrada en el planeta electrónico indiziert, daß der Ansatz Ramas fortgesetzt wird; dazu untersucht er die Beziehungen zwischen Schrift und politischer Macht in Lateinamerika seit den sechziger Jahren. Für eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Entwicklung von Intellektuellenkulturen sind aus historiographischer Perspektive besonders die Arbeiten von Nicola Miller39 aufschlußreich. Auch wenn sie sich auf den Zeitraum von 1920-1960 konzentriert, liefert ihre spezielle Fokussierung auf die Identitätsfrage als politisches Propagandainstrument eine wichtige Basis für eine Untersuchung der Entwicklung des literarischen Feldes ab Beginn der siebziger Jahre. Entscheidende Fakten aus soziologischem Blickwinkel liefern die Studien von Jorge Castañeda40 und Alain Touraine

Diskussion um Identitäten in Lateinamerika 2001a, S. 133-144.

im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart (Heinz)

37

Rama entwickelt eine lateinamerikanische Theorie der Schriftlichkeit. Die auch an Michel Foucault orientierte, in erster Linie soziologische Studie hat zum Ausgangspunkt die Urbanisierung der lateinamerikanischen Städte. Die These beinhaltet auch, daß auf dem lateinamerikanischen Kontinent die Schrift auf Grund des Macht-Diskurses der ciudad letrada eine wichtigere Funktion hatte als in Europa. Vgl. Angel Rama: La ciudad letrada. Hanover (Ediciones del Norte) 1984, S. 33.

38

Vgl. Alejandro Losada: „Articulación, periodización y diferenciación de los procesos literarios en América Latina". In: Revista de crítica literaria latinoamericana, 17, 1992, S. 36-70; Ders.: „La historia social de la literatura latinoamericana". In: Homines, 9, 1,2, 1985; Ders.: „La intemacionalización de la literatura latinoamericana". In: Cahiers du Monde Hispanique et Luso-Brésilien (Caravellej No 42, 1984, S. 15-40; Ders.: La literatura en la sociedad de América Latina, Perú y el Río de la Plata 1837-1880. Frankfurt/M. (Vervuert) 1983.

39

Vgl. Nicola Millen „Intellectuals and the State in Spanish America: A Comparative Perspective". In: Will Fowler (Hg.): Ideologues and Ideologies in Latin America. London (Greenwood Press) 1997, S. 45-64. Nicola Miller: In the Shadow of the State. Intellectuals and the Quest for National Identity in Twentieth-Century Spanish America. London, New York (Verso) 1999.

40

Vgl. Castañeda 1993.

41

Vgl. Alain Touraine: Le parole et le sang. Politique et société en Amérique Latine. Paris (Odile Jacob) 1988. Da nach dem skizzierten, hier grundlegenden, Verständnis von „Paradigmenwechsel" eine Beleuchtung außerliterarischer Faktoren unabdingbar zur Interpretation der Texte dazugehört, ja, die Trennung von außer- und innerliterarischem Bereich bereits problematisch ist, wird sich im Folgenden der von Pierre Bourdieu entwickelte Begriff des Literarischen Feldes als hilfreiches Instrument erweisen. Allerdings besteht bezüglich der Anwendung dieses Instrumentariums von soziologischer Seite aus für Lateinamerika ein Manko, das von einer literaturwissenschaftlichen Arbeit nicht behoben werden kann.

I. Einleitung

21

Die Fragen nach dem Wandel von Intellektuellenkulturen in Lateinamerika ordnen sich ein in den kulturtheoretischen Kontext der Lateinamerikaforschung 4 2 , der seit Beginn der neunziger Jahre mehr und mehr expandiert und ohne den zeitgenössische Literaturwissenschaft nicht mehr auskommt. 4 3 Die vorliegende Arbeit beginnt mit einer innertextuellen Annäherung an die BoomRomane. D a sie schon vielfach bearbeitet wurden und die zentralen Themen bekannt sind, sollen an Hand j e w e i l s eines Romans pro Autor 4 4 die bereits grob skizzierten gemeinsamen Elemente herausgearbeitet werden. D i e Auswahl der Romane ist dabei weniger der bereits erfolgten Kanonisierung 4 5 (durch Erfolg und Literaturwissenschaft) geschuldet, als der literarischen Bezugnahme in den Werken der neunziger Jahre. Z u m einen soll eine Basis geschaffen werden, von der aus die R o m a n e kontrastierend betrachtet werden können, z u m andern soll die Darstellung der thematischen Schnittmengen eine Grundlage schaffen, die Autoren als Gruppe 4 6 zu verstehen. Vgl. Hugo Achugar: La biblioteca en ruinas. Montevideo (Ediciones Trike) 1994; José Joaquín Brunner: América Latina: Cultura y modernidad. México, D.F. (Grijalbo) 1992; Román de la Campa: Latin Americanism. Minneapolis, London (University of Minnesota Press) 1999; Néstor García Canclini: Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad. México, D.F. (Grijalbo) 1989; Nestor García Canclini: Consumidores y ciudadanos: Conflictos culturales de la globalización. México, D.F. (Grijalbo) 1995; Martín Hopenhayn: Ni apocalípticos ni integrados: Aventuras de la modernidad en América Latina. México, D.F. (Fondo de Cultura Económica) 1994; Brett Levinson: The ends of literature. The Latin American „Boom" in the Neoliberal Marketplace. Stanford (Stanford University Press) 2001; Jésus Martín Barbero: Comunication, Culture and Hegemony. From the Media to Mediations. London (Sage) 1993; Carlos Monsiváis: Aires de familia. Cultura y sociedad en América Latina. Barcelona (Anagrama) 2000; Beatriz Sarlo: Escenas de la vida posmoderna: Intelectuales, arte y video-cultura en Argentina. Buenos Aires (Ariel) 1994; Nelly Richard: „Latinoamérica y la postmodernidad". In: La Torre, 14, 12, 1999, S. 367-378; Martha Zapata Galindo: Jenseits des Nationalismus. Zur neuen Rolle der Intellektuellen in einer globalisierten Welt". In: Barbara Dröscher, Carlos Rincón (Hg.): Carlos Fuentes' Welten. Kritische Relektüren. Berlin (ed. tranvía, Verl. Frey) 2003, S. 97-121. 43

Sie charakterisieren sich vor allem über die Kritik an den Folgen des europäischen Moderneprojekts. Monika Walter betont, daß die Selbstgewißheit und Selbstpräsenz eines denkenden und schreibenden Vernunft-Ich in diesen Debatten durch das neugeforderte Verantwortungsethos gegenüber dem Anderen fundamental in Frage gestellt ist Vgl. Monika Walter: „Selbstrepräsentation des Anderen im Testimonio? Zur Archäologie eines Erzählmodus lateinamerikanischer Moderne". In: Hermann Herlinghaus, Utz Riese (Hg.): Sprünge im Spiegel. Postkoloniale Aporien der Moderne in beiden Amerika. Bonn (Bouvier) 1997, S. 21-61, hier S.

44

José Donoso: El obsceno pájaro de la noche. [1970] Barcelona (Seix Banal) 1992; Carlos Fuentes: La muerte de Artemio Cruz. [1962] México, D.F. (Fondo de Cultura Económica) 1993; Gabriel García Márquez: Cien años de soledad. [1967] Edición de Jacques Joset. Madrid (Cátedra) 1995. Mario Vargas Llosa: La casa verde. [1966] Barcelona (Seix Barral) 1993. Zur Problematik der Kanonisierung vgl. Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon - Macht - Kultur: theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart (Metzler) 1998.

28.

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46

Zur Anwendung des Begriffs der „Gruppe" auf die ßoom-Autoren sei die Erwähnung Raymond Leslie Williams zitiert: „As a group of writers with personal bonds and a common aesthetic and

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I. Einleitung

Da man sich in der Forschung noch nicht intensiv mit den Romanen der neunziger Jahre befaßt hat, sollen im zweiten Teil der Arbeit alle seit 1990 erschienenen Romane47 der vier Autoren vorgestellt und interpretiert werden, schwerpunktmäßig unter Berücksichtigung von Fragestellungen, die aus der Beschäftigung mit den BoomRomanen im ersten Teil gewonnen wurden. Auf der Basis des Vergleichs lassen sich zwei Forschungslinien entwickeln: eine individuelle und eine parallele. Die individuelle geht primär von den Unterschieden zwischen den einzelnen Autoren aus, von Autoren, die schließlich immer auch Repräsentanten ihres jeweiligen Landes und seiner spezifischen Kultur sind. Es soll versucht werden, partikulare Entwicklungslinien bzw. Paradigmenwechsel in den Blick zu nehmen, die durchaus mit nationalen Besonderheiten zusammenhängen können. Die parallele Untersuchungsperspektive fokussiert dagegen die Gesamtheit der behandelten Autoren und geht von den Schnittmengen aus, die sie - soviel läßt sich zumindest für die sechziger Jahre mit Sicherheit sagen — literarisch verbinden. Es wird zu klären sein, ob es gemeinsame Entwicklungen in ihrem Werk gibt und inwiefern für die neunziger Jahre überhaupt noch von eipolitical agenda, they ended their boom in the spring of 1971, when they met for the last time as a group in the home of Cortázar in Saignon, France." [Hervorhebung G.M.] Raymond Leslie Williams: Modernity and Tradition: The new Latin American and Caribbean Literature, 19561996. Austin (Univ. Press) 1996, S. 18. Paradoxerweise war es das freiwillige Exil in Paris Anfang der sechziger Jahre und etwas später Barcelona, das den intellektuellen Austausch der ßoom-Autoren und damit auch die Herausbildung eines Zusammengehörigkeitsgefühls im Sinne einer lateinamerikanischen kulturellen Identität bewirkte. Vgl. Sebastian Thies: „Die mexikanische Literatur im 20. Jahrhundert". In: Arbeitskreis Mexiko-Studien (Hg.): Streifzüge durch die mexikanische Gegenwartsliteratur. Berlin (ed. tranvía, Verl. Frey) 1998, S. 22-43, hier S. 39. Horacio Riquelme hat auf die psychologischen Aspekte der Identitátsñndung von Lateinamerikanern in Europa aufmerksam gemacht. Vgl. Horacio Riquelme: „Literatur und Identität: Lateinamerikaner in Europa". In: Ders. (Hg.): Erkundungen zu Lateinamerika. Identität und psychosoziale Partizipation. Frankfurt/M. (Vervuert) 1990, S. 118-139, hier S. 120. Trotzdem soll an dieser Stelle dem möglichen Einwand vorgebeugt werden, schematisierend den ohnehin umstrittenen Gruppenbegriff als Grundlage der Arbeit zu verwenden. Außerdem ist bekannt, daß „[...] el boom no fue un movimiento literario concertado, sino más bien una convergencia de autores que en el mismo momento histórico (la década de los sesenta), en países diferentes de América Latina, escribían obras que lograron internacionalizarse debido a razones muy complejas." Ana Luisa Sierra (Hg.): Me gustas cuando callas. Los escritores del Boom y el género sexual. San Juan (Editorial de la Universidad de Puerto Rico) 2002, S . U . Unabhängig von dem spezifischen Gruppencharakter der losen Verbindung der Boom-Autoren steht außer Frage, daß die Subsummierung von Autoren unter Gruppen grundsätzlich problematischer Natur ist. José Donoso: Donde van a morir los elefantes. Buenos Aires (Alfaguara) 1995; Conjeturas sobre la memoria de mi tribu. Madrid (Alfaguara) 1996; El Mocho. Santiago (Alfaguara) 1997; Carlos Fuentes: La campaña. México, D.F. (Fondo de Cultura Económica) 1990a; El Naranjo. Madrid (Alfaguara) 1993a; Diana o la cazadora solitaria. México, D.F. (Alfaguara) 1994; La frontera de cristal. [1995] Madrid (Alfaguara) 1996; Los años con Laura Díaz. Madrid (Alfaguara) 1999. Gabriel García Márquez: El general en su laberinto. Bogotá (Oveja Negra) 1989; Doce cuentos peregrinos. [1992] Barcelona (Plaza y Janés) 1997; Del amor y otros demonios. Barcelona (Mondadori) 1994; Noticia de un secuestro. Bogotá (Norma) 1996; Mario Vargas Llosa: El pez en el agua. (Seix Barral) Barcelona 1993; Lituma en los Andes. Barcelona (Planeta) [1993] 1997; Los cuadernos de don Rigoberto. Madrid (Alfaguara) 1997.

I. Einleitung

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ner durch Formen und Inhalte verbundenen Gruppe die Rede sein kann. Darauf aufbauend können überindividuelle und möglicherweise übernationale (lateinamerikanische) Paradigmenwechsel thematisiert werden. Stützt man sich, wie hier vorgeschlagen, auf die Erfahrung der Unzulänglichkeit (ob durch rationale Beurteilung oder Gefühl) der bisherigen Paradigmen als Grund für einen Wandel, so muß in einem vierten Kapitel anhand der als neu herausgearbeiteten Paradigmen nach Ursachen und Modalitäten der Unzulänglichkeitserfahrung im Hinblick auf die alten Paradigmen gefragt werden.

II. DIE 500M-ROMANE ALS GROßE IDENTITÄTSSTIFTENDE ENTWÜRFE Kollektive Identität ist eine Leistung des Bewußtseins g e m e i n s a m erlebter, auf einen ursprünglichen Gründungsakt bezogener Geschichte und damit das Ergebnis vielschichtiger und oft langfristiger sozialer und kultureller Konstruktionen. 4 8 D a s B e dürfnis nach kollektiver Identitätsstiftung entspricht einer historischen Selbstbehauptung und versteht sich häufig als Antwort auf einen Verlust. 4 9 Für eine erste Annäherung an den inflationär 50 gebrauchten Begriff ist auszugehen von einem ausgeprägten, Gruppenbewußtsein erzeugenden Wir-Gefuhl. Genauer definiert Manfred Mols: „Abgesehen davon, daß auch diese Art von Bewußtsein durch Sozialisation vermittelt wird, also weniger ein individueller Orientierungs- als zunächst einmal ein kollektiver Lernprozeß ist, hat die Konstitution [kollektiver] Identität mehrere Katalysatoren und Stabilisatoren". Im Binnenverhältnis der Gruppe haben „objektive" Gemeinsamkeiten, im Kollektiv ähnlich oder sogar identisch interpretierte Erlebnisse und Ereignisse, also auch Mythen eine wichtige Funktion. Im Außenverhältnis geht es um eine unterscheidbare U m w e l t , der die eigenen internen Identifikationsmerkmale tatsächlich oder angeblich abgehen. 5 1 Kollektive Identität schließt 48

So definiert Walter Bruno Berg Identität allgemein. Vgl. Walter Bruno Berg: Lateinamerika. Literatur-Geschichte-Kultur. Eine Einführung. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1995, S. 91. Matzat hat auf den destabilisierenden Faktor von kollektiver Identität hingewiesen. Vgl. Wolfgang Matzat: Lateinamerikanische Identitätsentwürfe. Essayistische Reflexion und narrative Inszenierung. Tübingen (Narr) 1996, S. 113 f.

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Vgl. Emil Angehm: Geschichte und Identität. Berlin, u.a. (de Gruyter) 1985, S. 4. „Das Thema .Identität' hat Identitätsschwierigkeiten: die gegenwärtig inflationäre Entwicklung seiner Diskussion bringt nicht nur Ergebnisse, sondern auch Verwirrungen. In wachsendem Maße gilt gerade bei der Identität: alles fließt. So werden die Konturen des Identitätsproblems unscharf; es entwickelt sich zur Problemwolke mit Nebelwirkung: Identitätsdiskussionen werden - mit erhöhtem Kollisionsrisiko - zum Blindflug." Odo Marquard: „Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz - Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion". In: Ders., Karheinz Stierle (Hg.): Identität. Poetik und Hermeneutik VIII. [1979] München (Fink) 19962, S. 347-369, hier S. 347. Es besteht ein großer Unterschied darin, einerseits auf einer textimmanenten Ebene kollektive Identität in den Blick zu nehmen und andererseits die Möglichkeit von Identitätsstiftung durch die Literatur grundsätzlich zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit legt aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ihren Schwerpunkt auf den ersten Aspekt, wenn auch der zweite immer wieder tangiert werden wird. Dies schon deshalb, weil beispielsweise in den Essays der floom-Autoren beide Ebenen ständig vermischt werden.

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Vgl. Manfred Mols: „Bemerkungen zur Identität Lateinamerikas". In: Michael Riekenberg, Stefan Rinke, Peer Schmidt (Hg.): Kultur-Diskurs: Kontinuität und Wandel der Diskussion um Identitäten in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart (Heinz) 2001, S. 453-466, hier S. 454. Knapper, aber ähnlich definiert auch Jan Assmann: „Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren." Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung

26

II. Die ßoom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

also immer schon Alterität52 ein, sie konstituiert sich erst in aktuellen Handlungszusammenhängen und Interaktionen und bestimmt sich als Differenz zum Anderen, zum Fremden.53 Es ist charakteristisch für die lateinamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts, daß sie das Thema der gefährdeten Identität des individuellen Subjekts mit der Frage nach ihrer Verankerung in kollektiven Identitätsvorstellungen eines Volkes in Verbindung bringt. Hintergrund dafür ist in erster Linie der periphere und postkoloniale Status der lateinamerikanischen Kulturen, „der den von kollektiven Identitätsvorstellungen ausgehenden Orientierungsangeboten eine besondere Relevanz" gibt.54 Auch wenn spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Suche nach einer spezifisch lateinamerikanischen Identität ein wichtiges Anliegen in der Literatur darstellt, erfährt die Behandlung des Themas in den ßoom-Romanen eine besondere Ausprägung. Ungefähr zeitgleich mit ihrer Publikation äußert sich der mexikanische Philosoph Leopoldo Zea zu möglichen Gründen für den Mangel an kollektiven Identitätsvorstellungen auf dem Subkontinent: [...] el origen de nuestros males está en el hecho de querer ignorar nuestras circunstancias, nuestro ser americanos. Nos hemos empeñado, erróneamente, en ser europeos ciento por ciento, despreciando lo nuestro por considerarlo causa del fracaso.55

Sowohl er als auch Octavio Paz56 sind wichtige Repräsentanten der Identitätsdebatte um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie setzen die Reflexionen von Samuel Raund politische Identität in frühen Hochkulturen. München: (Beck) 1992, S. 132. „[Kollektive Identität ist ein] Komplex an symbolisch vermittelter Gemeinsamkeit und die kulturelle Formation [...] ist das Medium, durch das eine kollektive Identität aufgebaut wird." Jan Assmann, S. 139. 52

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Unter verschiedenen Alteritätsbegriffen ist für die vorliegende Studie der relative Alteritätsbegriff von Bedeutung. Darunter versteht sich die „stets gesehene bzw. mitgedachte Notwendigkeit einer komplementären Alterität der Identität". Vgl. (18.06.2000), S. 3. Vgl. Hans-Joachim König: Lateinamerika: Zum Problem der eigenen Identität. Regensburg (Friedrich Pustet) 1991, S. 6. Kollektive Identität knüpft als „Konstruktion" an bestimmte Wahrnehmungen des jeweils Anderen und damit an tatsächlich gegebene und beobachtete Differenzen an. Vgl. ( 18.06.2000), S. 4. Vgl. Matzat, S. 7. Leopoldo Zea: América como Conciencia. México, D.F. (Universidad Nacional Autónoma de México) 1972, S. 42. Wolfgang Matzat hat die zentralen Anliegen von Octavio Paz in dessen Hauptwerk El laberinto de la soledad treffend auf den Punkt gebracht. Vgl. Octavio Paz: El laberinto de la soledad. [1950] México, D.F. (Fondo de Cultura Económica) 1993. Schlüsselbegriff ist die „soledad". Ihre Symptome sind ein „penoso sentimiento defensivo de nuestra intimidad", eine Verschlossenheit gegenüber den Mitmenschen und die Tendenz zur Verstellung und zum Maskenspiel, wobei in analoger Weise die Violencia und der überschäumende Rausch des Festes als die entsprechenden Kompensationsmechanismen bezeichnet werden. Für Paz liegen die Gründe der mexikanischen Einsamkeitserfahrung in der Geschichte. „Soledad" hat die Bedeutung von „orfandad" und indiziert deshalb ein gebrochenes Verhältnis zur Vergangenheit. Die brutale Be-

II. D i e ß o o m - R o m a n e als große identitätsstiftende

Entwürfe

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mos 5 7 , Emilio Uranga 5 8 und anderen mexikanischen Philosophen fort. Der Formulierung ihrer Ideen ging die Rezeption der Philosophie Ortega y Gassets 5 9 und dessen Konsolidierung über das Wirken seines Schülers José Gaos in den vierziger Jahren voraus. 6 0 D i e vor allem in Mexiko 6 1 stattfindenden kulturtheoretischen Diskussionen bereiteten den Boden dafür, daß sich Anfang der sechziger Jahre in einer breiteren Schicht lateinamerikanischer Intellektueller eine Bewußtwerdung der peripheren Situation Lateinamerikas im Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Machtzentren der Welt feststellen läßt. 62 D i e kubanische Revolution v o n 1959 gab wichtige Impulse z u m A u f k o m m e n einer Dritte-Welt-Literatur 63 , Dependenztheorie in

gegnung der Eroberer mit den Eingeborenen, der Bruch mit der europäischen wie der indianischen Vergangenheit, der häufig unter beschämenden Umständen erfolgenden mestizaje, symbolisiert in der Figur der Malinche, bilden den Hintergrund dafür, daß die Geschichte von den Mexikanern negiert und verdrängt wird. Vgl. Matzat, S. 78. 57

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Vgl. Samuel Ramos: El perfil del hombre y la cultura en México. [1951] México, D.F. (Espasa Calpe Mexicana) 1992' S. 86 ff. Ramos' Buch bildet den Anfang einer Tradition der lateinamerikanischen Sozialpsychologie, die in den fünfziger Jahren von Paz und heute von Denkern wie Raúl Páramo Ortega, César Delgado Díaz del Olmo und Hugo Mansilla fortgeführt wird. Für die Stationen der lateinamerikanischen Identitätsdebatte war vor allem die Studie von Castro Gómez aufschlußreich. Vgl. Santiago Castro Gómez: „Identitätsdiskurse in der lateinamerikanischen Philosophie". In: Amos Nascimento, Kirsten Witte (Hg.): Grenzen der Moderne. Europa und Lateinamerika. Frankfurt/M. (IKO) 1997, S. 85-104, hier S. 86. Vgl. Emilio Uranga: Análisis del ser mexicano. México, D.F. (Porrúa & Obregón) 1952. In Historia de la filosofia en México zeigt Ramos, daß er durch die Schriften José Ortega y Gassets, vor allem Meditaciones sobre el Quijote und El tema de nuestro tiempo, entscheidende Anstöße erhalten habe. Vgl. Samuel Ramos: Historia de la filosofia en México [1943], in: Obras completas. Drei Bände. Mexiko (Universidad Nacional Autónoma de México) 1975, Bd. 2, S. 99-232, hier S. 149 ff. Ortegas These, daß jedes Volk wegen seiner spezifischen Situation eine eigene und als solche unersetzbare Erkenntnisperspektive entwickelt („Yo soy yo y mi circunstancia"), begründet die erneute Aufarbeitung der mexikanischen Geschichte als Grundlage einer mexikanischen Wirklichkeitssicht. Vgl. José Ortega y Gasset: El tema de nuestro tiempo. Madrid (Espasa Calpe) 198818, S. 143ff; Vgl. Ramos [1943] 1975, S. 219 f. Vgl. auch Matzat, S. 140. Vgl. Castro Gómez 1997, S. 91. Daß die philosophische Diskussion vor allem in Mexiko stattfindet, widerspricht nicht der Möglichkeit, dort entwickelte Identitätskonzepte auf den ganzen Kontinent zu übertragen, gerade weil es sich bei der literarischen Rezeption zeitgenössischer kulturtheoretischer Strömungen mehr um die Aufnahme von Impulsen handelt als um die konsequente Auseinandersetzung mit philosophischen Ideen. Der Identitätsdiskurs Lateinamerikas hat seit Beginn des Jahrhunderts in Mexiko einen besonders hohen Stellenwert, was neben der Revolution und dem sich aus der Nähe zu den USA ergebenden Assoziationen mit dem Mythos der Modernisierung auf eine intellektuelle Vormachtstellung zurückzuführen ist. Vgl. Borsò 1994, S. 31. Mexiko nahm letztlich für alle Autoren eine Sonderrolle innerhalb des lateinamerikanischen Kontinents ein. Donoso lebte mehrmals einige Jahre dort und García Márquez hat heute noch seinen Erstwohnsitz in Mexiko-Stadt. Vgl. Donoso [1972] 1983, S. 45 ff. Vgl. Castro Gómez 1997, S. 94. Als wichtigster Vertreter gilt Franz Fanon.

28

II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

Brasilien , „camilistischen • 66 gie .

Soziologie in Kolumbien

und der Befreiungstheolo-

Augusto Salazar Bondy67 stellt das Fehlen einer genuinen, authentischen Kultur in Lateinamerika fest. In einer Gesellschaft, die von ökonomischer Dependenz und sozialer Entfremdung gekennzeichnet ist, sei die Existenz eines originären, schöpferischen Denkens unmöglich; das entfremdete Leben der Lateinamerikaner führe zu einem ebenfalls entfremdeten und imitativen Denken, das deshalb entfremdend sei, weil es wie eine der Realität übergezogene Maske funktioniere. Von solch einer Perspektive aus könne die Entwicklung eines originären Denkens erst dann umgesetzt werden, wenn eine radikale Umwandlung der lateinamerikanischen Gesellschaften durch Beseitigung der Dependenz und Unterentwicklung vorausgehe. Ansonsten verharre die lateinamerikanische Kultur in einer permanenten „Mystifizierung" europäischer Modelle.68 Das Werk Enrique Dussels69, eines der wichtigsten Vertreter der Befreiungsphilosophie70, setzt den Ansatz Salazar Bondys fort. Die lateinamerikanische Kultur hat für ihn deshalb mimetische Züge, da sie sich auf die Nachahmung von Ideen und Weiten beschränkt habe, die in Europa produziert worden seien. Allerdings erkennt er an, daß auf dem gesamten Kontinent bereits erste Anzeichen von Authentizität vorhanden sind, und zwar in dem Maß, in dem ein kritisches Bewußtsein als Individuen wie auch als Völker einer entfremdeten Situation entstehe. Er geht davon aus, daß die Philosophie sich diesem Prozeß durch die „Zerstörung" der philosophischen 64

65 66

67

68

69

70

Die ersten Impulse gingen aus von Fernando Henrique Cardoso, Enzo Faletto und Theotonio Dos Santos. Entscheidende Anregungen kamen von Orlando Fals Borda. Erste Äußerungen, denen Gehör geschenkt wurde, kamen von Gustavo Gutiérrez und Leomardo Boff. Vgl. Augusto Salazar Bondy: ¿Existe und filosofía de nuestra América? México, D.F. (Siglo XXI) 1968. Vgl. hier und die folgende Systematisierung philosophischer und kulturtheoretischer Strömungen: Castro Gómez 1997, S. 95. Vgl. Enrique Dussel: Introducción a la filosofía de la liberación. Bogotá (Ed. Nueva América) 1983, S. 36. Im Rahmen der im 20. Jh. aufgekommenen Frage nach dem besonderen Charakter philosophischen Denkens nimmt die sich in den sechziger und siebziger Jahren herausbildende Befreiungsphilosophie einen wichtigen Stellenwert ein. Das kommt besonders deutlich in der sogenannten Deklaration von Morelia zum Ausdruck, die 1975 anläßlich eines Philosophiekongresses zur Thematik der gegenwärtigen Philosophie von Leopoldo Zea, Alberto Villegas, Andrés Roig, Enrique Dussel und Francisco Miró Quesada unterzeichnet wurde. Auch wenn jeder dieser Denker eine eigene philosophische Position vertritt, wurde die Thematik Philosophie und Unabhängigkeit als ein grundlegendes theoretisches Anliegen von allen anerkannt. Diese Frage hat ihre Wurzeln in der ideengeschichtlichen Wirksamkeit der Aufklärungsphilosophie in Lateinamerika, die ein Moment der Moderne bildet. Von einem emotionalen Bolivarismus ausgehend wird ein Programm geistiger Emanzipation formuliert. Vgl. Heinz Krumpel: Philosophie in Lateinamerika. Grundzüge ihrer Entwicklung. Berlin (Akademie Verlag) 1992, S. 241.

II. Die

-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

29

Denkweise der Moderne angeschlossen habe, die von Dussel als eine Ideologie entlarvt wird, welche die imperialistischen Interessen der westlichen Zivilisation legitimiert.71 Die Rationalität der Moderne werde von der kartesischen Idee des „Ich erobere" geprägt, die der europäischen „Totalität" eigen sei und sie zur Unterordnung und Verdinglichung alles Nichteuropäischen zwinge, womit jede Öffnung zum „Anderen" unmöglich gemacht werde.72 Anliegen der Befreiungsphilosophie ist es deshalb, diesen Unterdrückungsdiskurs zu demontieren, um die Kehrseite der Moderne neu zu entdecken, die Dussel als „Exteriorität" bezeichnet. In diesem Bereich der Exteriorität, die über den imperialen Logos hinausgehe, befinde sich die ursprüngliche und damit eigentliche Identität Lateinamerikas: in der Lebenswelt des Indios, des campesinos, des Armen und Unterdrückten. Die lateinamerikanische Identität kommt erst dann authentisch zum Ausdruck, wenn ihre eigentlichen Subjekte die nötige politische Autonomie erhielten, die ihnen den „Entwurf einer eigenen Sittlichkeit" ermögliche.73 In diesem geistesgeschichtlichen Klima entstanden die ßoom-Romane. Inwiefern nun eine direkte Rezeption einzelner Philosophen oder Kulturtheoretiker durch die öoo/w-Autoren stattfand, ist offen und nur im Einfluß von Paz auf Fuentes klar nachweisbar.74 Entscheidend ist, daß die Romane von García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa, und Donoso in einem kulturgeschichtlichen Kontext entstanden, in dem die Frage nach einer lateinamerikanischen Identität von einem befreiungsphilosophischen Impuls inspiriert war. Eine Annäherung an ihre Texte bedarf zweier Verständnisebenen, die sich gegenseitig ergänzen und auch bedingen: Während die Ausfuhrungen in II.l. zeigen werden, wie Identität auf einer innerliterarischen Ebene inszeniert wird, will die Darstellung in II.2. auf Konstellationen des literarischen Feldes eingehen, die mitverantwortlich dafür sein können, daß solche Romane überhaupt erst geschrieben wurden. Der Blick innerhalb des zuletzt genannten Teilaspekts auf außerliterarische Faktoren konzentriert sich nicht zentral auf die europäische Rezeption, sondern vielmehr auf den lateinamerikanischen Kontext.

„Die Moderne gilt vielen als ausschließlich europäisches Phänomen. [...] Die Moderne konstituiert tatsächlich eine europäische Tatsache, aber in dialektischer Beziehung zum NichtEuropäischen als dem letzten Gehalt dieses Phänomens." Enrique Dussel: Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Düsseldorf (Patmos) 1993, S. 25. 72 73 74

Vgl. Castro Gömez, S. 95. Vgl. Castro Gömez, S. 95. Fuentes hat selbst oft betont, wie sehr sein Schreiben durch El laberinto de la soledad beeinflußt wurde, und sowohl La regiön mäs transparente als auch La muerte de Artemio Cruz eine Aufarbeitung der u.a. von Paz geführten Diskussion um die mexikanische Identitätsphilosophie darstellen. Die erste Begegnung zwischen Fuentes und Paz ergab sich Anfang der fünfziger Jahre, als Paz gerade an El laberinto de la soledad arbeitete. Vgl. Sauter, S. 99.

30

II. Die floom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

Es wird zu zeigen sein, wie die gegenseitige Bedingtheit der beiden Ebenen verantwortlich ist für das literaturhistorisch außergewöhnliche Phänomen, daß in den sechziger Jahren in Lateinamerika nahezu zeitgleich mehrere große identitätsstiftende Entwürfe entstanden.

II. D i e Öoom-Romane als große identitätsstiftende

Entwürfe

31

1. Ringen um Identität als epische Herausforderung D i e spezifische Inszenierung von Identität in den Boom-Romanen hat z w e i Lesarten zur Voraussetzung. Während in 1.1. identitätskonstituierende Elemente und Motive als Gemeinsamkeit aller vier ß o o m - R o m a n e herauskristallisiert werden, ist in 1.2. eine weitere Art der Lektüre maßgeblich für die den Romanen charakteristischen Identitätsvorstellungen. Sie ist anzusiedeln im intentionalen Spielraum, den die Autoren literarischen Ausdrucksformen generell einräumen, d.h. in der Gesamtkonzeption der R o m a n e und in den Schreibstrategien.

1.1. Konstituenten eines essentialistischen Identitätsverständnisses Bei aller Verschiedenheit der vier hier behandelten Boom-Romane, La muerte de Artemio Cruz [1962] von Fuentes, La casa verde [ 1 9 6 5 ] von Vargas Llosa, Cien años de soledad [1967] von García Márquez und El obsceno pájaro de la noche [ 1 9 7 1 ] von D o n o s o , bildet das Projekt der Identitätssuche ihr zentrales gemeinsames Charakteristikum. Worin genau besteht nun diese Suche, dieses Ringen u m Identität? In allen vier Romanen finden sich in unterschiedlicher Ausprägung drei zentrale Motive, die identitätskonstituierende Funktion haben: 1) Mythische Elemente oder gar eine mythische Grundstruktur 75 ermöglichen es, eine durch die Kolonialisierung und ihre Folgen verdeckte kulturelle Essenz 7 6 Beim literaturwissenschaftlichen Rekurs auf den Mythos-Begriff standen zunächst ethnologische Ansätze im Vordergrund, die mythische Strukturen als Ausdruck prälogischen Denkens autochthoner Kulturelemente (Lévy-Bruhl) oder als eine von der rationallogischen verschiedene Form der Verarbeitung von Wirklichkeit (Lévi-Strauss) auffaßten. Beide Mythosauffassungen wurden als Niederschlag eines alternativen Bewußtseins zum abendländischen Logos verstanden. Ausgehend von der alternativen Position des Mythos im abendländischen Alteritätssystem beurteilte man die Verarbeitung von Mythen im hispanoamerikanischen Roman im Sinne autochthoner Identitätsfindung und als eigenständige amerikanische Ästhetik. Mythos wird hier zunächst in seiner primären Bedeutung als Erzählung verstanden: eine ursprüngliche Erzählung oder die Erzählung des Ursprungs. Vgl. Borsò 1994, S. 57. Vgl. auch Lucien Lévy-Bruhl: La Mythologie primitive. Paris (Presses Universitaires de France) 1963. Zur Rezeption des Mythenverständnisses von Lévi-Strauss durch die Boom-Autoren vgl. Carlos Fuentes: Tiempo mexicano. [1971] México, D.F. (Joaquín Mortiz) 1978, S. 28. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Anthropologie structurale. [1958] Paris (Plön) 1974, S. 227 ff. Lévi-Strauss charakterisierte mehrfach in seinen Werken die Struktur des Mythos als ein reduziertes Modells von Strukturen der Wirklichkeit. Dabei erhebe der Mythos im Gegensatz zum analytischen wissenschaftlichen Denken allerdings Anspruch auf die Erfassung der Totalität. Vgl. Ottmar Ette: „Funktionen von Mythen und Legenden in Texten des 16. und 17. Jahrhunderts über die Neue Welt". In: Karl Kohut (Hg.): Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas. Frankfurt/M. 1991, S. 161-182, hierS. 163.

32

II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe aufzudecken. Um autochthone Elemente wachzurufen, spielt der Gründungsmythos, d.h. ein Rekurs zum Ursprung77, eine zentrale Rolle. 2) Die zyklische Zeitdarstellung entspricht einer Emanzipation vom okzidentallinearen Zeitverständnis. 3) Das Motiv der Maske steht für die Schwierigkeit der Identitätsfindung.

1.1.1. Mythische Elemente Da die „wirkliche" Geschichte Lateinamerikas noch nicht geschrieben sei, müsse der Schriftsteller diese Aufgabe übernehmen.78 Fuentes sieht es als Aufgabe der Literatur 76

In der traditionellen Metaphysik war die Schlüsselrolle des Identitätsbegriffs noch nicht akut. Was einer oder etwas war oder ist, war festgelegt durch sein Wesen: durch seine essentia, natura. Vgl. Marquard, S. 359. Mit dem Begriff der Essenz wird die Unwandelbarkeit und Selbstgenügsamkeit der Wesens- und Seinsordnung betont, und diese zum allein wahrhaften Sein erklärt. Vgl. Alois Haider, Max Müller: Philosophisches Wörterbuch. Freiburg (Herder) 1993, S. 82. Das Gegenteil wäre auf philosophischer Ebene der Aktualismus, eine Lehre, die in bestimmten Bereichen oder im Gesamt der Wirklichkeit jegliches beharrende Sein leugnet und nur oder primär ein unaufhörliches Werden und Wirken behauptet. Dem Essentialismus der parmenideisch-platonischen Tradition steht der metaphysische Aktualismus gegenüber, der bis Heraklit zurückverfolgbar ist und im Deutschen Idealismus, in Nietzsche, Bergson und Vertretern der Existentialphilosophie seine deutlichste Ausprägung findet. Vgl. Halder, Müller, S. 9. Marquard äußerte sich zu einem essentialistischen Identitätsverständnis: „[...] der Identitätsbegriff macht modern seine Karriere als Ersatzbegriff für essentia und als Begriff des Ersatzpensums für Teleologie. Anders gesagt: der neuzeitliche Verlust des Wesens verlangt als sein Minimalsurrogat die Identität, und der neuzeitliche Telosschwund etabliert als Schwundtelos die Identität". Marquard, S. 358. Anders sieht es allerdings in Lateinamerika aus: Die spezifisch lateinamerikanische Affinität zu essentialistischen Identitätskonstruktionen artikuliert Larrain Ibañez: „Las tentaciones esencialistas han adoptado históricamente dos formas. Por un lado, algunas posiciones rechazan el hibridismo de nuestra cultura y buscan en algunos de sus componentes - sea el español, sea el indígena, sea el racionalista - la clave de nuestro ser verdadero o de su reconstrucción. Otras posiciones aceptan una matriz cultural híbrida, pero la fijan históricamente en un cierto período y se niegan a considerar el impacto de nuevos aportes." Larraín Ibañez, S. 127. Mit der Betonung des „Wesenhaften" in postkolonialen Identitätsdiskursen besteht die Gefahr, daß der in seinem Anliegen emanzipative, befreiungsphilosophische Identitätsdiskurs, den kolonialen Diskurs in seiner „Festgestelltheit" in der ideologischen Konstruktion des Anderssein untermauert. Vgl. Homi Bhabha: „Die Frage der Identität". In: Elisabeth Bronfen (Hg.): Hybride Kulturen: Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen (Stauffenburg) 1997, S. 97-122, hier S. 97. Vgl. auch Hermann Herlinghaus, Monika Walter: „Lateinamerikanische Peripherie - diesseits und jenseits der Moderne". In: Robert Weimann (Hg.): Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1997, S. 242-300, hier S. 249.

77

Bei der Sehnsucht nach dem Ursprung geht es darum, einen vor- und außerhistorischen Rückgriff auf die mündliche Tradition. Vgl. Paul Goetsch: „Die Rolle der mündlichen Tradition bei der literarischen Konstruktion sozialer Identität". In: Ders. (Hg.): Mündliches Wissen in neuzeitlicher Literatur. Tübingen (Narr) 1990, S. 289-302, hier S. 293. Zum Fehlen einer historiographischen Tradition in Lateinamerika bis 1950 im Gegensatz zu Europa, den USA und der Sowjetunion vgl. Miller 1999, S. 210-240.

78

II. D i e 5 o o w - R o m a n e als große

identitätsstiftende

Entwürfe

33

an, der o f f i z i e l l e n Geschichtsschreibung entgegenzutreten und der Vergangenheit ein e S t i m m e z u geben. Sentimos [...] que tenemos que darle una voz total a un presente que sin la literatura carecería de ella. Igualmente tenemos que darle voz a un pasado que está allí, inerte, yerto esperando a que se le reconozca. La historia de la América española es la historia de un gran silencio... Tenemos que rescatar el pasado, contestar a través de la literatura al silencio y a las mentiras de la historia [...]. Re-inventar la historia, arrancarla de la épica y transformarla en personalidad, humor, lenguaje, mito: salvar a los latinoamericanos de la abstracción de instalarlos en el reino humano de accidente, la variedad, la impureza: sólo el escritor en América Latina puede hacerlo. 79 Mit einer m y t h i s c h e n Antwort auf die G e s c h i c h t e soll e i n e produktive Alternative der t e l e o l o g i s c h e n G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g g e s c h a f f e n w e r d e n . 8 0 D i e s e r A n s p r u c h wurde n a c h Fuentes in Cien años de soledad beispielhaft realisiert: [...] el libro se reinicia, pero esta vez la historia cronológica ha sido relevada como una historicidad mítica simultánea. Digo historicidad y mito: la segunda lectura de Cien años de soledad funda de manera cierta y fantástica el orden de lo acaecido (la crónica) con el orden de lo probable (la imaginación) de modo que aquella fatalidad es liberada por este deseo. 81 Für ihn ist der M y t h o s ein p a s s e n d e s literarisches M e d i u m , u m e i n e lebendige Interaktion z w i s c h e n Gegenwart und V e r g a n g e n h e i t herzustellen. S i e schafft die nötige Voraussetzung, u m die kollektive Identität d e s lateinamerikanischen V o l k e s z u stiften. D a die ursprünglichen Kulturen der lateinamerikanischen V ö l k e r brutal a u s g e löscht wurden, gilt es, die präkolumbinische G e s c h i c h t e w a c h z u r u f e n und z u m Ursprung zurückzukehren. Fuentes orientiert s i c h an Paz, der Ursprung als comienzo absoluto, o d e r principio del principio versteht.82 S o m i t n i m m t der Ursprung die G e stalt e i n e s romantischen N a t u r m y t h o s an, d e m z u f o l g e der Urzustand der Kultur o h n e historische S c h u l d w i e d e r hergestellt w e r d e n soll: 3 Zur literarischen Inszenierung d i e s e s M y t h o s b e g r i f f s gliedert Fuentes La muerte de Artemio Cruz in z w ö l f Zeitabschnitte, die j e w e i l s in sich n o c h einmal durch e i n e p r o n o m i n a l e A u f f a c h e r u n g in eiCarlos Fuentes: La nueva novela hispanoamericana. 199816, S. 95 f.

[1969] México, D.F. (Joaquín Mortiz)

80

Vgl. Vittoria Borsó: „Der Mythos und die Ethik des Anderen. Überlegungen zum Verhältnis von Mythos und Geschichte im hispanoamerikanischen Roman". In: Karl Hölz, Siegfried Jüttner, Rainer Stillers (Hg.): Sinn und Sinnverständnis: Festschrift flir Ludwig Schräder zum 65. Geburtstag. Berlin (Schmidt) 1997, S. 252-267, hier S. 254.

81

Fuentes [1969] 1997, S. 59.

82

Paz, [1950] 1993, S. 29.

83

Vgl. Borsö 1997, S. S. 253. Vgl. auch Carmen Wurm: Doña Marina, la Malinche. Eine historische Figur und ihre literarische Rezeption. Frankfurt/M. (Vervuert) 1996, S. 275. „Carlos Fuentes intenta en términos contemporáneos la mutilación temporal y la falsa máscara y su transparencia - en las palabras de Octavio Paz - de la identidad esencial del mexicano, de establecer, de una vez para todas, la responsabilidad que tiene cada mexicano de identificarse con el verdadero origen de su ser." James Stais: ,„Todos los gatos son pardos' un acto de rebelión en nueve escenas". In: Helmy F. Giacoman: Homenaje a Carlos Fuentes. New York (Las Américas Publishing Company) 1971, S. 467-471, hier S. 468. (Hervorhebung G.M.)

34

II. Die Boom-Romane als große identitätsstifiende Entwürfe

ne Ich-, Du- und Er-Ebene unterteilt sind. Die zwölf Zeitabschnitte sind mit den Zyklen des aztekischen Kalenders in Zusammenhang gebracht worden.84 Neben dieser mythischen Gesamtstruktur verwendet Fuentes innerhalb des Textes einige mythische Elemente. So zeigt sich bei ihm das Wiederholungsprinzip als Verfahren der Mythenaktualisierung im Auftreten von Doppelgestalten. Der Dualismus ist ein Schaffensprinzip, der dem mesoamerikanischen Universum entstammt. A l'origine de tout, il y avait, pour les anciens, Mésoméricains, le couple suprême, celui que les Nahuas appelaient Ometeotl, „Dieu Deux" ou „Dieu de la Dualité". Un dieu, teyotl, durable comme la pierre, mais deux aspects, ou deux dieux formant une unité... D'entrée de jeu, nous voilà révélé ce qui domine la pensée mésoaméricaine: la dualité profonde de toutes choses. En tout, il y a deux aspects, parfois opposés et complémentaires, comme le masculin et le féminin, ce qui féconde et ce qui conçoit, l'actif et le passif. Une des figures de langage les plus usitées du nahuatl et d'autres langues mésoaméricaines consiste précisément à décrire une chose en nommant deux de ses aspects caractéristiques („disfrasismo"). 85

Artemio Cruz hat selbst vor seiner Geburt einen Zwillingsbruder gehabt, der vor seiner Geburt starb, als Atanasio Menchaca Isabel Cruz umgebracht hatte.86 Die Konstellation der Handlung erinnert an den Mythos der Nahuatl-Kultur, demzufolge Quetzalcoatl und Tezcatlipoca-Huitzilopochtli Zwillingsbrüder waren. Sie waren Söhne der Göttin Cihuacôatl, die bei ihrer Geburt starb.

Vgl. Liliana Befumo Boschi, Elisa Calabrese: Nostalgia del futuro en la obra de Carlos Fuentes. Buenos Aires (Garcia Cambeiro) 1974, S. 25 f. Vgl. Christoph Strosetzki: Kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im 20. Jahrhundert. München (Beck) 1994, S. 90. Fuentes selbst hat diese Zahlensymbolik zu den 12 Höllenkreisen bei Dante in Relation gesetzt, wobei die Forschung nicht ohne Grund auch auf die Nähe zu den 13 Zyklen des aztekischen Kalenders hinweist. Hölz, dessen Analyse von La muerte de Artemio Cruz eine grundlegende Interpretation für folgende Ausfuhrungen war, untersuchte auch den Zusammenhang zwischen rituellem Kalender und der Struktur des Romans. Sowohl der rituelle Kalender tonalpohualli, der 260 Tage umfaßt (2 x 10 x 13), als auch der Sonnenkalender xiuhmolpilli, dessen 18 Tage sich aus 18 Monaten zu je 20 Tagen zusammensetzen, zu denen dann noch die fünf leeren Tage, die gefurchteten nemontini hinzugezählt werden, strukturieren das Zeitgerüst bei Fuentes. Aus einer Kontamination beider kalendarischer Einheiten ergibt sich die „divinatorische" Zahl von 18 980 Tagen (20 x 13 x 73), die schließlich den magischen 52-Jahre Zyklus (18980 : 365) bilden. Eben diese Zahl wird im Roman oft angesprochen. Die erste historische Episode, die beschrieben wird, zeigt Artemio Cruz als einen Herrn von 52 Jahren. Vgl. Karl Hölz: „Carlos Fuentes: ,La muerte de Artemio Cruz'". In: Volker Roloff, Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.): Der hispanoamerikanische Roman. Band II. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1992, S. 53-66, hier S. 56. Vgl. auch Klaus Meyer-Minnemann: „Zyklische Zeit und Geschichte in ,La muerte de Artemio Cruz' von Carlos Fuentes". In: Rolf Kloepfer u.a. (Hg.): Bildung und Ausbildung in der Romania. Band II. Iberische Halbinsel und Laeinamerika. Romanistentag 1977. München (Fink) 1979, S. 280-300, hier S. 288. 85

86

Vgl. Anne Petit: Tiempo y mito en tres obras posmodernas de Carlos Fuentes: „ Gringo Viejo ", „La campana" y „El Naranjo". Nashville, Tennessee (Diss.) 1998. (UMI Number 9915109, Ann Arbor 48103), S. 223. Fuentes [1962] 1993, S. 315.

II. Die ßoo/w-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

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Ebenso wie sich später für Cien años de soledad zeigen wird, spielt auch bei Fuentes der Mythos der „ewigen Wiederkehr" eine wichtige Rolle.8 Am Ende des Romans schließt sich der Kreis, da es genau 52 Jahre her ist, daß Artemio als Junge Cocuya verlassen mußte. „Die rituelle Identität von Anfang und Ende einer Epoche sowie die zyklische Wiederkehr des Vergangenen prägen das Fest der Silvesterparty und geben ihm eine magische Note. Artemio erzwingt wie ein alter und müder Zauberer die jährliche Wiederholung."88 Hier ist wieder der Einfluß von Paz auf Fuentes deutlich. In El laberinto de la soledad verarbeitet der ältere Kollege in Anlehnung an Mircea Eliade die Vorstellung vom Mythos der ewigen Wiederkehr89 in seinem Konzept der auto-definición.90 Eliade definiert den Mythos als eine schriftliche oder mündliche Überlieferung, in der über eine Geschichte berichtet wird, die in einer sagenhaften Zeit, in der Zeit der Schöpfung der Welt („le temps [...] fabuleux des commencements") stattgefunden hat.9 Die Handelnden haben übernatürliche Kräfte und ihre Taten besitzen Allgemeingültigkeit fiir das Volk, das an diesen Mythos glaubt. Der Mythos wird von den jeweiligen Völkern als eine sakrale und wahre Geschichte aufgenommen — gleichgültig wie phantastisch diese sein mag; er hat Modellcharakter und regelt alle menschlichen Aktivitäten, darunter auch die profanen, wie die erste Beschaffung von Nahrung, Eheschließungen, Arbeit, Erziehung. Die primitiven Kulturen handeln nach Verhaltensmustern, die in ihrer Substanz auch dann nicht verändert werden, wenn sich ihre Formen mit der Zeit wandeln, denn der Mythos ist zeitlos, unveränderlich und zielt auf Einheit und Beständigkeit. Alfonso de Toro hat dargestellt, wie vor dem Hintergrund von Eliades Mythenanalyse die mythische Struktur von Cien años de soledad besonders deutlich wird. Eliade unterscheidet zwischen drei Mythentypen, die auf den Roman übertragen werden können: den Mythen der Weltschöpfung („les mythes cosmogoniques" 9 ) bzw. des Ursprungs („les mythes d'origine"), 93 den Mythen der ewigen Wiederkehr („mythe Einzelne Perioden der jüngeren mexikanischen Geschichte werden auf den altmexikanischen xiuhmolpilli projiziert. Vgl. Meyer-Minnemann 1979, S. 290 f. 88 89 90 91

92 93

Holz 1992, S. 56. Vgl. Mircea Eliade: Le mythe de l eternel retour. [ 1947] Paris (Gallimard) 1969. Vgl. Hölz 1992, S. 56. Vgl. Eliade [1947] 1969, S. 16 ff. Vgl. im Folgenden für den aufschlußreichen Zusammenhang zwischen dem Eliadeschen Mythenverständnis und den Mythen in Cien años de soledad die Ausführungen von Alfonso de Toro. Vgl. Alfonso de Toro: Die Zeitstruktur im Gegenwartsroman. Tübingen (Narr) 1986, S. 63. Mircea Eliade: Aspects du mythe. [ 1962] Paris (Gallimard) 1963, S. 35 und 74 ff. Eliade [1962] 1963, S. 35. „José Arcadio Buendia soñó esa noche que en aquel lugar se levantaba una ciudad ruidosa con casas de paredes de espejo. Preguntó qué ciudad era aquella, y le contestaron con un nombre que nunca había oído, que no tenía significado alguno, pero que tuvo en el sueño una resonancia sobrenatural: Macondo" (S. 108) Weitere Beispiele für diese Art von Mythen sind das Verlassen der Heimat durch José Arcadio Buendia und Ursula, eine Handlung, die auf das Verlassen des Paradieses hindeutet, oder Macondo während der Zeit der

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II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

du retour à l'origine" bzw. „du retour éternel")94 und den Mythen des Weltuntergangs („les mythes de la fin du monde" bzw. „les mythes eschatologique").95 Aureliano entspricht dem typisch mythischen Helden: Er vollbringt Heldentaten, überlebt Attentate, sogar einen Selbstmordversuch, befreit Macondo von der Unterdrückung durch die Konservativen und ist der Inbegriff der Fruchtbarkeit: Er zeugt siebzehn Kinder mit verschiedenen Frauen, und wie einem Gott bringen die Mütter Aureliano ihre Töchter, um die,glasse zu verbessern".96 Die mythische Struktur von Cien años de soledad wird ferner durch einige übernatürliche Ereignisse ergänzt. So wird nicht zwischen profanen und übernatürlichen Ereignissen unterschieden, alle Geschehnisse werden nivelliert, denn übernatürliche Vorkommnisse werden als normal betrachtet und banale Vorkommnisse als übernatürliche behandelt.97 So können beispielsweise Tote auferstehen bzw. weiter unter den Lebenden verweilen: Melquíades stirbt, kommt aber kurz danach wieder lebendig nach Macondo zurück. Später stirbt er endgültig, bleibt jedoch für einige Lebende anwesend. Prudencio Aguilar wird zwar von José Arcadio Buendia getötet, er besucht jedoch José Arcadio Buendia als Geist immer wieder, und als die Buendias die Heimat verlassen und Macondo gründen, folgt Aguilar ihnen auch. Im weiteren Verlauf wird erwähnt, daß Zigeuner auf Teppichen fliegen. Ein Zigeuner trinkt ein Zaubermittel und löst sich auf. Eine notwendige Voraussetzung der Mythenaktualisierung ist die orale Erzähltradition.98 „Anthropologisches Nacherzählen" kollektiver Mythen entzieht sich der Racompania bananera mit der totalen Lockerung der Moral und der Distanzierung von den Normen der Sippe, das an Sodom und Gomorra erinnert. Vgl. de Toro 1986, S. 65. „Garcia Márquez levanta, en nuestro nombre, un verbo y un lugar. Bautiza, como el primer Buendia todas las cosas de un continente sin nombre. Y crea un lugar. Sitio del mito: Macondo." Fuentes [1969] 199818, S. 66. Zum Mythos des verlorenen Paradieses vgl. Rössner 1988, S. 34 ff. 94

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Eliade [1947] 1969, S. 158. Vgl. auch de Toro 1986, S. 65. Aureliano Buendia und José Arcadio unterhalten eine Liebesbeziehung zu P. Ternera, die beiden einen Sohn gebärt Analog lieben Aureliano Segundo und José Arcadio Segundo gleichzeitig Petra Cotes. Wiederholungen wie diese zeigen einen bestimmten mythischen Determinismus, dem jeder Buendia ausgeliefert ist. Eliade [1962] 1963, S. 74. So wie der Anfang Macondos und der Sippe sowie deren Festigung mythisch konzipiert sind, so ist auch das Ende der Sippe in Macondo mythisch. Ein erster Hinweis auf den Untergang Macondos ist die Schlaflosigkeit, die im Gegensatz zum notwendigen Fortleben des Mythos steht. Wie in den Mythen der primitiven Kulturen tritt Melquíades als Retter mit übernatürlichen Kräften auf. Vgl. de Toro 1986, S. 68. Vgl. de Toro 1986, S. 67. Vgl. Mario Vargas Llosa: García Márquez: Historia de un deicidio. Barcelona (Seix Barrai) 1971b. Nach Paul Goetsch ist die Suche nach einer verwertbaren mündlichen Tradition eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Identitätskrisen, die aus der modernen Temposteigerung des sozialen Wandels resultieren. Vgl. Goetsch, S. 291. Goetsch versteht die mündliche Tradition im Roman

II. D i e S o o w - R o m a n e als große

identitätsstiftende

Entwürfe

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tionalität, denn es nimmt wunderbare Wirklichkeiten wahr, die eine Trennung zwischen d e m Magischen und d e m Realen unterlaufen." D i e s e Methode ermöglicht es, die bisher objekthaft definierte „Peripherie" nun als eigenständiges Subjekt zu begreifen. 1 0 0 A u c h D o n o s o trägt, ähnlich w i e García Márquez, insofern der mythenspezifischen Wiederholungsstruktur Rechnung, als er sich Elementen der oralen Erzähltradition bedient. In El obsceno pájaro de la noche, spielt die Erzählung des Imbunche eine exponierte Rolle. Sie läßt sich auf ein chilenisches Volksmärchen zurückführen. 101 D a s erste Mal taucht der Imbunche in einer Geschichte auf, die in z w e i weitere Geschichten eingebaut ist. Mudito erzählt, daß irgendeine Person die Geschichte des Hexenkindes (niña-bruja) erzählt. 102 N i e m a n d hat j e den Imbunche gesehen, aber: „el

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100

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102

als „Ausdruck der Suche nach den Ursprüngen der sozialen Identität [...] das Bedürfnis, einen vor- und außerhistorischen Garanten der sozialen Identität zu finden und die eigene Gruppe durch Rekurs auf die mündliche Tradition zu stabilisieren und zugleich zu legitimieren." Weitere wichtige Studien zur literarischen Oralität sind Markus Klaus Schäffauer: scriptOralität in der argentinischen Literatur. Funktionswandel literarischer Oralität in Realismus, Avantgarde und Post-Avantgarde (1890-1960). Frankfurt/M. (Vervuert) 1998. Carlos Pacheco: La comarca oral. La ficcionalización de la oralidad cultural en la narrativa latinoamericana contemporánea. Caracas (Ed. La Casa de Bello) 1992; Martin Lienhard: La voz y su huella. Escritura y conflicto étnico-cultural en América Latina 1492-1988. Lima (ed. horizonte) 19923; Walter Ong: Oralityand Literacy. London, New York (Methuen) 1987. Vgl. Karsten Düsdieker: „Gabriel García Márquez, Thomas Pynchon und die Elektronisierung der Märchen-Oma. Schicksale der Mündlichkeit in der Postmodeme". In: Hermann Herlinghaus, Utz Riese (Hg.): Sprünge im Spiegel. Postkoloniale Aporten der Moderne in beiden Amerika. Bonn (Bouvier) 1997, S. 323-360, hier S. 334. Der Roman von García Márquez führt mit seiner literarischen Oralität eine Vorgehensweise ein, der sich die postkolonial bemühte Soziologie, Ethnographie und Anthropologie bis heute bedienen. Vgl. Düsdieker 1997, S. 334. Für Düsdieker folgt daraus die Beendigung des ethnographischen Patemalismus; genau darin liege der Grund für den Erfolg der neuen Anthropologie-Kritik in Lateinamerika. Vgl. Düsdieker, S. 334f. „Dice el padre Fébres, explicando (i no mui claramente por cierto) la significación de la voz araucana ivumche, los que consultan los brujos en sus cuevas, donde los crian desde chiquitos para sus hechicerías o encantos: a estos llaman las indias .ivumcoñi'. Según el uso de la jente ignorante i supersticiosa, imbunche es maleficio (como dirían de los espiritistas esos otros supersticiosos de levita i de sombrero de pelo) que sirve a los brujos de ajenteo instrumento de sus brujerías. En otra ocasión el mismo se habia propuesto hacer un viaje por el aire al pueblo de Chillan; pero al emprender el vuelo, cuando ya estaba emplumado i convertido en imbunchi se habia dado un gran porrazo, porque etc." Z. Rodríguez: Diccionario de Chilenismos. Santiago (Imprenta El Independiente) 1875, S. 261. Abbildung in: Ana María Dopico: „Imbunches and Other Monsters: Enemy Legends and Underground Histories in José Donoso and Catalina Parra". In: Journal of Latin American Cultural Studies, 10, 3, 2001, S. 325-351, hier S. 337. „El imbunche. Todo cosido, los ojos, la boca, el culo, el sexo, las narices, los oidos, las manos, las piernas... Todo cosido. Obstruidos todos los orificios del cuerpo, los brazos y las manos aprisionadas por la camisa de fuerza de no saber usarlas, sí, ellas se injertarían en el lugar de los miembros y los órganos y las facultades del niño que iba a nacer extraerle los ojos y la voz y robarle las manos y rejuvenecer los propios órganos cansados mediante esta operación, vivir otra vida además de la ya vivida, extirparle todo para renovarse mediante ese robo. Y lo harán. Estoy seguro. El poder de las viejas es inmenso." Donoso [1970] 1992, S. 63 f.

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II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

padre de alguien, una vez, había hablado con alguien que decía que una vez vio un imbunche y el miedo le paralizó todo un lado del cuerpo [...]".103 Da sich in Lateinamerika ein kulturelles Gedächtnis nur über mündliche Quellen fmden kann, wird Oralität zum notwendigen Bestandteil des Geschichtsbewußtseins. Während die Schriftkultur ab 1492 auf dem „entdeckten" Subkontinent als die herrschende Kultur gilt, werden die von der Mündlichkeit geprägten Kulturen der Unterdrückten verdrängt.104 Nach Maurice Halbwachs hat das Gedächtnis eines kulturellen Kollektivs die Aufgabe, die Wesenheit einer Gemeinschaft in Form der Vergangenheit als einer integralen Zeit zu bewahren, und artikuliert sich im mündlichen Erzählen von Legenden und Mythen.105 Der Mythos gilt in den drei dargestellten Romanen als Werkzeug einer alternativen, authentischen Logik und dient zur Bildung des kollektiven Gedächtnisses. Fuentes, García Márquez und Donoso haben sich die abendländische Opposition zwischen Mythos und Logos zueigen gemacht und in der mythisch begründeten alternativen Logik einen Weg gesehen, die eigene Identität zu bestimmen.106 Anders gestaltet sich die Funktion von Mythen in La casa verde: Sie dienen nicht dazu, die Geschichte zu aktualisieren. Im Roman wird Mythisches höchstens angedeutet, nie werden Mythen explizit benannt oder in einem sinnstiftenden Zusammenhang dargestellt. Meist findet man „statt mythographischer Ausführlichkeit ein assoziatives Mythisieren".107 Mythische Konstellationen weisen bei Vargas Llosa eine charakteristische Bewegung auf, die im Gegensinn zum ursprünglichen Mythos verläuft: In gewisser Hinsicht entspricht Anselmo von La casa verde Aureliano aus Cien años de soledad. Manche Interpreten verstehen seine Ankunft in der kleinen Stadt als Analogie zur Ankunft der Spanier auf dem lateinamerikanischen Subkontinent.108 Der junge, geheimnisvolle Fremde wäre folglich als Abbild des Eroberers zu sehen, dessen Geliebte, die blinde und stumme, zwar willenlos entführte und eingesperrte, aber 103

Adriana Valdés: „El Imbunche. Estudio de un motivo en El obsceno pájaro de la noche". In: Antonio Cornejo Polar (Hg.): José Donoso. La destrucción de un mundo. Buenos Aires (Fernando Garcia Cambeiro) 1975, S. 125-160, hier S. 133. Enrique Luengo faßt die zur mythischen Ebene gehörenden Elemente folgendermaßen zusammen: „[...] características propias de la leyenda de origen folclòrico, disposición de los acontecimientos y del tiempo es lineal, historia de un rico hacendado que tiene nueve hijos varones y una niña, la niña vive al cuidado de su nana quien la inicia en las artes de la brujería, durante las noches la niña sale al campo convertida en chonchón y vuela siguiendo a la nana transformada también en una perra amarilla y verugosa." Luengo, S. 41.

104

Vgl. Martin Lienhard: „Spielarten und Bedeutung des Umgangs mit mündlichem Wissen in der lateinamerikanischen Erzählkunst". In: Paul Goetsch: Mündliches Wissen in neuzeitlicher Literatur. Tübingen (Narr) 1990, S. 273-288, hier S. 273.

105

Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. (Suhrkamp) 19852, S. 67.

106

Vgl. Borsò 1997, S. 252.

107

Scheerer, S. 29. Vgl. Scheerer, S. 29.

108

Frankfurt/M.

II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

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auch heißgeliebte Antonia „vielleicht das jungfräuliche Amerika als Beute des Eroberers ii . 109 Als mythisch konzipierte Handlungen können nur solche bezeichnet werden, die im Zusammenhang mit Fushía, Anselmo und dem Grünen Haus stehen. Fushia wird von allen Stämmen als eine Art übermenschliches Wesen angesehen und gefürchtet. Seine Macht liegt in seiner Schlauheit begründet. Er wird nie von seinen Verfolgern gefaßt und begeht immer neue Greueltaten.110 Vargas Llosa läßt die Mythen aufscheinen, um sie dann in umgekehrter Richtung verlaufen zu lassen; hierin besteht nach Scheerer die auffälligste Eigenart seines Mythisierens. Wolfgang Luchting spricht vom „umgekehrten Mythos" (mito al revés) und macht vor allem am Beispiel der Vaterfiguren deutlich, wie herkömmliche Mythen in ihr Gegenteil verkehrt werden: Die Väter werden von ihren Kindern nicht umgebracht, sondern sie vegetieren dahin und sterben einen langsamen, tragischen Tod (wie Lituma, Anselmo, Fushía und Jum), nachdem ihre Kinder (wie Bonifacia, Antonia und Laiita) korrumpiert wurden oder gestorben sind.111 Das Leben des Banditen Fushía verläuft nach einem stereotypen Muster, das sich nach dem Kriterium Erfolg/Mißerfolg bzw. Verbesserungszustand/Verschlechterungszustand gliedert. Seine Handlungen bleiben während des ganzen Verlaufs paradigmatisch unverändert.112 Fushias ständige Versuche an Geld zu kommen enden, abgesehen von zeitweiligen Verbesserungen, immer mit Scheitern und Flucht; er bemüht sich, sein Ziel entweder durch ehrliche Arbeit (am Anfang) oder durch Betrug und Raub (auf verschiedenen Betätigungsfeldern) zu erreichen. Wichtiger hervorzuheben ist allerdings der zirkuläre Charakter von Fushias Lebensweg. Der Anfangszustand ist durch Armut und Gefangenschaft gezeichnet und er wird am Ende des Romans in ähnlicher Form wieder hergestellt: Er kommt in ein Lepralazarett, das er nie wieder verlassen wird; allein für die Aufnahme ist er gezwungen, sein gesamtes Vermögen zu opfern; die Ereignisse bringen ihn in einen seiner Vergangenheit ähnlichen Zustand." Hinter diesen sich ständig wiederholenden Handlungen verbirgt sich ein bestimmter Fatalismus, eine Vorprogrammierung der Figuren, denn sie schaffen es nicht endgültig, aus ihrer ursprünglich negativen Situation auszubrechen — ein Schicksal, das als repräsentativ für die sozialen Verhältnisse in Lateinamerika betrachtet werden kann. 14 Im Unterschied zu Cien años de soledad, wo der Mythos der Bindung einer Familie, der Erhaltung einer Sippentradition dient, wird er in La casa verde in sein 109 110

112 1,3 114

Vgl. Scheerer, S. 31. Vgl. de Toro 1986, S. 99. Vgl. Scheerer, S. 32. Vgl. de Toro 1986, S. 98. Vgl. de Toro 1986, S.98f. Vgl. de Toro 1986, S. 99.

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Negativum verkehrt: Fushia gilt den Stämmen als Gott des Bösen, dem sie sich zu unterwerfen haben. Auch noch lange Zeit nach seiner Flucht ins Lazarett werden seine wiederholten Überfälle überall erzählt.115 Hinsichtlich der Funktion von mythischen Elementen innerhalb der vier BoomRomane kann abschließend festgehalten werden, daß sie - abgesehen von La casa verde — auf ähnliche Weise eingesetzt werden. Sie dienen dazu, eine lebendige Interaktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. In den Romanen drückt sich das Anliegen aus, durch einen Rekurs auf den Ursprung, d.h. hier die präkolumbinische Geschichte, ein Bewußtsein kollektiver Identität zu entwickeln. Um die eigene Identität positiv zu besetzen, bedarf es einer Emanzipation von der europäischen Dominanz. Die Suche nach dem Ursprung enthüllt erst das Wesen, die Essenz der eigenen Identität. Es geht weniger um die Verwendung von Mythen als Objekten der Darstellung, als um Mythen als Elemente der darstellerischen Perspektive. 16 Die Art und Weise der Darstellung und die strukturelle Präsenz des Mythos verdeutlichen das dringliche Anliegen, welches die Identitätssuche impliziert. In allen vier Romanen wird um Identität gerungen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich auch La casa verde nicht von den anderen Soom-Romanen.

1.1.2. Zyklisches Zeitverständnis Durch die Verwendung bestimmter Riten kann die Zeit — nach Eliade - in eine geheiligte Zeit verwandelt werden. Der religiöse Mensch hat die Möglichkeit, unendlich oft die mythische Urzeit in die Gegenwart zurückzuholen und am Geschehen der Götter teilzunehmen. Der Glaube an die Möglichkeit dieses „Zurückholens" bildet die Voraussetzung für eine zyklische Zeitvorstellung.117 Sie ist die Grundlage für Fuentes' Versuch, in La muerte de Artemio Cruz einen zeitlichen Gegenentwurf zum okzidentalen, d.h. bei ihm linearen, Zeitkonzept zu entwickeln. Der mexikanische Schriftsteller unterscheidet zwischen einer europäischen und einer mexikanischen Zeitvorstellung; die europäische gründe auf einem linearen Ablauf, der durch Progression gekennzeichnet sei. Fuentes spricht von einer „[...] unidad de un tiempo lineal, que progresa hacia adelante dirigiendo, asimilando el pasado"118. Für die Bevölkerung der ehemaligen Kolonien sei die Annahme der europäischen Zeitvorstellung des Fortschritts ein Eingeständnis eigener Rückständigkeit 115 116

Vgl. de Toro 1986, S. 99. Vgl. Rössnerl988, S. 32 f.

117

Eliade [1947] 1969, S. 107 ff; Vgl. auch Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Frankfurt/M. (Insel) 1985. Vgl. auch Sauter, S. 123. Sauter stellt einen aufschlußreichen Bezug her zwischen den Reflexionen Mircea Eliades über die Kategorie Zeit und dem in La muerte de Artemio Cruz nachweisbaren Rekurs auf ein präkolumbinisches Zeitverständnis.

1,8

Carlos Fuentes. [1971] 1978, S. 9.

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und die Unterwerfung unter die hegemoniale Macht. „Der Mexikaner" habe aber die Möglichkeit, seine besonderen geschichtlichen Ereignisse zum Anlaß zu nehmen, um sich von dieser Linearität zu trennen und sein eigenes Zeitkonzept zu entwickeln. Seit der Eroberung hat Mexiko sein auf das zirkuläre Konzept angelegtes Bewußtsein unterdrückt und das lineare Zeitverständnis akzeptiert, mit dem ihm die Eroberer begegnet sind. Im Unterschied zum Europäer habe nach Fuentes „der Mexikaner" seine Vergangenheit nie verarbeitet. Die aztekischen Vorfahren hofften auf eine Rückkehr Quetzalcóatls, um damit zum Ursprung zurückzukehren. Da sich diese Erwartung nicht erfüllte, konnte sich das gegenwärtige Mexiko nie die eigene Geschichte bewußt machen." 9 In La casa verde spielen die fünf Geschichten in einem Zeitraum von 50 Jahren, wobei konkrete Angaben nur ungefähr auszumachen sind. Vargas Llosa läßt historische Daten wie beiläufig aufscheinen:120 Die in das Elendsviertel führende Straße ist nach dem ehemalige Präsidenten Sánchez Cerro benannt, die Bewohner haben Bilder von ihm an der Wand. Er ist ihr Stolz, weil er aus der Mangacheria hervorgegangen sein soll. Scheerer betont die Ungenauigkeit der Zeitangaben, da aus ihnen nicht klar werde, ob sie auf die Regierungszeit des Präsidenten (1930-1933) oder auf eine Zeit nach seinem Tode bezogen sind. Deutlich ist, daß die Kautschukgeschäfte Reáteguis und die Schmuggeleien Fushias während des Zweiten Weltkriegs spielen. Diese wenigen absoluten Zeitangaben lassen rückschließen, daß als fernste Vergangenheit die Zeit der Jahrhundertwende aufscheint (damals hatte Reáteguis Vater sein Geschäft aufgebaut), und daß der Roman bis in die späten fünfziger oder frühen sechziger Jahre hineinreicht.121 Die Erzählweise vermittelt einen paradoxen Eindruck. Der chronologische Zeitablauf wird zwar nicht aufgehoben, doch schwächt Vargas Llosa seine Haupteigenschaft als progressiven Ablauf und hebt damit die Möglichkeit auf, innerhalb des erzählten Geschehens zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Je weiter die Lektüre voranschreitet, desto deutlicher drängt sich der Eindruck von einer Gleichzeitigkeit aller Fragmente auf.122 Scheerer schlägt einen anschaulichen Vergleich vor, mit dem man die Wirkung dieser Zeitauffassung erfassen kann: Es ist, als befinde sich der Leser vor einer großen Simultanbühne, auf der fünf Stücke aufgeführt werden, wobei die Spieler von einem Stück zum nächsten wechseln und die Handlungen einander spiegeln, wiederholen und interpretieren, ohne daß sie auf ein gemeinsames Ziel hinsteuern oder einen Fortschritt erkennen ließen.123 De Toro geht in seiner Beschreibung der Zeitdarstellung in La casa verde noch einen Schritt weiter: Die radikalen Zeitdeformationen stellen einen Illusionsbruch dar, 119

Fuentes [1971] 1978, S. 9 ff. Vgl. Sauter, S. 125.

120

Vgl. Scheerer, S. 28.

121

Vgl. Scheerer, S. 27.

122

Vgl. Scheerer, S. 28.

123

Vgl. Scheerer, S. 28.

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II. Die Boo/w-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

ein Verfremdungsverfahren, denn der implizite Leser muß zunächst die Lektüre abbrechen und sich die Frage nach der Funktion solcher zeitlicher Verzerrungen stellen.124 In La casa verde ist zwar kein zyklisches Zeitverständnis tragend, aber durch die ständigen Durchbrechungen des linearen Erzählstrangs wird der für die okzidentalen Kulturen stehende zentrale Ablauf hinterfragt. Auch in Cien años de soledad gehört die besondere Zeiterfahrung der Bewohner Macondos zu den auffälligsten Merkmalen des Romans. Dieter Janik hat darauf hingewiesen, daß sie zumindest beim europäischen Leser eine kulturelle Differenzerfahrung auslöst, die sich teils als Erstaunen, teils als Irritation äußert. In der Anfangsphase Macondos ist das Leben in neuer, unverbrauchter Zeit charakterisiert - die Bewohner sind alle jugendlich, Alter und Tod existieren noch nicht - , aber im Verlauf der raschen Generationsfolge und der räumlichen sowie vielfach auch sexuellen Kohabitation der Familie stellt sich eine Wahrnehmung von sich wiederholender Zeit ein.125 Diese Erfahrung, die vom Erzähler durch die Namenswiederholungen der Aurelianos, Arcadios und Amarantas vermittelt wird, zeigt sich bei Úrsula in einer tragischen Erfahrung:126 „[Úrsula] se estremeció con la comprobación de que el tiempo no pasaba, como ella lo acababa de admitir, sino que daba vueltas en redondo." (García Márquez [1967] 1995, S. 463) Ein weiteres Beispiel für ihre nichtlineare Zeitwahrnehmung zeigt sich in dem Ausspruch:127 „Ya esto me lo sé de memoria — gritaba Úrsula —. Es como si el tiempo diera vueltas en redondo y hubiéramos vuelto al principio." (García Márquez [1967] 1995, S. 307) De Toro betont zusätzlich, daß die zirkuläre Gestaltung der Handlung in Cien años de soledad auch die Sinnlosigkeit der Welt zum Ausdruck bringen will, was besonders durch Amaranta und Aureliano deutlich wird.128 Diese zirkulären Handlungen im Mikrokosmos entsprechen im Makrokosmos dem Mythos der Buendias mit ihrem unentrinnbaren Schicksal; so zeigen die Handlungen in beiden Fällen nicht nur die Sinnlosigkeit der Tätigkeit der Figuren, „eine Art Sisyphus-Arbeit", sondern stehen metonymisch für bestimmte historische Phasen der Menschheitsgeschichte und der Geschichte Lateinamerikas.129 Aureliano erlebt die Pionierzeit, Bürgerkriege zwischen Liberalen und Konservativen, den Anschluß an das Eisenbahn- und Telegra124 125

126 127

128

129

Vgl. de Toro 1986, S. 158. Vgl. Dieter Janik: „Gabriel García Márquez: Cien años de soledad". In: Volker Roloff, Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.): Der hispanoamerikanische Roman. Band II. Darnstedt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1992, S. 132-145, hier S. 141. Vgl. Janik 1992, S. 141. Vgl. Ute von Kahden: Romanarchitektur im Koordinatenkreuz. Tübingen (Stauffenburg) 1997, S. 238. Vgl. de Toro 1986, S. 70. Amaranta näht Knöpfe an ihr Totentuch, um diese dann wieder abzureißen; Aureliano stellt goldene Fische her, um sie zunächst gegen goldene Münzen einzutauschen, aus denen er weitere Fische macht; dann aber fabriziert er Fische, schmilzt s:e ein und macht neue daraus. Vgl. de Toro 1986, S. 71.

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phennetz und andere Segnungen des Fortschritts ebenso wie die Ausbeutung durch den nordamerikanischen Bananentrust, ein Blutbad bei einem Streik und schließlich eine vernichtende Naturkatastrophe. Der zyklische Charakter des Mikro- wie Makrokosmos Macondos wird besonders hervorgehoben durch die Wiederherstellung des Anfangszustands des mythischen Ortes am Schluß des Romans.130 Die fatalistische Zukunftslosigkeit in Cien años de soledad ist vergleichbar mit dem ständigen Szenen- und Maskenwechsel in La muerte de Artemio Cruz. In Fuentes' Roman leben die Protagonisten ein auf die Vergangenheit ausgerichtetes Leben, ein zirkuläres Leben, denn die Gegenwart wird von der Vergangenheit beherrscht, während die Zukunft fehlt.131 Die Vergangenheit Mexikos und seine persönliche rekonstruiert Artemio Cruz in den letzten Minuten seiner Agonie. In der „Welt der Vorstellungen" erlebt der Protagonist das schon Gewesene.' 2 Seine Phantasie bringt auf diese Weise eine Vergangenheit hervor, die sowohl dazu dient, das Schicksal Mexikos zu durchleuchten, als auch dem Leben des Akteurs einen Sinn und seiner gespaltenen Identität eine Einheit zu geben. Auch bei Donoso spielt das Zeitempfinden eine entscheidende Rolle. Es gibt ebensowenig wie in Cien años de soledad oder La muerte de Artemio Cruz einen einheitlich ablaufenden Zeitstrang. Baimiro Omaña hat diese Leseerfahrung treffend auf den Punkt gebracht: „Si en la novela se rompen los límites de la realidad cotidiana para poder dar paso a ese mundo alucinante. Ahí en esta ruptura es donde está la dificultad en la lectura de la obra."133 In El obsceno pájaro de la noche läßt sich Zeit eher als ein Bündel von Möglichkeiten beschreiben, das für alle Figuren in jedem Moment aufleuchtet und nur in räumlichen Begriffen zu fassen ist.134 Ursula Günther teilt die Ebenen der Zeit in mythische, reale und symbolische ein. Die Figuren bewegen sich auf mehreren zeitlichen Ebenen, ihren Persönlichkeiten entsprechend. Die innere Zeit trägt den sonst verdrängten Ebenen Rechnung.135 Die realgeschichtliche Zeit scheint nur an wenigen Stellen des Romans durch, an denen sich in Bruchstücken die Familiengeschichte der 130

131

132

Vgl. de Toro 1986, S. 71. Fuentes betont die Emanzipation vom okzidental-linearen Zeitverständnis in García Márquez' Roman: „Auténtica revisión de la utopia, la épica y el mito latinoamericanos, Cien años de soledad domina, denomizándolo el tiempo muerto de la historiografía a fin de entrar, metafórica, mítica, simultáneamente, al tiempo total del presente." Fuentes [1969] 199818, S. 63. Vgl. Hanne Zech-Gedeon: „Carlos Fuentes". In: Wolfgang Eitel (Hg.): Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart. Stuttgart (Kröner) 1978, S. 406-417, S. 412. Vgl. Sauter 175.

133

Baimiro Omaña: „De El obsceno pájaro de la noche a Casa de campo". In: Texto critico, 7, 22/23, 1981, S. 265-279. Vgl. auch Ursula Günther: „José Donosos El obsceno pájaro de la noche: Sprachloser Raum". In: José Morales Saravia (Hg.): Die schwierige Modernität Lateinamerikas. Beiträge der Berliner Gruppe zur Sozialgeschichte lateinamerikanischer Literatur. Frankfurt/M. 1993, S. 112-136, hier, S. 113.

134

Vgl. Günther, S. 114. Vgl. Günther, S. 114.

135

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Azcoitias dem Leser offenbart. Nachdem die Kapitel 1-9 dem Leser keine einheitliche Grundlage vermitteln, beginnt plakativ eine neue Dimension der Wirklichkeitserfahrung mit „El portón se abrió"1 6: Nach fünfjährigem Aufenthalt in Europa kehrt Don Jerónimo nach Chile zurück und besucht seinen Onkel auf einem Landgut. Es ist die Zeit des Ersten Weltkriegs, an dessen Schauplatz Jerónimo sich auf die Suche nach seiner Identität begeben hatte.137 Neben der Darstellung der realgeschichtlichen Zeit gibt es einige Passagen, an denen sich die mythische und die reale Zeit überschneiden. Das zeigt sich besonders gut im Gespräch zwischen Mudito und Madre Benita.138 Usted me toma la mano porque sabe que tengo miedo de no morir, pero no siempre tengo miedo, Madre Benita, a veces me exalta la seguridad de que mi tiempo se prolongará sin orígen y sin fin por esta calle que es otra versión del paraíso [...] porque desde aquí y resguardado por usted, todo esto no es otra versión del infierno como era la intemperie de las calles miserables que tuve que sufrir cuando huí de la Rinconada al darme cuenta que todo estaba tramado no para centrarse en tomo a Boy, sino para darme caza a mi, para pescarme [...]. (Donoso [1970] 1992, S. 297)

Diese Verfahren der Zeitdarstellung ermöglichen, daß die Themen der Familiengeschichte der Azcoitias und der Entstehung der Encarnación vermischt werden. Die reale und die mythische Variante hängen vom Standort und den Interessen des jeweiligen Erzählers ab.139 Die sagenhafte Version der Alten eröffnet ein Gewebe von Möglichkeiten, das über Generationen gewachsen ist.140 Érase una vez, hace muchos años, un señorón muy rico y muy piadoso, propietario de grandes extensiones de tierra en todo el país, montañas en todo el país, montañas en el norte, bosques en el sur y rulos en la costa [...]. (Donoso [1970] 1992, S. 35)

Auffallend ist hier die Überlagerung verschiedener Geschichten, die zu einem unklaren Zeitbegriff führt. Dieses Verfahren erinnert an Cien años de soledad, wo das zyklische Zeitempfinden nur an einigen wenigen Stellen von einer realgeschichtlichen Zeit unterbrochen wird. Wenn in El obsceno pájaro de la noche auch nicht ein von der offiziellen Geschichtsschreibung ignoriertes Ereignis, wie beispielsweise der Aufstand der Arbeiter in den Bananenplantagen 1928,41 dargestellt wird, so hat Donoso seine „eigene" Methode, die es ihm ermöglicht, sich ganz bewußt für die Darstellung der verschiedenen Zeitwahrnehmungen zu entscheiden.142 136 137 138 139 140 141

142

Donoso [1970] 1992, S. 167. Vgl. Günther, S. 115. Vgl. Luengo, S. 94. Vgl. Günther, S. 115. Vgl. Günther, S. 115. Vgl. Carlos Rincón: Mapas y pliegues. Ensayos de cartografía cultural y de lectura del Neobarroco. Bogotá (Colcultura) 1996, S. 41. Ein Beispiel sei hier die Gründung der Kapelle Ende des 18. Jahrhunderts. „Lo único que consta como realidad firme y legal, sosteniendo por documentos que la pruebm, es la fundación de la capellanía: a fines del siglo dieciocho un rico terrateniente de ascenoencia vasca, vi-

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Günther hat den analytischen Blick des Prismas herausgestellt, der alles in einem anderen Licht erscheinen läßt. Geschichte wird nicht in kontinuierlicher, linearer Abfolge durch das Prisma abgebildet, sondern gebrochen in paralleler Anordnung.143 Das bringt mit sich, daß die Geschichte auf mehreren einander widersprechenden Ebenen erscheint. Das Prisma hat im Roman die Aufgabe, die in den Falten des Ponchos verborgene Zeit zu entfalten, die Brüche zu überwinden.144 Die Erzählstruktur unterstützt das inhaltliche Anliegen, eine Verräumlichung der Zeit zu vermitteln. Der exponierte Stellenwert der Zeitdarstellung hängt in allen vier Romanen damit zusammen, daß das okzidental-lineare Zeitverständnis hinterfragt wird. Unterschiedlich fallen allerdings die Gegenentwürfe aus: Fuentes ruft konkret dazu auf, dem europäischen Modell das aztekische entgegenzusetzen; bei García Márquez spielt die zyklische Struktur eine übergeordnete Rolle, ohne einer speziellen Ethnie zugeordnet zu werden. Im Fall von Donoso akzentuiert sich das Zeitverständnis vor allem in der Konfrontation des Geschichtenerzählens der Alten mit dem aktuellen Zeitgeschehen. Vargas Llosa thematisiert Zeit insofern, als der chronologische Zeitablauf häufig durchbrochen wird. Da in allen Romanen alternative Entwürfe zum okzidentalen Zeitverständnis geschaffen werden, wird die Reflexion über Zeit zu einem Teil der Suche nach der eigenen Identität. Dabei wird einem Identitätsverständnis Rechnung getragen, das vornehmlich kollektive Identität über die Betonung der essentiellen Substanz der eigenen Kultur erfährt. Diese Substanz wird unterschiedlich definiert: bei Fuentes präkolumbinisch, bei García Márquez lateinamerikanisch, bei Vargas Llosa und Donoso wird sie vielmehr auf einer grundsätzlichen Ebene thematisiert.

1.1.3. Masken als Identitätskomplexe Das erste Buch von Fuentes ist ein schmaler Erzählband: Los días enmascarados [1954]. Der Titel zeigt bereits die Richtung seines späteren Werkes an. Er spielt auf die fünf letzten Tage des aztekischen Jahres an, die nemontani: fünf Maskierte mit udo, padre de nueve hijos y una hija, llegó de sus feudos situados al sur del río Maule [...]. Todo esto es histórico." S. 352 f. Ein Bild des Zeitverständnisses, das dem symbolischen Bereich zuzuordnen ist, ist das Prisma der Peta Ponce. Vgl. S. 222. Eine ähnliche Zeitsymbolik vermitteln die Falten des Ponchos des Patriarchen, allerdings haben sie eine andere Funktion. Sie dienen dazu, den Verlauf der Ereignisse dem Rahmen der Medaillons anzupassen. Der Patriarch verlangt das Verschwinden störender Realitäten. Die Falten des Ponchos vermögen bestimmte Dimensionen der Wirklichkeit dem unmittelbaren Anblick des Betrachters zu entziehen, die geleugneten Anteile werden aber nur verborgen, zusammengefaltet. Sie hinterlassen Brüche, die eine Identifikation mit der vorgestellten Realität unmöglich machen. Vgl. Günther, S. 117. Vgl. Laura García-Moreno: „Margins and Medallions: Rivai Narrative Modes in José Donoso's El obsceno pájaro de la noche". In: Revista de estudios hispánicos, XXXII, 1, (Januar) 1998, S. 29-55, hier S. 38. 143 144

Vgl. Günther, S. 117. Vgl. Günther, S. 117.

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stachligen Agavenblättem, hatte der Dichter Tablada gesagt. Fünf namenlose Tage, an denen jede Tätigkeit unterblieb - eine zerbrechliche Brücke zwischen dem Ende eines Jahres und dem Beginn des nächsten. Was aber verbirgt sich hinter den Masken?145 Das Motiv der Maske war bereits von José Martí als Metapher im Zusammenhang mit der Identitätsdiskussion gebraucht worden: Er vergleicht die Lateinamerikaner mit einer Maske, die Hosen aus England, eine Weste aus Paris, den weiten Rock Amerikas und eine spanische Mütze trägt: „Eramos una máscara, con los calzones de Inglaterra, el chaleco parisiense, el chaquetón de Norte América y la montera de España."146 Masken stehen für Identitätskomplexe, „sei es in Gestalt von unsichtbaren Akteuren, die aus der Vergangenheit auftauchen, sei es als zweite Haut, am das verwundete Ich nicht unmittelbar bloßzulegen"147. Im Hinblick darauf orientiert sich Fuentes wieder an Paz, der zum ersten Mal in der aktuellen Diskussion um das Sein des Mexikaners die These vertreten hatte, das Bild der Maske sei nur nützlich, um diesen von anderen Völkern zu differenzieren. 14s Auf dem Weg zu seiner wahren Identität müsse eine Enthüllung der jahrhundertealten Maske vorgenommen werden. In diesem kulturtheoretischen Kontext nimmt es nicht wunder, daß die Auseinandersetzung mit der Mestizaje-Problematik einen zentralen Stellenwert bei Fuentes einnimmt. Ausgangspunkt seiner Reflexionen sind die negativen gesellschaftlichen Konditionen des Mestizen. Er wird als minderwertig angesehen, weil er zwiespältig gekennzeichnet ist, ein .wesenloses Wesen', das sich im Spiel der Masken verleugnet.149 Der Topos der illegitimen Geburt ist ein zentrales Motiv in La muerte de Artemio Cruz, ein Sinnbild der Gewalt der spanischen Konquistadoren gegen die mütterlichen indianischen Kulturen — „die universelle Grundsituation einer nicht mehr hintergehbaren Einsamkeit"150. Diese Einsamkeitserfahrung ist Ausdruck des Bedürfnisses nach einer ganzheitlichen , Ursprungs ' -Erfahrung. Im Roman von 1962 wird die Unehrlichkeit und Unwahrhaftigkeit der großbürgerlichen Scheinwelt zum Ausdruck gebracht. Das Maskenmotiv wird bewußt inszeniert, als Artemio in Puebla als stellungsloser Revolutionär den Grundstein für seinen Ein145

146

Vgl. Octavio Paz: „Die Maske und die Transparenz". In: Michi Strausfeld (Hg.): Lateinamerikanische Literatur. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 19892, S. 295-304, hier S. 295. José Martí: Nuestra América. Prólogo de Josep Fontana. Barcelona (Editorial Ariel) 19732, S. 20.

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SauterS. 62. Vgl. Paz [1951] 1993, S. 32 ff. Vgl. auch Karsten Garscha: „El apogeo de la Nueva Novela Hispanoamericana". In: Hans-Otto Dill, Carola Gründler, Inke Gunia, Klaus Meyer-Minnemann (Hg.): Apropiaciones de realidad en la novela hispanoamericana de los siglos XIXy XX. Frankfurt/M. (Vervuert) 1994, S. 281306, hier S. 282. Vgl. Petra Schümm: „Mestizaje und culturas híbridas - kulturtheoretische Konzepte im Vergleich". In: Birgit Scharlau (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen (Narr) 1994, S. 59-80, hier S. 63.

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tritt in die gehobene Gesellschaft legt.151 Artemio entlarvt die Ironie des Schicksals: Es war er, und nicht Bemal, der nach Puebla ging. In gewisser Hinsicht war es die Maskerade, ein Spiel, das er mit dem größten Ernst betreibt. La ironía de ser él quien regresaba a Puebla, y no el fusilado Bemal, le divertía. Era en cierto modo, una mascarada, una sustitución, una broma que podía jugarse con la mayor seriedad; pero también era un certificado de vida, de la capacidad para sobrevivir y fortalecer el propio destino con los ajenos. (Fuentes [1962] 1993, S. 43)

Vergleichbar mit Artemio, der seine Maske aufsetzt, um gesellschaftlich zu arrivieren, verstellt sich der alte Don Gamaliel beim ersten Zusammentreffen mit dem Revolutionär. Auch er will sich seine gesellschaftliche Position sichern und stülpt die Maske väterlicher Liebenswürdigkeit auf, indem er seine Geschäftsinteressen wahrnimmt, aber gleichzeitig seine Tochter Catalina an den Eindringling „verkauft".152 Karl Hölz hat das Maskenmotiv im Roman untersucht und gezeigt, daß Artemio das Spiel der überstülpten Masken schon lange durchschaut hat. Das zeige sich deutlich, als er in seinem Totenbett liegend, die Reaktion der Umstehenden richtig einzuschätzen vermag.153 Er weiß genau, daß sich hinter der gespielten Sorge seiner Angehörigen nichts anderes als die Hoffnung auf das möglicherweise noch auffindbare Testament verbirgti54 und daß Catalina nach seinem Tod dem lange verachteten Ehemann ein prestigebedachtes Gedenken wegen seines angeblichen Fleißes und Verantwortungsbewußtseins bereiten wird.155 Das Wechselspiel zwischen „Maske und Transparenz" macht nicht nur den agierenden Personen das betrügerische Spiel der anderen sichtbar, es will auch auf den heuchlerischen Selbstbetrug der bürgerlichen Finanzgesellschaft aufmerksam machen.156 Auch in Cien años de soledad spielt das Überstülpen von Masken eine entscheidende Rolle, wenn hier jedoch die Verwandlungen auf einer anderen Ebene stattfinden. Volker RolofF stellt heraus, wie der ganze Text als ein groteskes Zwitterwesen gelesen werden kann, als ein synkretistisches Produkt heterogener, sich überlagernder narrativer Diskurse.157 Wolfgang Matzat zeigt, daß die wiederholten Karnevals- und Skandalszenen, die ständige Thematisierung von Sexualität, von Kreatürlichkeit und körperlichen Ausscheidungsvorgängen, der Einsatz phantastischer Elemente om151 152 153 154 155 156 157

Vgl. Hölz 1992, S. 62. Vgl. Hölz 1992, S. 63 Vgl. Hölz 1992, S. 63. Fuentes [1962] 1993, S. 88. Fuentes [1962] 1993, S. 205, 270. Vgl. Hölz 1992, S. 63. Vgl. Volker RolofF: „Die Kamevalisierung der Apokalypse. Gabriel García Márquez: .Hundert Jahre Einsamkeit'". In: Gunter E. Grimm, Werner Faulstich, Peter Kuon (Hg.): Apokalypse. Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1986. S. 68-86. S. 77.

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nipräsent sind.158 Durch sie erhält der Text einen „transgressiven Charakter", der die historischen Ordnungs- und Sinnstrukturen aufhebt.159 Die von den Ameisen übriggelassene dürre Haut des Kindes erinnere an die „pergaminos" des Melquíades, so daß die alchimistische Fähigkeit der Verwandlung, die der Roman an so vielen Stellen aufzeige, sich letzten Endes als die Magie der Literatur selbst enthülle, die grundsätzlich alles verwandeln und schließlich auch den Tod überwinden kann. Sie vermag es, durch die Verwandlungskraft der Sprache sogar die Apokalypse Macondos als einen Prozeß der sich vollendenden Lektüre, der vollkommenen Spiegelung des Romans im Roman selbst darzustellen.160 Die Darstellung entspricht Michail Bachtins Ausführungen über den Begriff des Karnevals161. Inspiriert durch seine Rabelais-Lektüre beschäftigt sich García Márquez mit der karnevalesken Darstellung des „Agrotesken Leibes", der den Kreislauf von Leben und Tod symbolisiert und die Freude an der Kreatürlichkeit des Menschen ausdrückt.162 Roloff hebt deutlich hervor, daß es in erster Linie nicht die thematischen Analogien seien, die diesen Vergleich nahelegen, etwa die seltsamen Erscheinungsformen von Menschen als Riesen, Monstern und Dämonen, die Ausgeburten des Inzests, die Freßorgien des Aureliano Segundo, der Fruchtbarkeitszauber von Petra Cotes, die Verwechslung der Zwillinge oder die Karnevalsepisoden selbst, also jene vordergründigen Vergleichsmöglichkeiten oder auch die direkten Hinweise im Text, die

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162

Vgl. Matzat, S. 90. Vgl. Matzat, S. 90. Vgl. Roloff 1986, S. 79. Für Bachtin war der an der Analyse des Werkes von François Rabelais überzeugend erklärte Begriff des Karnevals von zentraler Bedeutung. Vgl. Ottmar Ette: .Jntertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen". In: Romanistische Zeitschrift fiir Literaturgeschichte, 9, 1985. S. 497-519, hier S. 499. Nach Bachtin besteht die Ambivalenz des Karnevals, der Lachkultur des Volkes, in der Infragestellung und Zerstörung der geltenden Ordnung, die gleichzeitig aber auch Befreiung und Regenerierung sein kann. Vgl. Mikhail Bachtin: L'œuvre de François Rabelais et la culture populaire au Moyen Age et sous la Renaissance. Paris 1970. In allen vier Boom-Romanen wird eine Infragestellung und Zerstörung der geltenden Ordnung thematisiert, dazu werden verschiedene Verfahren herangezogen. Die Kamevalisierung stürzt alle Wertordnungen und Hierarchien und hat zur Folge, daß die herrschenden Werte diskreditiert werden. Vgl. Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen, Basel (A. Francke) 1997, S. 297. Bachtin hat gezeigt, daß genau dann, wenn das Erhabene und das Triviale, das Hohe und das Niedrige, das Heilige und das Profane, das Edle und das Vulgäre ineinandergehen, eine explosive Mischung entsteht, die zum Lachen reizt. Vgl. Zima 1997, S. 297. Peter V. Zima zieht aus Bachtins Überlegungen den Schluß, daß es bei den dargestellten Konstellationen häufig zu einer Art Orientierungslosigkeit komme, die bewirke, daß das Subjekt als Aktant (Protagonist), Erzähler oder Leser entscheidungsunfahig werde, weil es sich mit keiner Wertsetzung mehr identifizieren kann. Die Kamevalisierung wird also einer ideologisch-metaphysischen Suche untergeordnet. Vgl. Zima 1997, S. 300. Vgl. Roloff 1986, S. 80.

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bisher schon in der Sekundärliteratur, besonders bei Vargas Llosa163, angemerkt wurden.164 Entscheidend sei vielmehr eine groteske Darstellungsweise, die nicht nur das apokalyptische Geschehen, sondern grundsätzlich alle Ereignisse des Lebens als karnevaleske Gaukelei, als ,Karnevalskunst' erscheinen läßt, und die vor allem aber jene Ereignisse betrifft, die — wie z.B. Geburt, Tod, Begräbnis, Zeugung, Sexualität — in den meisten Gesellschaften tabuisiert oder sakralisiert werden.165 Mit der Einführung des karnevalesken Elements wird der scheinbar paradoxe Zusammenhang zwischen „soledad" und „fiesta" hergestellt.166 Das befreiende Element der „fiesta" besteht darin, daß die Menschen heraustreten aus der Geschichte in die Gegenwart der Verausgabung und des Genusses. Das Fehlen an geschichts- und traditionsbildender Kraft hat eine Kehrseite: Matzat sieht in der Kompensation dieses Mangels eine Disposition zur „fiesta" und damit eine Wendung ins Positive.167 Die Dekadenz der Familie und ihr Verfall lassen sich in gewisser Weise als Geschichte der Befreiung interpretieren; es handelt sich um eine Befreiung von Geschichte - , da die Erosion der Sozialstrukturen die karnevaleske Transgression begünstigt. Auf das befreiende Element des Inzests am Romanschluß wurde schon mehrfach hingewiesen:168 Der Familienfluch erfüllt sich, und es kommt zur Befreiung von kulturellen Zwängen. Mit den Liebesfesten zwischen der Tante und dem Neffen wird die Geschichte endgültig aufgehoben. Der ganze karibische Raum wird im Roman insgesamt als karnevaleske Enklave dargestellt, in der die Gesetze der übrigen - insbesondere der Alten Welt keine Geltung haben.169 Eine ähnliche Funktion hat das karnevalske Fest bei Fuentes, der sich in der Wahl dieses Motivs wieder direkt auf Paz bezieht. Die chronologische Zeit kann vor allem durch das Fest unterbrochen werden:170 La fiesta es una operación cósmica: la experiencia del desorden, la reunión de los elementos y principios contraríos para provocar el renacimiento de la vida [...]. La Fiesta es un regreso a un estado remoto e indiferenciado, prenatal o presocial, por decirlo así: Regreso que es también un comienzo, según quiere la dialéctica inherente a los hechos sociales.1 1

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Vargas Llosa bezieht sich auf die letzten Seiten von Cien años de soledad: „El pueblo había llegado a tales extremos de inactividad, que cuando Gabriel ganó el concurso y se fue a París con dos mudas de ropa, un par de zapatos y las obras completas de Rabelais, tuvo que hacer señas ais maquinista para que el tren se detuviera a recogerlo." Vargas Llosa 1971b, S. 169 fF. Vgl. Roloffl986, S. 80. Vgl. Roloff 1986.S. 80. Vgl. Matzat, S. 90. Vgl. Matzat, S. 91. Vgl. Matzat, S. 92. Vgl. auch Roloff 1986, S. 78 f. Vgl. Matzat, S. 93. Vgl. Hólzl992, S. 56 f. Paz [1951] 1993, S. 56.

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Das Ambiente seines Herrenhauses ermöglicht Artemio die Begegnung mit der Vergangenheit, die dann im Festakt aufgebrochen wird. Levantó la copa y él mismo se puso de pie; el criado le colocó entre los dedos las correas de los perros que le acompañarían durante las horas restantes de la noche; estalló la gritería del año nuevo: las copas se estrellaron contra el piso y los brazos acariciaron, apretaron, se levantaron para festejar esta fiesta del tiempo, este funeral, esta pira de la memoria, esta resurrección fermentada de todos los hechos, mientras la orquesta tocaba Las Golondrinas, de todos los hechos, palabras y cosas muertas del ciclo, para festejar el aplazamiento de estas cien vidas que suspendían las preguntas, hombres y mujeres, para decirse, a veces con la mirada humedecida que no habrá más tiempo que ése, el vivido y alargado durante estos instantes artificialmente extendidos por el estallido de cohetes y las campanas echadas al vuelo. Fuentes [1962] 1993, S. 259.

Vergleichbar evoziert die Stimmung des Grünen Hauses bei Vargas Llosa karnevaleske Assoziationen.172 La casa de la Chunga está detrás del Estadio, poco antes del descampado que separa la ciudad del Cuartel Grau, no lejos del matorral de los ñisilicos [...] A las lavanderas que vuelven del río, a las criadas del barrio de Buenos Aires, les echan las faldas por la cara, les abren las piernas, uno tras otro se las tiran y huyen. Los piuranos llaman atropellada a la víctima, y a la operación fusilico, y al vástago resultante lo llaman hijo de atropellada, fusiliquito, siente leches. (Vargas Llosa [1965] 1969, S. 140) [...]

Das zeigt sich auch bei der Beschreibung der Unbezwingbaren: „[...] eran los inconquistables, no sabían trabajar, sólo chupar, sólo timbear, eran los inconquistables y ahora iban a culear." (Vargas Llosa [1965] 1969, S. 223) Bei Donoso wird die Maske als konkretes Motiv eingesetzt, um die Identitätsproblematik in einen direkten Zusammenhang mit der strengen Trennung sozialer Klassen zu bringen.173 In einem inneren Monolog verspricht Humberto, .jemand" zu werden: Er schwört seinem Vater, daß er statt dieses farblosen Gesichts der Peñaloza eine großartige Maske bekommen wird, ein großes Gesicht, leuchtend, lachend, bestimmt, das jeder bewundern wird: Sí, papá, sí se puede, cómo no, se lo prometo, le juro que voy a ser alguien, que en vez de este triste rostro de facciones de los Peñaloza adquiriré una máscara magnífica, un rostro grande, luminoso, sonriente, definido, que nadie deje de admirar. (Donoso [1970] 1992, S. 99)

Aber im gleichen Zug wird erkannt, daß die Maske nur verhüllen kann, das Ursprüngliche bleibt trotzdem erhalten:174 Allein der Name Peñaloza wird von Humberto selbst als vulgär bezeichnet. Es handelt sich um einen Namen, der in Schwänken als Witz benutzt wird. 172

Vgl. Wesley J. Weaver: „El otro y sus máscaras en ,La casa verde'". In: Ana María Hernández

de López (Hg.): Mario bargas Llosa. Opera Omnia. Madrid (Pliegos) 1994, S. 281-294, hier S. 292. 173

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Vgl. Luengo, S. 96. Vgl. zum Motiv der Maske in Donosos Gesamtwerk v.a. Carbajals Monographie. Vgl. Luengo, S. 96.

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[...] no podemos ser Azcoitía. Ni siquiera tocarlos. Somos Peñaloza, un apellido feo, vulgar, apellido que los saínetes usan como chistes chabacanos, símbolo de la ordinariez irremediable que reviste el personaje ridículo, señalándolo para siempre dentro de la prisión del apellido plebeyo que fue la herencia de mi padre. (Donoso [1970] 1992, S. 98)

Masken entsprechen bei allen vier Autoren Identitätskomplexen. Wenn sie die Funktion haben, die eigene Identität zu verdecken, so liegt dem wieder ein Identitätsverständnis zugrunde, das die Zerrissenheit des Individuums auf einen Mangel an kollektivem IdentitätsZ>ewM/?fie/« zurückführt. Eine zweite Funktion von Masken bildet das karnevaleske Fest. Wenn auch dieser Kontext zunächst den Eindruck vermittelt, als würde sich die Funktion des Verstekkens der eigenen Identität in ihr Gegenteil verkehren, so handelt es sich vielmehr um eine Variante des Identitätsproblems: gerade erst das karnevaleske Fest ermöglicht die kollektive Selbstfindung; dazu bedarf es allerdings eines Ausbruchs aus der Realität. Die Gesamtschau der zentralen gemeinsamen Motive aller vier Soom-Romane hat gezeigt, daß die kulturelle Essenz Voraussetzung ist für die Identitätsstiftung. Deshalb kann bei aller Verschiedenheit unter folgendem Aspekt von einem kollektiven Bewußtsein ausgegangen werden: Vom Bewußtsein gemeinsam erlebter, auf einen ursprünglichen Gründungsakt bezogener Geschichte. Gemeinsam ist den Autoren also ein Verständnis von Identität, das einen Ursprung für das Selbst einfordert - und zwar im Rahmen der tradierten Repräsentationskonzeption, die Identität als die Seinsform ansieht, bei der ein totalisierendes, vollständig erfaßbares Betrachtungsobjekt gegeben ist.175 Damit scheint nicht die Beantwortung der Identitätsfrage, sondern die Frage als solche von zentraler Bedeutung zu sein. Sie selbst stellt ein identitätsstiftendes Moment dar, welches sowohl im Selbst- als auch im Fremdbild den lateinamerikanischen Kontinent als geistig-kulturelle Entität neu entstehen läßt.176 In diesem Sinne sieht auch Cortázar die Identitätssuche als das verbindende Element der fioo/w-Romane an: „¿[...] qué es el boom sino la más extraordinaria toma de conciencia por parte del pueblo latinoamericano de una parte de su propia identidad?"177 Dadurch, daß es bei allen Autoren in erster Linie um die Bewußtwerdung der Identitätsfrage geht, erlauben sie sich auch, innerhalb kollektiver Identitätsvorstellungen nicht klar zu differen175

Ein vergleichbares Verständnis legt Bhabha für postkoloniale Kulturen allgemein zugrunde. Vgl. Bhabha 1997, S. 99.

176

Dies hat Ette in bezug auf die Identitätsfrage in der lateinamerikanischen Literatur um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. festgestellt. Daß es v.a. um die Frage als solche geht scheint m.E. in den Boom-Romanen nicht anders zu sein (wenn es natürlich sonst viele Unterschiede gibt). Vgl. Ottmar Ette: „Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas". In: Birgit Scharlau (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen (Narr) 1994, S. 297-326, hier S. 306.

177

Zit. nach Rama 1982, S. 244. Hervorhebung G.M.

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II. Die itoom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

zieren zwischen nationaler oder subkontinentaler Identität. Wenn auch häufig eine bestimmte Region einen klar abgegrenzten Schauplatz darstellt, so steht der jeweilige Mikrokosmos stellvertretend für ganz Lateinamerika: „[...] las novelas vinculadas al boom funcionaron como apelaciones identitarias no nacionales, sino continentales, siendo leídas como tales o releídas [...]."178 Neben den drei dargestelllten zentralen Motiven in allen Romanen findet das Ringen um Identität auch auf einer formalen Ebene seine Entsprechung. Es wird zu klären sein, welches Potential an sprachlicher Vermittlung narrativen Texten noch zugestanden wird, von Autoren im Zeitalter des „Linguistic turn"179. Dazu werden die Romane selbst, aber auch poetologische Essays Auskunft geben.

1.2. Vertrauen in die Gestaltungskraft der Sprache: „Autor-Dios" Wenn in II. 1.1. auf einer textimmanenten Ebene einzelne Elemente der Romane dargestellt wurden, so wird aus literaturwissenschaftlicher Perspektive dieser Rahmen im folgenden Teil der Arbeit überschritten. Wie sich herausstellen wird, steht hinter dem Versuch, das Konzept des totalen Romans zu skizzieren, ein literaturwissenschaftliches Bemühen, Anliegen/Intentionen der Texte von Autoren nachzuzeichnen. An dieser Stelle soll einem möglichen Einwand vorgebeugt werden: Bekanntlicherweise variieren die Einschätzungen des Konzepts der „ A u t o r i n t e n t i o n " (verstanden als „die generell zu unterstellende kommunikative Absicht von Sprechern"180) mit den vorausgesetzten literatur- und interpretationstheoretischen Modellen und reichen von „theoretisch naiv" über „praktisch unumgänglich" bis hin zu „rational rekonstruierbar4'.181 Simone Winko bemerkt zu recht, daß das Konzept der Autorintention in der Theorie oft kritisiert, in der Praxis dagegen noch oft benutzt werde.182 Für die 178

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Bernardo Subercasseaux: „Élite ilustrada, intelectuales y espacio cultural". In: Manuel Antonio Garretón (Hg.): América Latina: Un espacio cultural en el mundo globalizado. Debates y perspectivas. Bogotá (Convenio Andrés Bello) 1999, S. 174-193, hierS. 182. Ausgegangen wird von der Skepsis gegenüber der Vorstellung, Sprache sei ein transparentes Medium zur Erfassung der Wirklichkeit. Diese Ansicht wird ersetzt durch die Vorstellung, Sprache sei eine nicht hintergehbare Bedingung des Denkens. Alle menschliche Erkenntnis ist durch Sprache strukturiert; Wirklichkeit jenseits von Sprache gibt es nicht. Vgl. Richard Rorty (Hg.): The Linguistic Turn. [1967] Chicago (Univ. of Chicago) 1992. Vgl. auch Hans-Jürgen Goertz: „Linguistic turn und historische Referentialität". In: Ders. (Hg.): Unsichere Geschichte. Stuttgart (Reclam) 2001, S. 11-31. Vgl. Simone Winko: „Einführung: Autor und Intention". In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen (Max Niemeyer) 1999, S. 39-47, hier S. 42. Vgl. Winko, S. 39. Die Debatte um autorintentionalistische Ansätze wurde vornehmlich bis in die achtziger Jahre geführt. Zur Kritik von strukturalistischer und reflektiert hermeneutischer Seite kam die poststrukturalistische Grundsatzkritik hinzu, wie sie etwas Jacques Derrida in seiner Auseinandersetzung mit John Searle formuliert hat. (Jacques Derrida: „Limited Inc". In: Glyph, 2,1977, S. 162-254) Das Konzept der Sprecher- oder Autorintention wird als eine Strategie betrachtet,

II. D i e Boom-Romane

als große

identitätsstiftende

Entwürfe

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Frage des Paradigmenwechsel nach d e m Boom bedarf es notwendigerweise eines Bez u g s z u m intentionalen Spielraum der Autoren' 8 3 . Er ist ein unerläßlicher Referenzpunkt, um die Texte gesellschaftlich, geistesgeschichtlich und medial zu kontextuali184 sieren. D i e Rechtfertigung für eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise, die daru m bemüht ist, Intentionen nachzuzeichnen, berührt hier noch eine weitere Interpretationsebene. W e n n auf der einen Seite die Erfassung des Kontexts z u m Verständnis des Textes als notwendig angesehen wird, so ist auf der anderen Seite entscheidend, w e l c h e Bedeutung die Autoren selbst d e m intentionalen Moment ihres Schreibaktes beimessen. 1 8 5 A n dieser Stelle sind vor allem die essayistischen Schriften von Bedeutung, die im Fall des Autorenkorpus der Arbeit von Fuentes 1 8 6 , Vargas Llosa 1 8 7 und D o n o s o 1 8 8 vorliegen. Bedeutungen zu beherrschen und unzulässig einzugrenzen. Die erkenntnistheoretisch begründete Infragestellung eines handlungs- und zugleich intentionsmächtigen Subjekts entzieht den literaturwissenschaftlichen Modellen, die dieses Konzept verwenden, ihre Grundlage. Spätestens seit diesem Zeitpunkt galt für viele das Argumentieren mit der Autorintention als überholt. Vgl. Winko, S. 41. 183 184

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Verstanden hier als implizite Autoren; Lutz Danneberg legt einen Grundstein mit der Klärung fundamentaler Begriffe: Der artifizielle Charakter eines Gegenstands, der als Ergebnis (intentionalen) menschlichen Handelns (bzw. Bearbeitens) gilt, besitzt Auswirkungen auf die Art und Weise seiner Interpretation - und Interpretation heißt hier zunächst ganz allgemein: die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften an diesen Gegenstand, im Unterschied zu Objekten, die .natürlichen' (nichtintentionalen) Ursprungs sind. Das führt zu der allgemeinen Frage, inwieweit die Zuschreibung von Eigenschaften an einen Text, also eine bestimmte Art und Weise der Interpretation, abhängig von den Eigenschaften erfolgen kann, die dieser Gegenstand kontextuell besitzt. Vgl. Lutz Danneberg: „Zum Autorskonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention". In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen (Max Niemeyer) 1999. S. 77-107, hier S. 80. Die Bezugnahmen auf die Äußerungen des empirischen Autors, soll dazu dienen, Interpretationshypothesen zu belegen bzw. zu plausiblisieren. Vgl. Winko, S. 25. Carlos Fuentes: La nueva novela hispanoamericana. [1969] México, D.F. (Joaquín Mortiz) 199816, Tiempo mexicano. [1971] México, D.F. (Joaquín Mortiz) 1978, Cervantes o la crítica de la lectura. México, D.F. (Joaquín Mortiz) 1976, Geografia de la novela. Madrid (Alfaguara) 1993b. Mario Vargas Llosa: La novela. [1966] Buenos Aires (América Nueva) 1974, „Literatura es fuego." [1967] In: Helmy F. Giacoman, José Miguel Oviedo (Hg.): Homenaje a Mario bargas Llosa. Variaciones interpretativas en torno a su obra. New York (Las Américas) 1971, S. 1521, Historia secreta de una novela. Barcelona (Tusquets) 1971a, García Márquez: Historia de un deicidio. Barcelona (Seix Barrai) 1971b, La orgía perpetua: Flaubert y Madame Bovary. Barcelona (Seix Barrai) 1975, Contra viento y marea. Vol. I ( 1962-1972). Barcelona (Seix Barral) 1986a, Contra viento y marea. Vol. II (1972-1983). Barcelona (Seix Barrai) 1986b, Contra viento y marea. Vol. III (1964-1988). Barcelona (Seix Barrai) 1990a, La verdad de las mentiras. Barcelona (Seix Barrai) 1990b, Carta de batalla por Tirant lo Blanc. Barcelona (Seix Barral) 1990c, La utopía arcaica: José María Arguedas y las ficciones del indigenismo. México, D.F. (Fondo de Cultura Económica) 1996, „El arte de la novela". In: Mario Vargas Llosa, Darío Ruiz Gómez, Femando Cruz Kronfly, Juan Gustavo Cobo Borda, Rafael Humberto More-

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II. Die itoo/w-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

1.2.1. Novelas totales Bereits in der Romantik kam das Anliegen auf, dem Roman die „Potenz einer geschichtsphilosophisch eminenten Wirksamkeit" zuzusprechen.189 Mit ihm wollte man sich die Welt als ganze aneignen, sofern man das geistige Prinzip, das diese Ganzheit organisiert, erzählerisch umzusetzen wüßte. Schon damals fiel das den modernen Roman bestimmende Schlüsselwort Totalität, welches die Romantiker in den Mittelpunkt stellten.190 Das Grundverständnis von Totalität hat viele Dimensionen. Der Begriff wurde ebenso auf Varianten der Widerspiegelungstheorie191 wie den spirituellen Begriff von Wahrheit angewendet, von dem beispielsweise Franz Kafka ausging. Das Spezifikum des Romans, das ihn von anderen im 19. Jahrhundert noch beliebteren Erzählformen wie etwa der Novelle unterschied, bestand in der suggestiven Schaffung eines Totalentwurfs des Lebens bei gleichzeitig völliger Freiheit der einzusetzenden Mittel.192 In der Traditionslinie der klassischen Moderne sind auch die Äoom-Romane als novelas totales konzipiert.193 In ihnen wird der Realitätshorizont erweitert, eine Zersplitterung der einst als einheitlich wahrgenommenen Welt unternommen und eine künstlerische Synthese inszeniert, die der als vieldimensional wahrgenommenen Welt

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no-Durán: El arte de la novela. Medellín (Ateneo Fondo Editorial) 2000b, S. 9-32. El lenguaje de la pasión. Madrid (Ed. El País) 2001. Vgl. Donoso [1972] 1983. Donosos Abhandlung beschäftigt sich hauptsächlich mit zwei Fragestellungen: Die eine bezieht sich grundsätzlich auf das Bestehen einer literarischen Strömung, die man als Boom bezeichnet. Die andere befragt diese neue literarische Bewegung im Hinblick auf ihren homogenen Charakter. Dieser homogene Charakter wird von ihm in Frage gestellt. Das zeigen Bemerkungen wie „esa debatible existencia unitaria conocida como el boom", „el hipotético boom", „si es que el boom existe", „ese boom que puede o no existir", „el boom de tan polémica existencia". Donoso [1972] 1983, S. 11 ff. Die einzige klare Parallele sieht Donoso in der Gleichgesinntheit hinsichtlich einer positiven Haltung gegenüber der kubanischen Revolution. Vgl. Donoso [1972] 1983, S. 58. Christian Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart (Metzler) 2001, S. VII. Vgl. Schärf, S. VII. An dieser Stelle wird von einem Verständnis von Widerspiegelungstheorie ausgegangen, das auf Georg Lukács zurückgeht. Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. [1916] München (dtv) 2000. S. 26. Vgl. auch Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1995, S 10. Vgl. Schärf, S. Di. Auch Santiago Juan-Navarro spricht sich für eine Lesart der Boom-Romane als novelas totales aus; dies auch unter dem Aspekt der Versuchs eine globalen kulturellen Darstellung von Wirklichkeit: „[...] en una gran parte de las novelas del ,boom' se da una tendencia hacia las representaciones macrohistóricas y totalizadoras. De hecho, obras como Terra Nostra, La casa verde y Cien años de soledad pueden describirse como novelas a la búsqueda de una síntesis utópica de las culturas de Hispanoamérica". Santiago Juan-Navarro: „Entre el revisionismo histórico y la literatura de resistencia: La ambigua postmodemidad de los novelistas del boom". In: Journal of interdisciplinary Literary Studies 7, 2, 1995, S. 181-205, hier S. 195. Zum spezifisch modernen Charakter der ßoom-Romane vgl. auch: Williams (2001), S. 234.

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entgegengestellt wird.194 Emir Rodríguez Monegal hat auf ihren totalisierenden Charakter aufmerksam gemacht und verweist auf den Einfluß von James Joyce' Ulyssesm Außerdem steht in ihrem Fall die Integration von Mythen bzw. die mythische Grundstruktur in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Anspruch totale Romane zu verfassen: Dieter Borchmeyer betont, daß die Literatur gerade wegen ihrer mythischen Erbschaft nach kosmogonisch geordneter Totalität strebe. Je weniger sie aber auf Grund der Anonymisierungs- und Atomisierungsprozesse der modernen Geschichte in der Weise realistischer Widerspiegelung erreichbar ist, desto mehr wird nach der holistischen Integrationskraft des Mythos gesucht, der [...] bestrebt ist, auf kürzestem Wege zu einem totalen Verständnis des Universums zu gelangen.196

Für Vargas Llosa war schon immer Flaubert von besonderem Interesse, dessen Poetik er nach Penzkofer als „Privatreligion" verstand; ihr zufolge kann der Künstler als einziges, einsames Subjekt der Totalität seiner Epoche auf dem Weg ästhetischer Produktivität inne werden.197 Für den peruanischen Schriftsteller ist besonders wichtig am Konzept des französischen Realisten, daß das Schaffen eines Romans zu einem viele Jahre währenden neurotischen Kampf wurde, zu einem Perfektionismus der Totalität, d.h. einem Bemühen um ein sprachliches Ausdrucksgebilde, das durch die Genauigkeit und Ökonomie seiner Darstellungsmittel, durch die exakte Wortwahl und Architektonik in Inhalt und Form, durch eine präzise Symbolik im Psychologischen und sogar im Klanglichen das dem Roman vorgeschriebene Totalbild des Lebens zu erreichen versucht. Das zentrale Charakteristikum von Vargas Llosas Romanpoetik ist die Vorstellung, Fiktion sei gleichzeitig Rebellion und wirklichkeitstreue Mimesis. Das Verfassen von Romanen sei immer Akt der Rebellion, immer „deicidio", weil der Autor ein der Familie Luzifers entstammender Gottesverdränger und heimlicher Gottesmörder sei, der den Schöpfer des Universums der eigenen selbstgeschaffenen Wirklichkeit opfere. Dies postuliert er nicht nur für sein eigenes Schreiben, sondern er zeigt in Historia de un deicidio, daß auch García Márquez Gott gestürzt habe und autonome sprachliche 194

195

Vgl. Carlos Schwalb: La narrativa totalizadora de José María Arguedas, Julio Ramón Ribeyro y Mario Vargas Llosa. New York u.a. (Lang) 2001, S. 16. Emir Rodríguez Monegal: El Boom de la novela latinoamericana. Caracas (Tiempo Nuevo) 1972, S. 88.

196

Dieter Borchmeyer: „Mythos". In: Ders., Viktor Zmegac (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen (Niemeyer) 1994, S. 292-308, hier S. 302. Zwar könne er dem Menschen dadurch keine größere Macht über die Natur bieten, aber immerhin die Illusion vermitteln, das Universum in seiner Gesamtheit zu verstehen. Vgl. Ette 1991, S. 163.

197

Für die im Folgenden behandelte Frage nach Vargas Llosas Verständnis des totalen Romans leistete die Studie von Penzkofer, die sich mit den poetologischen Konzeptionen des peruanischen Autors beschäftigt, einen wichtigen Beitrag. Vgl. Gerhard Penzkofer: „Mimesis und Intertextualität: Überlegungen zur Entwicklung des Romanwerks von Mario Vargas Llosa (La casa verde, La tía Julia y el escribidor. Elogio de la madrastra)". In: Iberoamericana, 19, 2/3, 1995, S. 64-83, hier S. 65.

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II. Die ¿toom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

Welten geschaffen habe, in die sich der abtrünnige Autor und sein Leser in einer immerwährenden Wort-Orgie - „una orgia perpetua" - vergessen können.198 La realidad ficticia lo es todo. Contiene su propio origen, a quien crea y lo que está creando, a quien narra y lo que se está narrando. Por ende, así como la vida del narrador es toda la vida, su muerte significa la extinción de todo. La novela [Cien años de soledad] comete el mismo asesinato de dios que el novelista desea perpetrar ejerciendo su vocación de escritor, una ambición refleja la otra. 199

Gleichzeitig ist Cien años de soledad „testimonio cifrado", „representación del mundo"200. „Der luziferische Rebell vereinigt sich mit dem Nachbildner und .plagiario'201, der die illusion référentielle als primäres Kriterium der ,Wahrheit' und Überzeugungskraft eines Romans begreift — ,sin ilusión no hay novela'." 202 Die Vereinbarkeit von rebellischer Distanz und mimetischer Darstellung hat zur Folge, daß die Treue der Abbildung nur suggeriert wird oder umgekehrt eine nicht bestehende Entfernung vom Original behauptet und den Roman damit als das ausweist, was er jenseits von Rebellion und Abbildung tatsächlich ist - Fiktion, Lügenkunst, „verdad de las mentiras". Deicidio und Mimesis, schöpferische Erfindung und Abbildung sind also durchaus miteinander vereinbar. Sie sind zusammengehörige Seiten derselben Medaille, in diesem Fall der Fiktion, deren Dialektik die romaneske Komposition bildet. Der rebellische Roman zerstört die Ordnung der Lebenswelt, um die gewonnenen Einheiten zu autonomen Kontexten, zu besonderen literarischen Welten zusammenzufügen, ohne die Transparenz auf ihre Ursprünge in der Realität des Autors zu zerstören. Schreiben ist fur Flaubert distanzierende Verwandlung erfahrener Wirklichkeit — „Je voudrais écrire tout ce que je vois, non tel qu'il est, mais transfiguré"203. „Die Differenz zwischen Welt und literarischer Modellierung ist [...] immer variabel; sie hängt von den besonderen Verfahren der Literarisierung ab, die als .hinzugefügte Elemente' (elementos añadidos) den ,degré zéro' der Erfassung von Lebenswelt bereichem, verändern, ästhetisieren."204 Die elementos añadidos sind entscheidend verantwortlich für die Originalität eines Werks, und markieren den Unterschied zur realen Welt.205

198

199 200 201 202 203

204 205

Vgl. Penzkofer, S. 65. Er verweist auf: Vargas Llosa: Carta de batalla por Tircnt lo Blanc. Barcelona (Seix Barral) 1990c, S. 26-28; Vargas Llosa 1971b, S. 85-86; Vargas Llosa 1975, S. 147-149. Vargas Llosa 1971b, S. 542. (Hervorhebungen G.M.) Vargas Llosa 1971b, Penzkofer, S. 65. Vargas Llosa 1971b, S. 102. Vargas Llosa 1990b, S. 10 ; Penzkofer, S. 65. Penzkofer, S. 66. Brief an Luise Colet vom 26.8.1853, zitiert und kommentiert in Vargas Llosa 1975, S. 147. Penzkofer, S. 66. Vgl. Vargas Llosa 1990c, S. 34-37; 1975, S. 147-149; 181 u.a.; Vargas Llosa 1990k, S. 7.

II. D i e ¿tocwi-Romane als große identitätsstiftende

Entwürfe

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In seiner poetologischen Schrift La novela [1966] bezeichnet Vargas Llosa die Wirklichkeit als etwas zu Überwindendes; das Verhältnis des Autors zu ihr hat einen kreativen Charakter. Der Wirklichkeit sollte eine andere fiktive Wirklichkeit gegenüber gestellt werden, als sprachliche Repräsentanz der ersten. 206 D i e „Rebellion" des Autors entspricht also einer Rebellion g e g e n die sprachlose Wirklichkeit, die er durch seine literarische Arbeit erst zur Sprache k o m m e n läßt. 207 Ahnlich w i e sich Vargas Llosa in Historia de un deicidio mit Cien años de soledad beschäftigt, geht Fuentes in La nueva novela hispanoamericana auf den totalisierenden Charakter von La casa verde ein. Er bemerkt, daß es genau dann zur Totalisierung kommt, w e n n die Sprache der Gegenwart die Sprache der Vergangenheit aktiviere. 2 0 8 Aber auch für sich selbst propagiert Fuentes das Konzept der novela total. Seine Modelle für den Anschluß an die klassische Moderne sind u.a. William Faulkner, M a l c o l m Lowry und Hermann Broch. [Ellos] regresaron a las raíces poéticas de la literatura a través del lenguaje y la estructura y ya no merced a la intriga y la sicología, crearon una convención representativa de la realidad que pretende ser totalizante en cuanto inventa una segunda realidad, una realidad paralela finalmente un espacio para lo real.209 Der mexikanische Schriftsteller versteht unter einem totalen Roman nicht eine in sich kohärente, fortlaufende, vereinheitlichende Erzählung, sondern das Programm

206

Vgl. Horst Nitschack: „Mario Vargas Llosa: Potencia e impotencia de la ficción frente a la realidad". In: Annette Paatz, Burkhard Pohl (Hg.): Texto social. Estudios pragmáticos sobre literatura y cine. Festschrift fir Manfred Engelbert. 2002, S. 489-502, hier S. 490.

207

Vgl. Nitschack, S. 491. Fuentes [1969] 199816, S. 35-48. Vgl. auch: Todd Oakley Lutes: Shipwreck and delivrance. Politics, Culture and Modernity in the works of Octavio Paz, Gabriel García Márquez and Mario Vargas Llosa. Lanham u. a. (University Press of America) 2003, S. 76. Die literaturwissenschaftliche Rezeption wendete Vargas Llosas Konzept der novela total ausdrücklich auf die drei großen Romane der sechziger Jahren an: La ciudad y los perros, La casa verde und Conversación en La Catedral. Scheerer macht darauf aufmerksam, daß später die Totalität der drei ersten Romane nie wieder erreicht wurde. Vgl. Susanne KJeinert: ,„Las verdades contradictorias' als interkulturelles Problem: Essayistik und fiktionale Kulturkritik in La guerra del fin del mundo." In: José Morales Saravia (Hg.): Das literarische Werk von Mario Vargas Llosa. Akten des Colloquiums im Ibero-Amerikanischen Institut Berlin, 5.-7. November 1998. Frankfurt/M. (Vervuert) 2000, S. 185-210, hier. S. 186. Sie verweist auf Scheerer: „[...] Vargas Llosa [erreicht] die .Totalität' seiner ersten drei Romane nicht wieder. Es scheint, als sei für ihn persönlich das Paradigma des .totalen' Romans beinahe zeitgleich mit der ausführlichen theoretischen Formulierung erschöpft gewesen, und als sei er seinem utopischen Ideal nie so nahe gekommen wie in den ersten Romanen." Scheerer, S. 84. Vgl. auch Roberto González Echevarría: Mito y archivo. Una teoría de la narrativa latinoamericana. México, D.F. (Fondo de Cultura Económica) 2000 [edición en inglés 1990], S. 247.

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209

Febel verweist auf Fuentes selbst: Fuentes [1969] 199816, S. 19. Vgl. Gisela Febel: „Implizite Kulturtheorie in neueren Texten von Carlos Fuentes". In: Birgit Scharlau (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen (Narr) 1994, S. 198-215, hierS. 198.

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II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

eines offenen Buches, eines gemeinsamen Schreibens.210 Auch die experimentellen Erzählverfahren211 tragen zum Versuch einer ganzheitlichen Erfassung der Wirklichkeit bei. Der Erzähler ist kaum noch allwissend, sondern spaltet sich in mehrere Personen oder Perspektiven oder verschwindet sogar ganz. Die Struktur wird aufgebrochen, es wird experimentiert und der Leser soll aktiv am Schaffensprozeß teilnehmen. Im Jahre 1962 prägte Umberto Eco den Begriff des „offenen Kunstwerks"212, der in Interviews oder kritischen Untersuchungen der Romane Lateinamerikas in den sechziger Jahren immer wieder verwendet wird.213 Der innovative formale Charakter, der alle Boom-Autoren verbindet, besteht also vor allem im neuen Verhältnis zwischen Autor, Leser und Kunstwerk.214 Das Kunstwerk entsteht erst durch die Mitarbeit des Lesers, der die einzelnen Informationen und Fragmente zu einem Ganzen zusammenfugt.215 Die Autoren betonen ihr Bemühen um neue Ausdrucksformen und fordern die absolute Freiheit der Phantasie. Sie sprechen von der „Schwierigkeit des Benennens", der „Suche nach dem passenden Wort", der „Notwendigkeit, sich von jeglicher Vorschrift zu befreien"216. Die Literatur soll angereichert werden mit typischen lokalen Redewendungen, Neologismen und Umgangssprache. Die Boow-Romane weisen also wichtige Charakteristika des modernen Romans auf und legen deshalb auch eine Lesart als Metaerzählungen nahe.217 Sie gehen aus von der Voraussetzung, die Welt umfassend erfassen und erklären zu können. Dieser Universalitätsanspruch der Moderne218 fällt zusammen mit dem Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten des Gebrauchs von Sprache. Sprache erscheint dabei als aus210

Vgl. Fuentes 1976, S. 96. Santiago Juan-Navarro hat Fuentes' eigene Schreibverfahren als „modelos totales de representación" verstanden: „Tanto en sus ensayos como en sus novelas, Fuentes insiste en la necesidad de construir modelos totales de representación. [...] Por novela totalizadora Fuentes no entiende una narrativa que se presente como coherente, continua y unificada. Ni tampoco entra en su programa estético imponer una visión exclusivista de la realidad. [...] La novela total de Fuentes se plantea [...] como un programa de libro abierto, de escritura común." Juan-Navarro, S. 187.

211

Das gilt für alle Boom-Romane mit Ausnahme von Cien años de soledad. Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1974. Vgl. Michi Strausfeld (Hg.): Lateinamerikanische Literatur. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 19892, S. 23. Wobei von den hier behandelten Autoren García Márquez als einziger am Konzept des auktorialen Erzählers festhält. Vgl. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München (Fink) 1972.

212 213

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Vgl. Strausfeld, S. 9. Vgl. Jean-François Lyotard: „Randbemerkungen zu den Erzählungen". In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart (Reclam) 1990, S. 49-53, hier S. 49. Unter dem grundsätzlichen Vorbehalt einer Nützlichkeit solcher umfassender Kategorisierungen wäre Modernität im Ausgang von der Aufklärung zu verstehen als das Vertrauen in die Gestaltungskraft der Vernunft; als Leitsterne dienen jene Ideen der Vernunft, die sich durch ihre Apriorität auszeichnen, also rein von jeglichem empirischen Substrat unmöglich kulturellen Besonderheiten oder regionalen Spezifitäten Rechnung tragen.

II. Die fioow-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

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gezeichnetes Instrument, dessen sich die vorsprachliche Vernunft in ihrer Spontanität bedient. Ein derartiges Verhältnis zum Schreibakt deutet darauf hin, daß in den Romanen der sechziger Jahre an einem Realitätsbegriff festgehalten wird, als hätte es weder einen Linguistic turn noch die theoretischen Beiträge zu einer Diskurstheorie und zum Konstruktivismus gegeben.219 Die Boom-Autoren gehen von der Vorstellung aus, Sprache sei ein transparentes Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit, dessen sich ein,Autor-Schöpfer-Gott" bedient.

1.2.2. Utopische Gegenentwürfe La fundación de Macondo es la fundación de la Utopía: José Arcadio Buendía y su familia han peregrinado en la selva, dando vueltas en redondo, hasta encontrar, precisamente, el lugar donde fundar la nueva Arcadia, la tierra prometida del origen. [...] Como la Utopía de Moro, Macondo es una isla de la imaginación. 20

Mit dieser Lesart von Cien años de soledad in seinem Essay La nueva novela hispanoamericana [1969] betont Fuentes das „naturgegebene Eingebundensein des lateinamerikanischen Schicksals in Geschichte und Utopie".221 Das besondere des Romans bestehe darin, daß sein Aufbau der tiefgründigeren Geschichtlichkeit Lateinamerikas entspricht: der Spannung zwischen Utopie, Epos und Mythos.222 Die Gründung von Macondo entspricht der Gründung eines Utopia. José Arcadio Buendía und seine Familie sind im Kreis durch den Dschungel gewandert, bis sie genau auf den Ort stießen, an dem sie das Neue Arkadien, das Gelobte Land des Ursprungs, gründen konnten.223 García Márquez selbst hat sich in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises zum utopischen Gehalt des Romans geäußert.224 Una nueva y arrasadora utopía de la vida, donde nadie pueda decidir por otros hasta la forma de morir, donde de veras sea cierto el amor y sea posible la felicidad, y donde las estirpes condenadas a cien años de soledad tengan por fin y para siempre una segunda oportunidad sobre la Tierra.225

Dennoch entpuppt sich der konstruierte Mikorokosmos nicht als eindeutig bessere Welt. Die Utopie des Romans verbirgt sich vielmehr hinter gesellschaftskritischen 219 220 221 222 223 224

225

Vgl. Nitschack, S. 490 in bezug auf Vargas Llosa. Fuentes [1969] 199816, S. 60. Vgl. Berg, S. 72. Fuentes [1969] 1998", S. 63. Vgl. Berg, S. 72. Folgendes Zitat soll möglichen Einwänden Vorschub leisten, die von einem klar antiutopischen Charakter des Romans sprechen. Vgl. Dario Puccini: „Utopía y antiutopía en Gabriel García Márquez". In: Juan Gustavo Cobo Borda (Hg.): Repertorio crítico sobre Gabriel García Márquez. Tomo I. Bogotá (Instituto Caro y Cuervo), S. 451-512. Gabriel García Márquez: „La soledad de la América Latina". In: Casa de las Américas, 137, (März-April) 1983, S. 3-5, hier S. 3.

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II. Die ßoom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

Stellungnahmen. Berg hat den Roman in vier unterschiedliche historische Phasen eingeteilt226, unter denen sich vor allem in der „Imperialismus bzw. Dependenzphase" und in der „Dekadenzphase"227 Bezugnahmen auf konkrete historische Ereignisse verbergen.228 Er spricht von dem Nordamerikaner Jack Brown als Hauptgestalt der Imperialismus- bzw. Dependenzphase, der Macondo zum Zentrum einer Bananenpflanzung umbaut; neben ihm übernimmt auch der Urenkel des Gründungsvaters, José Arcadio Segundo, eine Protagonistenrolle. Er erhält in der Pflanzung eine Anstellung und eine führende Rolle als Gewerkschaftsvertreter.229 Eine traumatische Erfahrung war fiir ihn ein anläßlich eines Streiks an 3000 Arbeitern verübtes Massaker, das er als einziger Zeuge überlebte. Unfähig, das Erlebte seinen Zeitgenossen in Worten zu vermitteln, isoliert sich José Arcadio Segundo von seiner Umgebung und konzentriert sich fortan auf die Lektüre der Manuskripte des Melquíades. Die Darstellung konkreter historischer Ereignisse hängt letztlich mit dem Hauptthema des Romans, der Einsamkeit, zusammen.230 Die Geschichte Macondos zeigt, daß die zivilisatorische Aneignung der neuen Heimat gescheitert ist. Die Familie Buendia und die Bewohner von Macondo können keine traditionsbildende Kraft entwickeln, sie entbehren der Fähigkeit, stabile Sozialstrukturen aufzubauen.231 Dieser Mangel ist der Grund für ihre Einsamkeit und provoziert ein Schwanken zwischen innerer Entfremdung und äußerer Fremdbestimmtheit.232 Ähnlich radikal, wenn auch anders akzentuiert, skizziert Fuentes die zeitgenössische Gesellschaft Mexikos und liefert dabei eine unbarmherzige Kritik der Welt, die die Revolution geschaffen hat.233 Gonzalo Bernal ist der einzige, der eine treffende Analyse der Revolution entwirft: Heute hätte man all jene entfernt, die glaubten, die Revolution solle das Volk befreien und sei nicht dazu da, die Caudillos zu verherrlichen. Eine Revolution müsse auf den Schlachtfeldern gewonnen werden, aber wenn sie einmal korrupt sei, sei sie trotz der gewonnen Schlachten verloren. Alle seien dafür verantwortlich. Alle hätten geduldet, daß man sie spaltete und daß sie Begehrlichkeit, Ehrgeiz und Mittelmäßigkeit beherrschten. Diejenigen, die eine echte, gründliche und unerbittliche Revolution wollten, seien leider ungebildete Männer. Und die Gebildeten wollten nur eine halbe Revolution, die sich mit ihren Interessen decke: vorwärtszukommen, gut zu leben und Don Porfirios Elite abzulösen. 226

227 228 229 230

231 232 233

1 8 8 5 - erster Bürgerkrieg, 1899 — zweiter Bürgerkrieg, 1907 - Ankunft der Compañía bananera, 1909 Gründung der Eisenbahnlinie, 1918 - Abzug der Compañía bananera und Beginn der Dekadenz. Vgl. Berg, S. 235. Vgl. Berg, S. 235. Puccini, S. 454. Vgl. Berg, S. 235. Für den Zusammenhang zwischen Utopie und dem omnipräsenten Thema im Roman, der Einsamkeit, war die Studie von Matzat besonders aufschlußreich. Vgl. Matzat, S. 89 ff. Vgl. Matzat, S. 89. Vgl. Matzat, S. 89. Vgl. Francisco Javier Ordiz: El mito en la obra de Carlos Fuentes. (Universidad de León) 1987, S. 219.

II. D i e ßoo/w-Romane als große identitätsstiftende

Entwürfe

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[...] ve nada más cómo se han ido quemando atrás los que creían que la revolución no era para inflar jefes sino para liberar al pueblo [...] los que quieren una revolución de verdad radical, intransigente, son por desgracia hombres ignorantes y sangrientos. Y los letrados sólo quieren una revolución a medias, compatible con lo único que les interesa: medrar, vivir bien, sustituir a la élite de don Porfirio. Allí está el drama de México. (Fuentes [1962] 1993, S. 194 f.) Besonders hart fällt in diesem Kontext auch die Kritik an den U S A aus: Thema ist u.a. die Art und Weise, w i e die Agrarreform tatsächlich umgesetzt wird. Wer letztendlich auf der Seite der Gewinner steht, kommt im folgenden Dialog treffend z u m Ausdruck: „Usted mismo lo ha dicho, don Gamaliel" - dijo el huésped cuando regresó, la mañana siguiente. „No se puede detener el curso de las cosas. Vamos entregándole esas tierras a los campesinos, que al fin son tierras de temporal y les rendirán muy poco. Vamos parcelándolas para que sólo puedan sembrar cultivos menores. Ya verá usted que en cuanto tengan que agradecemos eso, dejarían a las mujeres encargadas de las tierras malas y volverán a trabajar nuestras tierras fértiles. Mire no más: si hasta puede usted pasar por un héroe de la reforma agraria, sin que les cueste nada." (Fuentes [1962] 1993, S. 54) D i e kritische Haltung in bezug auf die U S A zeigt sich im Verrat an den mexikanischen Kapitalisten: 234 D e r Nordamerikaner meint nach einem abschätzenden Blick auf die Landkarte, daß die Gebiete bei maximaler Förderung bis ins 21. Jahrhundert ausgebeutet werden können. El técnico [norteamericano] extendió el mapa de la zona sobre la mesa y él retiró los codos mientras desarrollaban el pergamino. El segundo explicó que la zona era tan rica que podía explotarse al máximo hasta bien entrado el siglo XXI; al máximo, hasta agotar los depósitos; al máximo. [...] [Cruz] les pidió 2 millones de dólares al contado y ellos lo admitían con gusto como socio capitalista con 300 mil dólares, pero nadie podía cobrar un centavo hasta que la inversión empezara a producir. [...] él les repitió que ésas eran sus condiciones: ni siquiera se trataba de un anticipo, de un crédito, ni nada por el estilo: era el pago que le debían por tratar de conseguir la concesión; a lo mejor, sin ese pago previo, no había tal concesión: ellos recuperarían con el tiempo el regalo que ahora le iban a hacer; pero sin él, sin el hombre de paja, sin el front-man - y les rogaba que excusaran los términos - ellos no podían obtener la concesión y explotar los domos. (Fuentes [1962] 1993, S. 24f.) Dieser Art von Kritik wohnt aber ein utopisches Moment inne, da der Erzähler zugleich eine andere Wirklichkeit beschwört: die heißen Jahre des bewaffneten Kampfes. La muerte de Artemio Cruz ist die Geschichte des Revolutionärs, der verdirbt. N a c h Paz heißt Cruz zu entziffern, ihm die D ä m o n e n austreiben. Seine A g o n i e steht für eine Entzifferung. Der Sterbende lebt sein Leben neu: als Verliebter, als Guerillero, als politischer Abenteurer, als Geschäftsmann. In seiner A g o n i e sucht er in seinem vergangenen Leben den Hinweis auf das, w a s wirklich ist, den „unbefleckten Augenblick, der ihm erlauben wird, d e m Tod ins Gesicht zu schauen". 235 Artemio Cruz steht als Repräsentant für ein neues erfolgreiches Unternehmertum dafür, daß 234

235

Vgl. Victor Manuel Duran: A Marxist Reading of La Muerte de Artzemio Cruz. New York, Lanham (Univ. Press of America) 1994. Vgl. Paz 19892, S.297 f.

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II. Die Äoom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

die Strukturen der alten sozialen Ungerechtigkeit, der „verrotteten Rhetorik" und des „groben Egoismus" noch lange nicht überwunden sind.236 Dennoch zeigt sich in der Erzählhaltung durch die moralische Instanz des Du eine Hoffnung auf die mexikanische Gesellschaft. [...] ahora morirás y no lo tendrás, ya porque no lo verás; pero dirás que lo teman: teman la falsa tranquilidad que les llegas, teman la concordia ficticia, la palabrería mágica, la codicia sancionada: teman esta injusticia que ni siquiera sabe lo que es. (Fuentes [1962] 1993, S. 276)

Hölz hat die Subjektproblematik im Roman untersucht und gezeigt, wie der Spaltungsprozeß des Subjekts als ein moralisches und gleichzeitig soziales Korrektiv der aus der Revolution hervorgehenden neuen Gesellschaftsstruktur dargestellt wird; der Vorgang der kapitalistischen Entfremdung wird in der nachrevolutionären Epoche Mexikos am Beispiel Artemios sinnfällig gemacht. Häufig taucht im Text die Chingada237 als Brandmahl auf, das den zyklischen Charakter in der Geschichte mitprägt: Das Wort, das die Liebe vergiftet, Freundschaften zugrunde richtet, Zärtlichkeit in Härte verwandelt, das Wort, das spaltet, zerstört und vergiftet: „La chingada que envenena el amor, disuelve la amistad, aplasta la ternura, la chingada que divide, la chingada que separa, la chingada que destruye, la chingada que empezona [...]."238 Die konkrete Aufforderung, dieses Brandmahl zu überwinden wird abermals über die Du-Person artikuliert: Cruz fordert sich selbst auf, das Wort hinter sich zu lassen, es mit fremden Worten zu töten: Es stehe zwischen ihnen, versteinere sie, zersetze sie mit seinem Gift aus Götzen und Kreuz, so daß es weder Antwort noch Schicksal sein könne. [...] déjala en el camino, asesínala con armas que no sean las suyas: matémosla, matemos esa palabra que nos separa, nos petrifica y pudre con su noble veneno de ídolo y cruz: que no sea nuestra respuesta ni nuestra fatalidad. (Fuentes [1962] 1993, S. 146)

Hölz spricht von einer „moralischen Bewertung" der subjektiven Instanz des Ich auf der Du-Ebene. Was sich im Ich- und Er-Teil in destruktiver Weise begegnet, wird vor allem in den Du-Episoden — in einer Art vom Unbewußten gesteuerter Gewissenserforschung - mit dem falschen Schein der Selbstüberschätzung belegt.239 Die Zeit ist nicht mehr das neutrale Medium, in welchem sich das Geschehen nach kausalen Gesetzen vollzieht; durch die alternative Zeitwahrnehmung verändert sich auch 236

237

238 239

Fuentes [1962] 1993, S. 277. Für die folgenden Überlegungen zu verschiedenen Ebenen der gesellschaftspolitischen Dimension und des utopischen Potentials des Romans folge ich der Analyse von Hölz. Vgl. Hölz 1992, S. 65 ff. „El ,hijo de la Chingada' es el engendro de la violación, del rapto o de la burla [...]. Para el español la deshonra consiste en ser hijo de una mujer que voluntariamente se entrega, una prostituta; para el mexicano, en ser fruto de la violación [...]. La cuestión del origen es el centro secreto de nuestra ansiedad y angustia." Paz: [1950] 1993, S. 87f. Fuentes [1962] 1993, S. 146. Vgl. Hölz 1992, S. 64.

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der Status der Personen. Artemio ist mehr als ein bloßes Individuum, das sich die Welt nach eigenem Willen unterwirft, an ihm vollziehen sich kollektive Mechanismen. Dieser Prozeß wird wieder auf der Du-Ebene dargestellt:240 Vas a vivir... Vas a ser el punto de encuentro y la razón del orden universal... Tiene una razón tu cuerpo... Tiene una razón tu vida... Eres, serás, fuiste el universo encarnado... Para ti se encenderán las galaxias y se incendiará el sol... Para que tú ames y vivas y seas. (Fuentes [1962] 1993, S. 313)

Tod und Geburt, Vergangenheit und Zukunft sind im Bezug auf das sterbende Ich keine Gegensätze mehr. Der chronologische Ablauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerät für das Ich in Unordnung. Ist er in den Pronominalabschnitten noch weitgehend aufrechterhalten, so daß die Tempora vorwiegend einer Erzählinstanz zugewiesen sind (Ich — Präsens, Du — Futur, Er — Vergangenheit), so fallen im Augenblick des Todes die pronominalen Unterscheidungsmerkmale zusammen: „Yo no sé... no sé... si él soy los yo... si tú fue él... si yo soy los tres ... Tú... mueres ... has muerto... moriré."241 Die Du-Perspektive repräsentiert eine moralische Alternative: Das Du, das sich als „Gewissensinstanz" sowohl vom Ich als auch vom Er gelöst hat, ist auch jene Größe, die den egoistischen Lebensgang des Ich und Er revidiert.242 So entscheidet sich das Du gerade für jene Position im Leben, die Artemio ausgeschlagen hat: Tú escogerás a ese soldado herido [...] tú elegirás permanecer allí con Bemal y Tobías [...] tú no visitarás al viejo Gamaliel en Puebla [...] tú no quedarás con Lunero en la hacienda [...] tú serás un peón [...] tú no serás Artemio Cruz. (Fuentes [1962] 1993, S. 246 f.)

Letztlich endet der Roman mit einem programmatischen Verweis auf die sich real konkretisierende Utopie: Die Hoffnung, die in die kubanische Revolution gesetzt wird, zeigt sich am Ende besonders deutlich: „La Habana, mayo de 1960. México, diciembre de 1961".243 Fuentes stellt in La muerte de Artemio Cruz ein raffiniertes sprachliches Instrumentarium bereit, das zwar eine radikale Kritik der mexikanischen Gesellschaft ermöglicht, gleichzeitig durch die Instanz des Du aber dem modernen Utopiebewußtsein verhaftet bleibt, das nach Sinn und Wertsetzung verlangt.244

240 241 242 243

244

Vgl. H ö l z l 9 9 2 , S . 57. Fuentes [1962] 1993, S. 315. Vgl. Hölz 1992, S. 64 und sein Verweis auf folgende Textstelle. Damit wird der im Roman vollzogenen Abrechnung mit der mexikanischen Revolution die positive Kraft der kubanischen Revolution entgegen gehalten. Vgl. Meyer-Minnemann 1979, S. 295. Borsö hat betont, daß in La muerte de Artemio Cruz nur der Reo\utionsgedanke intakt sei. Vgl. Vittoria Borsö: „Carlos Fuentes - Die globale Welt eines Kosmopoliten des 20. Jahrhunderts". In: Barbara Dröscher, Carlos Rincön (Hg.): Carlos Fuentes' Welten. Kritische Relektüren. Berlin (ed. tranvia, Verl. Frey) 2003, S. 125-152, hierS. 128.

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II. Die floora-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

In El obsceno pájaro de la noche bezieht sich die Gesellschaftskritik vor allem auf die strenge Aufteilung in soziale Klassen.245 Genau wie alle anderen ehemaligen Kolonien trägt die chilenische Gesellschaft die Zeit der Eroberung und deren Folgen mit sich. Die Familie Azcoitia verkörpert die reiche Oberschicht, den chilenischen Landadel, was besonders akzentuiert im Verhältnis zu den Bediensteten zum Ausdruck kommt. Ein Spezifikum von Donosos Erzählweise und seiner Darstellung sozialer Konflikte, die auch die Identitätsfrage streifen, ist der enge räumliche Kontakt, der eine Haltung widerspiegelt, die dem anderen keine Identität zugesteht; das impliziert wiederum einen Mangel an Achtung und scharfe soziale Abgrenzung. In der Zeugung Boys wiederholt sich die Geschichte insofern, als sich eine ursprünglich fruchtbare Beziehung in eine schuldhafte und daher verdrängte Abhängigkeit verwandelt, indem sie unterdrückt und geleugnet wird. Die Oligarchie bedarf um ihrer Fortsetzung und Legitimität willen der Verbindung mit den von ihr verachteten Schichten der Gesellschaft. Die Unmöglichkeit einer wirklichen Gestalt hat ihren Grund in der fortgesetzten Leugnung dieser Abhängigkeit. Humbertos Blut ermöglicht es, das Ansehen und Leben Don Jerónimos zu retten, wird von diesem aber nur als Maske angesehen und verwendet. Humberto wiederum genießt diesen Moment des Einsseins mit Jerónimo; schließlich ist es der einzige Moment, indem er unter Lebensgefahr so etwas wie eine Identität besitzt, die sich jedoch gegen seine eigene Zugehörigkeit richtet; er vernichtet sich selbst. Diese übersteigerte Bewunderung der Oligarchie und die Identifikation mit ihr verhindert seine wirkliche Identität. Was bleibt, sind voneinander abhängige Einzelteile. Der Körper, der daraus erwächst, ist das Monstrum Boy.246 Diese Erzählstränge haben alle das Verhältnis der Abhängigkeit und Unterdrückung zum Inhalt. Es handelt sich um das Verhältnis der verschiedenen sozialen Schichten und damit implizit um das der Nachkommen von Eroberern und Ureinwohnern. Lag die Schuld ursprünglich auf einer Seite, nämlich der des Stärkeren, so ist daraus über Jahre der äußeren Loyalität und Identifizierung eine gemeinsame geworden. Günther kommt zu dem Schluß, daß die Identität beider Seiten in diesem durch die Macht geprägten Rahmen erstarrt. Parallel dazu nimmt aber die Abhängigkeit zu, denn allein die Gegenwart des Anderen legitimiert zuletzt dieses Dasein, in dem sich nichts mehr bewegt.247 Humberto zeigt ein ständiges Bemühen, seine gesellschaftliche Zuordnung zu einer Klasse zu akzeptieren. Auch wenn er von Anfang an um die Grenzen seiner Aufstiegsmöglichkeiten weiß, so kämpft er doch darum, in eine höhere soziale Schicht aufzusteigen: „La existencia de Humberto Peñaloza gira alrededor de la imposibili245

246 247

In den Überlegungen zu Donosos Utopieverständnis war v.a. die Abhandlung Günthers von Bedeutung, die vor allem den gesellschaftskritischen Aspekt des Romans genau beleuchtet. Vgl. im Folgenden Günther, S. 132 f. Vgl. Günther, S. 132. Vgl. Günther, S. 132.

II. Die Äoow-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

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dad de revindicar su condición de desposeído de la altura social a que siempre aspiró":248 Humberto fühlt sich ausgelacht und verspottet. Er gesteht sich ein, daß er das dröhnende Gelächter nicht veijagen kann, auch wenn er sich an seine Schreibmaschine setzt. Er nimmt sich vor, an diesem Abend mit dem Schreiben anzufangen, um sich aus dem Kreis des erstickenden Gelächters, mit dem Don Jerónimo ihn einsperrt, zu befreien. Lo oí: ya no croan las ranas al atardecer, es mi nombre, mi desventura, repetidas por bocas burlonas, todos liados, todos riéndose, y yo no logro despachar esas risas atronadoras aunque me siente a mi máquina de escribir para seguir escribiendo, no, no logró seguir escribiendo porque no he comenzado a escribir nada todavía, pero que todos tomen nota: una de estas tardes voy a comenzar a escribir para liberarme de la asfixia de las carcajadas con que don Jerónimo me encarcela. (Donoso [1970] 1992, S. 262)

Auch in diesem Fall beinhaltet die Kritik ein utopisches Element. Ähnlich wie bei Fuentes wird auch auf der Ebene der sprachlichen Struktur ein Gegenentwurf entwickelt. Der Imbunche wendet sich an ein imaginäres Du, das letztlich alle Figuren des Romans anspricht.249 Sowohl Iris als auch Jerónimo ignorieren aber seine Existenz: „¿Por qué me seguías, entonces si ni siquiera me ibas a conceder existencia con una mirada?"250 Wiederum vergleichbar mit Fuentes findet sich auch in El obsceno pájaro de la noche der Verweis auf die sich verwirklichende Utopie der kubanischen Revolution: Der Autor des Obszönen Vogels der Nacht zeigt allerdings seine politische Haltung etwas subtiler, indem er es bevorzugt, Wortspiele zu verwenden, statt sich programmatisch zu äußern. So ist das Baby von Iris nicht fähig, die ersten Bruchstücke einer natürlichen „Babysprache" von sich zu geben. Dafür sagt es: [...] los americanos bombardean las cercanías de Hanoi, Onassís declara, Panagra la línea aérea del hombre moderno, Allende al poder, minifaldas expulsadas de la catedral metropolitana, intelectuales deben tomar parte en la zafia este año declara Fidel Castro, Fi-del Cas-tro, Castro, aprende bien las letras pues Iris: C-A-S-T-R-O, [...].251

La casa verde kann gelesen werden als „Studie historisch-sozialer Bedingungen und als vehemente Klage über deren Auswirkungen'^. Die Frage der kollektiven Identität wird hier auf einer sozial-kulturellen Ebene behandelt. Der Egoismus der einzelnen, der sich vor allem auf ökonomische Interessen richtet, wird als bezeichnend für die peruanische Gesellschaft porträtiert: Fushias wichtigstes Anliegen in der Selva besteht darin, die indigene Bevölkerung auszurauben, Bonifacias Schicksal im Grünen Haus ist darauf zurückzuführen, daß die Unbezwingbaren von den Erträgen der Prostitution leben wollen. La casa verde legt die sozialen Strukturen der Gesell248 249 250 251 252

Vgl. Luengo, S. 70. Vgl. Valdés, S. 136. Donoso [1970] 1992, S. 120. Donoso [1970] 1992, S. 131. Vgl. Scheerer, S. 34.

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II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

schaft einer Provinzstadt offen.253 Die Verhältnisse in Piura unterscheiden sich nicht von denen in Lima: Dem reichen Großgrundbesitzer Seminario stehen die Bewohner der Armenviertel Castilla, Gallinacera und Magancheria gegenüber, deren soziale Probleme vor allem in der Beschreibung der Wohnverhältnisse zum Ausdruck kommen:254 Con la avenida Sánchez Cerro terminaban el asfalto, las fachadas blancas, los sólidos portones y la luz eléctrica, y comenzaban los muros de carrizo, los techos de paja, latas o cartones, el polvo, las moscas, los meandros. En las ventanitas cuadradas y sin cortinas de las chozas, resplandecían las velas de sebo y los candiles mangaches, familias enteras tomaban el fresco de la noche en media calle. [...] La atmósfera hervía de olores tibios y contraríos y, a medida que las calles se iban borrando, surgían perros, gallinas, chanchos que sombría, gruñonamente se revolcaban en la tierra, cabras de ojos enormes sujetas a una estaca, y era más espesa y sonora la fama aérea suspendida sobre sus cabezas. (Vargas Llosa [1965] 1969, S. 60)

Vargas Llosa thematisiert Peru als Land, das zerrissen ist zwischen dem archaischen Urwaldleben der indígenas und westlichen Einflüssen.255 Die Auseinandersetzung mit der in den sechziger Jahren diskutierten Aufteilung des Landes in „zwei Perus" 56 findet ihre literarische Entsprechung in den beiden Schauplätzen des Romans. Auf der einen Seite steht die Kleinstadt Piura an der peruanischen Küstenwüste: ein von der westlichen Zivilisation geprägter, vom Handel dominierter Ort mit einer kleinen reichen Oberschicht, einem Kleinbürgertum, aber auch mit dem Elendsviertel La Magancheria. Auf der anderen Seite, in 2000 km Entfernung befindet sich die Selva, der Urwald im nordöstlichen Landesinnem am Río Marañón. In dieser Region des Amazonasgebiets mit ihrer dünnen Besiedlung bilden die Missionsstation Santa María de Nieva, die Garnison Boija und das Städtchen Iquitos die Stützpunkte für Missionare, Soldaten und Händler. Zwischen ihnen und den abgelegenen nur von indígenas bevölkerten Dörfern stellt der Fluß die wesentliche Verbindung her.257

253 254 255 256

257

Vgl. Lentzen, S. 26. Vgl. Lentzen, S. 26. Vgl. Scheerer.S. 21. Vargas Llosa äußert sich selbst: „El que haya un país real completamente separado del país oficial es, por supuesto, el gran problema peruano. Que al mismo tiempo vivan en el país hombres que participan del siglo XX y hombres como los comuneros de Uchuraccay y de todas las comunidades iquichanas que viven en el siglo XIX, para no decir en el siglo XVII. Esa enorme distancia que hay en los dos Perú está detrás de la tragedia que acabamos de investigar." Vargas Llosa in Carlos Zuzunaga Flórez: Vargas Llosa: El arte de perder una elección. Lima (Peisa) 1992, S. 146. Bedeutsam für die Frage der lateinamerikanischen Identität ist allerdings auch die lateinamerikanische Dimension der Problematik, die sich in den Kautschukgeschäften darstellt. Die innerperuanischen Fronten gelten auch für den ganzen Subkontinent. In dieser Hinsicht wird in La casa verde vergleichbar mit Cien años de soledad ein Mikrokosmos dargestellt, der den Makrokosmos Lateinamerika spiegelt. Vgl. Scheerer, S. 22 f.

II. Die Öoom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

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In bürgerlich-linksliberalen Kreisen (vornehmlich im Bereich der APRA-Partei258) war die These von den „zwei Peru" eines der Standardargumente für die Unterentwicklung des Landes. Sie geht davon aus, daß die wesentlichen Schwierigkeiten des Landes darauf zurückzuführen seien, daß der Ausgleich zwischen den Extremen der einzelnen Landesteile nicht bewältigt werden konnte. Daraus resultiert die politische Forderung, den europäisierten und den indianischen Sektor der Gesellschaft miteinander zu versöhnen.2 9 In der Provinzstadt Piura zeigt sich die Konfrontation zwischen cholos und Weißen. Die alteingesessenen Piuraner, vorwiegend cholos, sehen in den Weißen die „personifizierte Ankunft der Zivilisation des 20. Jahrhunderts" in ihrer Stadt. Den Einzug des Automobils, des Kinos und einer neuen Mode, den Abriß alter Stadtviertel und Errichtung moderner Bezirke betrachten sie äußerst mißtrauisch.260 - Cada vez había más calles, casas más altas, la ciudad se dilataba y retrodecía el desierto. La Gallinacera desapareció y en su lugar surgió un barrio de principales calles [...]. Llegaron municipales, policías, el Alcalde y el Prefecto al frente, y con camiones y palos sacaron a todo el mundo y al día siguiente comenzaron a trazar calles rectas, manzanas, a construir casas con dos pisos, y al poco tiempo nadie hubiera imaginado que en ese asedao rincón residencial habitado por blancos, habían vivido peones. (Vargas Llosa [1965] 1969, S. 243) [...] „El barrio más moderno se codeará con el más viejo y pobre" - dice el doctor Zevallos. „Ya no creo que dure mucho la Mangachería. Le pasará lo que a la Gallinacera, patrón" - dice el chofer. „Le meterán tractores y harán casas como éstas, para blancos." (Vargas Llosa [1965] 1969, S. 407)

Die Spannungen zwischen Weißen und cholos fuhren in einem Fall sogar zu einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod. In der Casa verde beschimpft der Weiße Seminario den Mestizen Lituma als „cholito" und „marimacho de mierda"261, das geht so weit, daß dieser ihn zu einem Russischen Roulette auffordert. „Selbst der auf die eigene Schläfe gerichtete Pistolenlauf, der ihm den Tod vor Augen führt, kann Seminario nicht von seiner rassistischen Position abbringen: ,Basta de palabrería — dijo Seminario - . [...] Empecemos, cholo de mierda'. (Vargas Llosa [1965] 1969, S. 294)2« Fushía steht für die Errungenschaften der Zivilisation, was besonders deutlich wird, als ihm Aquilino neidisch wegen seines Harems, der nur aus indigenen Frauen besteht, beschimpft: ,,Pero eran chunchas — dijo Fushia —, chunchas, Aquilino, aguaranas, achuales, shapras, pura basura, hombre". (Vargas Llosa [1965] 1969, S. 156) 258

Die Alianza Populär Revolucionaria Americana (APRA) wurde in bezug auf den gesamten lateinamerikanischen Kontinent am 7. Mai 1924 gegründet. Victor Raul Haya de la Torre gründete von der kontinentalen Idee inspiriert am 21. September 1930 die peruanische APRAPartei.

259

Vgl. Scheerer, S. 35. Vgl. Lentzen, S. 20. Vargas Llosa [1966] 1993, S. 292. Lentzen, S. 20f.

260 261 262

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II. Die .Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

Ähnlich kritisch werden die Ordensschwestern als Vertreterinnen der katholischen Kirche dargestellt. Sie halten Bonifacia ihre kulturell unwürdige Herkunft vor. Y estabas desnuda - gritó la Madre Angélica - y era por gusto que yo te hiciera vestidos, te los arrancabas y salías mostrando tus vergüenzas a todo el mundo y ya debías tener más de diez años. Tenías malos instintos, demonio, sólo las inmundicias te gustaban. [...] - Eras como un animalito y aquí te dimos un hogar, una familia y un nombre - dijo la Superiora —. También te dimos un Dios ¿Eso no significa nada para tí? (Vargas Llosa [1965] 1969, S. 44f.)

De Toro hat aus den Konfrontationen den Schluß gezogen, daß die verschiedenen Basisoppositionen, auf denen alle Ereignisse in La casa verde beruhen, auf die „Archiopposition" Zivilisation vs. Barbarei reduziert werden können.263 Jedoch stelle Vargas Llosa den Konflikt in einer Weise dar, in der diese Kategorien nicht mehr klar einer bestimmten Gruppe von Menschen, einer Region oder gesellschaftlichen Organisationsform zuzuordnen sind.264 So kann die Stadt Piura z.B. nicht eindeutig als zivilisiert bezeichnet werden, da viele indígenas dort ihr Verderben finden; das Verhalten der Weißen im Urwald oder in den Städten ist weder zivilisiert noch christlich. In beiden Räumen und Bevölkerungsgruppen ist also diese Basisopposition zu finden. Diese Gegenüberstellungen entsprechen der Erfahrung des Anderen, die Tzvetan Todorov in La Conquête de l 'Amérique265 als entscheidend für die Eroberung angesehen hat. Im Gegensatz zu García Márquez, Fuentes und Donoso sucht man bei Vargas Llosa vergeblich nach konkreten utopischen Elementen.266 Der utopische Gehalt von La casa verde wird vielmehr über den Gesamtentwurf vermittelt: durch die Art und Weise der Darstellung werden die gesellschaftspolitischen Konstellationen und die Trennung in „zwei Perus" als schlecht entlarvt. Die implizit vorhandene Utopie des Romans besteht in der Hoffnung auf eine Auflösung der strikten Zweiteilung Perus und damit, in Anlehnung an die lateinamerikanische Tradition der APRA, des ganzen Subkontinents. Auch wenn der utopische Gehalt der einzelnen Romane durchaus unterschiedliche Dimensionen annimmt, so liegt ihr Gemeinsames nicht in irgendwelchen Ähnlichkeiten positiver Zukunftsbilder, sondern in der kritischen Negation der bestehenden Gegenwart im Namen einer besseren Zukunft; nicht in der positiven Bestimmung dessen, was sie will, sondern in der Negation dessen, was sie nicht will. Der utopische 263 264 265 266

Vgl. de Toro 1986, S. 98. Vgl. de Toro 1986, S. 98. Vgl. Tzvetan Todorov: La conquête de l'Amérique. La question de l'autre. Paris (Seuil) 1982. Alonso Cueto und Scheerer vertreten die These, daß Vargas Llosas Romane der sechziger Jahre jeglichen utopischen Gehalts entbehren. Vgl. Alonso Cueto: „Novela y utopía." In: Karl Kohut, José Morales Saravia, Sonia V. Rose (Hg): Literatura peruana hoy. Crisis y creación. Frankfurt/M. (Vervuert) 1998, S. 35^6, hier S. 37. Vgl. Scheerer, S. 36. Auch wenn in der Tat keine konkreten utopischen Elemente im Text nachweisbar sind, so leitet sich daraus nicht die Absage an jegliche Form von Utopie ab.

II. Die fioom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

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Gehalt der Romane ist die Negation der Negation.267 Entscheidend ist auch, daß die utopischen Elemente in die total angelegte Gesamtstruktur integriert sind. Diese unauflösliche Verbindung von Utopie und novela total wird zusammengehalten von der grundsätzlichen Voraussetzung, Schreiben als intentionalen Akt aufzufassen, der das Wort als Mittel zur Veränderung einsetzt und vom Vertrauen in die Gestaltungskraft der Sprache getragen ist. Die Zusammenschau der Romane hat trotz einiger Unterschiede grundlegende Gemeinsamkeiten gezeigt: Mythische Elemente, ein zyklisches Zeitverständnis und das Motiv der Maske sind Konstituenten eines Identitätsverständnisses, das eines Rückgriffs auf die kulturelle Essenz bedarf (II. 1.1.) Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der Anlage der Romane als novelas totales und utopische Gegenentwürfe (II. 1.2.). Die Verbindung dieser beiden Lesarten soll im folgenden Kapitel beleuchtet werden.

1.3. Identitätsstiftendes Moment epischen Schreibens Während das Konzept des „totalen Romans" durchaus Charakteristika der klassischen Moderne aufweist, kommt bei den 5oom-Romanen das spezifisch identitätsstiftende Moment hinzu, das auf die Bildung einer kollektiven Zusammengehörigkeit abzielt.268 Diese Verbindung von formaler Inszenierung und identitärem Gründungscharakter legt es nahe, von großen identitätsstiftenden Entwürfen oder Epen zu sprechen. What is the locus of epics in this methodological context? I submit that they may be characterized as .tales of identity', comparable to identity symbols and able to convey to extratextual meaning to those groups who recognize them as ,our story'. An epic is, [...] ,a saga of identity and, as such, a saga of alterity'; that is, by creating the epic simultaneously creates alterity, a contrast to and distance from other groups.269

Dementsprechend hält Fuentes in La nueva novela hispanoamericana fest, daß es genau jenes identitätsstiftende Moment sei, das eine Lesart der Romane im Sinne von Gründungsfiktionen forciere.270

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Amhelm Neusäss (Hg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Neuwied, Berlin (Luchterhand) 1968, S. 33. Vgl. hierzu Gerald Martin, der die Orientierung an der klassischen Moderne vor allem konkret am Werk von Joyce festmacht: „If there was an overall shape to it in literature, however, that shape was for several years to come a Joycean and .Ulyssean' one, but a Joycean one which wished not only to superimpose history over myth as abstract categories, but a specifically Latin American history involving the quest for identity and cultural liberation." Martin, S. 184. Lauri Honko: „Epic and Identity: National, Regional, Communal, Individual". In: Oral tradition, 11, 1, 1996, S. 18-36, hier S. 21. „[...] identidad de América, nuestro Macondo escrito en letra grande. Algo así como manifestaciones del alma colectiva parecen reencontrarse en las páginas de [...] García Márquez, Vargas Llosa, Carpentier [,..]."José Joaquín Brnnner: Cartografías de la modernidad. Santiago (Dolmen Ediciones) 1994, S. 196.

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II. Die ßoom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe En La casa verde, como en Cien años de soledad, Pedro Páramo, El lugar sin limites y Los pasos perdidos, la novela hispanoamericana se ofrece como un nuevo impulso de fundación, como un regreso al acto de génesis para redimir la culpa de la violación original, de la bastardía fundadora, un ñisilico descomunal que pobló el continente de fusíliquitos, de siente leches, de hijos de la chingada.271

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nahm Jean Franco bereits 1981 eine solche Lesart vor: En [...] La casa verde de Vargas Llosa, [...] Cien años de soledad de García Márquez, La muerte de Artemio Cruz de Carlos Fuentes [...] se puede descubrir el topos narrativo común de la fitndación de una sociedad sin precedente, fuera del sistema de cambio, jerarquía y poder que condenó a las sociedades latinoamericanas y a la dependencia.272

Neben diesem Gründungscharakter sind weitere Merkmale des Epos auf einer mehrdimensionalen Ebene anzusiedeln. Im weiteren Sinne werden gelegentlich weitgespannte Romanwerke (Döblin, Balzac, Tolstoi, Dos Passos) als Epen verstanden. Sicherlich legt auch das Schlagwort der „Totalität" eine epische Interpretation nahe. Auch wenn Lukács' Studie im Sinne des „Transzendierens des Romans zum Epos"273 dazu verführen könnte, auf die 5oom-Romane angewendet zu werden, spricht seine Widerspiegelungstheorie doch gegen eine Übernahme seines Ansatzes. Naheliegender ist Theodor W. Adornos Begriff von Epos: Er geht davon aus, daß das Epos berichten will von etwas Berichtenswertem, von einem, das nicht allem anderen gleicht, nicht vertauschbar ist und um seines Namens willen verdient, überliefert zu werden.274 Der Erzähler sei der Welt des Mythos als seinem Stoff zugewandt und daher wohne aller Epik ein anachronistisches Element inne.275 271

Fuentes [1969] 199816, S. 45 f. González Echevarría betont, daß Cien años de soledad den für ganz Lateinamerika beispielhaften Gründungsroman darstelle: „La combinación de elementos míticos con la historia latinoamericana en Cien años de soledad revela el deseo de fundar un mito latinoamericano, así como el de cancelar la mediación antropológica, porque de ese modo el relato global pasa de metarelato analítico a narración mítica." González Echevarría 2000, S. 48. Auch Fernando Moreno spricht in bezug auf La casa verde von „relato de origen y de creación". Vgl. Fernando Moreno: „El árbol narrativo. Para una relectura de La casa verde". In: Roland Forgues (Hg.): Mario Vargas Llosa. Escritor, ensayista, ciudadano y política. Lima (Minerva) 2001, S. 413-420, hier S. 414. Er sieht im Roman einen Gründungsmythos inszeniert: „La casa verde: en ella y por medio de ella, se concreta la idea de origen y de génesis tanto en su dimensión representativa, como en lo que se refiere a su construcción poética. La casa verde aparece asociada desde un comienzo con la idea de descubrimiento, creación, fundación, destrucción, muerte y regeneración. Como espacio de origen, la casa verde es presentada como una entidad animada, viva, vivaz, vivificante." Moreno, S. 416.

272

Jean Franco: „Narrador, autor, superestrella: La narrativa latinoamericana en la época de cultura de masa". In: Revista Iberoamericana, 41, 1981, S. 129-148, hier S. 135. (Hervorhebungen G.M.) Vgl. Lukács [1916] 2000. Vgl. Theodor W. Adomo: „Über die epische Naivität". In: Noten zur Literatur. [1974] Band II. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 19903, S. 34-40, hier S. 34. Hier muß angemerkt werden, daß eine antik-ideale Substanz in der „Odysse" von Horkheimer und Adorno völlig abgelehnt wird. Vgl. Christoph Schöneich: Epos und Roman: James Joyce

273 274

275

II. D i e B o o m - R o m a n e als große identitätsstiftende

Entwürfe

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D a s Epische hat als ursprünglich Poetisches vor allem mit der Verarbeitung menschlicher Geschichte auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe zu tun, die noch keine Geschichtsschreibung besitzt. 2 7 6 Genau in diesem Punkt kommen die Autoren d e m Anspruch nach, in ihren Romanen Epen zu schaffen. Natürlich gab es auf einer narrativen Ebene bereits früher Versuche, die Geschichte zu thematisieren, aber nicht insofern, als die Geschichte als solche, als Eigene eingeholt wurde. 2 7 7 Für alle besprochenen Romane, aber besonders für den afios de soledad und La casa verde gilt, daß der Held nicht nur in einer „prinzipiellen Spannung" zu seiner Gesellschaft lebt, sondern seine Individualität auch „ein Verhältnis innerhalb einer gesellschaftlichen Totalität" darstellt. Denn episch handelt der Einzelne nicht nur frei aus sich und für sich selber, sondern steht mitten in einer Gesamtheit, deren Zweck und Dasein im breiten Zusammenhange einer in sich totalen inneren und äußeren Welt den unverrückbaren wirklichen Grund für jedes besondere Individuum abgibt.278 Bei Hegel ist das Epos das Produkt einer Übergangszeit und fallt in die Mittelzeit, in welcher ein Volk zwar aus der Dumpfheit erwacht und der Geist soweit schon in sich erstarkt ist, seine eigene Welt zu produzieren und in ihr sich heimisch zu fühlen, umgekehrt aber alles, was später festes religiöses Dogma oder bürgerliches und moralisches Gesetz wird, noch ganz lebendige, von dem einzelnen Individuum als solchem unabgetrennte Gesinnung bleibt und auch Wille und Empfindung sich noch nicht voneinander geschieden haben.2 Hegel schildert, wie Inder, Griechen, Römer und auch die Barbaren der Zeit der Völkerwanderung wesentliche Elemente früherer Kulturen umzubilden hatten. Erst wenn der Dichter mit freiem Geist solch ein Joch abwirft, in seine eigenen Hände schaut, seinen eigenen Geist würdig erachtet und damit die Trübheit des Bewußtseins verschwunden ist, kann die Epoche für das eigentliche Epos anbrechen [...].280

„Ulysses". Heidelberg (Winter) 1981, S. 57. Dem Titel der philosophischen Fragmente gemäß gehen sie davon aus, daß Mythos bereits Aufklärung enthalte und Aufklärung in Mythologie zurückschlage. Der gemeinsame Nenner der Abenteuer des Odysseus erscheint in ihrer Interpretation als die Versuchung, „das Selbst aus der Bahn seiner Logik heraus[zu]ziehen". Max Horkheimer, Theodor W. Adomo: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1971, S. 45. 276

277 278

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Vgl. Harald Bartels: Epos - die Gattung in der Geschichte. Eine Begriffsbestimmung vor dem Hintergrund der Hegeischen „Ästhetik" anhand von „Nibelungenlied" und „Chanson de Roland". Heidelberg (Winter) 1982, hierS. 126. Vgl. Kapitel II. 1.1.1. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. Werke 15. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1986, S. 363. Hegel, S. 332. Hegel, S. 335.

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II. Die ffoow-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

Sich über die heroische .Entwicklungsstufe' die ja schon selbst, wie gesagt, nicht mehr Zustand ist - bewußt zu werden und sie poetisch umzusetzen, heißt, sie zu überwinden. Für Hegel bedeutet dies .inhaltlich' die Verarbeitung der Abhängigkeit einer .fremden Kultur', z.B. der römischen und christlichen Elemente in der Völkerwanderungszeit. So wie etwa im Nibelungenlied die Eigenart der germanischen Stämme in Abgrenzung von den Hunnen thematisiert wird, wird in den Äoow-Romanen die Abhängigkeit von einer fremden Kultur verarbeitet. Ihre Überwindung ist Ausgangspunkt für die Stiftung einer kollektiven Identität. Wenn nun der epische Charakter als zentrales Charakteristikum für die BoomRomane angesehen wird, so drängt sich die Frage auf, wie sich das Verhältnis der Romane der sechziger Jahre zu früheren Versuchen, Epen zu schaffen, gestaltet. Den Unterschied zwischen dem einstigen Anspruch der Schaffung einer Gründungsliteratur und den Äoom-Romanen herauszuarbeiten, ist vor allem wegen des epischen Einmaligkeitscharakters angebracht. Entscheidende frühere Versuche, Epen zu schreiben, sind vor allem in der Mitte des 19. Jahrhundert anzusiedeln, da die Gründung der Nationalstaaten eine schriftliche Fixierung in Form von Epen nahe legte. Bevor die Menschen der unabhängig gewordenen Staaten Spanischamerikas ihre nationale Identität begreifen konnten, die zunächst nur in einem Namen bestand, mußten sie sich zu einer Gesellschaft entwickeln und als solche erfahren. Dabei kam — neben der Wirkung des geschichtlichen Prozesses der Revolución de la Independencia — der Literatur als Ort der Stiftung öffentlichen Bewußtseins besondere Bedeutung zu.281 Rama hat die Rolle der Literatur für die Bildung eines nationalen Bewußtseins hervorgehoben: Se trata, por lo tanto, del problema fundacional de la literatura a partir de la constitución de nuevos países, por lo cual puede reconocerse que, en esas condiciones operativas, la literatura de formula inicialmente como una parte, pequeña aunque distinguida, de la construcción de la nacionalidad.282

In der frühen Gründungsliteratur wollte man den jungen nationalen Gebilden ein kulturelles Fundament zu geben. Derartige Projekte wurden besonders von Autoren forciert, die zugleich Staatsmänner waren 283 wie beispielsweise Domingo Faustino 281

Dieter Janik: „Literatur als gesellschaftliche Notwendigkeit der unabhängigen Staaten Spanischamerikas". In: Dieter Neubert, Andreas Thimm (Hg.): Kunst, Literatur und Gesellschaft. Mainz (Universität) 1995, S. 31-44, hier S. 31.

282

Ángel Rama: „Autonomía literaria americana". In: Ders.: La crítica de la cultura en América Latina. Caracas (Biblioteca Ayacucho) 1985, S. 66-81, hier S. 67.

283

„Los intelectuales siempre han cumplido una función crucial - y quizá - en las sociedades y en la política latinoamericanas. Desde la independencia y a lo largo del siglo XIX, en parte por la importancia de las tradiciones europeas, en parte a consecuencia de la debilidad de las instituciones representativas, intelectuales clave ocuparon un espacio decisivo en muchas sociedades latinoamericanas." Castañeda, S. 209.

II. Die ßoom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

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Sarmiento, Andrés Bello und Bartolomé Mitre.284 Düsdieker spricht von einer Verflechtung von Romanze und Patriotismus, von privater Leidenschaft und öffentlichem Nutzen, von sentimentalem Roman und nationalem Staatsprojekt. In Figur einer zivilisierten Schönheit und eines barbarischen Draufgängers wurden europäische Raffinesse und heimische Robustheit, Urbanität und Landleben, Kultur und Natur miteinander verkuppelt, wobei weniger eine ausgeglichene Mischung zwischen diesen Werten angestrebt wurde, als „daß der Barbar den nötigen europäischen Schliff bekam".285 Die dem epischen Anspruch inhärente Suche nach dem Eigenen war also wesentlich an europäischen Vorbildern orientiert und negierte damit entscheidende ethnische Konstituenten der lateinamerikanischen Gesellschaften, wodurch ein deutlicher Gegensatz zu den Äoom-Romanen offensichtlich wird.286 Die Gemeinsamkeit der ßoom-Romane liegt in ihrem epischen Potential, im Ringen um Identität. Für die Erklärung dieses mehrfach auftretenden Phänomens wird man nicht umhin kommen, auch außerliterarische Faktoren zu betrachten.

284 285 286

Vgl. Düsdieker, S. 33. Düsdieker, S. 33. Auch Pagni betont den Unterschied zwischen den Identitätskonzepten seit dem 19. Jahrhundert bis zum Boom auf der einen Seite und denen des Boom auf der anderen: „En cuanto a la identidad, desde la época de la emancipación y la construcción de las naciones en el siglo XIX hasta la época de las teorías de la dependencia y las ideologías de la liberación de los años sesenta del siglo XX, se la pensó sobre todo en relación con mecanismos incluyentes y excluyentes, y por lo tanto la configuración de identidades nacionales o de una identidad regional subcontinental fue concebida y orientada en base a reglas de inclusión y de exclusión. [...] Para los intelectuales de 1960 en estrecha relación con los procesos que puso en movimiento la revolución cubana, se trataba de promover una delimitación, o una liberación respecto del mundo euronorteamericano, y de regresar a lo que se consideraban las fuentes, las raíces autóctonas, las tradiciones culturales de una identidad subcontinental que había sido negada a lo largo de 450 años." Pagni 2001a, S. 134.

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II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

2. Die relative Autonomie des literarischen Feldes in Lateinamerika in den sechziger Jahren Eine Arbeit mit dem Begriff des autonomen literarischen Feldes kann für die zentrale Fragestellung der Sudie dann sinnvoll sein, wenn folgendes Verständnis zugrunde gelegt wird: Auszugehen ist von einem gesellschaftlich-kulturellen Bereich, der sich - unabhängig von den Gesetzen und Normen politischer und ökonomischer Macht - nach seinen eigenen ethischen287 Prinzipien definiert, gleichzeitig aber — und damit diametral entgegengesetzt zu einem Autonomieverständnis im Sinne des l'art pour l'art - im Namen dieser seiner ethischen Prinzipien in die anderen Bereiche (von Ökonomie und Politik) zu intervenieren sucht. Die Akteure begreifen sich dabei nicht mehr nur im engen Sinne als Schriftsteller, sondern sind von einem breiteren Selbstverständnis als Intellektuelle getragen. So kommt der positive Begriff des Intellektuellen in Europa erst mit der Dreyfus-Affäre auf, in der Emile Zola durch seine klare öffentliche und publizistische Stellungnahme zugunsten des zu Unrecht beschuldigten jüdischen Offiziers - so Pierre Bourdieu288 - den autonomen Anspruch 287

288

Da auf Grund des Einflusses von Sartre die Idee einer Littérature engagée als zentral fur die Romane der sechziger Jahre angesehen werden kann, zwingt sich die Vorstellung eines ethischen Anspruchs der Literatur geradezu auf; dies trotz der häufigen Diskreditierung der Kategorie des Ethischen in aktuellen literaturtheoretischen Ansätzen. Markus Schwingel hat das Spezifikum des Bourdieuschen Ansatzes zusammengefaßt: Der französische Soziologe will den komplementären Reduktionismus sowohl der tautegorischen, von externen Beziehungen absehenden Werkanalyse als auch der soziologistischen Reduktion eines Werks auf außerästhetische Bedingungen vermeiden und dem falschen Gegensatz von interner und externer Analyse entgehen - und dies auf eine mehr eklektisch-additive oder rhetorisch bleibende Weise. Das heißt, er will eine Analyse durchführen, die nicht nur die externen gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion und der Rezeption von Kunst in Betracht zieht, sondern ebenso zum Verständnis des internen ästhetischen Gehaltes eines Werkes beitragen soll, ohne dabei letzteren auf die dem Werk äußeren Bedingungen seiner Produktion zu reduzieren. Anliegen ist die Begründung einer Wissenschaft der Werke, welche die literatursoziologischen Untersuchungen in einem kultursoziologischen und letztlich auch allgemeinsoziologisch tragfähigen Fundament verankert. Vgl. Markus Schwingel: „Die LiteraturKultursoziologie Pierre Bourdieus. Kunst, Kultur und Kampf um Anerkennung". In: Internationales Archivßr Sozialgeschichte der deutschen Literatur. In: IASL, 22, 2, 1997, S. 109-151, hier S. 117. Eine direkte Anwendung des Bourdieuschen Ansatzes auf Lateinamerika im 19. Jahrhundert erweist sich bei genauem Hinsehen als nicht unproblematisch: Miller betont, daß seine Unterscheidung von politischem und intellektuellem Feld abhängig ist von einer Unterscheidung zwischen Macht und Wissen, die es in Lateinamerika nicht gab. Vgl. Miller 1999, S. 29. Dazu kommt, daß sich Bourdieus Gedanken auf integrierte nationale Gesellschaften beziehen und nicht das Phänomen der kulturellen Abhängigkeit miteinbeziehen. In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, daß es europäische Intellektuelle gab, die meinten, daß Intellektuelle in Entwicklungsländern einen besonders hohen Grad an Autonomie genießen würden. Vgl. Miller 1999, S. 29. Jean Baudrillard hob 1985 diesen Aspekt hervor: „Intellectuals of the Third World have the privilege of holding a clear critical position and of having the possibility of struggle, which is also totally clear. Confusion, in their case, is not possible". In: Baudrillard Live: Selected Interviews Hg. von Mike Gane. London (Routledge) 1993, S. 73. Dieser Aspekt

II. Die Äootti-Romane als große identitätsstiftende

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des literarisch-kulturellen Feldes zementiert.289 Somit sind Intellektuelle bidimensionale Wesen: einerseits fest verankert in ein weitgehend unabhängiges kulturelles Produktionsfeld, andererseits aber gerade nicht in dieses Feld eingeschlossen: vielmehr können sie erst dann mit vollem Recht Intellektuelle genannt werden, wenn sie aus ihrem geistigen Tätigkeitsbereich heraustreten in das Feld der Praxis, ohne sich dabei den der Praxis eigenen Gesetzen zu unterwerfen. Diese Konzeption des Intellektuellen ist nicht epochenunabhängig, und bei aller \ ermeintlichen oder wirklichen ethischen Selbständigkeit läßt sich niemand von seiner ökonomischen Existenzgrundlage abkoppeln. Autonomie kann demnach in einem System von zwar ausdifferenzierten, aber dennoch miteinander verbundenen gesellschaftlichen Feldern nur eine relative sein. Ökonomisch findet sie ihren Ausdruck in der Entstehung eines Verlagswesens, dem Druck von Zeitungen, einem eigenen Vertriebssystem, Buchhandlungen etc., also von einer Infrastruktur, die als direkte Folge der kulturellen Produktion bezeichnet werden kann, die also - obwohl streng genommen dem Bereich der Ökonomie zugehörig — (zunächst) den Bedürfnissen des Feldes selbst gehorcht. „Die Dreyfus-Affäre hatte weit über Frankreich hinaus als Katalysator zur Bewußtwerdung all jener beigetragen, die ihr innerhalb eines eng begrenzten Teilfeldes (wie etwa der Literatur oder der Wissenschaft) erworbenes symbolisches Kapital nun

kann aber für Lateinamerika irreführend sein. Dort mußten genau jene Intellektuelle in einem sozialen Vakuum operieren, die vom Status quo abgewichen waren, was sie unweigerlich mit Schwierigkeiten konfrontierte. Touraine hat herausgearbeitet, daß lateinamerikanische Intellektuelle dazu neigen, interpretierende Systeme zu schaffen, die keinem sozialen Akteur dienen. Vgl. Miller 1999, S. 30. Auch Sigals Studie ordnet sich ein in die Arbeiten, die die Schwierigkeiten einer Übertragung des Begriffs betonen: „L'utilisation de la notion de champ culturel pour l'étude des sociétés latino-américaines ne peut être que limitée puisque, on l'a observé, les .centres externes' qui jouent le rôle de pôles culturels sont une partie prépondérante de leurs systèmes de références." Silvia Sigal: Le rôle politique des intellectuels en Amérique Latine. La dérive des intellectuels en Argentine. Paris (L'Harmattan) 1996, S. 42. Vgl. auch: Carlos Altamirano, Beatriz Sarlo: Literatura y sociedad. Buenos Aires (Hachette) 1983, S. 85-89. Wenn für die Untersuchung der von Bourdieu etablierte Begriff des Literarischen Feldes aufgenommen wird, dann nicht unter der Voraussetzung einer strengen Anwendung seiner Theorie, sondern mehr in Orientierung an seinen Versuch im Feldbegriff das Verhältnis zwischen außerund innerliterarischen Faktoren zu fassen. 289

Miller geht auf die unterschiedlichen Vorstellungen vom Intellektuellen in Frankreich und Lateinamerika zur Zeit des Modernismo ein: „In France, the term reflected a desire to break out of the ghetto of increasingly specialized knowledge and reclaim the universal moral and critical authority of the philosophes. In Spanish America, however, the word reflected the fact that the conditions of the professionalization of intellectual life were just beginning to be established, in other words, it was an idea dependent on a nascent modernity." Miller 1997, S. 47 f. In Lateinamerika gingen den Intellektuellen die „pensadores" voraus: „[...] the „pensadores" sought to have influence on specific issues because they were generally learned men; intellectuals, on the other hand, sought to establish a speciality and then use it to justify a bid for general influence." Miller 1997, S. 48.

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II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

zugunsten von Stellungnahmen zu Themen und Problemen allgemein öffentlichen Interesses einsetzten."290 Auch wenn zu diesem Zeitpunkt in Lateinamerika von einer ökonomischen Infrastruktur des literarischen Feldes noch keine Rede sein kann, läßt sich im Modernismo bereits ein verhaltenes Echo dieser westeuropäischen Entwicklungen vernehmen.291 Bereits bei José Enrique Rodó kommt der Praxis eine für Lateinamerika neue Bedeutung zu: Tengo en mucho el aspecto artístico y formal de la literatura; creo que sin estilo no hay obra realmente literaria; y en la medida de mis fuerzas procuro practicar esa creencia mía. Pero también estoy convencido de que sin una ancha base de ideas y sin un objetivo humano, capaz de interesar profundamente, las escuelas literarias son cosa leve y fugaz. 292

Auch wenn Pedro Henríquez Ureña betont hat, daß es schon mit Andrés Bello zu einer literarischen Autonomie Lateinamerikas gekommen sei,293 gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Generation des venezolanischen Schriftstellers und den Boom- Autoren über hundert Jahre später. Rein soziologische Faktoren sprechen gegen eine relative Autonomie des literarischen Feldes Ende des 19. Jahrhunderts. Der noch weit verbreitete Analphabetismus reduzierte nicht nur rein faktisch betrachtet die Leserpotentiale, sondern wirkte sich auch auf die Konstituierung einer intellektuellen Elite aus. Es vano argüir con el analfabetismo de la mayoría de las poblaciones de la América hispánica en el siglo XIX, así como también es insuficiente deducir de ese analfabetismo que los „cultos" o „semicultos" formaban una élite, porque las sociedades independientes se encontraban en el proceso de disolución de la estructura jerárquica, es decir, en una época de transición llena de resistencias, en la que sólo la supuesta „élite" podía recuperar los elementos para crear una sociedad que suprima la violencia implícita en el orden mantenido, hasta la perversión, por le sacré.294 290

Ette 2001, S. 278. Zur Bedeutung der Debatten und Auseinandersetzungen um Dreyfus fur die Entstehung der klassischen Figur des Intellektuellen innerhalb des französischen Kontexts vgl. Jacques Julliard und Michel Winrock: „Introduction". In: Jacques Julliard (Hg.): Dictionnaire des intellectuels francais. Les personnes. Les lieux. Les moments. Paris (Seuil) 1996, S. 11-17.

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Miller weist auf die begrenzten Möglichkeiten hin, den Begriff des Intellektuellen zu übertragen auf Hispanoamerika. „In Spanish America [...] the word [intellectual] reflected the fact that the conditions for the professionalization of intellectual life were just beginning to be established, in other words, it was an idea dependent on a nascent modernity." Miller 1997, S. 48.

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José Enrique Rodó: Obras completas. Editadas, con introducción, prólogos y notas, por Emir Rodríguez Monegal. Madrid (Aguilar) 19672, S. 1380. Ette hat die Bedeutung Rodos am Beispiel dieses Zitats und dessen Betonung der Praxis besonders herausgestellt. Vgl. Ette 2001, S. 275f. „[...] el deseo de independencia intelectual se hace explícito por vez primera en la Alocución a la Poesía de Andrés Bello, la primera de sus silvas americanas". Pedro Henríquez Ureña: Las corrientes en la América Hispana. México, D.F. (Fondo de Cultura Económica) 1949, S. 103.

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Carlos Monsiváis: Aires de familia. Cultura y sociedad en América Latina. Barcelona (Anagrama) 2000, S. 139. Monsiváis bezieht sich hier auf Gutiérrez Giradot.

II. D i e Äoom-Romane als große identitätsstiftende

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Carlos Monsiváis hat die prekären Voraussetzungen für gute Rezeptionsbedingungen zu j e n e m Zeitpunkt in Lateinamerika auf den Punkt gebracht; einziges Beispiel fiir eine erfolgreiche Rezeption sei der Bestseller Maria v o n Jorge Isaacs. En el siglo XIX, en sociedades donde la alfabetización es comparativamente un privilegio, el respeto devocional por la letra escrita es enorme, y las literaturas responden a tres exigencias: el ejercicio creativo del idioma, el afán de desenvolvimiento espiritual pese a las condiciones adversas y, más programáticamente, la comunicación interna de las sociedades. Un sistema endeble de bibliotecas públicas, una red precaria de librerías concentrada en las capitales, y unas cuantas (y débiles) casas editoriales a la disposición, delimitan al público lector, y las excepciones se dan por cuenta de la poesía y de algunas narraciones como María [1844]. 295 D i e häufig vertretene These, man könne bereits mit d e m Modernismo in Lateinamerika v o n einer Strömung sprechen, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch von den literaturbetrieblichen Voraussetzungen her parallel zu Europa 2 9 6 entwickelt, läßt sich daher nicht halten. 297 D i e gesellschaftspolitischen Stellungnahmen bleiben begrenzt, w o h l in erster Linie deshalb, weil die Akteure noch institutionell fest in die Bereiche v o n Politik und Ökonomie eingebunden sind. ( S o w i e Rodó hatten fast alle Schriftsteller bis zu den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts Positionen im Regierungssystem inne.) 298 D i e Entwicklung einer eigenen Infrastruktur der literarischen Produktion war auch deshalb noch nicht möglich, weil sich in Lateinamerika Alphabetisierung und Demokratisierung noch auf eine kleine Minderheit beschränkten. 2 9 A u c h w e n n die Auswirkungen der Dreyfus-Affare auf Lateinamerika nicht geleugnet werden können, so besteht nicht wirklich eine parallele Entwicklung zur Ausbildung des literarischen Feldes im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Miller 295 296

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Monsiváis, S. 115. Das meint jene Entwicklung, die Bourdieu mit seiner These von einer Autonomie des literarischen Feldes im Frankreich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vertritt. Hinsichtlich des lateinamerikanischen Modernismo spricht Ette von einer .Ausdifferenzierung eines eigenen literarischen Feldes verbunden mit einer gewissen Autonomisierung der lateinamerikanischen Literaturen", einer verstärkteren Kommunikation zwischen den Autoren sowie der Chance auf Grund neuer Kommunikationsmöglichkeiten, überregionaler Periodika oder einer Vielzahl neu gegründeter Zeitschriften. Vgl. Ette 1994, S. 306 f. „Waren in den sechziger Jahren in Argentinien nahezu achtzig Prozent der Schriftsteller Abgeordnete im Parlament, so verringerte sich dieser Anteil zum Jahrhundertende hin deutlich, wobei die Ausdifferenzierung eines eigenen literarischen Feldes freilich nicht mit dem verhältnismäßig hohen Grad an Differenzierung und Autonomie gleichzusetzen ist, der sich in westeuropäischen Ländern im gleichen Zeitraum beobachten lässt." Ette 1994, S. 300. Vgl. hierzu auch Karsten Garscha: .Apropiaciones de realidad en la novela hispanoamericana entre 1940 y 1968/1973". In: Hans-Otto Dill, Carola Gründler, Inke Gunia, Klaus MeyerMinnemann (Hg.): Apropiaciones de realidad en la novela hispanoamericana de los siglos XIX y XX. Frankfurt/M. (Vervuert) 1994, S. 257-280, hier S. 258. Vgl. García Canclini 1989, S. 66. Auch war es zu diesem Zeitpunkt unmöglich, Schreiben als Broterwerb zu betreiben. Vgl. Klaus Meyer-Minnemann: „Lateinamerikanische Literatur - Dependenz und Emanzipation". In: Iberoamericana 10, 2/3, 1987, S. 3-17, hier S. 10. Zur Frage der ökonomischen Abhängigkeit vgl. Kapitel II. 2.2.2.

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folgt aus den nicht vorhandenen Bedingungen, daß zu diesem Zeitpunkt nicht einmal der Begriff des Intellektuellen auf Lateinamerika übertragbar ist. In Spanish America, by contrast, adoption of the word was symptomatic of the fact that the conditions for professional intellectual life were orilv incipient; in other words, the resonance of the idea was dependent on a nascent modemity. 3

Des weiteren werden oft die lateinamerikanischen Avantgarden der zwanziger Jahre als Zeitpunkt einer relativen Autonomie des literarischen Feldes genannt. Doch blieben bis dahin sowohl der Leserkreis als auch das literarische Genre - fast ausschließlich Lyrik - exklusiv und damit einer größeren Breitenwirkung vorenthalten: So experimentell und progressiv die Werke auch sein mochten, sie waren nicht dazu in der Lage, sich eine vollwertige Infrastruktur literarischer Produktion zu schaffen. Ottmar Ette betont, daß beispielsweise weder Vicente Huidobro noch César Vallejo einen eigenen Bereich von Kunst und Literatur zur Disposition stellten.301 Zwischen den fünfziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es nach García Canclini entscheidende Entwicklungen, die auf einen strukturellen Wandel hinweisen: wirtschaftlicher Aufschwung, Städtewachstum, Erweiterung des Marktes der kulturellen Güter, Zunahme des Schulbesuchs, Rückgang des Analphabetismus auf 10-15%. Zwischen 1950 und 1979 wächst in einer untersuchten Region die Zahl der Studenten von 250 000 auf 5 380 000. In Argentinien, Mexiko und Brasilien kommt es um 1940 zu einem Aufschwung der Buchindustrie.302 En Argentina aparecieron 823 títulos con una tirada total de 3 millones de ejemplares; en 1953 se publicaron 4610 libros con una tirada total de 51 millones de ejemplares. En México aparecieron en 1930 aproximadamente 500 títulos y en 1945 unos 800. Las editoriales brasileñas publicaron a fines de los años treinta unos 1000 títulos, en 1950 fueron 3075. Por primera vez hubo en Latinoamérica una industria del libro y editorial independiente y con capacidad de producción así como también mercados regionales del libro.303

Auch Vargas Llosa registriert Ende der sechziger Jahre, daß endlich in Lateinamerika ein günstigeres Klima für die Literatur entstehe. Buchclubs und Lesezirkel begännen sich auszuweiten, und die Bourgeoisie hätte entdeckt, daß Bücher wichtig und Schriftsteller mehr seien als harmlose Narren, daß sie eine Aufgabe zu erfüllen hätten. 304 Martha Zapata Galindo zeigt am Beispiel von México en la Cultura der Zeitung Novedades, die dann von Siempre mit der Beilage La Cultura en México (die Gruppe um Fernando Benitez) abgelöst wurde, wie in den fünfziger Jahren die wichtigsten 300 301 302 303

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Vgl. Miller 1999, S. 4. Vgl. Ette 2001, S. 354. Vgl. Garcia Canclini 1989, S. 8If, Larrain Ibanez, S. 167, Garscha, S. 258. Vgl. Garscha, S. 258. Garscha weist hin auf Raul H. Bottaro. Vgl Raul H. Bottaro: La edition de libros en Argentina. Buenos Aires (Troquel) 1964; Fernando Penalosa: The Mexican Book Industry. New York (Scarecrow) 1957. Vargas Llosa [1967] 1971, S. 19.

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intellektuellen Gruppen in M e x i k o in Verbindung mit Zeitschriften, Zeitungsbeilagen oder universitären Einrichtungen entstanden, in denen sie hohes Ansehen und kulturelle Macht akkumulierten. 305 Zu diesem Zeitpunkt begannen Schriftsteller und Intellektuelle auf Distanz zum offiziellen Nationalismus des mexikanischen Staates zu gehen. 3 0 6 Eine wichtige Station auf dem W e g zur relativen Autonomie des literarischen Feldes in M e x i k o bildet auch die Gründung oder Expansion einiger Verlage w i e Era, FCE, Joaquin Mortiz und U N A M , die sich gegenüber jüngeren Autoren als sehr o f f e n 307 erwiesen. Dieser strukturelle Wandel in ganz Lateinamerika bereitete den Boden dafür, daß die Boom-Autoren ihren Stiftungsakt als Intellektuelle vollzogen, indem sie unter Berufung auf genuine Normen des literarischen Feldes in das politische Feld eingriffen. Sie griffen ein in das politische Feld i m N a m e n der Autonomie eines kulturellen Produktionsfeldes, das zu einem hohen Grad von Unabhängigkeit gegenüber den staatlich-gesellschaftlichen Machtinstanzen gelangt ist. 308 Der Eingriff in das politische Feld entspricht also einem ethischen Akt, der als impliziter Ausdruck einer (ethischen) Eigenständigkeit des literarischen Feldes verstanden werden muß. 3 0 9

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Vgl. Zapata Galindo, S. 103. Zapata Galindo, S. 104. Vgl. Zapata Galindo, S. 104f. Bourdieu betont, daß es paradoxerweise die Autonomie des intellektuellen Feldes sei, die den Stiftungsakt eines Schriftstellers ermögliche, der unter Berufung auf genuine Normen des literarischen Feldes in das politische Feld eingreift und sich auf diese Weise zum Intellektuellen konstituiere: „L'intellectuel se constitue comme tel en intervenant dans le champ politique au nom de l'autonomie et des valeurs spécifiques d'un champ de production culturelle parvenu à un haut degré d'indépendance à l'égard des pouvoirs (et non, comme l'homme politique à fort capital culturel, sur la base d'une autorité proprement politique, acquise au prix d'un renoncement à la carrière et aux valeurs intellectuelles)." Pierre Bourdieu: Les règles de l'art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris (Éditions du Seuil) 1992, S. 186 f. Zur Herausbildung der Autonomie des literarischen Feldes in bezug auf Mexiko vgl. Delden 1998, S. 3. Vgl. auch Annick Lempérière: Intellectuels, états et société au Méxique: les clercs de la nation (1910-1968). Paris (L'Harmatan) 1992, S. 220 ff. Sie verweist auf Einrichtungen wie SEP, die seit 1954 Stipendien für junge Schriftsteller vergibt. (221), weiter erwähnt sie, daß es seit 1960 in allen wichtigen Tageszeitungen des Landes Literatur- und Kulturbeilagen gibt (223). Zusammenfassend spricht sie von einem autonomen akademischen Feld, das sich ab 1940 mehr und mehr ausdifferenziert: „La période voit apparaître, avec la stabilisation de l'UNAM, la création du Collège du Mexique et celle de l'INAH, un champ académique autonome." Lempérière, S. 238. Vgl. auch Vanden Berghe, S. 47. Auch ein Vertreter ein jüngeren Schriftstellergeneration, Carlos Franz, konstatiert im Rücklick der erreichte Autonomie: „A ellos - García Márquez, Cortázar, Fuentes, Vargas Llosa, Donoso - debemos reconocerles el haber declarado una segunda independencia literaria de América. Pues si nuestros ,padres fundadores' literarios, los grandes narradores costumbristas del continente declararon una independencia territorial o paisajística, los escritores del boom posibilitaron el ejercicio de esa soberanía. La posibilitaron, promulgando con sus obras una verdadera carta de derechos fundamentales, una constitución libertaria para el ejercicio autonómico de la

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II. Die Boom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

In seinen frühen Schriften propagiert Fuentes ein utopisches Politikkonzept der kollektiven Selbstverwaltung, die den Sozialismus stärken sollte. Sein Enthusiasmus für revolutionäre soziale Änderungen kommt besonders deutlich zum Ausdruck in seinem Essay París: la revolución de mayo.310 Die darin enthaltenen Interviews des mexikanischen Autors mit Aktivisten der Pariser Maidemonstrationen vermitteln die Aufbruchstimmung Frankreichs, „el maravilloso espíritu de estas jornadas".311 Die Fotos, die Arbeiter auf den Barrikaden, fahnenschwingende Studenten und knüppelschwingende Polizisten zeigen, dienen als Anschauungsmaterial.312 Auch in Fuentes' Rückschau auf den Pariser Mai 68 kommt der revolutionäre Geist jener Tage überzeugend zum Ausdruck. Dejemos de ser, todos, nadie; seamos, todos, alguien. Construyamos, todos, juntos, una nueva convivencia mexicana, más justa y más libre. Apresurémonos a crear, desde la base, un socialismo mexicano que no incurra en aberraciones o supuestas fatalidades, sino que conjugue imaginación, crítica, libertad, justicia y crecimiento. No un paraíso: simplemente, una comunidad. 313

Der mexikanische Schriftsteller greift bewußt unter deutlicher Berufung auf seine Position als Schriftsteller ein in das politische Feld. Das zeigt sich u.a. deutlich in seinem Aufsatz „Radiografía de una década: 1953-1963", wo er besonders herausstellt, daß der Schriftsteller für politische Transformationen, die auch kulturelle Transformationen sind, kämpfen müsse.314 Vargas Llosa geht in seinen Schriften der sechziger Jahre von einer besonderen Verantwortung des Intellektuellen in Lateinamerika aus.315 Die privilegierte Stellung leite sich ab aus den katastrophalen gesellschaftspolitischen Konstellationen wie Analphabetismus, Desinformation und Zensur.316 Bildung und Herrschaft über Sprache weisen ihm eine symbolische Macht und damit Verantwortung zu: „[...] también se espera de nosotros — más, se nos exige — pronunciarnos continuamente sobre lo que

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ficción en nuestra América imaginaria". Carlos Franz: „¿Artista o profesional? El caso de José Donoso". In: Estudios públicos, 80, 2000. S. 263-278, hier S. 268. Carlos Fuentes: París: la revolución de mayo. [1968] México, D.F. (Era) 19694. Auf den revolutionären Charakter des Essays machte auch schon Bohr aufmerksam. Vgl. Bohr, S. 198. Fuentes [1968] 19694, S. 8. Die Begeisterung für die Studentenunruhen in Paris als „kermesse de la libertad", darf jedoch nicht falsch interpretiert werden. Vgl. Fuentes [1968] 19694, S. 2. Vgl. Bohr, S. 200. Mehrere Kritiker bezeichneten Fuentes auf Grund sprachlich vehementen Eintretens in politische Fragen als Sozialisten oder Marxisten, weshalb ihm auch einige Male die Einreise in die USA verweigert wurde. Vgl. Bohr, S. 200. Bohr betont den ausgeprägten Individualismus des Autors, der sich für ihn als Künstler in der Freiheit der Wahl der Ausdrucksmittel äußerte. Fuentes [1971] 1978, S. 192. Darauf machte Zapata Galindo aufmerksam. Vgl. Zapata Galindo S. 102.Vgl. Fuentes [1972] 1978, S. 64. Vgl. Köllmann, S. 47. Vgl. Köllmann S. 47.

II. D i e ß o o m - R o m a n e als große

identitätsstiftende

Entwürfe

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ocurre y que ayúdenos a tomar posición a los demás. Se trata de una tremenda responsabilidad". 3 1 7 Auch im Fall von García Márquez gibt es auffallend viele öffentliche Stellungnahmen, in denen er für eine sozialistische Gesellschaftsordnung eintritt und somit die Funktion eines escritor comprometido übernimmt. D i e Bejahung der kubanischen Revolution wird auch durch den Fall Padilla 3 1 8 nicht gebrochen. D a ß sich die Teilsysteme autonomisieren und sich nicht mehr über ein Gesamtsystem legitimieren, sondern ausschließlich über ihre Funktion, ist ein Prozeß, der in Lateinamerika in den sechziger Jahren einen ersten Höhepunkt erreicht. 3 ' 9 Hier handelt es sich u m eine moralische A u t o n o m i e der Teilsysteme, d.h. u m einen öffentlichen Konsens über die Existenz verschiedener Bereiche, die sich unabhängig voneinander legitimieren. Entscheidend ist, daß sich ein Bewußtsein davon entwickelt, daß die Kunst nicht mehr der Politik untergeordnet ist und ihren Zielen zu dienen hat. 320 D i e Wechselbeziehung z w i s c h e n neuer Selbst- und Fremdwahrnehmung s o w i e kreativem Schreibprozeß konstituiert das autonome literarische Feld. A u c h Silvia Sigal betont diesen Höhepunkt in den sechziger Jahren: „[...] l'apogée des sixties a été marqué par le rêve de la coïncidence des avant-gardes - artistique et politique —, par l'association de l'engagement personnel et de la liberté culturelle." 321 317 318

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Vargas Llosa 1986a, S. 410 f. Dieter Ingenschay erklärt zusammenfassend den Hintergrund des Falls Padilla: Heberto Padilla machte sich nach der Revolution als Lyriker einen Namen in Kuba. Im Jahre 1968 reichte er seinen Gedichtband Fuera del juego zur Publikation ein. Erstaunlich war, daß der Band, obwohl er dem verordneten Optimismus widersprach und im Vorwort wie in einigen Gedichten eher verschlüsselt - kritische Positionen der nachrevolutionären Entwicklung gegenüber bezog, mit dem Jahrespreis der UNEAC prämiert wurde. Der wichtige Literaturpreis verhinderte nicht, daß der Autor wegen des Verdachts konterrevolutionärer Umtriebe in Untersuchungshaft genommen wurde. Er wurde erst nach einer öffentlichen Selbstkritik freigelassen. Vgl. Dieter Ingenschay: „Literatur der spanischsprachigen Karibik". In: Michael Rössner (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart (Metzler) 1995 S. 433-443, hier S. 435. In bezug auf García Márquez vgl. Gabriel García Márquez: El olor de la Guayaba. Conversaciones con Plinio Apuleyo Mendoza. Bogotá (La Oveja Negra) 1982, S. 104f. Vgl. José Guilherme Merquior: „Situación del escritoi". In: César Fernández Moreno (Hg.): América Latina en su literatura. [1972] México, D.F. (Siglo XXI) 2000, S. 372-390, hier S. 382. Erste Anzeichen einer Autonomie gibt es zwar schon früher; so wird beispielsweise schon Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts vom Direktor der Zeitschrift Martín Fierro, Evar Méndez, die Herausgabe der Edición popular von Rubén Dario, heftig diskutiert. In den fünfziger Jahren wird trotz des großen Verkaufserfolgs Luis Espota innerhalb der literarischen Zirkel sanktioniert. Doch bei diesen Beispielen handelt es sich um Einzelfälle. Sigal, S. 271. Genauso betont Miller den Höhepunkt des politischen Einflusses lateinamerikanischer Intellektueller in den sechziger Jahren. Allerdings berücksichtigt sie an dieser Stelle die jeweilige Position, aus der heraus die Intellektuellen das Wort ergreifen: „Thus, the tradition of the politically influential Spanish American intellectuals was sustained alongside the modernizing state. It lasted, therefore, into the 1960s (when it was reinvented for the benefit of Western audiences during the literaray boom), but thenceforth became increasingly less plausible as the

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H. Die ßoom-Romane als große identitätsstiftende Entwürfe

Die Artikulierung eines universalen Anspruchs führte dazu, daß lateinamerikanische Schriftsteller häufig als organische Intellektuelle angesehen wurden.322 Sie waren keine Experten und schrieben über „alles".323 Les intellectuels latinoaméricains se posent comme médiateurs entre des espaces culturels, ainsi que John Friedmann, entre autres, l'a souligné: Ils peuvent aussi remplir une fonction „universelle", celle d'un médiateur, d'un intermédiaire entre les valeurs communes :t centrales et les paradoxes d'une actualité ambigüe. 324

Als zentrale Hypothese bleibt festzuhalten: In Lateinamerika schließt das Phänomen des Boom eine Entwicklung ab, die in Westeuropa bereits zur Jahrhundertwende im Moderrtismo ihren Höhepunkt erreicht hat: das, was Bourdieu die Autonomie des

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Spanish American project of state-led development collapsed into authoritarianism and debt." Miller 1997, S. 46. Auch Franco zeigt den großen Einfluß der Autoren: „[...] escr.tores que no eran únicamente críticos vociferantes sino que, en los años sesenta habían rede finido sustancialmente su tradicional papel pedagógico. Los poetas y los novelistas ejercían influencia sobre lo que se leía, sobre cómo se entendía la historia y cómo se valoraba el lenguaje. [...] los escritores fueron [...] más importantes que los políticos en cuanto guías de la corrección política." Jean Franco: Decadencia y caída de la ciudad letrada. La literatura latinoamericana durante la guerra fría. Barcelona (Debate) 2003 [Titel der englischen Originalausgabe: The Decline and Fall of the Lettered City. Latin America in the Cold War. 2002], S. 14. Antonio Gramsci, der italienische Marxist, Aktivist, Journalist und politische Pkilosoph, der von Mussolini von 1926-1937 eingekerkert wurde, prägte den Begriff des „orgarischen Intellektuellen". Vgl. Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis. Frankturt/M. (Suhrcamp) 1964; ders: Lettere dal carcere [1965] Hg. von S. Caprioglio, E. Fubini. Turin 1988. Gransci versteht unter einem „organischen Intellektuellen" einen Vermittler von Kultur und soziaem Konsens an die Arbeiterklasse. Ab Beginn der siebziger Jahre kam es in Lateinamerika zu iiner intensiven Rezeption seiner Schriften. Vgl. Miller 1999, S. 13-28. Es könnte naheliegst, in diesem Kontext die Boom-Autoren als organische Intellektuelle zu bezeichnen, und Gacía Márquez verwendet in der Rückschau die Bezeichnung für sich selbst: „Sólo ahora poderíos ver cuan orgánicos éramos, y qué útil fue en realidad para la Revolución Cubana todo este ax>yo intelectual." Castañeda: „García Márquez, entrevista con el autor, ciudad de México. 10 de julio 1992". In: Castañeda, S. 219. Trotzdem ist der Ausdruck des escritor comprometía) geeigneter. Der „organische Intellektuelle" richtet sich konkret an die Arbeiterklasse. Dieser :indeutig definierte Adressat wird von den Boom-Autoren nicht geteilt, wenn sie sich auch all Stimme der Volkes/der Unterdrückten verstehen. Miller hat unter Bezugnahme auf Oscar T:rán auf den Unterschied hingewiesen: „[...] Oscar Terán drew a generic distinction between ai .intelectual comprometido' who adressed himself to his peers and an ,organic intellctual' vho directed himself to the people of the working class ,in order to draw support from them andto fight their cause'." Oscar Terán: Nuestros años sesentas: la formación de la nueva izquierea intelectual en la Argentina 1956-1966. Buenos Aires (Editores Puntosur) 1991, S. 14. Auch Pagni verweist unter Rekurs auf Sarlo auf eine klare Unterscheidung: „En la descripciór de Sarlo se mezclan por lo menos dos figuras del intelectual: por un lado el intelectual orgánco iluminista que articula un discurso hegemónico de poder desde el saber (en una tradición qie compartieron los letrados argentinos del siglo XIX); por otro el intelectual critico de op