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German Pages 78 [80] Year 1852
Die
Berliner Syphilisfrage. Ein Beitrag zur öffentlichen Gesundheitspflege Berlins herausgegeben in Vertretung des ärztlichen Comités des Berliner GesundheitspflegeVereins von
Dr. S. Neu mann, Vorsitzendeiii des Comités.
,,Souvenez-vous,
que si vous êtes constitués
les
gardiens de la santé publique,
vous l'êtes éga-
lement de la morale publique"
—
Par en t-Du cha te le t.
Mit drei statistischen Tabellen.
B e r 1 i n. Druck und Verlag von Georg Reimer.
1852.
V o r w o r t
I m März vorigen Jahres wurden dem ärztlichen Comité des Berliner Gesundheitspflege-Vereins von der Commission für Sittenpolizei mehrere Fragen über die Verbreitung der Syphilis in Berlin, so wie über Mittel zur Beschränkung derselben vorgelegt. Das hierauf unmittelbar erstattete Gutachten hat eine verschiedene Deutung, so wie eine berichtigende Kritik in der öffentlichen Discussion erfahren. In Folge dessen und um der Pflicht zu genügen, welche die im Vereine gesammelten Erfahrungen dem Comité auferlegen, hat dasselbe beschlossen, über die Berliner Syphilisfrage eine selbstständige Arbeit zu liefern und mit der Ausführung derselben den Verfasser der folgenden Blätter beauftragt. Dieselben enthalten eine statistische Zusammenstellung der auf die vorliegende Frage bezüglichen Thatsachen und eine Erläuterung derselben.
Die in den beiden ersten Tabellen
enthaltenen Data stellen für einen 18jährigen Zeitraum die innerhalb der Berliner Civilbevölkerung stattgehabte Bewegung, so wie — aufser den Angaben über die Syphilitischen in der Charité — die vorzüglichsten Ereignisse der öffentlichen Armenkranken- und der Hospitalpflege- dar. Dafs wir dieselben in einer Ausführlichkeit, welche ihre Anwendung als allgemeine statistische Grundlage für die wichtigsten Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege Berlins gestatten möchte,
IV
veröffentlichen konnten, verdanken wir den uns bereitwilligst gewordenen aktenmäfsigen Mittheilungen der Herren Geheimrath H o r n , Medizinalrath M ü l l e r , Sanitätsrath
Schupke,
Regierungsrath G a b l e r , Stadtrath K e i b e l , Kaufmann B a s w i t z , Rendant T r e i b e l und Rechnungsrath S c h m a u c h . — Die dritte Tabelle steift — für die Syphilisfrage — die Wirksamkeit des Berliner Gesundheitspflege-Vereins, Bestandtheils dar. —
der
als eines
öffentlichen Gesundheitspflege hierselbst,
In der E r l ä u t e r u n g haben wir die sittliche und
materielle Bedeutung der Thatsachen darzustellen versucht. Der Inbegriff derselben bildet die Grundlage unserer Erörterung.
Es sei uns deshalb gestattet, auf die statistischen
Tabellen, als auf den Mittelpunkt unsrer Arbeit ausdrücklich zu verweisen, in der Hoffnung, dafs die übersichtliche Anordnung der Thatsachen in denselben wenigstens einen theilweisen Ersatz für die Mängel in unserer Darstellung gewähren möchte. Berlin, den 16. Juni 1852. Der Verfasser.
D i e Berliner Syphilisfrage ist bisher in ausschliefslicher Beziehung zu der Entscheidung über die direkte oder indirekte polizeiliche Organisation, resp. Controle der Prostitution, erörtert worden. Demgemäfs handelte es sich, w a s die V e r b r e i t u n g d e r S y p h i l i s in B e r l i n so w i e d e r e n B e s c h r ä n k u n g b e t r i f f t , vorzugsweise nur darum, wie j e n e E i n r i c h t u n g e n zur Vermehrung oder Verminderung der Krankheit sich verhielten, und demnach als ein Mittel zur Beschränkung derselben anerkannt oder verworfen werden miifsten. — In den vorliegenden Blättern soll die Syphilisfrage als eine selbstständige, in sich abgeschlossene erörtert werden. „ W i e i s t d i e S y p h i l i s in B e r l i n z u b e s c h r ä n k e n u n d „ w i e kann dies vom S t a n d p u n k t e der ö f f e n t l i c h e n „Gesundheitspflege aus geschehen?" In diesei\ beiden, sich einander ergänzenden, Fragen ist unsere Aufgabe formulirt. Aus derselben ergiebt sich von selbst, dafs wir zunächst die Verbreitung der Syphilis in Berlin, so wie ihre vorzüglichen Quellen daselbst zu ermitteln haben werden. W e n n , nach Inhalt unserer zweiten Frage, durch den Vergleich mit den übrigen, in das Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege gehörigen, Thatsachen die Beantwortung der ersten unzweifelhaft erweitert wird, so werden wir anderseits zur Beschränkung der Syphilis nur solche Mittel vorschlagen dürfen, welche dem s i t t l i c h e n R e c h t e , das im Lebensprincipe unserer Wissenschaft, dem Gesetze der untrennbaren Einheit der leiblichen und sittlichen Gesundheit, unmittelbar begründet ist und daher in allen ihren Fragen die erste Stelle hat, n i c h t widersprechen. Die ausdrückliche Andeutung dieses Rechts möchte nicht überflüssig erschei1
2 nen, gegenüber der moralischen Bevormundung, die in Folge jener Anmafsung, welche die sittliche Entscheidung in a l l e n Dingen als ein ausschliefsliches Standes- oder Partheiprivilegium beansprucht, grade in diesem Gebiete unsrer Wissenschaft versucht und, wenigstens mit vorläufigem Erfolge, durchgeführt worden ist. Unter den Q u e l l e n , welche wir zur Lösung unserer Aufgabe benutzen, nennen wir an e r s t e r Stelle die Erfahrungen, welche das ärztliche Comité des Berliner Gesundheitspflegevereins während 30 Monate innerhalb eines bestimmten Kreises der Berliner Bevölkerung gesammelt hat, und die durch die Bedeutung, welche ihnen in der bisherigen Diskussion der Berliner Syphilisfrage beigelegt worden ist, zunächst gegenwärtige Arbeit veranlafst haben; z w e i t e n s diejenigen Ereignisse der öffentlichen Gesundheitspflege Berlins (während des Zeitraums von 1834 bis 1851), welche 'sich in der Wirksamkeit der Armenkrankenpflege, sowie in dem Charité-Krankenhause darstellen; d r i t t e n s : die Resultate der bisherigen Untersuchungen der Berliner Syphilisfrage. Mit der Kritik derselben, von der auch der Antheil, der uns selbst daran zufällt, nicht ausgeschlossen und die daher vor einer aufserhalb der Sache liegenden Mifsdeutung hoffentlich geschützt sein wird, beginnen wir unmittelbar den ersten Theil unserer Aufgabe, die Frage von der Verbreitung der Syphilis in Berlin.
3
I.
Die Verbreitung der Syphilis in Berlin. Es ist den syphilitischen Krankheiten e i g e n t ü m l i c h , dafs sich ihre Wirkungen, wiewohl dieselben der menschlichen Gesellschaft f ü r verderblicher erachtet werden, als selbst die Verwüstungen, w e l c h e grofse und gewaltige Volksseuchen anrichten, fast niemals in einem unmittelbaren Angriffe auf das Leben
offenbaren.
Die
Todtenlisten Berlins z. B., die in zehn J a h r e n das Verzeichnifs von m e h r als Einhundert Tausend Verstorbenen enthalten, möchten die Syphilis k a u m in dieser oder jener vereinzelten Ausnahme als die U r s a c h e eines Todesfalls nachweisen.
Freilich h a t man in neue-
ster Zeit die, durch Syphilis bedingten, Todesfälle einer nähern P r ü f u n g unterworfen, und sicherlich wird durch dieselbe mit der Zeit die Erkenntnifs derjenigen Wirkungen, w e l c h e das syphilitische Gift, die Grenzen des Sonderlebens überschreitend, in der nachfolgenden Generation offenbart, befördert werden.
In keinem Falle
aber wird jemals auf Grund der Todtenlisten die Verbreitung der syphilitischen Krankheiten innerhalb einer Bevölkerung bestimmt werden können.
Man hat diese Frage überhaupt, weil die Ermit-
telung der Thatsachen unter den bestehenden Verhältnissen möglich sei, von der statistischen Forschung ganz wollen *).
un-
ausschliefsen
W e n n nun die Zählung der syphilitischen Krankheits-
fälle in Berlin gewifs ebenso schwierig oder unmöglich ist als anderswo, so ist es von um so gröfserer Bedeutung, dafs die bisherigen Untersuchungen über die Verbreitung der Syphilis in Berlin grade auf statistischer Grundlage geführt worden sind.
Quincke**)
und B e h r e n d ***) — die beiden ausschliefslichen Vertreter der w i s *)
C a s p e r , die wahrscheinliche Lebensdauer des Menschen. Berlin 1 8 3 5 .
Vor-
rede pag. XIII.
**)
Ueber die Ausbreitung und die Beschaffenheit der syphilitischen Krankheiten in
Berlin während der Jahre 1 8 2 7 — 1 8 5 7 .
Medizinische Zeitung, Berlin 1 8 4 8 No. 1 — 4 .
und „ U e b e r die Prostitution und deren Beaufsichtigung." ibidem 1 8 5 1 No. 3 5 u. 36. ***)
Die Prostitution in Berlin und die gegen sie und die Syphilis zu nehmenden
Massregeln.
Eine Denkschrift im Auftrage, auf Grund amtlicher Quellen abgefasst uild
Sr. Excellenz dem Herrn Minister v. Ladenberg überreicht von F. J. Behrend in Berlin. 1*
4 senschaftlichen Diskussion unserer Frage — haben in ihren Arbeiten „über die Vermehrung
oder Verminderung der Syphilis in
Berlin im Verhältnifs zur polizeilichen Controle der Prostitution" die Syphilitischen der Charité als statistischen Maafsstab
benutzt.
Die Anwendbarkeit diesses Maafsstabes ist in beiden Arbeiten nicht thatsächlich nachgewiesen, sondern nur v o r a u s g e s e t z t oder b e hauptet;
die Resultate der Messung stehen bei beiden im direk-
ten Widerspruch *), B e h r e n d behauptet auf Grund derselben eine Vermehrung, Q u i n c k e eine Verminderung der Syphilis. *)
Der Widerspruch
Charitézahlen
in
angegeben
den Z a h l e n , und benutzt
welche B . und Q. in gleicher Weise haben,
als
ist eben nicht geeignet den Werth
dieser Resultate zu erhöhen : aus dem nebenstehenden Nachweise, in den wir auch die Langeschen Charitézahlen (Casper's Wochenschrift 1 8 4 8 No. 8 . ) aufgenommen haben, ergiebt s i c h ,
dass diese Differenzen
sogar erheblich
sind.
Eine Ausgleichung dieses
Widerspruchs, der von den beiden Forschern, selbst, ohne die auffallende Beziehungslosigkeit,
die sie gegeneinander bewahrt haben,
gewiss bemerkt
erklärt worden wäre, haben wir vergeblich versucht; auf die Quellennotizen
in
der 2ten Tabelle. —
—
und vielleicht
auch
für u n s e r e Data verweisen wir Freilich wären solche Differenzen
überhaupt unmöglich, wenn über die Wirksamkeit der grossen Institute Berlins, gleich wie z. B . in Paris, Wien, Prag regelmässige Berichte veröffentlicht würden.
Für Ber-
lin genügen die veröffentlichten Mittheilungen dieser Art, ohngeachtet des überaus reichen Materials,
das hier grade vorhanden i s t ,
rungen der socialen und medizinischen Statistik. werden,
kaum den allerbescheidensten
Anforde-
Dass diesem Mangel werde abgeholfen
darf wohl um so mehr gehofft weVden, als die Behörde der öffentlichen Ge-
sundheitspflege Berlins grade in unserem Falle erkannt haben möchte, dass die bisherige Sparsamkeit keine weise gewesen ist. Behrend.
Quincke. M a n n e
Lange.
Behrend.
r.
.Quincke.
¿Lange.
W f i b e r.
1838.
—
ä46
568
634
585
636
1839.
—
651
651
728
710
710
1840.
—
714
714
757
788
768
1841.
—
731
731
743
690
691
1842.
—
675
675
676
676
676
1843.
—
624
624
669
611
611
1844.
741
689
690
657
602
611
1845.
711
697
687*
514
502
512
1846.
813
745
747
627
558
571
1847.
894
888
884
761
774
776
1848.
979
973
835
885
Die Syphilitischen, Quincke a n :
—
welche der Charité aus Potsdam
—
zugeführt worden,
giebt
5 In jedem Falle ist der Werth dieser Ergebnisse abhängig von der Entscheidung der H a g e , ob ü b e r h a u p t m i t t e l s t d e r S y p h i l i t i s c h e n in d e r C h a r i t é die V e r b r e i t u n g , r e s p . d i e V e r m e h r u n g oder V e r m i n d e r u n g der Krankheit innerhalb der Berliner B e v ö l k e r u n g g e m e s s e n w e r d e n könne. Es ist diese Frage um so wichtiger, als man bei der Entscheidung über die Maafsregeln gegen die Syphilis, wenigstens soweit es sich bei derselben um einen materiellen Thatbestand gehandelt hat, auf die fraglichen Resultate beschränkt gewesen sein möchte. Wir versuchen, anstatt wortreicher Erörterung, eine t h a t s ä c h l i c h e Entscheidung, indem wir das Verhältnifs des C h a r i t é - K r a n k e n h a u s e s zur ges a m m t e n B e r l i n e r C i v i l b e v ö l k e r u n g , sowie zu einzelnen Klassen derselben, in e b e n d e r s e l b e n z w i e f a c h e n B e z i e h u n g d a s V e r h ä l t nifs des S y p h i l i s c o n t i n g e n t s der C h a r i t é , u n d e n d l i c h d i e B e d e u t u n g d i e s e s C o n t i n g e n t s an s i c h , sowie inmitten der C h a r i t e b e v ö l k e r u n g , in den Ereignissen, welche der lebendigen Wirklichkeit entnommen sind und sich auf einen achtzehnjährigen Zeitraum beziehen, darstellen. Es wird auf diesem Wege sowohl die Voraussetzung, auf welcher bis jetzt eine der wichtigsten Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege Berlins begründet w a r , auf ihr wirkliches Recht (oder vielmehr Unrecht) zurückgeführt und den Syphilitischen der Charité gleichzeitig diejenige Stelle angewiesen werden, die ihnen in Wirklichkeit'zukommt. Da die Charité so wie die Armenkrankenpflege die p o s i t i v e Wirksamkeit der öffentlichen Gesundheitspflege Berlins fast ausschliefslich darstellen, so wird — auch abgesehen von unserer speziellen Frage — dem Vergleiche, den wir zwischen den Gesammtergebnissen dieser Institute und der Ber1834
. . .
1837
.
1840
.
36 Männer, 1 4 Weiber .
40
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o 00 der n o t h g e d r u n g e n e A u s g a n g e i n e s , g a n z m i t
als
Unrecht
auf einen s o g e n a n n t e n grofsen G e g e n s a t z z w i s c h e n R e ligion und Wissenschaft zurückgeführten Conflikts
an-
gesehen
von
der
werden
kann,
Mangelhaftigkeit
daher
— ganz
abgesehen
der f a c t i s c h e n G r u n d l a g e
— die
G a r a n t i e eines Bestandes nicht darbieten m ö c h t e . — wird uns nicht zum Vorwurfe gereichen k ö n n e n , dafs wir u m den Standpunkt der öffentlichen Gesundheitspflege in
Es uns,
unsrer
F r a g e darzulegen, auf die Erinnerung an unbestrittene T h a t s a c h e n j 3 *
36 oder an unbestreitbare Fundamentalsätze beschränken dürfen; ist diese Erinnerung nicht überflüssig, so ist es nur desto auffallender, dafs sie in Wirklichkeit nothwendig ist. Diese unsern Lesern noch besonders zu vergegenwärtigen, können wir füglich unterlassen: wir glauben bei denselben die Bekanntschaft sowohl mit der Discussion der Berliner Syphilisfrage, so wie mit der Entscheidung und ihren Motiven — wenigstens so weit diese hier nothwendig ist — voraussetzen zu dürfen.*)
In der Reihe derjenigen T h a t s a c h e n , welche zusammen den syphilitischen Giftquell ausmachen, ist die Ehelosigkeit der grofsen Majorität der mannbaren männlichen Bevölkerung die e r s t e . Dieselbe mufs gleichsam als der sociale Erreger der Syphilis betrachtet werden, während die weibliche Prostitution, die Keimstätte und der Fortpflanzungsheerd des Anlteckungsstoffes, nur als die secundäre Wirkung jenes ersten Zustandes angesehen werden kann. Eine Erörterung dieses socialen Nothstandes, d. h. seines, nach thatsächlichen Feststellungen, unzweifelhaften Zusammenhanges mit den sittlichen und materiellen Zuständen unserer Gesellschaft, gehört vor ein allgemeines Forum. Aber weder in der sittlichen, noch in der praktischen Schätzung dieser Thatsachen kann zwischen Religion und Wissenschaft ein Conflikt zu Tage kommen, da beide für dieselbe einen und denselben Maafsstab haben. Dieser Maafsstab ist die Institution der Ehe, unter welcher die Wissenschaft — nach den Gesetzen der Natur — „die auf Liebe und Achtung begründete innigste Verbindung e i n e s Mannes und e i n e s Weibes, so dafs sie gleichsam ein Ganzes miteinander bilden" **) begreift, einen Begriff, dessen Verwirklichung die Religion *) Für den nicht medizinischen Theil der betreffenden Literatur ist auf die Evangelische Kirchenzeitung ( 1 8 5 1 , Juni, .Juli und August) hinzuweisen. **) O e s t e r l e n s Hygieine S. 639. et ff. — „Eine Vergleichung der Zahlen in den jungen Altersklassen liefert" ( a u c h d e n s t a t i s t i s c h e n )
„Beweis, dass die Mono-
gamie auch nach der Vertheilung der Geschlechter Naturgesetz ist." (Dieterici in den Tabellen etc. 1 8 4 9 p. 2 9 3 ) .
Dass aber —
und dies möchte hier eben keine über-
flüssige Bemerkung sein — dass unter dem Begriffe der Ehe selbstverständlich
und
ausschliesslich die monogamische verstanden wird, dass eben diese Ehe eine gleichsam natürliche Thatsache unserer Gesellschaft geworden ist, dies muss — ausser dem ger-
37 als ihre Aufgabe hinstellt; eine Aufgabe, deren Erfüllung in gleicher Weise von der öffentlichen Gesundheitspflege erstrebt werden mufs.
Denn auch die öffentliche Gesundheitspflege erkennt in
der Ehe den Ausgangs-, Mittel- und Gipfelpunkt der menschlichen Cultur; sie findet in dieser Institution,
welche den
mächtigsten
Naturtrieb in eine sittliche, das Individuum beherrschende Macht zu verwandeln und aus der schöpferischen Kraft der Liebe das menschliche Geschlecht fortzupflanzen berufen ist, — die n a t ü r l i c h e G a r a n t i e f ü r die g e i s t i g e und l e i b l i c h e heit
des
Gattung.
Menschen,
des Individuums
Gesund-
sowohl
als
der
E s i s t d a h e r a u c h für die W i s s e n s c h a f t ,
im
V e r g l e i c h e m i t d e r m a s s e n h a f t e n E h e l o s i g k e i t und d e r P r o s t i t u t i o n , die S y p h i l i s n u r das g e r i n g s t e U e b e l , u n d soweit dieses
g e r i n g s t e Uebel nur
m i t den
grösseren
v e r n i c h t e t w e r d e n k a n n , g i l t in u n s r e r F r a g e a u c h f ü r die W i s s e n s c h a f t h e u t e n o c h
der A u s s p r u c h
Luthers:
„ d a w i d e r ist eine gute Arzenei von G o t t e s G n a d e n , die E h e , o d e r die H o f f n u n g ,
s i c h in den E h e s t a n d zu
be-
geben." Betrachten wir von dieser Grundlage aus — neben derselben möchte jede Accentuirung individueller Empfindungen überflüssig und dem allgemeinen sittlichen Bewußtsein gegenüber sogar anmafslich erscheinen — die p r o p h y l a k t i s c h e n Maafsregeln, welche die Obrigkeit ergriffen hat, um die Gefahren der Prostitution und manischen Elemente —
gerade dem Einflüsse des Christenthums
auf die europäische
Civilisation, mit der dasselbe im Begriffe der Ehe sich vollständig identificirt hat, geschrieben werden.
Selbst
die mannigfachen
und oft traurigen Venrrungen,
zu-
welche
der Begriff der E h e innerhalb der Kirche hat
durchwandern müssen und die vollstän-
dig selbst heute noch nicht überwunden sind,
(vcrgl. T h e i n e r Geschichte der erzwun-
genen Ehelosigkeit bei den christlichen Geistlichen ctc.) vermögen die Bedeutung dieses Einflusses nicht zu schwächen. liche Thatsache bestätigt, des Christenthums
Dieselbe wird insbesondere noch durch die geschicht-
dass innerhalb
in dieser Sphäre
chen Standpunkt man sich
des christlichen Europas
auch
alle
Gegner
seinem Einflüsse sich unterworfen haben.
auch wähle, ob die Wissenschaft
Wel-
oder die Religion,
das
bürgerliche Gesetz oder die öffentliche Moral, wohlverstanden, a l l e p r a k t i s c h e n
und
s i t t l i c l r e n Voraussetzungen und Consequenzen, welche überhaupt an die Ehe geknüpft werden können, müssen auf ihren Grundgedanken, den Begriff der Monogamie zurückgeführt werden, w e i l i n d e m s e l b e n civilisirten
Gesellschaft
das W e s e n
erschöpft
ist.
und die F o r m
der Ehe
der
38 insbesondere die Syphilis zu bekämpfen, so kann das Uytheil nicht zweifelhaft sein.
Dieselben
concentriren
sich darin,
s i e die P r o s t i t u t i o n e i n e m b e s t i m m t e n R e g l e m e n t werfen.
dafs
unter-
Diese Einrichtung widerspricht also der sittlichen Idee
des Staats überhaupt, deren Verwirklichung jegliche menschliche Obrigkeit zu vertreten, berufen ist, und gefährdet insbesondere, indem sie der Prostitution in der socialen Ordnung eine Stelle stattet,
die in der E h e
begründete Grundlage
ge-
der Gesellschaft.
Dieser Widerspruch und diese Gefahr sind zu auffallend, als dafs es nicht überflüssig wäre, dieselben besonders deutlich zu machen. Insbesondere
ist hiezu
die Hinweisung auf eine specielle Pflicht
der christlichen Obrigkeit, weil diese Pflicht
für jede
Obrigkeit
vorhanden ist, überflüssig und insofern nicht einmal zutreffend, ,als sie weder durch die Geschichte der
vergangenen
Jahrhunderte,
noch durch das Beispiel der Gegenwart unterstützt wird; j a hat die Kirche selbst die Prostitution j e kaum anders, als Reglementirung zu bekämpfen gewufst. um so viel mehr, mufs
eine Stimme willkommen
sein,
der P r o s t i t u t i o n
gebung Sache der
lebendiger beruht,
sittlichen
sich
welche
Maafsregeln
Gegen dieselben sind sicherlich Religion und Wissen-
schaft um so mehr zu kämpfen berufen, a l s j e d e tirung
durch
Nichts desto weniger, j a
eine endliche Reaction auch der Kirche gegen j e n e verkündet.
es
und
auf
Menschen somit
Reglemen-
der s y s t e m a t i s c h e n gleich
eine
einer
bevvufste
Gleichberechtigung
aller
Preis-
leblosen
Vernichtung Menschen
in
schliefst*). Aus diesem Grunde ist dieses S y s t e m auch in u n s e r n
Zei-
t e n ungleich verwerflicher, als im Alterthume und Mittelalter, und die Vertheidiger der Reglementirung berufen sich h e u t e mit Unrecht auf Zeiten, in welchen die Idee der sittlichen Gleichberechtigung in dem allgemeinen
Bewufstsein
entweder gar nicht, oder
nur in geringer Energie vorhanden war. * ) Unter den Motiven für die polizeiliche Befugniss über die Zahl etc. der öffentlichen Häuser und der Zahl
ihrer Inwohner
der ehelosen Männer etc.
wird
das jeweilige
sich verändere,
ministerielles, kürzlich veröffentlichtes R e s c n p t ter polizeilicher
Controle
gebildet.«
Itedürfniss,
ausdrücklich
welches nach
hingestellt.
—
spricht von diesen Häusern, als
Ein „un-
39 Allen diesen Gründen indefs setzen die Vertreter jener Maafsregeln grade die Pflicht der Obrigkeit entgegen, die Gesellschaft vor den Gefahren, welche aus der Prostitution oder Syphilis erwachsen, zu schützen, d a s h e i f s t , s i e s t ü t z e n
die s i t t l i c h e
B e r e c h t i g u n g der O b r i g k e i t zu d i e s e n M a a f s r e g e l n den p r a k t i s c h e n
Ist dieser praktische E r f o l g Die
Erfahrung
mufs
vorhanden?
diese F r a g e ,
wenigstens
w e i t es sich um die ö f f e n t l i c h e G e s u n d h e i t delt,
auf
Erfolg.
dabei
so
han-
verneinen.
Unter Hinweisung auf die, im ersten Theil dieser Arbeit enthaltenen, statistischen Nachweise können wir als thatsächliche B e weise gegen den behaupteten Erfolg folgende vier Punkte anführen. E r s t e n s : E s ist der Beweis nicht vorhanden, dafs die R e g l e mentirung der Prostitution irgend welchen Einflufs auf die Vermehrung oder Verminderung der Syphilis innerhalb der regelmäfsigen Bevölkerung Berlins gehabt habe, weil ein Maafsstab, mit welchem dieser Einflufs gemessen werden könnte, gar nicht vorhanden ist. Z w e i t e n s : Wollte man die Syphilitischen in der Charité als den geeigneten Maafsstab (wie bisher j a auch von den Vertretern der fraglichen Maafsregeln geschehen ist) gelten lassen, so würde sogar p o s i t i v bewiesen sein, dafs jener Einflufs nicht vorhanden gewesen ist. D r i t t e n s : Auch die Verbreitung, respective die Vermehrung oder Verminderung der Syphilis unter den Prostituirten, wenn dieselbe nach dem Contingent der syphilitischen Weiber in der Charité, d. h. mit dem einzig vorhandenen, wenn auch noch etwas zweifelhaften Maafsstabe, gemessen wird, (cfr. Récapitulation Col. 7. Seite 13 ff.) ist von der Reglementirung n i c h t bedingt gewesen. V i e r t e n s : Unzweifelhaft aber ist die s a n i t ä t s p o l i z e i l i c h e B e d e u t u n g des Contingents der syphilitischen Weiber der Charité, denn sie ist eine Thatsache; und da eine Wirksamkeit der direkten polizeilichen Sanitätscontrole in dem Berliner Charitézugange der syphilitischen Weiber (bei einem Vergleiche der sechs dreijährigen Perioden) geben werden,
n i c h t vorhanden gewesen, so mufs zuge-
dafs d e r
sanitätspolizeiliche
Zweck
der
40 R e g l e m e n t i r u n g , s o w e i t er d u r c h d i e H e i l u n g d e r s y p h i l i t i s c h e n F r a u e n (und dies möchtc wohl die Hauptsache sein) e r f ü l l t w i r d , o h n e d i e R e g l e m e n t i r u n g w e n i g s t e n s in g l e i c h e r W e i s e w i e m i t d e r s e l b e n e r r e i c h t w o r d e n ist. Dafs theils ein anderer Modus polizeilicher Thätigkeit, theils freier Wille die syphilitischen Weiber nach der Charité geführt haben möge, ist eine Erklärung, die wir auf Grund statistischer Data versucht haben. Wir werden die Mangelhaftigkeit derselben nicht bestreiten, sobald sie durch bessere und vollständigere D a t a bewiesen sein wird. — Wir dürfen die Prüfung des praktischen Erfolges der Reglementirung für die öffentliche Gesundheit nicht schliefsen, ohne noch eine, und wie wir glauben, sehr bedeutsame Thatsache berührt zu haben. Wir meinen diejenigen statistischen Data, welche nachweisen, w i e .viel W e i b e r a u s d e n ö f f e n t l i c h e n H ä u s e r n von den c o n t r o l l i r e n d e n A e r z t e n j ä h r l i c h n a c h der C h a rité g e s c h i c k t wor-den sind. Diese Data (Tab. II. Col. 4. d.) ergeben e r s t e n s , dafs die controllirten Weiber einen höchst beträchtlichen Theil des betreffenden syphilitischen Contingents bildeten, und z w e i t e n s (verglichen mit ihrer muthmafslichen Gesammtanzahl) durchschnittlich einbis zweimal im Jahre erkrankt sein müssen. Wenn wir hiermit die, allerdings nicht seltene, Behauptung, dafs eben jene Häuser vor allem den Heerd der syphilitischen Ansteckung bildeten, durchaus noch nicht für bewiesen erachten können, so sind doch aufser dieser Thatsache noch andere Data vorhanden, welche den Schutz gegen die Syphilis, d e n m a n a u s d i e s e m M o d u s d e r R e g l e m e n t i r u n g h e r l e i t e n w i l l , wenigstens sehr problematisch erscheinen lassen. — U n s e r e Data (Tab. III. C.) weisen nach, dals die innerhalb eines öffentlichen Hauses sanitätspolizeilich controllirten Weiber, vergleicht man nämlich ihre Anzahl auch nur mit dem wahrscheinlichen Minimum der in der Catégorie der heimlichen Prostitution begriffenen Frauen, mindestens eben so sehr, wenn nicht in einem weit höhern Grade, die Ursache der Ansteckung gewesen sind. — Die Q u i n c k e ' s c h e n Data (Medicinische Zeitung 1848. No. 2.) geben dasselbe Resultat. — Aus P a l e n t - D u c h a t e l e t ' s Untersuchungen ( a . a . O . Seite 216.), welche
41 sich auf circa 20,000 syphilitisch erkrankte filles publiques beziehen, ergiebt sich für diejenigen, welche in den maisons tolerees leben, ein weit u n g ü n s t i g e r e s E r k r a n k u n g s - V e r h ä l t n i f s , als für diejenigen, welche als Alles isolees oder libres inscribirt sind. Wenn auch diesem Resultate, welches ungefähr ein Verhältnifs von 3 zu 1 darstellt, aus mehreren Gründen von dem Forscher selbst nur eine relative Bedeutung beigelegt wird, so giebt derselbe doch selbst zu, dafs die ungünstigem Verhältnisse jener casernirten Weiber, insbesondere die brutale Sclaverei, in der sie sich befinden, sie jedes Schutzes gegen Ansteckung beraube, während die frei lebenden gegen dieselbe oft und mit Erfolg sich zu schützen wüfsten *). — Mindestens ebenso problematisch wie der sanitätspolizeiliche Erfolg der Reglementirung scheinen diejenigen Vortheile, welche der öffentlichen Zucht und Sitte von derselben versprochen werden; diejenigen aber, welche der öffentlichen Sicherheit und der Heiligkeit der Ehe aus solchem Mittel — wir dürfen wohl sagen — angedroht werden, scheinen nur geeignet die Consequenzen darzulegen, zu welchen ein Abweg führt, den sich praktische Klugheit anstatt des einfachen Rechts erwählt. Mit diesem Rechte ist allerdings keine Form der Reglementirung vereinbar, denn, s i e h t m a n a u f d a s W e s e n u n d n i c h t auf d e n S c h e i n , so verletzt, nicht minder als die Einkasernirung, auch die Inscription, möge man dieselbe direkt und offen, oder indirekt und gewissermafsen versteckt unter der Form der Conlrole ausführen, die sittliche Pflicht der Obrigkeit. Es ist dies ausdrücklich auch amtlich ( B e h r e n d a. a. 0 . Seite 157 ff.) anerkannt und daher schon im Voraus ein Verfahren verurtheilt, das zu dem alten Uebel noch ein neues hinzufügen würde. Denn wie es der W ü r d e der Obrigkeit in der That widersprechen würde, eine Maafsregel auszuführen, zu welcher sie sich nicht bekennen darf oder will, so würden anderseits, wenn der Ernst des strafenden Gesetzes nur der Form wegen angerufen würde, unfehlbar auch die Wirkungen, welche man von *) Das über die filles insoumises berichtete Resultat berührt den fraglichen Gegensatz nicht und hängt überhaupt genau mit örtlichen und zum Theil ausnahmsweisen Verhältnissen geben. —
zusammen,
dass wir es indess nicht übersehen,
wird sich später er-
42 seiner unparteiischen und consequenten Anwendung im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit und Gesundheit zu erwarten berechtigt ist, vergeblich erwartet werden.
Es bilden aber eben diese Wir-
kungen — in derselben Weise wie auf dem Gebiete der Sicherheitspolizei — auf diesem Gebiete die Aufgabe der Sitten- und Gesundheitspolizei.
In ihrer
sittlichen Bedeutung sind sie dem
System der Reglementirung grade entgegengesetzt:
nach ihrem
praktischen Erfolge mit derselben verglichen, mufs, auf Grund der Thatsachen, zugegeben werden, dafs sie gegen die Syphilis mindestens einen eben so wirksamen Schutz, wie jenes System darbieten.
Ob und w i e i n n e r h a l b d e r r e c h t m ä f s i g e n G r ä n z e ,
welche
der praktischen
haupt vorgezeichnet werden Berlin
können,
Thätigkeit
ist, noch
der Polizei
bessere Erfolge
a l s in den J a h r e n
erzielt worden
übererzielt
1846 — 1 8 5 0 h i e r
in
s i n d — das ist ganz und gar eine
Frage der praktischen Polizei, in deren Gebiet auch ihre Beantwortung gehört. *) D i e T h a t g a c h e n , nach denen wir die Erfolge der Wirksamkeit gegen die Syphilis gemessen haben — die H e i l u n g d e r S y p h i l i t i s c h e n in d e r C h a r i t e ,
— beweisen, wenn sie diese
Wirksamkeit auch nicht erschöpfen, doch zu Genüge, dafs wir dieselbe weder in einer absonderlichen Art der Reglementirung, noch in einem raffinirlen Strafregiment finden können. Dafs dergleichen Vorschläge auch gegen die Prostitution nicht wirksam sein würden, bedarf wohl kaum
* ) Die Erwägung,
einer Andeutung.
Die
Verbannung
dass jeder Modus der Reglementirung,
mehr oder minder grossen Bruchtheil unterwerfen im Stande sein würde, eine gefährliche Sorglosigkeit
der Prostituirten
dem
grossen Gesammtcontingent
erscheinen
zu lassen.
um die Anwendbarkeit Das besonders
ter 3 1 1 0 waren 8 1 4 oder 1 : i circa k r a n k ; ) welches P a r e n t - D u c h a t e l e t der Reglementirung
gegenüberstellt,
weis für unsre Voraussetzung
kann eben so gut
artgerufen werden.
zu
gegenüber 'leicht der
ungünstige
Erkrankungsverhältmss der filles insoumises, ( P a r e n t - D u c h a t e l e t a. a. 0 . 2 2 6 ; theilen
einen
der sanitätlichen Aufsicht
hervorrufen m ö c h t e , genügt,
Reglementirung a priori bedenklich
der immer nur
der
un-
den Vor-
als tliatsächlicher Be-
In jedem Falle liefern
diese filles
insoumises in einem grossen Massstabe ein Beispiel, dass die Reglementirung die Wirkungen der normalen Polizeithätigkeit durchaus nicht überflüssig macht, ganz abgesehen davon, dass sie gegen —
den
andern nicht
gegen die syphilitischen Männer —
minder
bedeutsamen Factor der Ansteckung
gar nicht gerichtet ist.
43 P r o s t i t u t i o n z u i h r e m e i g e n e n V e r d e r b e n würde die Bevölkerung der armen und entlegenen Strafsen, diesen nn und für sich schon in jedem Betracht elendesten und verlassensten Theil des Volkes, gleichsam in eine Veibrechercolonie verwandeln und doch ganz und gar zwecklos sein, w e n i g s t e n s s o l a n g e , als die, mitten in dem ehr- und achtbaren Theil der Gesellschaft wirksamen, Ursachen der Prostitution nicht mit deportirt würden. — Der Obrigkeit v o n d e m R e g i m e n t d e r P e i t s c h e erst noch abzurathen, hiefse ihrer Kraft und Fähigkeit in einer gleich ungebührlichen Weise mifstrauen. Dieser Vorschlag — der, obwohl er „diesem Geschlecht in seiner feigen und marklosen Humanität den Schrecken göttlicher Heiligkeit verkünden soll," sich sicherlich ohne allen Grund als Rath der Kirche gerirt — heifst der Gesellschaft die Erklärung zumuthen, dafs sie bankerott sei, bankerott an Verstand und Liebe! Diese Kriterien jeglicher menschlichen Wirksamkeit dürfen auch in der strafenden und abwehrenden Thätigkeit der Obrigkeit, welche sie als Wächterin der socialen Ordnung und im Kampfe gegen die unmittelbare Noth der Wirklichkeit zu entfalten verpflichtet ist, nicht fehlen. So weit es sich bei den Maafsregeln gegen Prostitution und Syphilis um d i e s e Pflicht handelt, haben wir uns auf Grund der sittlichen Entscheidung und des möglichen als wirklichen praktischen Erfolges, gegenüber der Reglementirung für die normale Polizeithätigkeit entschieden. Eine a n d r e Frage ist es, ob init diesen Maafsregeln die Pflicht der Obrigkeit erschöpft ist? Diese Frage darf gevvifs um so entschiedener verneint werden, je weniger es bezweifelt werden kann, dafs die Pflicht der Obrigkeit, die sociale Unordnung zu vernichten, überhaupt nicht in ihrer verneinenden Macht, vor Allem vielmehr in der Entfaltung p o s i t i v e r , s c h a f f e n d e r , h e l f e n d e r Kräfte ihre Erfüllung findet. Es ist hier nicht die Stelle, diesen Gegensatz im Allgemeinen zu erörtern; auch der Nachweis, dafs die Aufgabe der öffentlichen Gesundheitspflege in ihren sittlichen, wie praktischen Zwecken eine durchaus positive sei, kann hier füglich unterbleiben; es wird vielmehr darauf ankommen, auf die spezielle Frage, wie die Syphilis in Berlin zu beschränken sei, eine Antwort zu geben, die, nicht abstract, sondern praktisch, für die Richtigkeit des angerufenen Prinzips durch
44 seine Anwendbarkeit in der concreten Wirklichkeit den Beweis liefert, und die Kritik des Gegensatzes t h a t s ä c h l i c h rechfertigt. Wohl wird derselbe durch eine Autorität wie P a r e n t - D u c h a t e l e t vertreten. Indefs — ganz abgesehen von der noch gröfseren Autorität der sittlichen Entscheidung — hat eben Niemand mehr als P a r e n t - D u c h a t e l e t das sogenannte Prinzip der socialen Notwendigkeit der Prostitution seiner mystischen Voraussetzung entkleidet; — indem er d i e s e N o t h w e n c l i g k e i t auf i h r e n a t ü r l i c h e n , in d e r G e s e l l s c h a f t w i r k s a m e n U r s a c h e n z u r ü c k g e f ü h r t h a t , ift er der Begründer einer Wirksamkeit geworden, die in ihren Erfolgen, wie grofs oder gering, wie nah oder fern dieselben auch sein mögen, in gleicher Weise sein Verdienst, wie seinen Irrthum bezeugen mufs. Mit diesem Irrthume, meinen wir, hängt es zusammen, dafs er die p r i n z i p i e l l e Berechtigung der Reglementirung auf das Recht, oder vielmehr Unrecht des historischen Missbrauchs zu stützen gezwungen ist. Ob auch gegen den p r a k t i s c h e n Erfolg gegenüber der Syphilis, (um dessen Willen die Reglementirung ganz besonders von P a r e n t D u c h a t e l e t vertheidigt wird,) d i e s e s V e r h ä l t n i f s d e r U r s a c h e n u n d W i r k u n g e n , wie es sich im Zusammenhange der Thalsachen darstellt, als Beweis dürfe angesehen werden, das braucht hier nicht die Frage zu sein; wir stützen auf dieses oberste Gesetz aller natürlichen Erscheinungen unsre Antwort, und darum handelt es sich in derselben überhaupt nicht um irgend ein wohlerdachtes Mittel gegen die Syphilis, sondern ausschliefslich darum, a u s d e m Z u s a m m e n h a n g e der T h a t s a c h e n d i e j e n i g e F o l g e r u n gen h e r z u l e i t e n , deren p r a k t i s c h e A n w e n d u n g eine V e r n i c h t u n g d e r S y p h i l i s in i h r e n Q u e l l e n b e d e u t e t . Denn auch e i n e B e s c h r ä n k u n g der Syphilis ist in Wirklichkeit überhaupt nur in dem Maafse möglich, als eben nach diesem p r a k t i s c h e n Ziele hin, d e r r a d i k a l e n A u s r o t t u n g , die Thätigkeit der öffentlichen Gesundheitspflege bestimmt und geleitet wird, eine Thätigkeit, die alseine s i t t l i c h e zu vertheidigen, wohl überflüssig ist. Es bedarf daher nicht einmal der Berufung auf das historische Beispiel, dafs „in unsern civilisirten Staaten die Pest in Folge fortschreitender Cultur aller Klassen und ¡tí Folge durchgreifender
45 Organisationen verschollen ist" — auch nicht der Erinnerung an die Pflicht der Gesellschaft, welche um so dringlicher ist, als j a die Syphilis im eigentlichen Sinne des Wortes eine sociale Krankheit ist; die aus der Logik der Thatsachen hergeleitete Beschränkung der Syphilis mufs sich als eine sittliche und praktische Aufgabe in jedem einzelnen Mittel, welches zu ihrer L ö s u n g angewendet wird, bewähren. —
Indem wir auf die im ersten Theil dieser
Arbeit enthaltene, ausführliche Darlegung
der Thatsachen,
die
zum Theil noch durch einzelne Data in den statistischen Tabellen zu ergänzen ist, verweisen, versuchen wir in Folgendem eine kurze Darlegung derjenigen Folgerungen, welche sich auf die Beantwortung der F r a g e , wie die Syphilis in Berlin zu beschränken sei, beziehen. Ob die Aufgabe, die Syphilis in Berlin zu beschränken, eine nützliche und dringliche sei, das ist eine F r a g e , die, wie wir meinen, einfach und kurz mit der Hinweisung auf die S u m m e T h a t s a c h e n erledigt ist.
der
Betrachten wir dieselben in dem Ver-
hältnisse, als sie für die Lösung unsrer F r a g e von Bedeutung sind, so stellen sich in erster Reihe die s o c i a l e n U r s a c h e n der S y philis dar —
die massenhafte Ehelosigkeit und die Prostitution.
Die massenhafte E h e l o s i g k e i t (sowohl des männlichen, als des weiblichen Geschlechts) in Berlin, ist ein unvermeidliches Product seiner Entwickelung; unsre statistischen Data (Tabelle I. B. in der Uebersicht der Prozentverhältnisse) weisen nach,
dafs mit dein
Wachsthume der Bevölkerung in der Hauptstadt die Ehelosigkeit in einer steten und überdies unverhältnifsmäfsigen Steigerung begriffen ist.
D a f s aufserdem die Erwerbsverhältnisse, so wie die
Beschäftigungsweise eines grofsen Theils der weiblichen Bevölkerung grade in Berlin in einem abnorm hohen Grade einen wirksamen Factor der P r o s t i t u t i o n bilden, das wird auch ohne einen ausdrücklichen statistischen B e l a g nicht zweifelhaft erscheinen.
Sehr
genau dagegen ist in der Zahl der unehelichen Geburten, die jährlich 2 — 3 0 0 0 , oder circa den 6ten Theil aller Geburten betragen, eine andere Thatsache bestimmt; dieselbe ist als "Ursache, wie als Wirkung in dem sittlichen Zustande des Geschlechtslebens in Berlin von gleich grofser Bedeutung.
Anderseits ist es eben so
ein F a c t u m , dafs in Berlin für j e 6 Kinder unter 10 die Pflicht
46 der elterlichen Fürsorge für den eisten Schulunterricht — delA r m e n d i r e c t i o n anheimfällt. Alle diese Thatsachen insgesammt, die Wirkungen der grofsen socialen Gegensätze, welche sich nothwendiger Weise in dein Leben der Hauptstadt so zu sagen concentrirt darstellen — sind der Wirksamkeit der Lokalbehörde n i c h t erreichbar, ja sie steht denselben widerstandslos gegenüber. Nichts desto weniger fällt der Behörde der öffentlichen Gesundheitspflege Berlins auch in der Vernichtung dieser socialen Ursachen eine Pflicht zu, zu deren Erfüllung sie um so mehr berufen ist, als sie dazu, wenn nicht ausschliefslich, doch vorzugsweise befähigt ist. Es ist diese Pflicht die wirkliche Ermittelung und Feststellung der Thatsachen nach ihren mannigfachen, aus der Wissenschaft und dem praktischen Leben sich ergebenden, Gesichtspunkten. Abgesehen sowohl von ihrer allgemeinen Bedeutung für die Lösung oder Minderung der grofsen socialen Gegensätze, wie auch von dem unmittelbaren Interesse für sehr viele andere wichtige Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege — ist eine specielle Erkenntnifs dieser Thatsachen direct für u n s r e Frage — für die Beschränkung der Syphilis in Berlin — nicht ohne praktische Bedeutung. Handelt es sich eben darum, die specielle Wirkung jener socialen Einflüsse, wie sie sich in der concreten Wirklichkeit darstellt, zu ermitteln, so werden die lokalen Verhältnisse Berlins von der besondern Würdigung nicht ausgeschlossen sein können. N u r um es anschaulich zu machen, wie wir das praktische Interesse unserer Frage an dieser Ermittelung der Thatsachen verstehen, wollen wir beispielsweise eine der a l l g e m e i n s t e n Lebensbedingungen, das Wohnungsverhältnifs, berühren. Aus diesem Gesichtspunkte glauben wir es als eine, der Begründung nicht entbehrende, Behauptung anführen zu dürfen, dafs die W o h n u n g s n o t h , in welcher sich ein sehr grofser Theil der Bevölkerung befindet, (man vergleiche, insbesondere für die Zahlenverhältnisse, die a m t l i c h e n Berichte über den Haushalt der Stadt Berlin, in dem Titel von der Miethssteuer) in sehr vielen Fällen als die fast unvermeidliche Veranlassung eines unsittlichen Geschlechtsverkehrs betrachtet werden kann. Eben so wird nicht geläugnet werden können, dafs gegenüber der verderblichen Gewalt unmoralischer Einflüsse, welche sich als allgemeine Wirkungen des Lebens in der
47 Hauptstadt geltend machen, grade d i e s e r Mittel zur Hebung des sittlichen und geistigen Lebens der Bevölkerung in einer ganz besonders ausschliefslichen Ausdehnung und Kraft zu Gebote stehen! Indefs meinen wir nicht durch diese vorläufige Andeutung etwaiger Gesichtspunkte den R e s u l t a t e n vorgreifen zu wollen: wir sind zu wohl überzeugt, dafs solche nur durch umfangreiche und ernste Forschungen erzielt werden können. W e n n d i e j e n i g e ä r z t liche Organisation; welche behufs der medizinisch-pol i z e i l i c h e n U e b e r w a c h u n g der P r o s t i t u t i o n zu B e r l i n g e b i l d e t w o r d e n ist, die t h a t s ä c h l i c h e E r f o r s c h u n g d e r s e l b e n sich zur A u f g a b e m a c h t , u n d w e n n ihr die L ö s u n g d e r s e l b e n , wie sie die medizinische und sociale S t a t i s t i k zu e r w a r t e n , b e r e c h t i g t ist, auch nur zu einem T h e i l e gelingt, dann, meinen wir, w e r d e n üb er diese p r a k t i s che R e c h t f e r t i g u n g a u c h die G e g n e r der R e g l e m e n l i r u n g den W i d e r s p r u c h g e g e n das P r i n z i p v e r g e s s e n dürfen. Und in der T h a t glauben wir diese Aufgabe und den Versuch ihrer Lösung um so mehr als wirklich v o r h a n d e n voraussetzen zu dürfen, da sie der einzige Entgelt für die persönliche Aufopferung sein kann, welche alle diejenigen an den T a g legen, welche an jener sanitätspolizeilichen Ueberwachung sich thätig betheiligen. Dieser aufopfernden, ohne sittlichen Ernst nicht denkbaren und gewife nicht dankbaren Thätigkeit, haben wir eine ausdrückliche Anerkennung um so mehr darbringen wollen, weil man die, wir müssen sagen, v e r w e r f l i c h e Ansicht vorgebracht hat, dafs zu jener Thätigkeit die in sittlicher Beziehung geringhaltigsten Organe gut genug seien, und auch am leichtesten sich darböten! Nicht minder als die auf die spezielle Feststellung der ThatSachen zurückgeführte E r k e n n t n i f s , welche ja überhaupt als der logische und moralische Ausgangspunkt jeglicher Besserung anerkannt wird, ist auch die Vernichtung der gringsten und unscheinbarsten U r s a c h e ein vollgültiger Beweis des p r a k t i s c h e n Erfolges der radicalen Thätigkeit, und in eben dem Grade, a l s d i e O b r i g k e i t m i t t e l s t d e r s e l b e n die F a l l s t r i c k e h i n f o r t r ä u m t , w e l c h e a u f d e m W e g e d e s V o l k e s l i e g e n , erfüllt sie in diesem Werke der Gerechtigkeit und der Liebe eine sittliche Pflicht. Wenn die Erfüllung dieser Pflicht, nach ihren
48 M i t t e l n und ihrem Z i e l e gemessen, im Vergleiche mit der f a c ti s e h e n Entscheidung vor die Frage, ob das vor Gott auch recht sei, gestellt wird, so meinen wir, wird das Urtheil derjenigen, welche alle sittlichen und materiellen Erscheinungen im menschlichen Leben nach dein Gesetze der Ursache und Wirkung beurtheilen, nicht zweifelhaft, sein. Die z w e i t e und zwar u n m i t t e l b a r e U r s a c h e d e r s y p h i l i t i s c h e n K r a n k h e i t i s t e b e n d i e s e s e l b s t : die s y p h i l i t i s c h e n K r a n k h e i t s e r s c h e i n u n g e n , wie sich dieselben als W i r k u n g e n der syphilitischen A n s t e c k u n g dars t e l l e n , v e r n i c h t e n •— h e i f s t in g l e i c h e r W e i s e d i e U r s a c h e n d e r S y p h i l i s v e r n i c h t e n . Es werden einige kurze Bemerkungen genügen, um uns zunächst auf die p r a k t i s c h e n Consequenzen zu führen, welche sich aus diesem Causalnexus für unsre spezielle Frage ergeben. Wir müssen es dahingestellt sein lassen, ob die nicht seltene Behauptung, dafs die Syphilis, ohngeachtet ihre s o c i a l e n Ursachen nach wie vor bestehen, in neuerer Zeit an Ausdehnung, wie an intensiver Gewalt sich zu mildem beginne, richtig sei; es wird, zumal in dieser Allgemeinheit, schwierig, wenn nicht unmöglich sein, hiefür den statistischen Beweis zu liefern. Indefs darf diese Erscheinung in dem Grade als eine nothwendige, oder wenigstens wahrscheinliche vorausgesetzt werden, als die wissenschaftlichen Fortschritte, welche die neueste Zeit auf dem Gebiete der Syphilis errungen hat, sich p r a k t i s c h ganz besonders in der u n m i t t e l b a r e n und s c h n e l l e n Vernichtung der Krankheit bethätigen. In jedem Falle ist eine gegen die Wirkung und die Ursache der Ansteckung z u g l e i c h gerichtete Thätigkeit der sicherste Anfangspunkt der Beschränkung oder Vernichtung der Syphilis; und ohne aus dem, in einer ferneren Vergangenheit liegenden, Gegentheil den Beweis zu holen, darf die zukünftige Lösung dieser Aufgabe in der Ausdehnung wenigstens erwartet werden, als es der Wissenschaft und Praxis gelingen wird, die syphilitische Krankheit zu bewältigen. Es ist die Frage, wie die Syphilis in Berlin zu beschränken, nur ein kleines und lokales Bruchstück dieser grofsen und cosmopolitischen Frage, die in ihren allgemeinen Gesichtspunkten allenthalben durch dieselben Gesetze der Wissen-
49 schaft bestimmt wird.
W e n n es sich um den besonderen Antheil
Berlins an dieser F r a g e handelt, so wird e s , wie grofs oder
wie
klein derselbe auch sein mag, an dieser Stelle nur darauf ankommen, zu vergleichen,
wie die speziellen hierher gehörigen
That-
sachen diesen Gesetzen entsprechen. W ä r e die Statistik der Syphilis in Berlin sondern
eine e r f ü l l t e
Grundlage haben,
Thatsache,
von
der aus
kein
so würden
die F r a g e
könnte, wie in Berlin die radicale Aufgabe,
Desiderat, wir
diejenige
beantwortet
werden
in den syphilitischen
Krankheitserscheinungen die n a t ü r l i c h e n Ursachen ihrer Existenz, Verbreitung und Wirksamkeit zu vernichten,, t h a t s ä c h l i c h
erfüllt
werde. In derselben W e i s e wie d i e s e antisyphilitische P r a x i s den aus der natürlichen Besonderheit der Krankheitserscheinungen sich ergebenden Gesetzen der W i s s e n s c h a f t
entspricht und deshalb
zwar nicht ausschliefslich, aber doch vorzugsweise in der H e i l u n g der Syphilis besteht — hat auch die Statistik der Syphilis ihre Bedeutung, dafs sie,
innerhalb ihrer l o c a l e n
darin
Begrän-
z u n g , die P r a x i s mit der W i s s e n s c h a f t vermittelt.
In dieser
Vermittelung ist die p r a c t i s c h e Bedeutung der Statistik der S y philis überhaupt begründet, und in dem Sinne dieser Vermittelung würde sein,
auch
die Statistik der Syphilis in Berlin
eine T h a t s a c h e
deren Consequenzen in gleicher Weise wichtig sind,
es sich nun um die unmittelbare m e i n e Beschränkung
locale,
oder um eine
der Syphilis handeln.
möge allge-
In der T h a t ist die-
ser Gegensatz nur in sehr bedingtem Sinne vorhanden, und in dem Grade,
als die P r a x i s
der
öffentlichen Gesundheitspflege durch
die W i s s e n s c h a f t bestimmt wird,
beginnt auch die F r a g e von
der Beschränkung der Syphilis aus einer l o c a l e n eine t i o n a l e zu werden*). —
Die N o t w e n d i g k e i t
interna-
einer Syphilissta-
tistik für Berlin besonders darzulegen, möchte um so überflüssiger sein, weil unzweifelhaft als eine vorzügliche Ursache der S c h w a n kungen und Irrthümer in der bisherigen Entscheidung der Obrigkeit
* ) Unzweifelhaftem dieser Bedeutung
hat
auch
der Congrès
général
d'hygiène,
welcher in diesem Jahre in Brüssel stattfindet, in seinem Programme die F r a g e „Quelles sont les mesures à prendre pour arrêter les progrès et diminuer les inconvénients et les dangers de la prostitution? " zur Verhandlung gestellt.
4
50 über die antisyphilitischen Maafsregeln auch der Mangel einer thatsächlichen Grundlage erkannt werden mufs. Die Errichtung derselben ist überdiefs um so mehr eine Pflicht der Behörde der öffentlichen Gesundheitspflege, weil sie allein dieselbe ins Leben zu rufen im Stande ist. Freilich bedarf sie zur Durchführung der Mitarbeiter; solche werden ihr in der Gesammtzahl der Berliner Aerzte zu Gebote stehen, wenn sie dieselben zur Mitwirkung an einer für Praxis und Wissenschaft lohnenden Arbeit beruft, eine Bedingung, deren Erfüllung natürlich von den leitenden Gesichtspunclen abhängig ist. Diese theils vollständig zu erschöpfen, theils richtig abzuwägen, ist schon deshalb fast ausschliefslich Sache der Behörde, weil sie allein den G e s a m m t u m f a n g des Gebietes, aus dem die Fragen, welche die Statistik beantworten soll, entlehnt werden, beherrscht. Wenn wir unten*) das F r a g e n s c h e m a , welches das ärztliche Comite des Berliner Gesundheitspflegevereins für seine Berichte über die *) F r a g e n s c h e m a des ä r z t l i c h e n C o m i t é s des B e r l i n e r Ges u n d h e i t s p f l e g e - V e r e i n s für den B e r i c h t über v e n e r i s c h e Krankheiten. wie viel in Bordellen?
¡
-
bei Winkeldirnen ? bei anderen Madchen? bei verheiratheten Frauen? *») Ist der Ort der Ansteckung nicht Berlin, so ist er anzugeben. wie viel unter 20 Jahren? - zwischen 20 und 30 Jahren? II. Alter der Venerischen J 30 - 4 0 4 0 - 5 0 über 50 Jahre? Blennorrhagischen i
Î
primär Syphilitischen \ waren verheirathet ? Constitutionen J waren ledig? IV. Wie lange bestand die Krankheit, ehe Patient in ärztliche Behandlung kam? V. Wie viel von den Venerischen waren schon von a n d e r n Aerzten behandelt ? Blennorrhagischen , , , n . . von den j •_•• aSyphilitischen u-i-i- i. TTT Wie viel VI. ^I primär ^ der BehandConstitutionen IIl jblieben aus Blennorrhagischen , , . „ ., , . , , | ... „ ° . , i wurden in Heu-Anstalten TTTT TIT, VII. Wie viel von den ^ constitutione!! primär Syphilitischen \ ° -
51 venerischen Kranken sich zur Beantwortung gestellt hat, mittheilen, so wollen wir nur den speziellem B e l a g für die Bedeutung,
welche
practische
der Statistik der Syphilis unter den antisy-
philitischen Maafsregeln Berlins zukommt,
liefern.
Durch den
VIII. In wie viel Fällen ergab die Untersuchung behufs Ausstellung eines G-esundheits - Attestes venerische Krankheit* 0 ) und welche Species? *b)
IX.
Vergl. die Note zur I. Frage.
Auf wie viele Tripper kamen gleichzeitige oder Folgeerkrankungen wichtiger Organe und welche? (Bubonen, Entzündung des Nebenhodens, der Prostata,, Augen etc.)
Wie viel! ® u ' 3 0 n e n I kamen ohne vorangegangene I Nebenhodenentzündungen. ) Blennorrhagie vor? XI. Kamen dergleichen beim Tripper epidemisch vor? XII. Wie viel von den Nebenhodenentzündungen waren rechts ? links ? : doppelt? XIII. Kamen spitze Kondylome ohne gleichzeitige venerische Affection vor ? und zwar speziell bei welchen Krankheiten und in wie vielen Fällen? X
:
XIY. Welche Behandlung der Nebenhodenentzündung wurde angewendet und mit welchem Erfolg? XV. Welche Behandlung des Trippers wurde ausgeführt? (Dauer und Art der Behandlung, Stärke und Qualität der Einspritzungen etc.) XVI. Wie oft waren Härten nach syphilitischen Geschwüren zurückgeblieben, ohne dass eine Aetzung vorangegangen war? XVII. Blieb nach Aetzung eine Härte zurück, die Monate lang bestand, ohne dass konstitutionelle Erscheinungen auftraten? XVIII. In wie viel Fällen ging den constitutionellen Erscheinungen eine Induration des Chankers voran, in wie vielen nicht? XIX. Innerhalb welcher Zeit nach der primären Affection trat die Induration des Chankers auf? XX. Auf wie viel Chanker kam einer in der Harnröhre oder an anderen ungewöhnlichen Körperstellen vor? XXI. Brandige Chanker — wie viel? — wodurch? — bei welcher Individualität? XXII. Wie lange dauerte ( d f ^ L e l l a
Syphilis i
XXIII. Wie oft kamen syphilitische Bubonen protopathisch (ohne vorangegangenen Chanker) mit nachfolgender constitutioneller Syphilis vor ?
4*
52 begränzten Wirkungskreis des Vereins sind einzelne, sehr wichtige Gesichtspunkte, z. B. diejenigen, welche die Frauen und Kinder betreffen, ganz ausgeschlossen; andere, welche nur aus der Hospitalpraxis beantwortet werden können, mussten natürlich gleichfalls wegbleiben. Indefs glauben wir, ohne der Kritik vorgreifen zu wollen, behaupten zu dürfen, dafs die aufgestellten Gesichtspunkte genügend beweisen möchten, dafs die Statistik der Syphilis der nothwendige, eben so im Interesse der Wissenschaft wie der Verwaltung gebotene Ausgangspunkt der antisyphilitischen Maafsregeln sei. Eine erschöpfende Darstellung dieser Maafsregeln würde aufser dem Hauptinhalte derselben, d e r ö f f e n t l i c h e n a n t i s y p h i l i t i s c h e n H e i l p f l e g e , auch denjenigen Antheil obrigkeitlicher Thätigkeit zu erörtern haben, welcher derselben aus manchen andern, theils localen, theils allgemeinen Gesichtspunkten bei der Aufgabe, in d e r S y p h i l i s s e l b s t i h r e e i g n e u n m i t t e l b a r e U r s a c h e z u v e r n i c h t e n , zufällt. Wie auf der einen Seite Thatsachen, wie die Einschleppung der Syphilis in Berlin — der Mangel an öffentlichen Bädern daselbst etc., angeführt werden können, um b e i s p i e l s w e i s e der polizeilichen Wirksamkeit und der localen Verwaltung in der gestellten Aufgabe eine weite und fruchtreiche Perspective zu eröffnen, so ist auf der andern Seite in dem Factum, dafs zu einem Theile wenigstens die Verbreitung der SyphiXXIV. Wie oft kam Lues in Fällen von sogen, verschleppter und misshandelter primärer Syphilis vor? X X V . Welches waren die Arten der constitutionellen Syphilis, wie folgten dieselben auf einander und in welchen Zwischenräumen? XXYI. Juckten die syphilitischen Ausschläge ? XXVII. Waren die sekundär syphilitischen Affektionen ansteckend? und in welcher Periode? X X V i n . Welche örtliche und allgemeine Behandlungen des Chankers und der constitutionellen Syphilis wurden ausgeführt und wie verhielt sich insbesondre die Reihenfolge der constitutionellen Symptome bei jeder einzelnen der Behandlungsweise ? XXIX. War der, den constitutionellen Erscheinungen vorangegangene Chanker überhaupt behandelt worden? event. auf welche Weise? wie lange Zeit? ob im V e r e i n ? NB. Alle ambulatorischen Fälle von constitutioneller Syphilis sind in der Consultationsstunde vorzustellen I
53 Iis nur durch verbrecherischen Leichtsinn oder Aberglauben vermittelt wird, die dringlichste Mahnung vorhanden, auch die Kräfte der sittlichen und geistigen' Bildung in dem radicalen Kampfe gegen die verderbliche Wirksamkeit der Syphilis aufzurufen und diefs um so mehr, als die strafende Gerechtigkeit dieser Anklage, (welche noch schwerer vielleicht auf dem männlichen Geschlechte, als selbst die Prostitution auf dem weiblichen lastet), fast niemals Genugthuung zu schaffen vermag. Wir beschränken uns indefs auf diejenigen Maafsregeln, welche sich unmittelbar auf die Wirksamkeit des Hauplfactors für die Beschränkung der Syphilis, auf die Heilung der syphilitischen Kranken, beziehen. I n d e m w i r d i e in u n s e r n s t a t i s t i s c h e n F r a g m e n t e n e n t h a l t e n e n D a t a zu G r u n d e legen, v e r s u c h e n wir, die ö f f e n t l i c h e a n t i s y p h i l i t i s c h e H e i l p f l e g e in B e r l i n , w i e s i e s i c h , e n t s p r e c h e n d dem wirklichen B e d ü r f n i s s e und der Möglichkeit der A u s f ü h r u n g , practisch g e s t a l t e n m ö c h t e , darzulegen. Die b e i d e n m ö g l i c h e n u n d n o t h w e n d i g e n F o r m e n d e r ö f f e n t l i c h e n H e i l p f l e g e sind unter unsern Thatsachen einerseits in den Ergebnissen der Charitépflege, anderseits in denen des Berliner Gesundheitspflegevereins ausgedrückt. Beginnen wir mit dem B e d ü r f n i s s e d e r H o s p i t a l p f l e g e , so dürfen wir vorweg behaupten, dafs die Charitépflege demselben nicht genügen könne, denn — und wir glauben dies, als ein unzweifelhaftes Ergebnifs im ersten Theil dieser Arbeit statistisch nachgewiesen zu haben — die Charitépflege entspricht überhaupt kaum oder höchstens dem äusfersten Nothbehelf, der ja auch in Wirklichkeit fast ausschliefslich so zu sagen ihr Schöpfer ist. — Unterscheidet man dieses Bedürfniss speziell nach den beiden Geschlechtern, so wird bei der syphilitischen Erkrankung der W e i b e r in Rücksicht auf die wenigstens wahrscheinliche Gefährdung der öffentlichen Gesundheit die Hospitalbehandlung nicht allzusparsam abgemessen yrerden dürfen, wenn man dieselbe, soweit es sich u m Beschränkung der Syphilis handelt, nicht als die Regel anerkennen will. Das- Contingent der syphilitischen Weiber in der Charité, welches im Vergleiche zum Gesammtcontingent der Prostituirten ein sehr günstiges Erkrankungsverhältnifs derselben nachweist, möchte in
54 Wirklichkeit vielmehr beweisen, dafs die Charitépflege dem eigent-* liehen Bedürfnisse für die Hospitalbehandlung der syphilitischen Weiber nur sehr mangelhaft entspricht. In welchem Grade lässt sich nicht bestimmen; dem Zwecke, die Syphilis zu beschränken, wird aber sicherlich durch die möglichst reichliche Abmessung dieses Bedürfnisses am besten genügt. — F ü r die syphilitischen M ä n n e r wird unter der Voraussetzung, dafs die häusliche ambulatorische oder stationäre Behandlung derselben gesichert ist, die Hospitalbehandlung nur als die nothwendige Ergänzung eben die-> ser häuslichen Behandlung betrachtet werden dürfen. Diese N o t wendigkeit ist in allen den Fällen vorhanden, welche eine Complication schwerer, besonders primärer und secundärer Krankheitsformen mit einer mehr oder minder bedrängten socialen Lage des Kranken darstellen. Das Charité - Contingent der syphilitischen Männer beträgt im jährlichen Durchschnitt etwa den zwanzigsten Theil der muthmafslichen Gesammtzahl der syphilitischen Erkrankungen unter der männlichen Bevölkerung Berlins; verglichen mit dem Syphiliscontingent des Berliner Gesundheilspflegevereins, bleibt es Jiinter demselben noch zurück. Erwägt man nun aufserdem die sociale Lage eines grofsen Theils der syphilitisch erkrankten Männer, (wie wir nachgewiesen haben, gehören von dem Gesammteontingent der mannbaren männlichen Bevölkerung circa 60,000 den arbeitenden Klassen an,) so entspricht unzweifelhaft die Charitépflege auch für die syphilitischen Männer nur dem äufsersten Nothbehelf, selbst für den Fall, dafs das Bedürfnifs der Hospitalpflege nur als die nothwendige Ergänzung der anderweitigen häuslichen Behandlung bemessen wird. W i e s t e h t es m i t d i e s e m Theil der öffentlichen antisyphilitischen Heilpflege? Mit der Hinweisung auf den Berliner Gesundheitspflegeverein möchte die Antwort auf diese Frage so ziemlich erschöpft sein. Denn selbstverständlich handelt es sich hier nur um die Heilpflege für denjenigen Theil der männlichen Bevölkerung, der, in Folge seinef socialen L a g e , durch Erkrankung überhaupt hilflos und in dem Falle der syphilitischen Erkrankung durch seine Hilflosigkeit in seiner eigenen Gesundheit eben so gefährdet ist, als ér der öffentlichen Gesundheit gefährlich werden kann. Wenn man, nach dem Beispiel des Gesetzes, welches Gesellen und Fabrik-
55 arbeiter zur Bildung von Krankenkassen zwingt, damit sie im Erkrankungsfalle nicht der Armenpflege anheimfallen, die sociale L a g e zum Maafestabe nimmt, so wird es sich eben um die oben angeführten 60,000 Arbeiter bei der Frage von der öffentlichen antisyphilitischen Heilpflege handeln. Zieht man von diesen 60,000 diejenigen 10,000 ab, welche dem Berliner Gesundheitspflegeverein angehören, s o b l e i b e n 50,000, f ü r w e l c h e die h ä u s l i c h e B e h a n d l u n g im F a l l e s y p h i l i t i s c h e r E r k r a n k u n g n i c h t g a r a n t i r t ist. D i e s F a c t u m b e r u h t n i c h t a u f V e r g e f s l i c h k e i t , e s i s t v i e l m e h r eine p r i n z i p i e l l e V e r s c h u l d u n g . Die syphilitischen Data des Berliner Gesundheitspflegevereins weisen aber nach, in welchem Maafse auch für jene 50,000 das Bedürfnifs der antisyphilitischen Heilpflege in der That vorhanden ist. Erwägt man, dafs die Syphilis der Männer die Ansteckungsquelle für die Weiber bildet und somit, wenn es sich um die Krankheit als um die wirksame Ursache ihres Bestandes und ihrer Verbreitung handelt, sogar von primärer Bedeutung ist, so leuchtet ein, dafs den syphilitischen Männern das Bedürfnifs der Heilpflege n i c h t spärlicher, als den Weibern zugemessen werden darf. W i e k a n n d i e s e m B e d ü r f n i s s e in der W i r k l i c h k e i t G e n ü g e g e s c h a f f t w e r d e n ? Die Syphilis gehört g a n z in d e r s e l b e n W e i s e , wie jede andere Krankheit ins Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege, und die Bruchstücke der antisyphilitischen Krankenpflege, nach welchen wir das Bedürfnifs derselben abgemessen haben, sind eben nur vereinzelte Theile der gesammten öffentlichen Krankenpflege. Kann — um zunächst mit der Hospitalpflege zu beginnen — das Bedürfnifs derselben aus dem Ueberflusse der a l l g e m e i n e n Hospitalpflege befriedigt werden, oder ist jenes Bruchstück der antisyphilitischen Hospitalpflege nur ein Symptom des Nothstandes, in welchem auch diese sich beT findet? Das ist sicherlich, wenn es sich um die praktische Be-? friedigung des vorhandenen Bedürfnisses handelt, eine sehr wichr tige Frage, und die wir deshalb, wenigstens so weit wir es durch eine thatsächliche Andeutung vermögen, aufzuklären versuchen wollen. — Die Data, welche wir für die Jahre 1 8 3 4 — 5 0 über die Berliner Todesfälle zusammengestellt haben, (Tab.I. coli, 7 , 8 , 9 ) ergeben im D u r c h s c h n i t t e von 17 J a h r e n die T h a t s a c h e ,
56 d a f s in B e r l i n J a h r a u s J a h r e i n c i r c a d e r d r i t t e T h e i l d e r ü b e r h a u p t S t e r b e n d e n e n t w e d e r in d e r s t ä d t i s c h e n A r m e n k r a n k e n p f l e g e , o d e r in i r g e n d e i n e m ô f f è n t l i c h e n K r a n k e n h a u s e oder einer dem E l e n d e g e w i d m e t e n Ans t a l t s e i n L e b e n e n d e t . Sicherlich ist in diesem Ergebnisse der Tod ein eben so genauer als bedeutungsvoller Commentar des Lebens, wohl g e e i g n e t — die socialen Zustände Berlins iin Allgemeinen zu erläutern. Z u unserer Frage hat diese allgemeine Thatsache eine zwiefache Beziehung. Zunächst stellt sich in derselben das Bedürfnifs, wie die Wirksamkeit der öffentlichen Heilpflege ü b e r h a u p t , unmittelbar aus dem Leben dar. Mit dem statistischen Resultate der Todesfälle gemessen, ergiebt sich für das allgemeine Bedürfnifs der Heilpflege ein in der T h a t abnormer Umfang, aber auch für die Wirksamkeit derselben eine Ausdehnung, die, wie wenig sie auch an der Abnormität des Bedürfnisses etwas ändert, doch jedenfalls einen thatsächlichen Versuch, dem Bedürfnisse zu genügen darlegt. Für die allgemeine H o s p i t a l p f l e g e insbesondre darf zur richtigen Würdigung dieses Ergebnisses nicht vergessen werden, dafs, gegenüber der grofsen Zahl der in der Armenpraxis sterbenden Kinder, nur sehr geringe Anfänge der Kinder-Hospitalpflege in Berlin vorhanden sind. Es ist daher die Abnormität des allgemeinen Bedürfnisses, weil die Hospitalpflege an und für sich als ein besonders intensiver Ausdruck des Nothstandes angesehen werden mufs, noch gröfser als sie sich unmittelbar darstellt. Anderseits wird wiederum, wenn es sich um die Befriedigung des Bedürfnisses handelt, die Ausdehnung der Hospitalpflege um so nothwendiger, je gröfser der Nothstand ist. Zur weiteren Würdigung dieses Verhältnisses verweisen wir auf die über die Todesfälle in den einzelnen Hospitälern gegebenen Data (Tab. I. Note); jedenfalls scheint die allgemeine Thatsache wichtig genug, um bei Feststellung des speziellen Bedürfnisses, die uns jetzt obliegt, nicht vergessen zu werden. Die Charité ist in ihrem gegenwärtigen Bestände nur die äufserste und seltene Zufluchtsstätte hilfloser und bedrängter Kranken. Schon jetzt bilden die Syphilitischen den sechsten Theil derselben. Sie sind allerdings ganz mit demselben Rechte Inwohner der Charité, wie der andere Theil der Kranken. Auf Kosten dieser aber für die S y -
57 politischen einen gröfseren Raum zu schaffen, wäre in gleicher Weise unbillig und zweckwidrig. E s b e d a r f v i e l m e h r z u r L i n d e r u n g d e s E l e n d s ü b e r h a u p t , so w i e z u r H e i l u n g der syphilitischen Krankheit i n s b e s o n d r e n e u e n Raums. D e m d r i n g e n d e n B e d ü r f n i s s e e n t s p r i c h t a l l e i n die E r r i c h t u n g e i n e s K r a n k e n h a u s e s f ü r S y p h i l i t i s c h e . Wird dasselbe grofs und weit genug, um auch die syphilitische Station der Charité in sich aufzunehmen, so würde für die öffentliche Heilpflege die Wohlthat von um so gröfserem Erfolge sein, als sie die allgemeine Hospilalnoth, die in Berlin vorhanden ist, mildert. Wir brauchen unsern speziellen Beweis, den wir für das in jedem Betracht a u s n a h m s w e i s e V e r h ä l t n i f s d e r C h a r i t é zu a l l e n e i n z e l n e n K l a s s e n d e r B e r l i n e r C i v i l b e v ö l k e r u n g geliefert haben, kaum noch mit der Hinweisung auf die angeführte allgemeine Thatsache zu unterstützen. Dieses Verhältnifs ist sehr wenig geändert durch den Zuwachs, den Berlin in neuerer Zeit an Hospitälern erfahren hat. Dieselben beweisen vielmehr dadurch, dafs sie factisch oft wegen Ueberfüllung die dringendsten Anforderungen zurückzuweisen gezwungen sind, dafs, gegenüber dem grofsen Elende, es eine dringende Notwendigkeit ist, die Wohlthat der allgemeinen Hospitalpflege nach Kräften zu vermehren. Diese Wohlthat — und darin werden alle diejenigen mit uns übereinstimmen, welche ihr Beruf täglich zu Zeugen des Kampfes macht, den Armuth und Krankheit mit einander führen — ist eine so grofse, dafs sie — gleichviel aus welcher besondern Auffassung entstanden — durch ihre Wirkung ihren Ursprung rechtfertigt. Weit entfernt, den in der neuesten Zeit hieselbst ausschliefslich aus besonderen confessionellen Gesichtspunkten errichteten Krankenhäusern, eben um dieses Ursprungs Willen, zu mifstrauen, heifsen wir sie vielmehr eben'wegen ihrer Wirkung, als Beispiele allgemeiner menschlicher Liebe willkommen. Auf die Wirksamkeit dieser Liebe weist auch jene allgemeine Thatsache hin, welche uns die Hülfe darstellt, die mit der Noth sich zu messen versucht. Es ist in dieser Hülfe zu einem grofsen Theile das Liebesvermächtnifs vergangener Jahrhunderte wirksam, und daher erscheint die Pflicht der gegenwärtigen Gesellschaft, dem drängenden Bedürfnifs Genüge zu schaffen, nur um so dringlicher. Dafs
58 die Erfüllung dieser Pflicht, insbesondere die Erweiterung der antisyphilitischen Hospitalpflege, auch im Interesse des Gemeinwohls eine dringend gebotene sei, das ist — auch abgeseheq von den Thatsachen — wenigstens hier keine Frage: sie mufs für die Behörde der öffentlichen Gesundheitspflege eine um so ernstere Sorge sein, weil sie den Theil der antisyphilitischen Heilpflege bildet, der ausschliefslich von dieser Behörde abhängt. Es verbleibt uns noch die z w e i t e , nicht minder wichtige Form der antisyphilitischen Heilpflege, die in der Hauskrankenpflege ihre Erfüllung findet. Wir haben das B e d ü r f n i f s dieser Pflege an dem Vergleiche zwischen dem kleinen Bruchstücke, in dem sie vorhanden ist, und dem grofsen Reste, in welchem sie mangelt, gemessen. Die B e f r i e d i g u n g dieses Bedürfnisses wird sich aus ejner kurzen Erläuterung dieses Gegensatzes ergeben. — Wir dürfen es als bekannt voraussetzen, dafs für denjenigen Theil der männlichen Arbeiterbevölkerung Berlins, der dem Stande der G e s e l l e n und F a b r i k a r b e i t e r angehört, also (wenn man die ähnlichen Berufsgemeinschaften, welche dieser offiziellen Kategorie nicht angehören, ausschliefst) für etwa 30,000 Personen K r a n k e n k a s sen zur gegenseitigen Unterstützung — unter obrigkeitlicher Autorität — bestehen. V o n d i e s e r U n t e r s t ü t z u n g — um unter den mannigfachen Beziehungen, welche diese Kassen zu der öffentlichen Gesundheitspflege haben, unmittelbar diejenige zu erörtern, welche unserer speziellen Frage, der antisyphilitischen Heilpflege, zunächst liegt •— w a r e n b i s h e r die s y p h i l i t i s c h e n K r a n k e n vollständig a u s g e s c h l o s s e n , s o w o h l von der ärztlichen P f l e g e , a l s v o n den ü b r i g e n H ü l f s l e i s t u n g e n , w e l c h e d e n a n d e r n K r a n k e n , sei es an b a a r e m G e l d e o d e r d u r c h V e r p f l e g u n g in K r a n k e n h ä u s e r n , g e w ä h r t w e r d e n . D e r B e r l i ner Gesundheitspf lege verein dagegen leistet allen Kranken ohne U n t e r s c h i e d dieselbe ä r z t l i c h e P f l e g e und h a t s o m i t a u c h f ü r d i e j e n i g e n , w e l c h e a u s j e n e n K a s s e n in d a s B e r e i c h s e i n e r ä r z t l i c h e n T h ä t i g k e i t g e h ö r e n , die W i r k samkeit der antisyphilitischen Heilp^lege hergestellt. Wäre das R e c h t eben dieser Wirksamkeit nicht durch die entgegengesetzte, von der Obrigkeit vertretene Thatsache in Frage gestellt, wir würden Anstand nehmen es noch erst, auch nur mit einem
50 Worte, zu erörtern. E s g i e b t f ü r die P f l i c h t d e r ä r z t l i c h e n T h ä t i g k e i t keine a n d e r e B e d i n g u n g als die K r a n k h e i t , und jede Krankheit ruft dieselbe mit gleichem R e c h t e an. Es braucht diese Pflicht, welche für die Heilung der Syphilis ganz ebenso wie für jedes andere menschliche Leiden besteht, am allerwenigsten jenen Ansichten gegenüber vertheidigt zu werden, welche sich darauf stützen, dafs die Syphilis ein Abschreckungsmittel gegen die Unzucht, eine Strafe für die Sünde sei. Wären jene Ansichten, die nach ihrem factischen, w i e sittlichen Gehalte keiner weitem Erörterung bedürfen, berechtigt, d a n n w ä r e d i e n o t h w e n d i g e C o n s e q u e n z d i e F o r d e r u n g , d a f s die a n t i s y p h i l i t i s c h e P r a x i s ü b e r h a u p t als eine u n b e r e c h t i g t e , f ü r A r m e u n d R e i c h e in g l e i c h e r W e i s e , v e r p ö n t w e r d e . Die praktische Consequenz derjenigen Thatsache, von der wir ausgegangen sind, ist in Wirklichkeit keine andre, als dafs sie denjenigen Personen, welche nach ihrer socialen Lage in ihren Krankheiten überhaupt auf die Hülfe durch gegenseitige Unterstützung angewiesen sind, die syphilitische Erkrankung zu einer besonders schmerzlichen Last macht. Es wäre eine böswillige Insinuation, diese Wirkung auch heute noch als die Absicht dieser, aus barbarischen und finstern Vorurtheilen stammenden, Einrichtung vorauszusetzen: um so mehr aber sind die nur zu deutlichen Ueberreste derselben, die Ausschliefsung der Syphilitischen von einem Theile der Unterstützung, wie sie z.B. in dem erst jüngst bestätigten Statute der Buchbindergesellenkasse und dem amtlichen Entwürfe des Magistrats für die Schneidergesellenkasse sich noch vorfindet, ein Beweis, dafs auch die neueste Reorganisation dieser Unterstützungskassen der Aufgabe nicht entspricht, deren Lösung die öffentliche Gesundheitspflege von der Verwirklichung des Prinzips der Selbsthülfe erwarten mufs. Wohl ist auch jenes halbe Anrecht auf Unterstützung, welches nunmehr den syphilitisch erkrankten Mitgliedern der angeführten Kassen w e n i g s t e n s in d e r ä r z t l i c h e n P f l e g e s t a t u t e n m ä f s i g gewährt werden soll, ein Fortschritt. Derselbe bedeutet für alle diejenigen Gewerkskassen, welche durch Anschlufs an den Berliner Gesundheitspflegeverein diese Pflege schon lange factisch geniefsen, die gesetzliche Sanctionirung dieser thatsächlichen Errungenschaft — für den übrigen Theil aber die end-
60 liehe nothgedrungene Gewährung einer lange mit Unrecht entbehrten Wohlthat. Die c o n s e q u e n t e Verwirklichung dieses Fortschritts n a c h s e i n e r p r i n z i p i e l l e n B e d e u t u n g u n d in d e m Gesammtumfange aller derjenigen Unterstützungskass e n , welche auf Grund des bestehenden Gesetzes im Stande der Arbeiter schon vorhanden sind, oder noch geschaffen werden sollen, würde m i n d e s t e n s z u r H ä l f t e die Befriedigung des Bedürfnisses der antisyphilitischen Hauskrankenpflege herbeiführen. Ob diese Consequenz in Wirklichkeit erwartet werden dürfe — das braucht hier nicht erörtert zu werden. Als eine Thatsache aber darf es bemerkt werden, dafs selbst jener Fortschritt nur einen T h e i l von den a l l g e m e i n e n Fortschritten, welche in den Krankenunterstützungskassen der Arbeiter für die g e s a m m t e H e i l p f l e g e durch jene neue Reorganisation erzielt werden, oder schon bewirkt worden sind, ausmacht und somit, ungeachtet er durch seine Halbheit das Recht der antisyphilitischen Heilpflege verläugnet, dieselbe dennoch f a c t i s c h als einen Bestandtheil der allgemeinen öffentlichen Heilpflege darstellt. I s t d i e s e r B e s t a n d t h e i l ein l e g i t i m e r — so bedarf es n i c h t n o c h w e i t e r eines besondern Nachweises der einzelnen Elemente, welche in den Instituten der freien Selbsthülfe, den Gesundheitspflegevereinen, so wie in der Armenkrankenpflege für die Befriedigung des speziellen, in Frage stehenden Bedürfnisses in Berlin vorhanden sind, oder noch geschaffen werden können. D i e H e i l u n g d e r S y p h i l i t i s c h e n w i r d — u n d z w a r e b e n s o f ü r die e i n e a l s f ü r die a n d e r e H ä l f t e d e r j e n i g e n , w e l c h e i h r e r b e d ü r f t i g sind — eine T h a t s a c h e s e i n , s o b a l d u n d in d e m M a a f s e , a l s d i e A u f g a b e der ö f f e n t l i c h e n H e i l p f l e g e ü b e r h a u p t i h r e E r f ü l l u n g findet.
Erste Tabelle. Zur socialen Statistik der Berliner Civil »Bevölkerung während der Jahre 1834 bis mit 1851.
62
Zur Yergleichung der G e b u r t e n , K r a n k h e i t s - und
A.
T o d e s f ä l l e innerhalb der Berliner Civilbevölkerunsr. O 1.
2. 3. Die gesammte Civilbevölkerung Berlins
Jahr. betrug:
hatte sich gegen das Vorjahr verändert in Procenten:
4. 5. 6. Geburten waren
überhaupt:
7. 8. 9. Todesfälle waren
in s t ä d t i unehescher liche unehe- auf j e iiber- A r m e n liche : 100 liaupt: p f l e g e u. in den GeburSpitäldiT ten:
10.
100
Städtische Hauskranke.
auf j e überhaupt v.letzteren :
1834
247,336
—
9446
1674
17,7
9176
2511
27,4
23587
1835
253,400
+ 2,5
9261
1470
15,8
7361
2106
28,5
21884
1836
259,400
+ 2,*
9880
1594
16,1
7519
2287
30,5
21607
1837
265,394
+ 2,3
9704
1489
15,4
11052
3453
31,2
24902
1838
280,800
+ 5,8
10045
1510
15,0
8554
2596
30,3
25646
1839
296,000
+ 5,4
10082
1545
15,3
8344
2680
32,i
24703
1840
311,491
+ 5,«
10509
1584
15,1
9315
2916
31,3
28194
1841
318,900
+ 2,4
10757
1703
15,8
8772
2680
30,5
28233
1842
326,400
+ 2,3
11019
1784
16,1
9197
2906
31,6
29729
1843
333,990
+ 2,3
11634
1826
15,r
8884
3009
33,9
34306
1844
352,400
+ 5,5
12038
1848
15,3
9142
2888
31,6
39411
1845
370,900
+ 5,3
12846
1949
15,2
9125
2961
32,4
35357
1846
389,308
+ 5,o
13277
1912
14,i
9852
3182
32,3
38336
1847
403,700
+ 3,5
12865
1864
14,5
10235
3613
35,3
44401
1848
400,400
— 0,8
13055
1886
14,4
12026
4524
37,6
51504
1849
401,154
+ 0,«
13760
2122
15,4
14111
4979
35,3
51517
1850
417,700
+ *.». 14277
2134
14,9
11174
3543
31,7
57143
1851
436,000
+ 4,4
2352
15,3
10518
15335
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а. über 60 Jahr. б. über 45 Jahr.
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a. von 15 bis 60 J. b. von 15 bis 45 J.
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