Die 'armben Leüte' und die Macht: Konformes und nonkonformes Verhalten der Angehörigen einer frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft (Herrschaft Cesky Krumlow/Krumau 1680–1781) [Reprint 2016 ed.] 9783110506969, 9783828202276


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German Pages 382 [388] Year 2003

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Prolegomena zu einer ‚subjektiven‘ Geschichte der ländlichen Gesellschaft im frühneuzeitlichen Böhmen
I. Einleitung - Eine böhmische Herrschaft an der Grenze der Welten?
II. Die (Kultur)Geschichte der ländlichen Gesellschaft im frühneuzeitlichen Böhmen aus deutsch-tschechischer Perspektive
III. Die Krumauer Herrschaft: Zwischen Kulturlandschaft und Menschenverband
IV. Die Ausübung der herrschaftlichen Macht (Wege, Formen, Möglichkeiten)
V. Die Macht der anderen. Verhaltensspielräume des Einzelnen gegenüber dem Dorf und der Herrschaft
VI. Die großen und die größeren Herren. Selbstbehauptungsstrategien der Untertanen im Umgang mit der Herrschaft
VII. Der vereinnahmte Gott. Die örtliche Geistlichkeit und religiöses/profanes Handeln der Krumauer Untertanen
VIII. Schlussbetrachtung - Das Individuum und die frühneuzeitliche ländliche Gesellschaft
IX. Abkürzungsverzeichnis
X. Quellen- und Literaturverzeichnis
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 9783110506969, 9783828202276

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Pavel Himl Die 'armben Leüte'

Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Herausgegeben von Peter Blickle, David Sabean und Clemens Zimmermann Band 48

Die 'armben Leüte' und die Macht V

Die Untertanen der südböhmischen Herrschaft Cesky Krumlov/Krumau im Spannungsfeld zwischen Gemeinde, Obrigkeit und Kirche (1680-1781) von Pavel Himl

®

I L u c i u s

& Lucius • Stuttgart • 2003

Anschrift des Autors: Dr. Pavel Himl näm. Prätelsvi 654 CZ - 38301 Prachatice

M

>nds J Gedruckt mit Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds Cesko-Nemecky Fond Budoucnosti und der Universität des Saarlandes

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.ddb.de abrufbar

ISBN 3-8282-0227-6 (Lucius & Lucius) © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2003 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ausserhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen.

Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm

Vorwort Der vorliegende Text stellt eine geänderte Fassung meiner Dissertation dar, die im Jahr 1999 an der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes vorgelegt wurde. Sowohl die eigentliche Promotion in Saarbrücken als auch die nachfolgende Arbeit an dem Manuskript erscheinen mir heute nicht als Selbstverständlichkeit. Erst eine Anzahl von Institutionen und Personen, die mich unterstützt oder mir Beistand geleistet hatten, machte sie überhaupt erst möglich oder immerhin leichter (was diejenigen, die Ähnliches durchgemacht haben, zu schätzen wissen). Obwohl hier nicht alle genannt werden können, gilt ihnen mein aufrichtiger Dank. Mein (Doktoranden)Studium in Deutschland und somit auch den Zugang zur vielfältigen Welt des historischen Denkens ermöglichte in den Jahren 1994-1998 eine Förderung durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst. Auf die Idee, mich mit den „böhmischen Dörfern" auch als Dissertationsthema zu beschäftigen, hat mich Richard van Dülmen gebracht, der mir zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen in Saarbrücken eine freundliche Aufnahme bereitet und als Doktorvater meine Bemühungen mit stetem Interesse begleitet hat. Eine offene Tür und das Verständnis für die mehr oder weniger feinen Ost-WestUnterschiede fand ich immer bei den Mitarbeiterinnen der heute leider nicht mehr existenten Abteilung für osteuropäische Geschichte des Historischen Instituts an der Universität des Saarlandes. Die Forschungsergebnisse durfte ich in den Jahren 1998/99 als Mitglied des Saarbrücker Graduiertenkollegs „Interkulturelle Kommunikation in kulturwissenschaftlicher Perspektive", dessen Unterstützung mir zuteil wurde, präsentieren. Dank der Einladung von Winfried Eberhard, dem Direktor des „Geisteswissenschaftlichen Zentrums für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, e.V." in Leipzig, konnte die Arbeit am Dissertationsmanuskript in ruhiger und anregender Atmosphäre abgeschlossen werden. Dass auch die zweite, nicht minder anstrengende Phase der Textüberarbeitung und Druckvorbereitung bewältigt werden konnte, dafür schulde ich meinen tschechischen Arbeitgebern Dank, dem Institut für klassische Studien der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Prag besonders dem damaligen Leiter der Abteilung „Clavis Monumentorum Bohemiae" Jiri K. Kroupa - und der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Peter Blickle und David W. Sabean nahmen die Arbeit freundlicherweise in die von ihnen herausgegebene Reihe „Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte" auf; redaktionell betreute sie mit großer Aufmerksamkeit Wulf D. von Lucius. Zu ihrer Drucklegung trugen die Druckkostenzuschüsse des Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds (Prag) und der Universität des Saarlandes (Saarbrücken) wesentlich bei. Während die zahlreichen, v.a. deutschsprachigen Bibliotheken, deren Dienste ich reichlich in Anspruch nahm, hier nicht aufgezählt werden können, basiert das Buch über „eine ländliche Gesellschaft" fast ausschließlich auf den Beständen eines Archives, nämlich der Krumauer Zweigstelle des Staatlichen Regionalarchivs in Trebon. Ohne die Hilfe und das Entgegenkommen der dortigen Angestellten, Anna Kubikovä, Jiri Zäloha und v.a. Ales Stejskal, wären mir einige der mehrheitlich nicht inventarisierten Quellen wahrscheinlich verborgen geblieben, jedenfalls aber deren Verständnis erschwert worden.

V

Das Vorhaben, eine historische Untersuchung gewissermaßen an beiden Seiten der deutschtschechischen (Wissenschafts)Grenze durchzufuhren und deren Ergebnisse dann auf Deutsch vorzulegen, barg mehr Gefahren und Schwierigkeiten in sich, als mir am Anfang bewusst waren. Diesen zuweilen dornigen Weg mitverfolgt und die einzelnen Textteile in verschiedenen Phasen Korrektur gelesen haben Anne Altmayer, Vera Jung, Heinrich Kaak, Armin Koch, Maren Lorenz, Peter Wettmann-Jungblut und allen voran Thomas Kees, auf dessen Sprachgefühl ich mich - nicht nur in Zweifelsfallen - immer verlassen konnte. Mit großem sachlichem sowie sprachlichem Verständnis hat den Text als Ganzes schließlich Thomas Winkelbauer gelesen. Eine gemütliche Unterkunft und ein offenes Ohr für meine neuesten „Entdeckungen" fand ich während meiner südböhmischen Archivaufenthalte regelmäßig bei Zdenek und Gabriela Bezecny und bei Andrea Ottovä. Nina Gütterovä verdanke ich deutlich mehr als nur die Gelegenheit, auch in Saarbrücken über den Sinn einer geisteswissenschaftlichen Tätigkeit in Tschechien (und auf Tschechisch) diskutieren zu können. Obwohl sie sicher auch ihre Bedenken trugen, unterstüzten mich meine Eltern während meines ganzen Studiums, und dies nicht nur materiell. Mein Vater, selbst aus ländlichen Verhältnissen stammend, zeigte mir den Weg zu dieser - uns, den moderenen Nachkommen, scheinbar verschlossenen und eigen-sinnigen - Welt. Seinem Andenken, ebenso wie meiner Mutter und meiner Schwester Eva, die mir stets einen familiären Rückhalt geboten haben, widme ich dieses Buch.

Prag, im Herbst 2002

Pavel Himl

Anmerkung zum Zitierverfahren Die inhaltliche Arbeit am Manuskript wurde im Sommer 1999 abgeschlossen. Dementsprechend wird in den Zitaten die Literatur bis auf Ausnahmen nur bis Ende 1999 berücksichtigt. Was die Schreibweise der Quellen betrifft, habe ich mich einer Vereinheitlichungs- bzw. Modernisierungstendenz widersetzt und die auch innerhalb eines Textes oft differierende Schreibung - auch im Falle der Eigennamen - möglichst beibehalten. Eine unsichere Lesung ließ sich in manchen Fällen dennoch nicht vermeiden. Die Interpuntkion wurde nur dort ergänzt bzw. korrigiert, wo dies zu besserer Verständlichkeit beitragen konnte.

VI

Inhaltsverzeichnis

Prolegomena zu einer .subjektiven' Geschichte der ländlichen Gesellschaft im frühneuzeitlichen Böhmen

1

I. Einleitung - Eine böhmische Herrschaft an der Grenze der Welten?

3

II. Die (Kultur)Geschichte der ländlichen Gesellschaft im frühneuzeitlichen Böhmen in der deutsch-tschechischen Perspektive

17

III. Die Krumauer Herrschaft: Zwischen Kulturlandschaft und Menschenverband 1. Einleitung

35

2. Land und Leute und ihre Herren 2.1. Besitzer der Herrschaft

37

2.2. Größe, Naturgegebenheiten, Grenzen

39

2.3. Siedlungen, Bevölkerungsentwicklung

44

2.4. Die Herrschaft als ein einheitliches Gebiet ?

48

3. Die rechtliche Lage der Krumauer Untertanen 3.1. Die Erbpraxis oder Die „schwere bürde des Todte[n]fahls"

52 56

4. Die Obrigkeit als „Vater" der Krumauer Untertanen 4.1. „ Wittiben und Weysen schüzen"

64

4.2. „die unterthänige Knaben [...] appliciren [...] lassen"

67

4.3. „ d [ a ] ß heyraten nit Verstatten"

72

4.4. „dass die arme Leute theüre Deposita seien"

74

5. Die „bestandhaften Gaben" und Verpflichtungen 5.1. Geld- und Naturalverpflichtungen

79

5.2. Frondienste

81

6. Die Kontribution

89

7. „so können der gleichen Verbrecher [...] Zur arbeith angewendet werdten" Die Gerichtsbarkeit in der Krumauer Herrschaft 8. ,fiir schaden und unglik sich Metten"

95

Die Normierung des bäuerlichen

Lebens durch die Krumauer Obrigkeit

108

VII

9. Fazit

118

IV. Die Ausübung der herrschaftlichen Macht 1. Einleitung

121

2. Die Verwaltung der Herrschaft

122

3. Symbolische Formen der Herrschaft

138

4. Die dörfliche Selbstverwaltung: An der Schnittstelle zwischen „Herren" und „Beherrschten"

150

5. „die leüth haben holt einen Verdacht" Die Auseinandersetzungen um Person und Amt des Richters

170

6. Fazit

182

V. Die Macht der anderen. Verhaltensspielräume des einzelnen gegenüber dem Dorf und der Herrschaft 1. Einleitung

185

2. Die innerdörflichen Schlichtungsinstanzen

192

3. „assistenz, schütz Und Schirmt" Die Obrigkeit auf der innerdörflichen Szene 199 4. Die dörfliche Öffentlichkeit in den Ehrkonflikten

209

5. Bedrohung von innen und Bedrohung von außen 5.1. Die Suizidenten im Dorf

216

5.2. Die herrschaftsfremden Personen im Dorf.

224

6. Fazit

227

VI. Die großen und die größeren Herren. Selbstbehauptungsstrategien der Untertanen im Umgang mit der Herrschaft 1. Einleitung 2. „ein großer Ungehorsamb, welcher auch andersonsten frombe

231 Untertanen

Verführen möchte" Widersetzliches Verhalten einzelner Untertanen gegenüber der Herrschaft

234

3. Die „gerechtsambe Sach" der Deutschreichenauer - ein inszenierter Bruch mit der Leibeigenschaft? 3.1. Vom Losbrief Georg Rosenauers zur „Affaire". Die Darstellung

VIII

247

3.1.1. Losbriefe, Lehrkonsense, Roboten

247

3.1.2. Das Tauziehen um die „Freyheiten"

263

3.1.3. Die Exekution und ihre Folgen

272

3.2. Deutschreichenauer Bauern, Gemeinde und Herrschaft. Versuch einer Interpretation 3.2.1. Träger und Formen des Protests

277

3.2.2. Die Herrschaftsvorstellung(en) der Deutschreichenauer Untertanen... 289 4. Fazit

294

VII. Der vereinnahmte Gott. Die örtliche Geistlichkeit und religiöses/profanes Handeln der Krumauer Untertanen 1. Einleitung

297

2. Die kirchliche Verwaltung als Rahmen fiir religiöse Praxis in der Krumauer Herrschaft

299

3. Die Beziehungen zwischen Pfarrer und Gemeinde im Licht der kanonischen Visitationen

305

4. Seelenhirte oder Schweinehirte?

322

5. Fazit

329

VIII. Schlussbetrachtung - Das Individuum und die frühneuzeitliche ländliche Gesellschaft

IX. Abkürzungsverzeichnis

335

347

X. Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Handschriftliche Quellen

351

2. Gedruckte und literarische Quellen, Nachschlagewerke, Topographien

354

3. Literatur

355

IX

Prolegomena zu einer subjektiven' frühneuzeitlichen Böhmen

Geschichte der ländlichen

Gesellschaft im

„[...] Aussi la richesse est le préciput particulier de la Noblesse de Boheme, laquelle est aujourd'hui bien mêlée, la plupart de celle-ci étant de Maisons étrangères, qui s'y sont établies. Le Royaume est comme une foire franche, où tous ceux qui acquièrent de richesses au service de l'Empereur viennent les investir, le pais étant de grand rapport, & le domaine accompagné de tous les privilèges de la Souveraineté, les sujets des Seigneurs y sont tous de main morte, & quasi esclaves; leurs biens et leurs personnes, au moins quant au travail, leur appartiennent, & ils en peuvent disposer autant qu 'il leur plaît pour leur propre service. Ceci est la cause que ces peuples ainsi sujets à des Maîtres particuliers, ne les aiment nullement, & qu'on suppose qu'ils souhaitent de tout leur coeur de voir arriver quelque révolution dans l'Etat pour s'en prévaloir, & pour se mettre en une plus grande liberté. [...] Il est sûr, que l'Empereur tire de très-grands revenus de la Boheme, & que les Seigneurs particuliers, qui en sont les petits tyrans, lui payent aujourd'hui de très grandes contributions. N'y a-t-il pas des moyens de tenir les peuples dans le respect, sans montrer qu'on les craint par une destruction générale de toute sorte de forteresse, parce qu'elles peuvent devenir les appuis d'une révolté? [...]" [Casimir Freschot], Remarques historiques et critiques, Faites dans un Voyage d'Italie en Hollande dans l'Annee 1704. Contenant les Mœurs, Intérêts, & Religion de la Carniole, Carinthie, Baviere, Autriche, Boheme, Saxe, & des Electorats du Rhin. Avec une Relation de Differens qui partagent aujourd'hui les Catholiques Romains dans les Païs-Bas 1., Cologne 1705, 132-136.

„Gleichwie ich ihnen aber von dem böhmischen Adel gesagt, daß er im ganzen Römischen Reich der wohlhabendste sey, also muß ich im Gegentheil von den Bauern melden, daß dieselbe über die Massen arm sind. Ihre Herren haben volle Gewalt über ihre Güter, über ihren Leib und über ihr Leben. Diese armen Leute haben in einem Lande, welches eines der Fruchtbarsten in Europa ist, oftmals keinen Bissen Brod zu essen. Sie dörffen sich ohne Bewilligung ihres Herrn nicht unterstehen, sich aus einem Dorf in das andere zu verdingen, oder Handwerk zu lernen. Eine so grosse Sclaverey verursachet, daß diese unglückseligen Leute beständig für Furcht zittern und nicht wissen, was sie aus Unterthänigkeit thun sollen, so daß man kein Wort mit ihnen reden darf, sie kommen dann und küssen einem die Kleider. Die Schärfe, womit man diesen Leuten begegnet, ist gewiß entsetzlich, doch ist anbey auch dieses wahr, daß sie mit Gelindigkeit ohnmöglich im Zaun zu halten [sind]. Sie sind über die massen faul und hartnäckigt, sonst auch sowohl Vater als Sohn zu einer harten Zucht schon gewöhnt, so daß sie sich wenig für Schlägen fürchten; welches gleichwohl bey vielen das einzige Mittel ist, sie zum Gehorsam zu bringen [...]". Karl Ludwig von Pöllnitz, Des Freyherrn von Pöllnitz Brieffe Welche

das

merckwürdigste

von

seinen

Reisen

und

die

1

Eigenschaften derjenigen Personen woraus die vornemsten Höfe von Europa bestehen, in sich enthalten, Frankfurt a.M. 2 1738, 277-278, 11. Brief, datiert in Prag am 15.11.1729. *

,yA ponewadz kazdy skutek dejinny na zäpasu, tudiz na sporu dwau stran zälezi, do ktereho wzdy wäsne lidske wselijak se wpletaji: wecnymi zäkony präwa i sprawedliwosti wyhledäwä se, aby swedectwi oboji strany wyslychäno a nepredsudne uwazowäno bylo. Kde toho nelze, protoze ho s jedne strany snad se nedostäwä, tarn slusipri uwazoväni jednostrannych zprcrw tim opatrnejsi kritiky setfiti." [,, Und da jede geschichtliche Tat im Ringen, somit im Streit zweier Parteien besteht, welcher immer von menschlichen Leidenschaften durchflochten ist: durch die ewigen Gesetze des Rechts und der Gerechtigkeit wird befunden, daß das Zeugnis beider Parteien angehört und vorurteillos abgewägt werden soll. Wo dies nicht möglich ist, weil es des Zeugnisses von einer der Parteien vielleicht ermangelt, dort gebührt es sich, bei der Betrachtung von einseitigen Berichten eine umso behutsamere Kritik anzuwenden. "] Frantisek Palacky, Dejiny närodu ceskeho w Cechäch a w Morawe [Geschichte der böhmischen Nation in Böhmen und Mähren], Praha 1848, 8.

2

I. Einleitung - Eine böhmische Herrschaft an der Grenze der Welten? Es lässt sich kaum feststellen, wie eingehend sich der Benediktiner Freschot1 und Freiherr von Pöllnitz 2 bei ihren Reisen durch Böhmen mit den Untertanenverhältnissen in dem Königreich vertraut machten. Ihre etliche Jahre auseinander liegenden „Beobachtungen" stimmen v.a. in der Schilderung der Unfreiheit der dortigen ländlichen Bevölkerung überein. Bereits dieser Umstand mahnt zu erhöhter Aufmerksamkeit, denn es könnte sich um ein Stereotyp im literarischen bzw. kulturellen Bild eines Landes handeln. 3 Unzweifelhaft ist auch, dass die beiden Darstellungen zur Verfestigung einer bestimmten Sichtweise beitragen konnten. Auch Zedlers Lexikon nennt Böhmen an erster Stelle unter den Gebieten, in denen Leibeigene („arme Leute") zu finden sind. Allerdings zählt der Verfasser in dieser Reihe neben Pommern oder Mecklenburg beispielsweise auch Hessen und Schwaben auf. 4 Doch nicht nur den gebildeten Lesern von Freschots und von Pöllnitz' Reiseberichten galt Böhmen als ein Land mit abhängigen und unmündigen Untertanen. Die bayerischen Bauern und deren Obrigkeiten sahen in der „böhmischen Leibeigenschaft" ein Abhängigkeits- und Unterdrückungssystem, gegen das sie sich vehement abgrenzten.5 Den Bauern aus der vorderösterreichischen Herrschaft Hauenstein im Schwarzwald galt die „böhmische Sklaverei" als Inbegriff der schlechten, weitgehend unfreien rechtlichen Stellung gegenüber der Obrigkeit, die sie mit der Leibeigenschaft gleichsetzten und die für sie - und sei es nur auf der Ebene der Bezeichnung - unannehmbar war.6 Auch in Oberösterreich, das ähnlich wie Bayern an die in dieser Arbeit behandelte Herrschaft Krumau grenzte, war die Meinung über den harten Umgang der böhmischen Grundherren und ihrer Beamten mit den Leibeigenen anzutreffen.

1

2

3

4

5 6

7

Zu seiner Person vgl. M. Lenderovä, Casimir Freschot, Zpräva o videftském dvore (Videfi a habsburskä fiäe oèima francouzského benediktina) [Casimir Freschot, Bericht über den Wiener Hof (Wien und das Habsburgerreich aus der Sicht eines französischen Benediktiners)], in: V. Bùzek (Hg.), Zivot na dvorech barokni älechty [Das Leben an den Höfen des barocken Adels], OH 5, Ceské Budéjovice 1996, 293-307, 294-295, ebd. 302, 307 auch die Zuschreibung der bis dahin in der tschechischen Geschichtsschreibung als anonym geltenden Remarques (die Autorin datiert das Werk allerdings 1704). Zu von Pöllnitz vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie, hg. von W. Killy und R. Vierhaus, Bd. 8, München 1998, 11. Die zitierte Ausgabe ist eine deutsche Übersetzung des gleichnamigen französischen Werkes, das in zweiter Ausgabe 1735 in Amsterdam erschien. Sowohl von Pöllnitz' als auch Freschots Reisebeschreibung wurden in tschechischer Übersetzung von V. Schwarz, Mèsto vidim veliké ... Cizinci o Praze [Eine große Stadt sehe ich ... Ausländer über Prag], Praha 1940, veröffentlicht. Vgl. E. Brückmüller, Zur Auswertung von Reiseliteratur im Hinblick auf die soziale Situation der Bauern in der Habsburger-Monachrie, in: D. Berindei u.a. (Hg.), Der Bauer Mittel- und Osteuropas im sozioökonomischen Wandel des 18. und 19. Jahrhunderts. Beiträge zu seiner Lage und deren Widerspiegelung in der zeitgenössischen Publizistik und Literatur, Köln - Wien 1973, 120-141, zu Böhmen bes. 125-132. J. H. Zedier, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 16., HalleLeipzig 1737, Sp. 1506-1510, hier 1506-1507. Neben anderen Merkmalen der Leibeigenen, über die sich verschiedene Autoritäten einig seien (Dienst- und Fronzwang, Notwendigkeit eines Heiratskonsens), fuhrt Zedier am Anfang an, „daß die Freyheil derer leibeigenen gar sehr eingeschräncket [ist]. Denn sie sind an gewisse Güter gewiesen, von welchen sie ohne Consens ihrer Herren nicht loß kommen können [...]". Böhmen kommt in seinen weiteren Ausführungen allerdings nicht vor. Vgl. R. Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993, 387-390. D. M. Luebke, Serfdom and Honour in Eighteenth-Century Germany, in: Social History 18, 1993, 143161, hier 144, 152. G. Grüll, Bauer, Herr und Landesfürst. Sozialrevolutionäre Bestrebungen der oberösterreichischen Bauern von 1650 bis 1848, Graz-Köln 1963, 16.

3

Es bedürfte einer eigenen Untersuchung, um das Bild des frühneuzeitlichen Böhmens und dessen Bewohner, das in verschiedensten Zeugnissen der fremden, nichteinheimischen Besucher zerstreut festgehalten ist, auch nur in Umrissen nachzuzeichnen. Die Beurteilung der Verhältnisse auf dem Lande dürfte dabei nicht nur von den vorgegebenen Wahrnehmungsmustern, sondern auch von der gesellschaftlichen Stellung und den Ansichten des Betrachters abhängig gewesen sein. Soziale Distanz einer- und ökonomische Verbundenheit andererseits, praktische Erfahrungen und christliche Verantwortung wirkten sich auch in den Schriften der böhmischen Adligen, Beamten oder Geistlichen aus, die sich in der frühen Neuzeit mit der Untertanenproblematik in irgendeiner Weise beschäftigten. 8 Aus der Perspektive der Betroffenen, der Untertanen, ist allen diesen Betrachtungen gemeinsam, dass es sich um eine Fremdsicht handelt. Das Verhältnis von geographischer Fremdheit und sozialem Abstand, die sich in dieser Wahrnehmung niederschlugen, ist an dieser Stelle nicht genau zu bestimmen. Beide stehen jedoch offenbar Pate bei dieser distanzierten Sichtweise der ländlichen Welt, die sich in verschiedenen Ausformungen auch in den wissenschaftlichen Herangehensweisen des späten 18., des 19. und des 20. Jahrhunderts finden lässt. Eine der Ursachen dieses Umstandes liegt darin, dass die ländlichen Untertanen der frühen Neuzeit kein Bedürfnis verspürten (und im engen Zusammenhang damit auch kaum Möglichkeiten besaßen), sich selbst in den meist schriftlich fixierten Formen offiziell darzustellen, die den gebildeten Angehörigen anderer gesellschaftlicher Gruppen eigen waren und in denen die späteren Wissenschaften ihre Quellen fanden. Das Besondere bei der Erforschung der Schichten, in denen die Schriftlichkeit kein geläufiges Medium war, besteht vereinfacht gesagt nicht darin, dass ihre Angehörigen etwa keine eigene „Geschichte" verfassten bzw. verfassen konnten, sondern darin, dass bei deren historischer Betrachtung mit den Zeugnissen ihres Selbstverständnisses allzu wenig gerechnet wurde. 9 Den Aufklärern kommt in dieser geistesgeschichtlichen Tradition ein besonderer Platz zu. Sie stehen zwar keineswegs an ihrem Beginn, sie machten aber die Lebensverhältnisse der Untertanen (besonders in den Gebieten mit scheinbar starker Abhängigkeit) zu einem vorrangigen Thema ihrer Ausfuhrungen, pädagogischen Bemühungen und Reformvorschläge. Darüber hinaus lieferten sie umfangreiche (natürlich nicht unbefangene) Beschreibungen dieser Verhältnisse, die - wie z.B. die Schriften des Popularphilosophen Garve - in der deutschen Geschichtsschreibung bis heute reichlich zitiert werden. Es scheint indes genügend bewiesen worden zu sein, dass die Aufklärer die leibeigenen Untertanen in ihren Werken v.a. als Projektionsfläche für eigene (Freiheits)Vorstellungen und Ziele in Anspruch nahmen und dass sie damit deren Behandlung im gesellschaftlichen Diskurs bis ins 20. Jahrhundert entscheidend prägten. 10 Dazu J. Mikulec, Poddanskä otäzka v baroknich Cechäch [Die Untertanenfrage in Böhmen des Barockzeitalters], Praha 1993, 55-92; ebd., 122, hier werden die Eindrücke der auswärtigen Reisenden und der „einheimischen" Beobachter im Ansatz gegenübergestellt. Dazu 0 . Ulbricht, Aus Marionetten werden Menschen. Die Rückkehr der unbekannten historischen Individuen in die Geschichte der Frühen Neuzeit, in: R. van Dülmen - E. Chvojka - V. Jung (Hg.), Neue Blicke. Historischen Anthropologie in der Praxis, Wien-Köln-Weimar 1997, 13-32, hier 15-16. Zum Stellenwert der Schriftlichkeit im ländlichen Milieu vgl. J. Peters, Zur Auskunftsfähigkeit von Selbstsichtzeugnissen schreibender Bauern, in: W. Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 175-190, hier 186. Dazu kurz, aber überzeugend S. Göttsch, „Alle für einen Mann ...". Leibeigene und Widerständigkeit in Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert, Neumünster 1991, 300-309, 303: ,JSo war die [aufklärerische,

4

Mit der bewussten Abhebung gegen das gesellschaftliche System, das die elende Lage der ländlichen Bevölkerung zur Folge gehabt habe und größtenteils mit den Monarchien des 18. Jahrhunderts identifiziert wurde, und mit dessen als abgeschlossen angesehenen Überwindung kam ein politischer (und zunehmend auch zeitlicher) Aspekt der „Erkenntnisverfremdung" hinzu - die Leibeigenen gehörten plötzlich einer anderen, mit der Gegenwart unvereinbaren (und möglicherweise auch weniger verständlichen) Welt an. Daran änderte auch die Zuwendung nichts, die das ländliche Leben im 19. Jahrhundert von Seiten der entstehenden Volkskunde erfuhr. Die sich zur gleichen Zeit etablierende moderne Geschichtswissenschaft übernahm die Betrachtung der nichtprivilegierten Schichten vor 1800 als eines Objekts gesellschaftlicher Einwirkung. Es war u.a. gerade das Fehlen von expliziten bäuerlichen Eigenäußerungen, welches das Einfügen des frühneuzeitlichen Dorfes in die umfassenden Geschichtskonzeptionen verschiedener Couleurs erleichterte. Die ländlichen Untertanen waren als der zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsteil des vormodernen Europas in den historischen Arbeiten immer präsent; allerdings stellten sie je nach Geschichtsauffassung einmal die konservative, alte Werte bewahrende Kraft und einmal die gegen ihre Ausbeutung durch die Herrschenden kämpfende Klasse dar. Zwar wurden die Untertanen nicht als passive Masse ohne soziale oder auch politische Differenzierung erforscht, doch fallt im Vergleich mit den anderen gesellschaftlichen Schichten dennoch auf, welch geringes Interesse dabei den Einzelpersonen zukam. Die weitgehende Absenz der Individualität im Geschichtsbild der vorindustriellen Landbewohner erklärt sich zum einen aus der erwähnten spezifischen Quellenüberlieferung, zum anderen aus der damit verbundenen Zentrierung der Historiographie auf die v.a. politischen Repräsentanten der jeweiligen Gesellschaft. Bereits vor 1800 und verstärkt noch danach legten sich also zwischen die (vormodernen) dörflichen Gesellschaften und ihre („modernen") Beobachter mehrere, oft durch zeitgenössische Erkenntnisinteressen bedingte Filter. Diese bei einer Betrachtung von außen einigermaßen natürlichen Sichtverzerrungen gilt es jetzt nicht zu überwinden und sich quasi der ländlichen Untertanen(individuen) in einer postaufklärerischen Emanzipationsabsicht anzunehmen. Es wäre töricht zu denken, dass man aus dem Abstand von mehr als zwei Jahrhunderten allen Darstellungsstereotypen eines von Pöllnitz und seiner Nachfolger entkommen kann. Diese thematisierten Stereotype bieten sich aber als Schleifsteine für die Aufarbeitung neuer Fragestellungen an, die aber ebenso wie bei den Aufklärern dem Erkenntnisstand und den Forschungsinteressen der heutigen Historiker/innen verpflichtet bleiben. Das Bewusstsein der eigenen interpretatorischen und generellen Erkenntnisgrenzen rechtfertigt dennoch neue Versuche, sich den Landbewohnern der frühen Neuzeit anzunähern. Seit den Reiseberichten des 18. Jahrhunderts blieb das Verhältnis zwischen (Grund)Herrn und Untertanen ein zentrales Moment fast jeder Betrachtung des ländlichen Milieus in Böhmen. Unter „Verhältnis" können aber sowohl die extreme Abhängigkeit der Untertanen P.H.] Darstellung und Beschreibung der Leibeigenen weniger auf die Abschilderung realer Lebensbedingungen ausgerichtet, sondern unterlag einem bestimmten Interesse, nämlich der Verifizierung des eigenen Wertkanons und damit der Versicherung des eigenen Standes." Zur aufklärerischen Debatte über die Untertanenthematik in Böhmen vgl. F. Kutnar, Poddanstvi a robota v näzorech i e s k i osvicenske spoleCnosti [Die Untertänigkeit und Fron in den Ansichten der böhmischen aufklärerischen Gesellschaft], in: PrispSvky k dgjinäm tridnich bojü v Cechäch 2., Nevolnicke povstäni r. 1775 [Beiträge zur Geschichte der Klassenkämpfe in Böhmen 2., Der Leibeigenenaufstand von 1775], AUC Phil, et Hist. 3, 1962, 7-63.

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von der Herrschaft, ihre bloße Einbindung in die herrschaftlich dominierten Strukturen als auch ihr Protestverhalten verstanden werden. In allen Fällen zeichnet sich gewissermaßen die Allgegenwart der Herrschaft im Leben der Landbevölkerung des frühneuzeitlichen Böhmens ab, die aber zunächst nichts über die Art der gegenseitigen Bindung aussagt. Es ist bemerkenswert, dass die Merkmale, die zur Beurteilung dieser Bindung traditionell gewählt werden und für sie als konstitutiv gelten, eben diejenigen sind, gegen die sich alle dem Ancien Régime nachfolgenden Systeme abgrenzten, wie etwa Freizügigkeitsbeschränkungen oder Frondienste. Die historische Beurteilung folgt somit den de facto politischen Prinzipien, die in einem öffentlichen und durch Öffentlichkeit geformten Interesse an der ländlichen Gesellschaft gründen, die aber die Sicht der ihr Angehörenden meist unbeachtet lassen. Dabei konnten sich diese konstitutiven Merkmale nicht völlig an den „Betroffenen" vorbei entwickeln, mit Hinblick auf ihre Umsetzung stellen sie nicht nur etwas von „oben" Aufgesetztes und ohne Reaktion Hingenommenes dar. Doch das Beziehungsgeflecht zwischen den Untertanen und den Herrschaften in Böhmen war viel komplizierter gesponnen, als dass es sich auf die programmatisch herausgegriffenen Kategorien wie Frondienste oder Besitzrecht reduzieren ließe. Einerseits stehen beispielsweise die umfangreichen gerichtlichen bzw. allgemein regulativen Vollmachten, die den Herrschaften gegenüber den Untertanen zustanden, in der Forschung immer noch im Schatten des zwar modern anmutenden, bis ins 18. Jahrhundert hinein aber zweitrangigen institutionellen Gerichtswesens. Wenn man andererseits die normativen Kompetenzen der Obrigkeiten anerkennt, wird dennoch selten nach deren praktischer Umsetzung oder überhaupt Umsetzungsmöglichkeiten gefragt. Die böhmischen Herrschaften der frühen Neuzeit stellten offenbar soziale Gebilde dar, deren zum ersten Mal von J. Pekar beschriebene Komplexität es erschwert, sie in eines der länderübergreifenden agrarhistorischen Konzepte einzuordnen. 11 Eine solche Zuordnung würde m.E. auch dem noch viel zu sehr unterschätzten lebensweltlichen Charakter dieser Herrschaften nicht gerecht, denn sie bildeten einen alles durchdringenden

Verfolgt man die v.a. in Deutschland entwickelten Konzepte der Grund- bzw. Gutsherrschaft, so werden die Verlegenheiten mit der Stellung Böhmens und Mährens deutlich, die nicht unähnlich den Problemen erscheinen, die sich für das 17. und 18. Jahrhundert bei der Zuordnung Böhmens zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ergeben; vgl. H. Kaak, Die Gutsherrschaft. Theoriegeschichtliche Untersuchungen zum Agrarwesen im ostelbischen Raum, Berlin-New York 1991, 415-418. Obwohl auch die marxistischen Theorien einer am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhundert aufkommenden „zweiten Leibeigenschaft" in den letzten Jahre in der tschechischen Geschichtsschreibung schnell in Vergessenheit gerieten, blieb bei der Behandlung des mitteleuropäischen Raumes von deutscher Seite gerade im Hinblick auf die ländlichen Verhältnisse eine gewisse Ost-West-Dichotomie erhalten, in der den böhmischen Ländern oft der Platz einer Übergangszone eingeräumt wird; dazu u.a. P. Blickle, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, München 1981, 97-101, bes. 99. Der von Blickle zitierte Staatsrechtler J. J. Moser zählte 1774 Böhmen (neben z.B. Österreich) zu den Ländern, in denen „die gemeine Landleule in einer Art von Sclaverey" leben. Zur Kritik des sich u.a. auf diese Äußerung berufenden agrardualistischen Konzepts vgl. H. Wunder, Das Selbstverständliche denken. Ein Vorschlag zur vergleichenden Analyse ländlicher Gesellschaften in der Frühen Neuzeit, ausgehend vom „Modell ostelbische Gutsherrschaft", in: J. Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, 23-49, hier 25-26. F. Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1963, u.a. 116, 126 und 177, bezieht Böhmen in seine Darstellung ein und zählt es eindeutig zu den Gebieten der Gutsherrschaft.

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(was nicht zwangsläufig „unterdrückenden" bedeuten muss) und deshalb nur schwer reduzierbaren Existenzrahmen der ländlichen Gesellschaft. Das oben angesprochene Verhältnis zwischen Herr und Untertan, obwohl durch die Untertanen - besonders in den Konflikten - artikuliert, reicht nicht aus, um deren Verständnis von Herrschaft und ihrer Position innerhalb derselben zu erfassen. Einer der Gründe liegt u.a. auch darin, dass eine Gleichsetzung von Herrschaft (sowohl im territorialen als auch sozialen Sinn) und ihrem Inhaber nicht vorausgesetzt werden kann. Überhaupt erweist es sich für das Böhmen der frühen Neuzeit als schwierig, eine genau Trennung zwischen der ländlichen Gesellschaft und den von adligen, kirchlichen oder städtischen Obrigkeiten mitgeprägten Herrschaftsstrukturen vorzunehmen. Die obrigkeitlichen Normen und Forderungen betrafen das Leben eines jeden Untertanen, sie fanden ihren Niederschlag auch in der Verfassung und Funktionsweise verschiedener Gemeinschaften wie der Gemeinde. Die Herrschaft in ihrem sozialen Sinn (als ein mit der Beeinflussung anderer verbundener Anspruch) kann daher nicht als ein der Untertanenwelt externes Phänomen aufgefasst werden.12 Die These von der Internalisierung der von außen aufgetragenen Verhaltensregeln 13 ist dabei nicht als eine Erklärung des Ursprungs von anerkannter Herrschaft, sondern lediglich als eines ihrer potentiellen Verbreitungs- und Funktionsmuster zu sehen, das an konkreten Beispielen überprüft werden muss. Im Falle der frühneuzeitlichen böhmischen Herrschaften ist eine eindeutige Rollenzuweisung nur in dem territorialen Sinne dieser Bezeichnung möglich; die Besitzer, Verwalter und Untertanen der einzelnen Herrschaften sind verhältnismäßig einfach auszumachen. Aber schon wenn man über die Machtausübung in den Herrschaftsbezirken nachdenkt, offenbaren sich die Schwierigkeiten. Hier konstitutierte sich das Herrschaftsverhältnis zwar auch auf den Grundlagen der sozialen Zugehörigkeit und der lokal tradierten Rollenvorstellungen von Untertan und Obrigkeit 14 , diese konnten jedoch durch die momentane Kräfteverteilung und situativ bedingtes Taktieren beider Seiten beträchtlich relativiert werden. 15 Selbst das Wort Zur Übertragung von Herrschaft auf die Ebene der Gemeinde oder auch Familie in der Forschung vgl. W. Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: HA 5, 1997, 187-211, hier 195. Max Weber sieht sogar die Herrschaft an sich nur auf die Fälle beschränkt, in denen die Befehlsinhalte durch die Beherrschten verinnerlicht werden („als ob die Beherrschten den Inhalt des Befehls um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns gemacht hätten [•••]")', vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1976, 544. Weiter S. Lukes, Macht und Herrschaft bei Weber, Marx, Foucault, in: J. Matthes, Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt a.M.-New York 1983, 106-119, hier 109-111. Für die böhmischen Verhältnisse trifft die Behauptung D. W. Sabeans, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1990, 37, nicht zu, die Herrschaft habe die Macht besessen, ,.festlegen zu können, wer der Untertan ist". Die Zuweisung des - meist erblichen - Untertanenstatus war dagegen in Böhmen vom Willen der konkreten Obrigkeit grundsätzlich unabhängig, d.h. sie besaß keine Definitionsmacht in diesem Bereich. Zur Vorstellung eines veränderbaren „Kräftefeldes" bei der Herrschaftsausübung vgl. A. Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Sozialanthropologische und historische Studien, Göttingen 1991, 9-63, hier 13. Die Auffassung von Herrschaft [...] als Ergebnis permanenter, auf molekularer Ebene sich abspielender Aushandlungsprozesse" vgl. bei A. Schnyder, „Feine Unterschiede auf dem Dorf'. Zur Analyse der Sozialstruktur der ländlichen Gesellschaft im schweizerischen Kornland des Ancien régime, in: A. Tanner - A.-L. Head-König (Hg.), Die Bauern in der Geschichte der Schweiz. Les Paysans dans l'histoire de la Suisse, Zürich 1992, 159-167, 165. Laut J. Peters, Gutsherrschaftsgeschichte in historisch-anthropologischer Perspektive, in: ders., Gutsherrschaft, 3-21, hier

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Obrigkeit verliert in der komplizierten, durch vielfache bürokratische Übertragungsmechanismen geprägten Realität der böhmischen Herrschaften manchmal klare Konturen. Trotzdem kommen die Bezeichnungen „Herrschaft", „Obrigkeit" und „Gemeinde" auch in denjenigen Quellenaussagen vor, die der Sichtweise der Untertanen relativ nahe stehen. Ohne daraus gleich auf das Verhältnis der „Beherrschten" zur Herrschaft zu schließen, wäre zunächst zu fragen, wie sich diese Institutionen bzw. Personenverbände in den Augen der Untertanen überhaupt darstellten. 16 Die in dieser Arbeit vorgenommene Gegenüberstellung von „Herrschaft" und „Gemeinde" soll auf die ähnliche Bedeutung hinweisen, die sie im Leben der ländlichen Gesellschaft bzw. ihrer Angehörigen besaßen. Erstens können beide Begriffe sowohl für einen Menschenverband als auch für seine institutionalisierte Erscheinungsform stehen. Eine gewisse Ambivalenz von Herrschaft und auch Gemeinde für den Untertanen liegt m.E. darin, dass dieser einerseits als deren Bestandteil gesehen und ihr Fortbestehen durch seine Einbeziehung gewissermaßen gerechtfertigt oder begründet werden kann. Andererseits ist es auch möglich, den Untertan als Objekt der herrschaftlichen und gemeindlichen Einwirkung zu betrachten. Dass Herrschaft und Gemeinde in enger Verknüpfung untersucht werden müssen, ergibt sich aus der Tatsache, dass sie einander gerade aus der Perspektive der Dorfbewohner stark beeinflusst haben und deren getrennte Betrachtung daher der historischen Wirklichkeit nicht gerecht würde. 17 Zu berücksichtigen sind auch die Konsequenzen, welche ihre gegenseitige (Unabhängigkeit für die Interpretation der ländlichen Verhältnisse gerade im Böhmen des 17. und 18. Jahrhunderts besitzt. Ein Gleichgewicht zwischen Herrschaft und Gemeinde zu finden erweist sich bereits bei der Fragestellung bzw. Schwerpunktsetzung als schwieriges Unterfangen. Man sollte dabei jedoch versuchen, ihre bloße Gegenüberstellung und die daraus folgenden Konnotationen (Herrschaft als prinzipiell „untertanenfremd", Gemeinde dagegen als „untertaneneigen") zu vermeiden. Eine stärkere Akzentuierung verschiedener Formen von Herrschaft kann sich aus der Überlieferung der Zeugnisse über die frühmoderne ländliche Gesellschaft ergeben - jede Verschriftlichung durch eine sozial höher gestellte Person konnte zugleich eine bestimmte „Verherrschaftlichung" des Zeugnisses bedeuten. 18 Der Versuch, die Wechselseitigkeit des Untertanen-Obrigkeit-Verhältnisses zu rekonstruieren, läuft somit Gefahr, auf den von der Obrigkeit präzisierten Begriff von Herrschaft fixiert zu bleiben. Sein starker Bezug auf die Obrigkeiten darf aber nicht zu der Vermutung führen, dass er der Ausdrucksweise und dem Denken der ländlichen Bevölkerung völlig fremd gewesen sei. In dieser Hinsicht ist u.a. zu

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9, bildet die ostelbische Gutsherrschaft „ein je besonderes Gemisch von sanfter und direkter Gewalt, aber kaum ein eindeutig strukturierbares Kräftefeld'. Der Gewaltcharakter der Herrschaften als eine Vorannahme wäre m.E. zu meiden. Eine ähnliche, allerdings stärker auf die Akzeptanz der Herrschaft durch die Untertanen ausgerichtete Fragestellung schlug bereits 1981 W. Schulze, Herrschaft und Widerstand in der Sicht des „gemeinen Mannes" im 16./17. Jahrhundert, in: H. Mommsen - W. Schulze (Hg.), Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981, 182-198, hier 186, vor. Sabean, Schwert, 41, stellt fest: „Gemeinschaft ist eine Sache von Vermittlungen und Reziprozitäten und kann nicht losgelöst von der Herrschaft betrachtet werden." Dazu mit Blick auf die Herrschaftsverhältnisse Sabean, Schwert, 12, ,^4lle Quellen, die uns zur Erforschung der bäuerlichen Kultur vorliegen, stehen in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit Personen, die ein gewisses Maß an Herrschaft über die Bauern ausübten."

fragen, welche Formen die unzweifelhafte Zugehörigkeit eines Untertanen zu „seiner" Herrschaft annehmen konnte. In Gebieten mit ausgeprägter ständischer Verfassung, die den direkten Zugriff des vormodernen Staates auf seine Einwohner bis ins 18. Jahrhundert verhinderte, konnte die lokale Herrschaft durchaus als eines der Identifizierungsobjekte der Untertanen fungieren, wobei Identifizierung hier nicht Zustimmung oder bedingungslose Hinnahme bedeuten soll. Das Verhältnis zwischen dem frühneuzeitlichen Landbewohner und der Herrschaft lässt sich aber mit den zeitgenössischen theoretischen Konstruktionen der Untertänigkeit bzw. Leibeigenschaft weder gleichsetzen noch völlig erklären. Darüber hinaus ist die Gemeinde in ihren auf das Dorf gerichteten Funktionen nur vorwiegend über die Quellen fassbar, die für die Obrigkeit bestimmt waren. Es wäre jedoch falsch, aufgrund des gerade im 16. und 17. Jahrhunderts stärker auftretenden Anspruchs, die Gemeinde zur Erfüllung herrschaftlicher Aufgaben heranzuziehen, geradlinig auf eine fortschreitende Beschneidung der dörflichen Autonomie zu schließen. Sicherlich veränderte sich die Funktionsweise der ländlichen Gemeinde in Böhmen im Laufe der frühen Neuzeit, doch sollte gerade diese und nicht primär die obrigkeitliche Normierung zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht werden. Trotz der herrschaftlichen Provenienz oder Bestimmung ermöglichen die Quellen eine solche Vorgehensweise. Es zeigt sich vorläufig, dass die böhmische Landgemeinde, deren Bedeutung im 17. und 18. Jahrhundert allzu oft verkannt wurde, eine z.T. formalisierte Institution verkörperte. Sie bzw. ihre gleichzeitig im herrschaftlichen Auftrag agierenden Repräsentanten beanspruchten im Dorf eine Autorität, mit der sich die Bauern auseinandersetzen mussten. Will man die Handlungsfreiräume der einzelnen Untertanen sowie der unterschiedlichen dörflichen Gruppierungen nicht nur a priori postulieren, gelingt es aufgrund der Quellenüberlieferung nicht immer, auf eine Stufe unter der mehr oder weniger offiziellen gemeindlichen Ebene herabzusteigen; eine der wenigen Möglichkeit bieten dazu die innerdörflichen Konflikte. In ihrer Eigenschaft einer dem Untertan externen, auf seiner Partizipation jedoch basierenden und in den ländlichen Alltag eingreifenden Institution zeigt sich die Gemeinde der Herrschaft funktionell durchaus vergleichbar. 19 Wenn in die Analyse noch eine dritte, auf dem frühneuzeitlichen Land ebenfalls dauerhaft präsente Institution einbezogen wurde, nämlich die Kirche, bedeutet das nicht, dass ihr dadurch der gleiche Stellenwert in der ländlichen Gesellschaft eingeräumt werden soll wie etwa der Herrschaft. Die Kirche funktionierte auf dem Lande allerdings nicht ausschließlich als eine glaubensvermittelnde Anstalt, ihre Anwesenheit dort hatte durchaus auch „weltliche" Züge wie Erhebung von Abgaben oder sogar Besitz von Land und Leuten. Was ihren Zugriff auf die Gläubigen/Untertanen angeht, so könnte hier eine gewisse Ähnlichkeit mit dem frühneuzeitlichen Staat gesehen werden, der im Dorf ebenfalls in vielerlei Hinsicht durch die Lokalobrigkeit vertreten wurde. Doch sollen nicht die Ähnlichkeiten, sondern v.a. die unterschiedliche Wahrnehmung der einzelnen Institutionen, darunter auch der Kirche, durch die Untertanen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. In den vielfaltigen Begegnungen mit den Kirchenrepräsentanten spielten sowohl der (pfarr)gemeindliche Zusammenschluss der 19

Vgl. dazu auch T. Winkelbauer, Robot und Steuer. Die Untertanen der Waldviertler Grundherrschaften GfÖhl und Altpölla zwischen feudaler Herrschaft und absolutistischem Staat (vom 16. Jahrhundert bis zum Vormärz), Wien 1986, 75-84.

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Bauern als auch deren Zugehörigkeit zur Herrschaft oft eine wichtige Rolle. Der Pfarrer schien mit seiner Tätigkeit in die herrschaftlichen Strukturen eingebunden gewesen zu sein, ohne dass er von Seiten der Herrschaft einfach ausgenutzt worden wäre. Die katholische Kirche in Böhmen erhöhte zwar einerseits während der seit dem späten 16. Jahrhundert einsetzenden und dann v.a. nach 1620 - 1627 voll entwickelten Rekatholisierung ihre Präsenz und Aktivität auch in den ländlichen Gebieten, war aber andererseits in wachsendem Maße auf die Zusammenarbeit zuerst mit den Lokalobrigkeiten und seit dem 18. Jahrhundert mit dem absolutistischen Staat angewiesen. Eine gewisse Abhängigkeit zeichnete sich auch zwischen Pfarrer und Gemeinde ab, sah sich doch der Erstere oft mit den Gemeindevertretern und ihren Forderungen konfrontiert. Die Kirche stellt letztlich eine Institution dar, die in ihrer Mission im ländlichen Milieu zwar auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, die aber im Unterschied zur Herrschaft über wenige eigene Mittel zur Verhaltensregulierung verfügte. Die Wahl von Kirche bzw. Kirchengemeinde, Herrschaft und Gemeinde zum Untersuchungsgegenstand geht nicht vordergründig von ihrer angenommenen Dominanz im ländlichen Milieu aus. Wichtiger ist ihr bereits angesprochener Doppelcharakter: aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen schlössen sie die Untertanen ein, zugleich hoben sie sich in ihrer institutionalisierten Form von den „Mitgliedern" deutlich ab20 und konnten so ein Objekt von deren Handeln und Denken werden. Die Perspektive dreht sich damit gewissermaßen um: nicht die Einwirkung von außen, sondern die Wahrnehmungen und Verhaltensweisen der Untertanen in Bezug auf diese drei Sozialgebilde bzw. die einzelnen Untertanen als handelnden Subjekte sollen erforscht werden. Die Untersuchung ist räumlich in der südböhmischen Herrschaft Krumau/Cesky Krumlov angesiedelt, die den Angaben aus dem 19. Jahrhundert zufolge mit über 200 Dörfern überhaupt das größte Dominium Böhmens war.21 Für die Fragestellung der Arbeit ist nicht dieser Umstand, sondern die Tatsache von Bedeutung, dass die vielschichtige Herrschaftsverwaltung v.a. für das 17. und 18. Jahrhundert eine ungewöhnlich dichte Überlieferung hinterließ, die bei kleineren Gebietseinheiten in der Regel fehlt. Trotzdem wird das Herrschaftsgebiet mit den in Frage kommenden Quellen nicht gleichmäßig abgedeckt. Eine ausschließliche Konzentrierung auf kleinere Räume und Gemeinschaften (Dorf, Nachbarschaft, Familie), die sich für die angestrebte Analyse anbieten würde, übersieht m.E. die starke, allerdings als wertneutral zu betrachtende Prägung, die die herrschaftliche Organisation dem Leben einer ländlichen Gesellschaft verlieh. Es sollte ebenfalls nicht übergangen werden, dass die meisten Quellen in der Auseinandersetzung mit dem einheitlichen herrschaftlichen Einfluss entstanden. Schließlich fehlen auch in dem Krumauer Bestand für eine komplette mikrohistorische Rekonstruktion oft die Unterlagen, so dass die Teilerkenntnisse aus verschiedenen, freilich oft unzusammenhängenden Fällen gezogen werden müssen. Es schien sinnvoll, der Behandlung bäuerlicher Verhaltensweisen eine Darstellung dieses herrschaftlichen „Hintergrunds" voranzustellen, zumal sie für die Krumauer Herrschaft in der 20

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Diese Stellung verursacht auch begriffliche Schwierigkeiten: bei der Gemeinde tritt beispielsweise ihre Eigenschaft als Zusammenschluss von Bauern, bei der Herrschaft dagegen ihre institutionalisierte Seite mehr in den Vordergrund. Die Bezeichnungen „Institution" bzw. „Personenverband" beanspruchen deswegen weder Genauigkeit noch allgemeine Gültigkeit. J. G. Sommer, Das Königreich Böhmen; statistisch-topographisch dargestellt, 9. Budweiser Kreis, Prag 1841,212.

bisherigen Forschung noch nicht vorgenommen wurde. Dazu zählen neben der geographischen und demographischen Beschaffenheit der Region die rechtliche Stellung der Untertanen, darunter besonders die Erbpraxis, der obrigkeitliche Anspruch an die Person des Untertanen, die bäuerlichen Verpflichtungen wie Zins, Fron und Steuer, die Gerichtsbarkeit und schließlich die kurzfristig angelegte obrigkeitliche Regulierung des Untertanenlebens. Eine sicherlich lohnende wirtschaftliche und soziale Charakteristik der Herrschaft geht über den Rahmen der Arbeit hinaus 22 , die Sekundärliteratur bietet hier leider nur bruchstückhafte Informationen. Bei der Schilderung der herrschaftlichen Strukturen wird in erster Linie der obrigkeitliche Anspruch nachgezeichnet, seine oft abweichende praktische Umsetzung konnte in diesem Kapitel nur kursorisch aufgezeigt werden. Der nächste Teil ist den Mechanismen gewidmet, die eben für diese Umsetzung sorgen sollten - der herrschaftlichen Verwaltung. Sie war aber nicht nur der exakt funktionierende Übertragungsapparat für Befehle und Forderungen; in den weitläufigen Besitztümern der Krumauer Herren repräsentierte sie (auch bei öffentlichen Anlässen) die herrschaftliche Macht und besaß umfangreiche Kompetenzen. Bei der Interpretation des UntertanenObrigkeit-Verhältnisses kommt den örtlichen Amtsträgern eine Schlüsselrolle zu, denn ihre Tätigkeit bildete einen wichtigen Bestandteil der Herrschaftspraxis. Ihre Position lässt sich aber aus den obrigkeitlichen Normen nicht erklären, deswegen ist es notwendig, auch deren Einbindung in das Dorf unter Heranziehung von konkreten Auseinandersetzungen mit den Bauern zu hinterfragen. Mit Blick auf diese aus dem bäuerlichen Milieu stammenden örtlichen Amtsträger relativiert sich einigermaßen auch die scheinbar strenge und unveränderbare Trennlinie zwischen Obrigkeit und Untertanen. Die vorliegende Untersuchung stützt sich vorzugsweise auf solche Quellen, in denen das Verhalten der Untertanen der Herrschaft, der Gemeinde und der Kirche bzw. genauer deren Repräsentanten oder Mitgliedern gegenüber möglichst explizit zur Sprache kommt. Dass es sich dabei allgemein um solche Schriftstücke handelt, die aus dem Aufeinandertreffen der Normen der jeweiligen Gemeinschaften einer- und des Verhaltens ihrer Angehörigen andererseits entstanden waren, ist in der Geschichtsforschung eine längst bekannte, vielfach analysierte und akzeptierte Tatsache. 23 Zu diesen Quellengattungen gehören in erster Linie die sog. Justizquellen. Diese Bezeichnung trifft für die Krumauer Herrschaft in der frühen

Auf die Gefahr, die materiellen Bedingungen des vormodernen ländlichen Lebens aus dem bürgerlich geprägten Verständnis heraus erklären zu wollen, weist u.a. Beck, Unterfinning, 18-19, hin. Aus den mittlerweile zahlreichen Studien zum Verhältnis des „Außergewöhnlichen" und des „Normalen" vgl. C. Ginzburg, Beweise und Möglichkeiten. Randbemerkungen zur Wahrhaftigen Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, in: N. Z. Davis, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Frankfurt a.M. 1989, 185-217, hier 190-191. Zum „normalen Ausnahmefall" näher H. Medick, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität, Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, 94-109, hier 101-102. Weiter vgl. auch H. Wunder, Das Dorf um 1600 der primäre Lebenszusammenhang der ländlichen Gesellschaft, in: W. Brückner - P. Blickle - D. Breuer (Hg.), Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Wiesbaden 1985, 69-87, 74: „Gerade sanktioniertes Verhalten, das durch Bußen für Gemeinde, Herrschaft und Kirche gut dokumentiert ist, erlaubt Einblicke in die Konfliktbereiche zwischen Herrschaft und Dorf, Stadt und Land sowie in die unterschiedlichen Auffassungen über Werte und Normen der beteiligten Personen und Gruppen."

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Neuzeit allerdings nur insoweit zu, als sie Produkte der lokalherrschaftlichen Justiz mit allen ihren Besonderheiten waren. Die Verfolgung (und zum größten Teil auch die Bestrafung) der als abweichend erkannten Handlungen oblag der Krumauer Obrigkeit, einer Institution, die nicht nur gerichtliche, sondern auch viele andere Gewalten über die Person des (potentiellen) „Delinquenten" besaß. 24 Bestimmte Teilbereiche wie z.B. religiöse Vergehen und Verfolgung von Zigeunern ebenso wie die endgültige Beurteilung von schwerwiegenden Delikten waren in Böhmen der kirchlichen oder staatlichen Zentralmacht vorbehalten. Ein Teil der niedrigen, die „freiwillige" 25 Gerichtsbarkeit verblieb im Gegenteil auch im 17. und 18. Jahrhundert offenbar bei den von Bauernvertretern besetzten Dorfgerichten. Die „Justizquellen" zusammen mit den begleitenden Schriftstücken (Korrespondenz, Berichte, Gutachten und Stellungnahmen) wurden größtenteils nicht von einem spezialisierten Gerichtsorgan produziert und können nicht in einen modern aufgefassten gerichtlichen Kontext gestellt werden. Vielmehr sind sie als ein Teil des umfassenden Quellenkorpus zu sehen, das der gegenseitigen Einflussnahme verschiedener Angehöriger der untersuchten ländlichen Gesellschaft seine Entstehung verdankt. Bei deren Erforschung müssen die Entstehungsumstände genau berücksichtigt werden 26 , was aber nicht heißen soll, dass beispielsweise die Aussagen der Verhörprotokolle bereits im voraus als Ergebnis einer prinzipiell ungleichen „Übermächtigung" gesehen werden sollten. Sicherlich konnten die Beschuldigten je nach Vergehen und drohender Strafe einem starken, sich jedoch nicht immer nach außen manifestierenden psychischen Druck ausgesetzt werden. Die häufige Konfrontation mit der obrigkeitlichen Gerichtsbarkeit hatte aber wahrscheinlich die Herausbildung von Verteidigungs- und Ausweichtaktiken zur Folge. Unwahrhafte Aussagen und falsche Beschuldigungen waren bei den Verhören keine Seltenheit. Ihre Instrumentalisierung für unterschiedliche Zwecke (Freilassung, Ablenkung der Aufmerksamkeit) muss daher stets mitbedacht werden. Wie die ausnahmsweise erhaltenen Schreibernotizen ahnen lassen, wird die Reinschrift der Protokolle dem Wortlaut der mündlich abgegebenen Aussagen nicht entsprochen haben. Dabei geht es nicht nur um den bloßen Unterschied zwischen Dialekt und Hochsprache. Die Notwendigkeit, vor Gericht manchmal auch lange zurückliegende Ereignisse in Worte zu fassen, mag zu bestimmten Verzerrungen und Umdeutungen des „erinnerten Geschehens" gefuhrt haben.27 24

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Wie W. Troßbach in seinem enzyklopädischen Überblick Bauern 1648-1806, München 1993, 7-15, darlegt, war die sog. Gerichtsherrschaft in den Händen der unmittelbaren Obrigkeit kein ausschließliches Merkmal von Gutsherrschaft, sondern wurde oft (z.B. in den österreichischen Ländern oder in bayerischen Hofmarken) durch den Grundherrn ausgeübt. Den Begriff „freiwillige Gerichtsbarkeit" (im Gegensatz zur „Strafjustiz") vgl. bei H. Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986, 93. Der in Bezug auf Ginzburgs Buch „Der Käse und die Würmer" von D. LaCapra verlangte kritische Umgang mit den Justizakten mündete schließlich nur in die - mittlerweile z.T. erfüllte - Forderung, das gesamte Quellenmaterial zu veröffentlichen; vgl. D. LaCapra, Der Käse und die Würmer. Der Kosmos eines Historikers im 20. Jahrhundert, in: ders., Geschichte und Kritik, Frankfurt a.M. 1987, 38-63, hier 5556. Zur Aussagekraft von Gerichtsakten vgl. u.a. S. Göttsch, Zur Konstruktion schichtenspezifischer Wirklichkeit. Strategien und Taktiken ländlicher Unterschichten vor Gericht, in: B. Böhnisch-Brednick - R.W. Brednick - H. Gerndt (Hg.), Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989, Göttingen 1991, 443-452, hier bes. 450-452. Göttsch sieht im „ Vergessen, Verschweigen und Umdeuten [...] die Strategien, mit denen Untertanen versuchten, diese Diskrepanz [zwischen den eigenen überwiegend mündlichen und den schriftlichen Kommunikationsformen der Obrigkeit, P.H.]

Die Quellenbasis dieser Arbeit beschränkt sich jedoch bei weitem nicht nur auf „Konfliktquellen" im engeren Sinne. Von Bedeutung sind die Dokumente jedes Konflikts (z.B. eines Nachbarschaftsstreites), in dem die Beteiligten ihre Positionen verteidigen und ihre Handlungen erklären mussten. Dazu zählen auch die Auseinandersetzungen der Bauern mit der Obrigkeit bzw. den Beamten, die bei der Argumentation nur selten von einer prinzipiellen Überlegenheit ausgehen konnten. Auch die Amtsleute mussten ihre Schritte im Umgang mit den Untertanen vor dem Besitzer der Herrschaft oder vor einer landesherrlichen Behörde darlegen und gegebenfalls rechtfertigen. Die Überlieferung bietet somit auch einen Blick auf die keineswegs uniformen Einstellungen der „Herrschaftsausübenden" zu den Untertanen. Für das dritte und teilweise auch vierte Kapitel werden darüber hinaus die von der Obrigkeit erlassenen (oder übernommenen) normativen Texte herangezogen. Zusammen mit den im siebten Kapitel ausgewerteten Berichten über die kanonischen Visitationen handelt es sich also um scheinbar heterogene und zufällig zusammengestellte Quellen. Sie sollen jedoch keinem quantifizierenden Verfahren unterworfen werden. Bei deren Auswahl wurde als Hauptkriterium die möglichst dichte Überlieferung der Fälle zugrunde gelegt, in denen sich die Untertanen (oder deren Vertreter) über ihr Verhältnis zur Herrschaft, Gemeinde oder Kirche mehr oder weniger explizit äußerten. Die Äußerungen stehen in enger Verbindung mit dem ebenfalls schriftlich festgehaltenen Verhalten der Untertanen, zu dem sie oft die Begründung oder Erklärung liefern sollten. Diese Verbindung bzw. die Motive des Untertanenhandelns dort zu rekonstruieren, wo sie in den Quellen selbst nicht fassbar sind, heißt, dem Verhalten eine (soziale) Logik zuzuschreiben, die sich der Sichtweise der Untertanen natürlich nur unvollkommen annähern kann. Obwohl in der Arbeit von der These ausgegangen wird, dass die Bauern selbständig und bewusst handelnde Individuen waren, verzichtet die Darstellung oftmals auf Spekulationen über die nicht rekonstruierbaren mentalen Voraussetzungen des Handelns und beschränkt sich nur auf die Beschreibung der Verhaltensweisen anhand der einzelnen Fallbeispiele. Diese werden jedoch nicht auf den Idealtypus „Krumauer Untertan" übertragen und vorerst auch in keinen direkten Zusammenhang mit der herrschaftlichen Einwirkung auf die Landbewohner gestellt.28 Jeder Fall sollte in den Grenzen der Überlieferung zuerst seine Einzigartigkeit und „Kontextbezogenheit" bewahren. Er steht für sich selbst und zeigt (in seiner Nonkonformität) die Verhaltensmöglichkeiten und entsprechenden Reaktionen im Spannungsfeld zwischen Untertanen einer- und Gemeinde, Herrschaft und Kirche andererseits. Trotz der Einbeziehung der drei Gemeinschaften erhebt die Arbeit keinen Totalitätsanspruch, sie will lediglich einzelne Aspekte des vielfaltigen Verhältnisses der Bauern zu ihrer Umwelt beleuchten. In dem Spektrum des zu interpretierenden Verhaltens werden anschließend Parallelen und Muster der möglichen Be-

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auszugleichen". Zum Verhältnis des Hoch- und Niederdeutschen in den Verhören vgl. auch dies., „Alle für einen Mann ...", 288-289. Die Kenntnis der Krumauer Verwaltung, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts vorzugsweise die deutsche Sprache benutzte, lässt aber den Schluss zu, dass selbst in diesem Milieu bis zum Ende des 18. Jahrhundert von einer einheitlichen Sprache bzw. Sprachnorm keine Rede sein kann. Zu Stellenwert und Aussagekraft von Verhörsprotokollen vgl. W. Behringer, Gegenreformation als Generationenkonflikt oder: Verhörsprotokolle und andere administrative Quellen zur Mentalitätsgeschichte, in: Schulze (Hg.), Ego-Dokumente, 275-293, bes. 276-278 und 282-284. So stellt Peters, Gutsherrschaftsgeschichte, 13, die Frage: „Läßt sich eine mit dem Typus der jeweiligen Gutsherrschaftsgesellschaft korrespondierende Verhaltenstypologie herstellen (etwa auf der Skala zwischen forschem Selbstbewußtsein und resignativer Stumpfheit), die erkenntnisfördernde Funktion hätte?".

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einflussung und Übernahme gesucht, es wird danach gefragt, wie die verschiedenen Handlungsstrategien zur Behauptung der bäuerlichen Lebenswelten beitragen konnten. Es soll nicht verschwiegen werden, dass von den drei zu untersuchenden Institutionen das größte Gewicht auf der Herrschaft liegt, und dass sich die Arbeit auf diese Weise mit den Thesen der neueren Geschichtsschreibung über die Einstellung der ländlichen Untertanen zu den frühmodernen Herrschaftsordnungen auseinander zu setzen versucht.29 Es ist nicht Ziel der Untersuchung, eine Grenze zwischen „konformem" und „nonkonformem" Handeln der Untertanen zu ziehen bzw. dieses ein für alle Mal zu definieren. Es sollten vielmehr die sozial bedingten Kriterien für die Bewertung und ggf. Akzeptanz eines bestimmten Verhaltens dargelegt werden. Die beiden Bezeichnungen stehen vielmehr für die Pole, zwischen denen die meisten bäuerlichen Verhaltensweisen gegenüber Institutionen auf dem Lande angesiedelt waren. Im Vordergrund sollen die Modalitäten des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen bzw. der Gemeinde und der institutionalisierten gesellschaftlichen Gruppe stehen. Die im Titel erwähnte „Macht" impliziert folglich die Möglichkeit der Untertanen, dieses Verhältnis aktiv und bewusst mitzugestalten. Als eines der Probleme erweist sich die lückenhafte Überlieferung und die ungleichmäßige Verteilung der Fälle sowohl auf dem Gebiet der Herrschaft als auch im Untersuchungszeitraum. Ebenfalls sind in den angeführten Beispielen nicht alle ländlichen Schichten ausgewogen vertreten. Besonders bei der eventuellen Einordnung der in den Konflikt mit der Obrigkeit geratenen Untertanen in die dörfliche Hierarchie kann sich herausstellen, dass diese Personen den „notorischen" Wort- und Klageführern angehörten oder dass sie im Umgang mit der Herrschaft eine Art „Dorfrepräsentation" darstellten. Daher verbietet es sich, aus ihren Äußerungen geradlinig auf die Einstellungen anderer Dorfbewohner zu schließen. Es wird deswegen auch vom Verhalten der Angehörigen der ländlichen Gesellschaft gesprochen, um unerwünschte (und z.T. auch kaum stichhaltige) Generalisierungen zu vermeiden. Die untersuchten Fälle können grundsätzlich in keine kontinuierliche Chronologie gestellt werden. Die einzige Verbindung zwischen ihnen stellt manchmal nur der obrigkeitliche Verwaltungsapparat bzw. die gleichförmige Normsetzung und -Überwachung seitens der Herrschaft her. Auf Fragen nach dem Wandel der bäuerlichen Verhaltensweisen zwischen 1680 und 1781 wurde nicht nur aufgrund des nicht immer ausreichenden Quellenmaterials verzichtet. Ein solcher Ansatz geht m.E. auch über die Erkenntnismöglichkeiten der hier gewählten Vorgehensweise hinaus und bezieht die aus den Einzelfällen gewonnenen Aussagen in einen ihnen unangemessenen Interpretationskontext ein. Einigermaßen plausibel konnten nur manche Entwicklungen innerhalb des Herrschaftsorganismus selbst (Bürokratisierung, Drang zur Rationalisierung der Wirtschaftsweise, zunehmende staatliche Eingriffe) und Tendenzen in Bezug auf die obrigkeitlichen Regulierungseingriffe nachgezeichnet werden. Der Untersuchungszeitraum ist durch Kriterien bestimmt, die mit der ländlichen Gesellschaft nicht unmittelbar zusammenhängen. Eher als der traditionelle Wendepunkt der frühneuzeitlichen politischen Geschichte Böhmens, die Schlacht am Weißen Berg (1620), hatte der DreiBesonders Ch. Simon, Untertanenverhalten und obrigkeitliche Moralpolitik. Studien zum Verhältnis zwischen Stadt und Land im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Basels, Basel-Frankfurt a.M. 1981, u. a. 4-12 und 79-96. Wunder, Gemeinde, 81-82, betonte die Einseitigkeit der These über die „Herrschaft über Bauern" auch für die ostdeutschen Territorien.

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ßigjährige Krieg langfristige demographische und wirtschaftliche Auswirkungen auf das ländliche Milieu, sei es direkt oder indirekt durch die Steuerbelastung. Es dürfte mindestens bis in die achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts gedauert haben, bis seine Folgen überwunden worden waren. In engem Zusammenhang mit der gleichzeitigen Erneuerung der herrschaftlichen Verwaltung steht (nicht nur) in der Krumauer Gegend die Überlieferung von Quellen - die Akten sind im größeren Umfang erst aus der Zeit nach 1680 erhalten. Das Jahr 1680 ist in der böhmischen Geschichte ein wichtiges Datum auch in bezug auf das Verhältnis des Staates zu den ländlichen Untertanen. Nach Bauernaufständen wurde damals ein Robotpatent erlassen, das von der Absicht geleitet wurde, die Beziehungen zwischen Obrigkeiten und Untertanen (Frondienste, Beschwerdeverfahren) erstmals der staatlichen Regulierung zu unterstellen. 30 Das Interesse der Staatsmacht am „einfachen Mann" wurde seitdem immer stärker und erreichte einen Höhepunkt unter der Regierung Maria Theresias und ihres Sohnes Joseph II. Der letztgenannte aufgeklärte Monarch veranlasste 1781 nach vorhergehenden wirtschaftlichen Reformen die Aufhebung der Leibeigenschaft in Böhmen und Mähren. 31 Ungeachtet der Fragen, ob diese Maßnahme eine sofortige Wirkung zeigte und wie sie von den Untertanen selbst aufgenommen wurde, kann man davon ausgehen, dass in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts mehrere tiefgreifende Veränderungen der untertanenobrigkeitlichen Relation konkrete Gestalt annahmen. Als ein stellvertretendes, diesen Wandel markierendes Datum wird das Jahr 1781 auch für die zeitliche Abgrenzung der vorliegenden Untersuchung angewandt. 32 Aus der bisher skizzierten Problemstellung ist die Schwierigkeit deutlich geworden, eine prinzipiell getrennte Betrachtung der Untertanen einer- und der Herrschaft andererseits durchzuführen. Bereits der m.E. treffendste Begriff „(ländliche) Untertanen" weist auf ihr Unterworfensein hin.33 Der aus heutiger Sicht starke Einfluss, den die böhmischen Herrschaften auf ihre Angehörigen in der frühen Neuzeit ausübten bzw. auszuüben beanspruchten, soll nicht in Abrede gestellt, sondern im Gegenteil sowohl in seiner normativen als auch dynamischen Form untersucht werden. Doch es wird gleichzeitig versucht, den auf den patrimonialen Quellen und auf der historiographischen Tradition beruhenden Eindruck zu 30

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Den deutschen Wortlaut des Patents vgl. bei J. Kalousek (Hg ), Râdy selské a instrukce hospodâfské 16271698 [Die Bauemordnungen und Wirtschaftsinstruktionen 1627-1698], Praha 1906 (AÊ 23), 485-490. Die neueste Bewertung des Patents siehe bei Mikulec, Poddanskâ otâzka, 32-34, 51-54. Die deutsche und tschechische Version des Patents vgl. bei Kalousek (Hg.), Râdy selské a instrukce hospodâfské 1781-1850 [Die Bauemordnungen und Wirtschaftsinstruktionen 1781-1850], Praha 1910 (AC 25), 25-28. Zu den zunehmenden Eingriffen des Staates in das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen nach 1781 vgl. auch J. Macek - V. Zâiek, Krajskâ sprâva v ieskych zemich a jeji archivni fondy (1605-1868) [Die Kreis Verwaltung in den böhmischen Ländern und ihre Archivbestände (16051868)], Praha 1958,23-25. In der Krumauer Herrschaft kommt noch der Umstand hinzu, dass die gesamten Bestände nachträglich in eine ältere und eine neuere Abteilung (Stichjahr 1784) geteilt wurden. Dazu vgl. J. Zâloha, Nëkolik poznâmek ke vzniku a zâsadâm porâdaciho systému velkostatkovych fondû schwarzenberské provenience [Einige Bemerkungen zur Entstehung und zu den Prinzipien des Ordnungsystems von herrschaftlichen Beständen schwarzenbergischer Provenienz], in: SAP 26, 1976, 341-366 und J. Hanesch, Poznâmky k schwarzenberské archivni reformé na panstvi orlickém [Anmerkungen zur schwarzenbergischen Archivreform auf der Herrschaft Orlik], in: AT 1976, 88-99, hier 95-97. In der vorliegenden Arbeit finden die Bezeichnungen „(ländliche) Untertanen", „Landbewohner", „Landleute", „Bauern" bzw. „Angehörige der ländlichen Gesellschaft" trotz der unumstrittenen Bedeutungsunterschiede aus stilistischen Gründen häufig als Synonyme Verwendung.

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überwinden, die Herrschaft sei etwas Stabiles, eindeutig Fassbares, Konstantes oder gar „Objektives", die Menschen dagegen etwas Variables und nur sehr schwer zu Verallgemeinerndes gewesen. Die Herrschaft tritt nicht nur klarer konturiert in den Vordergrund, sie wird auch als ein einheitliches, vielleicht nicht bewusst und gezielt angelegtes (sondern selbst für die „Herrschenden" überliefertes 34 ), schon aber bewusst und gezielt verwaltetes und gesteuertes Sozialgebilde dargestellt. Wenn ihr die Untertanen bzw. ihre Gemeinschaften aus methodisch bedingten Gründen gegenübergestellt werden, soll man daraus allerdings weder auf ihre Abhängigkeit noch auf ihren Gegensatz schließen. Die Annahme, die ausgeübte Herrschaft bzw. die dauerhafte Einflussnahme hätten die ländliche Gesellschaft eines Gebiets (einheitlich) geprägt, (so dass sogar über die Gutsherrschaftsgesellschaften gesprochen wird 35 ), präferiert m.E. einen Strang des vielfaltigen Beziehungsgeflechts zwischen Personen, ihren Gruppen und Institutionen. Diese Perspektive, die die kleinen Einheiten in größere Ordnungen zu bringen und diese zur Interpretationsgrundlage, zum Ausgangspunkt einer „objektiven" Betrachtung zu machen versucht, soll hier erstmals in Frage gestellt werden. Darauf deutet auch das Fragezeichen im Titel dieser Einleitung hin. Es würde sich zwar anbieten, die Krumauer Herrschaft, die nicht nur in der frühen Neuzeit, sondern auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Grenze zweier agrarhistorischer, gesellschaftlicher und schließlich auch historiographischer Systeme lag, auf die sog. strukturellen Ähnlichkeiten mit den Nachbargebieten zu untersuchen. 36 Doch soll nicht die mehr oder weniger institutionalisierte Herrschaft, sondern die Menschen im Mittelpunkt der Arbeit stehen. Obwohl sie in den Quellen oft nur verzerrt zum Vorschein kommen, beziehen sich alle folgenden Ausfuhrungen in erster Linie auf sie. In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Text nicht als eine agrarhistorische Arbeit im herkömmlichen Sinne, geht es darin doch nicht um die Einordnung des behandelten Raumes in eins der agrarhistorischen Systeme.

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Die Tatsache, dass die Herrschaft eine soziale Ordnung war, die von den „Herrschenden" nicht einfach als Instrument genutzt werden konnte, sondern in die sie sich auch einfügen mussten, bewertet m.E. auch Sabean, Schwert, 32-40, zu gering. Vgl. J. Peters (Hg.), Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, Berlin 1997; edb. 9-13 die Einleitung des Herausgebers: obwohl der Gegensatz zwischen Guts- und Grundherrschaft im Ansatz in Frage gestellt wird, bleibt „Gutsherrschaft" als Gesamtcharakteristikum der ostmitteleuropäischen ländlichen Gesellschaften weiter bestehen. So schlägt H. Wunder, Selbstverständliche, 41, vor, die „Wirtschaftsherrschaft' in den bayerischen Hofmarken mit den Gebieten ostelbischer Gutsherrschaft zu vergleichen.

II. Die (Kulturgeschichte der ländlichen Gesellschaft im frühneuzeitlichen Böhmen aus deutsch-tschechischer Perspektive Die gesellschaftliche Wende von 1989/90 markierte in der damaligen Tschechoslowakei auch einen Wendepunkt in der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts. Die breit gefächerte Forschung 1 sollte nach 1989 allerdings, zumindest was die Anzahl der Titel angeht, einen merklichen Rückgang erfahren. Dieser nach dem Wegfall der Schemata des historischen Materialismus einsetzende Bruch vermag aber nicht zu verwundern; anstelle eines sofortigen Umschreibens der bisher einseitig behandelten Themen fand eine Verschiebung der Interessenschwerpunkte statt. Da nun die Geschichte der ländlichen Bevölkerung in der tschechischen Historiographie vor 1989 zu einem der oktroyiert bevorzugten Themen gehörte, ist es nur begreiflich, dass sich die Frühneuzeithistoriker nach diesem Datum anderen, bisher tabuisierten oder in der Interpretation stark verzerrten Themen wie Adel oder Kirche zuwandten. Die jüngste bzw. aktuelle Geschichtsschreibung kann nicht getrennt von dem gesellschaftlichen Wandel betrachtet werden. Eine umfassende Darstellung der modernen Erforschung der ländlichen Gesellschaft wird hier jedoch nicht angestrebt, vielmehr sollen die für die vorliegende Arbeit interessanten und relevanten Forschungsansätze und die Parallelen in der tschechischen und deutschen/westeuropäischen Geschichtswissenschaft hervorgehoben werden. Für die Zeit nach 1989/90 sollen die forschungsleitenden Aspekte im Bereich der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft und Volkskultur präzisiert werden. Ebenfalls sind die durch den deutsch-tschechischen wissenschaftlichen Kontakt bedingten Einflüsse, Stereotype, aber auch Missverständnisse zu erwähnen. In jeder Geschichtsschreibung nimmt die Erforschung der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaften einen festen Platz ein. Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert entwickelte sich das Interesse der tschechisch und deutsch schreibenden Historiker und Volkskundler in den böhmischen Ländern, die sich mit der ländlichen Bevölkerung beschäftigten, in ähnlicher Weise wie in der in Deutschland entstandenen Historiographie. Es wurden u.a. umfangreiche Editionen der normativen Quellen herausgegeben 2 , die den Umgang mit dieser Problematik für lange Jahrzehnte vorbestimmten. Oft wird noch heute angenommen, die sog. Wirtschaftsinstruktionen spiegelten mehr oder weniger getreu die Verhältnisse in der vormodernen ländlichen Gesellschaft wider. In dieser Auffassung ist ein allgemeinerer charakteristischer Zug zu erkennen - nämlich der Einfluss, den die obrigkeitliche Provenienz der Quellen bis dato auf die Betrachtung der jeweiligen Untertanengesellschaft durch die Historiker/innen ausübt. Indem man sich auf die einseitige (und einheitliche) obrigkeitliche Sicht einlässt, die die

Ein Forschungsüberblick findet sich bei J. Mikulec, Däjiny venkovskeho poddaneho lidu v 17. a 18. stoleti a Ceskä historiografie poslednlch dvaceti let [Die Geschichte der ländlichen Untertanen und die tschechische Geschichtsschreibung der letzten zwanzig Jahre], in: CÖH 88, 1990, 119-130. J. Kalousek (Hg.), Rädy selske a instrukce hospodäfske [Die Bauernordnungen und Wirtschaftsinstruktionen] (1350-1626, 1627-1698, 1698-1780, 1781-1850, 1388-1779), Praha 1905, 1906, 1908, 1910 und 1913 (AC 22-25 und 29). Auf diesen Quellen basiert auch die Darstellung von V. Cemy, Hospodäfske instrukce. Prehled zemSdälskych dgjin v dobä patrimonijniho velkostatku v XV.-XIX. stoleti [Wirtschaftsinstruktionen. Übersicht der Landwirtschaftsgeschichte in der Zeit des patrimonialen Großgrundbesitzes im XV.-XIX. Jahrhundert], Praha 1930.

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mannigfaltige Realität des frühneuzeitlichen Dorfes ersetzt, wird die Konstruktion von gesamtgesellschaftlichen Modellen wie etwa Sozialdisziplinierung deutlich erleichtert.3 Diese Perspektive „von oben" wird heutzutage in der tschechischen Frühneuzeitforschung noch durch die z.T. übermäßige Aufmerksamkeit gestärkt, die den historischen Obrigkeiten, in erster Linie dem Adel, zukommt. Die um die Jahrhundertwende aufgekommene tschechische Kulturgeschichte, die mit den Namen Cenek Zibrt und Zikmund Winter verbunden ist, legte nur wenige theoretische (und daher als Anknüpfungspunkt geeignete) Arbeiten vor und beschränkte sich auf das Sammeln und Kategorisieren von kulturhistorischen Fakten. Im Vergleich zum städtischen Milieu war in den synthetischen Arbeiten das frühneuzeitliche Land eher bescheiden vertreten. Nicht nur die Diskrepanz zwischen dem theoretischen Anspruch und der eher beschreibenden und in Anhäufung von Einzelheiten verharrenden Praxis brachte diese Forschungsrichtung in eine Sackgasse. Sie stieß auf Missverständnis oder gar Ablehnung bei den führenden Vertretern der positivistisch geprägten sog. Goll-Schule, die auch die wichtigsten Positionen in der wissenschaftlichen Hierarchie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts innehatten.4 Die von C. Zibrt mitherausgegebene Zeitschrift Cesky lid, die anfangs viele kulturhistorische Beiträge veröffentlichte, wurde im Laufe der Zeit zu einem rein volkskundlichen Periodikum. Damit wurde auch die bis heute wirkende Tradition mitbegründet, die die Kultur der ländlichen Gesellschaften bestenfalls als Produktion von Artefakten auffasst und deren Erforschung der Volkskunde zuordnet. Der tschechischen Kulturgeschichte der Jahrhundertwende haftet immer noch der Ruf der Kuriositätensammlerei an und sie findet in ihren, wenn auch nicht zahlreichen, theoretischen Ansätzen oder thematischen Schwerpunkten keine Beachtung. Die (Wissenschafits)Geschichte in den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert liefert einen Beleg dafür, dass auch eine Disziplin wie die Volkskunde sich dem gesellschaftlichen Einfluss nicht entziehen konnte. Nicht nur bei der Untersuchung eines Gebietes, das in der frühen Neuzeit von der deutschsprachigen Bevölkerung besiedelt war (wie es bei der Krumauer Herrschaft der Fall war), sind die Ergebnisse der deutschen Geschichtsschreibung und Volkskunde aus dem letztem Drittel des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zu umgehen. Eine konsequente Trennung der beiden Fächer (besonders auf der Ebene der regionalen Forschung) sowie der Wissenschaft von den dahinter stehenden (politischen)

Beispielhaft für diesen Zugang: T. Winkelbauer, Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung durch Grundherren in den österreichischen und böhmischen Ländern im 16. und 17. Jahrhundert, in: ZHF 19, 1992, 317-339, bes. 327-335. Die starke Akzentuierung der normativen Quellen bei J. Pänek, Polizey und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Böhmen und Mähren, in: M. Stolleis (Hg.), Policey im Europa der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1996, 317-331, bes. 326-328, ergibt sich bereits aus dem rechts- bzw. normengeschichtlichen Ansatz. Der Hinweis Päneks, ,stn sich bieten diese Quellen kaum eine genügende Vorstellung über die Wirkung und Realisierung solcher Vorschriften", der sich auf die Verfolgung der Roma bezieht, lässt sich problemlos auch auf andere frühneuzeitliche Normen übertragen. Aus den nichttschechischen Arbeiten zur Goll-Schule vgl. die kurze Darstellung bei R. G. Plaschka, Von Palacky bis Pekaf. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen, Graz-Köln 1955, 67-69. Aus tschechischer Sicht bleibt zu Göll und seinen Schülern bis heute grundlegend: F. Kutnar - J. Marek, Prehledne däjiny ceskeho a slovenskeho däjepisectvi. Od poiätkü närodni kultury az do sklonku tricätych let 20. stoleti [Übersichtsgeschichte der böhmischen und slowakischen Geschichtsschreibung. Von den Anfängen der Nationalkultur bis zum Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts], Praha 2 1997 (Erstausgabe 1973, 1978), u.a. 486-489.

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Interessen lässt sich nicht immer durchführen. 5 Die deutsche Geschichtsschreibung legte in erster Linie eine Reihe von bis heute unverzichtbaren, weil dicht an den Quellen angelegten Regionalstudien vor, die größtenteils in der Zeitschrift „Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen" publiziert wurden. Unter den Autoren sind sowohl professionelle Historiker und Archivare als auch Juristen und Lehrer vertreten. Die liberale Ausrichtung der Vereinsvertreter (z. B. L. Schlesinger), die gerade dem Zeitalter nach 1620 kritisch gegenüberstanden und dieses in ihren Darstellungen entsprechend kurz behandelten, überdeckte nicht die Betonung von nationalen Unterschieden im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Böhmen; die politische Gesinnung ging mit der nationalen Sicht der Geschichte oft Hand in Hand. 6 Besonders für die deutsche Volkskunde im Böhmen dieser Zeit trifft zu, dass die Grenze zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Ausrichtung auf das zeitgenössische Publikum manchmal verschwimmt. Ein vom Universitätsdozenten Adolf Hauffen in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts angeregtes und geleitetes Unternehmen strebte die Erfassung der Volksüberlieferung aus den deutschsprachigen Gebieten Böhmens an.7 Die z.T. unsystematische Arbeit und das unterschiedliche Niveau der einzelnen Beiträge erschweren allerdings die Nutzung des in seiner Gesamtheit interessanten Materials. Durch die Betonung der historischen und kulturellen Eigenständigkeit der untersuchten deutschsprachigen Regionen orientierten sich viele dieser Arbeiten besonders nach 1918 ausdrücklich an den nationalen Debatten. 8 Die mehr oder weniger national geprägte Sicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint zur getrennten Betrachtung der deutschen und der tschechischen Teile Böhmens auch

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Dazu besonders M. Neumüller, Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen. Ein deutschliberaler Verein (von der Gründung bis zur Jahrhundertwende), in: F. Seibt (Hg.), Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern, München 1986, 179-208, hier 183 und 198 (zum Interesse des Vereines an volkskundlicher Überlieferung). Zur deutschen Geschichtsschreibung in Böhmen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus tschechischer Sicht vgl. Kutnar - Marek, Prehledne dijiny, 349-358, 657-670 und 953-969. Eine kritische Betrachtung der deutschböhmischen Historiographie bleibt jedoch bis heute aus. Neumüller, Verein, 205-208, beschäftigt sich mit Schlesingers „Geschichte Böhmens" und betont, der Verfasser sei von der sudetendeutschen Geschichtsauffassung weit entfernt gewesen. Zu Schlesingers Sichtweise der bäuerlichen Verhältnisse im spätmittelalterlichen Böhmen vgl. seinen hier noch später heranzuziehenden Aufsatz L. Schlesinger, Deutschböhmische Dorfweisthümer, in: MVGDB 15, 1877, 169197, hier 174: „Die tschechischen Bauern schwelgten eine Zeit lang [während der Hussitenkriege, P.H.] in einer schrankenlosen Freiheit communistischen Anstriches, verloren aber eindeutig jedwede Standesautonomie, deren Trümmer denn auch das alte wohlerworbene „deutsche Recht" begruben. Aus dem ungebundenen Sozialismus der Taboriten und Waisen heraus wuchs der starrste Feudalismus und die drückendste Leibeigenschaft [...]". A. Hauffen (1863-1930), nach Studien in Wien, Leipzig, Berlin und Graz seit 1889/90 Privatdozent fiir deutsche Sprache und Literatur an der deutschen Universität in Prag. Vgl. ders., Einfuhrung in die deutschböhmische Volkskunde nebst einer Bibliographie, Prag 1896, und G. Jungbauer - A. Hauffen, Bibliographie der deutschen Volkskunde in Böhmen, Reichenberg 1931. Zu Hauffens Tätigkeit sowie zur Volkskunde als Fach an der deutschen und der tschechischen Universität in Prag vgl. G. R. Schroubek, Isolation statt Kommunikation. Forschungsinteressen der deutschen und der tschechischen Universitäts-Volkskunde in Prag, in: F. Seibt (Hg.), Die Teilung der Prager Universität 1882 und die intellektuelle Desintegration in den böhmischen Ländern, München 1982, 127-146, bes. 131-132 und 139-145. Zu Hauffens Person vgl. auch H. Sturm (Hg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 1, MünchenWien 1979, 551. Das betrifft nicht nur die Volkskunde, sondern auch manche der historischen Arbeiten; vgl. u.a. E. Strauß, Bauemelend und Bauernaufstände in den Sudetenländem, Prag 1929, bes. 133.

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in der frühen Neuzeit beigetragen zu haben. Die heutige Forschung über die böhmischen Länder, die sich mit den deutschsprachigen Gebieten befassen will, sieht sich so mit einer Fülle deutscher heimatkundlicher Literatur konfrontiert, die in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts entstand und in ihrer Vorgehensweise z.T. gerade an die volkskundliche Tradition anknüpft. Obwohl diese Literatur auch wichtige und sonst nicht zu findende Informationen enthält, trägt sie den elemenatersten Anforderungen an Wissenschaftlichkeit nicht Rechnung, da der Ursprung und Wortlaut der herangezogenen Quellen oft nicht nachvollziehbar sind. Aus diesem Grund wird sie hier bis auf wenige Ausnahmen nicht berücksichtigt. Einen anderen Forschungsstrang bildet die streng historische Behandlung der böhmischen Länder durch deutsche Historiker, die zwar mit den Arbeiten K. Bosls und J. K. Hoenschs Synthesen vorlegten 9 , sich jedoch speziell mit der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft nur am Rande befassten. Das Werk Karl Grünbergs, das gewissermaßen an den Anfang der modernen (nicht nur deutschsprachigen) Erforschung der bäuerlichen Schichten Böhmens gestellt werden kann 10 , fand keine Nachfolger. Der bleibende Wert dieser Studie liegt nicht so sehr in ihrem eigentlichen Anliegen, nämlich in der Schilderung der staatlichen Eingriffe in die bäuerlichen Verhältnisse." Obwohl Grünberg dafür vorwiegend die Akten der Zentralbehörden auswertete, gelang es ihm, das Besondere der böhmischen Herrschaften in der frühen Neuzeit, nämlich deren weitgehende Unabhängigkeit vom Staat bzw. dem Landesftirsten, herauszustellen. 12 Grünbergs übersichtliche (und daher vereinfachende) Darstellung des Untertanenstatus, darunter besonders der rechtlichen Stellung13 bietet indes einen geeigneten Ausgangspunkt zur Analyse der einzelnen Herrschaften. Deren mangelnder Kenntnis und der Beschränkung auf die Landesgesetze und -anordnungen ist es zuzuschreiben, dass der Autor in seinem Werk sogar die Existenz der Leibeigenschaft in den böhmischen Ländern in Frage stellte. Die Formen der Bindung von Untertanen an die Herrschaften sind später zu einem bevorzugten Thema der tschechischen Geschichtsschreibung geworden, die sich u.a. auch mit den Thesen Grünbergs kritisch auseinandersetzte.14 K. BosI (Hg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, für die frühe Neuzeit bes. Bd. 2, Die böhmischen Länder von der Hochblüte der Ständeherrschaft bis zum Erwachen eines modernen Nationalbewußtseins, Stuttgart 1974 (das Zeitlater 1471-1740 bearbeitete K. Richter, das Zeitalter 1740-1848 G. Hanke); J. K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1992. K. Grünberg, Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien, bes. Bd. 1, Leipzig 1894. Den bei Grünberg besonders betonten Schutz der Bauern als nur eine Facette der staatlichen Haltung unterstrich E. Maur, Poddanská politika pobélohorského absolutismu v Cechách [Die Politik gegenüber den Untertanen in Böhmen in der Epoche nach der Schlacht auf dem Weißen Berge], in: AUC Phil, et Hist. 3, 1989 (Studia histórica 36), 87-99, hier 87. Grünberg, Bauernbefreiung, 406. Mit den Thesen Grünbergs setzte sich u.a. M. Smerda, Postavení poddanych ve stfedni Evropé v obdobi pozdního feudalismu se zfetelem k jejich právním vztahüm k púdé, zvláSté ve Slezsku [Die Stellung der Untertanen in Mitteleuropa in der Zeit des Spätfeudalismus mit Hinsicht auf ihre rechtlichen Beziehungen zum Boden, besonders in Schlesien], in: SHS 4, 1961, 263-322, bes. 306-307, kritisch auseinander. Zur Rezeption von Grünbergs Ansichten in der tschechischen Geschichtsschreibung vgl. auch J. Ko£i, Patent o zruäeni nevolnictví v öeskych zemich [Das Patent über Aufhebung der Leibeigenschaft in den böhmischen Ländern], in: CsCH 17, 1969, 69-108, hier 69-70. Bezug auf Grünberg nimmt auch J. Válka, „Zruäeni nevolnictví" roku 1781 (Termin a skuteínost "nevolnictví" v déjinách a historiografii) [Die „Aufhebung der Leibeigenschaft" im Jahre 1781 (Begriff und Wirklichkeit von Leibeigenschaft in der Geschichte und Geschichtsschreibung)], in: JM 17, 1981,

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Die sich rasch entwickelnde tschechische agrarhistorische Forschung konnte sich nach der Jahrhundertwende schon auf mehrere spezialisierte Zeitschriften stützen wie z.B. „Selsky archiv" oder „Casopis pro dèjiny venkova" (davor „Agrärni archiv"). Neben den Studien wurden hier auch Quellen veröffentlicht, die die Edition Kalouseks ergänzten. Vorwiegend auf dem edierten Material baute auch Kamil Krofta seine bis heute einzigartige Synthese der Geschichte des böhmischen Bauernstandes.15 Die frühe Neuzeit gliedert er anhand des politischen Geschehens, als Wendepunkte dienen ihm die Schlacht am Weißen Berg (1620) und der Regierungsantritt Maria Theresias (1740). Diese Periodisierung, in die noch der Bauernaufstand von 1680 sowie die josephinischen Reformen (1781) Eingang fanden, hält sich in der tschechischen Geschichtsschreibung im Grunde bis heute. Kroftas Aufmerksamkeit galt allgemein dem Verhältnis zwischen den Bauern und dem Staat bzw. den Obrigkeiten. Dementsprechend untersuchte er die rechtliche Stellung der Untertanen, ihre Belastung durch staatliche Steuern und herrschaftliche Verpflichtungen, die Widerstandsaktionen sowie die Eingriffe der aufklärerischen Monarchie. Für die Zeit nach 1620 vertritt er die Meinung, dass die formal weiterbestehende bäuerliche Selbstverwaltung ihre Kompetenzen zugunsten der Lokalobrigkeiten einbüßte.16 Eigenständige Handlungsräume gesteht er den Untertanen eigentlich nur in den verschiedenen Formen der Auflehnung gegen die Herrschaft zu. Diese Auffassung prägte die Behandlung der Bauernproblematik bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ungefähr zur gleichen Zeit wie Kroftas Synthese erschien „Kniha o Kosti" von Josef Pekar , u.a. eine detaillierte Analyse der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in einer ostböhmischen Herrschaft. Pekar befasste sich mit der gerade in der frühen Neuzeit zunehmenden Steuerlast und konnte ihren Anteil an der Gesamtbelastung der konkreten Höfe ausmachen. 18 Ausgehend vom älteren Zustand (16. Jahrhundert) versuchte er, die vielfältigen Bindungen der Untertanen an die Herrschaft aus dem Selbstverständnis der Zeit heraus zu rekonstruieren. 19 Gestützt auf die Rechtsterminologie und die Äußerungen der böhmischen Stände aus den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts lehnte er ähnlich wie Grünberg die Vorstellung ab, der böhmische Bauer sei im 17. und 18. Jahrhundert leibeigen („nevolnik") gewesen, wobei er allerdings die Leibeigenschaft in ihrem römisch-rechtlichen Sinne mit der Sklaverei bzw. Rechtlosigkeit gleichsetzte.20 J. Pekar gehört auch zu den wenigen tschechischen Historikern, die sich bereits in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts der Gedankenwelt der ländlichen Untertanen zuzuwenden begannen. Ausgangspunkt hierfür war seine Beschäftigung mit der tagebuchartigen bäuerlichen

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110-122, 111, 116-118. Vgl. auch J. KoCi, Problem druheho nevolnictvi v ieskych zemich v obdobi pozdniho feudalismu [Das Problem der zweiten Leibeigenschaft in den böhmischen Ländern in der Zeit des Spätfeudalismus], in: HS 17, 1972, 63-68, hier 64-65. K. Krofta, DSjiny selskeho stavu [Geschichte des Bauemstandes], Praha 1919, 2 1949. K. Krofta, D6jiny selskeho stavu [Geschichte des Bauernstandes], Praha 2 1949, 258. J. Pekaf, Kniha o Kosti [Das Buch über die Herrschaft und Burg Kost], Bd. 1-2, Praha 1909,1911. Der Steuerbelastung widmete Pekaf eine besondere Arbeit, vgl. ders., Ceski katastry 1654-1789 [Die böhmischen Kataster 1654-1789], Praha 1932. J. Pekaf, Kniha o Kosti [Das Buch über die Herrschaft und Burg Kost], Praha 4 1970,263. Ebd., 267.

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Literatur.21 Weitere Anstöße kamen in den dreißiger Jahren aus dem Umkreis von Historikern und Literaturwissenschaftlern, die sich mit der mittelalterlichen und v.a. barocken Literatur Böhmens befassten, darunter auch mit den Gattungen, die ihre Verbreitung gerade auf dem Lande fanden. Einen geistesgeschichtlichen Ansatz bei der Erforschung der ländlichen Gesellschaft forderte besonders Pekafs Schüler Zdenek Kalista.22 Er teilte die Vorstellung seines Lehrers von einer eigenständigen Gedankenwelt jeder historischen Epoche und verlangte vom Historiker - in Abgrenzung gegen die positivistische Wissenschaft - , die zeitgenössischen Begriffsinhalte und die Veränderungen der Denk- und Gefuhlskategorien in der Geschichte zu erforschen. Seine modern anmutenden Vorschläge setzte Kalista u.a. in den Arbeiten über das südböhmische Barock um. 23 Pekar und Kalista trugen maßgeblich auch zur Erforschung der religiösen Umwälzungen in Böhmen im 16.-18. Jahrhundert und teilweise auch deren Niederschlags in den breiten Bevölkerungsschichten bei. Während die Themen wie Rekatholisierung oder Konfessionalisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts v.a. aus kirchengeschichtlicher Sicht (und oft auch von Personen, die den Kirchen nahe standen) behandelt wurden, unterlagen sie nach 1948 einer starken Ideologisierung. Doch bereits zuvor erkannten einige Historiker, dass gerade die Rekatholisierung als ein tiefgehender und schriftlich dokumentierter Eingriff in die Gedankenwelt der frühmodernen Gesellschaften eine der wenigen Möglichkeiten bietet, sich der Selbst- und Weltwahrnehmung der „einfachen Leute" anzunähern. Auf die Lehren der nonkonformen religiösen Gruppen, der sog. Schwärmer, konzentrierte sich Frantisek Kutnar, der u.a. auch die Grundzüge ihres Denkens herauszuarbeiten versuchte.24 Obwohl der religiöse Radikalismus (in der deutschen Geschichtsschreibung z. B. das Täufertum) in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts oft als eine fast moderne Freiheitsideologie interpretiert wurde, gelang es manchen tschechischen Historikern, sich solchen Urteilen zu entziehen und einen differenzierenden und eng an die Quellen angelehnten Blick zu bewahren. 25 Besonders in den achtziger Jahren erfuhr das Studium der Rekatholisierung und der (Volks)Frömmigkeit einen neuen, weder konfessionell noch ideologisch gefärbten Auftrieb und bildet bis heute eine der wichtigsten Herangehensweisen an die Kultur der ländlichen Gesellschaft in Böhmen. Vor dem Zweiten Weltkrieg stammten die Studien über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den einzelnen Herrschaften - abgesehen von den Arbeiten J. Pekafs - häufig

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J. Pekaf, Pamèti Frantiäka Jana Vaväka [Die Erinnerungen Frantisek Jan Vaväks], in: CÖH 13, 1907, 434439 und 22, 1916, 192-216. Z. Kalista, O potfebè duchového zretele pri déjinàch selskych [Über die Notwendigkeit des geistigen Aspekts in der bäuerlichen Geschichte], in: Räd 5, 1939, 31-40. Ders., Stoleti andélu a d'àblù. Jihocesky barok [Das Jahrhundert der Engel und der Teufel. Südböhmisches Barock], Praha 1994, 230-272. F. Kutnar, Sociälne myälenkovä tväfnost obrozenského lidu [Die sozial-mentale Gestalt des Volkes im Zeitalter der nationalen Wiedergeburt], Praha 1948, 153-204. Bezeichnend ist auch, dass der Autor diese Untersuchung zusammen mit den Studien über die Volksgelehrten und die ideologischen Grundlagen des bäuerlichen Protests in einen Band aufnahm. Eine vorsichtige Interpretation vgl. z.B. bei J. Kuöera, Pfispévek k problémum lidového näboZenstvi v 17. a 18. stoleti [Ein Beitrag zu den Problemen der Volksreligion im 17. und 18. Jahrhundert], in: SH 23, 1975, 5-35; hier 20 auch Kritik an der These Kutnars, das Denken der „Schwärmer" sei eine radikale gesellschaftliche Bewegung, die in ihren Folgen zur sog. nationalen Wiedergeburt gefuhrt habe.

von den Archivaren, die die entsprechenden adligen Bestände verwalteten. 26 Das Interesse an der rechtlichen Stellung der Untertanen und insbesondere an der Erbpraxis führte die Historiker zu denjenigen Quellengattungen, die die Besitzübertragungen dokumentierten („pozemkové knihy" - „Grundbücher") und die auch beschränkt Aufschluss geben über die materielle Kultur der Untertanen. 27 In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts etablierte sich diese Forschungsrichtung in der Geschichtsschreibung 28 , doch bildete sie - im Gegensatz etwa zur Volkskunde, die sich mit der Volkskultur intensiver beschäftigte - immer einen Nebenzweig. Darüber hinaus trug sie zur Verfestigung einer Auffassung bei, die im Rahmen der historischen Forschung die Kultur der ländlichen Gesellschaft lediglich auf die materiellen Gegenstände („Sachkultur") beschränkt sah. Die theoretisch weniger reflektierten Ansätze der Alltagskultur, die seit den achtziger Jahren auch in der Tschechoslowakei bzw. in Tschechien stärker rezipiert werden, finden mangels Überlieferung im ländlichen Bereich nur geringe Anwendung. Eine Ausnahme stellt hier die umfassende „Geschichte der materiellen Kultur" des Autorenkollektivs unter maßgeblicher Leitung Josef Petráñs dar, die trotz ihres einengenden Titels z. B. auch das familiäre und allgemein soziale Leben sowie die Selbstverwaltung in ländlichen Gebieten der frühen Neuzeit eingehend behandelt.29 Die im 19. Jahrhundert begründete fachliche Differenz zwischen Geschichte und Volkskunde scheint im tschechischen Kontext weiter zu bestehen; im Rahmen der Volkskunde finden die neuen, kulturell orientierten Ansätze zwar Erwähnung, aber kaum Anwendung oder Auseinandersetzung. Wenige Nachfolger findet heutzutage die seinerzeit lebhafte Diskussion über die rechtliche Stellung der Untertanen in Böhmen nach 1620 und die theoretisch und länderübergreifend angelegte Debatte über die Leibeigenschaft bzw. die sog. zweite Leibeigenschaft. 31 Diese Forschungsrichtung war zweifellos von der gerade in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufkommenden Wirtschafts- und Sozialgeschichte beeinflusst, doch die Fragen nach der Art der Untertanenbindung und Höhe der sog. feudalen Belastung stießen zuFür Südböhmen vgl. beispielsweise J. Salaba, K déjinám poddanství 17. a 18. století. Instrukce kní2at schwarzenberskych pro úredníky v prííiné zacházení s poddanymi [Zur Geschichte der Untertänigkeit des 17. und 18. Jahrhunderts in Böhmen. Die Instruktionen der Fürsten zu Schwarzenberg für die Beamten den Umgang mit den Untertanen betreffend], in: CSPS 7, 1899, 101-103, 137-141; und F. Teply, Selské boufe [Die bäuerlichen Unruhen], Praha 1931. Vgl. F. Vacek, Urbáfe a pozemkové knihy [Urbare und Grundbücher], in: CDV 13, 1926, 8-31; F. Hruby, Selské a panské inventáre v dobé pfedbélohorské [Bäuerliche und herrschaftliche Inventare in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg], CÖH 33, 1927, 21-59, 263-306; M. Wolf, Vyvoj gruntovni knihy ve svétle zákonú a hospodáískych instrukcí [Die Entwicklung des Grundbuches im Licht der Gesetze und Wirtschaftsinstruktionen], in: ZCZA 8, 1939, 43-108. Vgl. V. Procházka, Ceská poddanská nemovitost v pozemkovych knihách 16. a 17. století [Die böhmische Untertanenliegenschaft in den Grundbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts], Praha 1963; J. Hanzal, Pfedbélohorské poddanské inventare [Die Untertaneninventare aus der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg], in: CL 50, 1963, 169-174; ders., Souíasny stav a úkoly studia Ceskych pozemkovych knih [Der gegenwärtige Stand und die Aufgaben der Erforschung der böhmischen Grundbücher], in: SAP 14, 1964, 39-57. J. Petráñ u.a., Déjiny hmotné kultury II.l. [Geschichte der materiellen Kultur II. 1.], Praha 1995, für die ländliche Gesellschaft bes. 398-455. So wurde beispielsweise auch der anregende Aufsatz von L. Petráftová, Nové historickoantropologické proudy evropského národopisu (K problémum intergrované „historické sociální védy") [Neue historischanthropologische Strömungen der europäischen Volkskunde (Zu den Problemen der integrierten „historisch-sozialen Wissenschaft")], in: CL 78, 1991, 21-29, kaum rezipiert. Dazu vgl. u.a. den Forschungsbericht von Mikulec, Déjiny, 122. Weiter J. Válka, K typologii „druhého nevolnictví" [Zur Typologie der „zweiten Leibeigenschaft"], in: H§ 17, 1972, 179-189.

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mindest bis in achtziger Jahre auf ein relativ reges Interesse. Untersucht wurden diejenigen Erscheinungen, die als ausschlaggebend für die verstärkte Bindung der Untertanen an die Herrschaft und für die zunehmende Unterwerfung der Bauern unter die obrigkeitliche Macht seit der Mitte des 17. Jahrhunderts angesehen wurden - einerseits die obrigkeitlichen Beschränkungen der Untertanenmobilität, andererseits die steigende Fronlast und die Ausweitung der obrigkeitlichen Eigenwirtschaft. 32 Bezeichnend für die damalige Herangehensweise war, dass zum einen lediglich die normativen Quellen ausgewertet wurden, ohne auf die tatsächliche Umsetzung(smöglichkeiten) der darin enthaltenen Verpflichtungen Rücksicht zu nehmen. Zum anderen wurde beispielsweise der durchschnittliche jährliche Fronbedarf einer Herrschaft in sog. Robottagen (oft ebenfalls aufgrund der in Urbaren festgelegten Forderungen) und aus diesen wiederum die durchschnittliche Belastung einer Liegenschaft errechnet. 33 Die Studien über die einzelnen Herrschaften zeigten aber die Unterschiede zwischen der nominell geforderten und der tatsächlich abgeleisteten Fronarbeit sowie die sich seit dem 18. Jahrhundert verbreitende Reluierungspraxis. 34 Indem sie sich lediglich für die ökonomischen Beziehungen zwischen Bauern und Grundherren interessierte, reduzierte die Wirtschaftsgeschichte den Untertanen bestenfalls auf einen im Rahmen der ganzen Herrschaft oder gar des ganzen Landes durchschnittlichen Produzenten und Konsumenten. Bedeutung kam ihm lediglich als einem „leidenden" Objekt der makroökonomischen Entwicklungen zu, von denen aus seine Handlungen erklärt oder die als Ausgangspunkt für die ihm unterstellte Haltung der Herrschaft gegenüber angesehen wurden. Diese ökonomischen Tendenzen schienen in der Geschichtsschreibung über die böhmischen Länder der sechziger und siebziger Jahre dieses Jahrhunderts die Paradigma-Rolle übernommen zu haben, die im deutschen Kontext die sog. Agrarverfassung bei der Einteilung Europas in die Gebiete der „Gutsherrschaft" und „Grundherrschaft" spielte.35 Linda Longfellow Blodgett versuchte 1979, die traditionelle Einordnung Böhmens zum Bereich der Gutsherrschaft gerade am Beispiel der südböhmischen Herrschaften der Rosenberger im 16. Jahrhun-

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Diesen Ansatz vgl. auch noch bei M. Cerman, Gutsherrschaft vor dem „Weißen Berg". Zur Verschärfung der Erbuntertänigkeit in Nordböhmen 1380 bis 1620, in: J. Peters (Hg.), Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, Berlin 1997, 91-109. A. Klima, Probleme der Leibeigenschaft in Böhmen, in: VSWG 62, 1975,214-228, 226, zeichnet aufgrund dieser Angaben den Übergang von Grundherrschaft zur Gutswirtschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert nach. Zu den Frondiensten u.a. J. Koii, Robotni povinnosti poddanych v ieskych zemich po tficetiletö välce [Die Fronpflichten der Untertanen in den böhmischen Ländern nach dem Dreißigjährigen Krieg], in: ÖsCH 11, 1963, 331-340, zur Beschaffenheit der Frondienste 336-337. Zu den Robottagen vgl. E. Janouäek, Historicky vyvoj produktivity präce v zemädälstvi v obdobi pobilohorskim [Die historische Entwicklung der Arbeitsproduktivität in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg], Praha 1967, 118121. Der Autor stellt fest, dass im 18. Jahrhundert die Herrschaften etwa nur die Hälfte des normativ vorgeschriebenen Fronpensums in natura nutzen konnten. Für die Krumauer Herrschaft vgl. J. Zäloha, Robota na nSkdejäim panstvi Cesky Krumlov [Die Frondienste auf der ehemaligen Herrschaft Cesky Krumlov], in: JSH 42, 1973, 187-196, 191 und 195-196. J. Süla, Venkovsky lid vychodniho Hradecka v letech 1590-1680 [Landvolk im östlichen Gebiet von Hradec Krälove in Jahren 1590-1680], Hradec Krälovö 1971, 221-235, stellt die Reluierung in den ostböhmischen Herrschaften als finanziellen Wert der abgeleisteten Frondienste dar, der allerdings den Untertanen nicht immer in bar ausgezahlt, sondern zur Begleichung ihrer Schulden bei der Obrigkeit benutzt wurde. Zur Reluierung vgl hier Kap. III.5.2. Vgl. u.a. die zusammenfassende Darstellung F. Lütges, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1963, für die Entwicklung der ostdeutschen Gebiete hin zur Gutsherrschaft bes. 109-123, 159.

dert in Frage zu stellen. 36 Das Wesen der beiden Systeme sowie die sog. zweite Leibeigenschaft („neo-serfdom") sah sie allerdings nur auf ein jeweils unterschiedliches Maß an Belastung mit Frondiensten und Zahlungen und auf wirtschaftliche Strategien der Grundherren beschränkt. Dementsprechend wählte sie auch ihre Quellen (v.a. Urbare) und ihren Begriffsapparat. Der Bauer als aktiv handelndes Subjekt kommt in ihren Ausführungen ebenfalls nicht vor. Die wirtschaftsgeschichtliche Sichtweise der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft behielt auch in der tschechischen Geschichtsschreibung bis heute ihren Platz, sie sucht aber verstärkt nach den Verbindungen zwischen den ökonomischen Bedingungen der bäuerlichen Existenz und dem Verhalten der Untertanen v.a. der Obrigkeit gegenüber. 37 Die sich dafür anbietende Untersuchung des sozialen Protests birgt jedoch - u.a. aufgrund der langen ideologisierten Forschungstradition - die Gefahr in sich, dass dem Handeln und Denken der Untertanen mangels Selbstzeugnissen Kategorien und Motive unterstellt werden können, die ihnen fremd gewesen sind. Als ebenfalls schwierig erweist sich hier der Versuch, die mikrohistorisch aufgearbeiteten Einzelfälle in den bisher postulierten gesamtgesellschaftlichen Wandel glaubhaft und der Wahrnehmung der Akteure gerecht werdend einzubinden. 38 Das Begriffspaar „Gutsherrschaft"/„Grundherrschaft" entstammt ohne Zweifel der deutschen historiographischen Tradition und bezieht sich vorwiegend auf die deutschen Territorien. Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn versucht wird, diese bipolare Sichtweise auf die ostmitteleuropäischen Gebiete zu übertragen. Die Tatsache, dass diese teilweise von deutschsprachigem Ethnikum besiedelt waren oder - wie das mit Böhmen der Fall war - nominell zum Alten Reich gehörten, reicht m.E. nicht aus, um hier die für die deutschen Länder der

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L. Longfellow Blodgett, The „Second Serfdom" in Bohemia: A Case Study of the Rozmberk Estates in the 16th Century, in: I. Volgyes (Hg.), The peasantry of Eastem Europe, 1. Roots of Rural Transformation, New York-Oxford u.a. 1979, 1-18, hier bes. 12-14. (Der Aufsatz fußt auf der gleichnamigen unveröffentlichten Dissertation der Verfasserin.) Vgl. Untersuchungen A. Stejskals über die südböhmischen Herrschaften der Rosenberger im 16. Jahrhundert - „Zeman bez sedlákü stojí za sto jebákú". Obilní dluhy jako typ nedoplatku a forma selské rezistence na panství Cesky Krumlov v letech 1566-1602 [Getreideschulden als Rückstandtypus und als Form der bäuerlichen Resistenz auf der Herrschaft Cesky Krumlov in den Jahren 1566-1602], in: Z. Kámík, J. Staif (Hg.), K novovékym sociálním déjinám ¿eskych zemí I. Cechy mezi tradicí a modernizací [Zur neuzeitlichen Sozialgeschichte der böhmischen Länder I. Böhmen zwischen Tradition und Modernisierung], Praha 1999, 21-70; ders., Nedoplatek a zpétná dotace - sociálnéekonomické kategorie roimberskych velkostatkü (1550-1611) [Der Rückstand und die Rückdotation - zwei sozialökonomische Kategorien des rosenbergischen Großgrundbesitzes (1550-1611)], in: CNM-RH 164, 1995, 6-39, zu den Beziehungen zwischen Bauern und Obrigkeit bes. 7-10. Vgl. Arbeiten J. Öechuras zur Protoindustrialiserung und zu den bäuerlichen Aufständen in Nordostböhmen um 1680, u.a. ders., Broumovsko 1615-1745: Novy rozmér evropské protoindustrie [Domäne Braunau 1615-1754: Neue Dimension der europäischen Protoindustrie], in: CNM-RH 164, 1995, 61-88; ders., Broumov 1615-1754: Ein Kapitel des protoindustriellen Stadiums in Europa, in: Frühneuzeit-Info 7, 1996, 195-214; zuletzt zusammengefasst in ders., Broumovská rebelie [Braunauer Rebellion], Praha 1997, zur bäuerlichen Motivation aufgrund der Beschwerdeschriften bes. 69-89. Vgl. W. Troßbach, Bauern 1648-1806, München 1993, 6-16. Weiter auch H. Wunder, Das Selbstverständliche denken. Ein Vorschlag zur vergleichenden Analyse ländlicher Gesellschaften in der Frühen Neuzeit, ausgehend vom „Modell ostelbische Gutsherrschaft", in: J. Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, 23-49, hier 34-37. F. Lütge, Geschichte, berücksichtigt jedoch in seiner Darstellung neben den ostdeutschen auch die polnischen, baltischen und böhmischen (116, 126, 159) Territorien.

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frühen Neuzeit entwickelte Terminologie ohne weiteres anzuwenden. Das betrifft nicht nur die historiographischen Begriffe, sondern auch die zeitgenössischen Bezeichnungen der bäuerlichen Stellung, der Besitz- und Rechtsverhältnisse auf dem Lande sowie der obrigkeitlichen Institutionen und Ämter, die nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Region zu Region unterschiedlich waren. Der in jüngster Zeit angestrebte vergleichende Ansatz 40 muss sich also auch davor hüten, mit der im deutschen Kontext vorsemantisierten Terminologie bestimmte Vorstellungen über die Lage der Bauern in die böhmischen Verhältnisse hineinzuprojizieren. Andererseits erweist sich der Gebrauch des oben erwähnten Begriffspaares seitens der tschechischen Historiker als weitgehend unreflektiert und undifferenziert, was sich u.a. daraus erklärt, dass diese Terminologie der tschechischen Geschichtsschreibung nicht eigen ist41 und fast nur in Bezug auf die deutsche Historiographie benutzt wird. Die Begriffe „Grund-" bzw. „Gutsherrschaft" in den deutschsprachigen Arbeiten tschechischer Historiker sagen zunächst nichts über die Lebensbedingungen der Untertanen auf diesen Gebieten aus. „Grundherrschaft" steht oft allgemein für „Herrschaft", für den Herrschaftsbezirk, der sich im Besitz eines Grundherrn befand. Die von der Obrigkeit auf diesen Gebieten gegründeten Betriebe (Meierhöfe, Brauereien, Forstwirtschaft), zu denen die Untertanen als Fronarbeiter, Tagelöhner, Lieferanten oder (Zwangs)Konsumenten herangezogen wurden, bzw. die auf diesen Betrieben basierende Wirtschaftsweise wird als „Gutswirtschaft" bezeichnet.42 In anderen Arbeiten taucht „Grundherrschaft" als territoriale Einheit und gleichzeitig als ein Wirtschaftssystem auf, das im 16.-18. Jahrhundert Veränderungen unterlag. Diese Veränderungen, die als „Übergang zur Frongutswirtschaft" bzw. „Umwandlung der Grundherrschaft in das Robotsystem" beschrieben werden, hatten jedoch nie die Herausbildung eines sozialen Typus „Gutsherrschaft" zur Folge.43 Um das Besitzrecht des Grundherrn hervorzuheben, wird für die Herrschaften auch die Bezeichnung „Großgrundbesitz", allerdings synonym mit „Dominium" und „herrschaftliches Gut", verwendet. 44 Der neutrale Gebrauch der Bezeichnung „Grundherrschaft" fand Eingang auch in die heutige Erforschung der ländlichen Gesellschaft in Böhmen 45 , doch ihr Vorkommen in den deutschen Texten läuft 40

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Vgl. J. Peters, Einleitung, in: ders. (Hg.), Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, Berlin 1997, 9-13, 9. Als Bezeichnung nicht nur für den rechtlichen Status der Untertanen, sondern für die gesamte darauf aufbauende soziale Ordnung der böhmischen Herrschaften im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte sich in der tschechischen Geschichtsschreibung der Terminus „Leibeigenschaft". Vgl. auch hier Kap. III. 2. Klima, Probleme, u.a. 223-226. Der Terminus „Gutswirtschaft" ließe sich auch als „dvorovö hospodärstvi" übersetzen. H. Kaak, Die Gutsherrschaft. Theoriegeschichtliche Untersuchungen zum Agrarwesen im ostelbischen Raum, Berlin-New York 1991, 417, bezeichnet dagegen die ganzen Herrschaften in Böhmen (und nicht etwa das zu den obrigkeitlichen Betrieben gehörende Herrenland) als „Gutsbezirke". Paradigmatisch und mit besonderem Bezug auf Ostmitteleuropa M. Hroch - J. Peträn, Das 17. Jahrhundert. Krise der Feudalgesellschaft?, Hamburg 1981, 128-131 („Zwei Typen der Grundherrschaft), für die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg 138 (Selbstverständlich waren schon damals nicht alle Grundherrschaften gleich entwickelt, was man bei der Beurteilung des Entwicklungtempos der Gutswirtschaft nach dem Krieg in Betracht ziehen muß."), weiter 139-141 sprechen die Autoren auch nur über „böhmische Herrschaften" und ihre „Gutshöfe". J. Peträfi, Der Höhepunkt der Bewegungen der untertänigen Bauern in Böhmen, in: W. Schulze (Hg.), Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1982, 323-363, hier z.B. 331-332. Vgl. die Beiträge der tschechischen Wissenschaftler/innen in Peters (Hg.), Gutsherrrschaftsgesellschafien, u.a. J. Pänek, Aristokratie - Klientel - Untertanen im 16. Jahrhundert. Institutionelle und soziale Beziehungen auf dem südböhmischen Dominium der letzten Herren von Rosenberg, in: ebd., 177-184, 177 und 179 (daneben benutzt der Autor auch das Wort „Dominium"). D. Stefanovä, Herrschaft und Untertanen. Ein

zwangsweise Gefahr, dass sie auch als Indikator für die Stellung und Belastung der Bauern interpretiert wird. 46 Eine ähnliche terminologische Uneinheitlichkeit zeichnet auch die Arbeiten der deutschen Autoren über die Geschichte der ländlichen Gesellschaft im frühneuzeitlichen Böhmen aus. Während die älteren Arbeiten noch bei den „Guts-Begriffen" verbleiben 47 , sprechen die neueren Forschungen auch für die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg schon konsequent über Grundherrschaften und -herren, ohne daraus weitere Schlüsse abzuleiten. 48 Viele der hier erwähnten terminologischen Unklarheiten mögen lediglich auf die Übersetzungsprobleme oder auf den - für Wissenschaftskontakte allerdings bezeichnenden Umstand zurückzufuhren sein, dass mit einem Begriff nicht zwangsläufig auch die seiner Etablierung vorangehende inhaltliche Diskussion und Erörterung übernommen wird. 49 Als einer der Auswege empfiehlt sich, bei einer vergleichenden Betrachtung zunächst von den verallgemeinernden Begriffen Abstand zu nehmen bzw. den Inhalt der zur Beschreibung kleiner Untersuchungseinheiten notwendigen Begriffe vorher möglichst genau zu präzisieren.50 Ähnlich wie in der westeuropäischen Geschichtswissenschaft, so erfreute sich auch in der neueren tschechischen, größtenteils marxistischen Historiographie die Erforschung des bäuerlichen Protests in der frühen Neuzeit großer Beliebtheit. Gefördert und beeinflusst wurde sie zweifelsohne von dem Klassenkampfkonzept in der sog. Übergangszeit zwischen Feudalismus und Kapitalismus. 51 Die tschechischen Studien konzentrierten sich in erster Linie auf die großen Bauernaufstände in den Jahren 1680 und 1775, die allerdings gerade in Südböhmen

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Beitrag zur Existenz der rechtlichen Dorfautonomie in der Herrschaft Frydlant in Nordböhmen (16501700), in: ebd., 199-210,204, verwendet „Grundherrschaft" eher in Sinne einer Institution. Diese Gefahr wird besonders deutlich, wenn zum Vergleich die Gebiete herangezogen werden, in denen „Grundherrschaft" auch eine sozialgeschichtliche Konnotation haben kann. Vgl. J. Cechura, Fron oder Lohn ? Grundherrschaft und bäuerliches Wirtschaftsleben im böhmisch-niederösterreichischen Gebiet, in: A. Komlosy - V. Büfcek - F. Svätek (Hg.), Kulturen an der Grenze. Waldviertel-Weinviertel-SüdböhmenSüdmähren, Wien 1995, 115-116: „Gemeinsam war den Grundherrschaften in Niederösterreich und in Südböhmen, daß hier keine Frongutsherrschaft entstand'. W. Stark, Die Abhängigkeitsverhältnisse der gutsherrlichen Bauern Böhmens im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik 164, 1952, 270-292, 348-374, 440-452, beispielsweise 270-275, 274 setzt er die „Gutswirtschaf"' faktisch mit einer Herrschaft gleich. Vgl. Hoensch, Geschichte Böhmens, 250. Weiter Winkelbauer, Sozialdisziplinierung, 338. Ein Beispiel dafür ist auch der bereits erwähnte, weitgehend unreflektierte Umgang mit dem Begriff „Sozialdisziplinierung" in der tschechischen Geschichtsschreibung, vgl. u.a. Pänek, Policey, 319, 328. In der vorliegenden Arbeit werden bevorzugt die Begriffe benutzt, die sich in den Quellen selbst finden, z.T. lautlich korrigiert („Chalupner" statt „Chaluppet•") und inhaltlich erklärt. Die Vergleiche mit den in anderen Gebieten gebräuchigen Bezeichnungen („Inmann" - „Hausgenoss" - „Einlieger" bzw. „Inwohner", „Chalupner" - „Häusler") werden nur dann angestellt, wenn es zum Verständnis des verwendeten Begriffs notwendig ist. Die Belege aus anderen Teilen Böhmens deuten aber daraufhin, dass hier z.B. die Bezeichnungen gemeindlicher Ämter nicht identisch waren; so kommt die aus Nordböhmen überlieferte Bezeichnung „Schultheiß" für das Oberhaupt der bäuerlichen Selbstverwaltung in der von mir untersuchten Region überhaupt nicht vor. Vgl. Strauß, Bauernelend, 140, Zitat eines Bittgesuchs „aus Angebung der Schultzen und Aeltisten der friedländischen Herrschaft'. Stark, Abhängigkeitsverhältnisse, 351, setzt den Schulzen mit dem Dorfrichter gleich; als „Schultheiss" wird „ r y c h t ä f " ebenfalls bei J. Hanzal, Vesnickä obec a samospräva v 16. a na poCätku 17. stoleti [Die Dorfgemeinde und ihre Selbstverwaltung im 16. und am Angang des 17. Jahrhunderts] in: PHS 10, 1964, 135-147, hier 147, übersetzt. Zur marxistischen Forschung aus (west)deutscher Sicht vgl. u.a. W. Schulze, Europäische und deutsche Bauernrevolten der frühen Neuzeit - Probleme der vergleichenden Betrachtung, in: ders. (Hg.), Bauernrevolten, 10-60, hier 14-18.

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wenig Resonanz fanden. 52 Eine detaillierte Untersuchung der einzelnen Widerstandsaktionen erfolgte somit v.a. für die nord- und ostböhmischen Regionen. Das Problem dieser Forschungsrichtung liegt m.E. nicht nur in der einseitigen Interpretation, sondern viel tiefer, in der komplexen Sichtweise der Geschichte, die das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen sowie das bäuerliche Verständnis von Herrschaft nur unter der Perspektive des Protests sieht und beide auf prinzipielle Gegensätzlichkeit reduziert. Die ablehnende Einstellung der Bauern zu den einzelnen obrigkeitlichen Forderungen und Beschränkungen wurde von der Forschung nicht selten auf das gesamte Sozialsystem der Herrschaften ausgedehnt. 53 Die Deutung der bäuerlichen Beschwerden ging oft weiter, als deren Texte und die komplementären Quellen es erlaubten, die radikalsten Forderungen von Einzelpersonen wurden als mehr oder weniger rationale Konzepte auch denjenigen gesellschaftlichen Gruppen unterstellt, bei denen sich dafür keine Belege finden ließen.54 Die Protestforschung liefert dennoch wichtige Erkenntnisse über die Organisation und Formen des Widerstandes, die bei einem Vergleich mit dem in dieser Arbeit behandelten Fallbeispiel von kollektiver Renitenz bemerkenswerte Ähnlichkeiten aufweisen. 55 Auch wenn eine geographische bzw. kommunikative Isoliertheit dieses Einzelfalles nicht postuliert wird, lassen sich die möglichen Übertragungs- bzw. Beeinflussungswege oder direkte Zusammenhänge mit anderen bäuerlichen Unruhen nicht feststellen. Doch das Beispiel beleuchtet andererseits ein für die Fragestellung dieser Arbeit überaus wichtiges Phänomen, das in der bisherigen Protestforschung allzu oft einseitig betrachtet wurde, nämlich die auf eine bestimmte Kontinuität ausgerichtete Beziehung der Untertanen zu „ihrer" Herrschaft. Obwohl einem wirklich tiefen und differenzierten Blick „in die Köpfe" der widerständigen Bauern durch die Überlieferung Grenzen gesetzt sind, ist es doch möglich, die Rolle der Gemeinde, die sich selbst offenbar nicht als „aufständisch" sah, näher zu bestimmen. Der Problematik der bäuerlichen Gemeinde wurde in den letzten fünfzig Jahren in der deutschen Geschichtsschreibung eine deutlich größere Aufmerksamkeit zuteil, als das im tschechischen Kontext der Fall war. Das erklärt sich zum einen aus den unterschiedlichen Auffas-

Erschöpfende Literaturübersicht liefert Mikulec, DSjiny, 123-125. Als Formen des antifeudalen Klassenkampfes deutet die Beschwerden der südböhmischen Untertanen und die Fronverweigerung („Fronstreik") J. Svoboda, K tridnim bojüm na jihoCeskem venkovg v dobe nevolnickeho povstäni roku 1775 [Zu den Klassenkämpfen auf dem südböhmischen Land zur Zeit des Leibeigenenaufstandes des Jahres 1775], in: AUC Phil, et Hist. 1962, 3, 239-256, u.a. 242. Für Südböhmen vgl. weiter J. Toman, Poddanski nepokoje a vzpoury na Prächeftsku v letech 1771-1776 [Die Unruhen und Rebellionen der Untertanen im Prachiner Kreis in den Jahren 1771-1776], in: JSH 51, 1982, 1-14, hier 11-12. Im Jahre 1972 forderte F. Kutnar, die Art und Weise zu untersuchen, wie die Untertanen selbst ihre gesellschaftliche Stellung, ihre Untertänigkeit bzw. Leibeigenschaft gesehen haben; F. Kutnar, NSkolik poznämek k metodice vyzkumu poddanstvi a nevolnictvi [Einige Bemerkungen zur Methodik des Studiums von Untertänigkeit und Leibeigenschaft], in: HS 17, 1972, 207-209, hier 208. Diese Forderung wurde seitdem allerdings nicht eingelöst. Dies betrifft - nicht nur in der tschechischen, sondern auch in der (west)deutschen Geschichtsschreibung u.a. die Deutung der bäuerlichen Forderungen nach „Freiheit" bzw. „alten Freiheiten". Dazu vgl. J. Peträn, Nevolnicke povstäni 1775. Prolegomena edice pramenü [Der Leibeigenenaufstand von 1775. Prolegomena der Quellenedition], Praha 1972, 33. Weiter W. Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, 121-124; ders., Herrschaft und Widerstand in der Sicht des „gemeinen Mannes" im 16./17. Jahrhundert, in: H. Mommsen - W.Schulze (Hg.), Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981, 182-198, hier 195-196. Vgl. die im Kap. VI. zitierten Arbeiten von W. Troßbach, H. Valentinitsch, J. Svoboda und E. Maur.

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sungen der jeweiligen - allerdings auf politische Strukturen reduzierten - frühneuzeitlichen Gesellschaften. In der tschechischen Forschungstradition wird Böhmen im 16.-18. Jahrhundert trotz der bestehenden Kreisverwaltung als ein relativ zentralistischer Staat gesehen, dessen Bevölkerung sich im Modell einer Ständegesellschaft quasi auflöst. Die Bauern bildeten dabei allerdings keinen selbständigen Stand 56 (die Gemeinden der königlichen Städte stellten nach 1627 den untersten dar) und die - allerdings recht theoretische - Frage, inwieweit die (Grund)Herren ihre Untertanen bei den Landtagen vertraten, wurde bis heute nicht befriedigend beantwortet. Da die Bauern an der Ausübung der politischen Macht in keiner Weise beteiligt waren, wurde deren institutionalisierten Gemeinschaften nur insoweit Aufmerksamkeit gewidmet, als diese als ein Bestandteil der Verwaltung einzelner Herrschaften, somit mehr oder minder als Privatangelegenheit der jeweiligen Adligen betrachtet wurden. Abgesehen von den Aufständen und damit verbundenen Anrufungen der staatlichen Organe bzw. des Herrschers/der Herrscherin nahm die bäuerliche Gemeinde in den böhmischen Ländern außerhalb der Herrschaftsbezirke keine öffentliche Funktion wahr und dementsprechend blass fiel auch ihr Bild in der Geschichtsschreibung aus.57 Für die Auffassung der ländlichen Gemeinde im (westdeutschen Kontext scheinen dagegen gerade die bäuerlichen Revolten - beginnend mit dem Bauernkrieg von 1525 - von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein. Die Gemeinde tritt dabei oft als ein Gegengewicht gegenüber dem Landesherrn bzw. dem Grundherrn auf; ihre Selbstbehauptung geht Hand in Hand mit der Verteidigung der kommunalen Autonomie. 58 Was die Teilhabe an der politischen Macht und die mehr oder weniger selbständige Verwaltung der Angelegenheiten von Gemeindemitgliedern angeht, so wird neben dem zeitlichen Wandel auch die grundsätzliche Differenz zwischen den Gebieten der sog. Grundherrschaft und denjenigen der sog. Gutsherrschaft festgestellt. Diese traditionell bipolare Sichtweise ist von den Agrar- und Sozialhistorikern aus den beiden Teilen Deutschlands getragen59 und für die ostelbischen Gebiete erst in der letzten Zeit in Frage gestellt worden. 60 Eine erst in der jüngsten Zeit sich abzeichnende Relativierung des Gegensatzes zwischen der „Guts-" und der „Grundherrschaft" 61 ist v.a. jenen Herangehensweisen eigen, die die Handlungsfreiräume der Einzelnen, der Gemeinden und deren Vertreter an konkreten Beispielen 56

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Ähnlich sah die Situation u.a. auch in einigen ostelbischen Territorien aus; vgl. L. Enders, Die Landgemeinde in Brandenburg. Grundzüge ihrer Funktion und Wirkungsweise vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, in: BlldtLG 129, 1993, 195-256, hier 250. Für das 17. und 18. Jahrhundert scheint - im Gegensatz etwa zum Mittelalter - die bäuerliche Gemeinde in Böhmen aus dem Interessenfeld der Historiker regelrecht verdrängt worden zu sein. Seit Krofta, Dfijiny, 257-258, geschieht dies zugunsten der obrigkeitlichen Verwaltung, die die Kompetenzen der dörflichen Selbstverwaltung schrittweise an sich gezogen haben soll. Auf die Notwendigkeit, die dörfliche Selbstverwaltung auch nach 1620 zu untersuchen, wies bereits Hanzal, Vesnickä samospräva, 146, hin, allerdings wurde dies im umfassenderen Rahmen nie unternommen. Dazu u.a. P. Blickle, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, München 1981, 103-105. Vgl. H. Harnisch, Die Landgemeinde im ostelbischen Gebiet (mit Schwerpunkt Brandenburg), in: P. Blickle (Hg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich, München 1991, 309-332, hier 328. Zu den Wurzeln und dem Weiterleben des agrardualistischen Denkens vgl. u.a. Wunder, Selbstverständliche, 23-34. Zur Kritik Harnischs u.a. Enders, Landgemeinde, 199, 252-254. Dazu vgl. auch P. Blickle, Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: W. Troßbach - C. Zimmermann (Hg.), Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 1998, 7-32, hier 13. Die Gewichtung der beiden Konzepte vgl. ebd., 25-32.

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untersuchen und von den länderübergreifenden agrarhistorischen Konzepten erstmals Abstand nehmen. Hier zeichnet sich deutlich ein allgemeinerer Trend zur Erforschung der „sozialen Wirklichkeit" des frühneuzeitlichen Dorfes so, wie sie sich seinen Bewohnern darstellte und wie sie durch ihr Handeln mitgestaltet wurde, ab.62 Es ist verständlich, dass nicht nur in den Gegenden mit einer starken obrigkeitlichen Einwirkung auf die bäuerlichen Verhältnisse 63 nach den Handlungsmöglichkeiten vorzugsweise dort gesucht wird, wo die dörflichen oder lokalherrschaftlichen Ordnungssysteme ins Wanken gerieten, d.h. im Bereich der Konflikte und Konfliktschlichtung. Dabei erweist sich eine Ausweitung des Begriffes „Gerichtsbarkeit" als notwendig, da dieser allzu stark an die zeitgenössischen institutionalisierten Formen der Rechtsfindung und -sprechung gebunden ist. Das Studium der frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit in den böhmischen Ländern konzentrierte sich in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts - im Gegensatz zu der traditionellen Rechtsgeschichte - auf die niedrigste Stufe des damaligen Rechtssystems - auf die städtischen Halsgerichte, die auch für die Landbevölkerung zuständig waren. 64 Auf die Bedeutung der Halsgerichtsbarkeit und ihrer Akten für die Untersuchimg des Alltags bei den illiteraten Schichten haben diese Arbeiten jedoch lediglich hingewiesen und sie beschränkten sich im Großen und Ganzen wieder auf die institutionelle Seite des Gerichtswesens. Der enge Zusammenhang zwischen den städtischen Gerichten und der dominierenden patrimonialen Gerichtsbarkeit wurde aber nur am Rande thematisiert und der große Bereich der Konfliktregelung, die unterhalb der Ebene der gerichtlichen Institutionen praktiziert wurde, blieb so gut wie unberücksichtigt. 65 Dass die Angehörigen der nichtprivilegierten sozialen Schichten in den sie erfassenden oder verfolgenden und von den „politisch Privilegierten" gesteuerten Institutionen quasi aufgehen und damit gleichzeitig aus dem Blickfeld des Historikers bzw. der Historikerin als eigenständige Individuen verschwinden, scheint ein bezeichnender Umstand (nicht nur) für die neuere tschechische Geschichtsschreibung über die Zeit zwischen 1500 und 1800 zu sein.

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Vgl. A. Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive - Bretzwill und das obere Waldenburger Amt von 1690 bis 1750, Liestal 1992, bes. 256-362. H. Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986, 112, prägt für diese Einwirkung den Begriff „Patrimonialisierung von Bauern". Eine ganze Reihe von Einzelstudien über die Städte des südlichen Mittelböhmens von J. Pänek und E. Prochâzkovâ fasste der erstere zusammen in dem Aufsatz Mëstské hrdelni soudnictvi v pozdnë feudälnich Cechâch (Vysledky, problémy a perspektivy studia) [Die städtische Halsgerichtsbarkeit im spätmittelalterlichen Böhmen (Ergebnisse, Probleme und Perspektiven des Studiums)], in: CsCH 32, 1984, 693-728. Vgl. auch die gekürzte deutsche Version, J. Pänek, Die Halsgerichtsbarkeit der böhmischen Städte und Märkte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: MIÖG 96, 1988, 95-131. Selbst die städtischen Halsgerichte stellten keine professionelle und spezialisierte Gerichtsinstanz dar, da sie bis weit ins 18. Jahrhundert hinein mit den jeweiligen Stadträten identisch waren. Der Gerichtsbarkeit und Konfliktregelung auf der Dorfebene widmete sich die ältere tschechische Geschichtsschreibung, allerdings besonders für die Zeit vor 1620, vgl. u.a. Krofta, Dëjiny, 140-141; F. Vacek, Prâva veské obce v 15. stoleti [Die Rechte der Dorfgemeinde im 15. Jahrhundert], in: CDV 3, 1916, 23-45, hier 28-29. In der neueren deutschsprachigen Forschung vgl. beispielsweise W. Helm, Konfliktfelder und Formen der Konfliktaustragung im ländlichen Alltag der frühen Neuzeit, in: Ostbairische Grenzmarken 29, 1987, 48-67; weiter B. Krug-Richter, Konfliktregulierung zwischen dörflicher Sozialkontrolle und patrimonialer Gerichtsbarkeit. Das Rügegericht in der westfälischen Gerichtsherrschaft Canstein 1718/19, in: HA 5, 1997, 212-228. Vgl. auch den von B. Gamot geprägten Begriff „infrajudiciaire"; ders., L'infrajudiciaire dans la France du XVIII e siècle, in: ders., Crime et justice aux XVII e et XVIII e siècles, Paris 2000, 131-139.

Doch gleichzeitig ist in dieser Historiographie auch eine Zuwendung hin zu den zentralen Lebensordnungen der frühneuzeitlichen Untertanen, zur Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, zum Dorf und - für die böhmischen Verhältnisse besonders wichtig - zur Herrschaft 66 , zu verzeichnen. Dabei lassen sich zwei nebeneinander stehende Vorgehensweisen grob unterscheiden: Die eine versucht, diese oft sehr klein aufgefassten Lebenswelten auf dem vormodernen Land zwar möglichst detailliert, allerdings nur von außen her zu beschreiben. Die andere fragt nicht nur nach der individuellen und kollektiven Wahrnehmung dieser „Strukturen", sondern sie geht auch davon aus, dass diese, sofern sie für das Verhalten und die Entscheidungen relevant waren, als soziale Tatsachen durch die Handelnden selbst erst hergestellt werden mussten. 67 Der ersten Forschungsrichtung kann man die Untersuchungen der sozialen Strukturen in Böhmen zuordnen, die in Zusammenarbeit zwischen tschechischen und österreichischen Historikern durchgeführt wurden und die an den jüngeren, historisch-demographisch orientierten Zweig der tschechischen Geschichtsschreibung anknüpften. 68 Obwohl auch hier die Rolle des handelnden Subjekts betont wird 69 , wird sie oft nur auf das sog. demographische Verhalten, d.h. auf die aus den quantifizierbaren Quellen abgeleiteten Phänomene wie z.B. Familiengröße, Erbpraxis oder Heiratsalter reduziert, die allerdings so präsentiert werden, als habe ihnen eine bestimmte reflektierte Strategie der handelnden Subjekte zugrunde gelegen. Die Einbettung der Untertanen als historische Subjekte in ihre Lebenswelt, d.h. hier in die zum großen Teil materiellen Bedingungen, von denen man annimmt, dass sie ihr Handeln stark beeinflusst, wenn nicht gar determiniert haben, bzw. die mikrohistorische (Re)Konstruktion solcher kleinen Welten, kennzeichnet in den letzten Jahren besonders in Deutschland und in der Schweiz die Erforschung der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaften. 71 Soll jedoch die ökonomische (und jede andere) Bedingtheit der dörflichen Existenz nicht nur eben ein Konstrukt oder eine Annahme der modernen Historiker bleiben, so ist auch nach der Wahrnehmung dieser „Schranken" und der bewussten Ausnutzung der sich ergebenden Freiräume durch die „Betroffenen" zu fragen. Die nahe Betrachtung der auf den ersten Blick „unfassbaren" ländlichen Strukturen und Zusammenhänge aus der Sicht eines Mikrohistorikers ist an sich noch keine Garantie dafür, dass die Relevanz z. B. der Bodenerträge, der Wirtschaftsweise, der Erwerbsmöglichkeiten, der feudalen Belastung oder der reli66

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Indes bilden die monographischen Arbeiten über einzelne Herrschaften, in denen auch die Untertanen angemessen behandelt werden, in der tschechischen Geschichtsschreibung eine Minderheit; vgl. z.B. J. Läska, Panstvi OpoCno v letech 1650-1750 [Die Herrschaft O p o i n o in den Jahren 1650-1750], in: AMR-B 12, 1970, 139-182, hier 161-164; weiter Süla, Venkovsky lid. E. P. Thompson, Das Elend der Theorie, Frankfurt a.M. 1980, 225, sieht die „Ausgangsposition" der handelnden Individuen jedoch nur auf ihre Stellungen und Verhältnisse im Produktionsprozess" beschränkt. Neben den zahlreichen Einzelstudien der Projektbeteiligten vgl. den einleitenden Forschungsbericht von M. Cerman, Soziale Strukturen in Böhmen, in: Frühneuzeit-Info 4, 1993, 93-96. So J. Grulich, Zu ausgewählten Aspekten des Familien- und Lebenszyklus (Ein Beitrag zur Geschichte des südböhmischen Landes im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel der Herrschaft Chynov), in: H D 20, 1996, 9-56, hier 9. Zur „Familienstrategie" ebd., 51-53. Zum „demographischen" bzw. „sozialen Verhalten" vgl. J. Horsky M. Seligovä, Rodina na5ich predkü [Die Familie unserer Vorfahren], Praha 1996, 13. Vgl. u.a. R. Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993; H. Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996; Schnyder-Burghartz, Alltag.

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giösen Einflussnahme für die Unteranen und ihre Verbände angemessen gewichtet wird. 72 Auf der einen Seite stehen die minuziös aufgearbeitete ökonomische und soziale Charakteristik der Dörfer oder Höfe und die konkreten Formen der herrschaftlichen oder staatlichen Einwirkung, auf der anderen können die Schicksale einzelner Bauern und ihrer Familien eruiert werden. Doch eine Verbindung zwischen dem Menschen und seiner Um- bzw. Lebenswelt herzustellen, die reflektierte Wahrnehmung dieser „Mikrorealität" durch die Untertanen sowie ihre individuellen und kollektiven Einstellungen und daraus resultierendes Handeln zu rekonstruieren, das alles bleibt meist dem Scharfsinn des/der Forschenden überlassen. 73 Eine Möglichkeit, die handelnden Individuen in die entsprechenden sozialen, aber auch kommunikativen Kontexte einzubetten, bietet die prosopographische Rekonstruktion, die besonders durch Heranziehung der Konflikte, in die die untersuchten Personen involviert waren, an Dynamik und Aussagekraft hinsichtlich des Untertanenverhaltens gewinnen kann. 74 Die Konfliktquellen besitzen in der Forschung über die weitgehend illiteraten Schichten der frühen Neuzeit fast die gleiche Bedeutung, wie sie den Selbstzeugnissen für die anderen Schichten zukommt, und beide werden deswegen unter einer breiteren Kategorie der „Ego-Dokumente" zusammengefasst. Ihre Auswertung stellt eine methodische Herausforderung für die Geschichtswissenschaft dar, denn es wird angestrebt, aus den meist an spannungsgeladene Situationen gebundenen Akten die über diese „Ereignisse" hinausgehenden Erkenntnisse zu entnehmen. Diese Erkenntnisse beziehen sich zuerst auf Individuen (ähnlich wie auch die untersuchten Handlungen fast ausschließlich individueller Natur sind), doch es wird auch danach gefragt, wie sich aus der Sicht des Einzelnen jene sozialen Gegebenheiten gestalteten, die er mit dem ganzen Personenverband teilte. In verschiedenen Formen rückt also der sog. kleine Mensch in der neueren Forschung in den Vordergrund. Er ist als Gegensatz zu den großen historischen Persönlichkeiten und zu den unpersönlichen Entwicklungstendenzen konstruiert und als eine Diskussionsbezeichnung bzw. ein Etikett benutzt worden; bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass es den „kleinen Menschen" nicht gibt. 75 Hand in Hand mit dem Erscheinen dieses Begriffes ging auch die Entdeckung bestimmter Quellen bzw. einer bestimmten Lesart von Quellen. Die anfängliche Faszination vom Umgang mit dem Lebendigen, Konkreten, ist inzwischen der (methodi-

Auf die Beschränkung der Arbeit Becks auf das materielle Leben des Dorfes und die damit verbundenen Defizite wies J. Peters, Mikrohistorie ökonomisch? Bemerkungen zu „Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne", in: HA 2, 1994, 308-312, bes. 311-312, hin. Zur Herstellung der Bezüge zwischen der Mikro- und Makroebene vgl. J. Schlumbohm, MikrogeschichteMakrogeschichte: Zur Eröffnung einer Debatte, in: ders. (Hg.), Mikrogeschichte-Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998, 9-32, hier 28-29. In eine Interpretation des Untertanenhandelns, die der moderne Historiker ohne Heranziehung der möglichst individuellen Quellen vornimmt, können auch ideologisch gefärbte oder gewünschte Urteile leichter Eingang finden; aus den tschechischen monographischen Studien über einzelne Herrschaften bzw. Landschaften vgl. Süla, Venkovsky lid, z.B. 197-198, die Motivation der religiösen Resistenz während der Rekatholisierung. J. Schlumbohm, Lebensläufe, Familie, Höfe. Die Bauern des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in protoindustrieller Zeit, 1650-1860, Göttingen 1994, u.a. 19-45; Schnyder-Burghartz, Alltag, 26-29, 339-365. Die Analyse der Ehestreitigkeiten vgl. z.B. bei D. W. Sabean, Property, Production and Family in Neckarshausen 1700-1870, Cambridge 1990, 124-146. Vgl. O. Ulbricht, Aus Marionetten werden Menschen. Die Rückkehr der unbekannten historischen Individuen in die Geschichte der Frühen Neuzeit, in: R. van Dülmen, E. Chvojka, V. Jung (Hg.), Neue Blicke. Historische Anthopologie in der Praxis, Wien-Köln-Weimar 1997, 13-32.

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sehen) Vorsicht gewichen, die u.a. angesichts der scheinbar ungleichen Größe des Betrachtenden und des Betrachteten geboten ist.76 Der des Schreibens unkundige Bauer aus einem frühneuzeitlichen Dorf bzw. die „armen Leute" einer Herrschaft bilden heutzutage einen akzeptierten Gegenstand der historischen Forschung (was allerdings nicht zwangsläufig bedeutet der gesellschaftlich relevanten historischen Erkenntnis). Freilich bemächtigen sich die Historikerinnen dieses Themas (und dieser Menschen) nicht sine ira et studio, getrennt von persönlichen Interessen und Motivationen und herausgelöst aus der aktuellen Debatte im eigenen Fach. Schließlich ist die Bemühung, den ländlichen Untertanen ihre eigene, womöglich individualisierte Historizität zurückzugeben, z.T. gerade aus dem Unbehagen an deren bisheriger Behandlung in der westeuropäischen Geschichtsschreibung erwachsen. Es geht dabei aber weniger um eine Abgrenzung gegen eine bestimmte Forschungstradition, sondern eher um den Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit derselben und um die Bemühung, dem interessierten Publikum gleichwertige Erklärungsmodelle und Darstellungen anzubieten. Der verstärkte wissenschaftliche Austausch kann jedoch nicht die Themenkreise und Fragestellungen völlig verdrängen, die in den jeweiligen nationalen Historiographien traditionell als wichtig erachtet werden - in Deutschland etwa der frühneuzeitliche Kommunalismus oder Agrardualismus, in Tschechien die Rekatholisierung nach 1620.77 Neben den stereotypen, z.T. durch diese Schwerpunktsetztungen bedingten Sichtweisen stellt die diskursive Ungleichheit ein weiteres Problem des grenzübergreifenden wissenschaftlichen Dialogs dar. Dort, wo das zeitgenössische Quellenvokabular sowie theoretische Begriffsapparat nicht ohne weiteres verstanden werden können, sondern erst übersetzt und damit auch an die in der jeweils anderen Sprache entwickelte Terminologie angelehnt werden müssen (was z.B. zwischen Deutsch und Tschechisch, nicht aber zwischen Deutsch und Englisch bzw. Französisch der Fall ist), können die Konnotationen und das Bedeutungsumfeld der ursprünglichen Termini leicht verloren gehen bzw. verzerrt werden. Wie später zu erörtern sein wird, betrifft dies in unserem Fall selbst die aus den deutschsprachigen Quellen böhmischen Ursprungs entnommenen Bezeichnungen für die ländlichen Institutionen bzw. für die Positionen der Bauern im Dorf. Indem aber sowohl diese zeitgenössischen Bezeichnungen als auch die Begriffe der heutigen Wissenschaftssprache die Grundlage jedes Verständnisses und jeder historischen Erkenntnis bilden, kann eine (wissenschaftliche) Betrachtung, die sich um Vermittlung zwischen zwei Geschichtsschreibungen bemüht, von der Sprach- und Diskursproblematik nicht einfach absehen oder diese auf eine Frage der mechanistischen Übersetzung redu-

Für die Mentalitätengeschichte vgl. U. Raulff, Vorwort. Mentalitäten-Geschichte, in: ders. (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, 7-17, hier 15: „Denn mit dem ,Kleinwerden' der Quellen bzw. der Quellenautoren wächst umgekehrt derjenige, der sie rezipiert, kommentiert und interpretiert. In weit stärkerem Maße als andere Historiker steht daher der Mentalitätenhistoriker in der Versuchung, das Glauben und Handeln der kleinen Leute von ehedem aus der Perspektive des Überlegenen zu beurteilen. Dem kleinen Autor entspricht nur zu leicht der große Rezipient, dem kleinen historischen Subjekt ein übermenschlicher Historiker". Die Rekatholisierung in Böhmen bildet bis heute ein in der tschechischen Öffentlichkeit höchst brisantes Thema, vgl. zuletzt J. Mikulec, Pobélohorska rekatolizace - téma stale problematické [Die Rekatholisierung nach der Schlacht am Weißen Berg - ein weiterhin problematisches Thema], in: CÉH 96, 1998, 824-830. Doch die Fragen nach ihrem gerade auf dem Land raschen Erfolg hat die Geschichtsforschung bis jetzt nicht befriedigend beantwortet.

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zieren wollen. Dieser Umstand erschwert auch das Anliegen der vorliegenden Arbeit, die sich auch auf das Selbstverständnis der „betrachteten Subjekte" konzentrieren will, eine Herangehensweise, für die sich im tschechischen Kontext nur schwer Beispiele finden. Die Arbeit wendet sich aber explizit an das Publikum der beiden Geschichtsschreibungen, was allerdings den Eindruck zur Folge haben mag, manche Themen seien zu kurz bzw. oberflächlich behandelt. Deren Breite (von Frondiensten über Selbstmord bis zur Kirchen- und Volksfrömmigkeit) verursacht darüber hinaus, dass diese Untersuchung sicherlich in vieler Hinsicht nicht den Ansprüchen und Erwartungen der jeweiligen Spezialisten genügt. In diesem Sinne ist sie vielmehr als ein Versuch zu sehen, die Komplexität der Machtbezüge in einer Lokalgesellschaft aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und weitere Forschungen anzuregen.

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III. Die Krumauer Herrschaft: Zwischen Kulturlandschaft und Menschenverband 1. Einleitung Obwohl es viele begriffsgeschichtliche Untersuchungen zur Herrschaft gibt1, beschäftigen sich die meisten mit den verschiedenen Typen von sozialen Beziehungen in der Geschichte, d.h. mit dem Begriffsinhalt, wie ihn v.a. Max Weber formuliert hat.2 Die andere, territoriale Bedeutung dieses Wortes, die aus den frühneuzeitlichen Quellen patrimonialer Provenienz hervorgeht, fand bis heute weniger Beachtung. Es geht dabei in erster Linie nicht darum, welche Landschaften in altem Europa als „Herrschaften" bezeichnet wurden, sondern eher darum, auf welche Art und Weise diese Institutionen das Leben ihrer Angehörigen prägten.3 Will man Herrschaft als Territorium näher beschreiben, kommt man trotzdem nicht an der machtpolitischen Bedeutung dieses Begriffes vorbei. Denn gerade das Beherrschen von Land und Leuten durch ein Subjekt (Person bzw. Familie, Stadt, kirchliche Institution) und nicht etwa die administrative Gliederung des Staates bzw. Landes machte das Wesen frühneuzeitlicher Herrschaften aus.4 Allerdings erzählen uns die historischen Quellen einer geographisch konkreten Herrschaft wenig von dieser zweiten Bedeutung. Aus politischer Sicht stellten sich auch die Herrschaften im frühneuzeitlichen Böhmen in erster Linie als relativ gleichartige Verwaltungseinheiten, aus der Sicht der Mehrheit der Bevölkerung als neutrale Bezugs- und Identifizierungsobjekte dar. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese beiden Bedeutungen (Herrschaft als Territorium und als machtpolitisches Gefuge) am Beispiel der Krumauer Herrschaft zusammenzufuhren. Aus der Zugehörigkeit eines Menschen zur Herrschaft - so die Ausgangsthese - resultierten seine Pflichten ihrem Besitzer gegenüber. Die räumliche und die rechtliche Zugehörigkeit werden hier nicht gleichgesetzt; es gab durchaus Untertanen, die sich nicht auf dem Gebiet „ihrer" Herrschaften aufhielten, doch für die meisten waren - abgesehen von der Art und Stärke der Freizügigkeitsbeschränkungen - diese zwei Formen von der Zugehörigkeit deckungsgleich. Viele der Untertanenpflichten (etwa die Frondienste) waren ohnehin mit dem Besitz und der Bewirtschaftung eines Grundstücks oder zumindest mit der Anwesen-

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Für die frühe Neuzeit vgl. H. Günther, K.-H. Ilting, R. Koselleck, .Herrschaft' von der frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution, in: O. Brunner - W. Conze - R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 3., Stuttgart 1982, 14-63, zur Mehrdeutigkeit des Begriffs bes. 14-15; G. Lottes, Staat, Herrschaft; in: R. van Dülmen (Hg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt a. M. 1991, 300-326. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1976, 28 (Definition der Herrschaft) und 122-176. Zum „Patrimonialismus" (u.a. bei M. Weber) vgl. H. Speer, Herrschaft und Legitimität, Berlin 1978, 94-100. In der vorliegenden Arbeit bezieht sich der Begriff „patrimonial" allgemein auf eine solche gesellschaftliche Ordnung, in der die öffentliche Macht über die Untertanen durch (größtenteils adlige) Subjekte ausgeübt wird, die mit dem Staat weder identisch sind noch agieren sie ausschließlich als dessen Vertreter. Der Begriff der Landschaft, wie ihn P. Blickle, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, München 1973, 22-23, für das frühneuzeitliche Reich definiert („Landschaft ist die genossenschaftlich organisierte, korporativ auftretende Untertanenschaft einer Herrschaft), existiert für die böhmischen Länder nicht, wogegen man bezüglich des territorialen Inhalts von „Herrschaft" bestimmte Parallelen ziehen könnte. Die Herrschaftsbezirke deckten sich aber im Großen und Ganzen mit den äußeren Grenzen der Staaten bzw. Länder.

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heit der Untertanen in der Herrschaft verbunden. Die Zugehörigkeit zur Herrschaft implizierte einen bestimmtem sozialen Status sowohl der „Herrschenden" als auch der „Beherrschten", der in der Unterscheidung in „Obrigkeit" und „Untertanen" Ausdruck fand. Im institutionellen wie im territorialen Sinne war jede Herrschaft ein beherrschtes, verwaltetes und gewissermaßen geformtes Gebiet. Das Interesse der Besitzer an dessen bewusster (Um)Gestaltung kann nicht allein mit reinen ökonomischen Beweggründen (und somit fast gesetzmäßigen Notwendigkeiten) erklärt werden, da sich die obrigkeitlichen Veränderungs- und Optimierungsbemühungen bekanntlich nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Sittlichkeit, das religiöse und familiäre Leben, das Schulwesen, die Armenfürsorge und andere Bereiche richteten. Die Einflussnahme der Grundbesitzer auf die Herrschaften scheint durchaus verständlich, hingen doch ihre Existenz, ihre Stellung und ihr Ansehen in der Ständegesellschaft von dem Umgang mit dem Eigentum ab.5 Die Beziehung zum Eigentum, das sowohl materielle Güter als auch Menschen einschloss und das es zu erhalten und zu pflegen galt, sollte einen wichtigen Maßstab für die historische Beurteilung des Verhältnisses der Obrigkeiten zu den Untertanen bilden. Gleiches gilt für den Blick „von unten", d.h. für die Sicht der Untertanen, denn auch deren Verhaltensweisen der Obrigkeit gegenüber waren durch den Wunsch nach Wahrung des eigenen Besitzes6 und Behauptung der gesellschaftlichen Stellung bestimmt. Ohne vorab über die Bedeutung der Krumauer Herrschaft für das Leben ihrer Untertanen urteilen zu wollen, ergibt sich aus der Quellenüberlieferung die Notwendigkeit, die herrschaftlichen Strukturen als Existenzrahmen der ländlichen Gesellschaft zu untersuchen. Über die ländliche Bevölkerung des frühneuzeitlichen Südböhmens sind nämlich fast ausschließlich solche Quellen erhalten, die explizit das herrschaftliche Interesse an der Dorfgesellschaft widerspiegeln. Obwohl sich auch die Dorfgemeinden im Verkehr mit der Obrigkeit oder mit ortsfremden Subjekten der Schriftlichkeit bedienten, spielte diese für die Befriedigung bäuerlicher Bedürfnisse bis in die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine untergeordnete Rolle; ländliche Selbstzeugnisse oder selbst verfasste Schriftstücke blieben (soweit sich feststellen ließ) in diesem Raum äußerst rar. Die in herrschaftlichen Akten festgehaltenen Handlungen von Untertanen sind deswegen vor dem Hintergrund der Funktionsweise des obrigkeitlichen Verwaltungs- bzw. Machtapparats zu betrachten und der verhältnismäßig enge Kontakt zwischen den Untertanen und den verschiedensten Vertretern der Herrschaft stets mitzudenken. Diese herrschaftliche „Konnotation" des Untertanenhandelns sagt zunächst nichts über seine Motive, Eigenständigkeit oder Abhängigkeit aus. Weder die adligen Grundbesitzer noch die Gutsverwalter oder Untertanen können aus ihrer Koexistenz in einer Herrschaft herausgelöst Der verantwortliche Umgang mit ererbten Eigentum war ein konstitutiver Bestandteil des sozialen Habitus aller Schichten der frühen Neuzeit. P. Münch, Lebensformen in der frühen Neuzeit 1500-1800, Frankfürt a. M.-Berlin 1992, 75-76, betont, dass für die Stellung des Einzelnen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft die „Ehre" wichtiger war als die bloße Eigentumssumme, räumt jedoch ein, dass das Vermögen „...zumindest indirekt - zum Erhalt der ständischen Position unabdingbar war. " Vgl. auch R. van Dülmen, Formierung der europäischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Ein Versuch, in: ders., Gesellschaft der Frühen Neuzeit. Kulturelles Handeln und sozialer Prozeß. Beiträge zur historischen Kulturforschung, Wien-KölnWeimar 1993, 16-61, 40: ,JVicht der Besitz allein, sondern wie man mit dem Reichtum umging, machte den Stand aus." An dieser Stelle bleiben die in Europa recht unterschiedlichen Verfügungsrechte der Untertanen über ihren Besitz zunächst ausgeklammert.

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werden; die sich anbietenden Interpretationen eines solchen Nebeneinander sind v.a. auf der kulturellen Ebene vielfältig. 7 Die obrigkeitliche Einflussnahme kann einerseits nur als eine Komponente der autonomen bäuerlichen Lebenswelt gedeutet werden. Man kann andererseits die Herrschaft auch als ein überliefertes, zugleich von ihren Besitzern geformtes, aber nie völlig beherrschtes gesellschaftliches System sehen, dessen Gestalt sich erst in der Auseinandersetzung aller Angehörigen miteinander (von den ärmsten Unterschichten bis zu den Oberbeamten) konstituierte. In diesem Kapitel wird zunächst auf die räumliche Entwicklung der Krumauer Herrschaft und auf deren natürliche Beschaffenheit eingegangen. Dabei sollen die von Staat und Herrschaft geforderten Untertanenpflichten hinsichtlich ihrer möglichen Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Bauern untersucht werden. Besondere Aufmerksamkeit soll auch der rechtlichen Stellung der Untertanen sowie der obrigkeitlichen Bevormundung der Untertanen gewidmet werden. Im Spannungsfeld zwischen obrigkeitlichem Anspruch und bäuerlicher Aneignung bzw. Umdeutung soll ebenso die Gerichtsbarkeit beleuchtet werden, wobei der obrigkeitliche Anspruch, das Leben der Untertanen zu regeln, seine zeitlichen Veränderungen und Umsetzungschancen im Mittelpunkt stehen. Obwohl hier zum großen Teil zuerst die „objektiven Herrschaftsstrukturen" thematisiert werden, erscheint dies als eine Bedingnung für die später zu stellende Frage, auf welche Art und Weise die Krumauer Untertanen die von der Obrigkeit getragene Herrschaft erfahren konnten. 2. Land und Leute und ihre Herren 2.1. Besitzer der Herrschaft Die Gestalt der Herrschaft Krumau im Jahre 1680 war das Ergebnis einer langfristigen Entwicklung, die sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Als Höhepunkt der wirtschaftlichen und administrativen Reformen wird traditionsgemäß die Regierungszeit der letzten beiden Vertreter des Hauses Rosenberg/Rozmberk, Wilhelm/Vilem (1552-1592) und Peter Wok/Petr Vok 8 (1592-1602 bzw. 1611), erachtet.9 In dieser Zeit wurden zweifellos die Grundlagen der in Eigenregie betriebenen Meierhof-, Brauerei- und Teichwirtschaft sowie einer sich schrittweise bürokratisierenden Verwaltung gelegt. Bei der Bewertung der Einzigartigkeit dieser Innovationen darf aber nicht übersehen werden, dass erstens der Zustand vor der Mitte des 16. Jahrhunderts nur spärlich dokumentiert und folglich weniger bekannt ist und zweitens die Besitzer der Herrschaft in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wechselten. In Jahren 1601/02 sah sich Peter Wok von Rosenberg aufgrund seiner hohen Verschuldung

Die Interpretationsansätze entsprechen teils den Thesen über die Eigenständigkeit, teils über die Abhängigkeit und Verdrängung der Volkskultur durch die Elitenkultur. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Konzepten Thompsons, Burkes und Muchembleds, die aber auf den Einfluss der frühmodernen Staates und nicht etwa der Lokalobrigkeiten abheben, vgl. bei G. Lottes, Volkskultur im Absolutismus - Zerstörte oder eigenständige Lebensweise?, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 12, 1983,238-245. Die Schreibweise des Namens in den deutschen Quellen variiert (Wock, Wok, Vock, Vok). Vgl. die Gesamtdarstellung von J. Pänek, Posledni Roimberkove - velmoii ieske renesance [Die letzten Rosenberger - Magnaten der böhmischen Renaissance], Praha 1988.

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gezwungen, den größten Teil seines Eigentums, die Herrschaft Krumau mit inkorporierten Gütern, an Kaiser Rudolf II. zu verkaufen. In der kurzen kaiserlichen Regierungszeit erfuhr die Herrschaft keine bedeutenden Veränderungen. In Anerkennug seiner Verdienste trat Ferdinand II. die Herrschaft Krumau am 23.12.1622 an den Direktor seines Geheimen Rates, Johann Ulrich von Eggenberg, ab. 10 Durch den Erwerb weiterer südböhmischer Domänen wurde dieser steirische Adlige in den zwanziger und dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts zum Besitzer eines Territoriums, das dem von den Rosenbergern am Ende des vorigen Jahrhunderts aufgebauten ähnelte. Die zentrale Stellung unter allen Herrschaften, die die Herrschaft Krumau (mit der gleichnamigen Residenzstadt) im 16. Jahrhundert genossen hatte, bewahrte sie sich auch unter den neuen Besitzern, obwohl diese sich dort zunächst eher selten aufhielten." Erst Johann Christian, der Vertreter der dritten und zugleich letzten Generation der Eggenberger in Böhmen, machte das Krumauer Schloss zu seinem ständigen Sitz.12 Da er ohne Kinder blieb, übernahm nach seinem Tod 1710 seine Frau Maria Ernestine die Verwaltung der böhmischen Güter. Bereits vor ihrem Ableben (1719) starb auch der steirische Zweig der Eggenberger in männlicher Linie aus, und dem letzten Willen Johann Christians und seiner Frau gemäß wurde der Neffe Maria Ernestines, Adam Franz zu Schwarzenberg, zum Erben des eggenbergischen Besitzes in Böhmen mit der Herrschaft Krumau eingesetzt.13 Er vereinigte das eggenbergische Erbe, das den Gesamtwert von 1 Mio. Gulden überstieg 14 , mit seinen schon früher vorwiegend in Südböhmen erworbenen Herrschaften (Wittingau/ Tiebon, Protivin) und schuf somit einen Besitzkomplex, der bis Anfang des 20. Jahrhunderts zu den größten in Böhmen zählte. Die Schwarzenberger machten zwar Krumau wiederum zu ihrem Sitz, unterhielten aber aufgrund der von ihnen bekleideten Ämter und der daraus resultierenden Repräsentationspflichten beim kaiserlichen Hof noch Paläste in Wien und Prag. Während die zeitweilige Abwesenheit der adligen Besitzer v.a. die Verstärkung der Zentralverwaltung und Verbesserung der Amtskommunikation bewirkte, folgten die Veränderungen der Wirtschaftsstruktur und der Verwaltung einzelner Herrschaften auch den Bedingungen vor Ort. Im Jahre 1623 wurde Johann Ulrich von Eggenberg vom Kaiser in den Fürstenstand, am 15.4.1628 schließlich zum Herzog von Krumau erhoben. Dieser nur in der männlichen Linie der Eggenberger erbliche Titel bezog sich auf die südböhmischen Herrschaften, die dadurch 10

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Zur Schenkung der Herrschaft Krumau vgl. u.a. W. E. Heydendorff, Die Fürsten und Freiherren zu Eggenberg und ihre Vorfahren, Graz-Wien-Köln 1965, 91. Kursorisch auch J. Zäloha, Pfehled vyvoje eggenberske dräavy v jiznich Cechäch [Übersicht der Entwicklung der eggenbergischen Besitztümer in Südböhmen], in: JSH 27, 1958,27-29, hier 27. Über Krumau als Residenzstadt vgl. u.a. V. Bü2ek, Cesky Krumlov jako „dlouhodobä" velmo&kä rezidence (K promSnäm kulturni a reprezentafini funkce rang novovikeho aristokratickgho dvora) [Cesky Krumlov als „langfristige" Magnatenresidenz ( Zum Wandel der Kultur- und Repräsentationsfunktion eines frühneuzeitlichen aristokratischen Hofes)], in: Barokni divadlo na zämku v Ceskem Krumlovä, Praha 1993, 179-194. Zu den Eggenbergern gibt es wenige moderne Darstellungen, vgl. Heydendorff, Fürsten, bes. 61-188, und die unveröffentlichte Dissertation G. B. Marauscheks, Die Fürsten zu Eggenberg 1568 bis 1717, Graz 1968, die u.a. in der Bibliothek des Staatlichen Regionalarchivs Tfebofi, Zweigstelle Cesky Krumlov aufbewahrt wird. Zu den Schwarzenbergem vgl. familiengeschichtlich K. Schwarzenberg, Geschichte des reichsständischen Hauses Schwarzenberg 1., Neustadt a.d. Aisch 1963, für den behandelten Zeitraum besonders 116-185. Diese Schätzung bei J. Zäloha, Eggenberske dddictvi v Cechäch [Das eggenbergische Erbe in Böhmen], in: JSH 38, 1969, 10-14, hier 11.

zu einem Herzogtum wurden. Nach deren Aussterben erlosch er und wurde - für Adam Franz zu Schwarzenberg - erst am 28.9.1723 von Karl VI. erneuert.15 Da die Erhebung auch anderen, Krumau unmittelbar angeschlossenen Gütern (Netolitz/Netolice, Helfenburg, Prachatitz/Prachatice, Wallern/Volary u.a.) galt, muss aus rechtlicher Sicht zwischen Herrschaft und Herzogtum Krumau unterschieden werden. 16 Die böhmischen Herzöge wurden zwar im Lande dem Herrenstand zugerechnet, innerhalb dessen genossen sie aber eine Vorrangstellung. 17 Obwohl die herzoglichen Domänen in Böhmen denen der anderen Adligen rechtlich gleichgestellt waren18 und die Eggenberger wie die Schwarzenberger auch andere, reichsunmittelbare Güter besaßen, wurde durch die Erhebung Krumaus ihre exponierte Stellung innerhalb des böhmischen Adelsstandes, dem sie erst seit relativ kurzer Zeit angehörten, begründet bzw. bestärkt.19 Die politisch motivierten Bemühungen, die neuerworbenen Herrschaften zu einer geschlossenen, gut organisierten und prosperierenden Machtenklave umzubilden, die auch bei anderen aufstrebenden Adligen zu beobachten sind (Wallenstein, Liechtenstein 20 ), schlugen sich in der Wirtschafts- und Organisationsstruktur dieser Gebiete nieder. Neben diesen Sonderfallen lässt sich in Böhmen generell schon seit dem 16. Jahrhundert die Tendenz zur Herausbildung einer ausgeprägten Magnatenschicht und großer Herrschaftsbezirke feststellen. 21

2.2. Größe, Naturgegebenheiten, Grenzen In dieser Hinsicht stellt die Herrschaft Krumau ein fast repräsentatives Beispiel dar. Der Herrschaftsbezirk, wie wir ihn aus dem 17. und 18. Jahrhundert kennen, stabilisierte sich wahr1

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Schwarzenberg, Geschichte, 160. Weiter J. Zäloha, Ke vzniku näkdejSiho ieskokrumlovskeho vevodstvi [Zur Entstehung des ehemaligen Krumauer Herzogtums], in: JSH 40, 1971, 153-156. J. G. Sommer, Das Königreich Böhmen; statistisch-topographisch dargestellt, 9. Budweiser Kreis, Prag 1841,209. Vgl. H. JireCek - J. Jireiek (Hg.), Verneweite Landes-Ordnung des Erb-Königreiches Böhaimb 1627, in: CJB V 2, Prag-Wien-Leipzig 1888, 39, Artikel XXVIII: „Die Herzogen sollen vor denen Fürsten ihre Session haben, und dem Alter nach sitzen, nach ihnen die Fürsten, gleichermaßen dem Alter nach. " Vgl. ebenfalls den Artikel XXVII, wonach die Herzöge und Fürsten keinen besonderen Stand bilden, sondern dem böhmischen Herrenstand zugerechnet werden. So K. Schwarzenberg, Die böhmischen Adelstitel, in: Herold fiir Geschlechter-, Wappen- und Siegelkunde 3, Heft 3/5, 1943, 136-140, hier 138. Die Eggenberger und die Schwarzenberger gehörten zu dem Teil des sog. neuen Adels, der nach 1620 an die Stelle mehrerer ausgestorbenen Familien trat und v.a. in den Grenzgebieten große Besitztümer schuf. Dass die traditionell als tiefgreifend betrachteten Veränderungen im böhmischen Adelsstand im 16. und 17. Jahrhundert (Ausstreben von Familien, Zuzug neuer Adelsgeschlechter nach 1620) nicht so sehr die Anzahl der Geschlechter selbst, sondern v.a. deren Vermögen und politische Macht betrafen, legen J. PoliSensky und F. Snider, Zminy ve slozeni £eske Slechty v 16. a 17. stoleti [Der Strukturwandel des böhmischen Adels im 16. und 17. Jahrhundert], in: CsCH 20, 1971, 515-525, bes. 520-523, deutlich dar. Welche Auswirkungen dieser Wechsel von Besitzern auf die soziale Situation in den Herrschaften hatte, bleibt aber weitgehend unerforscht. Vgl. auch E. Hassenpflug, Die böhmische Adelsnation als Repräsentantin des Königreichs Böhmen von der Inkraftsetzung der Verneuerten Landesordnung bis zum Regierungsantritt Maria Theresias, in: Bohemia 15, 1974,71-90. Dazu beispielsweise T. Winkelbauer, Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Aristokrat des konfessionellen Zeitalters, Wien - München 1999, 338-353 und 379-404. Dazu u.a. T. Winkelbauer, Krise der Aristokratie? Zum Strukturwandel des Adels in den böhmischen und niederösterreichschen Ländern im 16. und 17. Jahrhundert, in: MIÖG 100, 1992, 328-353, zu den böhmischen Großdominien bes. 340-346.

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scheinlich in der zweiten Hälfte des 15. und ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Er umfasste einen beträchtlichen Teil Südböhmens und reichte in Nord-Süd-Richtung von der böhmischoberösterreichischen Grenze bis fast nach Budweis/Ceske Budejovice, also ca. 60 km in das Landesinnere. Die äußersten Grenzen können allerdings nicht als Bemessungsgrundlage dienen. Das Herrschaftsgebiet war nämlich stark innerlich zergliedert, die einzelnen Dörfer waren oft durch Landstriche voneinander getrennt, die anderen geistlichen und weltlichen Herren der Umgebung gehörten (Stadt Krumau, Pfarrei und Jesuitenkolleg ebenda, Herrschaften Hohenfurt/Vyssi Brod, Goldenkron/Zlatä Koruna, Rosenberg/Rozmberk u.a.). In manchen Fällen verliefen die Herrschaftsgrenzen und damit auch die Trennungslinien verschiedener Rechtstitel sogar durch einzelne Dörfer, wie z.B. in Steinkirchen/Kamenny Ujezd, wo 1653 die Gründe unter sechs Herren aufgeteilt waren.22 Im Jahre 1704/06 werden insgesamt 18 teilweise zu Krumau gehörende Dörfer erwähnt, in denen auch fremde Obrigkeiten ihre Gründe besaßen 23 , und diese komplizierten, sich oft überschneidenden Besitzverhältnisse hingen in den meisten Fällen mit der Entstehungsgeschichte der Siedlungen zusammen. Im 16. Jahrhundert scheinen sie aber schon so stabil und selbstverständlich gewesen zu sein, dass die Obrigkeiten im Laufe der beiden folgenden Jahrhunderte keinerlei Bedürfnis verspürten, sie zu ändern und die Herrschaftsgebiete zu vereinheitlichen. Im alltäglichen, von der Landwirtschaft geprägten Leben war die Kenntnis des mancherorts wirren Grenzverlaufes notwendig, und selbst die Obrigkeit achtete darauf, dass diese Kenntnis in den Gemeinden durch regelmäßige Grenzbegehungen gepflegt und weitergegeben wurde. In der eggenbergischen Instruktion von 1642 heißt es diesbezüglich: „...damit alle Jahr in Sommers Zeitten und strackhs Umb Pfingsten, Umb welche Zeit dan noch kheine große veldarbeit Vorhanden, und ein jeder Zeitlichen abkhomen khan, Unsere Und[er]tane[n] darzue angehalten werden, sambentlichefnj alt: und Junge Leüth alle Reinmaßen Umbzugehen, die alte denen Jungen die Marckstein, wie weit unsere Gründte gehen, Und an welchem Orth von anderen geschieden werden, weisen, auch benebenst allen bericht geben sollen, was sie von ihren Eltern Und Vorfahren Jemals hiervon gehört, und wie diese Grründt die Zeithero genoßen worden... "24 In der Relation über die Herrschaft Krumau von 1704/06 werden vier Arten von Herrschaftsgrenzen unterschieden - die Landesgrenzen 25 , die Grenzen mit anderen eggenbergischen J. Hejnic, Skola v Kamennim Üjezdä a jeji spoleienskä funkce (Z dSjin vesnickeho Skolstvi v 17. a 18. stoleti) [Die Schule in Kamenny Üjezd und ihre gesellschaftliche Aufgabe (Aus der Geschichte des dörflichen Schulwesens im 17. und 18. Jahrhundert)], in: SNM-C 25, 1980, 77-119, hier 80. Die überwiegende Mehrheit der Liegenschaften in Steinkirchen gehörte allerdings zur Herrschaft Krumau, während die übrigen fünf Obrigkeiten höchstens vier Ansässige besaßen. Vgl. Staatliches Regionalarchiv Tfebon, Zweigstelle Cesky Krumlov, Bestand Velkostatek Cesky Krumlov (künftig SRAT, ZK, HK), Sign. I 7 W C, 1 (rot), die sog. Liebenhaussche Relation über die Herrschaft Krumau aus den Jahren 1704/1706. Vgl. SRAT, ZK, Bestand Vrchni ürad Cesky Krumlov (künftig OAK), Sign. II A 8 B 1, die eggenbergische Instruktion aus dem Jahre 1642 (diese Datierung der Instruktion bei A. Kubikovä, Hejtmanö na eggenberskych panstvich v Cechäch [Die Hauptleute auf den eggenbergischen Herrschaften in Böhmen]; in: AT 1982,38-59,41). Wie Anm. 23, „ Von den Gränitzen oder Jure Limitum", „Gränitzt, daß Landt ob der Ennß Undt das Pistumb Passaw mit der herrschaft Crummaw Undt diese seindl die Landt gränitzen Von welichen alle Jahr in denen Landtagschlüssen meidung geschiecht [...]".

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Herrschaften, die Grenzen mit inkorporierten, d.h. unter Krumauer Jurisdiktion gehörenden Klöstern und Gotteshäusern und schließlich die Grenzen mit fremden Herrschaften. Obgleich in der Relation aus dem Jahr 1729 bezüglich der Grenzen angemerkt wird, „diese finden sich nirgendts beysamen beschriebener, weder auch Separatim Von allen orthen " 26 , bedeutet dies wohl nicht, dass ihr Verlauf unbekannt gewesen wäre. Die Landesgrenzen mit Oberösterreich im Süden und mit dem Bistum Passau im Südwesten machten einen beträchtlichen Teil aller territorialer Grenzen aus. Die ehemaligen rosenbergischen Besitztümer erstreckten sich sogar über die Landesgrenzen hinaus - bis 1599 gehörte (mit Unterbrechungen) der oberösterreichische Markt Haslach dazu.27 Der auf der böhmischen Seite des Böhmerwaldmassives liegende Herrschaftsbezirk Wittingshausen/Vitküv Kämen bzw. Hrädek war dagegen seit den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts 28 an die mit den Rosenbergern verwandte oberösterreichische Adelsfamilie von Wallsee verpfändet. Im Jahre 1464 bzw. 1465 fiel er zusammen mit Haslach an die Rosenberger zurück und bildete seitdem einen Bestandteil der Krumauer Herrschaft. Obwohl die einzelnen Herrschaften die Besitzer wechselten, deckte sich überall die Herrschafts- mit der Landesgrenze. Da in diesem Falle die Landesgrenze nicht einmal mit der Sprachgrenze identisch war, mögen ihre Auswirkungen auf das Untertanenleben geringer gewesen sein als die der Herrschaftsgrenze bzw. -Zugehörigkeit, was aber nicht heißt, dass die Landesgrenze als solche weniger wahrgenommen wurde. 29 Angesichts des stark zergliederten Herrschaftsgebietes fallt es schwer, seine Gesamtfläche genau anzugeben. Das Bedürfnis, sie zu messen und die Naturgegebenheiten der Region „objektiv" zu beschreiben, ist ein typisch „modernes" Interesse, das für die obrigkeitlichen sowie bäuerlichen Belange vor der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum Relevanz besaß. Um die Erfassung der Herrschaft als Ganzes war man in erster Linie aus wirtschaftlichen und speziell steuerstatistischen Motiven bemüht. Dementsprechend verfugen wir heute über Quellen (Wirtschaftsvisitationen, Kataster), die den Herrschaftsbestand aus eben diesem Blickwinkel erfassen. Sie enthalten vornehmlich Informationen über die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen und den Stand der obrigkeitlichen und Untertanenwirtschaften. Das erste von staatlichen Kommissaren verfasste Kataster, die Steuerrolla/berni rula, verzeichnete 1653 bei den Krumauer Untertanen umgerechnet 13.023 ha Ackerboden 30 , wobei die späteren Angaben die Vermutung erlauben, dass es nicht einmal die Hälfte der gesamten Herrschaftsfläche erfasste.

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SRAT, ZK, HK, Sign. I 7 W ^ 2 (rot), Relation des obrigkeitlichen Registrators Halatschek über die Rechte der Herrschaft Krumau vom 19.11.1729, Pag. 36-38. Vgl. u.a. E. Cironisovä, Vyvoj sprävy roimberskych panstvi ve 13.-17. stoleti [Die Verwaltungsentwicklung der rosenbergischen Herrschaften im 13.-17. Jahrhundert], in: SAP 31, 1981, 105-178, 116. So dies., 113. Ältere Literatur (Sommer, Königreich, 212, ebenso wie A. Berger, Wittingshausen, in: MVGDB 13,1875,47-69, 58) datiert die Verpfändung in das Jahr 1412. R. Simünek, Urbar panstvi Vitküv Kämen z roku 1515 [Das Urbar der Herrschaft Vitküv Kämen aus dem Jahr 1515], in: HG 30, 1999, 207215, 211-212, fuhrt als Jahr der Verpfändung Wittingshausens 1427 an. Die bewusste Betonung der „grenzübergreifenden" Phänomene und eine beschränkte Auswahl von Quellen fuhren manchmal dazu, dass die Existenz einer exakten Landesgrenzlinie in der frühen Neuzeit beinahe verkannt wird. So V. Bü2ek - J. Grulich - M. Novotny, Grenze in der Frühen Neuzeit. Kristallisationsraum einer länderübergreifenden Politik und Kultur des Adels und des Bürgertums; in: A. Komlosy - V. Büzek F. Svätek (Hg.), Kulturen an der Grenze. Waldviertel-Weinviertel-Südböhmen-Südmähren, Wien 1995, 51-58, 52. A. Kubikovä, Panstvi Cesky Krumlov ve svätle berni ruly [Die Herrschaft Cesky Krumlov im Lichte der Steuerrolla]; in: JSH 51, 1982, 88-100, 93.

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Bei der in den achtziger Jahren landesweit vorgenommenen Revision dieses Katasters (als Revisitation bezeichnet) war nicht die Fläche an sich, sondern vielmehr ihre Fruchtbarkeit und die veranschlagten Erträge Gegenstand von Korrekturen. Selbst das umfassendere theresianische Steuerkataster des Jahres 1757 liefert weiterhin nur auf Annäherungswerten basierende Informationen zur Struktur des Krumauer Landes.31 Seine seit 1713 erhobenen und ständig revidierten Angaben widerspiegeln die Kompliziertheit der Besitzverhältnisse in der Krumauer Gegend. Das Kataster unterscheidet zwischen Rustikal- und Dominikalgründen 32 und verzeichnete z.B. die Dörfer der Stadt Krumau separat. Die Gesamtfläche der Rustikalgründe betrug ungefähr 26.212 ha. 33 Den Großteil machte Ackerboden (60%) aus, gefolgt von Wäldern (37%), dem (wahrscheinlich dauerhaft nicht bestellten) Ödland (1%) und den Untertanenweiden (2%). Der obrigkeitlich bewirtschaftete Boden (ohne Wiesen) umfasste 12.692 ha, wovon 70% auf Wälder entfielen. Diese Durchschnittswerte variierten natürlich je nach Gegend. Alle zur Herrschaft Krumau gehörenden Güter (etwa 390 qkm) lagen zerstreut innerhalb eines deutlich größeren Areals, dessen äußere Grenzen sowohl in nordsüdlicher als auch west-östlicher Richtung 50-60 km voneinander entfernt waren. Eine Reise zu Pferd aus den entlegensten Dörfern nach Krumau dürfte selbst unter günstigsten Umständen mindestens sechs Stunden gedauert haben. 34 Die Größe des Herrschaftsbezirkes lässt auch auf eine Vielfalt der natürlichen Bedingungen schließen. Ein Bericht über die Notlage in der Herrschaft Krumau aus dem Jahre 168135 erweckt den Eindruck, als ob die rauhe Natur der landwirtschaftlichen Produktion sehr abträglich wäre. Über die Krumauer Dörfer und ihre Untertanen heißt es: „ diese Oerther fast alle in Hohen Gebürg, undt anstossenden großen Wäldern Ligen, Ihr wehniger ackerbaw in Khalten, Steinigen, Speer, Laimbig, Flüißig undNaßlendtigen Feldern Bestehet [...]". Die Witterungsverhältnisse in der Gebirgslandschaft seien nicht besonders günstig, „ Zu dehme so thuet der allzu Lang ligendte Schnee und Khälte, Nebl, und Spate Reiff, frühlings Zeith, im Sommer aber der Schawer und Haglwetter fast alle Jahr Schaden ",36 wodurch der Nahrungsversorgung der Untertanen, die überwiegend Landwirtschaft betrieben und nur zu einem kleinen Teil im Gewerbe und Handel tätig waren, enge Grenzen gesetzt seien. Der explizit erwähnte Zweck dieses Berichtes rückt seine Angaben allerdings in ein etwas anderes Licht, handelte Die moderne Edition dieses Katasters (für die Herrschaft Krumau): A. Chalupa - M. Liäkovä - J. Nuhliiek - F. Rajtoral (Hg.), Tereziänsky katastr iesky, 1. Rustikäl [Das theresianische Kataster von Böhmen, 1. Rustikale], Praha 1964, 117-129, und P. Burdovä - D. Culkovä - E. Cänovä - M. Liäkovä - F. Rajtoral (Hg.), Tereziänsky katastr Cesky, 3. Dominikäl [Das theresianische Kataster von Böhmen, 3. Dominikale], Praha 1970, 90-94. 32 33

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Zur Unterscheidung vgl. Anm. 59. Diese Zahl schließt die Untertanenwiesen nicht mit ein, da deren Größe in den einzubringenden Wagen Heu angegeben wurde. Die Angaben über die Reisedauer (wahrscheinlich zu Pferd) in die einzelnen Ortschaften in der Herrschaft bringt - allerdings für die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts - Sommer, Königreich. Ähnliche Informationen über die Reiseentfernungen zwischen den Krumauer Pfarrorten aus den Jahren 1772-1783 finden sich im Staatlichen Kreisarchiv Cesky Krumlov, Bestand Vikariätni ürad [Vikaramt] Cesky Krumlov (künftig SKAK, VAK), Sign. V I I I 1 , Kartonnr. 16. Den von den obrigkeitlichen Beamten verfassten Bericht (datiert vom 2.9.1681), der sich als Anhang zur Revisitation des Katasters von 1653 erhalten hat, druckte K. Wagner in unvollständiger Form ab. Vgl. ders., Die Notlage in Südböhmen vor der zweiten Belagerung Wiens durch die Türken, in: Waldheimat 1930,3,34-35. Beide Zitate ebd.

es sich doch um eine Art Gesuch, mit dem die Beamten bei den staatlichen Behörden die Revisitation der Herrschaft und die Senkung des Steuersatzes erreichen wollten. Der Bericht ließ auch nicht unerwähnt, dass die Untertanen angesichts der dürftigen ökonomischen Möglichkeiten die Steuerlast ohne obrigkeitliche Beihilfe besonders in den letzten Jahren nicht hätten tragen können. Die mehr oder weniger übertriebene Argumentation mit den ungünstigen Naturbedingungen konnten die Beamten als ein angemessenes Mittel zur Durchsetzung einer Revisitation der Herrschaft betrachten. 37 Dass die Aussagen des Berichts jedoch nur für einen Teil der Herrschaft zutrafen, lässt sich durch einen Vergleich mit dem später entstandenen theresianischen Kataster nachweisen. Die darin erfasste Bodenqualität variierte in der Krumauer Herrschaft beträchtlich. Während einige Bauern in den nördlichsten Dörfern der Herrschaft mit einem vierfachen Ernteertrag im Vergleich zur Aussaat rechnen konnten, erbrachten die Felder in den südlichen, hochgelegenen Gebieten oft nicht einmal die dreifache Menge. In diesen unfruchtbaren Gegenden stellte auch das anderswo seltene Ödland einen relativ hohen Anteil am Untertanen- und Gemeindeboden dar. Der Ackerboden machte überall - abgesehen von den örtlichen Verhältnissen mindstens zwei Drittel davon aus und auch der Anteil der zur Heuproduktion bestimmten Wiesen war insgesamt hoch. Da Weiden selten im Kataster erscheinen, wurde das Vieh - zumindest bis Anfang des 18. Jahrhunderts - höchstwahrscheinlich in den Wäldern sowie auf den Brachfeldern geweidet. Deren Ausmaß in der ganzen Herrschaft wird erst deutlich, wenn man auch die obrigkeitlichen Wälder mit einrechnet. Diese bedeckten den Katasterangaben zufolge über 10.000 ha und bildeten mit 7 0 % des steuerbaren Besitzes der Obrigkeit die Haupteinnahmenquelle der aus der Eigenwirtschaft fließenden Erträge. Schon seit dem 16. Jahrhundert dürfte sich die Obrigkeit durch die Förderung der Holzproduktion die Tatsache zu Nutze gemacht haben, dass die Krumauer Herrschaft zu etwa zwei Dritteln in der waldreichen Vorgebirgs- und Berglandschaft des Böhmerwaldes bzw. des Plansker Waldes lag. Erst die topographischen Darstellungen aus dem späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liefern uns ein verhältnismäßig vollständiges Bild über die Naturbeschaffenheit der Herrschaft Krumau 38 , die wesentlich von Bergen geprägt war. 39 Der Böhmerwaldkamm/ Sumava bildete ihre Südwestgrenze, die Berglandschaft setzte sich in nur geringen Absenkungen in nordöstlicher Richtimg fort und wurde von dem parallel zum Bergrücken verlaufenden Moldautal unterbrochen. Die Ausläufer des Böhmerwaldes reichten nordöstlich der Moldau bis zur Linie Prachatitz/Prachatice - Kalsching/Chvalsiny - Krumau und stellten den eigentlichen Siedlungskern der Herrschaft dar. Nördlich von Krumau erhob sich der Plansker

Es handelte sich um keine ungewöhnliche Forderung, da Revisitationen in Böhmen schon seit den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts vorgenommen wurden. Inwieweit dieser Bericht die endgültige Entscheidung der kaiserlichen Kommissare über den Steuersatz beeinflussen konnte (und ob sich die Beamten dessen eventuell bewusst waren), bleibt fraglich. 38

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Neben der bereits zitierten Arbeit Sommers (Anm. 16), die hier aufgrund ihrer Vollständigkeit bevorzugt herangezogen wird, muss das Werk des Piaristen Jaroslav Schaller, Topographie des Königreichs Böhmen, 13. Budweiser Kreis, Prag - Wien 1789, für die Krumauer Herrschaft 171-203, erwähnt werden, das v.a. Informationen zum Bestand der Herrschaft und zur Häuserzahl in den einzelnen Dörfern enthält. Bei der Auswertung von Topographien muss u.a. der Umstand berücksichtigt werden, dass die Autoren die jeweiligen Gebiete nicht aus eigener Erfahrung kannten, sondern ihre Angaben meistens von den örtlichen Geistlichen bezogen. Sommer, 2 1 4 - 2 2 2 .

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Wald/Blansky les, der die rund 30 herrschaftlichen Dörfer im nordöstlichen Zipfel vom Kerngebiet trennte. Sie lagen am Rande des Budweiser Beckens und erfreuten sich der in der Herrschaft wohl günstigsten landwirtschaftlichen Verhältnisse. Im Südwesten dieser Dörfer nahm der Waldanteil ständig zu. Im mittleren Bereich wechselten Gemeindewälder noch mit ausgedehnten Untertanenfeldern ab; entlang der Moldau und zur südlichen Landesgrenze hin wurde der nunmehr obrigkeitliche Wald mit steigender Höhe immer geschlossener. 40 Die zahlreichen Bäche gehörten zum Flussgebiet der Moldau, darüber hinaus zählte die Herrschaft im Jahre 1841 70 obrigkeitliche Teiche. Der Höhenlage entsprechend änderten sich die Witterungsverhältnisse; besonders im Gebirge dauerte der Winter oft bis April, sodass mit den Frühjahrsarbeiten erst im Mai begonnen werden konnte. Ähnliche Bedingungen im mittleren Teil der Herrschaft wurden durch die Lage mancher Täler an der Südseite z.T. ausgeglichen. Trotzdem gedieh hier der Weizen schlecht und sein Anbau war nur am nordöstlichen Herrschaftsrand weit verbreitet.41 2.3. Siedlungen, Bevölkerungsentwicklung Nicht nur aus geographischer Sicht zerfiel die Herrschaft in drei voneinander getrennte Gebiete.42 Die mit dem Kerngebiet nicht zusammenhängenden Exklaven im Südwesten und Nordosten der Herrschaft bildeten lange vor 1500 nachweislich selbständige Güter mit Befestigungsanlagen in ihren Zentren. Im 16. Jahrhundert verloren aber sowohl die Festung Wittingshausen/Vitküv Kämen bzw. Hrädek als auch die Burg Maidstein/Divci Kämen an Bedeutung. Die Krumauer Herrschaft umfasste gemäß der Eintragung in die böhmischen Landtafel nach 154143 schon fast alle der ehemals zu den beiden Gütern gehörigen Dörfer. Die Entstehungsgeschichte der Herrschaft geriet aber nicht in Vergessenheit, noch Anfang des 18. Jahrhunderts erinnerte ein Krumauer Beamter: „dann es waren Vor alten zeiten dreyerley herrschaften, Crummaw, Meynstein und Wittingshausen", die den Herrschafts-bezirk der Krumauer Obrigkeit ausmachten. 44 Die Vollständigkeit der landtäflichen Eintragung (bzw. ihrer Edition) ist allerdings fraglich, denn sie verzeichnet nur insgesamt 77 Dörfer in 11 Gerichtsbezirken45, eine im Vergleich mit späteren Quellen auffällig niedrige Zahl. Es fehlen u.a. alle Gerichtsbezirke im Westen der Herrschaft. Mit weiterem Vergleichs-material (das Urbar der Krumauer Herrschaft aus der Mitte der neunziger Jahre des 16. Jahrhunderts )

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Ebd., 227-228. Ebd., 231. Ebd., 209-210. J. Jirecek, Statky pänüv z Rozmberka [Die Güter der Herren von Rosenberg], in: PA X, 2, 1875, 343-350, bes. 345-347. Relation aus dem Jahr 1704/06 (wie Anm. 23), Kapitel „ Von Schlößern unndgebawen". Im tschechischen Original „rychtärstvt. Der genaue Inhalt dieses Begriffes wird später erläutert. J. Kalousek (Hg.), Dodavek k rädtim selskym a instrukcim hospodärskym 1388-1779 [Nachtrag zu den Bauernordnungen und Wirtschaftsintruktionen 1388-1779], Praha 1913 (AC 29), 97-106. Die falsche Datierung des Herausgebers auf das Jahr 1585 wurde in der neueren Forschung berichtigt. Vgl. A. Stejskal, „Zeman bez sedläkü stoji za sto jebäkü". Obilni dluhy jako typ nedoplatku a forma selske rezistence na panstvi Cesky Krumlov v letech 1566-1602 [Getreideschulden als Rückstandtypus und als Form der bäuerlichen Resistenz auf der Herrschaft Cesky Krumlov in den Jahren 1566-1602], in: Z. Kärnik, J. Staif (Hg.), K novovfikym sociälnim dSjinäm ieskych zemi I. Cechy mezi tradici a modemizaci [Zur neuzeitlichen So-

können wir trotzdem die Veränderungen feststellen, denen die Besiedlung der Krumauer Herrschaft während der Regierungszeit der beiden letzten Rosenberger unterworfen war. Die Gliederung des Herrschaftsgebietes nahm im Zuge einer Verwaltungsvereinheitlichung feste Konturen an. Etliche Dörfer, die noch vor der Mitte des 16. Jahrhunderts außerhalb der Struktur der Gerichtsbezirke gestanden hatten, wurden nun zu selbständigen Gerichten gemacht, die allerdings weiterhin nur ein Dorf umfassten. Zwecks Effektivierung der Verwaltung wurden beispielsweise die vom Zentrum des bisherigen Gerichtes Salnau/Zelnava weit entlegenen Dörfer der ehemaligen Herrschaft Wittingshausen diesem ausgegliedert und zu einem eigenständigen Bezirk gemacht. Dort aber, wo sie nicht als Hindernis für bezirksinterne Kommunikation empfunden wurden, blieben die großen Gerichtsbezirke mit über 15 Dörfern bestehen (z.B. Tweras/Sveräz). Die in den Quellen vorkommende Bezeichnung „Gericht" bezieht sich primär auf die Institution, die der Regelung des bäuerlichen Zusammenlebens und der Herrschaftsausübung diente47, die räumliche Bedeutung (Gericht als ein Verband von Dörfern) ist deswegen zweitrangig - in der Krumauer Herrschaft gab es mehrere Gerichte, die nur aus einem Dorf bestanden (Schwarzbach/Cernä v Posumavi, Bowitz/Babice, Roschowitz/Radosovice). Der Obrigkeit stand grundsätzlich die Möglichkeit frei, in die Einteilung und Funktionsweise der Gerichte einzugreifen, sodass sie nur zum Teil als „natürliche", aus den dörflichen Bedürfhissen gewachsene Einheiten aufgefasst werden können. Ohne sie überzubewerten, kann dennoch anhand der Gerichte die heterogene Struktur der Krumauer Herrschaft im 16. Jahrhundert aufgezeigt werden. Die einzelnen, benachbarten Gerichte unterschieden sich durch die Zahl und Größe der Dörfer, und auch die zu leistenden herrschaftlichen Abgaben (Getreidezehent, Georgi- und Gallizins) waren ungleich auf die Krumauer Untertanen verteilt, wodurch Dörfer, die unter einer relativ hohen Abgabenlast litten, an Gebiete grenzten, die nur geringe Summen zu entrichten hatten. 48 Selbst das Ausmaß der Frondienste variierte in der Herrschaft im 16. Jahrhundert zwischen 0 und 10 Tagen im Jahr, wobei fast die Hälfte der Gerichte keine Frondienste zu leisten hatte. Eine Beziehung zwischen den natürlichen und demographischen Bedingungen und der Höhe einzelner Pflichten konnte bisher nicht festgestellt werden; lediglich die unmittlbare Umgebung des Zentrums der Herrschaft weist insgesamt eine hohe Abgabenbelastung auf. 49 Was die der Herrschaft zufallenden Abgaben angeht, müsste die Frage gestellt werden, ob die Obrigkeit das Bedürfnis, das Interesse und die Möglichkeit hatte, diese zu steigern bzw. herrschaftsweit zu vereinheitlichen. Bei der Interpretation von Ungleichheiten im Rahmen einer Herrschaft ist desweiteren deren langfristiger Wandel zu berücksichtigen. Nicht zuletzt wurden nicht nur einzelne Gerichte, sondern auch Dörfer, Höfe und Personen mit unterschiedlichen Lasten und Pflichten belegt, weshalb die festgestellte Heterogenität der Herrschaft Krumau allein in Verbindung mit den konkreten Fällen bäuerlichen Verhaltens Aussagewert besitzt.

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zialgeschichte der böhmischen Länder I. Böhmen zwischen Tradition und Modernisierung], Praha 1999, 21-70,28. An dieser Stelle bleibe zunächst dahingestellt, ob sich die Bauern oder die Obrigkeit diese Institution zu Nutze machten. Stejskal, Obilni dluhy, 36-37. Ebd., 32.

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Dem erwähnten Urbar vom Ende des 16. Jahrhunderts nach umfasste die Herrschaft Krumau zu dieser Zeit 197 Dörfer und drei Flecken, die sich zu 31 Gerichten zusammenschlössen. 50 Die drei Marktflecken Oberplan/Horni Plana (61 Ansässige, 4 Chalupner), Kalsching/ Chvalsiny (120 Ansässige) und Priethal/Pridoli (28 Ansässige, 12 Chalupner) bildeten zugleich die Zentren der jeweiligen Gerichtsbezirke. Insgesamt zählte die Herrschaft 2054 Ansässige mit Gespann und 190 Chalupner, 18 Pfarreien mit jeweils einer Kirche und 99 Wirtshäuser. Die Ansässigenzahl bleibt bis Mitte des 17. Jahrhunderts der einzige Anhaltspunkt für die Bevölkerungsverhältnisse in der Herrschaft, es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass sie die Gesamtheit aller männlichen Familienvorsteher repräsentierte. In die Urbare und späteren Kataster fanden nur die Liegenschaften Eingang, die mit Abgaben bzw. Steuern belegt waren; ein bedeutender Bevölkerungsteil (unterbäuerliche Schichten, Landlose) wurde damit nicht erfasst. Im Laufe der Zeit änderten sich aber die Kriterien für die Beurteilung eines „Ansässigen" bzw. der „Ansässigkeit" (in einem Gebiet).51 Noch in den Jahren 1622/23, als die Krumauer Herrschaft an Johann Ulrich von Eggenberg abgetreten wurde, wurde ein „Ansässiger" durch die örtliche Obrigkeit selbst definiert, wahrscheinlich gerade auf Grundlage der Urbarialabgaben. Ohne die Stadt Krumau zählte die Herrschaft damals 2539 Ansässige, die in den drei Martkflecken und 202 Dörfern lebten. Die Zahl und Struktur der Gerichte blieb stabil, nur das Gericht (Groß)Zmietsch/Smedec wurde nunmehr nach dem Dorf Tisch/Ktis bezeichnet. 52 Die Kriegsereignisse während des böhmischen Ständeaufstandes (1618-1620) - Krumau war damals im kaiserlichen Besitz - verursachten große Schäden an den obrigkeitlichen Wirtschaftseinrichtungen. 53 Über die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges auf die Bevölkerung der Herrschaft informiert uns die Steuerrolla. Der darin benutzte Terminus „Ansässiger" wurde vom Staat geprägt, er bedeutete eine Steuereinheit und enthielt drei Klassen (Voll- oder Ganzbauern, Chalupner bzw. Halbbauern und Gärtner bzw. Viertelbauern), für deren Einteilung die Qualität des bewirtschafteten Bodens, die Fähigkeit, Zugfrondienste zu leisten, und die Nebenverdienstmöglichkeiten bestimmend waren.54 In den Katasterangaben lässt sich nur ein mäßiger Bevölkerungsrückgang in der Krumauer Herrschaft während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts beobachten. In der Herrschaft wurden in den Jahren 1653-1655 eine Stadt (Krumau), vier Marktflecken, 211 Dörfer und 10 Einzelhöfe gezählt.55 Während die herrschaftliche Ver50 51

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Kalousek (Hg.), Dodavek, 106. Die Stadt Krumau wird in der folgenden Darstellung nicht berücksichtigt. Zum Wandel des Ansässigkeitsbegriffes siehe u.a. K. Grünberg, Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien, Bd. 1, Leipzig 1894, 116117. Zäloha, Ke vzniku, 154. Dazu die Edition von H. Gross, Zprävy o väleCnych hospodäfskych pohromäch na Ces. Krumlovsku a na Netolicku na poiätku välky tficetiletd [Berichte über die durch den Krieg verursachten Wirtschaftskatastrophen in der Umgebung von Krumau und Netolitz am Anfang des Dreißigjährigen Krieges], in: CDV 11, 1924, 26-32. Vgl. J. Pekaf, Cesk6 katastry 1654-1789 [Die böhmischen Kataster 1654-1789], Praha 1932, 9; weiter auch K. Krofta, DSjiny selskeho stavu [Die Geschichte des Bauernstandes], Praha 2 1949, 250-251. Laut J. K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 2 1992, 250, war für die Besteuerung in diesem Kataster v.a. die Zahl des Zugviehs bei den einzelnen Bauern ausschlaggebend. Da die Steuerrolla für den Bechiner Kreis - im Unterschied zu den anderen Kreisen des frühneuzeitlichen Böhmens - nicht editiert wurde, stammen die folgenden Angaben von Kubikovä, Panstvi, 89-93. Es wurden zwei Kleinstädte angeführt (Priethal und Krems/Kfemze), wo die Gründe außer der Herrschaft

waltung lediglich 2142 Ansässige zählte, fand die Kommission 2667 Liegenschaften vor Ort, wovon auf die Untertanen auf dem Lande und in den Marktflecken 2285 entfielen. Die zahlenmäßig stärkste Schicht darunter bildeten die Bürger und (Voll)Bauern (69%), die Gärtner stellten 19% und die Chalupner 12% aller Ansässigen. Im Vergleich zum landesweiten Durchschnitt fällt in der Krumauer Herrschaft eine Polarisierung zwischen den Gruppen der (reichen) Vollbauern einerseits und der (armen) Viertelbauern a ndererseits sowie eine Unterrepräsentanz der halbbäuerlichen Mittelschicht auf.56 Die meisten Dörfer hatten zwischen sechs und zehn Ansässigen (40%), dann folgen die Siedlungen mit einem bis fünf Ansässigen (23%) und elf bis fünfzehn Ansässigen (21%). Auch dieses Kataster lässt nicht erkennen, dass es in der Herrschaft Gegenden gegeben hätte, in denen eine bestimmte Siedlungsgröße vorherrschte. Für die achziger Jahre des 17. Jahrhunderts verfugen wir in der Krumauer Herrschaft über keine genaue Einwohnerzahl. Das Urbar aus dem Jahre 1684 enthält nur summarische Angaben zu den von einzelnen Dörfern zu entrichtenden Abgaben. 57 Die Einteilung der 214 Dörfer in 32 Gerichte hatte seit Ende des 16. Jahrhunderts Bestand; wenn eine Quelle vom Anfang des 18. Jahrhunderts 30 Gerichte mit 219 Dörfern verzeichnet 58 , sind diese Differenzen auf unterschiedliche Konskriptionskriterien zurückzufuhren. Während z.B. (Unter)Wuldau (bzw. Moldau)/Dolni Vltavice im Jahre 1684 als „Markt" bezeichnet wird, erscheint es etliche Jahrzehnte später als Dorf im gleichnamigen Gericht. Ungenauigkeiten zeigen sich auch bei der Erfassung von Mühlen, Höfen oder Einzelhöfen, die in einigen Quellen als selbständige Ortschaften begriffen wurden. Eine Unterscheidung, deren Bedeutung für die soziale Topographie der Herrschaft noch untersucht werden muss, wurde zwischen den sog. Rustikal- und Dominikaidörfern gemacht. Dominikaidörfer wurden in der Herrschaft meist erst im 17. und 18. Jahrhundert von der Obrigkeit auf ihrem eigenen Boden gegründet und von den Tagelöhnern besiedelt, die in den herrschaftlichen Wirtschaftsbetrieben arbeiteten. 59 Die Obrigkeit

Krumau auch anderen Obrigkeiten angehörten. In Priethal besaß die Krumauer Obrigkeit 40 Ansässige, in Krems dagegen nur sechs, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass Krems in der Zukunft unter den Krumauer Flecken nicht mehr erschien. O. Placht, Lidnatost a spoleienskä skladba ieskeho statu v 16.-18. stoleti [Die Bevölkerungsdichte und Gesellschaftsstruktur des böhmischen Staates im 16.-18.Jahrhundert], Praha 1957, 119-122, gibt das Verhältnis von Ganz-, Halb- und Viertelbauern mit 56% - 30% - 14% an. Die von A. Rezek ermittelten und von J. Pekar, Ceske katastry, 21, zitierten Zahlen entsprechen dem Verhältnis 52% - 28% - 20%, dieselbe Angaben vgl. auch bei W. Stark, Die Abhängigkeitsverhältnisse der gutsherrlichen Bauern Böhmens im 17. und 18. Jahrhundert; in: Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik 164, 1952, 270-292, 348-374, 440-452, hier 362. SRAT, ZK, HK, Sign. I 7 G ß 3 (rot), summarisches Urbar der Herrschaft Krumau aus dem Jahr 1684. Ebd., Sign. I 5 AU 167, undatiertes Verzeichnis der Dörfer in der Herrschaft Krumau und deren Einteilung in die Gerichte (wahrscheinlich aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts). K. Bosl (Hg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, 2. Die böhmischen Länder von der Hochblüte der Ständeherrschaft bis zum Erwachen eines modernen Nationalbewußtseins, Stuttgart 1974, 326; die sog. Dominikaidörfer sind im Böhmen durch Verpachtung grundherrlichen Bodens an Siedler aus bestehenden Dörfern entstanden. Ihre Bewohner wurden dann als „Dominikaibauern" bzw. „Dominikalisten", alle anderen Untertanen als „Rustikalisten" bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen diesen zwei Personengruppen bzw. zwischen dem Dominikalbesitz der Obrigkeiten und dem Rustikalbesitz der Untertanen, wie sie erst die Steuerrolla in der Mitte des 17. Jahrhunderts einigermaßen festlegte, spielte im Böhmen des 17. und 18. Jahrhunderts v.a. bei der Steuererfassung eine außerordentlich wichtige Rolle. Vgl. auch V. Prochäzka, Poddanske usedlosti na dominikälni püd£ v Cechäch v letech 1550-1700 [Unter-

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schuf sich somit eine Reserve an Arbeitskräften und war mit ihren Wirtschaftsunternehmen nicht unbedingt auf die unzuverlässigen Frondienste der Untertanen angewiesen. Angesichts der hochentwickelten Forstwirtschaft gründeten die Eggenberger und v.a. die Schwarzenberger die meisten Dominikaidörfer an den waldreichen Hängen des Böhmerwaldes. Sie wurden mit ähnlichen Rechtstiteln wie die Rustikaldörfer ausgestattet (Todfallbefreiung) und auch die (Selbst-)Verwaltung unterschied sich nicht im wesentlichen voneinander. Das seit 1713 angefertigte theresianische Kataster führte elf Dominikaidörfer an, bis 1841 stieg ihre Zahl aber auf 47. 60 Die beiden großen Relationen über die Herrschaft Krumau (1704/06 und 1729) erwähnen diese Schicht von Landleuten nicht. Lässt man sie außer Betracht, dann ist die Zahl der bei der Besteuerung berücksichtigten Krumauer Bauern in der zweiten Hälfte des 17. und ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts anscheinend nur geringfügig gewachsen. Das theresianische Kataster verzeichnet 2423 Landwirte in 221 Ortschaften, wobei auch solche Dörfer mitgezählt wurden, in denen nur ein Krumauer Untertan wohnte. Das Kataster bietet einen guten Überblick über die soziale Schichtung in den einzelnen Dörfern, über die Nebenverdienstmöglichkeiten ihrer Einwohner und deren Belastung mit Frondiensten. Die Angaben des Katasters, die sich auf die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts beziehen, können mit den Informationen der älteren der beiden Relationen verglichen bzw. ergänzt werden. Dem Verfasser nach waren zu Anfang des Jahrhunderts die 212 Dörfer auf 36 Gerichte verteilt, die Zahl der Märkte blieb stabil (4). In der Herrschaft befanden sich 2808 Hausstätten, und zum ersten Mal erfahren wir aus der Relation von 1704/06 auch die Gesamtzahl der Herrschaftseinwohner - ohne die Stadt Krumau und entflohene Untertanen betrug sie 31.000.61 Sieht man einmal davon ab, wie diese Zahlen zu Stande gekommen sind, zeigen sie deutlich, wie problematisch es ist, für die frühe Neuzeit aus der Zahl der (mit Steuern belegten) Bauern auf die Gesamtbevölkerungszahl zu schließen. Was die nichtbesteuerten, landarmen Bauern, Frauen, aber auch die Waisen oder die von der Herrschaft abwesenden Untertanen betrifft, so können die Katasterangaben u.a. durch die sog. Mannschaftsbücher ergänzt werden. Diese entwickelten sich seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts aus den Waisenbüchern, sollten der verbesserten obrigkeitlichen Erfassung der Bevölkerung dienen und bilden zusammen mit den anderen bereits erwähnten Schriftstücken (Grundbücher, Kataster, Urbare) eine verlässliche Quellenbasis für die soziale Verortung der Krumauer Untertanen. 2.4. Die Herrschaft als ein einheitliches Gebiet ? Bis 1781 blieb das Gebiet der Krumauer Herrschaft in dem bereits seit den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts bestehenden Umfang, der als Arbeitsgrundlage der vorliegenden Untersuchung dienen wird, erhalten. Angesichts der räumlichen Größe wie auch der Bevölkerungszahl stellt sich allerdings die Frage, ob die Herrschaft als eine Einheit betrachtet werden darf.

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tanenliegenschaften auf Dominikalboden in Böhmen in den Jahren 1550-1700], in: PHS 5, 1959, 105-134, hier 106-110. Sommer, Königreich, 209. Neben den überwiegenden Tagelöhnern rekrutierte sich der Bevölkerungsrest dieser Dörfer aus Landhandwerkern. Vgl. Chalupa (Hg.), Tereziänsky katastr, 125. Wie Anm. 23, Fol. 31 r, „ Von Stätten, Markhten und dorfschaften", „Von Inwohnern der herrschaft Crummaw undwürck. haußstätten".

Die Bedeutung der sehr unterschiedlichen natürlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen kann im Hinblick auf das Untertanenverhalten generell kaum ermessen werden. Bestimmte mehr oder weniger feststehende innere Differenzierungsmerkmale des Herrschaftsgebiets lassen sich aber schon aus den Quellen herauslesen. Wie bereits erwähnt, untergliederte sich die Herrschaft in die Gerichte, d.h. Bezirke, die vornehmlich auf die Weiterleitung und Umsetzung obrigkeitlicher Vorgaben „nach unten" ausgerichtet waren. Sie dürften aber zugleich eines der dörflichen Ordnungssysteme dargestellt haben, das u.a. aufgrund seines langen Bestehens von den Untertanen nicht zwingend als rein obrigkeitlich konnotiert empfunden werden musste. Obwohl es zwischen den Gerichten und der Herrschaft keine andere formale Instanz gab, spielten bei der zeitgenössischen Unterscheidung von Krumauer Gegenden natürliche und später auch sprachliche Merkmale eine Rolle. So genoss z.B. das Gericht Deutsch Reichenau in mancher Hinsicht eine Sonderstellung, die durch seine isolierte Lage in den Bergen an der österreichischen Grenze begründet war. In der kanonischen Visitation der dortigen Pfarrei vom 18.10.1763 heißt es über die Stolgebühren: „[...] weilen alda keine regulierte taxa ab antiquo eingeführet ist, die im Land publizierte hingegen sich bey dortigen gebürgs-Inwohnern nicht allerdings zur Observanz bringen lasset". Die Deutschreichenauer Gerichtsangehörigen waren im Unterschied zu anderen Krumauer Untertanen auch befugt - „ weillen Sie an denen oesterreichischen granitzen ligen " - ihre Erbschaften in das Land ob der Enns zu vermachen. 63 Die wirkliche oder nur vermeintliche Sonderstellung dieses Gerichts innerhalb der Herrschaft wurde im 18. Jahrhundert Gegenstand eines langanhaltenden Streits, der später ausfuhrlich behandelt wird. In den Äußerungen der obrigkeitlichen Beamten oder anderer, außenstehender Personen wurden oft der besondere Arbeitsfleiß und die Frömmigkeit der Einwohner dieses rauhen Gebietes hervorgehoben. 64 Deutsch Reichenau gehörte den „oberen Gerichten" im Gebirge an, doch eine genaue Grenze zwischen jenen und den „unteren Gerichten", die sich in der nordöstlichen Hälfte der Herrschaft befanden, ist nur annähernd zu ziehen. Es kann ebenfalls nicht bewiesen werden, dass sich diese gewohnheitsmäßige Einteilung mit der Unterscheidung zwischen zwei Sprachgebieten deckte, die zwar seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Quellen verstärkt in Erscheinung tritt, aber älteren Datums ist. In der Relation von 1704/06 ist die Rede über „die teütschen (gehöhter)" und „die böhmen"65; die bereits erwähnte eggenbergische Instruktion aus dem Jahre 1707/08 spricht ebenfalls über die deutschen und böhmischen Gerichte, die an jeweils verschiedenen Tagen die Kaufpreise von Liegenschaften ratenweise zu bezahlen hat-

SRAT, ZK, HK, Sign. I 3 P 4, kanonische Visitationen 1716-1767. SRAT, ZK, OAK, Sign. II A 8 B 2, eggenbergische Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion aus dem Jahre 1707/08. Diese Regelung, die wahrscheinlich die ältere Praxis nur bestätigte, wurde durch die Tatsache begründet, dass im Deutschreichenauer Gericht viele Ehen zwischen den böhmischen und oberösterreichischen Untertanen zustande kamen. Wie Anm. 62: „... und leben sonsten dortige arbeithsamme gebirgs Inwohner in einem sonderl[ich]en Tugendwandel, als worzu die Jugend Vorzüglich angehalten wird". Diese Beurteilung durch einen obrigkeitlichen Beamten ist im Kontext der kanonischen Visitation zu sehen, bei der die Beamten in Konflikten zwischen Pfarrer und Gemeinde oft Partei für die Bauern ergriffen. Wie Anm. 23, „ Von der Wüerttschaft der Unterthannen". Wie Anm. 63: „die wehrungen werden Zwey mahlen in Jahr eingefordert, nembli[ch] Vom böhmischen gerichtern nach dem fest des hl. Michaelis, von denen Teütschen aber in der fasten ".

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Die im Gericht gesprochene Sprache wurde auch bei der Bekanntmachung von herrschaftlichen, kreisamtlichen und anderen Anordnungen berücksichtigt. Im Jahre 1753 ging die deutsche Ausfertigung eines Patents an die Märkte Kalsching, Oberplan und Priethal und die Gerichte Wuldau, Tweras, Deutsch Reichenau, Salnau, Tisch und Oberhaid/Zbytiny, die tschechische an die Gerichte im nordöstlichen Teil der Herrschaft (Berlau/Brloh, Ober- und Unterbreitenstein/Horni und Dolni Tfebonin, Steinkirchen/Kamenny Üjezd, Hollubau/Holubov, Probsch/Vräbce, Dechtern/Dechtäre, Ziabovrzesk/Zabovresky, Chlum und Roschowitz/Radosovice). 67 Im Jahre 1760 wurde zu den sog. böhmischen Gerichten zusätzlich das Gericht Lippen/Lipi gezählt. 1754 verteilte die Herrschaft alle zugesandten deutschen Exemplare einer Anordnung an zehn Märkte und Gerichte (darunter neu (Alt)Stein/Polnä und Chrobold/Chroboly), die übrigen Gerichte bekamen die tschechische Ausfertigung. 68 Die obrigkeitliche Verwaltungspraxis sagt wenig über die Kommunikation und konkrete Sprachwahl in der Herrschaft aus, doch abgesehen von der sprachlich gemischten Stadt Krumau lässt sich vorläufig festhalten, dass in den meisten Dörfern und im Großteil der Gerichtsbezirke eine Sprache deutlich vorherrschte. Diese Unterscheidung in eine deutsche und eine böhmische Seite geben auch spätere Topographien wieder; die erst im Bezug auf das 19. Jahrhundert stark thematisierten Sprach- und Landzuweisungen sollten allerdings für die Zeit vor 1800 besonders vorsichtig auseinander gehalten und benutzt werden, denn laut Sommer wurde z.B. das Gericht Deutsch Reichenau „das teutsche (von den Oesterreichern das böhmische) Gericht genannt".69 Es ließen sich weitere Kriterien auflisten, die die Herrschaft bzw. ihre Bevölkerung in unterschiedliche Bereiche bzw. Gruppen trennen konnten. Die individuelle Lebenswelt jedes einzelnen Untertanen in der Herrschaft war um die Mitte des 17. Jahrhunderts nicht allein durch seine Vermögensverhältnisse bestimmt, denn in gewisser Weise davon unabhängig überzog ein Netz von Zahlungs-, Abgabe- und Arbeitspflichten die Herrschaft. Ein weiterer Unterschied zwischen einzelnen Dörfer lag in den Dispositionsbefugnissen, die ihre Bewohner über die Höfe hatten. Diese sozialen Grundstrukturen werden im folgenden Abschnitt kurz skizziert; ihre Relevanz für die verschiedenen Formen bäuerlichen Verhaltens ist jedoch immer erst an konkreten Beispielen zu untersuchen. Bezeichnend für den Charakter der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft in Böhmen und wichtig für eine der Ausgangsthesen dieser Arbeit ist der Umstand, dass die unterschiedlichsten Formen der Untertanenexistenz in ein institutionelles System der jeweiligen Herrschaft

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SRAT, ZK, HK, Sign. 14 L a 5, staatliche Patente und Anordnungen 1548-1784. Ebd., die obrigkeitliche Durchführungsanordnung an die Richter vom 31.1.1754, „... weil nicht mehrers vorhanden ", ging nach „ Berloch, Sahorz und sodann weither jeden böhmischen Gericht Ein böhmisches, weilen deren in Überfluß hiehero geschickt worden". V. Schmidt, Versuch einer Siedlungsgeschichte des Böhmerwaldes, Oberplan, o.J., stellt auf der Sprachkarte des Böhmerwaldes die Gegend um Berlau allerdings als ein tschechischsprachiges Gebiet dar; ebenfalls Sommer, Königreich, 266, schreibt über den Ort: „Die Sprache ist hier vorherrschend die Böhmische." Sommer, Königreich, 251. Moderne Kritik der Sommerschen und Schallerschen Sprachgrenzziehung vgl. bei D. KrejCovä, Poznämka k jazykove hranici na mapäch v tomto dile [Anmerkung zur Sprachgrenze auf den Karten in diesem Werk], in: J. Peträn u.a., PoCätky ieskeho närodniho obrozeni. Spolefinost a kultura v 70. az 90. letech 18. stoleti [Die Anfänge der tschechischen nationalen Wiedergeburt. Die Gesellschaft und die Kultur in den siebziger bis neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts], Praha 1990, 318. Zur variierenden Bezeichnung des Gutes Wittingshausen vgl. auch Simünek, 210.

eingebunden waren oder durch dieses sogar sanktioniert wurden. Unmittelbare Präsenz bewies dieses System in der Praxis durch den Zwang zu herrschaftlichen Pflichten, durch die (Nicht)Befolgung herrschaftlicher Anforderungen (beispielsweise der Freizügigkeitsbeschränkungen) und ganz konkret durch Begegnungen bzw. Kontakt mit der Obrigkeit, d.h. mit ihren unterschiedlichsten Repräsentanten. Die Herrschaft ist nicht als kultureller Raum 70 , sondern eher als eine mit dem ländlichen Alltag eng verknüpfte Institution zu verstehen. Schließlich sei nochmals die unumstößliche Tatsache betont, dass die ländlichen Welt der Vormoderne fast nur in dieser feinen Verwobenheit mit herrschaftlichen Strukturen zum Ausdruck kommt und erfassbar ist. So erschließt sich dem Historiker die Gesellschaft der Krumauer Herrschaft in einer durch die Verwaltung vereinheitlichten Überlieferung. Sie trägt der angedeuteten (natürlichen) Heterogenität des Raumes Rechnung und ermöglicht zugleich, unter Berücksichtigung aller Besonderheiten die Herrschaft als ein Beispiel der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft in Böhmen zu sehen. Eine moderne Betrachtung frühneuzeitlicher Untertanenverhältnisse sollte die Komplexität der Beziehungen zwischen den diversen Herrschafts- und Machtträgern und den Landleuten unterschiedlicher sozialer Stellung im Auge behalten. Die vorliegende Arbeit strebt keine vollständige Erforschung und Deutung dieses Beziehungsgeflechts in der Krumauer Herrschaft an. Schon die genaue Unterscheidung der interagierenden Subjekte bereitet manche Schwierigkeiten, denn gegenseitige Verpflichtungen gab es nicht nur zwischen - vereinfacht gesagt - Untertanen und Obrigkeit, sondern auch zwischen Bauern und Gemeinde oder Gericht. Dabei ist es wichtig, dass einige dieser Pflichten „vertraglich" keine Einzelpersonen banden, sondern auf den Höfen oder Dörfern lasteten71, und andererseits nicht der Obrigkeit als solcher, sondern einer bestimmten Wirtschaftseinrichtung oder Institution (Meierhof, Mühle, Säge, Gemeinde, Gotteshaus u.ä.) zu leisten waren. Sie konnten zwar schriftlich fixiert sein, doch bis ins 18. Jahrhundert hinein scheint für ihre Wahrnehmung und Ableistung die traditionelle (mündliche) Überlieferung ebenso wichtig gewesen zu sein. Es entstand also eine Art unpersönliche Beziehung, die man durch Geburt oder Heirat auf sich nahm und die unabhängig vom eventuellen Hofbesitzer- oder Obrigkeitwechsel existierte. Die Kontinuität der gegenseitigen Verpflichtungen und Rechte über Generationen hinweg stellt freilich nur eine - obwohl keineswegs nur theoretische - Seite der sozialen Relationen innerhalb der Herrschaft dar. Diese Beziehungen waren nicht statisch und nicht von genereller Selbstverständlichkeit, weil sie zugleich in der tagtäglichen Praxis erneuert und aktualisiert wurden, und grundsätzlich alle Beteiligten die Möglichkeit besaßen, ihre Veränderungen zu verlangen bzw. zu bewirken. So wurden beispielsweise die Untertanenprivilegien und -befreiungen auf Ansuchen der Gemeinden vom Kaiser oder neuen Herrschaftsbesitzer bestätigt, die Arbeitspflichten (Frondienste) in Zahlungen umgewandelt

Kultureller Raum soll hier allgemein einen durch menschliche Tätigkeit spezifisch geprägten Raum heißen, der auch als Bezugsobjekt menschlichen Denken fungieren kann. Zu einem anderen, stark landwirtschaftlich gefärbten Begriff „historische Kulturlandschaft" vgl. A. Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive - Bretzwill und das obere Waldenburger Amt von 1690 bis 1750, Liestal 1992, 74. So lastete z.B. die Fronpflicht nicht auf den Personen, sondern auf den Liegenschaften, vgl. J. Pekar, Kniha o Kosti. Kus £eske historie [Das Buch über die Burg und Herrschaft Kost. Ein Stück böhmischer Geschichte], Praha "1970, 267.

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und die staatlichen Regulierungsmaßnahmen umgesetzt. Jede Quelle, die über diese Modifizierungen berichtet, spiegelt die zeitgenössische Auseinandersetzung zwischen dem Herkömmlichen und dem Neuen wider und erschwert es dem Historiker, einen Fixpunkt zur Beurteilung der konkreten Verhältnisse in der Herrschaft zu finden. Die folgende Darstellung ihrer rechtlichen und sozialökonomischen Aspekte im 17. und 18. Jahrhundert will lediglich in groben Zügen den Rahmen abstecken, in dem das Leben der Krumauer Bevölkerung verlief. Da sie v.a. auf normativen Quellen basiert, muss die Diskrepanz zwischen den überlieferten Idealvorstellungen der Praxis und der Praxis selbst stets beachtet werden. 3. Die rechtliche Lage der Krumauer Untertanen Zum Krumauer Untertanen wurde man entweder durch Geburt oder durch eigene Entscheidung. Im ersten Fall ergab sich die Untertänigkeit automatisch, da „ [...] alle aus Leib aigenen Eltern auf unserer herrschaft Crummau Erzeigte und gebohrne Kinder unsere Leib aigene unterthanne seynd [...]".72 Im zweiten Falle musste es sich nicht unbedingt um den Entschluss zur Heirat eines Krumauer Untertanen und die daraus resultierende Anerkennung der Krumauer Obrigkeit handeln, obwohl dieser Fall der gängigste war. Laut der Instruktion von 1707/08 bezog sich das „Einheiraten" in die Krumauer Untertänigkeit „ Vermög der Observanz" nur auf Frauen. Heiratete ein fremder Mann eine Krumauer Untertanin, musste das nicht unbedingt eine Veränderung seines bisherigen Status nach sich ziehen; die Kinder aus einer solchen Mischehe folgten allerdings dem rechtlichen Status der Mutter und wurden zu Krumauer Untertanen.73 Theoretisch konnte sich eine Person auch ohne Heirat in die Untertänigkeit begeben. Auf die gegenseitigen Überlassung von Untertanen waren auch die Vereinbarungen zwischen Adligen ausgerichtet. Die Obrigkeit interessierte sich für die Person ihres künftigen Untertanen nur insoweit, als er ordentlich aus dem bisherigen Herrschaftsverband entlassen werden sollte. Diesem Zwecke dienten die sog. Losbriefe, die der ehemalige Herr - oft auf Ansuchen der neuen Obrigkeit - dem Untertanen ausstellte.74 Bei der Aufnahme eines neuen Untertanen war entscheidend, dass ihm in der Herrschaft eine Subsistenzsmöglichkeit (freie Hofstelle oder Familie, in die die Frau heiratete) geboten wurde und die Obrigkeit aus der Bewirtschaftung eines Anwesens durch ihn oder aus seinen herrschaftlichen Frondiensten und Zahlungen wirtschaftlichen Nutzen ziehen konnte. Ob die freiwillige Übernahme der Krumauer Untertänigkeit durch eine erwachsene Person eine besondere Zeremonie (etwa Leistung des Untertaneneides) erforderte, ließ sich bis jetzt nicht belegen. Symbolisch wurde die Zugehörigkeit zum

So die eggenbergische Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion von 1707/08 (wie Anm. 63). Ebd. Über die entscheidende Rolle der Mutter bei der Bestimmung der Untertänigkeit von Kindern vgl. Grünberg, Bauernbefreiung, 3. Dazu Instruktion von 1707/08: „...wann Ein unseriger unterthann Entlaßen werden sollte, so ist es zu berichtfen], ob solche auf freyen fueß oder Einen andern herrn Vor unterthänig gelaßen werde, ob uns an ihme was gelegen seye? und was er in oder außer des grundbuchs für ein Vermögen habe, und ob er sich dessen nicht Verlustig gemacht, ob er verheyrath oder ledig seye, ob Von dem orth wohin Er zu Entlaßen ist, ein wechßl zu hofen und Endlich was vor den Loßbrief Von Ihme begehret werden konnte. "

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Herrschaftsverband beim Wechsel des regierenden Familienmitglieds durch die Huldigung ausgedrückt und bestätigt.75 Alle Besitz- und Verfiigungsrechte sowie Ansprüche auf obrigkeitlichen Schutz und obrigkeitliche Hilfe leiteten sich gerade aus dem Untertanenstatus ab. Dieser rechtliche Sachverhalt, den der Verfasser der erwähnten Instruktion aus obrigkeitlicher Sicht als „ aigenthum " bezeichnete, stellte das erste grundlegende Unterscheidungsmerkmal der Bevölkerung der Krumauer Herrschaft dar.76 Nur die Personen, an denen der Herrschaftsbesitzer das Eigentum besaß, konnten als „Krumauer Untertanen" betrachtet werden. Aus der Untertänigkeit als einer allgemeinen Zugehörigkeitskategorie im ständischen System des frühneuzeitlichen Böhmens resultierten zwar schon konkrete Konsequenzen für das Untertanenleben in der Krumauer Herrschaft (etwa Zinszahlungen), erst auf ihr bauten aber weitere Institute und Verpflichtungen auf, die die Gestaltung des Obrigkeit-Untertanen-Verhältnisses genau bestimmten. Viele von ihnen wurden im Terminus „Leibeigenschaft" zusammengefasst, der daher eine wichtige Rolle bei der Beurteilung der Stellung der Untertanen in ganz Böhmen spielt. 77 Dass Untertänigkeit und Leibeigenschaft als zeitgenössische Begriffe unterschieden wurden, lässt sich auch anhand von Krumauer Quellen belegen. Bei der Huldigung vor den Vertretern des neuen Fürsten Adam Franz zu Schwarzenberg am 29.4.1719 hatten die Abgeordneten der Stadt Krumau „ den gehorsamb, die Trew Undt Unterthünigkeit angelobet, ein gleiches nachgehents

die Markht Undt dörfer Gethan, mit dem Unterschiedt,

dörfer den Gehorsamb,

die Trew, Unterthünigkeit,

daß die Markht

Undt wahre Leib aigenschaft

haben Undt

angelobet

haben. "78 Auch bei anderen Gelegenheiten wurde betont, dass die Stadt Krumau zu keiner Leibeigenschaft verpflichtet sei 79 , und die Huldigungsformeln erwecken den Eindruck, als sei

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Die Huldigung wird hier im Kap. IV als eine der symbolischen Formen der Herrschaft behandelt. Zum „Eigentum" als einer von der Leibeigenschaft relativ unabhängigen Kategorie der „herrlichen Gewalten" vgl. R. Blickle, Leibeigenschaft. Versuch einer Zeitgenossenschaft in Wissenschaft und Wirklichkeit, durchgeführt am Beispiel Altbayerns, in: J. Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, 53-79, hier 70. Aus dem Inhalt dieses Begriffs auf die Untertanenlage zu schließen, scheint schon deswegen problematisch, weil er selbst bei Juristen und Vertretern der Obrigkeiten (und in der Sicht der Untertanen) uneinheitlich war, was sich auch auf die spätere Geschichtswissenschaft übertrug. Vgl. W. Troßbach, „Südwestdeutsche Leibeigenschaft" in der Frühen Neuzeit - eine Bagatelle?, in: GG 7, 1981, 69-90, hier 83-84. M. Hroch und J. Peträfl, Das 17. Jahrhundert. Krise der feudalen Gesellschaft, Hamburg 1981, 140, wollen unter „Leibeigenschaft" nicht nur den rechtlichen Status, sondern die gesamte soziale Lage der Untertanen verstehen. Die marxistische Auffassung der DDR-Geschichtswissenschaft vgl. bei G. Heitz, Zum Charakter der zweiten Leibeigenschaft, in: ZGW 20, 1972, 24-39. Zur Frage, ob es in den böhmischen Ländern überhaupt Leibeigenschaft gab und was darunter zu verstehen sei, äußerte sich bereits Grünberg, 87-94; dazu eine Stellungsnahme aus der Position der marxistischen Geschichtsschreibung bei J. Kofi, Patent o zruäeni nevolnictvi v ceskych zemich [Das Patent über die Aufhebung der Leibeigenschaft in böhmischen Ländern], in: CsÖH 17, 1969, 69-108, hier 69-70. Eine vorwiegend auf den normativen Quellen und frühneuzeitlichen Lexika beruhende Begriffsanalyse siehe bei J. Mikulec, Poddanskä otäzka v baroknich Cechäch [Die Untertanenfrage im Böhmen des Barockzeitalters], Praha 1993, 9-23. Eine Übersicht über die Problematik der Leibeigenschaft/Leibherrschaft in der deutschen rechts- und agrarhistirichen Forschung bietet C. Ulbrich, Leibherrschaft am Oberrhein im Spätmittelalter, Göttingen 1979, 11-19. Das Zitat aus dem Brief des Krumauer Oberhauptmanns von Liebenhaus an den Fürsten vom 29.4.1719 über den Verlauf der Huldigung am selben Tag; SRAT, ZK, Bestand Schwarzenbersky rodinny archiv [Schwarzenbergisches Familienarchiv] (künftig SFA), Sign. F.ü. V 2 e/1, Fasz. 114. SRAT, ZK, HK, Sign. I 5 BP ß Nr. 27a (rot), Vidimus eines am 11.7.1719 vom Fürsten erlassenen Hofkanzleidekrets, durch das ein Rechtsstreit zwischen der Stadt und der Herrschaft Krumau beigelegt wird. Die künftigen Huldigungen der Stadtabgeordeneten sollen demnach „ vor anderen leibeigenen Leüthen in

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die Leibeigenschaft ein ausschließliches Charakteristikum der dörflichen Untertanen. Eine vereinzelte Erwähnung aus dem Jahre 1729 lässt vermuten, dass v.a. die Vorstellungen der Marktbewohner über die Art der herrschaftlichen Bindung noch freier sein konnten. Der Aussage eines Bürgers aus Kalsching/Chvalsiny zufolge erwiderte der dortige „Primator" auf die Bitte des Kriebaumer Richters, die Kalschinger mögen den Weg zum Kalksteinbruch und Kalkofen reparieren, dass „Zu Zeiten des geweßten hferrnj burggrafens Amann diese sach in so weit ausgemacht seyn solle, daß die unterthannere diesen weeg räumen sollen [...]". Offensichtlich davon augehend, die Kalschinger Bürger wären keine Untertanen, suchte er bei der Obrigkeit deswegen nach, „ihme diese raumung nicht- sondern denen herumliegenden gerichten aufzulegen",80 Das Selbstbewusstsein der Kalschinger Bürger bzw. ihrer Vertreter kam auch zwei Jahre später zum Vorschein. Den Stadtprivilegien, die 1731 an den Kaiser zur Bestätigung zugeschickt werden sollten, wollten sie auch ein Gesuch um die Befreiung von der Leibeigenschaft beilegen. Von diesem Vorhaben brachte sie jedoch der Krumauer Oberhauptmann, unter dessen Vermittlung die Privilegien eingeschickt wurden, ab. 81 Abgesehen von den sog. Freisassen, deren vereinzelte Güter meist im Laufe des 18. Jahrhunderts an die Herrschaft kamen 82 , gab es nur vereinzelt Personen, die im Herrschaftsbezirk dauerhaft wohnten und dabei keine Untertanen der Krumauer Obrikeit waren. Als 1729 ein gewisser Georg Seitl, „welcher ein freye Chalupen zu Crembs besitzen und er samt Weib und Kindern Niemand unterthännig seyn solle", wegen Diestahlverdacht ins Schlossgefängnis kam, erkundigte sich die Obrigkeit gleich bei dem örtlichen Richter, „was dies vor eine freye Chalupen seye"P Ebenfalls wenig verbreitet, aber nicht ausgeschlossen war die Eventualität, dass eine Person zwar ein Untertan der Krumauer Herrschaft, jedoch kein Leibeigener war, wie wir das z.B. über den Sohn des Schulmeisters aus Oberplan/Horni Plana aus dem Jahre 1712 erfahren. 84 Obwohl ein solcher Fall relativ selten vorgekommen sein dürfte, findet sich eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen den lediglich Untertanen und den Leibeigenen auch in einer herrschaftlichen Instruktion.85

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loco separato Verrichtet und das diesfällige Jurament nach denen gewöhnlichen Formalien, nemblichen: Wir geloben unterthänig-treü undgehorsamb zu sein etc. abgelegt werden [...] " . Vgl. SRAT, ZK, HK, Sign. I 5 AP 1 (rot), Vergleichsprotokolle der Herrschaft Krumau, Bericht Julius Payers aus Kalsching vom 7.2.1729. Vgl. SKAK, Archiv mésteáka Chvaläiny [Marktarchiv Kalsching], Sign. B I 1, Gedenkbuch (Gemeindechronik) von Kalsching 1724-1938, Pag. 17-19v, Eintrag zum 20.10.1731: die Kalschinger haben „darbey auch weegen Entlassung von der leib Eigenschaft anlang[en] wollen, welches aber Zuthuen Uns obgedachter gnädige h[err] Oberhaubtmann göntzlich wiedferjrathen mit Vermelden, das dieses lhro durchleicht [...] uns wurde zu greßten Schaden gereichfen], mithin wier es auch Unterlassen] haben". F. J. Capek, Svobodníci na byvalém panství Cesky Krumlov [Die Freisassen in der ehemaligen Herrschaft Cesky Krumlov], in: Vybér 13, 1976, 238-242, erwähnt ein Gut, zwei Höfe, drei Hammerschmieden und eine Glashütte, deren Eigentümer im 16. und 17. Jahrhundert den Freisassenstatus besaßen. Die meisten von diesen Gütern sind bis 1719 allerdings an die Krumauer Herrschaft verkauft worden. Die böhmischen Freisassen waren keiner Ortsobrigkeit, sondern direkt dem König unterworfen. Vgl. SRAT, ZK, HK, Sign. I 5 AP 1 (rot), Vergleichsprotokolle der Herrschaft Krumau, Eintrag zum 25.6.1729. Vgl. SRAT, ZK, HK, Sign. I 8 B Nr. 1, sog. Berichtenbuch der Herrschaft Krumau (1710-1714/15), Eintrag zum 28.11.1712. Die Herrschaft konnte vom Sohn des Oberplaner Schulmeisters keine Leibeigenschaftspflichten verlangen. Die Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion von 1707/08 unterscheidet, was die Priorität bei der Versorgung mit dem Gesinde angeht, u.a. die „RobothbahrfenJ" Untertanen, „die übrige Leib Eigene[n]" und „unleib Eigene unterthanne".

Die Obrigkeit definierte ihre Vorstellung von Leibeigenschaft - mit Ausnahme der noch zu behandelnden Konfliktfälle - relativ selten. Als der herrschaftliche Registrator Ambrosius Augustin Halatschek in der Relation vom 19.11.1729 die Privilegien der vier Märkte in der Krumauer Herrschaft abhandelte, merkte er an, dass „alle diese Markt mit der Leib aigenschaft bieshero behaft seynd1. Im Fall von Kalsching hieß es beispielsweise, dass der Obrigkeit (und nicht der Gemeinde) das Recht zustand, die Strafen für (bestimmte) Delikte zu verhängen. Kein Einwohner durfte ohne obrigkeitliche Bewilligung die Herrschaft auf Dauer verlassen („in die frembde gehen"), und der Marktflecken war verpflichtet, herrschaftliches Bier auszuschenken.86 Obwohl die Relation betreffs der Leibeigenschaft von Kalsching und Oberplan noch die Zahlungen von Georgi- und Gallizins erwähnt, bleibt fraglich, ob gerade diese grundsätzlich von allen Untertanen zu entrichtenden Leistungen zum Wesen der Leibeigenschaft gezählt werden können. Die gleichfalls genannten Frondienste weisen hier wahrscheinlich nur auf das aus der Leibeigenschaft resultierende obrigkeitliche Recht hin, dieselben zu fordern. Leibeigenschaft ist aber nicht als eine Einschränkung von Rechtsautonomie der Gemeinden zu deuten, wie es diese Quelle vermuten ließe, sondern war - wie die Untertänigkeit, die eigentlich erst die Voraussetzung für Leibeigenschaft schuf - in erster Linie ein personaler Rechtsstatus.87 Die enge Verknüpfung zwischen den beiden erschwert es, diejenigen obrigkeitlichen Befugnisse (oder bäuerlichen Freiheitsbeschränkungen) exakt auszumachen, die nur auf dem Leibeigenschaftstitel gründeten. Neben den Freizügigkeitsbeschränkungen gehörte dazu auch die Pflicht, für Heirat, Studium oder Handwerkslehre von Kindern die obrigkeitliche Einwilligung einzuholen.88 Ob die Unterwerfung unter die lokalherrschaftliche Jurisdiktion, die erbliche Verpflichtung zu Frondiensten und der Zwangskonsum von bestimmten herrschaftlichen Produkten aus obrigkeitlicher Sicht den Status eines Untertanen oder aber eines Leibeigenen begründeten, bleibt fraglich. Das Wesen der Leibeigenschaft und ihre Verschränkung mit der Untertänigkeit zeigt sich auch in einer Regelung aus der eggenbergischen Instruktion von 1707/08: Wenn die Krumauer Untertanen ein Kind auf den fremden Gütern Erzeigen", wo die Leibeigenschaft ,gebrüchig" ist, werde dasselbe zum Leibeigenen des jeweiligen fremden Herrn. Geschehe dies aber dort, „wo [...] die Leib Eigenschaft nicht gebrauchig ist: E[xempli] g[ratia] in osterreich und in Rom. Reich etc.", so werden die Kinder Untertanen der Krumauer Herrschaft.89 Es bleibt festzuhalten, dass die obrigkeitlichen Ansprüche auf Regelung des Untertanenlebens, die in Krumau als „Leibeigenschaft" begriffen werden konnten, v.a. auf eine starke Bindung des Untertanen und seiner Kinder an die Herrschaft zielten. Weitere Befugnisse, durch die die Obrigkeit das Untertanenwirtschaften nach eigenen Vorstellungen regulierte und die in der Forschung ebenfalls unter „Leibeigenschaft" eingeordnet werden (Möglichkeit, 86 87

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Wie Anm. 26, Pag. 74v und 79v. J. Cechura, Cloväienstvi [Die Leibeigenschaft], in: PHS 33, 1993, 33-51, 48, interpretiert „Cloväienstvf" („homagium") anhand der Quellen aus der Zeit vor 1600 als persönliches Gelöbnis, das der Wahrung von Untertänigkeit diente. Die Begriffe „Leibeigenschaft" („Cloviienstvi") und „Untertänigkeit" („poddanstvi") stellt der Autor in semantische Nähe. Diese Bedeutung lässt sich auf die Verhältnisse in einer Herrschaft im 17. und 18. Jahrhundert allerdings nicht anwenden. Der Begriff „Schollenbindung" wird hier aufgrund seines schlagwortartigen Gebrauchs vorerst gemieden. Instruktion von 1707/08 (wie Anm. 63).

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den Bauer vom Grund abzusetzen, Beschränkungen des bäuerlichen Testierungsrechts, Zwang zu Frondiensten), sollten eher gesondert betrachtet werden.90 3.1. Die Erbpraxis oder Die schwere bürde des Todte[n¡fahlsu Zu den unmittelbaren Eingriffmöglichkeiten der Obrigkeit in die bäuerliche Welt zählte auch die Kontrolle des Verfiigungsrechts der Untertanen über ihre Häuser, die seit dem 16. Jahrhundert in der Herrschaft auch z.T. bedeutende Veränderungen des Besitzrechtes hervorrief. Solche Eingriffe ließen die obrigkeitlich sanktionierte Erbpraxis in und zwischen den Dörfern oft beträchtlich differieren, so dass man hier keinen einheitlichen Zustand finden kann. Am ausfuhrlichsten informiert uns die Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion aus dem Jahre 1707/08 über die Erbpraxis in der Krumauer Herrschaft. (Obwohl es sich hier im Grunde um einen normativen Text handelt, beschreibt dieser auch die bisherige Erbpraxis.) Hinsichtlich dieses für den ländlichen Alltag überaus wichtigen Rechts zerfiel die Herrschaft gewissermaßen in zwei Teile. In einem Teil genossen die Bauern das Recht, Testamente zu verfassen und ihr Vermögen zu vermachen; da die Obrigkeit aber keinesfalls an der Weitervererbung des Besitzes an herrschaftsfremde Personen interessiert war und die wirtschaftliche Substanz der Herrschaft erhalten wollte, konnten die meisten testierberechtigten (sog. privilegierten) Untertanen ihr Vermögen wiederum nur Krumauer Untertanen vermachen („manche aber allein unsern Unterthannen und keinen frembden"91). Davon ausgenommen waren etliche Gerichte, Dörfer und Höfe, wenngleich auch ihr Testierrecht nicht uneingeschränkt war. Die Angehörigen des Gerichts Deutsch Reichenau beispielsweise waren, „Weillen Sie an denen oesterreichischen granitzen ligen, [...] darumben auch befiigt die Erbschaften in daß Land ob der Ens gegen die gewöhnliche abford-geld abzufolgen, auf andere frembde herrschaften aber nicht". Das Testierrecht war unmittelbar mit dem Institut des obrigkeitlichen Heimfallsrechts92 verbunden, obwohl sich die beiden Begriffe aus heutiger Sicht nicht decken. In der Instruktion J. Välka, „Zruäeni nevolnictvi" roku 1781 (Termin a skuteCnost „nevolnictvi" v d6jinäch a historiografii) [„Die Aufhebung der Leibeigenschaft" im Jahre 1781 (Der Begriff und die Wirklichkeit von „Leibeigenschaft" in der Geschichte und Geschichtsschreibung)], in: JM 17, 1981, 110-120, hier bes. 112-113, führt aus, dass gerade die persönliche Bindung des Untertanen zur Obrigkeit, die in der obrigkeitlichen Aufsicht über das Umziehen, Heiraten, Arbeiten und evtl. Studieren von Untertanen(kindern) zum Ausdruck kommt, das alleinige Wesen der Leibeigenschaft im 17. und 18. Jahrhundert ausmachte. Ihm zufolge kennt das Tschechische des 17. und 18. Jahrhunderts kein Äquivalent für „Leibeigebschaft". In der späteren Zeit (bis heute) wird dafür der Begriff „ilovädenstvi" bzw. „nevolnictvi" benutzt. Mit dem letzteren Begriff wird allerdings nicht so sehr die Qualität des Obrigkeit-Untertanen-Verhältnisses, sondern mehr die Bezeichnung für die soziale Lage der Untertanen zwischen 1620 und 1781 assoziiert. Die Ausübung von leibherrlichen Rechten über die auf fremden Territorien wohnenden Untertanen kam in Böhmen ebenso wenig vor, wie auch die böhmische Leibeigenschaft mit der Leibherrschaft am Oberrhein, wie sie Ulbrich, Leibherrschaft, u.a. 286-290, behandelt, verglichen werden kann. Falls nicht anders angegeben, stammen alle Zitate im folgenden Abschnitt aus der Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion von 1707/08 (wie Anm 63). In den Quellen wird die Geltung des obrigkeitlichen Heimfallsrechts für einen Untertanen durchgehend als

„Todenfaht, „Todtenfalt bzw. „Tödtenfälligkeit bezeichnet. Im Text werden die Bezeichnungen Todfall evtl. Totenfälligkeit verwendet. Es scheint mir wichtig zu betonen, dass der in der Krumauer Herrschaft vorkommende „Todfall" dem rechtshistorisch gesehenen Heimfallsrecht (vgl. Anm. 93) entspricht und

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von 1707/08 heißt es: „der Todenfahl macht den unterthan unfähig ein Testament oder andern Letzten willen auf zurichten, auch bey seinen Lebzeiten durch übermäßige Schänkungen und durch Vorsetzlich-unnöthige außgaben [...] sein Vermögen Verthuen zu können [...]". Das Recht, Testamente zu verfassen, und das Heimfallsrecht der Obrigkeit andererseits können unter den Bedingungen der Krumauer Herrschaft nicht als Ausdruck absoluter Dispostionsfreiheit bzw. -einschränkung der Untertanen aufgefasst werden, sie bilden vielmehr zwei kodifizierte Muster des (obrigkeitlichen) Umgangs mit bäuerlichen Besitzverhältnissen. Der Kreis der erbberechtigten Personen war bei einem testierfahigen Erblasser, der ohne letzten Willen starb, umfangreicher als beim Todfall, der die Zahl der möglichen Erben deutlich beschränkte. In der Krumauer Herrschaft konnten in diesem Fall nur die Kinder nach ihren Eltern erben. 93 Der Todfall teilte also die gesamte Bevölkerung der Herrschaft in zwei Gruppen. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts war die Zahl der testierberechtigten Gerichte etwa so groß wie die derjenigen, die dem Todfall unterworfen waren. Diese Gerichtsbezirke bildeten aber kein kompaktes Gebiet, was u.a. auf die Entwicklung der Todfallbefreiungen in der Krumauer Gegend zurückgeführt werden kann. Die ältesten Belege über die Erteilung von Todfallbefreiungen stammen aus dem Jahre 1418.94 Im Laufe des 16. Jahrhunderts erteilten die Rosenberger diese Privilegien weiteren Gerichtsbezirken, die darum angesucht hatten. Die Konzentration der Privilegienvergabe auf bestimmte Jahre (1564/65, 1581, 1652, 1705/08) lässt die Vermutung zu, dass der Impuls dazu auch von obrigkeitlicher Seite kommen konnte. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sollen sowohl Wilhelm als auch Peter Wok von Rosenberg dieses Recht den Dörfern für die Erhöhung der bisheigen Arbeits- und Zahlungsverpflichtungen bzw. für eine beliebige Summe sogar angeboten haben. 95 Ökonomische Überlegungen der Obrigkeit mögen in späterer Zeit eine Rolle gespielt haben, denn der übliche Preis für die Befreiung vom Heimfallsrecht war die Verdoppelung des bisher vom Gericht zu zahlenden Zinses. Zum ersten Mal wurde er in den Privilegien für die Gerichtsbezirke Salnau/Zelnava und Oberhaid/Zbytiny aus dem Jahre 1564 festgesetzt; vorher waren die Dörfer offensichtlich ohne jegliche Zahlung

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nicht mit den aus Südwestdeutschland bekannten „Abgaben von Todes wegen" (Troßbach, Südwestdeutsche Leibeigenschaft", 81) identisch ist. Das obrigkeitliche Heimfalls-/ Todfallsrecht trat in (Süd)Böhmen nur dann in Kraft, wenn es nach dem Tod des Besitzers keinen Erben aus dem genau bestimmten Kreis gab. Dazu auch E. Maur, Das bäuerliche Erbrecht und die Erbschaftspraxis in Böhmen im 16.-18. Jahrhundert, in: HD 20, 1996, 93-118, hier 103. Der böhmische Todfall wäre - trotz der zeitlichen Differenz - eher mit dem südwestdeutschen Erbrecht vergleichbar; vgl. Ulbrich, Leibherrschaft, 282283,297. Das entspricht dem böhmischen Recht, nachdem unter Heimfallsrecht nur die Verwandten ersten Grades erbberechtigt sind, solange sie allerding derselben Herrschaft wie der Erblasser angehören. Vgl. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2., Berlin 1978, „Heimfallsrecht", Sp. 51-55, hier 53. Für die Krumauer Herrschaft galt in diesem Falle folgende, die Frauen benachteiligende Regelung: Hinterließ der Erblasser sowohl Söhne als auch Töchter und Witwe, erbten alle zu gleichen Teilen. War der Sohn der einzige Erbe, fiel ihm die ganze Erbschaft zu, während die Tochter oder die Witwe - als einzige Erbin - nur die Hälfte bekam und die andere der Herrschaft zufiel. SRAT, ZK, HK, Sign. I 5 AU Nr. 2 und 3 (rot), Todfallbefreiungsprivilegien für Berlau/Brloh, Neudorf/Novä Ves und Roschowitz/Radoäovice aus dem Jahr 1418. Laut J. Hanzal, Vyvoj a vyznam poddanskö odümrti v pfedbälohorskych Cechäch [Die Entwicklung und Bedeutung des Todfallsrechts bei den Untertanen in Böhmen vor der Schlacht am Weißen Berg], in: SAP 10, 1960, 146-180, 147, handelt es sich dabei um die überhaupt ersten Befreiungen auf den weltlichen Herrschaften Südböhmens. Zu Wilhelm vgl. Hanzal, Vyvoj, 152; zu Peter Wok vgl. Stejskal, Obilni dluhy, 35.

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befreit worden. 96 Bis ins 18. Jahrhundert hinein blieb dieser Preis unverändert, ähnlich wie die Form des Privilegiums selbst. Nur die Dominikaidörfer Neuöfen/Novä Pec, Glöckelberg/ Zvonkovä, Christianberg/Krist'anov und Johannesthal/Jänske Üdoli, die zwischen 1689 und 1708 jeweils kurz nach ihrer Gründung befreit wurden, zahlten aufgrund ihrer besonderen rechtlichen Stellung einen festen Betrag (meistens 36 Kreuzer pro Haus).97 Die Bedeutung der Todfallbefreiung für die Untertanenfamilien kann an dieser Stelle nicht vollständig ermessen werden. Ihrem Wortlaut nach bedeutete sie eine gewisse Absicherung des bäuerlichen Besitzes 98 , allerdings nur für den Fall, dass der Bauer ohne Erben ersten Grades starb oder dass er sein Vermögen nicht diesen, sondern anderen Personen vererben wollte, was jedoch nicht häufig vorgekommen sein dürfte. Die meisten Bauern traten die Höfe an ihre Söhne und Töchter (bzw. deren Ehemänner) ab und die eventuelle Befreiung vom Todfall hätte ihnen keine faktischen Vorteile gebracht.99 Es lag vielmehr im Interesse der Obrigkeit, das wahrscheinlich selten angewandte Heimfallsrecht durch die immerhin regelmäßigen Zahlungen abzulösen. Trotzdem war zu Anfang des 18. Jahrhunderts noch ungefähr die Hälfte aller Gerichte „todenfällig", was auch darauf hindeutet, dass die Untertanen in diesem obrigkeitlichen Recht nur eine geringe Bedrohung für den Besitz ihrer Liegenschaften sahen. 100 Zu dieser Zeit befanden sich in der Krumauer Herrschaft insgesamt vier Märkte und elf (sowohl Rustikal- als auch Dominikal-)Gerichte, die völlig vom Todfall befreit waren, und weitere sieben teilbefreite Gerichte, in denen noch etliche dem Todfall unterworfene Häuser oder Dörfer lagen. (Es handelte sich meistens um neue Siedlungen der sog. Häusler.) Diesen 18 mehr oder weniger „freien" Gerichtsbezirken standen am Anfang des 18. Jahrhunderts 13 Gerichtssprengel gegenüber, in denen die Obrigkeit ihr Heimfalls56

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Kalousek (Hg.), Dodavek, 44-45, Befreiung der Dörfer aus dem Gerichts Oberhaid/Zbytiny. Vgl. ebenfalls SRAT, ZK, HK, Sign. I 7 W £ 3, Beilagen zur Relation über die Herrschaft Krumau von 1704/06, ,JSpecifikation der Jenigen gerichter, welche Ihrer hochfürst[lichen] gnaden, wegen befreyung des todtenfahls Jährlich] etw[a]s gewißes Reichen, Und auch deren die nichts gebefnj" vom 31.12.1705. Im Falle der Dominikaidörfer scheint die von der Obrigkeit nun als vorteilhaft erkannte Befreiung vom Todfall fast als ein Teil der Gründungsstrategie. Vgl. die Befreiungsprivilegien für Neuöfen (1689) und Johannesthal (1705) bei Kalousek (Hg.), Dodavek, 334, 371. Ebd., 254, Todfallbefreiung für die Untertanen aus den Dominikaldörfem Ober- und Unterschneedorf/Horni und Dolni Sn62nä vom 31.8.1652; die allen Privilegien seit 1564 gemeinsame Formel lautet: „dass alle Inwohner [...] beeder männlichen und weiblichen Stamens alle ihre Gueter, liegend und fahrent, mögen geben und verschaffen, sambentlich und unterschiedlich, bei gesundten Leib oder am Tottenbet, wemb oder wohin sie wollen, ohne unser, auch Unserer Erben und Nachkomben einigerlei Hindernuss [...]". Ähnlich stellt R. Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993, 437, bezüglich des Dispositionsrechts der Untertanen fest: „[...] erstens dienen Regeln [die obrigkeitlichen Einschränkungen dieses Rechts, P.H.] dazu, bestimmte Vorhaben und Wünsche gar nicht erst aufkommen zu lassen; und zweitens mochten sich die Einstellungen und Verhaltensdispositionen der Bauern bezüglich der Gutsnachfolge in mancher Hinsicht mit denen ihrer Obrigkeit gedeckt haben". Hanzal, Vyvoj, 157, legt darüber hinaus dar, dass die aufgrund des bestehenden Heimfallsrechts an die Obrigkeit zu zahlende Summe für die Untertanen eine niedrigere Belastung darstellte als der doppelte Zins. Geringes Interesse der rosenbergischen Untertanen an der von der Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angebotenen Befreiung vom Heimfallsrecht erwähnen auch A. Stejskal, Nedoplatek a zpitnä dotace - sociälnäekonomicke kategorie rozmberskych velkostatkü (1550-1611) [Der Rückstand und die Rückdotation - zwei sozialökonomische Kategorien des rosenbergischen Großgrundbesitzes (1550-1611)], in: ÖNM-RH 164, 1995, 6-39, 9; und Hanzal, Vyvoj, 152. Ebensowenig interessiert waren die böhmischen Untertanen nach 1618 auch am sog. Ankaufsbesitz [zäkupni drzba] ihrer Güter, der ihnen nominell bessere Verfugungsrechte sichern sollte; vgl. Maur, Erbrecht, 96-97 (Begriff des Verfassers).

recht geltend machen konnte, und fünf Gerichte, die abgesehen von wenigen Höfen ebenfalls dem Todfall unterworfen waren. Die befreiten Gerichte unterschieden sich zusätzlich dadurch, dass in fünf von ihnen (und in zwei Märkten) die Bauern ihr Vermögen auch Herrschaftsfremden vermachen konnten.101 Eine besondere Gruppe bildeten femer die Dominikalgerichte Christianberg, Glöckelberg und Johannesthal. Während in den anderen befreiten Dörfern der Kreis der erbberechtigten Personen allein durch die Herrschaftszugehörigkeit eingeschränkt war, durften hier - bei einem Todesfall ohne letzten Willen - nur diejenigen erben, „ welche denen Verstorbenen bis auf das 7te glid nach der bürgerlichen Stammes Rechnung Verwandt wären ".102 Ähnlich wie bei anderen von der Herrschaft abgeleiteten Rechten und Pflichten waren nicht nur die Gerichte, sondern auch einzelne Dörfer und Höfe gleichermaßen durch diverse, historisch bedingte Formen des Besitzrechts geteilt.103 Trotz seiner anscheinend eher geringen realen Bedeutung besaß der Todfall bzw. die Befreiung von ihm in der Beziehung zwischen Obrigkeit und Untertanen einen symbolischen Wert. Abgesehen davon, ob und wie oft er angewandt wurde, verkörperte er die nominellen Machtverhältnisse in verschriftlichter Form und konnte zum Ausdruck herrschaftlicher Macht (darunter auch Gnade) werden, wie dies auch in die in der Einleitung zitierte Schilderung Casimir Freschots Eingang gefunden hat. Der Autor der Relation über die Herrschaft Krumau aus den Jahren 1704-1706104 schlug dem Fürsten vor, einige Veränderungen in der obrigkeitlichen Sanktionierung der Erbpraxis vorzunehmen. In seiner Ausführung hebt er zunächst ihre Besonderheiten hervor. Die allgemeine Regelung, die sich auf die böhmischen Stadtrechte stützt, werde durch die Klauseln der einzelnen Todfallbefreiungsprivilegien konkretisiert - und zwar generell in dem Sinne, dass vor den näheren, aber herrschaftsfremden Verwandten des Erblassers die entfernteren, aber der Krumauer Herrschaft angehörenden Verwandten bevorzugt werden. Was den Todfall angeht, herrschen in der Herrschaft dem Verfasser zufolge die härtesten Bedingungen in ganz Böhmen, wodurch sich sein Vorschlag an den Fürsten, den Todfall in der ganzen Herrschaft unentgeltlich abzuschaffen, erklären lässt. Der Fürst würde dadurch seinen „armen" Untertanen eine besondere Gnade erweisen. 105

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'

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Alle Angaben stammen aus der eggenbergischen Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion aus dem Jahr 1707/08. Die genaue Erfassung wird zusätzlich dadurch erschwert, dass in der Auflistung neben den Gerichten auch einzelne Dörfer und Liegenschaften vorkommen. Ebd. Zu ähnlichen Verhältnissen in der südböhmischen Herrschaft Frauenberg/Hlubokä n. Vltavou vgl. J. Salaba, PfispSvky k däjinäm selskiho präva dädickiho v 17. stoleti [Beiträge zur Geschichte des bäuerlichen Erbrechts im 17. Jahrhundert], in: £CH 12, 1906, 191-197, hier 193. Die sog. Liebenhaussche Relation über die Herrschaft Krumau wurde so schon kurz nach ihrer Entstehung nach dem Krumauer Hauptmann und späteren Oberhauptmann Johann Sebastian von Liebenhaus benannt. Seine Unterschrift steht auch unter deren Endfassung, die vom 12.5.1706 datiert. Die Relation entstand aber in einer längeren Zeitspanne. Die vorhergende Visitation der Herrschaft unternahm und die erste, wichtigste Version der Relation verfasste schon im April 1704 der fürstliche Buchhalter Johann Paul Kess(e)l. Diese und weitere Unterlagen für die Relation befinden sich in SRAT, ZK, HK, Sign. I 7 W £ 3. Die Endfassung der Relation findet sich in SRAT, ZK, HK, Sign. I 7 W C, Nr. 1 (rot). Ebd., „dießen armen mit einer so schweren bürde des Todte[n]fahls beladenen Unterthannen ein so güettiger und mitleydentiicher herr undt fürst Verlyhen worden, Von dessen güettigkeit sie die Linderung in diser Ihrer betragnuß, ja so gahr die Völlige befrewung darvon zuhoffen hetten, auß welichen nit allein ein Ewiger Ruhm, sondern auch eine unaußlösch[liche] danckhbarkeit der armen Unterthannen, Undt so wohl ihr, alß ihrer nachkomenden Eyfriges andächtiges gebett Vor ihren so güettigfenj Undt grossen Wohlthäter erfolgen wuerde [•••]"•

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Dem emphatischen Wortlaut dieses Vorschlags nach scheint es, als hätte der symbolische Inhalt des obrigkeitlichen Todfallsrechts (potenzielle Anwendung als Ausdruck fürstlicher Macht) seine tatsächlichen Umsetzungsmöglichkeiten übertroffen. Die Vermutung, der Beamte hätte dem Fürsten nur die praktische Nutzlosigkeit dieses Rechts für die Obrigkeit vor Augen fuhren bzw. das Interesse der Untertanen für die Befreiung stärken wollen, wäre nur dann berechtigt, wenn die Relation in der Öffentlichkeit hätten bekanntgemacht werden sollen. Sie war zwar kein vertrauliches Dokument, diente aber, soweit sich feststellen lässt, nur den inneramtlichen Zwecken. Einige Jahre später, 1718, erließ Adam Franz zu Schwarzenberg für seine böhmischen Herrschaften (zu welchen Krumau aber erst ab 1719 gehörte) eine Regelung, die eine deutlich strengere Todfallpraxis vorsah. Aus rechtlichen Erwägungen machte er seinen Anspruch auf das Vermögen derjenigen verstorbenen Untertanen geltend, die auf den schwarzenbergischen Gütern keine Verwandten hatten. Er ging in seinen Überlegungen noch weiter, als er jegliche Disposition mit dem Besitz eines Leibeigenen von der obrigkeitlichen Zustimmung abhängig machte106, und setzte somit die Leibeigenschaft mit der schärfsten Form des Todfallsrechts („Caducität") gleich, wie sie die eggenbergischen Instruktionen kaum gekannt hatten. Andererseits formulierte er hier nur mit anderen Worten die verbreitete Bewilligungspflicht, der der Besitztransfer der Untertanen schon vor 1718 unterlag. Die Umsetzung bzw. Auswirkung dieser Anordnung in der Krumauer Herrschaft wurde nicht verfolgt, ihrer Abschlussklausel zufolge scheint es aber, dass sie sich doch nur auf den Besitz bezog, für den es in den schwarzenbergischen Herrschaften keine Erben gab. In einem der nächsten Kapitel soll auch der Stellenwert der Todfallbefreiung für die Untertanen am konkreten Beispiel gezeigt werden. Dieses Recht war Gegenstand von Verhandlungen zwischen Obrigkeit und Untertanen, und die zumal von der Obrigkeit fast aufgedrängte Befreiung konnten im Prinzip auch einzelne Liegenschaften erlangen. Das Befreiungsprivilegium stellte eines der wenigen Schriftstücke dar, das die Untertanen zur Verteidigung ihrer Position gegenüber der Obrigkeit in Händen hielten. Es nimmt deswegen nicht Wunder, dass es von ihnen breiter ausgelegt oder gar instrumentalisiert werden konnte. Unter den rund 30 Personen, die bei einer Untersuchung im Jahre 1706 angegeben hatten, von den Frondiensten befreit zu sein, befanden sich auch sechs Müller bzw. Hammerschmiede und drei Bauern, die zur Untermauerung ihrer vermeintlichen Freiheit nur das Todfallprivilegium (auch „Befreiungsbrief' oder „Freibrief' genannt) vorzuweisen wussten. Es ist allerdings nicht überliefert, ob sie bloß zur Vorlage aller ihrer Privilegien aufgefordert worden waren oder ob sie ihren „Freibriefen" (absichtlich) mehr Rechte zu entnehmen suchten, als diese tatsächlich enthielten.107 106

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J. Kalousek (Hg.), Rädy selski a instrukce hospodäfske 1698-1780 [Die Bauernordnungen und Wirtschaftsinstruktionen 1698-1780], Praha 1908 (AC 24), 118-119, Anordnung Adam Franz' zu Schwarzenberg an den Wittingauer Hauptmann Zelenka vom 17.8.1718: „[dass] ein leibeigener Unterthan ohne Consens und Einwilligung seiner Obrigkeit keine freie Disposition über das seinige hat. Wie Anm. 104. Diese Untersuchung, die vom Rentschreiber Matthies Constantin Dvofäk am 31.12.1706 beendet wurde, ist ein Nachtrag zu der Liebenhausschen Relation. Über zwei Bauern aus dem Gericht Kriebaum/Vit&Sovice heißt es dort beispielsweise: „dieße beede haben von denen herren von rosenberg Ein Jeder einen befreyungs brief des todtenfahls Vorgewissen, undt weillen darine[n] weegen der robotth nichts enthalten ist, dahero kheine andere Ursach wüßendt, als das wegen der dazumall Von ihren häusern Verrichten högereyen robott freygelasse[n] worden seint. "

Das obrigkeitliche Heimfallsrecht war vermutlich schon am Ende des 16. Jahrhunderts ein wenig genutztes Instrument, blieb aber bis ins 18. Jahrhundert hinein bestehen. Die Instruktion von 1707/08 betonte u.a., dass zwischen den „Todtenfahligen" und ,freyen" keine Heiraten gestattet werden sollten, was sich daraus erklärt, dass dadurch zwei unterschiedliche Rechtstitel vermischt worden wären. Die rechtliche Norm zielte naturgemäß darauf, diese auseinander zu halten sowie andere klar umrissene Vorstellungen der Obrigkeit über die Verwaltung des Untertanenvermögens zu formulieren bzw. in die Tat umzusetzen. Die Obrigkeit wollte mit kodifizierten Eingriffen in die Besitzübertragungen nicht nur die Führung der Untertanenwirtschaften beeinflussen, sondern schuf damit auch ein Disziplinierungs- bzw. Bestrafungsmittel. Es lassen sich folgende obrigkeitliche Grundeinstellungen beobachten: Der höchste Stellenwert kam der Sicherung der (Re)Produktionsfahigkeit der Höfe zu, die eine indirekte Einnahmenquelle für die Herrschaft und gleichzeitig die Existenzgrundlage der Untertanen bildeten. So wurden sie nicht nur als Ganzes vererbt oder veräußert, sondern sollten auch ohne Beteiligung anderer Bauern bewirtschaftet werden. 108 Die Richter sollten die Obrigkeit über baufällige oder schlecht bewirtschaftete Höfe in Kenntnis setzen, damit sie rechtzeitig reagieren konnte - sei es mit einer Beihilfe für den Hof oder (in den hoffnungslosen Fällen) mit der Abstifitung des Bauern. Besondere Aufmerksamkeit widmete die Instruktion von 1707/08 auch der Existenzsicherung der restlichen Erben, die keinen Hof übernahmen. Wie sie wörtlich festlegte, durfte nach dem Tod eines Wirtes der Hof nicht geteilt werden Böhmen gehörte zum Gebiet des Anerbenrechtes. Die Erbteile der Witwe und der Kinder wurden ratenweise aus der Summe beglichen, die der neue Hofbesitzer für die Liegenschaft bezahlte, wobei es sich häufig um einen der Söhne des verstorbenen Bauern handelte. 109 Diese landesweite Regelung lässt aber nur wenige Rückschlüsse auf die allgemeine Einstellung der Krumauer Obrigkeit gegenüber den Hinterbliebenen zu. Vielmehr handelt es sich hier um eine langfristige und nicht immer neu reflektierte Strategie, um durch die möglichst dauerhafte existenzielle Absicherung dieser Personen die Zunahme der mittellosen Schicht in der Herrschaft zu verhindern. Die Beamten waren zweitens darum bemüht, dass die Höfe nur von Personen übernommen wurden, die auch in der Zukunft deren relative Prosperität und die Ableistung von Abgaben und Pflichten garantierten. Informationen über die in Frage kommenden Landwirte konnte sie v.a. von den Dorfrichtern und -geschworenen beziehen, aber auch sie selbst waren verpflichtet, die Dörfer zu visitieren; über diese Aufsichtstätigkeit sind wir leider nur in Einzelfällen unterrichtet. Die wirksamste Einflussmöglichkeit bot sich der

Die Instruktion aus dem Jahre 1642 (Anm. 24) zählt unter den Aufgaben des Richters u.a. auf: „die Ackher, wißmatten und Wälder von den Stuften zu VerkaufefnJ, zu Versetze[n] od[er] Zu Verlaße[n] Umb die helfte od[er] drittes Mandl anzubauen, od[er] anders unsern Underthanen sich einzuschuldige[n], solle keinerley gestalt ohne große Noth und bewegung nicht gestattet [...] werden [...]"• Weiter vgl. die Instruktion aus dem Jahre 1707/08, „[...] daß Niemandt dem genus seynes feldes oder wißene einem anderen es seye auf ein oder mehr Jährigen genues Verkaufen oder sonsten überlassen oder mit einem andern anbauen solle, dann dardurch werden die unterthannere in Ihrer Nahrung geschwächet [...] ". In der Instruktion wurde dieses auch anderorts verbreitetes Verfahren folgendermaßen konkretisiert: „ dann obschon der Vatter entweder bey lebzeiten seinen hof dem Sohn überlast, oder mit seinem Testament Verordnet, daß eines von seinen Kindern den hof besitzen solle, so bekombt doch das kind den hof nicht geschänckter oder als eine Erbschaft, sondern ein weegs als aus dem andere Titulo des kauffs, weillen ihme der hoff in einem gewissen Kauf Schilling geschäzt und Käuflichen zugeschriben wird, von welcher Summa hernach diepraetedenten befridiget werden [...]". Vgl. auch Maur, Erbrecht, 102-105.

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Obrigkeit dadurch, dass grundsätzlich alle Besitzübertragungen in der Herrschaft über die Schlosskanzlei laufen und vom Waisenschreiber in die dort geführten Grundbücher eingetragen werden sollten.110 Die zuständigen Beamten sollten dabei sowohl auf die wirtschaftliche Tauglichkeit als auch auf den Sittenwandel des Erbfolgers achten. Dieser Moralkontrolle unterstanden auch die übrigen Erben (samt der Witwe), denen ihre Anteile am Wert des Hofes oder Hauses in Geld ausgezahlt wurden. Alle Zahlungen und Forderungen unter Bauern, die in irgendeiner Weise den herrschaftlichen Hoheitsbereich berührten (wie gerade die Erbschaftsangelegenheiten), sollten mittels des Amtes abgewickelt werden. So erlegten die neuen Besitzer die Kaufsumme für den Hof in jährlichen Raten (sog. Wehrungen) beim Waisenamt (zum „Buch"), von wo aus das Geld an die Hinterbliebenen (im zeitgenössichen Sprachgebrauch an die „Waisen" 111 ) ausgezahlt wurde. Ob diese Anordnung, die den Bauern verbot, gegenseitige Forderungen untereinander zu begleichen, strikt befolgt wurde, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Man kann aber davon ausgehen, dass sich die Mehrheit der betroffenen Personen zu den alljährlich stattfindenden „Wehrungslegungen" in der Tat auch eingefunden hat. Mit der Verwaltung von Waisengeldern verfügte die Obrigkeit also über ein Mittel, mit dem sie das Untertanenverhalten sanktionieren konnte. Die von der Obrigkeit eingezogenen bzw. nicht ausgezahlten Erbschaftsanteile nannte man „Devolutionsgelder", von denen es in der Instruktion heißt: „Devolution gelder seynd die Jenige welcher unß als Crummauer grundt obrigkeit nach denen Entlojfenen, ohne obrigkeit[liehe] Verwilligung Verhayrathen, oder sonsten übl Verhaltenen Unterthannen heibmfallen, daß also die Entloffene und übl Verhaltene Ihr Vermögen Verliehren und solches der obrigkeit Eigenthumblich zuständig seye."1 2 Vorab muss angemerkt werden, dass diese immerhin einem normativen Text entstammende Regelung viele Ausnahmen und Einschränkungen enthielt, die ihre Anwendung präzisierten. Erstens konnten die Untertanen dadurch nur an dem Vermögen, das sich unter der obrigkeitlichen Verwaltung befand, aber nicht an ihrem unbeweglichen Gut bestraft werden. (Die Abstiftung eines Bauern stellte ein anderes, mit der Erbschaftsregelung nicht unbedingt zusammenhängendes Rechtsinstitut dar.) Zweitens wurde in der Instruktion ganz genau festgelegt, unter welchen Bedingungen eine Person für entflohen zu halten sei.113 Für diejenigen, die diese Kriterien erfüllten, hatte die Einziehung des Vermögens tatsächlich den Charakter einer Strafe, denn sie sollte unabhängig davon verhängt werden, ob sie eventuell später in die Herrschaft zurückkehrten. Die Verstöße gegen obrigkeitliche Normen wie Flucht aus der Herr110

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Eine der ersten Anordnungen der Instruktion lautet: ,ßs solle Niemandt ein hauß oder hof auf andere weis besitzen und genüßen, als allein mittelst der grund biieher". Ob grundsätzlich alle Grundbücher im Schloss hinterlegt wurden, lässt sich nicht entscheiden. Die Waisen werden in der Instruktion folgendermaßen definiert: „die Waysen seynd Vermög des böhmischen] rechts die Jenigen, deren Vatter gestorben ist und die Kinder ihre Vogtbarkeit nicht Erreichet haben. " Gleichzeitig musste aber der Verfasser der Instruktion feststellen, dass es in der Krumauer Herrschaft üblich war, die vaterlosen Kinder auch nach der Erreichung der Volljährigkeitsgrenze (18 Jahre bei Männern und 15 Jahre bei Frauen) für Waisen zu halten, solange sie ledig waren. So fanden sich in der Herrschaft auch sechzig-, siebzig- und achtzigjährige Waisen, über welche die Richter nichts zu ermitteln wussten. J. Horsky - M. Seligovä, Rodina naSich pfedkö [Die Familie unserer Vorfahren], Praha 1997, 90, vermuten, dass eine Person aus rechtlicher Sicht solange als „Waise" bezeichnet wurde, solange ihr ihr Waisenanteil von der Obrigkeit nicht völlig ausgezahlt worden war. Instruktion von 1707/08, Abteilung „in denen Devolutions geldern" (Anm. 63). Alle Eventualitäten werden in dem Absatz über die Untertanenmobilität ausführlicher dargestellt.

schaft oder Heirat ohne vorherige Erlaubnis können sicher nicht als Sittlichkeitsdelikte bezeichnet werden. Aber auch die dritte Kategorie der „übl verhaltenen" Untertanen war - als Ausdruck obrigkeitlicher Milde - absichtlich eng und traditionell definiert und schloss nur die Personen ein, die vorehelicher Sexualkontakte überfuhrt worden waren. 114 Was dieses auf dem frühneuzeitlichen Lande weit verbreitete Vergehen angeht, bleibt es für die Krumauer Herrschaft unklar, ob die zur Strafe eingezogenen Gelder an die geschwängerte Frau bzw. an das Kind weitergeleitet wurden oder ob die Unterhaltskosten von den Vätern noch zusätzlich zu tragen waren. Die Bestrafung von unerlaubten Heiraten wurde in der Instruktion schließlich auch gemildert - in der Zukunft sollte statt des ganzen Vermögens des/der Betreffenden nur noch die Hälfte eingezogen werden. Der rechtliche Rahmen war u.a. auch durch diese Norm ziemlich genau abgesteckt worden. Die endgültige Entscheidung über die Einziehung von Erbteilen stand aber - zumindest nominell - dem Fürsten/der Fürstin zu. So hatte im Oktober 1711 Margareth Bartin aus Dechtern/ Dechtäre „Umb den Erbtheill, so ihr beede KindferJ Verlustiget habe[n]" angesucht. Ihr Sohn Georg hatte sich im Jahre 1710 „ mit einer ledigen Persohn von Zabovreskh [...] fleischlich vermischet, jedoch sie nicht geschwängert", ihre Tochter Veronica war „aber von einem Netolizer herrschafts Unterthann anheüer geschwängert worden". Dem Amtsbericht nach waren die beiden Erbteile (jeweils 19 Schock, 51 Groschen, 5 Denare) bereits der Strafe „zugeschrieben", jedoch noch nicht eingenommen worden. Die Fürstin Maria Ernestine hatte über ihre Hofkanzlei am 29.8.1711 beide Strafen gemildert - Georg wurde verpflichtet, eine bestimmte, sonst bezahlte Holzfällerarbeit umsonst abzuleisten, Veronica musste als Strafe „1 stückhl Leinwath" spinnen, und die Geschwister sollten ihre Erbteile doch erhalten. 115 Dieser Fall obrigkeitlicher Strafmilderung, zu dem man sowohl Parallelen als auch Gegenbeispiele finden könnte, bestätigt nochmals deutlich den bedingten Aussagewert von normativen Quellen, indem er die uneindeutige, oft bürokratisch verzögerte Strafpraxis zeigt. Die hier angeführten obrigkeitlichen Maßnahmen im Bereich der ländlichen Erbpraxis, wie sie besonders am Anfang des 18. Jahrhunderts greifbar sind 116 , zielten auf die Aufrechterhaltung und das ungestörte Funktionieren des sozialen Systems der Herrschaft ab. Die AufInstruktion von 1707/08: „vor solche übel Verhaltene aber, werdfen] Vermög der uhr alten Observanz gehaltfen] die Jenige ledige Persohnen Mann- und Weib, geschlechts, welche erweiß [lieh] fleischlich sich Versindiget haben, und obschon wegfen] anderer Laster, Eben ein solche Straf sein könte, so ist doch solches bis dato nicht practicirt worden [...], gleich wie Wür nun die Strafen zu verschärfen nicht gesinnet seynd, also Laßen es auch bey diser Observanz allerdings bewenden". Zum Begriff von Illegitimität vgl. R. Beck, Illegitimität und voreheliche Sexualität auf dem Land. Unterfinning, 1671-1770, in: R. van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, München 1983, 112-150; und P. Becker, „Ich bin halt immer liederlich gewest und habe zu wenig gebetet". Illegitimität und Herrschaft im Ancien Régime: St. Lambrecht 1600-1850, in: R. Vierhaus u.a. (Hg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992, 157179. Der Fall sowie die Zitate in SRAT, ZK, HK, Sign. I 8 B Nr. 1, sog. Berichtenbuch für die Jahre 17101714/15. Am Ende des Beamtenberichts heißt es wörtlich: „beruehet also in dero g[nä]d[ig]ste[m] beliebe [n] bey den nach g[nä] digste[m] willen Vill oder wenig daran nachgesehefnj oder in andere weege sie zu bestraffe[n] ". Es ließ sich bis jetzt nicht feststellen, warum die Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion im Jahre 1707/08 erlassen wurde. Anlass könnte der Wechsel der verantwortlichen Beamten, aber auch eine Initiative des Fürsten gewesen sein. Dem Inhalt nach bringt die Instruktion eher eine Beschreibung der bisherigen Praxis, alle Abänderungen derselben werden darin ausdrücklich als solche angemerkt.

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sieht über die Liegenschaftsübertragungen bot der Obrigkeit ein geeignetes, weil die Untertanen direkt betreffendes Mittel, ihre Vorstellungen von Herrschaft laufend umzusetzen. In den Quellen scheint die Vorstellung von existenzgesicherten Familien(wirtschaften) mit der von regelmäßig erbrachten herrschaftlichen Abgaben und Leistungen eng verbunden zu sein. In diesem stark herrschaftskonnotierten Sinne sorgte die Obrigkeit mit ihren Eingriffen in den Besitztransfer gleichzeitig für das Untertanenwohl und für ihren eigenen Nutzen. Durch Auszahlung bzw. Verweigerung von Erbschaftsanteilen konnten die Untertanen zur Befolgung von „Regeln" obrigkeitlicher Bevölkerungspolitik angehalten, vielleicht gar gezwungen werden. Überall da, wo die Regelung bäuerlicher Angelegenheiten in den Händen der Obrigkeit lag, ließ sie sich immer als gewünschte (Um)Formung des Untertanenverhaltens instrumentalisieren, was nicht nur für die ländliche Erbpraxis gilt. 4. Die Obrigkeit als „Vater" der Krumauer Untertanen 4.1. „Wittiben und weysen schüzen" Unter den Pflichten, die laut der Eidesformel von 1723-1732 dem Dorfrichter als Vertreter der Krumauer Obrigkeit vor Ort aufgetragen wurden" 7 , findet erwartungsgemäß auch der Schutz von Waisen und Witwen seine Erwähnung. Die besondere Behandlung dieser Gruppe ist typisch für die patrimoniale Gesellschaftsordnung im gesamten frühneuzeitlichen Böhmen. In den meisten Herrschaften institutionalisierte sie sich in der Form von spezialisierten Ämtern und Aktentypen, im 17. und 18. Jahrhundert stellte das Waisenwesen einen wesentlichen Verwaltungszweig dar. Das entspricht dem hohen Anteil von Waisen und Witwen an der gesamten Bevölkerungszahl und der Verantwortung, die die Obrigkeit für das Untertanenvermögen ohne männlichen Besitzer zu tragen beanspruchte. In den folgenden Ausfuhrungen wird u.a. der Frage nachgegangen, inwieweit die Elemente dieser Bevormundung auch im obrigkeitlichen Umgang mit anderen Bauern zu finden sind. Aus dem 16. Jahrhundert verfügen wir für die rosenbergischen Besitztümer über keine Berichte, die auf eine gesonderte Verwaltung von Waisenangelegenheiten hindeuten würden. Mit der Registrierung des Untertanenbesitzes in den Grundbüchern und der Einnahme der fälligen Ratenzahlungen (einschließlich Waisengelder) wurde damals der herrschaftliche Rentschreiber (düchodni pisar) beauftragt. Eine Übersicht dieser Zahlungen sollten auch die Dorfrichter führen, die Oberaufsicht stand - wie bei allen Untertanengeschäften - dem Hauptmann zu.118 Das Waisenwesen scheint sich erst nach der Übernahme Krumaus durch die Eggenberger (1622) richtig etabliert zu haben, was allerdings eher auf die gesamtböhmische Entwicklung als auf Initiativen der neuen Herrschaftsbesitzer zurückzuführen ist.119

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SRAT, ZK, HK, Sign. I 5 AU la, ,Jurament eines Richters"; die parallel erhaltene tschechische Version dieses Eides datierte J. Kalousek (Hg.), Rädy 1698-1780, 149-151, anhand von den inhaltlichen Angaben nachträglich in die Jahre 1723-1732. Cironisovä, Vyvoj, 155. Stark, Abhängigkeitsverhältnisse, 280, zufolge entstand die gesonderte Waisenschreiberfunktion nur in den größeren Herrschaften, in den kleineren oblag die Verwaltung von Waisenangelegenheiten weiterhin dem Rentschreiber. Die allmähliche Herausbildung der Waisenschreibersteile auf den wallensteinischen Güter weist S. Horäikovä, Spräva valdätejnskych statkü na Mnichovohradiäfsku v druhi polovini 17. stoleti [Die

Die Instruktion von 1642120 führte unter den Beamten bereits den Waisenschreiber an und zählte seine Aufgaben auf. Das obrigkeitliche Interesse an den Waisen ging ungefähr in drei Richtungen. Sie wurden als (unmündige) Erben betrachtet, deren Vermögen zeitweilig unter obrigkeitliche Obhut kommen konnte. Aufgrund der fehlenden väterlichen Gewalt fühlte sich die Obrigkeit zweitens für ihre Erziehung zuständig. Die obrigkeitliche Fürsorge realisierte sich letztlich als Heranziehung der Waisen zum Hofdienst. Während die Erbschaftsangelegenheiten von Waisen eher kursorisch behandelt wurden, legte die Instruktion das größte Gewicht auf die Erziehung von Waisen, die dort stellvertretend für Jugend stehen: „ Undt weillen hieran Vielgelegen, daß dergleichen] verweißte Jugendt stracks von Kindts auf In d[er] forcht Gottes auferzogen würde, dahero soll unser oberhaubtman, haubtleüth und weisenschreiber ein sond[er]lich wachtsambe aufsieht haben, daß die Muetter in Ihrem Wittibstand selbten Gottesforchtig und Ehrlich lebte[n] Undt dabey Ihren Kinder Zu allen guettefn] anführete[n], Undt in kheinen Uble[n] Leben od[er] treegheit aufwachsen lassen, Sondern strakhs von Jugendt auf zur arbeith, was sie verrichten möchten, lehrnen und gewehnefnj sollte[n] [...]". 121 Arbeit und Hofdienste werden vor allem als Erziehungsmittel dargestellt. Über die Waisen strebte die Obrigkeit eine fast väterliche Gewalt an. Sie konnte denjenigen, die „einer schörffer[en] gedechtnus wehren", das Studium oder das Erlernen eines Handwerks ermöglichen. Die anderen bestellte sie zum Dienst in Meierhöfen oder überließ „ Unsere waißen " einzelnen Bauern als Dienstpersonal. Dabei sollte auf einen christlichen Umgang und genügenden Unterhalt geachtet werden. Die normative, ihrem Wesen nach auf die Öffenlichkeit zielende Quelle ermöglicht es jedoch nicht, die Stellung der Obrigkeitsvertreter zur Waisenproblematik in aller Breite zu erhellen. In Zusammarbeit mit den Dorfvorstehern übten die Beamten die Kontrolle über die vaterlose Jugend mittels der sog. Waisenstellungen aus. Sie fanden nachweislich schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts statt, die ersten umfangreicheren Auskünfte entstammen aber der bereits bekannten Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion aus dem Anfang des folgenden Jahrhunderts. Zu dieser Zeit kann man nicht nur eine verstärkte Institutionalisierung des gesamten Waisenwesens, sondern auch die Ausdehnung der diesbezüglichen Amtsbefugnisse beobachten. Zur Waisenstellung sollten sich jedes Jahr im Dezember alle über zehn Jahre alten Waisen (und wahrscheinlich auch Kinder der „unbehausten" Untertanen, d.h. derjenigen ohne Haus bzw. Hof) einfinden. Dort wurden sie nach ihrem Lebenswandel befragt, ihre Verzeichnisse wurden aktualisiert und sie wurden für das nächste Jahr zum Dienst verteilt.122 Die Arbeitspflicht der Waisen wurde in der Instruktion explizit verankert: „[...] und ist ein jeder Wayß, Mann und Weiblichen geschlechts Schuldig, wann mann es an Ihnen begehrt 3 Jahr Verwaltung der wallensteinischen Güter in der Umgebung von Milnchengrätz in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts], in: SAP 33, 1983, 390-437, hier 420, nach. Vgl. ebenfalls Staatliches Zentralarchiv Prag, Bestand Starä manipulace [Alte Manipulation] (künftig SZA AM), Sign. E 1/5, Kartonnr. 656; das Protokoll über die Übergabe der Herrschaft Krumau an Johann Ulrich von Eggenberg aus dem Jahr 1623 fuhrt bereits den Waisenschreiber an. SRAT, ZK, OAK, Sign. II A 8 B 1, Instruction auf die samentliche herrschaft[en] in Boheimb". Dieses und die folgenden Zitate ebd. Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion von 1707/08 (Anm. 63).

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Lang hof dienst zu verrichten [,..]".m Die Hofdienste schienen nunmehr das erste Anliegen der Obrigkeit bezüglich der Waisen zu sein, wobei die Herrschaftsmeierhöfe Priorität bei der Versorgung mit Gesinde hatten, und erst dann die anderen Bauern - zuerst die frondienstleistenden, dann die leibeigenen und schließlich alle übrigen - berücksichtigt wurden. Der Hauptmann und der Waisenschreiber, die zusammen mit dem Burggraf und Wirtschaftsschreiber bei der Waisenstellung anwesend waren, sollten „der armen dienst bothe[n] Treu hertzig sich annehmen, damit sie Ihren gebührenden lohn und die nothwendige kost bekomen Und von Ihrem Wurth- und Würthinen nicht Schärfer als die Billichkeit erfordert, gehalten werden"}u Die Grenze zwischen den Waisen und den Kindern von Leuten ohne eigenen Hof verschwamm, auch letztere konnten prinzipiell zum Dienst bei der Herrschaft oder bei den Bauern herangezogen werden.125 Ob bzw. seit wann grundsätzlich alle Untertanenkinder in der Krumauer Herrschaft zum Gesindedienst verpflichtet waren, lässt sich bei jetzigem Forschungsstand nicht sagen. Die Praxis der Waisenstellungen bis 1766 ist einem Schreiben des Krumauer Waisenverwalters Franz Inghuschak vom 4.11.1775 zu entnehmen.126 Sie wurden im Rahmen der alljährlichen Abzahlungen der Erbschaftsanteile vorgenommen, sowohl direkt in den Märkten Wuldau, Oberplan und Kalsching und in den entfernten Gerichten unter Anwesenheit eines Amtsschreibers als auch im Schloss. Es scheint, dass sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts zumindest nicht alle Waisen persönlich stellten, sondern dass ihre Dienstherren den Bericht erstatteten (bzw. nur diejenigen, die ihre Höfe noch nicht völlig bezahlt hatten, wie sich der Waisenverwalter beschwerte). Vieles deutet daraufhin, dass sich zwischen 1650 und 1750 die schriftliche Registrierung von Waisen in der Krumauer Herrschaft durchgesetzt und ihre Verwaltung bürokratisiert hat, so dass das persönliche Erscheinen der Waisen nicht länger unbedingt notwendig war. Den sog. Waisenregistern oder -büchern, die sowohl von der Obrigkeit als auch von den Gemeinden geführt werden konnten, kommt in diesem Zusammenhang besondere Aussagekraft zu. Schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts registrierten diese Schriftstücke auch die „unbehausten" Untertanen (Inleute127, Altenteiler128, untertänige Jäger und Schäfer). Im Laufe der 1730er Jahre entwickelten sie sich dann zu sog. Mannschaftsbüchern, die die gesamte Bevölkerung der Herrschaft erfassten, was auch aus anderen böhmischen Gebieten bekannt ist.129 Es stellt sich folglich die Frage, ob die paternalistische 123

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Ebd.; über die Zwangsgesindedienste der Waisen siehe auch Grünberg, Bauernbefreiung, 13-14, wo er verschiedene Modalitäten der Waisendienste anführt. Hauptmann- und Waisenschreiberinstruktion von 1707/08. In der Herrschaft Jindfichüv Hradec/Neuhaus wurden andere Bauemkindern erst seit 1747 aufgrund eines obrigkeitlichen Befehls zum Hofdienst herangezogen, vgl. F. Teply, Seiski boufe [Die bäuerlichen Unruhen], Praha 1931,31. SRAT, ZK, HK, Sign. I 5 AU 1. Die in den (süd)böhmischen Quellen übliche Bezeichnung „Inmann" (PI. „Inleute") bzw. „Inwohner" steht für die Personen (und ihre Familien), die auf dem Grund eines anderen Bauern ein Haus besaßen oder direkt in seinem Haus lebten. Vgl. die deutschen Begriffe „Hausgenosse", „Einlieger" bzw. „Hintersasse". Weiter auch Bosl (Hg.), Handbuch, 325; der Verfasser setzt Inwohner mit Mieter gleich. Zu Inleuten vgl. auch A. Klima, Die Länder der böhmischen Krone 1648-1850, in: Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1993, 688-719, hier 699. Die Quellen benutzen für die Altenteiler bzw. Ausgedingebauern die Bezeichnung „Ausnehmer". Vgl. u.a. Horsky - Seligovä, Rodina, 45-47. Weiter die Instruktion des Grafen Czemin kurz vor 1700: „Es soll auch bei der Stellung der Waisen ein ordentliches Register aller Unterthanen verfaßt werden [...] woraus zu ersehen, wieviel eine jede Herrschaft Unterthanen an Angesessenen, Calupnern, Häuslern,

Haltung der Obrigkeit gegenüber den Waisen im Zuge dieser Entwicklung auch mit gewissen Abstufungen bei anderen Untertanenschichten zu beobachten ist. Die Vollbauern mögen zwar vergleichsweise unabhängiger erscheinen, sie waren aber wiederum für die herrschaftlichen Leistungen verantwortlich, die auf den Höfen lasteten. Je weniger ein Untertan in die sozialen (familiären) Strukturen der Herrschaft eingebunden war, desto direkter war anscheinend der mögliche obrigkeitliche Zugriff auf seine Person. Verstärktes Interesse galt dabei den jungen Leuten, durch deren gezielte Kontrolle man die soziale Lage in der Herrschaft am ehesten (um)gestalten konnte. 4.2. „die unterthänige

Knaben

[...] appliciren

[...]

lassen"

Durch normierende obrigkeitliche Eingriffe waren den Lebensperspektiven der Krumauer Untertanen Grenzen gesetzt, deren zeitgenössische Bedeutung (d.h. auf welche Art sie als einschränkend empfunden wurden) man mit modernen Begriffen nur annährend erschließen kann. Unter den gleichen Vorbehalten, die für die Behandlung der Waisen gelten, ließe sich auch der obrigkeitliche Umgang mit Jugendlichen aus dem Institut der Leibeigenschaft ableiten, doch wir verfügen über keine normativen Akten, die dies ausdrücklich begründen würden. Ebenso kann der Katalog der Vorrechte, die die Herrschaft über die Jugend besaß, nirgendwo nachgelesen und muss deswegen im Nachhinein rekonstruiert werden. Wollten untertänige Eltern ihrem Sohn ein „Studium" 130 oder eine Handwerkslehre ermöglichen, mussten sie dazu grundsätzlich die obrigkeitliche Zustimmung einholen. Die Gesuche der Väter oder der Jungen selbst richteten sich in der Regel direkt an den Fürsten/die Fürstin, bei dem/der auch die letzte Entscheidung lag. Als mehr oder weniger verbindliche Entscheidungsgrundlage diente das Gutachten örtlicher Beamter über die Lage der betreffenden Familien. Als wichtigste obrigkeitliche Richtlinie galt auch in diesem Bereich die Existenzsicherung und ungestörte Weiterführung der Familienwirtschaften; das Studium oder die Handwerkslehre eröffneten dagegen den Untertanen einen Weg aus der engen Bindung an den familiären oder herrschaftlichen landwirtschaftlichen Betrieb. Den Höfen drohte wahrscheinlich nur in den seltensten Fällen der Verlust des männlichen Erben, denn es ist kaum vorstellbar, dass die Eltern für den (einzigen) Sohn eine andere Zukunft beabsichtigt hätten als die Übernahme des Hofes. Man kann daher annehmen, dass die zweitgeborenen Söhne der Hofbesitzer oder die Söhne der hoflosen Untertanen den Großteil der Bewerber um die obrigkeitliche Studien- und Lehrbewilligungen ausmachten. Die Existenzgrundlage einer Familie konnte aber auch durch die Gewährung des zum Studium notwendigen Unterhaltes gefährdet werden. Mit dem Hinweis auf die übrigen acht zu ernährenden Kinder versuchte beispielsweise der Krumauer Wirtschaftsdirektor im Jahre 1770 einen Häusler von der Absicht abzubringen, dem Sohn ein Studium zu finanzieren. Doch sein Vorschlag, dem Sohn lieber eine Handwerkslehre zu ermöglichen, fiel sowohl

Hausgenossen, Manns- und Weibspersonen, Alten und Jungen [zählt]. Wer sie seind? Wie alt sie seind? Und wo sie seind? oder dienen und sich befinden." Das Zitat bei Stark, Abhängigkeitsverhältnisse, 281. Unter Studium wird hier in Anlehnung an den zeitgenössischen Sprachgebrauch jede Art höherer Bildung verstanden.

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beim Vater als auch beim Sohn auf unfruchtbaren Boden.131 Hinter diesem Überzeugungsversuch steckte offensichtlich mehr als nur die Sorge um den Haushalt eines Untertanen. Die Obrigkeit musste oft die Erfahrung machen, dass sich die studierten bäuerlichen Söhne aus dem Herrschaftsverband lösen wollten. Auf den Punkt brachte diese Einsicht im Jahre 1717 Adam Franz zu Schwarzenberg, als er dem Sohn des Wittingauer Burggrafen die Bewilligung zu höheren Studien verweigerte: „ dass jene Leute, welche ad philosophiam gehen, sich hernach quocunque modo aus ihrer angeborenen Untertänigkeit loszumachen, und unser vor sie, über ihre Eltern angewendete Mühe, Sorge und Unkosten, durch solche Anstregung unfruchtbar und vergeblich zu machen sich, soviel an ihnen ist, bemüheten"132 Der Fürst formulierte hier zugleich die Vorstellung von der beiderseitigen Verantwortung, die aus dem Untertanen-Obrigkeit-Verhältnis resultiere. Für den Schutz und die Unterstützung, die der Herr seinen Untergebenen (auch den Kindern mittels ihrer Eltern) bot, sollten diese bereit sein, in seine Dienste zu treten. Deswegen wurden von der Obrigkeit solche Studienfacher gefördert, die die Absoloventen zum späteren herrschaflichen Dienst befähigten. Adam Franz schrieb weiter: „wenn diese junge Leute, wie sie gemeiniglich vorgeben, sich zu unsern Diensten zu qualifizieren verlangen, sie hiezu ganz keine Philosophie, sondern vielmehr eines guten Lateins, sammt der Applikation zur Wirthschaft, und allenfalls, wofern sie zu etwas höheren aspiriren, der Landesordnung, Stadtrechte und peinliche Halsgerichts-Ordnung vonnöthen hatten [...] ",133 Mit der Aufgabe, den Weggang von studierten Untertanensöhnen aus den Herrschaften zu unterbinden, sah sich bereits Adam Franz' Vorgänger, Fürst Ferdinand zu Schwarzenberg, konfrontiert. Meistens handelte sich dabei um Jungen, die die Laufbahn eines Geistlichen einschlagen wollten, während der Fürst bestrebt war, „die unterthänige Knaben [...] (welches für sie und die Herrschaft besser) ad agriculturam, oder wenigstens ad officia appliciren zu lassen".134 In dieser Äußerung klingt erneut die Vorstellung von den letztlich identischen Interessen der Untertanen und der Herrschaft an. Gleichzeitig offenbart sich hier die angestrebte obrigkeitliche Verfügungsgewalt über die Landleute, deren Durchsetzung in der Praxis jedoch nicht uneingeschränkt möglich gewesen sein dürfte. In jedem konkreten Fall spielten offensichtlich mehrere Faktoren mit. Was die Lage der Familie und die Befähigung des Bewerbers anging, verließ sich der Fürst auf die Beamtenberichte, deren Entstehungsumstände und Objektivität sich heute nur selten herausfinden lassen.135 131 132

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SRAT, ZK, HK, Sign. I 5 A U 3, Studienbewilligungen für die Untertanen (1718-1780). Kalousek (Hg.), Rädy 1698-1780, 60, Brief an den Hauptmann der Herrschaft Wittingau/Tfebofi Zelenka, datiert in Wien, 20.10.1717. Zu diesem Zeitpunkt gehörte die Herrschaft Krumau den Schwarzenbergern allerdings noch nicht. Ebd J. Kalousek (Hg.), Rädy selske a instrukce hospodafske 1627-1698 [Die Bauernordnungen und Wirtschaftsinstruktionen 1627-1698], Praha 1906 (A