Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933: Band 3/Teil 1 USA [Reprint 2011 ed.] 9783110968521, 9783908255161


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German Pages 481 [484] Year 1999

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
EXILJAHRE IN DEN USA
ABKÜRZUNGEN
AUTOREN
JIMMY BERG
ERNST BLOCH
BERNHARD BLUME
THOMAS OTTO BRANDT
OTTO UND EGON EIS
ELISABETH FREUNDLICH
OTTO FÜRTH
MARIA GLEIT
KURT R. GROSSMANN – ROBERT M. W. KEMPNER
MARTIN GUMPERT
JOSEPH HAHN
KARL JAKOB HIRSCH
HEINRICH EDUARD JACOB
HANS JANOWITZ
ALBRECHT UND RUDOLPH JOSEPH
HERMANN KESSER
RUTH LANDSHOFF-YORCK
VALERIU MARCU
HILDE MARX
HANS MEISEL (JAMES H. MEISEL)
MAX OPHÜLS
FELIX POLLAK
CURT RIESS
ERICH FRITZ SCHWEINBURG
FREDERICK UNGAR
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Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933: Band 3/Teil 1 USA [Reprint 2011 ed.]
 9783110968521, 9783908255161

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DEUTSCHSPRACHIGE EXILLITERATUR SEIT 1933 BAND 3

USA H E R A U S G E G E B E N VON JOHN M. SPALEK, KONRAD FEILCHENFELDT UND SANDRA H. HAWRYLCHAK TEIL 1

K G · SAUR VERLAG BERN UND MÜNCHEN 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. - Bern ; München : Saur Bd. 1 u.d.T.: Deutsche Exilliteratur seit 1933 ISBN 3-907820-43-6 Bd. 3. USA / hrsg. von John M. Spalek ... Teil 1 - (2000) ISBN 3-908255-16-3

Θ Gedruckt auf säurefreiem Papier / Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved K.G. Saur Verlag AG Bern und München, 2000 Part of Reed Elsevier Printed in the Federal Republic of Germany Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig. Druck/Printed by: WS Druckerei, Bodenheim Binden/Bound by: Buchbinderei Schaumann, Darmstadt ISBN 3-908255-16-3

INHALT Vorwort Exiljahre in den USA Abkürzungen

VII XI XIII

AUTOREN Jimmy Berg. Von Horst Jarka (Univ. of Montana) Ernst Bloch. Von Karlheinz Weigand (Ernst Bloch-Archiv) Bernhard Blume. Von Regina Weber (Stuttgart) Thomas Otto Brandt. Von Karin Hamm-Ehsani (Union College) Otto und Egon Eis. Von Johanna W. Roden (California State Univ., Long Beach) Elisabeth Freundlich. Von Susanne Alge (Berlin) Otto Fürth. Von Ursula Macris (Harwick College) Maria Gleit. Von Barbara Asper (Berlin) Kurt R. Grossmann — Robert M.W. Kempner. Von Lothar Mertens (RuhrUniv. Bochum) Martin Gumpert. Von Jutta Ittner (Case Western Univ.) Joseph Hahn. Von David Scrase und Wolfgang Mieder (Univ. of V e r m o n t ) . . . Karl Jakob Hirsch. Von Helmut F. Pfanner (Vanderbilt Univ.) Heinrich Eduard Jacob. Von Hans Jörgen Gerlach (Berlin) Hans Janowitz. Von Rolf Riess (Regensburg) Albrecht und Rudolph Joseph. Von Therese Ahern Äugst (Princeton Univ.).. Hermann Kesser. Von Johannes F. Evelein (Trinity College) Ruth Landshoff-Yorck. Von Christiane Merkel (Brühl) Valeriu Marcu. Von Andrei Corbea-Hoisie (Univ. Ia§i) Hilde Marx. Von Albrecht Bald (Bayreuth) Hans Meisel. Von Klaus Täubert (Berlin) Max Ophüls. Von Helmut G. Asper (Univ. Bielefeld) Felix Pollak. Von Viktoria Herding (Univ. of Nevada, Reno) Curt Riess. Von Christoph Eykman (Boston College) Erich Schweinburg. Von Christine Möhrle (Frankfurt/Main) Frederick(Fritz) Ungar. Von Jessica Roland (Univ. Mainz)

1 15 51 80 98 109 131 142 155 164 190 203 215 258 283 300 313 323 344 371 386 407 418 431 448

VORWORT Der vorliegende Teilband (dem zwei weitere Teilbände folgen sollen) ist zugleich Fortsetzung und vorläufiger Abschluß der Studienreihe über deutschsprachige Literatur (unter Einschluß von Publizistik und Fachprosa) im amerkanischen Exil nach 1933. Dem jetzigen Werk gingen zeitlich der Kalifornien-Band (Bd. I), der New York-Band (Bd. II) und der dreiteilige Bibliographien-Band (Bd. IV) voraus. Mit der nun einsetzenden Veröffentlichung des dritten Bandes wird die Reihe der Studien vorerst abgeschlossen sein. Die umgekehrte Reihenfolge ist durch finanzielle Gründe zu erklären, aber auch durch die Tatsache, daß im Zuge der Recherchen Autoren ermittelt werden konnten, deren Beschreibung zunächst archivarische und bibliographische Vorarbeit voraussetzte1. Der erste Teil des geplanten Bandes bringt fünfundzwanzig Einzelporträts (in drei Fällen Doppelporträts) von Schriftstellern in weitesten Sinn: Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Drehbuchautoren und Publizisten. Teilband Zwei wird weitere Einzelporträts sowie eine Reihe von Aufsätzen enthalten, die Gruppen von Schriftstellern zusammengefaßt darstellen sollen, z.B. Kinderbuchautoren, Germanisten, Drehbuchautoren, Ubersetzer u.a. Der dritte Teilband enthält eine Reihe von thematischen Aufsätzen, die die Darstellung der deutschsprachigen Literatur nach 1933 in den USA weiter ergänzen sollen: das Bild der USA in den Autobiographien, Vortragstätigkeit der Exilschriftsteller und Publizisten, Anti-Nazi Filme der Exilautoren, Verlage im Exil, literarische Agenturen, die Rückkehrproblematik, die Rettungsaktionen und Hilfstätigkeit prominenter Amerikaner, die American Guild for German Cultural Freedom u.a. Schließlich bringt der dritte Teil etwa acht Aufsätze mit einem komparatistischen Ansatz zur europäischen Literatur im amerikanischen Exil, nämlich zu Autoren aus Spanien, Ungarn, Polen, Rußland, Holland, Italien und den baltischen Ländern. Diese vergleichenden Aufsätze sollen auf ein noch weitgehend vernachlässigtes Forschungsgebiet aufmerksam machen. Sie stellen die Frage nach der Gemeinsamkeit des Exilerlebnisses — wie auch nach dessen Unterschiedlichkeit — vor dem Hintergrund einer europäischen Exilbewegung, wobei die Gemeinsamkeiten überwiegen dürften. Der polnische Autor Czeslaw Milosz drückt das deutlich im Titel seiner Autobiographie aus, Rodzinna Europa (wörtlich übersetzt bedeutet er «Heimat Europa» oder «heimatliches Europa»); der Titel betont nicht das Ursprungsland im engeren Sinne, sondern die europäische Kultur, die man verlassen mußte. Das gleiche wird von Heinrich Mann mit der Kapitelüberschrift «Abschied von Europa» in seinem Buch Ein Zeitalter wird besichtigt gesagt. Wie bei den Aufsätzen über deutschsprachige Exilschriftsteller, geht es um die Frage, wie das Exil erfahren wurde und wie sich diese Exilerfahrung in den Werken von Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern niedergeschlagen hat. Die Einzelporträts in diesem Band sind Exilschriftstellern gewidmet, von denen dem deutschsprachigen Publikum eine ganze Reihe kaum bekannt geworden

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VORWORT

bzw. bisher unbekannt geblieben ist. Betroffen ist eine ganze Generation von Autoren, die infolge ihrer Geburtsjahrgänge als Opfer ihrer Exilierung betrachtet werden muß. Die Tatsache, daß die deutsche Öffentlichkeit sie nicht wahrnehmen konnte, läßt sich als eine Generationsfrage beschreiben. Zwanzig von den achtundzwanzig Autoren waren beim Verlassen Deutschlands und Österreichs erst Anfang dreißig, einige hatten das dreißigste Lebensjahr noch nicht erreicht. Daher lohnt es sich, die Autoren im Kalifornien- und im New York-Band mit denen im vorliegenden Band zu vergleichen. Von den vierzig Autoren, die im KalifornienBand vorgestellt werden, sind vierundzwanzig, also die Mehrzahl, vor 1900 geboren und nur sechzehn im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts. Es scheint bezeichnend, daß praktisch alle Drehbuchautoren zur jüngeren Generation gehören. Bei den Autoren, die der älteren Gruppe angehören, handelt es sich deshalb um Namen, die dem deutschen Lesepublikum weitgehend bekannt waren, wie z.B. Heinrich und Thomas Mann, Bertolt Brecht, Vicki Baum, Alfred Döblin, Leonhard Frank, Bruno Frank, Lion Feuchtwanger, Alfred Polgar, Erich Maria Remarque und Franz Werfel. Die jüngeren (d.h. die nach 1900 geborenen), wie z.B. Günther Anders, Hans Habe, Friedrich Torberg und wohl auch Victoria Wolff wurden in Deutschland mit ihrem Werk erst nach 1945 bekannt und oft noch viele Jahre später. Ihr Werk ist zum großen Teil im Exil entstanden, und die Exilzeit erstreckt sich dabei auf mehr als nur die zwölf Jahre der Naziherrschaft. Was von den Autoren im Kalifornienband gesagt wurde, gilt in noch stärkerem Maße für die einundachtzig Schriftsteller, denen Einzelporträts im New York-Band gewidmet sind. Von diesen sind sogar siebenundfünfzig vor 1900 geboren und nur vierundzwanzig im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Zu den bekanntesten Autoren der älteren Generation im New York-Band gehören Hermann Broch, Ferdinand Bruckner, Ivan Göll, Oskar Maria Graf, Annette Kolb, Emil Ludwig, Klaus Mann, Walter Mehring, Hertha Pauli, Hans Sahl, Fritz von Unruh, Carl Zuckmayer und Stefan Zweig, von denen die meisten dem deutschsprachigen Leser mehr oder minder gut bekannt sein dürften. Als die ersten Aufsätze über Günther Anders, Soma Morgenstern, Rose Ausländer und Vicki Baum im Kalifornien-Band bzw. im New York-Band veröffentlicht wurden, waren diese Autoren noch weitgehend unbekannt. Sie und andere haben in der Zwischenzeit ihren Stellenwert in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts erhalten, und es ist zu hoffen, daß eine Reihe von Autoren, die in diesem Band zum erstenmal vorgestellt werden, ebenfalls größere Beachtung durch weitere Studien und durch die Veröffentlichung ihres Werkes erfahren werden. Ein wichtiger Umstand, der es überhaupt ermöglichte, ein Dutzend Autoren im vorliegenden Teilband zu behandeln, war die Entdeckung bzw. Zugänglichmachung ihrer Nachlässe, deren Vorhandensein bzw. Aufbewahrungsort bis vor wenigen Jahren noch unbekannt war, z.B. im Fall von Thomas O. Brandt, Albrecht und Rudolph Joseph, Ruth Landshoff-Yorck, Hilde Marx, Ernst Pollak

VORWORT

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und Erich Schweinburg. Dies gilt aber auch für weitere Autoren, die im zweiten Teilband vorgestellt werden, so z.B. bei Otto Mainzer, Günther Plaut, Fritz Popper, Nomi Rubel, Werner Thormann, Eugene Vale und Jan Valtin. Als entscheidend in diesem Zusammenhang muß das Anschaffungsprogramm der Deutschen Bibliothek gelten, das es seit 1995 (mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft) ermöglichte, etwa vierzig Nachlässe aus den U.S.A. nach Frankfurt zu bringen, davon elf von Autoren, die im dritten Band vorgestellt werden. Die achtundzwanzig Autoren des vorliegenden Teilbandes zeichnen sich durch eine große Unterschiedlichkeit hinsichtlich ihres Exilerlebnisses, desgleichen auch durch eine Vielfalt des literarischen Ausdrucks aus. Wenn man im Gegensatz dazu die Autoren des Kalifornien-Bandes betrachtet, von denen eine große Zahl etablierte und bekannte Schriftsteller waren und die durch Ubersetzungen ins Englische und sogar durch Bestseller in Amerika gut eingeführt waren, so wird der Kontrast offensichtlich. Was die Vielfalt des literarischen Ausdrucks angeht, so sind vier ausschließlich oder hauptsächlich als Lyriker zu bezeichnen (Berg, Hahn, Marx, Pollak); für fünf trifft die Bezeichnung Erzähler zu (Freundlich, Gleit — die eigentlich als Kinderbuchverfasserin bekannt ist — , Hirsch, Meisel und Schweinburg); zwei von den Autoren sind Dramatiker (Fürth und Kesser); sechs sind dem Bereich des Films zuzurechnen, als Drehbuchautoren und Regisseure (Egon und Otto Eis, Janowitz, Ophüls sowie Albrecht und Rudolph Joseph); als Autoren von Sachbüchern wären Gumpert, Jacob, Marcu und Riess zu bezeichnen, und die politische Publizistik ist durch Grossmann und Kempner vertreten. Drei Autoren, die als Schriftsteller ihre Karriere begonnen haben (Blume als erfolgreicher Dramatiker, Meisel als Autor eines bekannten politischen Romans und Brandt als Verfasser von Gedichten und Novellen) waren durch die Bedingungen des Exils genötigt, ihre berufliche Laufbahn zu ändern und sind Akademiker geworden: Blume und Brandt wurden Germanisten, Meisel Politologe. Wenigstens zwei (Brandt und Meisel) kehrten immer wieder zur Literatur zurück; ihre Werke warten noch auf Veröffentlichung. Gleiches gilt für die Brüder Joseph und ihren umfangreichen Briefwechsel (19331985). Erhalten haben sich über 2.000 Briefe, die über das einzigartige Verhältnis der beiden Brüder Aufschluß geben. Die Verfasser der einzelnen Aufsätze haben Personen und Instituten, die ihnen geholfen haben, bereits ihren Dank ausgesprochen, und ihre Namen wurden in den Anmerkungen der jeweiligen Beiträge genannt. Die Herausgeber möchten an dieser Stelle auch einigen Instituten und Personen, die das Unternehmen als Ganzes durch Auskünfte und Materialien gefördert haben, einen besonderen Dank aussprechen: das Deutsche Exilarchiv der Deutschen Bibliothek in Frankfurt, insbesondere Frau Dr. Brita Eckert und Frau Marie-Louise Hahn; das Department of Special Collections der State University of New York at Albany, insbesonders Frau Dorothy Christiansen und Frau Mary Ossielsky; wir möchten schließlich

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VORWORT

Herrn Helge Sturmfels und Frau Sandra Klefenz, München, für die sorgfältige und rechtzeitige Korrektur des Textes danken.

Anmerkung 1

Neben dem dreiteiligen Bibliographien-Band (Bd. IV) ist zu verweisen auf das dreibändige Verzeichnis der Quellen und Materialien der deutschsprachigen Emigration in den USA seit 1933. Hrsg. John M. Spalek und Sandra H. Hawrylchak (Bern/München: K.G. Saur Verlag, 1992-1997).

EXILJAHRE IN DEN USA Jimmy Berg Ernst Bloch Bernhard Blume Thomas Otto Brandt Egon Eis Otto Eis Elisabeth Freundlich Otto Fürth Maria Gleit Kurt R. Grossmann Martin Gumpert Joseph Hahn Karl Jakob Hirsch Heinrich Eduard Jacob Hans Janowitz Albrecht Joseph

Nov. Juli 31. Mai Anfang *Nov. Frühjahr 26. Nov. 26. Aug. 13. Okt. 22. Aug. Frühjahr Mai Ende 14. Juli März Jan.

Rudolph Joseph

Frühjahr

Robert M.W. Kempner Hermann Kesser Ruth Landshoff-Yorck Valeriu Marcu Hilde Marx Hans Meisel Max Ophüls Felix Pollak Curt Riess Erich Schweinburg Frederick(Fritz) Ungar

Sommer 28. Apr. März Apr. 14. Nov. 5. Aug. 7. Dez. Dez. Sept. Sept.

* Kuba 1941-1946, Mexiko 1946-1953

1938 1938 193619391941194219401941194019391936 1945 19361939194019391985 19391986 19391939193719411938 1938 1941 1938 1933 19391939-

1988 1949 1978 1968 1953 112. Mai 1952 Apr. 1950 t 5. Okt. 1983 1950 t 2. März 1972 118. Apr. 1955 bis heute Sept. 1948 Juni 1953 t 25. Mai 1954 1968 128. Apr. 1991 1957 117. Apr. 1998 1951 Okt. 1945 t 19. Jan. 1966 1 4 . Dez. 1942 1 4 . Okt. 1986 t 2. März 1991 Ende Aug. 1949 119. Nov. 1987 1948 116. Nov. 1988 t 2. März 1991 1 4 . Apr. Apr. t 22. Juli tl.Jan.

ABKÜRZUNGEN ΑΛΤ Aufbau (NY) Bd. / Bde. CA CIA dass. DLA ebda. ERC f. FBI GAWA HIAS Hrsg./hrsg. HUAC ill. LBI MGM N.F. Nr. NY NYSZH NYT o.D. o.O. OSS OWI s.

s./ss.

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Austro-American Tribune (NY) Außau/Reconstruction (NY) Band / Bände California Central Intelligence Agency dasselbe Deutsches Literaturarchiv, Marbach/Neckar ebenda Emergency Rescue Committee folgende Federal Bureau of Investigation German-American Writers Association Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society Herausgeber/herausgegeben House Un-American Activities Committee illustriert Leo Baeck Institute (NY) Metro-Goldwyn-Mayer Neue Folge Nummer New York New York Staats-Zeitung und Herold New York Times ohne Datum ohne Ort Office of Strategic Services Office of War Information siehe Seite/Seiten siehe auch Stiftung Deutsche Kinematek State University of New York at Albany translated/translator unter anderem/und ander unter dem Titel Ubersetzer/übersetzt University of California, Los Angeles University of Southern California Universität/University vergleiche

JIMMY BERG HORST J A R K A Am 5. März 1949 fand im Jewish Community Center, 270 West 89th Street, ein Abend statt mit dem Programm «Text und Musik von Jimmy Berg. Chansons von der Ringstraße zur 72nd Street». Der Aufbau schrieb: «Das war ein reizender Abend. Gutgelaunt und charmant präsentiert, und mit all jenen Ingredienzen gewürzt, die die leichte Kost Jimmy Bergs so angenehm schmackhaft machen.... Eine ganze Garde erprobter Kabarettisten unterstützte den am Flügel waltenden Komponisten, zu dessen Ehren dieser Abend veranstaltet worden war». Damit ist schon Wesentliches über Jimmy Berg angedeutet: seine Doppelbegabung als Textautor und Musiker, seine Wiener Herkunft, Art und Thematik seiner Lyrik, seine Beliebtheit. In Bergs Laufbahn als Pianist und Textdichter spiegelt sich das ungemein lebendige kulturelle, gesellige Leben wider, das die aus ihrer Heimat Verjagten in der Upper West Side, der Gegend um die 72nd Street westlich vom Central Park, zusammenführte. Die Kabaretts erfüllten für die Exilenklave eine bedeutende soziale Funktion, sie vermittelten Gemeinschaftsgefühl und Geselligkeit, stifteten eine kollektive Identität, boten Erholung und ein von den Existenzsorgen «befreiendes Lachen». Ihre Zeit- und Publikumsbezogenheit, also gerade was ihren Unterhaltungswert ausmachte, war freilich auch der Grund, warum diese Texte nicht gedruckt wurden. Sie waren «Unterhaltung», nicht «Literatur». Jimmy Berg war nicht der einzige, der Chansons schrieb; die zahlreichen Programme, auf denen Berg unter vielen anderen genannt ist, bezeugen die Vielfalt und Produktivität des Kabaretts im New Yorker Exil. Victor Schlesinger, Kurt Robitschek, Karl Farkas, Frank Loesser, Kurt Juhn, Hermann Leopoldi, Curt Bry — sie alle schrieben Texte, aber die sind zum größten Teil verschollen. Jimmy Berg ist einer der ganz wenigen, deren Texte noch erhalten und wieder zugänglich sind1. Sie sind Dokumente einer längst untergegangenen spezifischen Exilkultur. Jimmy Berg (ursprünglich Simson Weinberg) wurde am 23. Oktober 1909 in Kolomea (Polen) geboren und wuchs in Wien auf 2 . Sein Vater Samuel Weinberg war Buchhalter in einer Weinfirma. Mütterlichseits aus der Musikerfamilie Starer stammend studierte Jimmy schon als Halbwüchsiger Komposition bei Georg Markus, dem Dirigenten des Wiener Arbeitersängerbundes. Ergriffen von der Jazzbegeisterung der zwanziger Jahre wandte er sich der Unterhaltungsmusik zu. Ab 1927 wirkte er in Oskar Tellers Jüdisch-Politischem Kabarett in Wien mit 3 . 1931 ging er nach Berlin, wo er für amerikanische Firmen (z.B. Marks Music Corp.) amerikanische Schlager verdeutschte. Eine Rundfunksendung seiner Fassung von «Wenn die Sonne schlafen geht» («Lullabye of the Leaves») wurde von der Meldung unterbrochen, der Reichstag stehe in Flammen. Berg ging nach Paris,

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schrieb Balletmusik und den ersten erhaltenen Beweis seiner Doppelbegabung, das Chanson «Wenn die Trompeten blasen» (43), eine bitter-satirische Warnung vor dem Krieg. 1934 wieder in Wien, bestritt er seinen Lebensunterhalt mit Tanzmusik und Schlagern. Erste Erfolge stellten sich ein. Einige seiner Melodien jener Zeit werden heute noch gespielt. 1935 bis März 1938 war er der musikalische Leiter der oppositionellen Kleinkunstbühne ABC, wo er Lieder in Jura Soyfers Stücken vertonte und eigene Texte verfaßte4. Über ein ABC Programm schrieb Alfred Polgar, Bergs Texte seien «ohne Witz witzig und halten Niveau» 5 . Bergs Chansons jener Zeit sind in unserem Zusammenhang interessant, weil sie ein gebrochenes Amerikabild erkennen lassen. Seiner Bejahung der Großstadt in aller Widersprüchlichkeit im «Lied von der Großstadt» (57) entsprach sein begeistertes Loblied auf New York «Manhattan Melody» (59), andere Texte — «Broadway- Melodie» (61), «Hollywood Extra» (62), «Carolina Moon» (64) — folgten der Amerika- und Kapitalismuskritik der europäischen Linken 6 . Amerika kannte er nur aus Filmen und Zeitungen, vertraut war ihm die Wirklichkeit des Austrofaschismus und des Antisemitismus in Wien; sie waren das Ziel seiner schärfsten Satiren: «Im Salzkammergut» (74), «So und nicht anders ist das Leben» (73), «Kusch» (76), «Wer ist schuld?» (78). Charakteristisch für Bergs ganzes Werk war, daß er einen scharfen, kritischen Blick mit Zuversicht und Lebensfreude zu verbinden verstand, die in seinem Lied «Die Welt ist so schön» (68) so beschwingt zum Ausdruck kam. Im März 1938 war Berg als Jude und Mitarbeiter einer linken Kleinkunstbühne doppelt gefährdet. Von einem Nazi gewarnt verließ er Wien über Nacht. Viele Musikstücke und Texte blieben zurück. In Zürich wirkte er kurz in der Kleinkunstszene mit, bevor er nach London weiterfuhr, wo er auf sein amerikanisches Affidavit wartete. Im November 1938 erreichte er New York. Uber die Schwierigkeiten der allerersten Zeit sprach Berg nicht. Er fand Arbeit im Lagerhaus der United Carbon Co. in der Lister Avenue in Newark, einer Fabrik für Teerprodukte. Jeden Abend brauchte er mindestens eine Stunde, bis Hände, Gesicht und Haare vom Kohlenstaub befreit waren. Er arbeitete sich aber bald hinauf und wurde schließlich Leiter der Zweigstelle. Die freie Zeit gehörte der Kleinkunst, in der er bald Fuß faßte. In Bergs Tätigkeit wird das ganze Panorama einer New Yorker Exilkultur sichtbar, die 1939/1940 aufblühte und erst zwanzig Jahre später langsam zu zerfallen begann. An die sechzig erhaltenen Programme, Rezensionen und Ankündigungen zeigen die weite Streuung der Veranstaltungen, an denen Berg, oft in leitender Stellung, teilnahm7. Wer in der Kabarettszene Rang und Namen hatte, arbeitete mit Jimmy Berg zusammen, Fred Fassler etwa oder Else Kaufmann, Eugen Hoffman, Charlie Brock, Kurt Robitschek und besonders Fritz Spielman und Fred Jacobson (Fred Jay). Auch zu der großen Revue «Ali Farkas und die 40 Berge»1941 steuerte Berg Chanson-Texte bei. Außer den besonders erfolgreichen

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Programmen der allerdings kurzlebigen Refugee Artists Group 8 wirkte er bei Kabarettprogrammen im Pythian Theater mit, in der Kleinen Bühne, in der von Oskar Teller und Erich Juhn gegründeten Jüdisch-Politischen Kleinkunstbühne Die Arche. Immer wieder wurde Berg in Programmen im Vienna Cafe genannt, einem Night Club in der 77th Street West und beliebten Treffpunkt der Wiener. Dort lernte er Trude Hammerschlag (nicht mit Peter Hammerschlag verwandt), eine aus Wien vertriebene Schauspielerin kennen, die er 1942 heiratete. Sie trat als Chansonniere unter dem Namen Gertrud Hill vor allem in der Arche auf und sang viele von Jimmys Texten. Soweit das soziale und künstlerische Umfeld, in dem Bergs Werk zu sehen ist. Aus sprachlichen Gründen hatte zu Beginn seines Aufenthaltes in New York die Musik Vorrang. Er vertonte einen melancholischen Rückblick auf Wien («No More is That Vienna», 83), dessen Text die Nicht-Wienerin Betty Haworth verfaßt hatte. Bergs eigenes, erstes in New York geschriebenes Chanson war die Anwort darauf: eine Abrechnung mit dem Wien, das ihn vertrieben hatte: «Goldnes Wiener Herz — nach März 1938» (85): Schlag, goldnes Wiener Herz, so schlag, Schlag alle Juden tot! Schlag, goldnes, Wiener Herz, so schlag Und färb die Straßen rot! Du schlägst und schlägst, weißt nicht wohin, Dich stört nicht Leid und Klag', Dein Muatterl war a Weanerin, Der Schlag vom alten Schlag!

Es war auf lange Jahre Bergs einziges Chanson über das Wien der Bestialität. Sein Thema wurde der Exilalltag der jüdischen Gemeinschaft, in der er seine eigene Identität wiederfand. Religiös war Jimmy nie. In New York hielt er die hohen Feiertage bloß zum Andenken an die Eltern. In Wien hatte er sich immer als Wiener gefühlt, dessen Religion eben jüdisch war. Erst durch die Verfolgung wurde ihm richtig bewußt, daß er für die Wiener nur Jude war. Das Wiener Judentum, seine Herkunft, die Assimilation in Wien, die Vertreibung beschrieb Berg liebevoll, ironisch, humorvoll in dem Lied «Dreimal Rosinen und Mandeln» (89), in dem die notwendige Anpassung den Refrain bis zu «Raisins and Nuts» abwandelt. Die erste Strophe: In Sadagora, Berdiczew und Kolomea, Da stand die Wiege von den meisten unsrer Leut'. Der Vater, der hieß Mandel und die Mutter Lea, Die Synagoge, die hieß «Schul» in jener Zeit. Die kleinen Buben hatten alle Schläfenlocken, Und in der Früh sah man sie in den Cheder geh'n,

JIMMYBERG

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Wer elegant war, trug zum Kaftan weiße Socken, Und in dem Städtchen war kein Rothschild je zu seh'n... Der Vater ging fort, um zu «handien», Man nannt ihn «Pinkale Jid». Und von Rozinkes und von Mandlen Sang die Mutter den Kindern ein Lied.

Nach dieser bewegenden, kurzen Besinnung auf jüdische Geschichte war Bergs Thema auf Jahre hin die spezifische Situation im New Yorker Exil, die Erfahrungen seines Publikums. Er erinnerte an die Ankunft im Hafen, die Verlassenheit: A greenhorn feels blue. This world is much too new. Große Häuser, kleine Leute, große fremde Stadt, Und man steht und schaut ins Weite, weil man sonst nichts hat. Sunday Evening, Central Park, a coffee near the Zoo. Erste, zweite, dritte, vierte, fünfte Avenue...

Doch das Chanson ist als Rollenlied an einen anderen, eben angekommenen Flüchtling gerichtet; die Solidarität beendet das bedrückende Alleinsein. Und in keinem Chanson Bergs ist New York die poetische Inspiration so mancher anderer Exilgedichte. Die Gefühlslage von Bergs New York war bescheidener9. Auch war er nicht fasziniert von der Vielfalt der Millionenstadt, das Manhattan, das er kennenlernte, war nicht das, das er in Wien besungen hatte, der Broadway-Glamor lockte ihn nicht. Sein soziales Bewußtsein, das seine Mitarbeit in der Wiener Kleinkunst bestimmt hatte, schwieg auch in New York nicht: The song I sing has nothing to do With girls and boys from Fifth Avenue. The people I mention Don't ask for attention In papers — their blood is not blue. Their fashion styles are mostly all wrong, They don't play Golf, they just play Ping-Pong. But they are the theme of my song (108).

Berg schrieb deutsch oder englisch, meist in beiden Sprachen, dem «Zwischendasein» des Exils gemäß. Immer wieder erinnerte die Sprache daran, daß man nicht zu Hause war. «Mir scheint, mein Englisch ist noch nicht perfekt» (96) klagte ein Chanson, und ein anderes: «I'm in a hell of a fix, weil ich Englisch mit Deutsch stets vermix» (98). Man bedauerte, daß es im Englischen «kein Du gibt» (100), und fragte sich schließlich paradoxerweise: «Warum hab ich Englisch gelernt» (104), wenn man im melting pot New York immer in einer anderen Sprache angeredet

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wurde. Das Völkergemisch war nichts attraktiv Exotisches, sondern nur eine höchstens komische Irritation. Aus der Frustration des Englischlernens und der Zeitungslektüre heraus schrieb Berg einen seiner beliebtesten Chansons, die «Ballade von der Sunday Times» (102). Bergs «eigene» Exilsprache war ein Gemisch aus Deutsch und Englisch, eine «gemixte Sprache», in der sich von selbst komische Wirkungen ergaben. Welche Welten vereinten sich da über den Ozean hinweg, wenn sich «nervous» und «Servas» reimten, «Spinnerin am Kreuz» und «Washington Heights», wenn «alle Leut from the other side» waren, wenn es «seit Kain und Abel... nicht soviel Sinus Trouble» gab! Da jonglierte eine leichte Muse, die den von Exilanten als schmerzlich empfundenen Schwebezustand zwischen Sprachverlust und zweifelhaftem Sprachgewinn in humorvoller Selbstironie überwand. Die Wiener Mundart brachte Bergs Sprachheimat und die seines Publikums an der Westside rund um den «Sansinet Boulevard» — so nannte man die Amsterdam Avenue, wo man so viele Bekannte von «drüben» begrüßte: «San Sie net der Herr..., wie war doch gleich der werte Name?» — besonders nahe. Bergs Verhältnis zu seiner Heimat war ambivalent. Wien und die Wiener waren in seinen Texten immer präsent, wurden aber immer mit Humor und Ironie gesehen. Jedes larmoyante Pathos, jede nostalgische Trauer über das verlorene Wien war Berg zuwider. Schon in seinen Satiren fürs ABC hatte er die Wiener Sentimentalität aufs Korn genommen, der rührseligen Selbstgefälligkeit der Heurigenlieder die ungemütliche Wirklichkeit gegenübergestellt. Nach der Vertreibung sah er noch weniger Veranlassung, seine Kritik in Verklärung Wiens aufgehen lassen, so schmerzlich die Entfernung von der Heimat auch sein mochte. Seine Verbundenheit mit Wien äußerte sich auf andere Weise, so darin, daß er Wienerisches in Sprache und Musik nach New York verpflanzte. Die humoristischen und satirischen Kontraste der Umstellung, Anpassung, Verwandlung waren sein Hauptthema. Er amüsierte sein Publikum mit immer neuen Variationen solcher «Verhaltensstudien», etwa wenn er Wiener Typen nach New York «emigrieren» ließ. Das «süße Mäderl» Mitzi machte unter Vienna einen Strich; als Mary erzählte sie nicht mehr G'schichten aus dem Wienerwald, sondern aus den Catskills (110). Die Sopherl vom Naschmarkt wurde zum «Grünzeuggreenhorn am Broadway» (112); ein American «Dead-End Kid» (114) entpuppte sich als Ottakringer Schulschwänzerin mit Halbstarkenallüren. Noch in der Verwandlung rettete Berg Wienerisches über den großen Teich. Er klagte, «Ja, wenn a Cafeteria a Kaffeehaus wär'» und fand in der Fremde doch eine Art Heimat wieder: Die Waiter, die kommen gemütlich gelatscht, Ihr Englisch, das klingt zwar ein bißchen verhatscht, They are from Vienna, genau wie die Gäst In a small Cafe near Central Park West (93).

JIMMY BERG

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Solche Wiener «Nachbarn» in New York machten es leichter, das Exil zu bestehen, nicht durch Rückzug in die Nostalgie wie Richard Huelsenbecks «Wiener im Kaffeehaus», für die noch immer im Prater die Bäume blühen 10 , vielmehr mit geradezu trotziger Bejahung: Doch heut' in den neuen Gefilden, Da ändert sich selbst die Musik, Man sieht neue Zentren sich bilden Und denkt nicht an alte zurück. Vergessen sind Wieden und kleines Hotel Man will selbst in Grinzing nicht sein, Wir fanden ein anderes Platzerl schnell. Sie wissen bestimmt, was ich mein:

Chorus Ich brauch' keinen Prater Und kein Burgtheater, Ich sing heut ein anderes Lied. Ja, ich sag's ehrlich, Das Leben ist herrlich In der Seventy-second Street (151).

Bergs Anspielungen auf das Lied «Ich kenn auf der Wieden ein kleines Hotel» und auf das wohl bekannteste Heurigenlied gehören in die noch zu schreibende Geschichte des Wienerliedes im Exil, seiner Funktion als Ausdrucksmittel von Heimweh, Nostalgie und Wiener Kollektivbewußtsein. Bei Berg ist es hier Mittel der Distanzierung. Die Distanz war nicht immer durchzuhalten. Das harte Gesetz des Wandels, dem sich alle Exilanten beugen mußten — Jimmy Berg hat es durch Humor und Ironie gemildert. Aber Vergleiche Wien-New York waren unvermeidlich, und sie fielen kaum zugunsten New Yorks aus. Man litt unter der «Inselhitze von Manhattan», die Ernst Waldinger an «der Bauernstube Kühle einer fernen Ferienzeit» 11 denken ließ, aber Berg reagierte kabarettistisch. Ihrer sozialen Darbietungsform entsprechend spiegelten seine Chansons nicht subjektive Erfahrungen wider, sie waren nicht Ausdruck jener persönlich erlittenen Krankheit, wie Hilde Spiel das Exil genannt hat, sie brachten die Exilerfahrung auf den gemeinsamen, kollektiven Nenner des Humors: Am Morgen gibt es Schnee und Eis, Am Abend rinnt vom Haupt der Schweiß, Man träumt an Soda Fountains Nur von den Catskill Mountains. The heat is not so bad, you see, It's only the humidity (131).

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Trotz ihres Humors blieben Bergs Texte nicht an der amüsanten Oberfläche. So manche Nuancen der Exil-Psychologie kamen in ihnen «zur Sprache». Die Entfremdung in der Riesenstadt, die Unsicherheit, das Gefühl des Ungenügens nahmen im Typus Pechvogel Gestalt an, der an seiner eigenen Komik wieder einmal scheiterte (116, 118), die Enttäuschung überspannter Hoffnungen in der Filmstatistin, die sich schon als berühmte «Österreicherin in Hollywood» (229) gesehen hatte. Nicht die Erfolgreichen agieren in Bergs Songs, sondern die «Unbekannten», die um Existenz und Identität kämpften. Hin- und hergerissen zwischen den Ländern streckte man sich nach dem neuen Ufer und hielt sich doch am alten fest; man lobte das Leben der Amerikaner, war aber doch nicht Teil davon und blieb «ein Yankee — doch mit Vorbehalt» (127). Die langsame Uberwindung des «Vorbehalts» auch in gesetzlicher Hinsicht, die offizielle «Verwandlung» war in Bergs Chansons humorvoll umgesetzt, der Weg vom Exilanten zum «Enemy Alien», und vom «Friendly Alien» schließlich zum Staatsbürger (120). Vergangenheit und Gegenwart, Europa und USA, Wien und New York, Deutsch und Englisch — das waren die Gegensätze, die Bergs Humor, Ironie und Satire herausforderten — zu heiteren, schwerelosen Nuancen jüdischer Selbstkritik. Mit vielen humorvollen Anspielungen auf alles, was Amerikanern vertraut war, auf Filmschauspieler, Schlagermelodien, Radioprogramme und Alltagsgewohnheiten verwob Berg seine im Wienerischen wurzelnde Welt mit der popular culture des Exillandes; aus ironischer Distanz wurde Einfühlung. Das Ungewohnte am amerikanischen Lebensstil war immer Quelle der Komik, nie wirklich Kritik. Seine Grundhaltung und die seines Publikums drückte er lapidar aus, ohne Pathos: «Denn wo würden wir heut' leben, / Hätt's Manhattan nicht gegeben?» (217). Bergs persönliche Liebenswürdigkeit, sein Humor, sein kabarettistischer, auch musikalischer Charme begründeten seine große Beliebtheit beim Publikum. Viele seiner Chansons sind der leichten Muse zuzurechnen. Berg nannte sie ausdrücklich nicht «Gedichte». Er betrachtete sich mit Recht als Musiker, unterschätzte aber seinTalent als Textdichter. Etliche seiner Chansons können sich mit den besten dieses Genres messen. Das «Lied vom Sündenbock» (164) ist eine ironische Umkehr der antisemitischen Propagandaparole «Daran sind nur die Juden schuld». Die Aufzählung der kulturellen Leistungen, an denen die Juden «schuld» sind, endet mit: Wenn wir nach einer bess'ren Zukunft streben Mit immer neuer Hoffnung und Geduld, Wenn wir trotz aller unsrer Feinde weiterleben, Daran sind nur die Juden schuld. Jawohl, daran sind nur die Juden schuld! (164)

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Bergs Satire war nicht immer milde und kannte dem Gegenstand entsprechend verschiedene Härtegrade. Uber einen dieser ernsten Chansons schrieb der Aufbau·. «Die Gebrauchsphilosophie innerhalb und außerhalb des Judentums bringt mit Text und Musik Jimmy Berg auf die Formel !»12 Das Chanson dieses Titels (159) bringt nicht nur die oft schmerzliche Erfahrung der Exilanten zur Sprache, es ironisiert auch den politischen Opportunismus diverser Verwandlungskünstler. Berg bewunderte Nestroy, seine eigenen Erfahrungen bestätigten dessen Erkenntnis: «Ja, beim Umschwung der Zeit / Lernt man's kennen die Leut» (159). Die Alltagssorgen, die allen seinen Zuhörer nur allzu bekannt waren, machte Berg mit Humor erträglicher. Das Leid, das jeder von ihnen in sich trug, berührte er nicht. Die seinem Publikum nur allzu vertrauten politischen Ursachen des Exils kamen nicht zur Sprache. Es schmerzte ihn einfach zu sehr, darüber zu schreiben. Berg war nicht der einzige, der eine solche Abstinenz übte. Der Besitzer eines Hotels in den Catskills bedauerte Jahre später, «wie wenig wir alle über die Vorgänge in Europa zu sagen hatten. Es war beinahe, als könnten wir durch unser Schweigen die Geschehnisse als unwirklich aus der Welt schaffen». Und ein anderer Zeitgenosse erinnerte sich: «Natürlich wurde über die Verfolgung der Juden alles mögliche erzählt, Hitler war kein Geheimnis. Aber das Ausmaß des Verbrechens und was man dagegen tun könnte — darüber diskutierten wir nur wenig. Natürlich waren wir bereit, in Uniform gegen Hitler zu kämpfen, sobald die Zeit reif wäre13.» Natürlich waren Bergs Chansons auch zeitgeschichtliche Kommentare. Nach Pearl Harbor im Dezember 1941 wurde der Krieg zum amerikanischen Alltagsthema. Vergessen war die stereotype linke USA-Kritik in Bergs politischer Lyrik der Wiener dreißiger Jahre. Als er diese Songs zu einer New Yorker Darbietung vereinte, relativierte er die Kritik schon im Programmtitel «Amerika — aber von Wien aus», und unterschied sie so von seiner jetzigen Bejahung, die Satire zum Humor hatte werden lassen. Der positive Aspekt seines Wiener Amerikabildes hatte sich längst behauptet. — Schon 1940 hatte Berg sein Lied «We love you, USA» geschrieben und zusammen mit Fred Jacobson, Frank Loesser und Fred Spielmann einen ebenso amerikanisch-patriotischen Song für den Paramount Film Hold Back the Dawn mit den Stars Charles Boyer, Olivia de Havilland und Paulette Goddard: Das Lied «My Boy, My Boy» war das Dankeswort eines Exilanten an das Land der Zuflucht: Der Sohn soll und wird ein typischer Amerikaner werden, ein glücklicher boy in freedom. Ein Jahr später galt es, für diese Freiheit zu kämpfen. Alle «Vorbehalte», die man seinem Europäertum schuldig zu sein glaubte, wichen begeisterten Bekenntnissen zu den USA... und zu Roosevelt! Und sie waren trotz ihrer ironielosen, klischeehaften Sprache keine bloßen Lippenbekenntnisse. Berg bemühte sich wiederholt um Aufnahme in die amerikanische Armee, wurde aber zu seiner Enttäuschung aus gesundheitlichen

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Gründen immer wieder abgewiesen. Dennoch oder gerade deswegen wurde ihm das Soldatwerden und -sein zum Thema, zum kabarettistischen Thema von Rollenliedern («I'm a son of a gun», 146; «Zivilistentragödie», 148) nicht des «Soldatenhumors», sondern der Selbstironie. Hatte sich Berg in den vergangenen Jahren vor allem dem New Yorker ExilAlltag gewidmet, so blickte er nun wieder auf Europa und wurde politischer; seine antinazistische Satire, die in den dreißiger Jahren gegen die drohende Katastrophe warnend angekämpft hatte, wurde nun, 1944, da sich deren Ende abzeichnete, bedingungslos siegessicher. Das Verlachen des Gegners wurde zum wahrhaft befreienden Lachen. Das Kriegsgeschehen in Europa fand sein Echo in Parodien deutscher Volks- und Soldatenlieder (173), die den deutschen Größenwahn den Tatsachen der sich nähernden Niederlage karikaturistisch entgegenstellten. Auf die bittere Klage über das Wien unter der Naziherrschaft folgte nun die Vorfreude auf eine Rückkehr in ein Wien ohne Nazis in Verszeilen, von denen manche an die Flüsterwitze des Widerstandes in Osterreich erinnern. Bergs «Neues Hexenlied» (193), vermutlich zu einer Zeit entstanden, da die Verbrechen in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit noch nicht bekannt waren, versuchte, der Barbarei mit der Ironie des «understatement» beizukommen, was manchmal peinlich wirkte, wie z.B. die «Bestrafung» Hitlers nach dem Krieg in einem anderen Chanson — «Und selbst dem Herrn von Berchtesgaden, / Dem sagen wir nur: und «recht humanistisch» abgeschwächt, vgl. Politische Messungen, S. 293. Ebda., S. 139. Ebda., S. 138. Dies — man stelle sich vor! — in einem Text, der in Moskau erschien, in der vor Johannes R. Becher redigierten offiziösen Zeitschrift Internationale Literatur. In der Fassung letzter Hand wiederum eine Abschwächung, aus «fast religiösen» wurde «fast patriotischen Glanz», vgl. Politische Messungen, S. 294. Bloch an Books Abroad, 21. März 1942, 3 Bl. (Books Abroad Collection, Univ. of Oklahoma Library, Norman, OK; bisher unveröffentlicht). Nicht im Diskus, sondern erst später publiziert; Bloch, «Gespräch mit Helmut Reinicke: Sokratisches zu Berufsverbot und Studentenbewegung, Mai 1975», in Revolution der Utopie. Texte von und über Emst Bloch. Hrsg. Helmut Reinicke (Frankfurt/M: Campus Verlag, 1979), S. 74 f. Der exakte bürokratische Ablauf war folgender: Am 6. Juni 1939 reichte er seine Declaration of Intention, am 14. Apr. 1944 seine Petition ein und wurde am 17. März 1947 mit der Nummer 6648940 amerikanischer Staatsbürger; laut FBI-Report, Boston vom 29. Sept. 1953, S. 2; zitiert nach Stephan, Im Visier des FBI, S. 365. Bloch, «Die Welt bis zur Kenntlichkeit verändern» (Gespräch mit Jose Marchand), S. 70. Ebda., bereits zitiert, siehe oben, S. 2. Bloch an Joachim Schumacher vom 20. Aug. 1947; Briefe, S. 587.

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Bloch, «Zerstörte Sprache — zerstörte Kultur», S. 137; gekürzt in der Fassung letzter Hand, in Politische Messungen, S. 292. Bloch, Subjekt — Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Erw. Ausg. ( - Gesamtausgabe, Bd. 8. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1962), S. 19; die Passage findet sich schon in der (spanischen) Erstausgabe des Hegel-Buches (1949), entstand also bereits in den USA. Joachim Schumacher an Bloch vom 16. Jan. 1935; Βήφ, S. 484. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Lehen (Gesammelte Schriften, Bd. 4. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1980), S. 35. Bloch an Adolph Lowe vom 22. Juni 1946; Briefe, S. 757. Hans Mayer, «Ernst Bloch, Utopie, Literatur», in Germanisehe Streifzüge. Festschriftfür Gustav Korlen (Stockholm: Almqvist & Wikseil International, 1974), S. 135. Theodor W. Adorno, «Auf die Frage: Was ist deutsch» (zuerst 1965), in T.W. Adorno, Gesammelte Schriften. Bd. 10 (Frankfurt/M: Suhrkamp, 1977), S. 697 f. Ernst Cassirer, An Essay on Man. An introduction to a philosophy of human culture (New Haven: Yale Univ. Press, 1944). Vgl. Colin M. Harper, «Ernst Bloch: A Bibliography of Primary Sources in English», Bloch-AImanach, ΧΠ (1992), S. 167-180. Vgl. den Brief an Thomas Mann vom 23. Juni 1940; Briefe, S. 704. An den Freund Joachim Schumacher schreibt Bloch am 30. Apr. 1946 in ungeschminkter Offenheit: «Gerade die Oxford Press hat das Hoffnungs-Buch zweimal abgelehnt (das letzte Mal trotz Intervention von Löwe und Tillich zusammen); mein Manuskript liegt dort seit 1942 ungelesen. Kommt man mit dem Hegel-Manuskript, so wird der Herbert Marcuse als entscheidender Beurteiler aufgerufen ... höchst unwahrscheinlich ist, daß das Marcuses freundlich ausfällt, gar noch über ein Buch, das er thematisch als empfindet» (Briefe, S. 565 f.). Also ein zusätzlicher Punkt, der leicht übersehen wird: Ursache für Blochs Mißerfolge sind nicht einfach nur die vermeintlich völlig verständnislosen US-Verlage, sondern auch Divergenzen unter den Emigranten. Brief des Lektors Alfred O. Mendel des Verlags David McKay (Philadelphia) an Bloch vom 19. Apr. 1946. Am 28. Apr. 1946 präzisiert Mendel seine Beurteilung: «Es ist sehr schwer, sich einfach auszudrücken, besonders dann, wenn der Gegenstand kompliziert ist. Komplizierte, dunkle Ausdrucksweise geht oft auf Bequemlichkeit und auch Hochmut zurück». (Diese beiden Briefe — Ernst-Bloch-Archiv Ludwigshafen, Inv.-Nr. 25-8/82 — sind nicht in der Bloch-Briefausgabe enthalten.) Bloch an Joachim Schumacher vom 28. März 1944; Briefe, S. 543. Bloch an Joachim Schumacher vom 12. Juni 1947; Βήφ, S. 585. Karola Bloch, Aus meinem Leben, S. 153. Zitiert nach Stephan, Im Visier des FBI, S. 363. Ebda., S. 158. Prof. Henry Joel Cadbury war Präsident der Society of Friends, als Bloch 1941 in dessen Haus wohnte (Buckingham Place, Cambridge/MA). Der Verbleib der — vor allem für die religionsphilosophischen Bloch-Texte jener Zeit — wichtigen theologischen Privatbibliothek Cadburys wäre noch zu ermitteln. Laut brieflicher Mitteilungen des Haverford College vom 10. Juli 1991 an den Verfasser war die Büchersammlung jedoch möglicherweise weniger umfangreich, als bei einem Gelehrten zu erwarten wäre. Bloch an Klaus Mann vom 31. Juli 1938; Briefe, S. 646.

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Manfred Riedel tut dies in seinem Buch Tradition und Utopie (S. 106): «Kein Zweifel: Von den american dreams of a better life hat sich Bloch inspirieren lassen, als er die Grundlinien des Hoffnungs-Buches entwarf...» Bloch an Klaus Mann vom 31. Juli 1938, ebda. Bloch an Adolph Lowe vom 23. Feb. 1944; Briefe, S. 729. Bloch, «Die Hoffnung, ihre Funktion und ihre Inhalte», Typoskript. (Ernst-BlochArchiv Ludwigshafen Inv.-Nr. 189/83), Kapitel «Logisch-ontologische Einsicht / Verneinung, Vernichtung, Nihilismus und der Ostpunkt», Abschnitt: «Das in jedem gelebten Augenblick ganz nah wandernde Urrätsel; Anamnesis und Heimat». — Bloch schrieb dieses Kapitel im Juni 1947 (vgl. Brief an Adolph Lowe vom 17. Juni 1947; Briefe, S. 762) und nannte es, als er den ganzen Teil Π («Grundlegung») an Lowe schickte, «ein bißchen Quintessenz» (an Adolph Lowe vom 10. März 1948, Briefe, S. 774-776). Ein schwedischer Bloch-Forscher arbeitet an einer Studie über die recht komplizierte Entstehungsgeschichte von «Das Prinzip Hoffnung» und hat eine erste Zwischenbilanz vorgelegt: «David Karlsson: Von Cambridge, Massachusetts, nach Leipzig, DDR. Zur Entstehung von Ernst Blochs einer Hoffnung könnte der wachgerufene Mensch (kennzeichnend ist hier das Neutrum «Wachgerufnes» mit seinen vielen Nebenbedeutungen!) tragen, wenn .... Auch in seinen Zeichnungen spielt der Lichtschimmer oft eine ähnlich positive Rolle in apokalyptisch verwüsteten Landschaften, wo das Lebensprinzip in der Form einer nackten Figur, die die bedrohte Existenz darstellt, kaum einen Halt findet. Offensichtlich ist Hahn sich bewußt, daß seine Gedichte stets einen düsteren Ton haben. Wenn es auch nur den kleinsten Hoffnungsschimmer in den das Atomzeitalter betreffenden Gedichten und Zeichnungen gibt, wenn gegen Gier doch noch gekämpft werden kann und muß, gibt es in den Holocaust-Gedichten kaum etwas anderes als Tragik und Trauer. Das Gedicht «Uhren...» {HP, 8) beginnt: Uhren, verschworene Uhren ticket die Zahlen und Namen zuhauf. Nächtliche Stunde nächtliche Stunde ziehst die Kreise um Flamme und Scheit.

Das Vergehen der Zeit verringert die Schmach nicht. Im Gegenteil, das unaufhörliche, ewige, monotone und regelmäßige Ticken der Uhr (die familiäre Befehlsform «ticket» unterstreicht, wie gut das lyrische Ich diese Situation kennt!) stellt die zahllosen, anonymen aber auch bekannten Opfer der Schoah dar. Das Gedicht fährt fort:

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Espe ruhlose Espe schürfst so tief in der Aschenschlucht...

Die Natur, in Form einer Espe, ist ohne Ruhe, da sie jetzt Nahrung aus den Aschen der verbrannten Leichen ziehen muß. Die Wahl gerade dieses Baumes ist interessant. In erster Linie deutet die Espe auf die Redewendung «wie Espenlaub zittern» hin, aber möglicherweise hat sie auch eine passende symbolische Bedeutung: Die Espe oder Zitterpappel (Populus tremula — ein Weidengewächs) ist der Legende nach ein Symbol der Furcht und des Bangens. Die Espe zittere, weil das Kreuz Christi aus ihrem Holz gemacht worden sei, weil sie unbeweglich blieb bei seinem Tod. Die spezifisch christliche Herkunft des Symbols aus der Legende heißt nicht unbedingt, daß das Symbol hier fehl am Platz ist. Paul Celan, dessen Werk Hahn gut kennt und den er sehr schätzt und bewundert, hat denselben Baum für eines seiner Holocaust-Gedichte ausgewählt, nämlich «Espenbaum». Hahns Gedicht endet: Hände, rauchdünne Hände ihr legt das Hemd mit den Lichtnahten an. Nächtliche Stunde, nächtliche Stunde gebietest der Träne Neige und Schwall.

Die familiäre Anredeform im ganzen Gedicht unterstreicht das persönliche Verhältnis des lyrischen Ichs (lies Hahn) zu den Opfern, zur Schoah. Ferner betont «der Träne Neige und Schwall», daß Hahn der Trauer und Verzweiflung nicht entkommen kann, auch nicht im und durch den Schlaf. Das Gedicht «Pochen, Pochen...» ähnelt dem Gedicht «Uhren...» sowohl wegen der beharrlichen und eindringlichen Wiederholung eines Rhythmus, eines Tones, als auch wegen der unvergeßlichen, immerwährenden Schmerzen. Hahn ist ein Meister nicht nur des poetischen Bildes und der Synästhesie, sondern auch des Klanges und des Rhythmus. Für Hahn ist der Holocaust nicht nur eine Tragödie, die er persönlich erleiden mußte und noch muß, sondern auch die Fortsetzung der ständig sich erweiternden Welttragödie, verursacht durch das Gier-und-Macht-Syndrom der herrschenden Klasse. Das Gedicht «Exkavation» (ES, 53) zeigt uns den Holocaust von diesem Aspekt: Im Delta der Träne suchet das Lügengold, aus den Schreckensfossilien und den Moränen des Fluchs brecht das grelle Gesträub,

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durch die eisenbittere Zeit grabt zum Samen des Hasses, den die Eiseshände gesät in die weißgeheuchelte Nacht, tiefer noch grabet in die Verhehlung, bis zur giftigen Henkersdruse, durchflammt vom Blut des hämisch geschundenen Lamms.

Die «Träne», die ewig fließt, gleicht einem Fluß, aber darüberhinaus gleicht sie dem «Delta» eines Flusses, breit und verzweigt, wo der Fluß ins weite Meer fließt. Alles, was hinter dem Holocaust steht, das Übriggebliebene, wird jetzt durch das Geologische dargestellt, und zwar in all seiner Härte, Unbiegsamkeit, Unveränderlichkeit. Die Opfer sind wie das Lamm — in der ganzen Mehrdeutigkeit dieses Symbols. Daß der Dichter/Künstler Joseph Hahn, der sich so voll und energisch für die Opfer des Holocaust, für die verseuchte Umwelt und gegen das enorme Risiko des Atoms einsetzt, sich genauso intensiv gegen die grausame Ausbeutung der Tiere und deren industrialisierte Quälerei behauptet, ist nicht verwunderlich. Die Verbindung Krieg-Jagd wird von Hahn ausdrücklich betont: «for millenia art has glorified war and the mindless pleasure of war on innocent animals, euphemistically called hunting. One need only to think of the huge hunting scenes by Rubens or of the torture of billions of innocent animals in our labs to realize that such art and such science are grandiose justifications of cruelty» (unveröffentlichtes Manuskript). Hahns Gedicht «In der Inkarnation einer Katze» (ES, 16) enthält eine scharfe Kritik über Menschen, die sich für anders und besser als Tiere halten: Nicht Seele noch Gnade ist zugedacht den stummen Geschöpfen, nur sich sprach das eitle Raubtier Seele zu.

Der Mensch wird als «Raubtier» bezeichnet, das durch Eitelkeit sich allein eine Seele zuspricht. Er wird dem Tier gleichgesetzt, ist aber die Art Tier, die seine Artverwandten tötet. Die Ironie ist ganz offensichtlich. Die nächsten Zeilen könnten auch zum Holocaust passen: Du Mond in der Aura der Schreie Zeuge auch dieses Verendens — zur Flamme und Asche ging's, Sterben ist jenseits der Liebe, nichts blieb zurück als ein Barthaar in Leere vereist.

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Die Synästhesie, die Mischung von Visuellem und Hörbarem («Aura der Schreie») in einer Landschaft mit dem Mond und das starke Bild in der letzten Zeile sind alle typisch für den Dichter Hahn. Hahn steht in der besonders deutschen Tradition der Doppeltalente, Künstler, die in Wort und Bild zu ihrer Aussage gekommen sind. Vor ihm traten große Expressionisten wie Ernst Barlach, Alfred Kubin oder Oskar Kokoschka auf. Eine Generation nach ihm kommen Leute wie der Nobelpreisträger Günter Grass oder Christoph Meckel. Diese sind aber in erster Linie Schriftsteller, jene sind in erster Linie bildende Künstler. Joseph Hahn jedoch nimmt als Doppelkünstler eine Sonderstellung ein, einmal wegen seines Exils und dessen Wirkung auf seine Kunst, aber hauptsächlich, weil er sich sowohl als Künstler als auch als Dichter mit Werken von gleich hoher Qualität ausgezeichnet hat. Sein dichterisches Werk ist nicht von seinem bildnerischen Werk zu trennen.

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Jürgen Serke, Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft (Wien: Paul Zsolnay, 1987), S. 319. Von nun an nur als BD mit Seitenzahl zitiert. Joseph Hahn, Holocaust Poems 1965-1975. Deutsch mit englischen Ubersetzungen und einer Einleitung von David Scrase (Burlington, VT: Center for Holocaust Studies, University of Vermont, 1998), S. 30-31. Von nun an als HP mit Seitenzahl zitiert. Edita Koch, «Meine Wurzeln sind in der Luft. Ein Gespräch mit dem Dichter und Künstler Joseph Hahn in New York», Exil. Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse (Maintal), XI, Nr. 2 (1991), S. 57. Von nun an nur als Exil mit Seitenzahl zitiert. Joseph Hahn, Gedichte undßnf Zeichnungen (Bern: Francke Verlag, 1987), S. 36. Von nun an nur als G mit Seitenzahl zitiert. Vgl. auch HP, 32-33. Joseph Hahn, Eklipse und Strahl. Gedichte mit zehn Zeichnungen. Hrsg. und eingeleitet von Wolfgang Mieder und David Scrase (Paderborn: Igel Verlag, 1997). Von nun an nur als ES mit Seitenzahl zitiert.

KARL JAKOB HIRSCH HELMUT F. PFANNER In der beruflichen Ausbildung des am 13. November 1892 in Hannover geborenen und vielseitig begabten Karl Jakob Hirsch nahm die Literatur zunächst eine untergeordnete Stellung ein. Als Sohn eines wohlhabenden Arztes namens Samuel Hirsch, der die künstlerischen Ambitionen seines Sohnes in jeder Hinsicht unterstüzte, wollte er zunächst die Pianistenlaufbahn einschlagen, bis diese dem erst Zwölfjährigen durch die teilweise, infolge einer Blutvergiftung notwendig gewordene Amputation des rechten Zeigefingers vereitelt wurde. Als nächstes interessierte er sich für die Malerei und zog nach Abschluß des GoetheGymnasiums in Hannover im Jahre 1909 zu seiner mütterlichen Großmutter namens Margolitha Marx nach München, um sich an der dortigen DebschitzMalschule als bildender Künstler ausbilden zu lassen. Dabei lernte er eine Reihe von bekannten Literaten der Schwabinger Boheme-Kreise (u.a. Erich Mühsam und Roda-Roda) kennen und freundete sich mit der Medizinstudentin Auguste (Gulo) Lötz an, die später (1916) seine Frau wurde. 1911 begab er sich nach Worpswede und wurde Schüler des Malers Carl Weidemeyer. Zu seinen frühen Erfolgen als bildender Künstler gehörten Illustrationen zu Rainer Maria Rilkes Marienleben und Martin Bubers Legenden des Baal Schern. Nach seinem fortgesetzten Kunststudium in Paris und seiner durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedingten Rückkehr nach Deutschland lebte er (unterbrochen vorübergehend durch seinen Militärdienst, den er allerdings wegen seiner schwächlichen körperlichen Konstitution größtenteils in einer Schreibstube verbrachte) einige Jahre lang in Berlin, wo seine Frau als Arztin tätig war. Nach Ende des Krieges gehörte er dem revolutionär gesinnten «Rat geistiger Arbeitep> an und veröffentlichte Bilder und Graphiken in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion. Gleichzeitig entwarf er z.T. signierte, z.T. unsignierte Plakate für die Linksparteien der Weimarer Republik. Nachdem Gulo 1920 ihre Ärztepraxis nach Worpswede verlegt hatte, pendelte er häufig, zwischen dieser norddeutschen ländlichen Künstlerkolonie und der Großstadt Berlin hin und her; doch lebten er und Gulo sich immer mehr auseinander. Mitte der zwanziger Jahre traf er durch Zufall auf einer Italienreise die geschiedene Frau seines Worpsweder Lehrers Weidemeyer namens Wera (geborene Vera Frischen-Carus) und begann ein Verhältnis mit ihr, das im Jahre 1929 zu seiner Scheidung von Gulo und Wiederverheiratung mit Wera führte. Obwohl Hirsch im Laufe der zwanziger Jahre weiterhin als bildender Künstler tätig war, u.a. bis 1922 als Chef des Dekorations- und Kostümwesens an der Berliner Volksbühne und 1925-1926 als Bühnenbildner am Berliner LessingTheater, entwickelte er sich immer mehr zum Schriftsteller. Im Zeitraum 19251933 veröffentlichte er viele journalistische Arbeiten, u.a. im Bereich der

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Kunstkritik, für Berliner Zeitschriften, z.B. Carl von Ossietzkys Weltbühne, und Zeitungen, z.B. die Vossische Zeitung. 1927 gründete er einen eigenen werbetechnischen Verlag namens Cams und führte ihn zusammen mit Wera Weidemeyer bis 1929. In den letzten Jahren der Weimarer Republik unternahm er auch größere Reisen, die ihn in mehrere europäische Länder und bis nach Kleinasien und Nordafrika führten. Gleichzeitig schrieb er gesellschaftskritische und satirische Erzählungen, z.B. «Knabenlehrer Jünger» und «Hohenzollernwetter», die später zu einem Bestandteil seines ersten Romans wurden. Ermutigt durch den Erfolg seines zwei Jahre vor Hitlers Machtübernahme erschienenen Romanerstlings Kaiserwetter1, dessen lockerer Handlungsverlauf u.a. die Jugend eines jüdischen mit dem eines nichtjüdischen Jungen während des untergehenden Kaiserreiches kontrastiert, schrieb Karl Jakob Hirsch bald dessen Fortsetzimg, deren Handlung sich vor dem historischen Hintergrund der Weimarer Republik abspielte. Obwohl das Manuskript noch vollständig bei Hirschs Verleger Samuel Fischer in Berlin eintraf und am 31. Januar 1933 dort in Druck gehen sollte, mußte die Ausführung dieses Planes infolge der am gleichen Tag stattfindenden Machtübernahme Hitlers und der damit verbundenen anwachsenden antisemitischen Stimmung in Deutschland unterbleiben. Das Manuskript gilt seither als verschollen; und sein Vorläufer Kaiserwetter gehört zu jenen Werken, die am 10. Mai dem Autodafe verfielen. Der Autor selbst hielt wohl noch eine Zeitlang dem Druck der Verhältnisse in seinem Heimatland stand, doch sah er sich im Zeitraum 1933-1934 genötigt, sich auf eine längere «Erholungsreise» nach Dänemark zu begeben, die ihm zu einer Art Testaufenthalt im Exil wurde. Nachdem er von dort aus mehrere Monate lang über die Grenze hinweg die politische Entwicklung in Deutschland beobachtet hatte, kehrte er im Herbst 1934 auf kurze Zeit in seine Heimat zurück, um noch im Dezember des gleichen Jahres mit seiner Familie, das heißt seiner zweiten Frau Wera Weidemeyer und ihrem gemeinsamen Sohn Ralph (geboren 1932), in die Schweiz auszureisen. Das literarische Produkt von Hirschs Dänemarkaufenthalt war ein Roman u.d.T. Hochzeitsmarsch in Moll, der zwei Jahre nach seiner Entstehung noch in einer deutsch-jüdischen Zeitung, der Feuilletonbeilage zum Israelitischen Familienblatt in Berlin erscheinen konnte, obwohl sein Erstdruck als Buch noch weitere fünfzig Jahre auf sich warten lassen mußte2. Der Inhalt dieses Romans ist wie der seiner meisten anderen Bücher unverkennbar autobiographisch, da er das Dilemma des assimilierten deutschen Juden zeigt, der in Anbetracht des gesellschaftlichen und politischen Antisemitismus in seinem Heimatland zwischen einer Erneuerung der ethnischen Bindungen im Sinne des Zionismus und einem dem deutschen Nationalismus entfliehenden, aber nirgendwo Wurzeln fassenden Diasporitenleben zu wählen hat. Ahnlich wie der Autor selbst die religiösen Gepflogenheiten seines orthodoxen Elternhauses, das sich — nach Hirschs Meinung allerdings nur

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äußerlich — der Lehre seines Urgroßvaters, des bekannten Frankfurter Rabbiners Samson Raphael Hirsch, gegenüber verpflichtet fühlte, früh über Bord warf, so bekennt sich der Held des Romans namens Walter Heller zu einer liberalhumanistischen, doch wesentlich atheistischen Weltanschauung. Hirsch verbrämte allerdings seine eigene lange berufliche Unentschlossenheit zwischen den Bereichen der Musik, der bildenden Künste und der Literatur in dem Roman mit der unzulänglichen juristischen Laufbahn seines Helden, für den das Dilettieren mit Musik eine Lieblingsbeschäftigung bleibt. Im zentralen Hauptteil des Romans u.d.T. Der verlorene Sohn kristallieren sich die den Protagonisten umkämpfenden Kräfte in der Person seiner Freundin und späteren Frau Eva Rasmussen, einer nichtreligiösen jüdischen Kosmopolitin, einerseits und seiner ganz dem praktizierenden Judentum hingegebenen eigenen Mutter andererseits heraus. Er veranlaßt jedoch, daß bei seiner Hochzeit mit Eva jener «Hochzeitsmarsch in Moll» gespielt wird, den er für seine frühere zionistische Freundin Marya Rosanski komponiert hatte, die Hebräisch studiert und sich nach «Erez Israel» sehnt und ihm einmal vorhielt, daß er eine Sünde begehe, wenn er an einem Sabbath mit einem Zündholz einem Gast die Zigarre anzünde. Im dritten Teil des Romans u.d.T. Vita nova stirbt Hellers Frau Eva. Nach einem Dänemarkaufenthalt vor die Wahl gestellt, in Deutschland das Grab seiner verstorbenen Frau zu hüten oder auf einem bereitstehenden Schiff mit seinem neuen Freund Ernst, einem erklärten Atheisten, und dessen Frau Mirjam nach Palästina auszuwandern, wählt er einen dritten Weg, nämlich aus Deutschland — ohne bestimmtes Ziel — wegzugehen, also in eine unbestimmte Zukunft zu schreiten. Die letzten Sätze des Romans lauten: Er mußte fort, mußte aus diesem Land gehen, das ihn eingefangen hatte mit seinem unendlichen Schweigen, den Erinnerungen und Gräbern. Fortgehen! Nichts durfte ihn halten .... Hinter dem Horizonte dehnte sich die Welt; sie wartete auf ihn, den Geringsten ... (HiM, 180).

In der Schweiz hielt sich der Autor abwechselnd in Luzern, Zürich und Basel auf und betätigte sich wieder journalistisch, u.a. als Mitarbeiter des Luzemer Tageblatts. Um die strengen Arbeitsbeschränkungen der Schweizer Behörden für Emigranten zu umgehen, signierte er seine Arbeiten mit dem Namen Joe Gassner, wobei er den Vornamen dem jugendhaften Protagonisten seines Romans Kaiserwetter abnahm und den Nachnamen in Verehrung des Schweizer Maler-Dichters Salomon Geßner (1730-1788) wählte. Schon vor seiner Ausreise aus Deutschland hatte er ein Pseudonym benutzt, als er noch im gleichen Jahre von Hitlers «Machtübernahme» bei S. Fischer das heitere und politisch unbeschwerte Prosawerk Felix und Feiice unter einem seit der Bücherverbrennung für ihn notwendig gewordenen «arisch» klingenden Decknamen, nämlich Karl Böttner, erscheinen ließ. Doch den Namen Joe Gassner hat er während seiner gesamten

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Exilodyssee beibehalten und sogar noch bei seinem Nachkriegsaufenthalt in Deutschland benutzt, mit Ausnahme der späteren Neuausgabe seiner Werke, die wieder unter seinem Geburtsnamen erschienen sind, so wie er dessen Verwendung auch kurz vor seinem Tode für die Eintragung in das Sterberegister verfügt hat. Die schwierigen Arbeitsbedingungen in der Schweiz und auch ihre gefährliche Nähe zu Deutschland ließen es Hirsch als ratsam erscheinen, nach einem neuen Exilort Ausschau zu halten. Im Jahre 1936 erhielt er das gewünschte Visum für die U.S.A., wobei ihm wahrscheinlich die Tatsache, daß seine Frau eine gebürtige Amerikanerin war, zugute kam. Er reiste gleich darauf — allerdings vorerst noch allein, um den neuen Aufenthaltsort zuerst einmal etwas auszukundschaften — durch Frankreich über den Atlantik und ließ sich in NewYork nieder, wo er bis zum Kriegsende 1945 lebte. Der Aufenthalt in den U.S.A. war für Hirsch, alias Gassner, und seine Familie mit großen Schwierigkeiten verbunden. Da ihm seine literarische Tätigkeit keinerlei Basis für den Lebenserwerb bot, mußte er eine Reihe von Gelegenheitsarbeiten annehmen, z.B. als Portier bei einem deutschsprechenden Arzt im Stadtteil Yorkville und als Hilfsarbeiter in einer Fensterrahmenfabrik im Stadtbezirk Brooklyn. Hin und wieder leistete er auch gering bezahlte oder nur ehrenamtlich ausgeführte Sprecherdienste bei einer deutschsprachigen Sendung einer New Yorker Radiostation. Die einzige mehr oder weniger regelmäßig ein geringes Einkommen abwerfende schriftstellerische Tätigkeit waren seine redaktionellen Dienste für die deutschsprachige, sozialdemokratisch orientierte Neue Volkszeitung (NV2) einschließlich seiner Veröffentlichung von einigen hundert feuilletonistischen Artikeln und Besprechungen von Büchern und Filmen, Konzerten und Theateraufführungen in der gleichen Zeitung. In der NV2 ist auch sein in New York entstandener Roman Heute und Morgen als Serienveröffentlichung gedruckt worden, der bisher noch in keinem Buchverlag erscheinen konnte3. Es handelt sich dabei um jenes Werk, in dem sich die Exilthematik des Autors während seines Amerikaaufenthalts am direktesten widerspiegelt. In unregelmäßigen Abständen konnte Hirsch auch kleine Beiträge in der New Yorker Staats-Zeitung und Herold (NYSZH) und im Aufbau (NY) sowie in der Prager Zeitschrift Die neue Weltbühne (NWB) unterbringen. Einen kleinen literarischen, allerdings wenig lukrativen Bucherfolg erreichte er mit der Annahme seiner «Sommergeschichte» Felix und Felicia in Form einer Studienausgabe für amerikanische Deutsch-Studenten4. Sein im letzten Vorkriegsjahr entstandenes deutsches Theaterstück u.d.T. «Wir alle stehen zusammen», das einen «Hymnus auf den heroischen Kampf der Loyalisten in Spanien» darstellte5, wurde am 1. Mai 1938 im Gewerkschaftshaus in NewYork aufgeführt, doch ist das Manuskript des Stückes heute verschollen. Inwieweit Hirschs berufliche Misere sich negativ auf sein Privatleben auswirkte oder seine private Misere durch berufliche Mißerfolge intensiviert wurde, möge dahingestellt bleiben, obwohl seine Memoiren eher auf das erstere

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schließen lassen6. Tatsache bleibt, daß seine Ehe mit Wera in die Brüche ging und im Jahre 1943 in Scheidung endete, woraufhin sich auch sein Kontakt mit dem von ihm geliebten Sohn Ralph immer schwieriger gestaltete. Zu alldem gesellte sich im darauffolgenden Jahre eine schwere Krankheit mit einem langen Spitalaufenthalt im Winter 1944, wobei er eine Zeitlang zwischen Leben und Tod schwebte. Während seiner Fieberanfälle hatte er Visionen der Jungfrau Maria und der Marie Bernadette Soubirous, wie er sie in Franz Werfeis Buch Das Lied der Bernadette und dem nach ihm benannten Hollywood-Film mit Jennifer Jones in der Hauptrolle kennengelernt hatte7. Zu seinen Betreuern in der schwersten Krise seines Lebens zählte ein protestantischer Geistlicher namens Frederick (Friedrich) Forell, der seit 1940 in den U.S.A. lebte und Mitglied der Association of Free Germans sowie der Newcomers Christian Fellowship, einer christlichen Flüchtlingsfürsorge, war. Die Gespräche, die Hirsch auf dem Krankenbett und danach weiterhin mit Forell führte, mündeten letztlich in Hirschs Konversion zum protestantischen Christentum mit formellem Ubertritt in Form der Taufe am Karfreitag des Jahres 1945. Daß Hirschs Konversion nicht nur als Folge seiner mehrfachen — beruflichen, familiären und gesundheitlichen — Krise zu verstehen ist, sondern auch als eine Folge seiner bis ins Jugendalter zurückreichenden religiösen Orientierungslosigkeit und Suche gesehen werden muß, spiegelt sich in seinem schon Ende der dreißiger Jahre in New York entstandenen Roman, der bisher nur in der NVZ erschienen ist und den Titel trägt: Tagebuch aus dem Dritten Reich*. Es handelt sich dabei um die fingierten Aufzeichnungen eines fünfzehnjährigen jüdischen Jungen namens Simon Levy, der allen Anfeindungen seiner deutschen Umgebung und der Verlockung des Zionismus trotzt und dabei in eine solche gesellschaftliche Entfremdung hineingerät, daß ihm jegliche nationale Identität abhanden kommt. Obwohl es ihm und seiner Familie gelingt, den Nazis auf einem Schiff zu entkommen, das in Richtung Amerika fährt, wird Simon durch die Hilfe eines mitfahrenden Amerikaners als einzigem Flüchtling die Einreisebewilligung in die U.S.A. erteilt, wo er sich, wie dies vor allem aus dem fingierten «Nachwort des Herausgebers» hervorgeht, zu einem politisch engagierten Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit entwickelt. Hirsch selbst bekundete sein zunehmendes politisches Engagement während seines Amerikaaufenthalts durch seine Unterzeichnung der programmatischen Richtlinien «Für das Freie Deutschland von Morgen» der Association of Free Germans9 und seine vom August 1943 an ausgeübte Arbeit für die amerikanische Briefzensur, die Civil Censorship Division (CCD) des Civil Service, der seine Annahme der amerikanischen Staatsbürgerschaft am 14. August 1941 vorausgegangen war. In einer ähnlichen Funktion, nämlich als Zensurbeamter der amerikanischen Besatzungsmacht kehrte Hirsch gleich nach Kriegsende nach Deutschland zurück. Noch vor seiner Rückkehr aus den U.S.A. und in unmittelbarem Anschluß daran in München verfaßte Hirsch ein Buch in der Absicht, seine religiöse Konversion zu erklären und dies vor allem seinem Sohn Ralph gegenüber, dessen

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Gefühle für seinen Vater sich seit der im Herbst 1943 in Nevada vollzogenen Scheidung von seiner zweiten Frau und später infolge der dazugekommenen geographischen Distanz zwischen Deutschland und den U.S.A. immer weiter abzuschwächen schienen. Das Buch u.d.T. Heimkehr zu Gott: Briefe an meinen SohnW ist als eine der frühesten Nachkriegsproduktionen auf dem deutschen Buchmarkt erschienen, hat allerdings kaum zu einer Neubelebung von Hirschs Namen in Deutschland geführt. Dazu wurde die Thematik des Buches trotz des sinnbildhaften Weges, als den der Autor seine eigene Entwicklung von einem emanzipierten deutschen Juden über einen aufgeklärten Atheisten — dem allerdings, wie vor allem Hirschs Graphiken der frühen Weimarer Republik verdeutlichen, ein gewisser Mystizismus nie abging — zum bekennenden Christen darstellte, von den damaligen Lesern als zu privat empfunden, abgesehen davon, daß Hirschs Absicht, seinen Weg den jüdischen Zeitgenossen als exemplarisch zu schildern, auch die wenigen in Deutschland verbliebenen Juden und die meisten jüdischen Exilanten nur befremdend anmuten konnte. Das Buch ist aber ein wichtiges Schlüsselwerk für das Verständnis des Autors und in gewisser Hinsicht auch einiger anderer Exilanten, die wie Hirsch vom Judentum zum Christentum konvertiert sind11. Mit mehr oder weniger zutreffender Anwendbarkeit auf jene Parallelfälle wollte Hirsch seine Konversion als eine logische Folge seiner religiösen Entwicklung vom Juden zum Christen verstanden haben oder, wie er es am Tag seiner Konversion auf die Frage Pastor Forells, wie er sich jetzt fühle, ausdrückte: «Ich glaube, ich war niemals ein besserer Jude als heute!» (.HzG, 138)12. Hirsch hat später, genau gesprochen im Jahre 1950, eine neuere Version seiner Autobiographie geschrieben, in der er die Zeitspanne seines Lebens von der Geburt bis zu seiner Konversion im amerikanischen Exil aus der veränderten Perspektive seiner Rückkehr nach Deutschland und mit zeitlicher Erweiterung bis zum Ende des Jahres 1947 vervollständigt hat. Das Buch, das erst postum erschienen ist und den Titel Quintessenz meines Lebens trägt13, besteht aus drei Teilen, wovon sich der längste erste Teil u.d.T. «Variation über ein eigenes Thema» zeitlich mit Heimkehr zu Gott deckt, und die zwei insgesamt kürzeren Teile Π und ΠΙ u.d.T. «Deutsches Tagebuch» bzw. «Entscheidung» den Verlauf von Hirschs Rückreise aus den U.S.A. über Frankreich und das ausgebombte Deutschland nach München sowie seine Erfahrungen als amerikanischer Besatzungsoffizier wiedergeben. Zusätzlich enthält das Buch den Bericht von Hirschs anschließendem vorübergehenden Aufenthalt in New York bis zu seiner endgültigen Rückkehr nach München im September 1948. Einem Rat Alfred Döblins folgend14, mit dem Hirsch — wohl nicht zuletzt wegen dessen eigener im Exil erfolgten Konversion zum Christentum — im Nachkriegsdeutschland Kontakt aufnahm, erweiterte er den Rückblick auf sein Leben über die Geschichte seiner religiösen Entwicklung hinaus und rückte infolgedessen den zeitgeschichtlichen Hintergrund in ein klareres Blickfeld. Die in diesem Buch vom Autor angestrebte Absicht der Erweiterung und Vertiefung

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seiner Beobachtungen drückt sich auch in dem Satz aus, von dem er sagt, er enthalte einen Gedanken, mit dem er einige Zeit lang gespielt habe, nämlich das Buch mit dem Untertitel zu versehen: «Beinahe wäre etwas aus mir geworden» (QmL, 38). Dementsprechend spielen nun außer der religiösen Entwicklung auch andere Faktoren eine Rolle wie z.B. — das Exil betreffend — seine Angst in der Schweiz vor der gewaltsamen Rückführung nach Deutschland durch Naziagenten, politische Debatten unter deutschen und österreichischen Intellektuellen in New York, der auch die Exilanten berührende Konflikt zwischen West- und Ostjuden in der amerikanischen Metropole New York, die Auswirkungen des gesellschaftlichen (also nicht politischen) Antisemitismus in den U.S.A., die beruflich hoffnungslose und immer wieder auftauchende soziale Enttäuschung der deutschsprachigen Schriftsteller im amerikanischen Exil und die letztlich bleibende Quintessenz seiner Erfahrungen in Amerika: , einer reizenden Mischung aus deutscher Boheme und asiatischer Seelenkultur, geistreich einfach vorgetragen41.» Emil Ludwig erblickte in dem Roman ein «zartes Gebilde, elegant und zerbrechlich wie eine japanische Lackmalerei»42. Noch im Dezember 1928 erfolgte die zweite Auflage und Ubersetzungen in alle großen Sprachen, selbst ins Japanische (1935), schlossen sich an. Jacqueline und die Japaner geriet zum literarischen Durchbruch für Jacob. Sein Novellenband Dämonen und Narren43 fand ebenfalls ausgezeichnete Kritiken, wenn auch nicht ganz so leidenschaftliche wie die Jacqueline. Das literarische Gedeihen Jacobs in der Nachkriegszeit war geprägt von gesellschaftlichen und politischen Krisen der Zeit. Trotzdem kann festgehalten werden, daß trotz des instabilen und trostlosen Zustandes eines neugegründeten Staatswesen, das kulturelle Leben dieser Weimarer Republik von Neuerungen und Meinungsvielfältigkeit geprägt war. Beweis dafür ist allein schon die Vielfalt der Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft von damals, die «als Ausdruck geistiger Strömungen dieser Zeit»44 angesehen werden können. Jacob, der damals bereits einen angesehenen Namen als Journalist hatte, publizierte entsprechend in den unterschiedlichsten Blättern. So war es nicht verwunderlich, daß er ab 1922 die Herausgabe der zunächst im Berliner Albrecht Blau Verlag erschienenen literarischen Monatsschrift Der Feuerreiter. Zeitschriftfür Dichtung, Kritik, Graphik übernahm. Georg Zivier, ein früher Mitstreiter, dem zusammen mit Fritz Gottfurcht die Herausgabe der Zeitschrift angetragen wurde, erinnerte sich später daran:

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Da lernten wir einen sieben Jahre älteren und schon bewährten Literaten kennen: Heinrich Eduard Jacob. Er ließ sich in die Buchhandlung mitnehmen, gab mit weitausholender Geste und in etwas üppigem Sprechstil praktische Ratschläge — und es dauerte nicht lange, da hatte er «das Heft in der Hand», denn schon das erste Heft der Avantgarde-Zeitschrift für Literatur und Kritik Der Feuerreiter führte H.E. Jacobs Namen am Kopf des Impressums45.

Die Redaktion des Feuerreiters hatte es Jacob zu verdanken, daß Autoren von Rang wie Bertolt Brecht, Max Brod, Alfred Döblin, Oskar Maurus Fontana, Ivan Göll, Ludwig Marcuse, Robert Musil, Armin T. Wegner, Ernst Weiß, Arnold Zweig oder Stefan Zweig u.a.m. für Beiträge gewonnen wurden. Von den Mitarbeitern, durchaus der Creme de la creme der literarischen Welt der Weimarer Republik zuzurechnen, zählte Jacob selbst zu den fleißigsten. Zu seinen herausragenden Beiträgen gehörten ohne Zweifel die über Heym, Calderon und Kafka46. Auf Kafka machte Jacob bereits 1913, was dieser zu würdigen wußte, aufmerksam, indem er in der Deutschen Montags-Zeitung dessen Novelle «Der Heizen> freundlich besprach, obwohl er bei der Lektüre durchaus Verständnisschwierigkeiten hatte: «Ich habe diese Novelle dreimal gelesen, weiß weder ein noch aus und bin glücklich, daß mich die Macht eines großen Dichters wahrscheinlich für immer in diesem urteilschwebenden Zustand verharren lassen wird47.» Jacobs FeuerreiterBeitrag über Kafka oder die Wahrhaftigkeit, kurz nach dem Tod des Prager Erzählers als erstes großes Diktum zu dessen Werk erschienen, hat literaturhistorischen Rang. Nach der August/September-Ausgabe 1924 stellte Der Feuerreiter sein Erscheinen ein. Schon beim Start der Zeitschrift im Dezember 1921 stieg die Inflation von einem Tag zum anderen. Ob aber letztlich die unaufhaltsame Geldentwertung an der die Einstellung des Feuerreiters schuld war, bleibt Spekulation, da keine signifikanten Hinweise darüber vorliegen. 1924 wurde Jacob durch den Berliner Propyläen Verlag, wie er in einem Brief an Max Brod festhielt, beauftragt, «eine Anthologie deutscher Lyrik seit 1910 zusammenzustellen»48. Wie bereits gegenüber den Mitarbeitern des Feuerreiters, so schrieb Jacob auch bei der Zusammenstellung dieser Verse der Lebenden keinem der Dichter eine Form des künstlerischen Ausdrucks vor. An Brod schrieb er weiter, welche Qualitätshürde zu nehmen war: «Sie [die Sammlung] wird das Notwendige vollzählig, d.h. Gedichte nicht mehr nach der weltanschaulichen Zugehörigkeit des Verfassers aufnehmen, sondern einzig nach deren dichterischem Wert49.» Bestimmt nicht ohne guten Grund fanden sich in der Anthologie viele der Namen wieder, die schon zum Mitarbeiterstab des Feuerreiters zählten. Jacob gewann aber auch Gottfried Benn, Kurt Hiller, Oskar Loerke, Georg Trakl, Alfred Wolfenstein, Paul Zech u.a.m. für seinen Auftrag. Von sich selbst brachte Jacob lediglich ein Gedicht ein. Der Anthologist versammelte die Dichter «nicht, um sie zu neutralisieren, sondern um ihre Gegensätze, die Spannkraft zwischen ihnen deutlich zu machen»50. Jacob beurteilte den Expressionismus auch infolge des Kriegsendes als

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antiquiert, weil er durch den Krieg bzw. dessen Vorahnung entstanden sei. Fast alle namhaften Expressionismusdichter fanden sich bereit, in seiner Anthologie aufzutreten. Für Jacob war diese Kunstrichtung aber während des Krieges schon wie der Krieg selbst zur «grauenvollen Mechanik» geworden und erschien ihm damit als unaufrichtig. Für ihn war es eine Form, die zur «Lüge geworden» war51. Als er denn in seiner umfangreichen Einleitung zu den Versen der Lebenden das Wort «Expressionismus» gebrauchte, nannte er es «töricht»52. Überhaupt sah Jacob in der deutschen Dichtung seit 1910 lediglich einen Irrgarten, indem er feststellte: «Den Blick auf die deutsche Lyrik seit 1910 richten, heißt seinen Blick auf das Chaos richten53.» Obwohl Dichter wie Brod, Heym oder Werfel Jacobs Zustimmung fanden, fiel sein Gesamturteil über die deutsche Lyrik seit 1910 sehr hart, ja vernichtend aus. Er konstatierte: Ein ganz wesentlicher Grund des Unbefriedigenden in dieser Dichtung ist der Umstand, daß weitaus die meisten Dichter sich nicht eindeutig entscheiden konnten, ob sie auf die Seite der ethischen Forderung (Werfel) oder des freien Spiels (Loerke) gehörten. Das bricht ihre Persönlichkeit. Vor allem aber wurde ihre Persönlichkeit durch einen geistigen Kampf gebrochen, den die Dichter keiner anderen Zeit zu bestehen hatten: das ist der Kampf um die Inkubationszeit des Erlebniskeims. ... Was an seelischen Stürmen und geistig-ungeistigen Tagesbefehlen ist denn über alle, die in diesem Buche sprechen, in einem Jahrzehnt dahingebraust: vorgestern Ludendorff, gestern Wilson, heute Poincare und morgen Trotzki. Ist es da nicht ein Wunder, daß überhaupt gedichtet wurde und wird?!54

Die Verse der Lebenden erschienen 1927 in erweiterter und veränderter zweiten Auflage und nochmals 1932, ebenfalls verändert und erweitert, in dritter und letzter Auflage. Jacob gelang mit dieser Anthologie — gerade durch die ständige Überarbeitung und Ergänzung mit neuen Dichtern — eine maßgebliche Dokumentation der deutschen Lyrik seit 1910. Nicht nur mit dem Feuerreiter und den Versen der Lebenden machte sich Jacob einen Namen als Herausgeber, sondern auch als Mitherausgeber der DeutschFranzösischen Rundschau, die von 1928 bis 1933 in Berlin erschien und das Organ der Deutsch-Französischen Gesellschaft war. Die Gesellschaft wurde 1926 von Otto Grautoff, einem Lübecker Mitschüler Thomas Manns gegründet. In den Buddenbrooks setzte Mann ihm in der Figur des Kai ein kleines Denkmal. Anfang 1928 wurde Jacob zum zweiten Vorsitzenden gewählt. Im Februar 1928 gründete sich die Wiener Ortsgruppe der Gesellschaft, in dessen Ehrenkomitee sich u.a. Arthur Schnitzler, der Verleger Paul von Zsolnay und Jacob befanden. Gruppenleiter in Wien wurde Jacob. Da sich Jacob seit dem Ersten Weltkrieg dem deutsch-französischen Verhältnis verbunden fühlte und ausgesprochen frankophil war — er sprach nicht nur ein ausgezeichnetes Französisch, sondern übersetzte für den Rowohlt Verlag Balzacs

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Novellenband Künstler und Narren55 —, ist es nicht verwunderlich, daß er sich in der Deutsch-Französischen Gesellschaft engagierte. Für die Deutsch-Französische Rundschau verfaßte er hauptsächlich Reiseberichte über Frankreich und Buchbesprechungen. Weshalb er sich gerade von Wien aus besonders für die deutschfranzösische Annäherung einsetzte, hatte einen speziellen Grund, denn er wurde einer der wichtigsten Mitarbeiter des Berliner Tageblatts, dem maßgeblichen Organ des liberal-demokratischen Bürgertums. Dessen legendärer Chefredakteur, Theodor Wolff, berief Jacob im Oktober 1927 zum Chefkorrespondenten und Leiter des Mitteleuropäischen Büros seiner Zeitung in Wien. In dieser Funktion war er zuständig für die Ressorts Theater- und Musikkritik, Feuilleton und Politik. Die Berufung Jacobs nach Wien fiel in eine Zeit, als die Weimarer Republik, bedingt durch die Auswirkungen des Friedensvertrags von Versailles mit seiner eminenten Reparationsforderung, einer rückläufigen Konjunktur und damit einhergehender Arbeitslosigkeit, extrem instabil wurde. Beim linken und bürgerlich-protestantischen Parteienspektrum zeichnete sich eine bedrohliche Zersplitterung ab, und Hitlers NSDAP stand kurz vor ihrem unheilvollen Aufstieg zur Macht. Auch in Osterreich wurde zu diesem Zeitpunkt die innenpolitische Situation immer dramatischer und Jacob nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um im Berliner Tageblatt auf die sich zuspitzende Lage aufmerksam zu machen. Die politische Lage Österreichs hervorragend einschätzend, informierte er in Kommentaren und Leitartikeln über die faschistischen Heimwehren, die «geistige» Haltung des deutschnationalen Landbundes für Osterreich und andere sogenannte Anschlußorganisationen, wie die Großdeutsche Volkspartei, was für sein späteres Leben noch eine bittere Erfahrung bringen sollte. Vor allem in der jungen österreichischen Republik sah Jacob die Demokratie in Gefahr und mahnte an, endlich zu einer besseren Form von Politik zu gelangen. Solange in Osterreich einseitig gegen links regiert wird, solange die Heimwehr in einzelnen Alpenländern von den Provinzregierungen mit militärischen und polizeilichen Befugnissen ausgestattet wird, die dem republikanischen Schutzbund verweigert werden würde, wenn er sie etwa anstrebte: solange ist die Gefahr der Anarchie in Osterreich nicht beschworen, und solange dürfte es zu einer geistigen und wirtschaftlichen Befriedigung des Landes schwerlich kommen 56 .

Obwohl Jacob während seiner Chefkorrespondentenzeit zwischen 1927 und 1933 außerordentlich viel für das Berliner Tageblatt schrieb — er brachte es in diesem Zeitraum auf knapp 1000 Beiträge —, berichtete er noch für andere Blätter, hielt regelmäßig Vorträge für deutsche und österreichische Rundfunkstationen und widmete sich weiterhin seinem Arbeitsschwerpunkt, der Literatur. 1929 erschien bei Ernst Rowohlt der politische Roman Blut und Zelluloid7, in dem Jacob versuchte, «das gefährliche Zusammenspiel von Politik und Medien durchsichtig zu machen und vor einem ideologischen Mißbrauch des Films zu

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warnen»58. Die Anregung zu diesem Roman holte sich Jacob 1926 in Frankreich, wohin er als Delegierter zum Pariser Filmkongreß des Völkerbundes gereist war und von wo er ausführlich in der Literarischen Welt und im Berliner Tageblatt berichtete. In den Mittelpunkt des Textes stellte Jacob die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Films, vor allem die manipulative Kraft dieses Massenmediums. Er hatte zwar nichts gegen das Medium Film, aber er geißelte mit Blut und Zelluloid die kriegshetzerische Gesinnung von Filmen und übte zugleich Kritik am italienischen Faschismus und den einseitigen Interessen der Industrie. Geradezu seherisch antizipierte er, wie Krieg und Film sich später bei den Nationalsozialisten mit ihren hetzerischen Wochenschauen ergänzen sollten. Die Kamera verglich er mit einem Maschinengewehr: «Auch in Maschinengewehre tut man solche langen Streifen und kurbelt dann und schießt alles tot! Es ist das nämliche System. Auf ihrem Zelluloid haben sie eine Unmenge fast gleicher Bilder, und auf dem Schießstreifen sind's die Patronen: das wird nun nach vorne projiziert und auf die Menschheit losgedrückt...59.» Blut und Zelluloid war ein vielbesprochenes Werk. Die Literaturkritik erwärmte sich vor allem daran, daß Jacob Fiktion mit Fakten mischte. Stefan Zweig hielt fest: «hier ist dieser absolute Eindruck unanfechtbarer Realität erreicht und mit mathematischer Präzision bis ins kleinste Detail durchgeführt»60. Es folgte 1931 der Roman Die Magd von Aachen61 im Wiener Paul Zsolnay Verlag. Die Startauflage betrug beachtliche 15000 Exemplare. Jacob schilderte das Schicksal der Magd Marie, die ein Verhältnis mit dem belgischen Besatzungsoffizier Pieter einging und von ihm schwanger wurde. Mit dem Abzug der Besatzer und den ärmlichen Verhältnissen der Protagonisten, war zunächst ein Happy-End dieser deutsch-belgischen Liebesgeschichte verhindert. Marie verlor auch noch ihre Stellung, doch gerade dadurch wandelte sich das Schicksal ins Glück. Die neue «Herrschaft» verschaffte Marie und Pieter eine gemeinsame Zukunft. Rosselius, der Glücksbringer, durchbrach zugleich seine eigene gesellschaftliche Vereinsamung und fand sein eigenes Glück in der Verbindung zu Beatrix. Wie bereits in Blut und Zelluloid mischte Jacob wieder Realität mit Fiktion, die ihm diesmal jedoch etwas ins Märchenhafte abglitt. So war es nicht verwunderlich, daß sich manche Rezensenten daran rieben und feststellten, daß der Roman «durch einen allzu märchenhaften Schluß verkitscht»62 sei. Erich Wolfgang Korngold vertonte den Grundstoff der Magd von Aachen zwischen 1932 und 1937 zu seiner Oper «Die Kathrin». Das Libretto dazu stammte von Ernst Decsey. Am 7. Oktober 1939 gelangte die Oper in Stockholm zur Uraufführung, 1950 kam es zur österreichischen Erstaufführung in Wien. Die deutsche Erstaufführung im Theater der Stadt Trier ließ gar bis zum 30. Mai 1999 auf sich warten. Im Mai 1931 unternahm Jacob mit Mitgliedern des Wiener Verbandes der auswärtigen Presse eine Reise durch Mazedonien. Mit von der Partie war Ernst Decsey, der notierte:

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Unter der windbewegten Markise des Hotels Srpski Kral in Skoplje [d.i. Üsküb] saßen im letzten Frühjahr ein paar Wiener Schriftsteller.... Die Kodaks knackten und die Füllfederhalter huschten. Alle notierten alles.... Nur einer nicht. Einer beschränkte sich aufs Zusehen. Einer begnügte sich mit der Arbeit der anderen, Einer sendete keine Reiseberichte an seine Zeitung.... Einige Monate später erschien ein Roman von seiner Hand, der bezeugte, daß er den Orient auswendig gelernt hatte, daß dieser Faule der fleißigste war.... Und dies war Heinrich Eduard Jacob 63 .

Die zentrale Gestalt des Romans Liebe ins ÜskübM, die Linzer Kellnerin Cäcilie Prandtauer, unterhielt ein Verhältnis mit ihrem Kollegen Josef, der sich allerdings seiner Chefin zuwandte. Als ein versuchter Freitod scheiterte, zog es Cäcilie als Prostituierte auf den Balkan. Geld wollte sie dort verdienen, um damit das frühere Lokal zu übernehmen und sich an Josef zu rächen. Das Gewerbe lief flott, als Joachim Becker, ein Unternehmersohn aus Berlin, nach Üsküb kam und ihr Offerten machte. Nach anfänglicher Ablehnung begann eine einseitige Liebesgeschichte. Sie träumte davon, mit Becker eine gemeinsame Zukunft in Berlin zu erleben und konnte nicht mehr verstehen, daß sie ihre letzte Zeit rachsüchtig auf Josef ausgerichtet hatte. Als Becker erfuhr, daß Cäcilie tatsächlich mit ihm nach Berlin gehen wollte, trieb ihn nur noch der Gedanke um, sie loszuwerden. Bei nächster Gelegenheit fuhr er ohne sie ab und Cäcilie ertränkte sich im Ochrida-See. Jakob Wassermann muß durch die Lektüre sichtlich verblüfft gewesen sein, denn er bezeichnete Liebe in Üsküb als «eines der seltsamsten Bücher, die mir je untergekommen sind» und er fuhr fort: Des Erzählers Haltung macht es so sonderbar: hier herrscht eine Form der Ironie, die ganz neu ist, manchmal fühlt man sich an Zeichnungen von Gavarni erinnert. Es ist, als ob der Stoff kaum noch eine Rolle spielte, die Behandlung, die Situationen und die Personen, all das hängt in einer merkwürdig sublimen, spöttischen und spielenden Weise von der Willkür des Autors ab65.

Interessant dürfte in diesem Zusammenhang sein, daß Jacob im Frühjahr 1928, wie Arthur Schnitzler seinem Tagebuch anvertraute, eine Liaison mit Wassermanns Tochter Judith hatte66. Jacobs letztes Buch vor Hitlers Machtübernahme, Ein Staatsmann strauchelt67', erschien im November 1932. Die Handlung spielte im Jahre 1930 in Wien, hätte aber ebenso in London, Paris oder Berlin angesiedelt werden können, denn mit dem strauchelnden Staatsmann legte Jacob ein international gültiges Thema vor. Anton Chonochowski, Jacobs Protagonist, war Landwirtschaftsminister und seines Postens überdrüßig. Er spazierte durch den Wiener Stadtpark. Wie im Traum fiel er, «vom Ruf eines falschen Frühlings geweckt», als vierzigjähriger Mann einem vierzehnjährigen Mädchen melancholisch um den Hals, verlockt vom Wahn, seine eigene Jugend wieder zu gewinnen. Nichts weiter war geschehen und nichts weiter

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wäre geschehen, hätte diesen Vorfall nicht der Nationalsozialist Umley beobachtet und Anzeige gegen den ihm unausstehlichen Minister erstattet. Die Polizei informierte Chonochowskis mächtigen Parteivorsitzenden Leibhartinger, «des Staates größter Komödiant und seine gefährlichste Wirklichkeit»68. Dieser, des liberalen Landwirtschaftsministers sowieso schon leid, ermöglichte die «Schadensbegrenzung» um den Preis der Demissionierung. In der Wirklichkeit war dem französischen Staatsmann Aristide Briand eine ähnliche Schwäche passiert wie Chonochowski. Auch Briand wurde, wenn auch nicht für die Ewigkeit, zur Strecke gebracht durch seine innenpolitischen Gegner. Mit seinem Staatsmann wagte sich Jacob weit vor, vor allem bei der Schilderung des Nationalsozialisten Umley. Dennoch waren die Kritiken selbst in Deutschland noch unmittelbar nach Hitlers Machtantritt Anfang 1933 voll des Lobes. Lange hielt diese Ruhe vor dem Sturm nicht an. Jacobs Roman Blut und Zelluloid stand umgehend auf der ersten «Schwarzen Liste» der Nationalsozialisten auf dem Gebiet der schönen Literatur und fiel der Bücherverbrennung des 10. Mai 1933 zum Opfer69. Bereits zwei Tage später erfolgte beim Berliner Tageblatt die sogenannte Selbstgleichschaltung, was automatisch dazu führte, daß diejenigen Mitarbeiter ihres Postens enthoben wurden, von denen vermutet wurde, daß sie den neuen Machthabern nicht genehm sein könnten. Jacob war seinen einflußreichen, repräsentativen und gut dotierten Posten beim Berliner Tageblatt los und lebte fortan als «freier» Schriftsteller in Wien. Er mußte nicht, wie es immer wieder falsch kolportiert wird, 1933 vor den Nazis nach Wien fliehen. Sein zweites Exil hatte er schon Jahre davor — gleichsam freiwillig — erreicht. Im österreichischen Exil entwickelte Jacob umgehend Aktivitäten, um gegenüber dem Nationalsozialismus Flagge zu zeigen. Anläßlich des XI. Internationalen PEN-Kongresses in Ragusa, vom 26. bis 28. Mai 1933, war Jacob einer derjenigen Literaten, die Seite an Seite mit Paul Frischauer gegen die völkischen bzw. nationalen Schriftsteller auftraten und schließlich eine Spaltung des österreichischen PEN bewirkten70. Anschließend half Jacob in vorderster Reihe mit, die im österreichischen PEN-Club mit den Nationalsozialisten paktierenden Autoren zum Austritt zu bewegen, was anläßlich einer für den 27. Juni 1933 einberufenen Generalversammlung auch geschah. In diesem Zusammenhang kam es zum Konflikt zwischen Jacob und Stefan Zweig, der sich der Opposition um Raoul Auernheimer, Ernst Lothar, Rudolf Jeremias Kreutz, Hermann Heinz Ortner, Oskar Maurus Fontana, Robert Neumann, Franz Theodor Csokor u.a.m. nicht anschließen mochte. Diese trafen sich in Jacobs Wiener Wohnung im feinen Diplomatenviertel des Dritten Bezirks (Reisnerstraße 61), um eine «Resolution aufzusetzen und durchzuberaten. Sie beschäftigt sich mit der geistigen und moralischen Reorganisation des österreichischen PEN-Club»71. Am 5. Juli 1933 schrieb Jacob an den zögerlichen bzw. sich weigernden Zweig:

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Ich habe Ihre Gründe, aus denen Sie bei der Pen-Club-Opposition nicht mittaten, gewiß geachtet — na, aber richtig waren sie nicht! Der Erfolg hat mir, hat uns fünfundzwanzig In-die-Bresche-Springern recht gegeben. Wir haben die Urbanitzky gestürzt. Und was Saiten betrifft, dessen Hemdbrust bei Gastmählern und wohlrednerische Gabe ich ernstlich zu schätzen weiß: meinen Sie nicht, daß Auernheimer das auch zuwege bringt — ohne die unangenehmen Nebenerscheinungen von Kritiker-Gunst und Kritiker-Missgunst und persönlichem Regiment? Und die davongeloffenen Hakenkreuzler. War ihr Austritt der Schönheit des Pen-Clubs abträglich? — Nein, lieber Freund, da hätten Sie ruhig mitmachen können72.

Jacob nahm auch sonst kein Blatt vor den Mund, was die in Berlin Herrschenden mit ihren österreichischen Steigbügelhaltern penibel zu registrieren wußten. So bemerkte Jacob beispielsweise am 23. Januar 1934 in seiner Gedenkrede für den am 1. Januar 1934 in Altaussee gestorbenen Jakob Wassermann, die bewahrenden Kräfte der Juden hervorhebend, daß die Geschehnisse des Jahres 1933 das Herz des Dichters zerbrochen hätten73. Nach der Wassermann-Rede wurden die politischen Aktivitäten Jacobs allerdings ruhiger. Besser gesagt, es begann die Ruhe vor dem Sturm. 1934 stellte er sein kulturhistorisches Sachbuch Sage und Siegeszug des Kaffees fertig, das Resultat einer Südamerikareise, die Jacob 1932 mit dem Zeppelin vom Bodensee nach Pernambuco (Recife) unternahm. Trotz des Boykott-Aufrufs gegen Jacob erschien das Buch im November 1934 noch überraschend im Ernst Rowohlt Verlag74. Seither sprechen die einen vom «Vater des Sachbuchs», andere vom «Begründer des modernen Sachbuchs». Jacob selbst sagte von sich: «Ich bin der Begründer dieses Typus75.» Trotz des Erscheinens dieses Buches ging es Jacob finanziell sehr schlecht. Von den Verlagen war nichts mehr zu erwarten. Im Gegenteil, der Zsolnay Verlag forderte eine nicht unbeachtliche Summe Vorschußgelder zurück76. Im Januar 1935 wurden dann alle Bücher Jacobs in Preußen und am 18. Februar 1935 für das ganze Deutsche Reich wegen «deutschfeindlicher Hetze des Verfassers im Auslande» beschlagnahmt und eingezogen. Im Herbst 1935 war es Jacob noch möglich, im Amsterdamer Querido Verlag seinen Roman Der Grinzinger Taugenichts77 erscheinen zu lassen, doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Die wirkliche Demütigung im österreichischen Exil empfing Jacob aber am 19. Dezember 1935. Wie er später an Rudolf Olden schrieb, wurde er an diesem Tag aus seiner Wiener Wohnung, wo er sich in «einer Stadtkultur», die er «liebte und oft gepriesen hatte, sicher gewähnt hatte — davongeholt, um unter Betrugsverdacht ins Landgericht eingeliefert zu werden»78. Was war geschehen? Zusammen mit seiner fast einundsiebzigjährigen Mutter Martha wurde Jacob in Untersuchungshaft genommen, weil er in kriminelle Machenschaften seiner Halbschwester Alice hineingezogen wurde. Alice entging ihrer Verhaftung zunächst, weil sie sich bereits in die Tschechoslowakei abgesetzt hatte. Im Juli 1936 wurde sie jedoch an Osterreich ausgeliefert. Es ging dabei um Wertpapierbetrügereien mit

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gestohlenen Aktien der amerikanischen Northern Central Railway bzw. der Baltimore Trust Company, die Alice dem Wiener Bankhaus Kux, Bloch & Co. verpfändet hatte. Alice nahm ihren ahnungslosen Bruder zu dieser Transaktion mit, da ein ehemaliger Mitschüler Jacobs bei der Bank als Prokurist beschäftigt war. Sie erhoffte sich damit, eventuelle Zweifel an ihrer Person zerstreuen zu können, was ihr auch gelang. Die Bank nahm die Wertpapiere entgegen und zahlte 28.000,Schilling an Alice Lampl aus. Als die Bank erfuhr, daß die Aktien gesperrt waren, forderte sie das Geld zurück. Alice hatte aber nur noch 8.000,- Schilling, und somit wurde Anzeige erstattet. Für Jacob war die Verhaftung ein großer Schock und Reputationsverlust. Erst am 18. Juli 1936 wurde er nach Hinterlegung einer von Freunden und Bekannten zusammengetragenen Kaution von 12.000,- Schilling auf freien Fuß gesetzt. Die alte Mutter wurde sogar erst am 30. Januar 1937 enthaftet. Von der Verhaftung Jacobs im Dezember 1935 bis zum Prozeßbeginn am 7. Januar 1938 gab es bereits über hundert Pressemeldungen79 in Deutschland, Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei, der Schweiz usw., so daß die Gerichtsverhandlung als «gesellschaftsdramatischer Sensationsprozeß» behandelt wurde. Am 10. Februar 1938 endete der Prozeß mit einem Freispruch für Jacob und einer Verurteilung zu zwei Jahren schweren Kerkers für seine Schwester Alice sowie eineinhalb Jahre für die Mutter. Obwohl Jacob freigesprochen und das Gericht feststellte, daß er schuldlos in eine böse Sache gezogen wurde, hatte die Geschichte fatale Folgen für ihn, denn seine Reputation bei Freunden, Kollegen und Verlegern, die sich durch die Langwierigkeit und die Berichterstattung beeinflussen ließen, litt sehr. Klaus Mann schrieb beispielsweise in seinem Tagebuch «über die ebenso groteske wie peinliche Affäre H.E. Jacob; (die kriminellen Machenschaften mit Mutter und Schwester)»80. Andere dagegen, wie z.B. Max Brod, Ernst Lissauer, Robert Neumann, Stefan Zweig oder Lothar Wallerstein hielten ihn für ganz und gar unschuldig. In Verbindung mit der Anklage wurde Jacobs mehrere tausend Bände umfassende Bibliothek — aber auch sonstiger Wertbesitz — gepfändet und ins Wiener Dorotheum zur Versteigerung gebracht. Besonders unheilvoll war jedoch die Tatsache, daß zwischen dem Freispruch Jacobs und dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 lediglich vier Wochen Zeit lagen, also viel zu wenig, um noch etwas für die Emigration in die Wege zu leiten, zumal die Staatsanwaltschaft gegen das Urteil noch eine Nichtigkeitsbeschwerde führte. Bedingt durch den politischen Umsturz wurde Jacob am 22. März 1938 in der Wohnung seiner damaligen Verlobten und späteren Ehefrau Dora Angel-Soyka, der Schwester des Dichters Ernst Angel, in der Skodagasse 15 (VÜL Bezirk), von der Geheimen Staatspolizei erneut verhaftet und in die Polizeikaserne auf der Wiener Rossauerlände in «Schutzhaft» genommen. Am 1. April 1938 war Jacob als die Nummer 99 beim ersten Wiener Transport von Schutzhäftlingen, dem sogenannten «Prominentenzug», in das Konzentrations-

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lager Dachau dabei. Ebenfalls beim 150 Personen umfassenden Transport (andere Quellen sprechen von 154 Personen) waren ζ. B. Raoul Auernheimer, Bruno Heilig und Friedrich Bock, späterer Vizekanzler Österreichs81. Bock schilderte 1978 in einem eindrucksvollen Bericht die Deportation nach Dachau: Etwa um 10 Uhr nachts wurden wir aufgerufen und in Gruppen zu 20 in die Schubwagen, den «Grünen Heinrich», verladen. Die Fahrt ging zuerst über die Ringstraße. Wir versuchten zu erraten, wo das Ende der Fahrt sein konnte.... Als wir die Stiftskirche in der Mariahilferstraße passierten, fiel in unserem Wagen plötzlich das Wort «Dachau» und legte sich, ohne daß wir genau wußten, was uns dort erwarten würde, wie lähmendes Entsetzen auf unsere Herzen. Dann bogen die Wagen auf das Vorschubgebäude des Westbahnhofs ein und hielten; die Tür wurde aufgerissen: «Heraus, ihr Hunde!» Und es begann ein Spießrutenlaufen, an dessen Ende, oft erst nach Jahren, für viele der Tod stand .... Gegen Mitternacht setzte sich der Zug in Bewegung und damit begann bis in die Vormittagsstunden des 1. April eine wahrhaft unvergeßliche Fahrt, bei der sich die Angehörigen der Elite der NSDAP, meistens kräftige junge Burschen, abwechselnd an uns müde prügelten. Viele von uns hatten am Ende dieser «Reise» so zerschlagene Gesichter, daß sie nicht mehr einem menschlichen Antlitz glichen. Als nach fast zwölfstündiger Fahrt der Verschubbahnhof vor dem Dachauer Lager erreicht war, war es nur mehr eine taumelnde Masse menschlicher Kreaturen, die dann vor dem Kommandogebäude des Dachauer Lagers Aufstellung nehmen mußte 82 .

Dachau bedeutete für Jacob schwerste körperliche Arbeit, Hunger und Zusammenbruch. Von Dachau aus korrespondierte er mit seiner Mutter Martha und seiner Verlobten Dora Angel-Soyka. In verdeckten Andeutungen machte er darauf aufmerksam, daß er der Internierung im KZ nicht lange würde standhalten können. Für die getarnten Signale bediente er sich zweier Hauptfiguren aus seinen Romanen Der Zwanzigjährige (die des Edgar) und des Grinzinger Taugenichts (die des Malers Quidenus). So schrieb er beispielsweise: «Kümmere Dich bitte um meinen alten Freund, den Maler Quidenus. In seinem Arbeitseifer malt er schon morgens um 4 Uhr stehend bis in den späten Nachmittag, was für· seine zwei Leistenbrüche nicht günstig ist. Er sollte das Atelier wechseln...83.» Wie er sich die Leistenbrüche zugezogen hatte, konnte Jacob seinen Angehörigen nicht mitteilen, nämlich durch das Schleppen von Steinen und Eisenbahnschienen. Seine Bitte um Zuteilung einer leichteren Arbeit wurde abgelehnt. «Bei dieser Gelegenheit wurden ihm von S.S.-Leuten die meisten Zähne des Oberkiefers ausgeschlagen84.» Bereits am 26. März 1938, also unmittelbar nach Jacobs Festnahme, wandte sich seine Mutter an Rudolf Olden, um über ihn den PEN-Club auf das Schicksal ihres Sohnes aufmerksam zu machen und Freunde zu alarmieren85. Olden sah sich aber außerstande zu helfen, da die Reaktion der Welt auf die «österreichischen Greuel» zu gering sei. Einer Bekannten von Jacobs Mutter schrieb Olden, daß es

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ihm «unmöglich» sei, «etwas für den bedauernswerten H.E. Jacob zu unternehmen. Es sind mehrere in Osterreich verhaftet, die mir näher stehen und deren Fälle nicht so kompliziert sind, und ich weiß auch nicht, wie ich dazu beitragen könnte, Ihnen zu helfen86.» Trotzdem hielten Jacobs Mutter und Halbschwester weiterhin Kontakt zu Olden. Gerade Alice Lampl war, bedingt durch die seelische Bedrückung, daß sie es war, die den Bruder in diese Malaise gebracht hatte, besonders bemüht, aktiv zu sein. Sie fuhr nach Prag, um die Mitglieder des dort vom 26. bis 30. Juni 1938 tagenden Internationalen PEN-Kongresses für ihren Bruder zu gewinnen. Ihr Auftritt blieb allerdings erfolglos87. Tatsächlich zeigten weder Oskar Maria Graf noch Wieland Herzfelde menschliche Größe, Stil und Format. Selbst Olden, der Jacob menschlich nicht sehr verbunden, aber gut über den Prozeß informiert war, notierte: Was immer sich für Argumente aus diesen Umständen ergeben, so bleibt bestehen, daß er [Jacob] ein weitbekannter und geschätzter deutscher Schriftsteller, ein altes Pen-Mitglied und jetzt in Dachau ist. Das sind zwingende Tatsachen, die Verpflichtungen zur Folge haben. Ich vermute, wenn sich die immens tüchtige Schwester nicht um ihn kümmerte, würde es niemand, gewiß niemand mit der gleichen Energie tun 8 8 .

Der Hilflosigkeit, der Alice sich ausgesetzt fühlte, war sie nicht mehr gewachsen. Als am 6. Juli 1938 die Mutter wegen eines Devisenvergehens ihrer Tochter aus dem Jahre 1932 erneut verhaftet wurde und sich im Spätsommer 1938 auch noch die Hoffnung auf ein unbeschränktes Affidavit of Support — ein in Chicago lebender Bruder Martha Jacobs hatte es für Heinrich Eduard Jacob zur Verfügung gestellt — vorerst zerschlug, war sie mit ihren Kräften am Ende und nahm sich am 21. September 1938 das Leben. Zwei Tage später, am 23. September 1938, wurde Jacob zusammen mit 1200 «Schutzhäftlingen» von Dachau in das KZ WeimarBuchenwald überstellt. Es stimmte allerdings nicht, daß sich — wie Olden feststellte — lediglich Alice Lampl und ihre Mutter um die Freilassung des Bruders bzw. Sohnes bemühten. Mit sicherlich noch größerer Energie kämpfte Jacobs Verlobte Dora und deren Familie um den Internierten. Martha Jacob verhielt sich im Rahmen der Bemühungen der Verlobten ihres Sohnes jedoch kontraproduktiv. Teilweise behinderte Martha Jacob die Aktivitäten Doras sogar, was die Vermutung nährt, daß sie vom Gefühl beherrscht war, Dora könnte ihr den Sohn nehmen. Durch ihre neuerliche Verhaftung war Martha Jacob allerdings extrem eingeschränkt, dem Sohn zu helfen. Die Bemühungen, ihn aus Buchenwald zu befreien, lasteten nunmehr allein auf Doras Schultern. Wie leidvoll und verzweifelt die Situation Jacobs in Buchenwald war, läßt sich einer Beschreibung Bruno Heiligs entnehmen:

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Auf dem Appellplatz brach Heinrich Eduard Jacob plötzlich zusammen. Er war bewußtlos und seine Hosenbeine waren von innen blutgefärbt. Seit einigen Tagen waren Gerüchte im Lager aufgekommen, daß Dysenterie ausgebrochen war. Die Bewachungsmannschaften aus den Nachbarbaracken liefen zusammen, machten höhnische Bemerkungen und traktierten den bewußtlos liegenden Jacob mit heftigen Fußtritten. Er hatte im Schmutz zu liegen, bis zum Schluß des Namenaufrufs, der an jenem Tag anderthalb Stunden dauerte. (Dann erst wurde er weggetragen.) Wir zweifelten, ob wir Jacob jemals Wiedersehen würden 89 . Nicht nur Doras Bemühungen, sondern auch Jacobs Talent, Geschichten zu erzählen, ließen ihn Buchenwald überleben. E r beschrieb später, was ihn am Leben hielt: In der eisigen Januarluft von 1939 saß — in gestreifter Zuchthauskleidung, ohne Mäntel, Wollwäsche, Handschuhe — eine Belegschaft von Konzentrationshäftlingen im Freien und klopfte Ziegel. Ihr Erfrierungstod war wahrscheinlich. Aber die Kameraden hatten einen «Fabulierer» bei sich, der sie bei rhythmischem Gehämmer mit südlichen Geschichten erwärmte. Sie gaben ihm dafür Rosinen, Schokoladestückchen, Bonbons — heimlich erschmuggelte Kostbarkeiten, die seine Phantasie warmhielten, so daß er immer weitererzählte. Die Kameraden überlebten. Der Erzähler überlebte. Daß all dies wahr ist, kann ich bezeugen — denn ich selbst bin jener Erzähler! 90 Aber nicht nur seiner Erzählkunst, sondern auch seiner Vorstellungs- und Gedächtniskraft verdanke er sein Uberleben: In der eisigen Winternacht von Buchenwald standen wir, mit dünnen Leinenjacken bekleidet, zum Strafappell angetreten. Wir standen zwei Stunden; wir standen vier Stunden; wir standen sechs und acht Stunden, ein schweigender Block, bis in die Morgendämmerung hinein. Kamerad an Kamerad. Von Zeit zu Zeit gab es einen Laut, wenn einer auf die gefrorene Erde stürzte. Viele starben in dieser Nacht. Aber der Schriftsteller, der dies erzählt, starb nicht. Er konnte sich helfen, indem Phantasie und Erinnerung ihn in schöne Wärme hinüberretteten. Ich dachte an die Aufführungen in Max Reinhardts Deutschem Theater. Und ich dachte besonders an ein schönes, warmes, venetianisches Schauspiel Hofmannsthals: «Christinas Heimreise» und an die Stimme Alexander Moissis 91 . Jacobs Verlobte Dora deckte sowohl die Wiener Generalstaatsanwaltschaft, die Geheime Staatspolizei in Wien und Berlin wie auch das Generalkonsulat der Vereinigten Staaten von Amerika in Wien, w o das von Jacobs amerikanischem Onkel erbrachte Affidavit bereits vorlag, mit Eingaben und Hilferufen ein. Immerfort wies sie darauf hin, daß Jacob sofort in die Vereinigten Staaten auswandern werde, sobald er nur aus dem K Z entlassen würde. Gemäß Anordnung

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des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin vom 26. Januar 1939 wurde der «Schutzhäftling Jude Henry Jacob» am 10. Februar 1939 nach Wien entlassen92. Am darauffolgenden Tag konnte Dora Angel-Soyka ihren Verlobten am Wiener Bahnhof in Empfang nehmen, wo sie ihn nach 11 Monaten kaum noch erkannte. «Als ich am 11. Februar 1939, einen Tag nach seiner Entlassung aus dem K.Z. Buchenwald, meinen damaligen Verlobten, Heinrich Eduard Jacob, wiedersah, vermochte ich ihn kaum zu erkennen. Er war zum Skelett abgemagert und ging völlig gebückt. Seine Haltung war fast waagrecht zur Erde93.» Es dürfte aber nicht nur an den schon bereitliegenden Auswanderungspapieren gelegen haben, daß Jacob Buchenwald verlassen konnte. Wenige Tage vor ihrem Tod am 26. Februar 1984 berichtete Dora Jacob dem Autor im letzten persönlichen Gespräch, daß ein hoher Wiener Gestapo-Offizier ihr die Freilassung ihres Verlobten in Aussicht gestellt habe, wenn sie sich ihm sexuell hingeben würde. Wissend, wie grausam die Situation im Kontentrationslager war und wie nah am Tod sich ihr Verlobter bewegte, gab sie der Erpressung nach. Dora Jacob litt zeitlebens unter dieser Nötigung und war doch froh, alles für Heinrich Eduard Jacob gegeben zu haben. Am 18. Februar 1939 heirateten sie in Wien, wo Jacob seiner auferlegten Meldeverpflichtung und sonstigen Auflagen nachkommen mußte. Eine dieser Auflagen lautete, daß er bis spätestens zum 15. April 1939 das Deutsche Reich zu verlassen habe. Auch nur ein Tag Zeitüberschreitung hätte seine erneute Internierung bedeutet. Uber Belgien kommend, erreichte er am 15. April 1939 London, seine nächste Exilstation. Dora Jacob konnte Wien erst Anfang Juli 1939 verlassen, denn Jacobs Mutter Martha hatte eine letzte Gemeinheit zur Störung der zwischenmenschlichen Beziehung ihres Sohnes parat. Aus dem Gefängnis heraus teilte sie ihrem Bruder in Chicago mit, daß eine Ausweitung des Affidavits für Dora Jacob indiskutabel sei. Ihrem Sohn schrieb sie: «Seine [Michael J. Barnes'] Unterstützung darf nur für Dich und für mich in Anspruch genommen werden 94 . Noch von London aus mußte Jacob die letzte Initiative ergreifen und den Onkel bitten, das Affidavit auf Dora auszudehnen95, was dieser auch umgehend veranlaßte. Die Verzögerung führte jedoch dazu, daß die deutsche Immigrationsquote für die USA bereits voll war, und Dora auf den nächsten Schub warten mußte. Am 8. Juli 1939 war es so weit. Dora und Heinrich Eduard Jacob konnten auf der Aquitania Europa von Southamten aus verlassen und erreichten am 14. Juli 1939 New York, ihre letzte Exilstation. Von den Mißhandlungen und der schweren körperlichen Arbeit während seiner elfmonatigen Internierung konnte sich Jacob nie mehr erholen. Sein Leben war gezeichnet von Krankheit und dem Verlust der früheren Schaffenskraft. Die Mutter Martha Jacob erlitt schließlich ein furchtbares Schicksal. Von Wien aus wurde sie zunächst in das berüchtigte Frauenzuchthaus in der Berliner Barnimstraße verlegt, danach kam sie in das Frauenzuchthaus Cottbus. Offizielles

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Haftende war der 9. Dezember 1942, allerdings wurde sie «am 15. Dezember 1942, von Berlin, durch die Geheime Staatspolizei Berlin, mit Transport 1/80, in das Ghetto Theresienstadt eingeliefert; [und] ist dort am 5. Februar 1943 verstorben. Todesursache nicht aufgeführt, Kategorie: 96. Die vielfältigen Versuche Jacobs, von den USA aus etwas für seine Mutter zu unternehmen oder nach 1945 etwas über ihr Schicksal zu erfahren, schlugen fehl. Seine Erlebnisse in dieser schrecklichen Zeit unter dem Nationalsozialismus konnte Jacob im Gegensatz zu seinem Freund und Dachauer Leidensgenossen Raoul Auernheimer 7 nie ausführlich schildern. Lediglich anläßlich einiger Gedenkfeiern im amerikanischen Exil und in späteren Briefen oder vertrauten Gesprächen mit Freunden98 streifte er das Thema. Der Schock über das Erlebte saß zu tief99. Keinesfalls waren die Vereinigten Staaten von Amerika Jacobs Wunschvorstellung vom Exil. Jacob war durch und durch europäisch geprägt, in den USA hingegen sah er sich seiner kulturellen Wurzeln beraubt. Noch Ende 1945 fühlte er sich fremd und krank. Während eines Vortrags bezeichnete er die «gemeinsame psychologische Situation» der geistig schaffenden Emigranten als eine «Unterernährung des Geistes». Ihm fehlten «die gewohnten Vitamine ... in den Dingen der Kultur»100. Vor allem fehlte dem humanistisch Gebildeten, der zwar Französisch, Italienisch, Latein und Altgriechisch beherrschte, die Sprache. Obwohl er das Englische rasch lernte und seine entsprechende Korrespondenz bewältigte, war er für sein journalistisches und literarisches Schaffen auf seinen Ubersetzer Richard Winston angewiesen, was hier und da zu Reibungspunkten führte, wenn Autor und Übersetzer wegen Verbesserungen haderten10 . Doch zu den Anfängen in Amerika: Das Reisegepäck der Jacobs war zwar schmal, enthielt aber Wichtiges. So beispielsweise ein weit fortgeschrittenes Manuskript zum späteren Brotbuch von Jacob wie auch das Unikat des unvollendeten Manuskriptes zum Roman Die Verzauberten von Hermann Broch. Jacob nahm dieses Manuskript in London von Stefan Zweig entgegen und übergab es am 16. August 1939 an Broch 102 . Weiterhin befanden sich Briefwechsel, weitere Manuskripte und etwa 200 Bücher im Gepäck der Jacobs. Der größte Teil der Korrespondenz Jacobs aus der Zeit bis 1936/1937 wurde allerdings in Wien beschlagnahmt und ist bis heute verschollen. Die finanzielle Situation im neuen Land war jammernswert. Der Onkel in Chicago, der zwar das Affidavit stellte, gab keine Unterstützung. Jacob mußte sich bittstellernd an die American Guild for German Cultural Freedom wenden. Obwohl dieses Hilfskomitee seine finanziellen Mittel für August 1939 bereits verplant hatte, wurde umgehend geholfen. Bereit im September 1939 konnte sich Jacob mit Unterstützung der American Guild — er hatte mit Arnold Zweig und Richard A. Bermann gute Fürsprecher in dieser Einrichtung — fast drei Wochen in Keansburg, einem zwei Schiffsstunden von New York gelegenen kleinen Fischerort, erholen.

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Von Anfang Oktober bis zum 1. Dezember 1939 erhielt er dann ein Stipendium in der Künstlerkolonie Yaddo in Saratoga Springs, N.Y., seine Frau konnte ihn, die American Guild hatte auch dies ermöglicht, dorthin begleiten. Yaddo genoß Jacob sehr, denn seiner Mutter schrieb er: Wenn ich es richtig bedenke, geschieht es nach dreißig Jahren schriftstellerischen Schaffens eigentlich das erste Mal, daß ... eine geldhabende Vereinigung, eine Stiftung, mich um meiner künstlerischen Qualitäten willen einlädt, damit ich in völlig abgeschiedener Stille ein paar Wochen oder Monate sorglos leben und eine künstlerische Arbeit vollenden kann 103 .

Bei der «künstlerischen Arbeit» handelte es sich um Jacobs spannend und farbig erzählten Roman Estrangeiro, den er umgehend nach seiner Ankunft in Amerika begann und in Yaddo fertigstellte. In diesem Werk schrieb Jacob seine eigene Beklemmung in einem fremden Land nieder. In verfremdeter Form ließ er sein eigenes Los in der Situation seiner Romanfigur, des ungarischen Auswanderers Elemer Hegedüs, sichtbar werden. In Brasilien fand Hegedüs eine Möglichkeit, das Land von indischer Jute unabhängig zu machen, die Brasilien in großen Mengen zur Herstellung von Kaffeesäcken benötigte. Hegedüs fühlte sich den Brasilianern gegenüber überlegen. Er scheiterte letztlich an seiner Selbstherrlichkeit, aber auch an der Ablehnungfront, die ein Teil der brasilianischen Gesellschaft den Fremden — und somit ihm — entgegenbrachten. Eindeutig stand hinter dem Aufbau der Geschichte Jacobs Angst, seinen angestammten Ort verlassen zu müssen und in der Fremde als Literat nicht anerkannt zu werden. Eigentlich macht jede Ortsveränderung den Menschen im Innersten erbeben. Er hat zwar Füße: das ist ein Zeichen, daß Gott den Wandertrieb in ihn legte. Und dennoch: die Seele muß so etwas wie eine Pflanze sein! Sonst spürte sie nicht diese grausame Angst, ihr gewohntes Erdreich zu verlassen104.

Diese Grausamkeit sollte für Jacob zur Realität werden, denn in seinem amerikanischen Exil gelang es ihm nicht, auch nur eines seiner dort geschriebenen erzählerischen Werke bei einem Verlag unterzubringen. Der Estrangeiro mußte bis 1951 warten, ehe ihn ein deutscher Verlag veröffentlichte. Sein bereits 1941 abgeschlossener Roman Der große Nebel über Belgien wie auch sein großer, in New York spielender Roman Babylons Birthday oder Ein Fest in New York warten bis heute auf die Veröffentlichung. Eine kleine Ausnahme bildete lediglich die Kurzgeschichte «Who called you here?», die Jacob unter dem Pseudonym Eric Jens Petersen 1941 in der Zeitschrift Story und 1942 in einer von Ernest Hemingway herausgegebenen Kriegsgeschichten-Anthologie publizieren konnte105. Für Jacob war es unbarmherzig, als europäischer Schriftsteller von Rang in den Vereinigten Staaten keine Romane veröffentlichen zu können. Teilweise zweifelte

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er an sich als Literat, erkannte aber auch die Gründe für die Misere. Zum einen hielt er seine Romane weiterhin europäisch; er konnte und wollte seinen gewohnten Stil nicht ändern. ... das, was für den deutschschreibenden Autor seit 150 Jahren das größte Glück und den höchsten Stolz eines Kunstwerkes ausmacht — die Gesamtheit aller Gefühls- und Denksphären — darüber schüttelt der Amerikaner den Kopf.... Einseitigkeit hat immer etwas Großartiges — aber es ist sehr schwer (und mir war es bisher unmöglich!) mich an sie zu gewöhnen106.

Andererseits hatte sich Jacob in den USA einen Namen als Sachbuchautor und Biograph gemacht. 1935 erschien mit großem Erfolg sein Kaffeebuch107 und im November 1939 seine Johann Strauss-Biographie108. Dadurch gelangte Jacob in Amerika in den Ruf eines non-fiction Autors. Auch mußte Jacob feststellen, daß es in den USA nicht üblich war, daß ein erfolgreiches Buch die Basis für ein weiteres darstellte, wie dies in Europa der Fall war, in Amerika mußte er sich mit jedem Buch neu bei den Verlagen einführen. Auf jeden Fall registrierte er zerrissen, daß er, wollte er als Schriftsteller überleben, sich vom Terrain des Romanciers, dem er sich eigentlich zugetan fühlte, zurückziehen müße. Wenn Jacob später immer wieder öffentlich behauptete, daß er in den USA «mit Freuden» aufgenommen worden sei, so war das lediglich die halbe Wahrheit. Privat äußerte er sich diesbezüglich ganz anders, wie ein Brief an seinen Freund Lutz Weltmann zeigte, der wegen einer eventuellen Auswanderung bei Jacob nachfragte: Amerika ... ist ein enorm ausnützerisches Land; besonders was geistige Arbeiter betrifft.... Die Einstufung des Menschen nach seinem Geldbesitz wird leider nicht nur von den Feinden der Amerikaner behauptet. Diese Einstufung existiert (sogar innerhalb der Reihen der geistigen Arbeiter) — und erst recht sieht der außergeistige Geldverdiener auf den geistigen Arbeiter herab.... Die amerikanische Gesellschaft ist erst 175 Jahre alt; d.h. sie ist noch zu jung, um «unpraktische Leute», d.h. die reinen Geistigen wirklich zu schätzen109.

Obwohl Jacob stets seine Dankbarkeit dafür zeigte, daß er 1939 in den USA als Exilant aufgenommen wurde, konnte er nicht verhehlen, unter welch widrigen Umständen er sich täglich in den Kampf ums finanzielle Uberleben stürzen mußte. Zusätzlich quälten ihn gesundheitliche Probleme und damit einhergehende Arztrechnungen sowie die Aussichtslosigkeit, seiner Mutter und den Eltern seiner Frau im Ringen gegen den rassenpolitischen Wahn des Dritten Reichs helfen zu können. Eine Entspannung seiner Finanznot ergab sich erst durch den Abschluß eines Vertrages mit dem Verlag Doubleday, Doran, and Company im März 1943, der Jacob für sein kulturhistorisches Sachbuch Six Thousand Years ofBreadno 1200 US-$ Vorschuß einbrachte. Dieses Buch, vom Arbeitsaufwand her das Hauptwerk

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Jacobs, ging auf das Jahr 1920 zurück, als Jacob dem Botaniker und Afrikaforscher Georg Schweinfurth begegnete. Dieser animierte ihn im Gespräch, die Geschichte des Brotes zu schreiben n . Obwohl Jacob bereits langjährige Vorbereitungen für dieses Opus betrieben hatte und ein weit gediehenes Manuskript vorlag, das seine Frau Dora in Wien in Sicherheit brachte, mußte er in Amerika noch umfangreiche Recherchen vornehmen, denn die USA nahmen als Getreidelieferant etc. eine erhebliche Rolle in dem Werk ein. Jacob reiste durch die USA, um Kornanbaugebiete, Farmen und Brotfabriken zu besuchen. Detaillierte Hinweise gab ihm der einunddreißigste Präsident der Vereinigten Staaten, Herbert C. Hoover112. Dem Buch stellte Jacob das Motto «Es gibt kein Stückchen Brot in der Welt, an dem nicht Religion, Politik und Technik mitgebacken hätten» voran, und so erzählte er die Entwicklung des Brotes von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart. Die Kritiken bewegten sich zwischen euphorisch und ablehnend bis hin zu Seitenhieben auf den «besserwisserischen Emigranten Jacob»113. Obwohl der Verlag das Buch mittels einer Werbekampagne zu einem «must» stilisieren wollte und Schriftstellerkollegen wie Thomas Mann, Franz Werfel oder Upton Sinclair höchstes Lob und Respekt zollten, schleppte sich der Verkauf dermaßen langsam dahin, daß der Verlag 1949 die Druckplatten einschmelzen ließ. Der Durchbruch in Amerika war Jacob mit dem Brot-Buch nicht gelungen, und so sollte es bis 1949 dauern, ehe wieder ein Buch von ihm erschien. In der Zwischenzeit verdiente er sich seinen kargen Lebensunterhalt hauptsächlich mit Beiträgen für den New Yorker Aufbau, dessen Chefredakteur Manfred George er noch aus alten Berliner Zeiten kannte, sowie für The New York Times Book Review. 1946 lernte Jacob durch Mascha Kaleko Hannah Arendt kennen, die zum damaligen Zeitpunkt als Lektorin beim New Yorker Schocken Verlag tätig war. Ihr berichtete er von seinem Plan, das Leben der amerikanischen Dichterin Emma Lazarus zu beschreiben. Der englische Maler William B. Parnes machte Jacob 1939 in London auf die Verfasserin der Verse in der New Yorker Freiheitsstatue aufmerksam. Parnes hatte sie [Lazarus] selbst in London kennengelernt und als junger Mann für sie geschwärmt. Er war 18, sie 35. Er zeigte mir seine Tagebücher aus dieser Zeit ... und bei dieser Gelegenheit sagte er mir, daß ich einmal ein Buch über diese Frau schreiben müsse. Und ich erfülle seinen Wunsch nun zu ihrem 100. Geburtstag114.

Durch Vermittlung Hannah Arendts unterbreitete Jacob dem Schocken Verlag ein gutes Jahr vor dem 100. Geburtstag der Dichterin sein Vorhaben. Der Verlag reagierte sofort, und es wurde vereinbart, daß die Lazarus-Biographie rechtzeitig zum Geburtstag der Dichterin erscheinen sollte. Jacob nahm Kontakt auf zu noch lebenden Verwandten der Lazarus und erhielt wertvolle Materialien bzw. Empfehlungen. Durch seine Recherchen trug er so viele Unterlagen zusammen, daß der Verlag im Herbst 1948 beschloß, das Werk auszuweiten. Neben einigen

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Merkwürdigkeiten während der Entstehungsphase durch den Verleger Salman Schocken, wollte der Verlag nicht, daß das Ubersetzer(ehe)paar Richard und Clara Winston genannt wurde, um dadurch den Verkauf nicht zu beeinträchtigen. I [Richard Winston] had a long talk with Martin Greenburg at Schocken. He told me of the decision to publish Emma in larger format (which is splendid), then asked whether I would consent to the books appearing without my name. It bothers me somewhat, but since he is convinced that it will help the sale for a book on an American subject to appear as a nottranslation, I consented.... Er sagte mir natürlich auch, daß Sie dagegen waren. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar; er hat aber recht, es ist besser, daß das Buch nicht als Übersetzung erscheint115.

Im Mai 1949 kam die Biographie unter dem Titel The World of Emma Lazarusnb auf den Buchmarkt. Die Kritiken waren fast ausnahmslos zustimmend und selbst im amerikanischen Kongreß hielt der Abgeordnete Jacob K. Javits am 23. Juni 1949 eine kleine Rede über das Buch sowie über die Bedeutung, die Emma Lazarus für die Immigration und die Kultur Amerikas hätte117. Doch auch diesmal stellte sich der Durchbruch auf dem amerikanischen Buchmarkt für Jacob nicht ein. Bis Ende 1953 konnte der Schocken Verlag nur rund 4500 Exemplare absetzen, was, wie dem Nachlaß Jacobs zu entnehmen ist, zum großen Teil am passiven Werbeverhalten des Verlages lag. Nicht viel besser erging es Jacob mit seiner Musikerbiographie Joseph Haydn. His Art, Times, and Glorym. Mit der Person Joseph Haydns beschäftigte sich Jacob schon in den zwanziger und dreißiger Jahren. Ein Expose, um Verlagen das Werk vorstellen zu können, überreichte Jacob seinem Agenten Franz Horch, einem früheren Wiener Dramaturgen und Leiter der Theaterabteilung des Zsolnay Verlages von 1933 bis 1937, bereits Mitte 1941. Die Verlage wollten jedoch nicht anbeißen, was Horch auf die durch den Krieg verursachte schlechte Lage des Papiermarktes zurückführte. Anfang 1946 gelang es dem Agenten dann endlich, das Haydn-Vorhaben bei Rinehard & Company unterzubringen. Bereits im Herbst 1947 lag dem Verlag die englische Ubersetzung vor, doch war dem Lektorat das Manuskript zu lang. Das Lektorat verlangte immer wieder einschneidende Kürzungen, wodurch sich die Drucklegung verzögerte. Damit das Werk überhaupt noch erscheinen konnte, kürzte Jacob den Text 1949 nochmals, wodurch das Manuskript von ursprünglich 600 Seiten auf rund 500 Seiten schrumpfte. Obwohl Jacob das gekürzte Manuskript termingerecht im Frühjahr 1949 bei Rinehard einreichte, dauerte die Veröffentlichung noch bis Anfang 1950. Jacob, der dringend auf Einnahmen angewiesen war, ärgerte daran besonders, daß somit auch noch das Weihnachtsgeschäft verdorben war. Die Kritik zeigte sich nicht sonderlich begeistert, was verständlich wird, wenn man die amerikanische Ausgabe mit Jacobs Haydn von 1952 für Deutschland119 vergleicht, dem die unzerstörte ursprüngliche Konzeption zugrunde lag.

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Euphorische Zustimmung kam von Kollegen wie Thomas Mann 1 2 0 und Albert Schweitzer, der schrieb: «Sie haben da etwas ungeheuer Zeitgemäßes gemacht, indem Sie den Künstler und Menschen Haydn unserer Zeit wieder brachten. Ich beglückwünsche Sie zu dem aus so tiefschürfender Forschung hervorgegangenen Werk 121 .» Trotzdem mußte Jacob erkennen, daß ihm mit dem Haydn erneut nicht der erhoffte Durchbruch auf dem amerikanischen Buchmarkt gelungen war. Sein Resümee nach Jahren des Exils fiel ernüchternd aus. Zwar war es ihm im Unterschied zu anderen Exilanten wenigstens möglich, in den U S A zu veröffentlichen, doch hatte er einen beständig harten Kampf mit der amerikanischen Verlagswelt auszufechten. Es wird verständlich, daß Jacob trotz seiner schrecklichen Erfahrungen in einem Land, wo der Tod ein Meister war, seine Fühler wieder in die Richtung seiner deutschen Muttersprache ausstreckte. Hinzu kam, daß 1951 Jacobs Agent Horch starb, was eine zusätzliche Belastung mit sich brachte. Nach allem, was Jacob in den Vereinigten Staaten erlebte, Schloß er sich der Meinung Sinclair Lewis an, der kurz vor seinem Tod sagte: «I love America — but I don't like it 1 2 2 . Schon bald nach dem 2. Weltkrieg begann Jacob mit Kolleginnen und Kollegen aus früheren Zeiten in Verbindung zu treten, um abzutasten, wie die Verlagswelt im alten Europa aussah. So wandte er sich an Gertrud Isolani, die für ihn — allerdings erfolglos — Kontakte in die Schweiz knüpfte 123 . Im Herbst 1949 schrieb er dann seinem alten Freund und Verleger Ernst Rowohlt und brachte sich wieder ins Gespräch: Wir waren befreundet und sind es, wie ich glaube, noch immer. Mögen wir uns durch die letzten 16 Jahre (die ja in bitterstem Sinne ein «Jahrtausend» darstellten!) äußerlich auseinandergelebt haben: wir wissen doch Beide genau, was wir voneinander zu halten und wie hoch wir unsere Fähigkeiten einzuschätzen haben: ich die Ihrigen als Verleger — Sie die meinigen als Autor! 1 2 4

Rowohlt reagierte bald und freudig, und drückte seine Hoffnung für eine neuerliche Verbindung aus. Aber auch Rowohlt zeigte sich gegenüber Jacobs Romanen bedeckt, ihm war an den Musikerbiographien bzw. Sachbüchern wie dem Brotund Kaffee-Buch sowie dem Johann Strauß gelegen 125 . Jacob war zwischenzeitlich nicht nur in den U S A , sondern auch bei den deutschen Verlegern auf das Genre eines Sachbuchautors festgelegt worden. Im Sommer 1951 schlossen Rowohlt und Jacob einen Vertrag über eine aktualisierte Form des Kaffee-Buches ab. Im Mai 1952 erschien Sage und Siegeszug des Kaffees126 in großzügiger Aufmachung und Ausstattung. D a Jacob mit Rowohlt auch Verträge über seine Johann StraußBiographie — sie erschien 1953 als Taschenbuch 127 — und sein Brot-Buch abschließen konnte, und zudem bereits 1951 sein seit 1939 vergeblich in den U S A angebotener Roman Estrangeiro128 erschienen war, wurde sein Entschluß gefestigt, Amerika den Rücken zu kehren.

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Klug hatte Jacob zuvor eingeschätzt, daß er bei einer «Heimkehr» als Autor deutscher Bücher auftreten — und entsprechende Resultate vorweisen — müßte, um keine Abwertung seiner Reputation als Literat zu erfahren. Geschickt hatte er infolgedessen Abmachungen mit verschiedenen deutschen Verlagen eingefädelt, so daß er auch nicht zu befürchten hatte, finanziell einzubrechen. Gleichwohl war Jacob sich nicht völlig sicher, was ihn im zerissenen Nachkriegsdeutschland erwartete, weshalb er nicht alle Brücken hinter sich abbrach. Dora Jacobs Cousine Lucy F. Tal, die Witwe des Wiener Verlegers Ernst Peter Tal, hielt für Jacob die Kontakte zu Verlegern, Freunden und Bekannten aufrecht. Zugute kam Jacob bei seinem Rückkehrentschluß sicherlich auch, daß er sich nicht dem Topos von der Schuld aller Deutschen an dem, was zwischen 1933 und 1945 unter Hitler geschehen war, anschloß, wie dies Thomas Mann als Meinungsführer der Exilanten tat. Mitte 1953 war es so weit: Jacob traf mit seiner Frau am 10. Juni 1953 im fränzösischen Le Havre ein. Nach mehreren Stationen in Frankreich betraten sie am 16. Juni 1953 erstmals wieder deutschen Boden. Jacob mußte erkennen, daß ihm von Verlegern, alten und neuen Kollegen durchaus Höflichkeitsbezeugungen entgegengebracht wurden, andererseits spürte er aber, daß es den «Daheimgebliebenen» sehr darauf ankam, von einer inneren und äußeren Emigration zu sprechen. Vor allem wurde ihm immer wieder subtil dargelegt, daß die Ausgewanderten ja gar nicht erfassen könnten, was die Dagebliebenen in der heimischen Trümmerwelt erlitten hätten. Schriftsteller wie beispielsweise Hans Friedrich Blunck, immerhin Präsident der von den Nationalsozialisten eingerichteten Reichsschrifttumskammer und der großdeutschen und rassischen Ideologie erlegen, wurden in Berichten mit ihrer Vergangenheit diskret ausgespart oder als Mitläufer eingestuft, und es wurde zynisch heile Kollegenwelt gespielt, wie die Haltung von Oskar Maurus Fontana, einem Jugendfreund Jacobs, zeigte. «Zwischen äußerer und Emigration stellte sich sehr bald die alte Gemeinsamkeit wieder her. Man verständigte sich damit, daß jeder Teil dem anderen zuerkannte, während der Jahre der Trennung auf seine Weise gelitten zu haben129.» Spätestens im November 1953 spürte Jacob, daß «Die große Kontroverse», eine hitzige öffentliche Debatte unter deutschen Schriftstellern130 vom Herbst 1945, noch nicht überwunden war. Im Rahmen der «Münchner Gespräche» fand am 6. November 1952 in der Scholastika eine Veranstaltung zum Thema «Thesen zur jüngeren deutschen Literatur» statt. Der junge Heinrich Boll attackierte dabei sehr heftig den Emigranten Hermann Kesten und nur Jacob war es zu verdanken, daß die Stimmung nicht eskalierte. Boll sah sein Fehlverhalten später ein, indem er dem Autor schrieb: «Gut, daß Sie mich an Jugendsünden erinnern! Das war einer meiner ersten kläglichen Auftritte!131» Das Strauß-Buch verkaufte sich gut und wurde — für eine Taschenbuchausgabe — «lebhaft gewürdigt». Der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt stellte fest, daß Jacob mehr als eine Biographie geschrieben hätte, nämlich «nicht weniger als

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eine Kulturgeschichte der Feichten Musik> im 19. Jahrhundert»132. Jacob konnte somit in München, nach langer Zeit ohne finanziellen Druck, die deutsche Fassung seines Brot-Buches abschließen. Der Rowohlt Verlag wollte für das Buch gerne den in Amerika verwendeten Untertitel Its Holy and Unholy History übernehmen, wogegen sich Jacob energisch wehrte, da er ihn als irreführend ansah. Neben weiteren Verstimmungen mußte sich Jacob dagegen wehren, daß der Wunsch des Verlags, das letzte Kapitel und den Epilog ausgerechnet um die Passagen zu kürzen, in denen es um Hitlers Bauernpolitik und den Brotmangel im Konzentrationslager Buchenwald ging, nicht erfüllt wurde. Als mein Buch 1944 in Amerika zuerst erschien und dann sehr bald auf Spanisch in ganz Südamerika, in Buchclubs, Hochschulen und Universitäten Eingang fand (gleich darauf folgte Italien und Israel), war es immer noch ein Kriegshuch. Das ist es heute nicht mehr. Das Kennenlernen der deutschen Widerstandsbewegung — das ich Werken ... wie denen von Ernst Niekisch und Günter Weisenborn verdanke, hat mein Herz mit dem Wind der Versöhnung geschwellt. Aber es darf nicht so weit gehn, daß ich die Geschichte des Brotes in Buchenwald auslasse, vergesse, VERRATE! 1 3 3

Im Mai 1954 erschien Sechstausend Jahre 5roi 134 in schöner und aufwendiger Aufmachung. Erst ab Sommer/Herbst 1954 wurden die Medien richtig aufmerksam, und es kam zu einer Fülle von Besprechungen. Rudolf Jakob Humm wurde eine ganze Zeitungsseite für seine Rezension in der angesehenen Zürcher Weltwoche eingeräumt. Indem er einige Besonderheiten des Buches vorstellte, schrieb er: «Dieses Kuriosum erfährt man aus Η. E. Jacobs phantastischem Buch , das so voll interessanter Einzelheiten ist, daß man es am liebsten als Frageund Antwortspiel nacherzählen möchte135.» Die Deutsche Presse-Agentur hielt gar fest: «nur ein Dichter und Gelehrter, ein gläubiger Mensch und besessener Schreiber wie er [Jacob] hat dieses Buch schaffen können»136. Das Verhältnis zwischen Jacob und dem Rowohlt Verlag, vor allem gegenüber Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, war jedoch durch ständige Reibereien während der Einrichtung des Brot-Buches und anderen Veröffentlichungsdifferenzen tiefgreifend gestört. Die entstandene Disharmonie ließ sich nie mehr vollständig ausräumen, so daß zu Lebzeiten Jacobs bei Rowohlt lediglich noch 1957 die Neuausgabe des Novellenbandes Dämonen und tiarrerP1 — darüber war aber bereits 1954 eine entsprechende Vereinbarung getroffen worden — und 1964 die des Kaffee-Buches138 erschienen. Jacob, der sich nun hauptsächlich im Tessin und in Zürich aufhielt, hatte zwischenzeitlich einen lukrativen Auftrag in der Tasche. Nachdem 1952 beim Christian Wegner Verlag seine Haydn-Biographie139 erfolgreich erschienen war, brachte 1953 die Büchergilde Gutenberg in Frankfurt/M. eine ebenso erfolgreiche

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Lizenzausgabe davon unter demselben Titel. Dies brachte die Büchergilde dazu, bei Jacob anzufragen, ob er nicht auch über Mozart schreiben wolle. Jacob war von dem Vorschlag begeistert und willigte unter der Voraussetzung ein, daß auch der Scheffler Verlag eingebunden werde, da das Werk ansonsten nur die Mitglieder der Büchergilde erreichen würde. Der Scheffler Verlag, die Büchergilde und Jacob trafen im Herbst 1953 entsprechende Vereinbarungen. Ab 1954 konzentrierte sich Jacob auf den Mozart. Es entstand ein Werk «mit völlig neuem Material», wie Jacob selbst festhielt: Alle Kunde von Mozart, seinen Zeit- und Zunftgenossen, wird also unter neuem Aspekt gesehn. Er wird als das größte offizielle Bindeglied zwischen Barock und Aufklärung hingestellt — so wie einer der großen Philosophen, Maler oder Schriftsteller des 18. Jahrhunderts — umgekehrt aber wird auch gerade das an ihm herausgearbeitet, was die Franzosen «Mozart intime» nennen: der verborgene Mozart, zu dessen Erhellung hier zum ersten Male auch Tiefenpsychologie und Psychoanalyse herangezogen werden 140 .

Für das Frühjahr 1955 war die Abgabe des fertigen Manuskriptes vereinbart, aber die Spätfolgen der KZ-Internierung — vor allem bedrohliche Herzbeschwerden — zwangen Jacob in eine Klinik, was den Zeitdruck noch vergrößerte. Trotzdem gelang es, daß die Biographie ab November 1955 in den Buchhandel gelangte141 und somit rechtzeitig zu Mozarts 200. Geburtstag am 27. Januar 1956. Mit den Kritiken konnten die Verlage und Jacob sehr zufrieden sein. Selbst Der Spiegel, ein ansonsten eher ironisierend kritisches Magazin, zollte Jacob höchstes Lob: Der anscheinend universelle Historiograph von Kaffee, Brot, Joseph Haydn und Johann Strauß baut in glänzendem, wenn auch beängstigend virtuosem Stil den Riesenberg der Mozartbeschreibung zu einer souverän regierten Fülle feuilletonistisch verwebter Fakten ab.... Das Buch setzt, nach Jacobs HaydnBiographie, abermals für schriftstellerische Bemühung um Musik und ihre Meister einen Standard, dem man mehr als modische Dauer voraussagen darf 142 .

Der Schriftsteller Bernard von Brentano schrieb enthusiastisch an den Verleger des Mozart: «Ich sage es hier jedermann und möchte es auch Ihnen sagen: das ist das beste Buch über Mozart, das es gibt143.» Der Erfolg des Buches lag aber nicht nur an der Qualität und den ausgezeichneten Besprechungen, sondern auch daran, daß Jacob zwischen November 1955 und Dezember 1956 fünfundzwanzig jeweils vierzigminütige Radiovorträge über Mozart hielt144. Nach dem Mozart-Erfolg wurde es ruhiger um Jacob, was vor allem mit seiner angegriffenen Gesundheit zusammenhing. Hinzu kam, daß er sich als Verfolgter des Naziregimes um eine Entschädigungsrente bemühte, was über Jahre hinweg einen unwürdigen Verwaltungsaufwand mit sich brachte. Das Berliner Entschädigungsamt verhielt sich dabei — wie gegenüber den meisten Opfern

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nationalsozialistischer Verfolgung — sehr schikanös und teilweise zynisch im Rahmen der Bearbeitung und Uberprüfung. So war es nicht verwunderlich, daß Jacob den Ausgang des Verfahrens selbst nicht mehr erleben sollte145. Literarisch wandte sich Jacob dem Leben und Werk eines Künstlers zu, dessen Name seit 1933 «künstlich verschüttet» war: Felix Mendelssohn-Bartholdy. Es war ihm ein wichtiges Thema, denn er machte damit auf ein Unrecht aufmerksam, das Rassenwahn und Antisemitismus begangen hatten. Ein Thema also, das so manche Parallele zu seinem eigenen Schicksal aufzeigte. Da die Nationalsozialisten wenig Erinnerung an Mendelssohn ließen, mußte Jacob vor allem in London forschen, um neue Quellen zu erschließen. Seit 1909 war keine biographische Würdigung mehr über den Komponisten erschienen. Als Jacob sein Vorhaben dem S. Fischer Verlag unterbreitete, griff dieser sofort zu. Im Oktober 1957 wurde ein Verlagsvertrag abgeschlossen. Rechtzeitig zu Mendelssohns 150. Geburtstag am 3. Februar 1959 erschien Felix Mendelssohn und seine Zeitu6 und die Kritik erfaßte umgehend, daß es sich bei diesem Werk nicht nur um eine Wiedergutmachung an dem Komponisten handelte, sondern auch «am deutschen Volk, dem man einen seiner innigsten, beschwingtesten, anmutigsten Meister zu stehlen versucht hat»147. Die Zeitschrift Europa, die eine dreiseitige Besprechung brachte, erkannte, daß Jacob auch eine Abrechnung mit Mendelssohns Antipoden Richard Wagner vornahm, «der mit seinen ideologischen Werken [als Schriftsteller unter dem Pseudonym Karl Freigedank; H]G] erst den und dann den für ihren engstirnigen Nationalismus Vorschub leistete.» Der Rezensent fuhr fort: Wir haben die Aufforderung Jacobs, die Musik Mendelssohns auferstehen zu lassen, an die Spitze unserer Betrachtungen gestellt... kein geringerer als Johannes Brahms hat gesagt: «Ich wollte meine sämtlichen Werke dafür hingeben, wenn mir ein Stück wie die Hebriden-Ouvertüre gelungen wäre!» Und es gibt noch viele andere Kronzeugen für die Bedeutung des gewaltsam unterdrückten Komponisten Mendelssohn148.

Die Mendelssohn-Biographie war Jacobs letztes Buch. Obwohl Jacob ab 1959 noch einer regen publizistischen Tätigkeit für diverseste Zeitungen nachging, er schrieb zahlreiche Beiträge über Komponisten wie Haydn, Mahler, Mendelssohn, Mozart und Schubert sowie über Schriftstellerkollegen, die er persönlich kannte, wie Brod, Döblin, Georg Heym, Hofmannsthal, Schnitzler, Wassermann, Wedekind oder Stefan Zweig, so war er den Anforderungen großer Werke nicht mehr gewachsen. Er litt zunehmend unter Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisverlust. Dies konnte er nicht verwinden und zog einen Freitod in Betracht. Am 10. September 1963 schrieb er in Zürich seiner Frau Dora:

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Daß ich jemals von Dir würde Abschied nehmen müssen, das ist ein heisser Schmerz — ein niemals für möglich gehaltener Schmerz! — den ich uns Beiden heute bereite. Es ist aber so, daß der ständig anwachsende Gedächtnisverlust es mir nicht mehr erlaubt, meinen Beruf weiter fortzuführen. Ich bin, Du weißt es, mit Leib und Seele Schriftsteller. Etwas anderes kann ich nicht sein. Aber ich vermag mir die einfachsten Dinge nicht mehr zu merken. Wie furchbar es heute um mein Geistesleben steht, versuchte ich meinen Verlegern und literarischen Auftraggebern bisher zu verbergen — aber jetzt ist die Gren7.e erreicht! Das schwere Herzleiden kommt noch hinzu. Ich muß ein Ende marhpn mit mir. ... Geliebte, einzige, teure, getreueste aller Frauen! Verzeih mir das bittere Leid, was ich Dir antue. Gedenke mein. Ich liebe Dich unendlich!149. Weshalb es zu dem angekündigten Suizid nicht kam, ist unbekannt. Einer handschriftlichen Notiz Dora Jacobs auf dem Kuvert ist zu entnehmen, daß sie den Abschiedsbrief selbst erst am 20. Mai 1965 fand. Dennoch muß der Brief als beredtes Zeugnis dafür gesehen werden, wie sich Jacob in seinen letzten Lebensjahren fühlte. In den verbleibenden Jahren bis zu seinem natürlichen Tod versuchte er noch, seine Lebenserinnerungen, die er unter dem Titel Vergängliches — Unvergängliches veröffentlichen wollte, niederzuschreiben. Doch selbst dieses interessante Vorhaben reichte über einen groben Rahmenplan und einige Gedankensplitter nicht hinaus. Seit der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil rastlos und unbehaust von Hotel zu Pension eilend, erlitt Jacob in der Nacht vom 12. zum 13. Oktober 1967 im Salzburger Hotel Elefant einen schweren Herzanfall, an dessen Folgen er am 25. Oktober 1967 im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Salzburg starb 150 . Ebenso rastlos wie Jacob selbst, setzte sich seine Witwe Dora für sein hinterlassenes Werk ein, aber außer einigen Höflichkeitsbezeugungen und kleinen, freundlichen Gesten erfuhr sie nichts im Literaturbetrieb. Dora Jacob starb am 26. Februar 1984 in Berlin. Hier ist Sie zusammen mit ihrem Mann auf dem jüdischen Friedhof an der Heerstraße in Charlottenburg beigesetzt.

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Geburtsurkunde Nr. 92 des Standesamten Berlin Ι/Π (Deutsches Literaturarchiv, Marbach/N - DLA). Richard Jacob, Unter ägyptischem Himmel. Ein Reiseroman (Breslau: Schlesische Buchdruckerei, Kunst- und Verlags-Anstalt von S. Schottlaender, 1895). 343 SS. Dieser Reiseroman war das Resultat einer ausgedehnten Ägyptenreise, die Richard Jacob 1892 mit seiner Frau Martha unternahm. Jacob war unter der Matrikelnummer 5072 an der Berliner Universität eingeschrieben. Das Abgangszeugnis ist mit dem 15. Oktober 1913 datiert. Eine Promotion Jacobs läßt

HEINRICH EDUARD JACOB sich entgegen oftmals anderslautender Darstellungen in der Literaturwissenschaft an der heutigen Nachfolgeuniversität, der Humboldt Universität, nicht nachweisen. Heinrich Eduard Jacob, «Das war Georg Brandes», in Federlese. Ein Almanack des Deutschen PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland (München 1967), S. 108-114. Vgl. diesbezüglich auch das Typoskript eines knappen Entwurfs Jacobs für seine Memoiren aus den Jahren 1966/1967, das sich im Schiller Nationalmuseum, DLA, befindet. Die Handschriftenabteilung des DLA verwahrt seit 1999 den kompletten literarischen Nachlaß Jacobs. Der Erstdruck dieser Novelle erfolgte in der Monatsschrift Der Sturm (Berlin), I, Nr. 43,22. Dez. 1910, S. 342 f. Danach in Jacobs Novellenband Das Leichenbegängnis der Gemma Ebria (Berlin: Erich Reiß Verlag, 1912), S. 99-107. Im Nachlaß Jacobs befindet sich ein handschriftliches Manuskript dieser Novelle, mit dem Untertitel «Eine jüdische Legende» sowie ein Typoskript, das den Untertitel nicht enthält, aber ansonsten gleichlautend ist. Weiterführende Literatur zu Jacobs Aktivitäten im Neuen Club, in Richard Sheppard, Die Schriften des Neuen Clubs 1908-1914 (Hildesheim: Gerstenberg Verlag, 1980 und 1983); 2 Bde. Vgl. dazu: Georg Heym, Dichtungen und Schriften: Gesamtausgabe. 6 Bde. Hrsg. von Karl Ludwig Schneider u.a. (Hamburg /München: H. Eilermann, 1960 f.) sowie Georg Heym. Der Städte Schultern knacken. Zusammengestellt von Nina Schneider im Rahmen der Arche Edition des Expressionismus. Hrsg. von Paul Raabe (Zürich: Arche Verlag 1987). Heinrich Eduard Jacob, «Berlin, Vorkriegsdichtung und Lebensgefühl» in Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde, N. F., ΠΙ (Frankfurt/M. 1962), S. 187. Jacobs Beziehung zu Hofmannsthal betreffend vgl.: «Vergängliches, Unvergängliches». Heinrich Eduard Jacobs Gespräche mit Hugo von Hofmannsthal und zwei unveröffentlichte Briefe», mitgeteilt und kommentiert von Jeffrey B. Berlin in Hofmannsthal-Blätter, Nr. 41/42 (1991/92), S. 79-85. Heinrich Eduard Jacob, «Für jeden Schriftsteller kommt einmal der Tag...». Typoskript mit handschriftlichen Verbesserungen, o.O., o.D. [ca. Anfang der 50er Jahre], S. 1 (DLA). Heinrich Eduard Jacob, «Theater. Wedekind als Form», Deutsche Montags-Zeitung (Berlin), ΙΠ, Nr. 24,10. Juni 1912. Heinrich Eduard Jacob, «Theater. Der alte Reinhardt», Deutsche Montags-Zeitung, ΙΠ, Nr. 43,14. Okt. 1912. Heinrich Eduard Jacob, «Impressionistischer Klassizismus», Die Aktion (Berlin), 25. März 1912, Sp. 392-397, hier Sp. 396. Ernst Blass, «Impressionistischer Klassizismus», Die Aktion, 1. Apr. 1912, Sp. 430-432, hier Sp. 431. Ernst Blass, «Das Leichenbegängnis der Gemma Ebria», Der Sturm (Berlin), Nr. 127/128, (Sept. 1912). Max Brod, «Novellen», Literarische Rundschau der Leipziger Neuesten Nachrichten (Leipzig), 6. Nov. 1912. Julius Bab, «Im starken Gegensatz zu ...», Die Gegenwart (Berlin), 16. Nov. 1912. Heinrich Eduard Jacob, «Berlin, Vorkriegsdichtung und Lebensgefühl», in Imprimatur. Ein Jahrbuch fir Bücherfreunde, N. F. ΠΙ (Frankfurt/M. 1962), S. 189.

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Anselma Heine, «Der Zwanzigjährige», Vorwärts (Berlin), 8. Aug. 1919. Werner Mahrholz, «Heinrich Eduard Jacob. Der Zwanzigjährige», Preußische Jahrbücher (Berlin), CLXXV, No. 3 (März 1919), S. 405. N. Wendevogel (d.i. Heinz Ohff), «Berlin! Berlin! Heinrich Eduard Jacob neu ediert», Der Tagesspiegel (Berlin), Nr. 11606, 27. Nov. 1983. Heinrich Eduard Jacob, «Fremder Schläfer im Kupee», in Arkadia. Ein Jahrbuch fur Dichtkunst. Hrsg. von Max Brod (Leipzig: Kurt Wolff, 1913), S. 205-210. Heinrich Eduard Jacob, Die Reise durch den belgischen Krieg. Ein Tagebuch (Berlin: Erich Reiß Verlag, 1915), S. 244. Heinrich Eduard Jacob, «Das Erlebnis der Neutralität» Freie Bühne/Nette Rundschau (Berlin), XXVII (1916), S. 1727. Heinrich Eduard Jacob, «Schüsse vom Gardasee», Berliner Tageblatt, XLVI, Nr. 313, Morgenausg., 22. Juni 1917. Heinrich Eduard Jacob an Max Brod; Brief vom 22. März 1919, S. 1. Dieser Brief befindet sich im Besitz von Prof. Dr. Paul Raabe, Wolfenbüttel und Halle/S. Heinrich Eduard Jacob, Das Geschenk der schönen Erde. Idyllen (München: RolandVerlag Dr. Albert Mündt, 1918). 69 SS. Nachdruck: Nendeln: Kraus Reprint, 1973. Heinrich Eduard Jacob, «Neue soziologische Dichtung» Badische Landeszeitung (Mannheim), Nr. 262 , 28. Mai 1921. Anon., «Er dichtet Ballast», Kleines Journal (Berlin), 24. Jan. 1921. Heinrich Eduard Jacob, Beaumarchais und Sonnenfels. Schauspiel (München: Georg Müller Verlag, 1919). 125 SS. Die Uraufführung des Stückes erfolgte am 6. Dezember 1919 am Stadttheater in Bochum. Weitere Aufführungen folgten in Mannheim, Berlin, Basel, Brünn und Wien. Heinrich Eduard Jacob, Die Physiker von Syrakus. Ein Dialog (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1920). 107 SS. Das Werk widmete er «Georg Friedrich Nicolai, dem Biologen dieses Krieges». Nicolai (1874-1964) verfaßte 1917 das damals aufsehenerregende Buch Die Biologie des Krieges (Zürich), das in Deutschland umgehend verboten wurde. 1920 wurde Nicolai die Venia legendi an der Berliner Universität entzogen. Heinrich Eduard Jacob, Der Tulpenfrevel. Schauspiel (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1920). 110 SS. Das Werk widmete er «Dem Dichter und Humanisten Heinrich Mann». Die Uraufführung des Stückes erfolgte am 31. Mai 1921 am National-Theater in Mannheim. Weitere Aufführungen erfolgten in Danzig und München. Hellmuth Falkenfeld, «Ein Dichter und Humanist», Leipziger Tageblatt, 29. Mai 1921. H. Jh. [d.i. Herbert Ihering], «Beaumarchais und Sonnenfels. Neues Volkstheatep», Berliner Börsen-Courier, 22. Jan. 1921. apgr., «Neues Volkstheater. . Schauspiel von H.E. Jacob», Deutsche Zeitung (Berlin), 22. Jan. 1921. Stefan Zweig an Heinrich Eduard Jacob; Brief vom 16. Feb. 1918, S. 2; State University of New York/College at Fredonia/Reed Library. Veröffentlicht in Stefan Zweig, Briefe 1914-1919. Hrsg. von Knut Beck, Jeffrey B. Berlin und Natascha Weschenbach-Feggeler (Frankfurt/M: S. Fischer Verlag, 1998), S. 203-205. Heinrich Eduard Jacob, Das Flötenkonzert der Vernunft. Novellen (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1923). 203 SS. Heinrich Eduard Jacob, Untergang von dreizehn Musiklehrern. Erzählung. Der Falke, Bd. 16 (Stuttgart/Berlin/Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt, 1924). 64 SS.

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HEINRICH EDUARD JACOB Heinrich Eduard Jacob an Max Brod; Brief o.D. [1924], S. 1. (DLA). Heinrich Eduard Jacob, Jaqueline und die Japanaer. Ein kleiner Roman (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1928). 182 SS. Neuausgabe 1989 als Taschenbuchausgabe Nr. 12460 (Reinbek: Rowohlt Verlag). Thomas Mann, «Bücherliste. Antwort auf eine Rundfrage», Das Tagebuch (Berlin), IX, Nr. 48,1. Dez. 1928. Emil Ludwig, «H.E. Jacobs Jacqueline und die Japaner>», Wiener Mittagszeitung, 21. Dez. 1928. Heinrich Eduard Jacob, Dämonen und Narren. Drei Novellen (Frankfurt/M: Rütten & Loening Verlag, 1927). 228 SS. Die zweite Auflage erschien 1929 bereits im Ernst Rowohlt Verlag, der die Rechte von Rütten & Loening sicherlich durch den großen Erfolg von Jacqueline und die Japaner erworben hatte. Neuausgabe 1957 als Taschenbuchausgabe, Nr. 217 (Hamburg: Rowohlt Verlag). Vgl. dazu: Susi Stappenbacher, Die deutschen literarischen Zeitschriften in den Jahren 1918-1925 als Ausdruck geistiger Strömungen dieser Zeit. Diss. (Masch.); Universität Erlangen-Nürnberg 1961. Georg Zivier, «Man traf sich im Romanischen ... Heinrich Eduard Jacob zum 75. Geburtstag», Der Tagesspiegel (Berlin), Nr. 5799, 7. Okt. 1964. In den ersten beiden Ausgaben des Feuerreiters wurde Jacob allerdings als Mitarbeiter genannt, Herausgeber wurde er erst ab dem 3. Heft, das im Februar 1922 erschien. Weiteres zum Feuerreiter in Ute Gesche, «Heinrich Eduard Jacob als Herausgeber der Zeitschrift Der Feuerreiter (1921-1924)»; unveröffentlichte Magisterarbeit. Freie Universität Berlin, 1992. Heinrich Eduard Jacob, «Georg Heym. Erinnerung und Gestalt», Der Feuerreiter, I, Nr. 2 (Jan. 1922), S. 53f.; Jacob, «Auch Calderon», Der Feuerreiter, ΙΠ, Nr. 1 (April/Mai 1924), S. If.; Jacob, «Kafka oder die Wahrhaftigkeit», Der Feuerreiter, ΙΠ, Nr. 2 (Aug./Sept. 1924), S. 61f. Heinrich Eduard Jacob, «Neue Bücher. Franz Kafka: Der Heizer. Novelle (Leipzig, Kurt Wolff)», Deutsche Montags-Zeitung (Berlin), IV, Nr. 24,16. Juni 1913. Heinrich Eduard Jacob an Max Brod; Brief o.D. [1924], S. 2. Ebda. Dietger Pforte, «Heinrich Eduard Jacobs », in Heinrich Eduard Jacob 1889-1967. Ausstellungskatalog der Neuen Gesellschaft für Literatur/Kunstamt Schöneberg (Berlin, 1979), S. 10. Heinrich Eduard Jacob, «Notizen zur apokalyptischen Kunstform», Der Feuerreiter, Π, Sonderheft (Aug. 1923), S. 29. Heinrich Eduard Jacob, «Zur Geschichte der deutschen Lyrik seit 1910», in Verse der Lebenden. Deutsche Lyrik seit 1910. Hrsg. von H.E. Jacob (Berlin: Propyläen-Verlag, 1924), S. 6. Ebda., S. 5. Ebda., S. 28f. Honore de Balzac, Künstler und Narren (Berlin: Rowohlt Verlag, 1926). Die Qualität der Ubersetzung war ausgezeichnet, denn Rowohlt übernahm sie 1956 für die Gesammelten Werke Balzacs. Auch der Züricher Diogenes Verlag legte 1977 seiner Ausgabe unter dem Titel Das unbekannte Meisterwerk Jacobs Übertragung zugrunde. Heinrich Eduard Jacob, «Die Osterreichische Krise», Berliner Tageblatt, LVm, Nr. 398, Morgenausg., 24. Aug. 1929.

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Heinrich Eduard Jacob, Blut und Zelluloid. Roman (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1929; [mit Jahreszahl 1930J. 353 SS. Neuausgabe mit einem Nachwort von Hans J. Schütz. Bibliothek vergessener Bücher (Bad Homburg: Oberon Verlag, 1986). Claudia Anne Wagner, «Film als Maschinengewehr. Blut und Zelluloid von Heinrich Eduard Jacob», in Wagner, «Das Geschöpf aus Kunst und Technik. Die Darstellung von Film und Filmmilieu in ausgewählten Romanen der Weimarer Republik». Unveröffentlichte Magisterarbeit. Humboldt-Universität, Berlin 1999, S. 50. Weiterführende Literatur: Andrea Capovilla, Der lebendige Schatten. Film in der Literatur bis 1938 (Wien: Böhlau Verlag, 1994). 153 SS. Heinrich Eduard Jacob, Blut und Zelluloid. Roman (Bad Homburg: Oberon Verlag, 1986), S. 18 f. Stefan Zweig, «Blut und Zelluloid», Neue Freie Presse (Wien), 15. Dez. 1929. Heinrich Eduard Jacob, Die Magd von Aachen. Eine von siebentausend. Roman. (Wien: Paul Zsolnay Verlag, 1931). 278 SS. Wilhelm Westecker, «Jacob, Heinrich Eduard: Die Magd von Aachen. Eine von Siebentausend. Roman», Die Schöne Literatur (Leipzig), 6. Juni 1931. Ernst Decsey, «Liebe in Usküb», Neues Wiener Tageblatt, 13. Feb. 1932. Heinrich Eduard Jacob, Liebe in Üsküb. Roman (Wien: Paul Zsolnay Verlag, 1932). 239 SS. Jakob Wassermann, «Liebe in Usküb von Heinr. Ed. Jacob», Neue Freie Presse (Wien), 6. März 1932. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1927-1930. Bd. 9. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach. Hrsg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig (Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1997). Unter 1928 m 3, S. 134, heißt es: «Zu Gast bei Trebitsch'. Dort Wilh. v. Scholz mit Braut ... H.E. Jacob. Seine Verlobung mit Judith, Jak. Wassermanns Tochter, scheint nicht ganz ernst (Julie telef. mir neulich: Sagen Sie's niemandem, es weiß es sowieso jeder)». Jacob hatte zur selbigen Zeit bereits wieder seine Beziehung zu Dora Angel-Soyka, seiner späteren Frau, aufgenommen. Heinrich Eduard Jacob, Ein Staatsmann strauchelt. Roman (Wien: Paul Zsolnay Verlag, 1932). 204 SS. Neuausgabe (Bremen: Carl Schünemann Verlag, 1954). Als Taschenbuchausgabe Nr. 12578 mit einem Nachwort von Hans Jörgen Gerlach (Reinbek: Rowohlt Verlag, 1990). Heinrich Eduard Jacob, Ein Staatsmann strauchelt (Reinbek: Rowohlt, 1990), S. 79. Näheres zum Werk Jacobs zwischen 1910 bis 1933 und zur Bücherverbrennung in: Jutta Buchholz, «. Das Werk Heinrich Eduard Jacobs in den Jahren von 1910 bis 1933». Unveröffentlichte Magisterarbeit, RheinischWestfälische Technische Hochschule, Aachen 1987. Näheres zum Verhalten Frischauers, Stefan Zweigs u.a. vor, während und nach dem XI. PEN-Kongreß in Ragusa in: Ursula Prutsch / Klaus Zeyringer, Die Welten des Paul Frischauer. Ein diterarischer Abenteurer» im historischen Kontext; Wien — London — Rio - New York - Wien (Wien: Böhlau Verlag, 1997). 361 SS. Heinrich Eduard Jacob an Stefan Zweig; Brief vom 21. Juni 1933. 2 SS., dazu als Anlage eine Abschrift der Resolution (State University of New York/College at Fredonia/Reed Library; unveröffentlicht).

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HEINRICH EDUARD JACOB Heinrich Eduard Jacob an Stefan Zweig; Brief vom 5. Juli 1933. 1 S. (State University of New York/College at Fredonia/Reed Library; unveröffentlicht). Das Manuskript der Wassermann-Rede Jacobs sowie seine bislang unveröffentlichte Korrespondenz mit Jakob Wassermann und dessen Frau Julie befinden sich im DLA. Heinrich Eduard Jacob, Sage und Siegeszug des Kaffees. Die Biographie eines weltwirtschaftlichen Stoffes. Sachbuch (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1934). 367 SS. Erweiterte Neufassung (Hamburg: Rowohlt Verlag, 1952). 1964 erschien die ungekürzte Taschenbuchausgabe Nr. 675/76 (Reinbek: Rowohlt Verlag). Weitere Resultate der Reise mit dem Graf Zeppelin waren der Novellenband Treibhaus Südamerika (Zürich: Bibliothek zeitgenössischer Werke, 1934). 304 SS., Estrangeiro. Ein Tropen-Roman (Frankfurt/M: Heinrich Scheffler Verlag, 1951). 328 SS. Neuausgabe 1988 als Taschenbuchausgabe Nr. 12337 (Reinbek: Rowohlt Verlag) sowie der Reisebericht Mit dem Zeppelin nach Pernambuco (Berlin: Katzengraben-Presse, 1992). 96 SS. Heinrich Eduard Jacob, «Wie ich Sachbuchautor wurde», Die Welt (Hamburg), 7. Okt. 1964. Vgl dazu: Murray G. Hall, Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 45. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil (Tübingen: Niemeyer Verlag, 1994), S. 356-362. Heinrich Eduard Jacob, Der Grinzinger Taugenichts. Roman (Amsterdam: Querido Verlag, 1935). 224 SS. Neuausgabe (Rosenheim: Schwingen Verlag, 1953). Heinrich Eduard Jacob an Rudolf Olden; Brief vom 2. Jan. 1938, S. 1 (Deutsche Bibliothek, Frankfurt/M. ( - DBF), Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Bestand Deutscher PEN-Club im Exil, EB 75/175 - 414). Sämtliche Presseausschnitte, aber auch die Schriftsätze des Prozesses und bewegende Briefwechsel Jacobs aus dieser Zeit, befinden sich im DLA. Klaus Mann, Tagebücher. Bd. ΙΠ: 1936-1937. Hrsg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller (München: Edition Spangenberg, 1990), S. 9 (1. Jan. 1936). Vgl. dazu: Wien 1938. Ausstellungskatalog des Historischen Museums der Stadt Wien. 110. Sonderausstellung (Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1988); S. 231 f. Vgl. weiterhin: «Geheime Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Wien Π: 1. Österreichertransport nach Dachau (Prominente) am 1. April 1938», o.D. (KZ-Gedenkstätte Dachau, MuseumArchiv-Bibliothek) . Fritz Bock, «Vierzig Jahre danach»; Typoskript der KZ-Gedenkstätte Dachau, MuseumArchiv-Bibliothek, o.D. [März/April 1978], S. 4/5. Heinrich Eduard Jacob an Martha Jacob; Brief vom 17. Juli 1938, S. 2/3 (DLA). Hermann Jülich, «Eidesstattliche Versicherung» [für das Entschädigungsamt Berlin]; Düsseldorf, o.D. [August 1955], S. 1 p L A ) . Martha Jacob an Rudolf Olden; Brief vom 26. März 1938, S. 2 (DBF, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Bestand Deutscher PEN-Club im Exil, EB 75/175 - 454). Rudolf Olden an Jella von Braun-Fernwald; Brief vom 20. April 1938, S. 1 (DBF, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Bestand Deutscher PEN-Club im Exil, EB 75/175 495). Alice Lampl an Rudolf Olden; Brief vom 30. Juni 1938, S. 1 (DBF, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Bestand Deutscher PEN-Club im Exil, EB 75/175 - 609).

Hans Jörgen 88

Gerlach

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Rudolf Olden an Wieland Herzfelde; Brief vom 10. Juli 1938, S. 3 (DBF, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Bestand Deutscher PEN-Club im Exil, EB 75/175 - 620). 89 Bruno Heilig, Men Crucified (London: Eyre & Spottiswoode, 1941), S. 210. Deutsche Übertragung unter dem Titel Menschen am Kreuz (Berlin-Ost: Verlag Neues Leben, 1948). 90 Heinrich Eduard Jacob, «Ist die nicht salonfähig?», Das Schönste (München), Nr. 9 (Okt. 1959), S. 8. 91 Heinrich Eduard Jacob, «Den ermordeten Dichtern! Worte des Gedenkens»; Typoskript eines Vortrags für «Das unvergängliche Wort. Ein Gedenkabend für die im Exil verstorbenen deutschen Schriftsteller», gehalten am 10. April 1946 in New York, S. 11 (DLA). 92 Entlassungsschein des Konzentrationslagers Weimar-Buchenwald vom 10. Feb. 1939. 93 Dora Jacob, «Eidesstattliche Versicherung» [für das Entschädigungsamt Berlin], Zürich, 15. Sept. 1956, S. 1 (DLA). 94 Martha Jacob an Heinrich Eduard Jacob; Brief vom 9. März 1939, S. 2 (DLA). 95 Heinrich Eduard Jacob an Michael J. Barnes; Brief vom 2. Mai 1939, S. 1-2 (DLA). 96 Internationaler Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen an Hans Jörgen Gerlach; Brief vom 4. Mai 1998 - Zeichen: T/D - 1 448 910. 97 Raoul Auernheimer, Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit. Erlebnisse und Bekenntnisse. Autobiographie (Wien: Ullstein Verlag, 1948). 98 So hielt Thomas Mann in seinem Werk Die Entstehung des Doktor Faustus fest, daß er anläßlich einer von der Tribuhne veranstalteten Feier zu seinem 75. Geburtstag, Anfang Juni 1950 in New York, mit Paul Tillich (1886-1965) und Heinrich Eduard Jacob «beim Wein zusammen [saß] und dieser erzählte aus offenbar unauslöschlichen Erinnerungen von seinen Erfahrungen im Konzentrationslager, wobei er Äußerungen über das Archaische auf dem Grunde der Volksseele tat, die überraschend mit gewissen Bemerkungen darüber in den Anfängen des Faustus übereinstimmten». Vgl. dazu: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, hier: Bd. 11 (Frankfurt/M: S. Fischer Taschenbuch-Verlag, 1990), S. 227; Vgl. ebenso: Donald Prater, Thomas Mann. Deutscherund Weltbürger. Eine Biographie (München: Carl Hanser Verlag, 1995), S. 513. 99 Auszüge aus der Korrespondenz zwischen Heinrich Eduard Jacob mit seiner Mutter und seiner Verlobten Dora sowie seine Korrespondenz mit Raoul Auernheimer aus und über diese Zeit hat Jeffrey B. Berlin in zwei Arbeiten kommentierend vorgelegt: «. Dort auf dem Stephansgymnasium macht er die Bekanntschaft von Franz Werfel, Willy Haas und Paul Kornfeld. Franz Werfel hat die Stimmung des Gymnasiums und die Haltung der Lehrer anhand einer Lateinstunde in seinem Roman Der Abituriententag geschildert6. Die Beschreibung vermittelt etwas von dem behäbigen, konservativen, doch zutiefst humanistischen Geist, der durch die Gänge der alten Gymnasien wehte, der aber nicht imstande war, auf die Anforderungen der Zeit vorzubereiten. Geschichte wird als «antiquarische Wissenschaft» betrieben, deren Bildungserlebnis folgenlos bleibt, oder schlimmer noch als geistige Aufrüstung, die den Heldentod glorifiziert. In einem Nekrolog auf seinen Bruder beschreibt Hans Janowitz die Atmosphäre, die auch als Selbstzeugnis zu lesen ist: «Allmählich erst begann die Stadt auf den Knaben erhöhten Reiz auszuüben. Intensives Leben des Siebzehnjährigen; die Nächte am Schreibtisch, vier Stockwerke hoch über Prag, die Tage in der Schulbank. Verse im Kopfe und auf der Zunge Witze, die Abende in der Oper, ein Blick hinter die Kulissen, und sehnsüchtige Herzschläge auf dem dunklen Heimweg. Und auf dem Schreibtisch bei der Petroleumlampe, wuchs ein Gedicht, liederhaft rein, nur das heilige Herz verkündend; ein Brief an den Bruder nach Wien; ein Referat über Philosophie und Bücher und Musik, ein zweiter an den

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Bruder nach München, ein Referat über Literatur und Theater und über das sonderbare Leben, seine absurde Komik und Tragik ... Immer entscheidender drängten sich die Ereignisse des Geistes auf: Ibsen, vom Berliner Lessingtheater unter Brahms Regie in den Maifestspielen des Deutschen Theaters unvergeßlich übermittelt; frühe schon die innige, lebenslängliche Liebe zu Gerhart Hauptmann, dem Gerhart Hauptmann des «Hannele», der «Pippa», des «Emanuel Quint»; Thomas Mann dann, dessen Verfalls-Roman uns so unsagbar nahe betraf und in unserer Generation ähnlich Epoche machte, wie einst der Werther getan haben mag; und endlich der leidenschaftliche Ansager des tragischen Irrweges, den die Menschheit ging, der höhnende Ethiker, der geistliche Ritter des Weibes, der strenge Sprachmeister: Karl Kraus. Das erschütternde Genie Weiningers führte endgültig zur Philosophie; man fand Plato, endlich Kant, Schopenhauer7.» Eine Traumwelt entstand, in der sich geistige und religiöse Ideen mit der dunklen Seite Prags verbanden, wie sie noch heute klischeehaft beschworen werden. Franz Werfel erinnerte sich später: Wir lebten von und aus Emotionen, die auch den romantischen Kreisen zu eigen waren. Und jede realistische Flucht nach vorn löste sich bald wieder auf, da wir nicht über politische und wirtschaftliche Notwendigkeiten nachsannen, sondern unseren Grundvorstellungen Raum geben wollten: Und wir hatten viele, bunte, auch wohl revolutionäre Träume und sahen in eine , aber erreichbar war diese auch für uns nicht, geschweige denn für die anderen, die nach unseren Wunschvorstellungen darin leben sollten. Wir waren ebensolche Utopisten, wie es junge Literaten zu allen Zeiten sind. Unser Utopia von damals ist nie Realität geworden. Daran ist mancher verzweifelt8.

In Prag beginnt Hans Janowitz auch zu schreiben: Mit 18 Jahren erscheinen seine ersten kurzen Geschichten in der Bohemia in Prag. Mit 20 macht er — als erster im deutschen Sprachkreis — auf den grossen tschechischen Freiheitsdichter Petr Bezruö aufmerksam, in einem begeisterten Artikel, der Revolution atmet und von der tschechischen Presse dankbar aufgenommen wird. Sein Freund und Mitschüler, Rudolf Fuchs, übersetzt die Schlesischen Lieder von Bezruö ins Deutsche und erlangt damit seinen ersten Erfolg.

Hier irrt sich Janowitz, der seinen Lebenslauf im amerikanischen Exil ohne Hilfsmittel verfaßt hat, um zwei Jahre. 1912 erst erscheint seine Skizze «Petr Bezruö» in den Herder-Blättern9. In expressionistischem Pathos rühmt er das Werk von Bezruö als «stärkste lyrische Tat»10. Auch ist sein Anspruch auf die Entdeckung eine Ubertreibung. So schreibt Antonin Möstan, daß «in den Jahren 1903-1911 einzelne Gedichte von der Hand verschiedener Übersetzer im Deutschen» erschienen sind11. Möglicherweise hat

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Rudolf Fuchs Janowitz auf den Autor Bezruc aufmerksam gemacht. Bezruc, ein Einzelgänger, ist durch seine Sammlung, die Schlesischen Lieder, die einen «Protest gegen die nationale und soziale Unterdrückung der Tschechen in Schlesien»12 darstellt, zum Nationaldichter der Tschechen geworden. Seine Gedichte sind aber auch von den deutschsprachigen Schriftstellern geschätzt worden. So hat Franz Werfel das Vorwort zur Ausgabe von 1916 verfaßt, die im Kurt Wolff-Verlag in Leipzig erschienen und bald verboten worden ist. Nach Aussagen von Fuchs, der das Werk übersetzt hat, ist es «eine Waffe» im Ersten Weltkrieg gewesen13. Die Herder-Blätter, in denen der Artikel von Hans Janowitz erschienen ist, waren eine Studentenzeitung, die «von der Prager Loge des U.S.A.-Orden der B'nai-Brith» unterstützt wurde. Dort rezensierte Janowitz auch das heute fast vergessene Novellenbuch Heinrich Manns Die Rückkehr vom Hades (1911) in hymnischen Tönen14. In seinen «Aphorismen zu literarischen Gegenständen»15 sucht Janowitz seine Position als Künstler. «Poesie und Jugend»16 nennt er eine «Ansprache an Freunde, die um ähnliche Motive wie die Aphorismen» kreise. Auch das Gedicht «Winterspaziergängers Lied an die ferne Geliebte»17 zeigt diese Züge. Sehnsucht, Kunst, Jugend, Liebe, dies sind die Themen, die den Zweiundzwanzigjährigen beschäftigen. Auffällig ist der nahezu völlige Verzicht auf politische bzw. historische Begebenheiten. Dies muß aus heutiger Sicht umso mehr verwundern, als Prag «als Hauptstadt des höchstentwickelten der unterdrückten Völker Österreich-Ungarns zu einem der Hauptschauplätze von nationalen Kämpfen wurde, deren Intensität namentlich die Prager Deutschen zu spüren bekamen»18, wie Eduard Goldstücker schreibt. Auch die Werke anderer Mitglieder des Prager Kreises der Arconauten, nach ihrem Treffpunkt Cafe Arco benannt, wie Rudolf Fuchs, Otto Pick oder Ernst Pollak werden um diese Zeit entdeckt und in der Anthologie Jüngste Tschechische Lyrik von Franz Pfemfert 1916 abgedruckt. Noch immer, und dies ist angesichts des bereits über ein Jahr tobenden Weltkriegs doch bemerkenswert, wird die Brückenfunktion zwischen Deutschen und Tschechen hervorgehoben. So bemerkt Franz Pfemfert im Nachwort vom Oktober 1916: «Verbindend zu wirken in einem Augenblick, wo Sprechen und Schreiben fast immer nur geschieht, um zu trennen, — es ist das Ziel dieser Veröffentlichung, die ich als einen politischen, völkerverbindenden Akt gewertet wissen möchte 9.» Im Oktober 1912 stellen die Herder-Blätter ihr Erscheinen ein. Neue Foren für die Autoren sind vor allem die Innsbrucker Halbmonatsschrift Der Brenner, die von Ludwig Ficker herausgegeben wird, sowie das von Max Brod verantwortete Jahrbuch Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst, 1913 im Kurt Wolff-Verlag in Leipzig erschienen20. In beiden Organen ist auch Hans Janowitz vertreten. Für Arkadia, in der auch Franz Kafkas Erzählung «Das Urteil» zum Abdruck gelangt, schreibt er zwei Kurzgeschichten mit parabelhaften Inhalten21. Sehr bald kommt

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es aber zum Bruch mit Max Brod. Brod hatte in seinem Vorwort einen Angriff auf Karl Kraus versteckt, dem Janowitz «giftige Polemik» vorwirft22. Diese «emotionsgeladene Aggression» (Marina Bilke) mußte die Reaktion der Brüder Janowitz herausfordern, die mit Karl Kraus befreundet waren. Im KarlKraus-Nachlaß findet sich der erste Brief von Hans Janowitz an Kraus vom 2. Juni 1912, dem andere vorausgegangen sein müssen. In einem Brief an Ficker klagt er am 20. September 1913, daß Brod «seine kleinen Lumpigkeiten gegen Kraus sammelte» 3 . Verstärkt wendet sich Janowitz nun Ficker und dem Brenner zu. Er macht auf den böhmischen Schriftsteller Frana Sramek24 aufmerksam, schreibt provozierende und schockierende Kurzprosa über Liebe, Sexualität und Tod 5 und Lyrik26. Viele Projekte bleiben allerdings unveröffentlicht27 und müssen heute als verschollen gelten. Daß nur wenig zur Veröffentlichung gelangt, ist sicher auch Janowitz' eigene Schuld, denn er verlangt immer wieder, sogar nach der Drucklegung, Änderungen seiner Texte28. Einiges davon hat sich im BrennerArchiv erhalten, so die «Ballade vom Sterben des Christen auf der Landstraße» sowie die Gedichte «Frühe», «Salzburger Gänge», «Abend im Herbst». München 1908/1909 Als 18 jähriger ist er in München, bei Tag, Angestellter eines Getreidehauses und korrespondiert mit den Lieferanten der grossen Importfirma in vier Sprachen: deutsch, tschechisch, französisch und englisch. Am Abend hört er Professor Brentano an der Universität. Weltgeschichte, Soziologie, vor allem aber: Literatur und Theater nehmen ihn voll in Anspruch, während ihn die Probleme des internationalen Getreidegeschäftes gänzlich kalt lassen.

Uber diese Zeit wissen wir nur aus Janowitz' eigenen Darstellungen Bescheid. Es ist anzunehmen, daß er als zukünftiger Inhaber der väterlichen Firma sich die nötigen Fachkenntnisse aneignen sollte. Warum die Wahl auf München, nicht aber auf Prag oder eine andere Stadt fiel, darüber erfahren wir nichts. Auch ist seinen Aufzeichnungen nur bedingt Glauben zu schenken, da «weder eine Immatrikulation noch ein Eintrag als Gasthörer»29 im Universitätsarchiv München zu finden ist. Möglich wäre, daß er eine öffentliche Vorlesung von Professor Brentano besucht hat. Inwieweit die Darstellung seiner Tätigkeit als Theaterkritiker stimmt, ist fraglich. Er selbst berichtet: «Da der absolut notwendige Theaterbesuch zu teuer ist, wenn man von einem Monatscheck von 120 Mark leben muss, so wird er Theaterkritiker einiger Vorstadtblätter. Das Honorar besteht in 2 Eintrittskarten für jede Premiere». Die Kritiken erscheinen aber in ungezählten bayerischen Provinz-Blättern als Münchner Theaterbriefe — unter dem Namen des Münchner Redakteurs des kleinen Blättchens, das ihn ohne Gehalt angestellt hat. Eine

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Kellnerin im Cafe Luitpold, in dem der reife Journalist den jungen Kollegen täglich trifft und anweist, wohin er für das Blatt am Abend zu gehen hat, entdeckt den Schwindel, und zum erstenmal ausgebeutet erkennt der noch grüne Referent, daß es in der Literatur Geschäftsdinge gibt, die ebenso schmutzig gehandhabt werden und schmutziger als in der Welt des Kommerz. Nach diesen Erfahrungen setzt er sich hin und beginnt, sein erstes Theaterstück zu schreiben — eine dramatische Phantasie, die aus drei Teilen, einem Vor- und Nachspiel, besteht. Es ist eine lebenslängliche Aufgabe, die er da unternimmt — nach dem Weltkrieg liegen erst zwei der geplanten Spiele und viel Material vor. Der Plan ist bis heute nicht zu Ende geführt. Das Manuscript — in einem Dorf in Böhmen versteckt, nach der Occupation von 1939, die den Autor zwingt, seine Heimat zu verlassen.

Erst vier Jahre später liegt der erste Teil vor, den er in einer Woche niedergeschrieben hat. Es scheint, daß auch hier Janowitz dazu neigt, aus dem Versuch mehr zu machen, als er eigentlich ist. Der Ausdruck «erstes Theaterstück» verleitet zudem den Leser zu der Annahme, es lägen mehrere Theaterstücke vor. Soviel sich aus dem Nachlaß ersehen läßt, hat Hans Janowitz nur noch zwei Theaterskripte angefertigt, die beide unvollendet geblieben und niemals aufgeführt worden sind. Die Zeit in München ist für das Werk von Hans Janowitz wenig bedeutsam. Salzburg 1910-1911, Hamburg 1912-1914 Hans Janowitz wird «Soldat in Salzburg», schreibt einen Band Gedichte, die zerstreut in Zeitschriften erscheinen, weil er glaubt, als Dramatiker, nicht als Lyriker starten zu sollen! Wenig wissen wir über seine Militärzeit. Erst später im Exil 1939 äußert er sich über die Wehrpflicht: Die Autorität eines nichtswürdigen Staates, der sich auf dem besten Wege befand, zur wohlverdienten Hölle zu gehen, hatte die Wehrpflicht als Wehrzwang errichtet — und ließ uns morden, Mord ausüben, Mord erleiden. Einer irrsinnigen Autorität mußten, konnten, durften wir nicht gehorchen. Wer gehorcht ihr? Cesare — der Schläfer Cesare — hypnotisiert, verzaubert, ihr zu gehorchen, Mordauftrag für sie, die irre Autorität, auszuführen, er, Cesare, der Somnambule, der denkgefesselte Mensch, das Werkzeug des Dr. Caligari. So stellte sich uns der Krieg dar. Und so im stellten wir den Krieg dar. Der Zeitdruck, der Zeiten Druck, hatte hier diesen Ausdruck gefunden, war unbewußt Gestalt geworden in einem Werk, das scheinbar der Zeit, dem Krieg und dem Frieden nach Versailles ferne stand. Es stand all dem die Zeit dem Krieg, dem Frieden näher als alle Zeitdramen und Zeitbücher, als auch Zeitkunst, die

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HANS JANOWITZ damals das Problem der Zeit zu stellen mit deutlichen, häßlichen, aber lesbaren Buchstaben auf ihr Panier schrieb. Hier, in dieser Zeitkunst, wurde das Problem die Zeit täglich gestellt und klar beantwortet, wie der Schriftsatz eines Advokaten. Der Caltgari-Füm aber hat die Zeit, das Märchen der Zeit erzählt — und sie hat gespannt zugehört und zugesehen, dann da war «etwas dahinter». Es war in der Tat so, da war etwas dahinter. Das Märchen vom Weltkrieg, von der ihr gewordenen Autorität, das eben so schrecklich erlebte Märchen von der Wehrpflicht als Mordzwang, als Zwang, Mord auszuüben oder Mord zu erleiden, das und noch viel mehr war «dahinter». Die Zeit war dahinter30.

Tief beeindruckt scheint ihn jedoch das Militär der Vorkriegszeit nicht zu haben. In keinem der wenigen Briefe finden sich Klagen über militärischen Drill oder Mißstände, nur in einem Brief an Karl Kraus mokiert sich Janowitz über die politische Ahnungslosigkeit der österreichischen Offiziere: «Ich hoffe, daß in meine Waffenübungsperiode das Erscheinen einer fallen wird. Etwas Merkwürdiges übrigens: ich fand Offiziere, bei denen die Nennung Ihres Namens gelungenerweise eine automatische Vorstellung von Staatsgefahr und Anarchismus auslöst31.» Weiterhin verbleibt Janowitz in einer melancholischen, bohemehaften Stimmung. «Über Leipzig, wo er den Philosophen Wundt hört, sein Bruder Franz ist dessen Schüler, gelangt er nach Hamburg, wo er am Deutschen Schauspielhaus Regieassistent und Adept der Dramaturgie wird. Er spielt täglich viele kleine Rollen im Zyklus der Shakespeareschen Königs-Dramen, arbeitet mit Oberregisseur Grube an Regiebüchern» 2 . Briefe an Ficker und Kraus zeigen allerdings, daß sich seine materielle Lage nicht gebessert hat. Fast flehentlich schreibt er am 15. September 1913 an Ficker mit der Bitte um Veröffentlichungsmöglichkeiten und die Überlassung von Freikarten für das Thalia-Theater 33 . Auch psychisch scheint Janowitz in dieser Zeit eine Krise durchzumachen. Er läßt aber nicht nach in seinen Bemühungen. Er schreibt einen Aufsatz zu einem aktuellen Thema, das anscheinend Deutschland behandelt. Eine «Umwandlung» hat stattgefunden, und seine Prosa und Lyrik sind jetzt auf «Aktualität» und «Tendenz (eine durchaus religiöse)» angelegt. Die äußeren Verhältnisse aber haben sich nicht gebessert. In dieser Zeit, Dezember 1913, muß er auch den ersten Teil seiner «dramatischen Phantasie» geschrieben haben. «Das ist eine Prophezeiung, es heißt, , in dem der Weltkrieg vorausgesehen ist». Leider ist auch dieses Fragment verloren.

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RolfRiess Der Erste Weltkrieg 1914-1918 Acht Monate später ist er, bei Krasnik, mit dem Infanterie-Regiment Graf Daun, das hauptsächlich aus Polen besteht, in seiner Feuertaufe — dem Schrapnellhagel aus Kosakenbatterien. Er wird rasch Offizier, Zugskommandant, Kompanie-Kommandant. Er haßt den Krieg und erkennt — dank Karl Kraus, mit dem er und seine Brüder schon vor Jahren Freundschaft geschlossen haben — die wahren Kriegsursachen in der alldeutschen Eroberungspolitik, der die Habsburger Sekundanten Dienste leisten. Die tragische Zwitterstellung eines Frontoffiziers, der unter dem Eid steht, und eines Pazifisten, der die Kriegsschuld der eigenen Regierung erkannt hat, bringt ihn in Konflikte, innere und äussere, aus denen die Revolution erlösende Befreiung bringt.

Der Einfluß von Karl Kraus, der den «Irrnationalismus» vielfach geißelte, auch auf andere Offiziere und einfachen Soldate ist bezeugt. Die Soldaten rechnen auf ihn und schätzen seine moralische Hilfeleistung. So trifft ein Brief von Hans Adalbert Malzahn ein, in dem es heißt: «Ich muß Ihnen, dem einzigen wahren Menschen, den ich kenne, nur sagen, daß ich nicht mehr mitlügen kann und will in diesem widerlichen nationalen Menschheitstheater, und Sie bitten, mich zu leiten, wenn ich allein den rechten Weg nicht finden kann. Das ist alles 34 .» Man sollte aber die Wirkung nicht überschätzen, da «kein großer Prozentsatz» (Berthold Viertel) davon erfaßt worden ist, und die Zensur ein übriges dazu tat. Uber den Krieg erfahren wir nicht viel. Aus den Karten an Kraus lassen sich aber noch folgende Informationen entnehmen. Nach dem Fronteinsatz 1914/1915 ist Janowitz ab April 1916 auf Urlaub in Podebrad. Im Mai muß er sich einer komplizierten Blinddarmoperation unterziehen und genießt, kriegsuntauglich geschrieben, die «langsame Rekonvaleszenz». «Noch am 20.9.1916 wartet er in Prag auf die Kommission, die, wie er schreibt, über die Dauer meiner KriegsdienstUntauglichkeit entscheidet35.» 1917 ist er Oberleutnant beim Armeeausbildungsgruppenkommando ΧΧΙΠ in Prag, aber auch auf Dienstreisen in Slowenien. Am 24. Oktober 1917 wird sein Bruder Franz bei der zwölften Isonzoschlacht durch einen Schuß in die Lunge verwundet und stirbt am 4. November 191736. Karl Kraus widmet ihm andenkende, rührende Worte in der Fackel37. Von diesem Zeitpunkt an unterstützt Janowitz Karl Kraus tatkräftig, der den Nachlaß seines Bruders veröffentlichen will. Er selbst hat seinem Bruder 1928 einen Gedichtband gewidmet, aus dem das folgende Gedicht38 vom 9. November 1917 zitiert wird: Meinem Bruder Franz Du hast dein Zeit nicht gern in dieser Welt geweilt, denn Gottes Feind wird sein, wer Freund ihr sein will. Mein Bruder: hat dich nun der Haß der Welt ereilt?

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Verströmt dein Blut für Shylock, der den Schein will? In jenem Feldspital, ermangelnd naher Liebe, ich weiß dich dort in deines Himmels Hut! Dein stolzer Zorn entsteigt dem Erdgetriebe, du reckst dich auf, und lachst! Gott will dir gut!

Diese Klage, wenn auch acht Jahre nach Kriegsende verfaßt und durch neue Erfahrungen angereichert, gibt einen Einblick auch in das Innenleben des Soldaten Hans Janowitz. Ist der 1928 publizierte Text wieder im hohen Ton des Expressionismus gestimmt, so gibt ein Gedicht, das 1920 erschienen ist, der Verbindung von Weltgeschehen und dem Tod des Bruders eine politische Note: « ... an jenem 4. November schrieb ich»: Die Welt am deutschen Wesen beim Himmel nicht genas! Es selbst laßt erst genesen vom deutschen Gott und Gas! 39

Uber das Ende des Krieges erfahren wir in dem Aufsatz «Wehrzwang und kein Ende», in dem Hans Janowitz ein Beispiel gibt, das autobiographisch zu lesen ist: Ein junger Mann, Oesterreicher einst, jetzt Tschecho-Slovak der Staatszugehörigkeit nach, Deutscher von Abstammung und Erziehung, lebt in Berlin. Er hat schon vor dem Kriege, den er als K. u. K. Soldat überstanden hat, hier gelebt, und ist von seinem letzten Urlaub — der eben in die Zeit der Herbstrevolution und des Kriegsendes fiel — an die Piave nicht zurückgekehrt. Als nämlich sein Urlaub ablief, war auch Oesterreichs Zeit schon — schon? erst! — abgelaufen. Er hat also seine Friedensarbeit in Berlin wieder ergriffen und sich einen Dreck darum geschert, was der Kadaver der einstigen Monarchie etwa noch für Ansprüche an seine rekrutierte Person zu stellen hatte40.

Die alte Welt der Habsburger Monarchie ist zerstört. Die Hohenzollern sind gestürzt. T.G. Masaryk gründet im Oktober 1918 die Tschechoslowakische Republik. Zerstört ist auch der Prager Kreis. Hans Janowitz hat seine Tätigkeit nach Berlin verlegt, wo er die größten Erfolge seines Lebens feiern wird.

Berlin 1918 -1924 Neue politische und schriftstellerische Gruppen entstanden, und mit ihnen neue Zeitschriften. Hans Janowitz, vom Krieg angeekelt, nutzt die neuen Gelegenheiten. Er beginnt, zunächst im alten Stil zwei Gedichte zu veröffentlichen, «Der verlorene Sohn»41 und «Die Erleuchtung des Umnachteten» 42 , die der Kriegszeit

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entstammen (1917 bzw. 1914-1916). In der «Erleuchtung» lassen sich bereits Grundzüge des späteren Caligari erkennen. Schnell löst sich Janowitz unter den Eindrücken der politischen Ereignisse vom alten Stil und schreibt eine Reihe von politischen Aufsätzen, in denen er unter dem Motto von Karl Kraus «Jeder Staat führt den Krieg gegen die eigene Kultur anstatt Krieg gegen die eigene Unkultur zu führen» vor allem seine pazifistische Haltung zum Ausdruck bringt. Das «Vaterland» erscheint ihm als ein «Popanz», dem bereits genug Jugend geopfert worden ist: «Das Vaterland sei ein nüchterner Begriff. Verwirrt, verkehrt, romantisiert vom Alkohol- und Phrasenrausch, soll er nach der kalten Dusche der , die ihn entnüchtert hat, nüchtern bleiben durch alle Wirrnisse hindurch, die dem Menschentum noch bevorstehen. Das Sterben der Söhne für Unsinn und Aberwitz sei endlich aus dem Umkreise dieses Menschentums ausgeschlossen43.» Am deutlichsten nimmt er in dem Aufsatz «Der Rückfall»44 zur Tagespolitik Stellung. Betrachtet man Janowitz' Analysen näher, so zeigt sich hinter der Nennung zahlreicher politischer Namen und Ereignisse doch seine Unkenntnis der genauen Sachverhalte. Wirtschaftliche Verhältnisse werden personalisiert: «

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für ein paar Filme wie Douglas Sirks Summer Storm (wo Rudolph auch als «associate producer» mitwirkte), später als «film editor» und schließlich als Cutter bei der Fernsehserie «Gunsmoke», bei deren Produktion er 1957-1967 tätig war. Er wußte aber wohl aus eigener Erfahrung, daß er sonst keine Anerkennung für seine Arbeit bekam, weil er als Cutter schon wieder hinter den Kulissen stand. Im allgemeinen bin ich überzeugt, daß die Person des Cutters unwichtig und unkenntlich ist und es auch sein soll. Ein gut geschnittener Film sieht aus, als ob er so, wie er ist, aus der Filmkamera käme (AJ, 227).

Der Unauffälligkeit seiner Beschäftigung als Cutter war Albrecht also bewußt, doch erkannte er auch sicherlich die Ironie der Situation. Das erwünschte Leben als einflußreicher Filmemacher war an ihm längst vorbeigegangen, so wie die Zeit, in der er als Regisseur und Dramatiker gewirkt hatte. Die Unsichtbarkeit, die ihm sein Leben lang zu folgen schien, charakterisierte nun seine Arbeit und brachte ihm in Hollywood letzlich seinen größten und dauerhaftesten Erfolg. Auf diese Arbeit konnte er stolz sein — sie ließ ihn aus dem «Schattenleben» in das Licht der Anerkennung treten. Wir sahen ziemlich viele Leute, teils aus dem Studio, teils Emigranten, wie wir selbst es waren, und wir gingen oft abends aus zum Essen, meist in teure Lokale in Beverly Hills, wie Romanoff's. Das war purer Snobismus, aber wir hatten so lange im Schatten gelebt, daß uns dieser Unfug nun Spaß machte. Ich dachte, wenn jemand mich fragte, wie weit ich es in Hollywood gebracht habe, könnte ich sagen, daß ich jederzeit einen Tisch bei Romanoff's bekommen könne (AJ, 239).

In dieser Mischung aus Unauffälligkeit und Anerkennung scheint Albrecht genau den Zustand gefunden zu haben, den er sich lange gewünscht hatte. Wenn er auch in seiner Arbeit Wert darauf legte, unsichtbar zu wirken, so wollte er trotzdem nicht in der Öffentlichkeit als «Niemand» bezeichnet werden. Darum begann er auch 1961 seine Portraits zu verfassen, eine Sammlung von Essays zu verschiedenen Freunden und Bekannten — u.a Zuckmayer, Ludwig, Härtung, Weichen, Jessner, Reinhardt, Bruno Frank und Alma Mahler-Werfel — die nicht nur das Leben bzw. das Werk dieser Menschen schildern, sondern auch Albrechts Beziehung zu ihnen13. Albrecht drehte auch selbst Filme dokumentarischen Inhalts über Lion Feuchtwanger, Alma Mahler-Werfel und über das bildhauerische Werk von Anna Mahler. Auch sein Schlüsselroman, Those Years, den er in diesen Jahren auf Englisch schrieb, weist auf seine Rolle im Berlin der zwanziger Jahre hin. In diesem Text, der an vielen Stellen deutliche Ähnlichkeiten mit Romanoff's hat, wird ein gesellschaftlicher Kreis und eine Kette von Begebenheiten geschildert, die offensichtlich Albrechts eigene Erfahrungen wiedergeben: ein junger Verleger, Alex Schelling, nimmt ein sensationelles Manuskript an, das bald auf der Bühne gespielt werden soll, obwohl er nur wenig davon hält. Das Stück, Mädchen hinter Gittern, wird schließlich vom Theater angenommen, wo der beste Freund von Alex als

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Dramaturg tätig ist; doch sobald man von diesem Vertrag erfährt, beginnt der Klatsch, der letztlich zum völligen Mißerfolg des Stückes führt. Die darauffolgenden Intrigen und Skandale, die Alex und sein Freund Robert erleben und beobachten, stellen eine Allegorie des Untergangs der gesamten Berliner Gesellschaft der zwanziger Jahre dar. Obwohl die Geschichte an sich spannend ist, bringt Albrechts reflektiver Stil eine nachdenkliche Tendenz in den Roman hinein, die dessen Lauf wesentlich verlangsamt. Der Ton, der ihm in seinen autobiographischen Texten dazu gedient hatte, seine ganz persönliche Sicht auf bekannte Situationen mitzuteilen, charakterisiert den Erzähler in diesem Roman als etwas eitel, zumal er wirklich nur an sich selbst zu denken scheint14. Doch zeigt der Text vor allem seine tiefe Kenntnis der Theaterwelt und deren Persönlichkeiten, die in verschlüsselter Form vorkommen (u.a. Alexander Granach, Gustav Härtung und Erwin Piscator) — eine Kenntnis, die ein «Niemand» niemals hätte erlangen können15. Doch drohte ihm genau dieses «Niemandsein», das er zu vermeiden suchte, als Zuckmayers Autobiographie Als wär's ein Stück von mir 1966 erschien; statt als engster Mitarbeiter anerkannt zu werden, wurde Albrecht nämlich nur einmal als «Sohn einer kultivierten Familie» mit «blendenden Geistesgaben» und einem «hohen Ehrgeiz» erwähnt16. Die Freundschaft war schon längst mit dem Erscheinen von Des Teufels General auseinandergegangen (ein Stück, das Albrecht sowohl dramatisch als auch politisch stark mißfiel), aber Zuckmayers Reduzierung ihrer gesamten Zusammenarbeit auf ein paar Sätze schlug bei Albrecht eine tiefe Wunde, die nie wieder heilte. Wie üblich teilte Albrecht vor allem seinem Bruder die Verletzung mit, die er durch diese Beleidigung erfuhr: Mit Zuckmayer ist es so, daß er im Grunde lieber leugnen würde, mich überhaupt zu kennen, als zuzugeben, wie stark seine Arbeit, zum Teil, aber nicht in ihrem besten Teil, mit mir verbunden ist. Und er nennt auch nicht gern Leute, die niemand kennt, als wichtig in seinem Leben (22. Okt. 1966).

Nach einer langen brieflichen Auseinandersetzung mit Rudolph, in der er Zuckmayers Schweigen als «weniger als ein Trinkgeld» bezeichnet (20. Nov. 1966)17, konnte er die Ursachen seiner tiefen Enttäuschung auch präziser ausdrücken; schlimmer als die Auslassungen selbst sei die Vorstellung, daß er letzten Endes auf viele so wenig Eindruck gemacht habe, wie auf Zuckmayer. Das Beschämende ist nicht was Ζ schreibt. Ich billige ihm zu, daß er es so sieht und auf Fremde scheint es ja Eindruck zu machen. Das Beschämende ist, wie man sich selbst im Verhältnis zu ihm gesehen hat und wie man anscheinend auf die allermeisten Leute, die man kennen lernt, als ein völliger Niemand wirkt.... (23. Juli 1967).

Albrechts verbitterte Reaktion auf die Undankbarkeit seines Freundes wurde als Ausdruck seiner eigenen Undankbarkeit verstanden, wie im Falle von Zuckmayers

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Biographen Christian Strasser: «Daß Zuckmayer Josephs Beitrag zu seinem Werk so gut wie übergangen hatte, konnte der weitgehend Erfolglose nur schwer verwinden. In seinen Erinnerungen scheinen oft Neid und Mißgunst mitzuschwingen18». Strassers Sicht von Albrechts Aufenthalt in Henndorf, der Rudolph 1996 in einem langen Brief an den Verfasser energisch widersprach, entspricht ziemlich genau dem, was Albrecht als «beschämend» beschreibt. In diesen Jahren bestand eine enge Vertrautheit zwischen den beiden ungleichen Freunden: hier der erfolgreiche Schriftsteller, der jedoch auf gutgemeinte Kritik angewiesen war und einen Ansprechpartner bei der Entstehung seiner Werke schätzte, und da ein selten schreibender «Niemand», der sich ob seiner wichtigen Stellung bei einem bekannten Schriftsteller geadelt fühlte und andererseits von der Gunst Zuckmayers existentiell abhängig war, obwohl ihm sein Gönner dies nie zeigte (Strasser, 112).

1968, ein Jahr nachdem er von «Gunsmoke» in den Ruhestand ging, kehrte er mit seiner zweiten Frau, der Bildhauerin Anna Mahler, nach Europa zurück, wo sie nach einem kurzen Aufenthalt in London ein Haus in Spoleto erwarben und ihre Zeit zwischen Italien, London und Los Angeles teilten. Nach ein paar vergeblichen Versuchen, seine Schriften zu veröffentlichen, erschien 1975 die Monographie Anna Mahler — ihr Werk, zu der er einen biographischen Aufsatz auf Englisch beitrug — natürlich anonym19. Im Aufsatz wird durch seine Art der Beschreibung seine Liebe zu Anna deutlich, doch auch eine gewisse Enttäuschung darüber, daß sie auch von ihm so unabhängig blieb wie von ihren früheren Ehemännern; während er ihre Geschichte sonst im Präteritum erzählt, wechselt er an einer Stelle die Zeitform zum Präsens: «Anna is capable of loving with her whole heart, while still refusing to give up her freedom»2 . Auch Rudolph fand in der Nachkriegszeit eine geeignete Beschäftigung, als er 1957 zum Direktor des Münchner Filmmuseums ernannt wurde. Davor hatte er schon jahrelang als Filmproduzent gearbeitet, vom obenerwähnten Summer Storm bis hin zu zwei Dokumentarfilmen für das U.S. Department of Health, die er zusammen mit dem Photographen Rex Fleming im Navajo-Hopi-Reservat in Arizona, New Mexico und Utah drehte. Mit Fleming hatte er auch 1951 die Filmabteilung des Brooks Institute of Photography in Santa Barbara begründet. Doch das Angebot vom Münchner Kultusministerium, das neue Filmmuseum zu leiten, entsprach am vollkommensten seinen Fähigkeiten als «Organisator» und begeisterter, scharfsinniger Zuschauer. In seinen eigenen Worten beschrieb er seine dortigen Aufgaben: Da es kein anderes Filmmuseum zum Vergleich gab, blieb es ihm weitgehend überlassen, die Gestaltung nach seinen eigenen Vorstellungen aufzubauen. Die hauptsächliche Aufgabe bestand darin, dem Publikum Kenntnis bedeutender Filme aller Länder und aller Zeiten zu ermöglichen. Dies geschah mit hunderten von Filmen, die er unter der 5stelligen Zahl derer auswählte, die er selbst gesehen

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Die Stelle ermöglichte Rudolph auch, Ausstellungen zu Film-Berühmtheiten wie Sophia Loren und Charlie Chaplin zu organisieren, die ihn dann in alle Teile der Welt brachten: «Seit 1957 gibt es kaum ein Filmfest der Welt zwischen Cannes und Mannheim, Rio de Janeiro und Venedig, San Sebastian und Karlsbad, das er nicht besucht hat22.» Dieses faszinierende Leben, das er oft mit seiner Lebensgefährtin Flockina von Platen teilte, gefiel ihm offenbar gut und führte zu einer starken Bindung an das Museum, die auch nach seiner Versetzung in den Ruhestand fortbestand. 1972 schreibt er an Albrecht von der Chaplin-Ausstellung in Venedig, seiner letzten als Leiter des Museums: Flockina ist seit 22. hier, auch als Gast der Festspiele, und dieser Aufenthalt in Venedig ueber so lange Zeit ist natuerlich die ganze Arbeit wert gewesen, ohne daß ich auf weitere Auswirkung verzichten will. Das Komische ist, daß ich nicht einen Augenblick aufgeregt war — ich wußte ich hatte das meinige getan und wenn es daneben ging, lag es nicht in meinen Kräften es zu aendern. Nur als mein Museum zu klein auf den Plakaten gedruckt werden sollte protestierte ich und erreichte groessere Schrift (25. Aug. 1972).

Mit dieser Bindung an «sein» Museum, das er zu begründen half, hoffte er auch einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen; darum reagierte er ablehnend, als das Ministerium ihm kurz nach der Chaplin-Ausstellung den Ruhestand anbot und einen Nachfolger ernannte, der «sein» Museum in eine neue Richtung führen wollte. Ein Brief an Albrecht drückt seine Empörung unverkennbar aus. Ich will durchaus versuchen eine Art Ehrensold oder sowas zu bekommen wenn ich ganz ausscheide, wenn auch nicht rechtlich so habe ich m.E. moralisch einen Anspruch darauf nach über 10 1 / 2 Jahren....In einem Staat und einer Stadt, die andauernd auf ihre soziale Einstellung pochen, will ich alles versuchen um auch meinen Fall nicht vergessen zu lassen (8. Okt. 1972).

Doch Albrecht, der dieses Fast-Vergessen seines Falles schon selbst erlebt hatte, äußert sich in seiner Antwort gelassen und pragmatisch. Deinem Nachfolger gegenüber solltest Du so neutral und passiv wie möglich sein, damit kein Krach entsteht, der Dich eventuell die drei Extramonate in 73 kosten würde. Du hast genug Charakter gezeigt. Gib ihm alles was er verlangt, auch wenn er noch kein Recht darauf hat: Vorführungsraum, Büro, Material. Es kommt nun bloß darauf an, aus dieser Sache das Mögliche herauszuholen (27. Nov. 1972).

Was Albrecht im brieflichen Austausch mit seinem Bruder gelernt hatte, konnte er ihm nun zurückgeben: daß die Hauptsache sei, sich selbst und seines eigenen «Dabeiseins» bewußt zu bleiben, daß die erwünschte Anerkennimg nicht komme,

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wenn man sie laut verlangt, sondern wenn man ruhig, manchmal sogar unsichtbar seinen Eindruck hinterläßt. Das, wußte Albrecht, hatte Rudolph längst getan. In Albrechts letzten Jahren spielte der Briefwechsel weiterhin eine wichtige Rolle als Ausgleich in schwierigen Zeiten, besonders als Anna ihn 1985 verließ, um sich ganz ihrer Kunst zu widmen, und Flockina im selben Jahr starb. Nun entschloß sich Albrecht, nach den Portraits und dem Roman seine eigenen Erinnerungen niederzuschreiben; wie er an Rudolph schreibt: «Du und ich gehören nun wohl zu den letzten Zeugen der zwanziger Jahre» (24. Jan. 1985). Er hatte recht, obwohl er die Wahrheit dieser Aussage nie ganz begreifen konnte. Nicht nur seine Lebenserinnerungen, Romanoff's, sondern auch die früheren Schriften wurden von Stefan Weidle veröffentlicht, leider alle erst nach Albrechts Tod am 28. April 1991. Unter diesen Texten zeichnet sich besonders Romanoff's durch Albrechts ironischen Ton aus, der manchmal humorvoll, manchmal bitter erscheint, sich aber immer als nachdenklich erweist. Die Beschreibungen der Freunde wie Zuckmayer, Lernet, Horvath und Frank, die ihn alle auf ihre Weise verlassen haben (sei es durch Tod oder einer Auseinandersetzung wegen), sind vorwiegend emotional und oft sehr berührend; die wirkliche Bitterkeit bewahrt er für die Umstände und sogar das Schicksal auf, die ihm auferlegt wurden: «Dies FastGelingen ist typisch für mein ganzes Berufsleben und drückt sich astrologisch so aus: Jupiter in Konjunktion mit Saturn im fünften Haus» (AJ, 191f.). Rudolph, der nach Flockinas Tod zuerst nach London und dann nach Santa Barbara zurückkehrte, erlebte noch vieles mehr: die Veröffentlichung seiner eigenen Memoiren (1993), den Erwerb seiner gesamten Korrespondenz durch das Exilarchiv der Deutschen Bibliothek (1996), das Erscheinen mehrerer seiner Aufzeichnungen und Essays über deutsche Bekannte (Horvath, Pabst, Zuckmayer, Erna Pinner). Alle seine Schriften zielen darauf hin, ihm und seinem Bruder die Anerkennung zu verschaffen, daß sie nicht nur «dabei» waren, sondern auch mitwirkten. In ihrem Ton, der manchmal ein wenig hochmütig, manchmal etwas verärgert klingt, weisen die Texte immer stolz auf seine und Albrechts großen Erfolge und ihren Einfluß auf die Produktivität ihrer Freunde hin. Im Text Aus großer Theaterzeit zeigt sich diese Geste am deutlichsten, da die letzten zwanzig Seiten hauptsächlich daraus bestehen, all die «großen Gestalten der zeitgenössischen Literatur» aufzuzählen, die er kannte. Gewiß ist dies einerseits berechtigt, zumal er in der Tat viele angesehene Künstler kannte, doch andererseits betont er die Wichtigkeit dieser Beziehungen auf viel offensichtlichere Weise als Albrecht, der doch immer lieber unsichtbar blieb. In den Schriften werden also durch die jeweiligen Erzählweisen nochmals die persönlichen Unterschiede deutlich, die die Brüder Joseph auszeichneten und sie gleichzeitig miteinander verbanden. Daß Albrecht und Rudolph Joseph dabei waren, im Berlin der zwanziger Jahre und in den Exiljahren danach, kann nun nicht mehr bestritten werden. Jedoch wird auch durch ihre Schriften und ihren Briefwechsel deutlich, daß sie nicht nur ihres «Dabeiseins» wegen gelesen werden sollten, sondern auch um des Unsichtbaren willen, das die Geschichte sonst als «Niemand» bezeichnen dürfte.

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L.R., besten Dank für den langen Brief über den «Weinberg». Deine Erinnerung ist so viel korrekter als meine, ich hatte die meisten Umstände, die ich durch Dich ja schon kannte, vernebelt und finde nun, mehr als je, daß Du Deine Erinnerungen aufschreiben solltest. Nicht unbedingt zur Veröffentlichung. Was ich aufschreibe, ist ja auch nicht fürs Publikum bestimmt, aber wenn irgendwer sich in der Zukunft für die Theater- und Filmzustände in den berliner zwanziger Jahren interessiert, muß er Quellen haben, und da man uns während unserer Lebenszeit nicht fragt, ist die einzige Möglichkeit, unsern Gesichtspunkt bemerkbar zu machen, das Aufschreiben. Vielleicht wird es nie jemand sehen, aber wenn man Zeit und Konzentration hat, ist es ja eigentlich eine Pflichtsache (27. Nov. 1966).

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Albrecht Joseph, Ein Tisch bei Romanoff's: Vom expressionistischen Theater zur Westemserie (Mönchengladbach: Juni, 1991). Von nun an als AJ mit Seitenzahl zitiert. Rudolph S. Joseph, Aus großer Theaterzeit (Aachen: Alano, 1994). Von nun an als RSJ mit Seitenzahl zitiert. Albrecht Joseph, Der letzte Vorhang. Ubersetzt von Rüdiger Völckers (Bonn: Weidle, 1997). Der größte Teil des Nachlasses von Albrecht und Rudolph Joseph befindet sich im Deutschen Exilarchiv in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt/M. Die Bücher von Albrecht und Rudolph Joseph, die im Alano Verlag und Juni-Verlag erschienen sind, wurden vom Weidle-Verlag übernommen (Information Stefan Weidle). S.a. die Aufsätze von Stefan Weidle; über Albrecht Joseph: «Von Frankfurt nach Hollywood», Journal Frankfurt, Nr. 6, 13.-16. März 1992, S. 38-40; «Albrecht Joseph: Theaterregisseur, Autor, Dreher, Cutter», Juni (Mönchengladbach), Juli 1991, S. 181-182; über Rudolph Joseph: «Ein Mann des Kinos. Rudolph S.Joseph, Gründer des Filmmuseums München», Film-Dienst, Nr. 19, 12. Sept. 1995. «Niemand sagte mir, ich sei zu jung und unerfahren, um die Stelle eines Regisseurs einzunehmen, man konnte mir nur keine konkreten Vorschläge machen, weil man über das Morgen nicht hinaussehen konnte» (AJ, 62). Albrecht zufolge «wuchsen» sie und die anderen jungen Angestellten des Stadttheaters «zu einer Art Familie zusammen, wir aßen und tranken miteinander, redeten ganze Nächte hindurch, wollten so ziemlich alles reformieren, waren politisch derselben Ansicht — linksliberal, dem Kommunismus verständnisvoll geneigt, aber froh, nicht in Rußland leben zu müssen» (AJ, 78). Siehe Liste von den «wichtigsten Inszenierungen, an denen Rudolph S. Joseph beteiligt war» (RSJ, 143-145). Siehe Stefan Weidle, «Nachwort» zu Ein Tisch bei Romanoffs, S. 245. Nach Angaben von Stefan Weidle hat Albrecht drei Dramen von Paul Claudel übersetzt (Der Bürge, Der erniedrigte Vater und Das harte Brot), die 1926-1927 bei Jakob Hegner in Hellerau erschienen sind. Der Name Albrecht Josephs als Übersetzer ist nicht angegeben. Siehe Portraits I: Carl Zuckmayer und Bruno Frank (Aachen: Alano, 1993) und den Brief von Zuckmayer an Albrecht Joseph vom 13. Mai 1935: «Ich wollte nur Theater machen»; DLA, im Marbacher Katalog 49: Carl Zuckmayer, 186.

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In Romanoffs behauptet Albrecht, daß seine erste Frau Lella Simon in einem Wutanfall die Briefe verbrannte (240); am 22. Okt. 1966 aber schrieb er an Rudolph, er habe Zuckmayer alle Briefe zwischen 1938-1965 zurückgegeben. Diese Briefe sind im Zuckmayer-Archiv (DLA) aufbewahrt, und die Veröffentlichung des Briefwechsels ist geplant (Information Stefan Weidle). «Filmarbeit mit G.W. Pabst in Paris», in Wenn wir von gestern reden, sprechen wir über heute und morgen. Festschrift fiir Marta Mierendorffzum 80. Geburtstag. Hrsg. Helmut G. Asper (Berlin: Ed. Sigma Bohn, 1991), S. 105-117; dass. «Mit G.W. Pabst in Paris», in Der andere Pabst: Anmerkungen zur G. W. Pabst Retrospektive der Berliner Filmfestspiele (Berlin: Stiftung deutsche Kinemathek, 1997), S. 155. Albrecht zufolge war Zuckmayer «restlos entzückt» von Rudolph, den er schon seit Jahren sein «Möwchen» nannte, «und berichtete mit ernstlicher Hochachtimg auch über die seriösen Gespräche» (22. Apr. 1935). 1993 erschien ein Teil dieser Arbeit, Porträts I: Carl Zuckmayer und Bruno Frank (Aachen: Alano). Ein Beispiel von diesem Ton ist im 5. Kapitel zu finden: «Ich fühlte mich leer, und wenn ich an den kommenden Abend dachte, sah ich voraus, daß auch er leer sein würde... dies war eine jener Tage, an denen es mir unmöglich war, Verabredungen mit meinen Freunden, männlichen wie weiblichen, zu treffen; an denen es keine Party gab, zu der ich eingeladen war, kein Konzert, kein Stück, keine Oper und keinen Film, die mich interessiert hätten .... Ich konnte ausgehen und allein zu Abend essen, aber ich hatte nicht genug Geld, es festlich zu gestalten, und alles, was meine Mittel erlaubten, reizte mich nicht. Ich hatte an Carla gedacht, aber den Gedanken, sie anzurufen, wieder verworfen...» (62). Siehe das Nachwort von Rüdiger Völckers, S. 258. Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir. Hören der Freundschaft (Frankfurt: S. Fischer, 1994), S. 424. «Was er mir zugeworfen hat ist weniger als ein Trinkgeld. Es ist als ob man einem Arzt, der einem mehrfach das Leben gerettet und keine Rechnung geschickt hat, ein Päckchen Zigaretten schenkt» (20. Nov. 1966). Christian Strasser, Carl Zuckmayer: Deutsche Künstler im Salzburger Exil 1933-1938 (Wien/Köln: Böhlau, 1996), S. 110. In seinem Hinweis auf Albrechts «Erinnerungen» bezieht er sich auf die Portraits statt auf die Autobiographie. Stuttgart: Belser-Verlag, 1975; siehe Stefan Weidles Nachwort zu Romanoffs, S. 245. Anna Mahler — Her Work (London: Phaidon, 1975), ist die englische Fassung, die im selben Jahr wie die deutsche erschien. Siehe ferner Marlene Streeruwitz, Nachwelt (Frankfurt/M: S. Fischer, 1999). Es handelt sich um eine romanhafte Darstellung einer Spurensuche nach Anna Mahler. Albrecht und Rudolph kommen darin unter ihren richtigen Namen vor. Aus dem Nachlaß, unveröffentlichte Schrift «Rudolph S. Joseph» (undatiert). Egon F. Freiheit, «Der Mann, der die meisten Filme sah», Welt am Sonntag, 19. Nov. 1972, S. 33.

HERMANN KESSER JOHANNES F. EVELEIN In seinem Nachwort zu einer 1981 erschienenen Novellensammlung von Hermann Kesser schreibt Thomas Schumann: «Nachdem Expressionismus, Neue Sachlichkeit und die Literatur des Exils wiederentdeckt worden sind, ist es umso unbegreiflicher, daß die überragenden Beiträge, die Hermann Kesser dazu beigesteuert hat, bisher keine Berücksichtigung gefunden haben1.» Schumann betont in seiner Schlußbemerkung, daß es diesen faszinierenden Erzähler der zwanziger Jahre neu zu entdecken gelte, und bezeichnet es geradezu als ein Desiderat der Forschung, Kesser eine eingehendere Studie zu widmen. Diesem anerkennenden Urteil über Kesser als Erzähler fügt Werner Mittenzwei das Lob des Dramatikers Kesser hinzu: Kesser blieb jedoch «eine weitere Entwicklung und nachhaltige Wirkung versagt. Nach einem bemerkenswerten Erfolg als Dramatiker wurde er völlig vergessen»2. Hermann Kesser wurde am 4. August 1880 in München als Sohn eines Verlegers und Kunsthändlers geboren3. Nach Abbruch seines Ingenieurstudiums wechselte er zum Studium der Kunstgeschichte und physiologischen Psychologie über, um 1903 an der Universität Zürich mit einer Arbeit Der assoziative Faktor im ästhetischen Eindruck den Doktorgrad zu erlangen. Gleich nach seinem Studium wurde er als Dozent für Musikgeschichte und Musikästhetik am Zürcher Konservatorium angestellt, doch wandte Kesser sich bereits nach einigen Jahren dem Journalismus zu, der auch in seiner späteren literarischen Laufbahn einen bestimmenden Einfluß hatte. Er war als Korrespondent mehrerer wichtiger Blätter, darunter die Kölner Zeitung, tätig, bis er sich 1913 weitgehend vom Journalismus verabschiedete und in Zürich, Rom, Wiesbaden und Berlin seiner schriftstellerischen Arbeit nachging. Kesser, engagierter Fürsprecher der französisch-deutschen Verbrüderung nach dem Ersten Weltkrieg, wurde 1931 von der französischen Regierung zu Gastvorlesungen über das historische und politische Drama an die Sorbonne und die Straßburger Universität eingeladen. 1933, noch vor Hitlers Berufung zum Reichskanzler, entschloß sich Kesser, Deutschland zu verlassen und übersiedelte nach Zürich. Dort wurde ihm ohne größere Schwierigkeiten bereits 1934, da er als Student, Journalist und Schriftsteller schon langjährig in der Schweiz wohnhaft gewesen war, das Schweizer Bürgerrecht verliehen4. Anfang 1939 unternahm Kesser als Delegierter des Schweizer PENClubs eine Reise nach New York, von der er erst sieben Jahre später zurückkehren würde. Zusammen mit seiner Frau Marlene Kesser, geb. Stettiner, verbrachte er die Kriegsjahre in New York, wo er freundschaftliche Beziehungen zu einer Gruppe deutscher Exilanten knüpfte, unter denen sich auch Erwin Piscator und George Grosz befanden. Bald nach Kriegsende kehrte er mit seiner Frau in die

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Schweiz zurück, wo er sich in Basel niederließ. Unmittelbar nach seiner Ankunft erkrankte er infolge der anstrengenden Reise. Gesundheitlich schon seit längerem nicht mehr auf der Höhe seiner Kräfte starb Hermann Kesser am 5. April 1952 nach schwerer Krankheit in seinem Wohnsitz in Basel. Äußerste Sorgfalt in der künstlerischen Form und genaue Wortwahl bewirkten, daß Kesser als Autor ein langsamer Arbeiter war. Dennoch zählen zu seinem schriftstellerischen Werk zehn Dramen, ein Dutzend Novellen, zwei Romane und eine Reihe essayistischer Arbeiten, ein Oeuvre, dessen Anfänge neuromantische Stilzüge aufweisen, das aber bald dem Expressionismus verpflichtet wurde, um am Ende eine deutliche Abkehr von expressionistischen Stilmitteln zugunsten der Neuen Sachlichkeit zu manifestieren. Kessers erste Novellen, Der Fremde (1909) und Die Himmelserscheinung (1910), stehen noch in der neuromantischen Tradition, insofern beide in einer zart wehmütigen Sprache mystisch-mysteriöse Ereignisse festzuhalten versuchen. In Der Fremde übernachtet ein mysteriöser Unbekannter in einem abgelegenen Wirtshaus, das, sobald der Reisende dort eingekehrt ist, völlig eingeschneit wird. Infolge der Versorgungsschwierigkeiten nimmt die Gewißheit der Stammgäste zu, der Reisende sei direkt verantworlich für ihre heikle Lage, bis dieser Fremde, nachdem er in einem Glücksspiel dem mitspielenden Hauptmann einen erheblichen Gewinn abgenommen hat, sich in eine Schießerei verwickelt und während der Nacht auf mysteriöse Weise mit dem Hauptmann verschwindet. Sobald der Unbekannte das Wirtshaus verlassen hat, läßt der Schneesturm nach. Tags darauf folgen die Wirtshausgäste «den merkwürdig verschlungenen Fußspuren», bis sie den Hauptmann, dem Wahnsinn verfallen, im Walde finden. Kesser veranschaulicht einprägsam, wie das Fremde, das als bedrohlich empfundene Unbekannte, in einer engstirnigen, isolierten Gesellschaft zum Brennpunkt der Angst und folglich des Hasses wird. Dieses fremde Element, der Fremdkörper in einer feindlichen Welt, die zutiefst vom Hauptcharakter empfundene Entfremdung von seiner Umwelt wird zum archimedischen Punkt in den späteren Novellen und Dramen Kessers. An den Erzählungen der nächsten Jahre läßt sich erkennen, daß Kesser vor allem Heinrich von Kleist als seinen literarischen «Ahnherrn» betrachtete. Lukas Langkofler und Das Verbrechen der Elise Geitier (beide 1912) schildern die persönliche Stellungnahme eines Menschen zur allgegenwärtigen Ungerechtigkeit in einer Welt, in der dem Menschen nichts anderes übrigbleibt als durch persönliches Handeln das zerstörte Gleichgewicht wiederherstellen zu versuchen. Unmittelbar vor der Bartholomäusnacht begibt sich der protestantische Augsburger Scholar Lukas Langkofler in der gleichnamigen Erzählung nach Paris, wo er eine religiöse Freizügigkeit zu finden hofft. Doch wird ihm schon bald klar, daß auch hier sich ein Groll gegen die Kalvinisten angesammelt hat und daß das anscheinend progressive Pariser Milieu der herrschenden Korruption verfallen ist: «Es gäbe zur Zeit viele Herren und Hände, viele geheimen Bünde für Mordgerichte, sehr finstere

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Brüderschaften. Die Scholaren sollten das alles gut überlegen»5. Als Lukas erfährt, daß sogar der französische König mehr an einer weltlichen als an der religiösen Freiheit in seinem Land interessiert ist, wächst in ihm die Uberzeugung, daß man sich nur auf die eigene Tatkraft verlassen kann. Mit dem Degen in der Hand wehrt der Protestant sich gegen eine von religiöser Wut geblendete Meute, der ausgestoßene Andersdenkende gegen eine barbarisch handelnde Umwelt. Doch durch die Einsicht in die ihn umringende Barbarei verfällt er selbst dem Wahnsinn: Mit dem Rufe: «Der Teufel ficht für die Ketzer!» drängten die Soldaten aus seiner tödlichen Nähe zurück. So fest saß das Leben in ihm, daß die Hakenschützen mehrmals auf ihn anlegen mußten, bis er endlich mit zerschossener Stirne die Treppe herunterstürzte. So starb im Dunkel des Wahnsinns Lukas Langkofler,

der Scholar (SdMJ, 134). Diese vom neunundzwanzigjährigen Kesser in einer bemerkenswert formvollendeten und kraftvollen Sprache abgefaßte Erzählung wurde von der Kritik sehr positiv aufgenommen, und mancher Kritiker wies Kesser einen berechtigten Platz in den Reihen der deutschen Meistererzähler zu. So urteilte die Süddeutsche Zeitung: «Die Natur redet mit ihrem unbedingten Muss. Das hebt Kesser als ersten in die Reihe der deutschen Erzähler, das gibt seinen Novellen Ewigkeitswert», und die Neue Hamburger Zeitung: «Lukas Langkofler ist die beste historische Novelle, die seit C. F. Meyer bei uns geschrieben wurde». Erkannt wurde Kessers Begabung zur präzisen Zeitschilderung und die ungeheuere Dynamik seiner Erzählweise. Zu dieser, die Handlung vorwärtstreibenden Energie sagte Kesser selbst: «Aus Veranlagung und Neigung suche ich dramatische Epik und aktive Dramatik zu formen, in der jedes Wort vorwärtsgeht. Das Instrument der malenden Zeitlupe ist mir fremd. Ich kann nicht anders, als Menschen und Zustände in eine pausenlos ablaufende Aktion von wenigen Stunden zu drängen. Ich kann meine Menschen nicht einen Augenblick allein lassen. Nur dann, wenn sie ununterbrochen sind, das heißt, nach außen kehren, bringe ich meine Gestalten zur letzten Äußerung ihres Wesens...» (SdMJ, 453). Zu seinen damals bekanntesten Werken zählt die 1917 veröffentlichte Erzählung Die Peitsche, in der er eine exemplarische Probe seines dynamischen Schreibstils lieferte. Den sozial-engagierten Kesser faszinierten die expressionistische Ausdruckskraft und die energische Auflehnung der expressionistischen Avantgarde gegen soziale Ungerechtigkeit. Diese Faszination kommt in Die Peitsche zunächst im expressiven Stil zum Ausdruck, in dem die thematisch dargestellte seelische Unruhe, der anschwellende Zorn des Wagenlenkers Maro, der ihn schließlich zum Peitschenschlag in das Gesicht des römischen Kaisers treibt, sich formal-stilistisch in der Kürze der Sätze und Absätze, in der ekstatischen Ballung und in der Wahl kraftvoller Zeitwörter spiegelt, wodurch die Sprache selbst gleichsam aufgepeitscht wird. Dies illustriert folgender Auszug:

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Hunderttausenden verschlug es den Atem, als er mit einem Ruck die Zügel abschüttelte und frei erhoben mit züngelnder Peitsche im Wagen schwankte. Ein Blitz wie ein Geißelstrick flammte über den Zirkus, als er, lang ausholend vor der Loge des Casars, die Peitschenschnur im Wirbeln auf den blauen Mantel und auf den goldenen Panzer schnellte. Die Tribünen sahen noch, wie er, aus dem Wagen geschleudert, mit fliegenden Armen im Feuerschein durch die Luft schwebte. Dann stürzte, nicht anders als eine Runde gewaltiger Wasserfälle, das entzündete Volk über die krachenden Bänke und fiel in die Logen (SdMJ, 44-45).

Die Verankerung im Expressionismus zeigt sich überdies auch in der Stoffwahl, der ins römische Altertum verlegten Geschichte eines rebellischen Volkshelden, der sich aufgrund persönlicher Erniedrigung als Vertreter eines unterdrückten Volkes gegen das Cäsarentum auflehnt; in dieser Konstellation liegt ein unterschwelliger Verweis auf die repressiven Zustände in der Wilhelminischen Monarchie. Diese Kraftnatur mit der Idee des typisch expressionistischen neuen Menschen gleichzusetzen, läge auf der Hand, doch liegt dem Werdegang zum neuen Menschen ein Bewußtwerdungsprozeß zugrunde, im Verlauf dessen sich der Held der Verbesserungsbedürftigkeit seiner selbst wie auch seiner Umwelt bewußt wird und damit ein Bewußtsein verdeutlicht, das sich letztlich zur Entschlossenheit zur Welterneuerung entwickelt. In Kessers Die Peitsche entfesselt Maro durch den Peitschenschlag den Aufruhr des Volkes, wodurch er zum Katalysator der Handlung im Kampf gegen das unmenschliche Regime wird, doch ist sein Handeln nicht intellektuell begründet, sondern entspringt einer dunklen Irrationalität. Seinem Handeln liegt statt der Einsicht des neuen Menschen in die allgegenwärtige Ungerechtigkeit nunmehr blinde Wut zugrunde. Der selber so engagierte Kesser war ein scharfer Gegner des ästhetisierenden l'art pour Γ art, was von ihm als Literaturbetrachtung abgetan, in der Dichtung zu einem in sich ruhenden Luxusartikel ohne jeglichen sozio-politischen Bezug reduziert wird. Statt einer ins Abstrakte abgehobenen Dichtung fordert Kesser seine Dichterkollegen zum sozialen Engagement auf, und verleiht demnach der Literatur eine außerästhetische, gesellschaftsbezogene und auf Veränderung ausgerichtete Qualität. «Mein Anfang als Dichter», so schreibt Kesser, «ist das soziale Herzklopfen gewesen. Ich wurde ein Parteimann. Ich ergriff die Partei der Menschheit — auch gegen mich selbst». U n d er postuliert weiter: «Der Mensch soll auf Erden wieder in seine Rechte eingesetzt werden!» Es sei die Aufgabe der Literatur, Menschlichkeit zu fordern und — im Einklang mit der expressionistischen O-Mensch-Dichtung — zur Verbrüderung der Menschheit beizutragen. «Die Sprache, die echte und aufrichtige Sprache, ist Ausdruck des Menschlichen», so heißt es im Vorwort zum kurz vor dem Ersten Weltkrieg abgefaßten, doch erst 1917 veröffentlichten Journalistenroman Die Stunde des Martin Jochner. Ein Roman aus der vorletzten Zeit. Kesser schildert eine Großstadt am Vorabend des Ersten Weltkrieges, gemeint ist Berlin, deren Bewohner durch Geldgier, den

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«unbeirrbaren Zielwillen», gelenkt werden. Die Hauptperson Martin Jochner betrachtet diese Welt aus der Perspektive eines Außenseiters, der sich dennoch seines Beteiligtseins an dieser Welt zutiefst bewußt ist: Ich stehe auf der Erde, ich stecke bis an die Ohren in diesem europäischen Festland, ich merke, wie es sich rührt! Kein Stoß, der mir nicht durch Mark und Bein fährt. Ich bin kein Zuschauer, ich muß mitspielen, ob ich will oder nicht! Unter Millionen von Blinden und Tauben muß ich mitspielen ( S d M ] , 142).

Dieses Mitspielen Jochners, was ihn zum gesichtslosen Teilnehmer im teilnahmslosen «Menschenbrunnen» reduziert, entfaltet sich zur kriegsgegnerischen Tatkraft, indem Jochner, während er sich mit persönlichen Fragen auseinandersetzt, mit weit wichtigeren Fragen konfrontiert wird und, von persönlichen Hindernissen befreit, sich in seiner journalistischen Arbeit als Redakteur der «Metropol-Zeitung» der Politik zuwendet. Die von Kesser noch vor dem eigentlichen Kriegsanfang vorausgeahnte Katastrophe wird als unmittelbar erlebte Anschauung beschrieben, und die von einem erschütterten Jochner registrierten Bekenntnisse junger Leute, «es lebe — der Krieg», zeugen von einem weitreichenden Konsens mit der Kriegserklärung. Im Gegensatz dazu gruppiert sich jedoch eine Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen, die ihre geistige und existentielle Notlage durch die Gewißheit ihrer Verbundenheit auszugleichen versuchen. Jochner gibt seine Redakteursstelle auf und verbündet sich mit einem neuen Kreis von Kriegsgegnern: E r spannte die Arme auf. Zum erstenmal in seinem Dasein war er nicht mehr allein. Er war mit denen vereint, die ihm gleich fühlten und hofften. E r war mit denen vereint, die sich nicht unterwarfen.... Und seine so lange dem Licht entrückte Seele begann sich zu heben und stieg ( S d M ] , 295).

Kesser faßt den Kriegsanfang nicht wie eine alles zerstörende Apokalypse auf, sondern beschreibt das bevorstehende Inferno novellenartig als Ereignis, das den persönlichen Wendepunkt im Leben seines Helden darstellt. Beeindruckend ist Kessers dichterische Gestaltung der fieberhaften Kriegsstimmung in der hektischen Großstadt. Sein Roman ist ein fesselndes Dokument der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg: Draußen, in der Stadt, in dieser Stadt, die lebendig geworden war, begab sich etwas, das er noch nicht faßte.... Die Luft bebte. Es war wie ein minutenlanger schweigender Herzschlag. Es war wie die Ankunft einer noch niemals gewesenen erschütternden Bewegung.

Arbeiter liefen mit Frauen und Kindern dahin,

schwärmten in Scharen über die Straßenmitte, füllten den Fahrdamm und den Fußsteig.... Alle hatten das gleiche gespannte und gequälte Gesicht. Alle waren Genossen der gleichen sorgenden Not. Alle hatten die gleiche Stimme, in Schmerz und Blut überschlagende Stimmen (SdMJ, 293).

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Schon bald nach Kriegsanfang 1914 nahm Kesser seinen Wohnsitz in der Schweiz, wo er enge Beziehungen mit den im Exil lebenden deutschen Schriftstellern anknüpfte. Zusammen bildeten sie eine wichtige literarische Antikriegsfront, wobei das Exil, das eine gewisse Distanz zu den Geschehnissen im benachbarten Deutschland mit sich brachte, für Kesser zur Klarheit in seiner Einschätzung der politischen Situation beitrug. In den ersten Monaten des Krieges schrieb er seine erste Monolog-Novelle nieder, die im Juli 1915 unter dem Titel Unteroffizier Hartmann stirbt in der Deutseben Rundschau erstmals abgedruckt und 1916 im Rascher Verlag veröffentlicht wurde. 1917 wandte sich Kesser mit seiner Tragikomödie Summa Summarum erstmals dem Theater zu, wobei er die in den zwanziger Jahren einsetzende Tendenz zur Komödie und Satire vorwegnahm. Kesser, der in Martin Jochner den Weltkrieg voraussieht, stellt in seinem Drama die Novemberrevolution und die herannahende Demaskierung der Reichspolitiker durch die Arbeiterbewegung dar, im Vorgriff auf die politischen Ereignissse, die dann auch eintreten sollten. Diese Fähigkeit, historische Ereignisse vorauszudeuten, erläutert Kesser in der Vorrede zum Essayband Vom Chaos zur Gestaltung (1925): Es war nicht das, was ein Freund von mir einmal «Fernfühlen» genannt hat, sondern eine innere Schlußfolgerung aus sichtbaren äußeren Tatsachen, die nur den freiwilligen Blinden unsichtbar waren, wenn ich ... mein Zeitgefühl in einer Gegenüberstellung

typisch

verharrender

und typisch

vorwärtsdrängender

Menschen zusammenraffte, wobei ich den Zusammenbruch derer, die damals noch die einzigen Machthaber gewesen sind, als gegeben voraussetzte 6 .

Summa Summarum ist eine dramatische Analyse der dialektisch aufeinanderstoßenden gesellschaftlichen Kräfte der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das Drama, das die erstarrte, in ihrer Handlungsfähigkeit gelähmte Aristokratie in ihrem Kampf gegen das tatkräftige und veränderungsbejahende Arbeiter- und Bürgertum darstellt, erschien 1920 im Rowohlt Verlag und wurde in Wiesbaden erstaufgeführt. Im Gegensatz zu vielen Dichtern, die sich anfangs zutiefst dem Expressionismus verwandt fühlten, später aber nur ungern an ihre expressionistische Vergangenheit erinnert wurden, hat Kesser seine Verwurzelung in und seine Bewunderung für die Errungenschaften des literarischen Expressionismus nie geleugnet. Formal betrachtet distanzierte er sich zwar bereits 1917 von ihm, weil er vor allem das Ubermaß an Pathos ablehnte, doch inhaltlich-programmatisch ist auch sein späteres Werk dem Expressionismus verpflichtet, da es den Menschen in seinem innersten Streben und — in gelinderen Tönen — seinen Schrei gegen Ungerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. In einem Rundfunkvortrag von 1930 verteidigt er den geschmähten Expressionismus als «Brücke zur Wahrheit»: «Man sollte sich hüten, den Expressionismus zu entwerten! Er ist... aus dem Weg, den wir gegangen sind, nicht wegzudenken. Aus den Expressionisten, die seinerzeit in

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Gefühlen schwelgten, sind Schriftsteller geworden, die aus ihren Gefühlen die Konsequenzen gezogen haben. Aus denen, die sich seinerzeit gegen Krieg und Massenmord erklärten, sind Denker und Darsteller geworden ...»'. In den folgenden Jahren schrieb Kesser, neben einer Reihe von Essays über Dichtertum, Politik und Journalismus, in ständig weiterer Entfernung vom Expressionismus drei Dramen: Die Brüder. Ein Drama in fünf Akten (1921) zeigt noch eine enge Verknüpfung mit der expressionistischen Symbolik, wie dies aus der Darstellung der Hauptfigur als Erlöser hervorgeht und in der langen Wartezeit als Anspielung auf den Leidensweg Christi gestaltet wird. Überdies weist das dem Drama vorangestellte Motto auf einen im Christentum begründeten idealistischen Wandlungswillen hin: «Zu Gott der Weg wird immer kürzer werden. — Wir kommen an». Doch 1923 nimmt Kessers Ernüchterung nach der expressionistischen Ekstase im Lustspiel Die Reisenden. Eine Komödie in drei Akten groteske Formen an, was Hans-Jörg Knobloch in seiner Studie Das Ende des Expressionismus veranlaßt, das Drama als «eine der witzigsten Expressionismus-Parodien in der nachexpressionistischen Komödienliteratur» zu bezeichnen 8 . Die für die Literatur der zwanziger Jahre so typische Desillusionierung spiegelt sich im pessimistischen Motto dieses Dramas: «Auf! Hinein in den Tag! Es gibt keinen Ausweg». Die Reisenden stellt statt eines erhabenen Weltverbesserers einen geschliffenen Scharlatan dar, der, Caesar genannt, den Gästen in einem eingeschneiten Hotel auf der Zinnoberspitze 9 vorschwindelt, die Welt gehe unten, und deshalb jetzt die Parole vertritt, es sei eine neue Mikrogesellschaft zu etablieren und «jede Vergangenheit und jedes Vorurteil in uns aus[zujtilgen»10. Kesser parodiert durch die Darstellung eines nur leicht getarnten Welterneuerungsschwindels das expressionistische Prophetentum und entlarvt die neue Weltordnung, die häufig im Expressionismus propagiert wurde, die als eine Scheinwelt, indem er einen «Unbekannten» aus der anscheinend untergegangenen Welt auftauchen läßt. In dieser unterhaltsamen Burleske ist aber eine ernsthafte Warnung vor der Beeinflußbarkeit gesamter gesellschaftlicher Kreise enthalten — die Hotelgäste vertreten Adel, Börse, Presse und Wissenschaft — ebenso wie vor dem Bedürfnis nach einem richtungsgebenden, autoritären Führer. Zu den wohl gelungensten literarischen Erfolgen Kessers werden die 1926 veröffentlichten Erzählungen Die Schwester und Straßenmann gerechnet, wobei Die Schwester vor allem als leicht überarbeitetes Hörspiel internationale Anerkennung erlangte. Kesser, der sich bereits 1915 im Schweizer Exil in Unteroffizier Hartmann an der monologischen Form der Erzählung versucht hatte, wählt auch in Die Schwester die Erzählerperspektive einer einzelnen Person, die in ihrer Tätigkeit als Krankenschwester über die Gesundheit eines später auf angeblich ungeklärte Weise verstorbenen Patienten, des von ihr heimlich geliebten Philosophieprofessors Engelbrecht, wacht, aber auch in ihren monologischen Überlegungen jede Veränderung im körperlichen und seelischen Zustand Engelbrechts peinlich genau

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dokumentiert. Ihre Gedanken verdichten sich zu einem Psychogramm, das einerseits subjektiv und einseitig ist, andererseits aufgrund ihres intimen Verhältnisses zum Patienten wichtige Bereiche bloßlegt, die jedem anderen objektiven Beobachter verdeckt bleiben, und damit eine geschickt angelegte Doppelseitigkeit erreicht. Der Leser erfährt den eigentlichen Sachverhalt erst, als die Schwester auf ihrem Wege zum Gericht flüchtig Zeitungsabschnitte zu dem zur Debatte stehenden «Fall Engelbrecht» liest. Die Frage lautet: Hat der einst engagierte, doch zuletzt enttäuschte Philosoph Selbstmord begangen oder ist er umgebracht worden? Die Schwester ist sich ihrer entscheidenden Rolle als Hauptzeugin im gerichtlichen Prozeß bewußt, behauptet deshalb objektiv zu sein, doch gleichzeitig dosiert sie ihre vorhandene Information über den Todesfall Engelbrechts, indem sie aus Liebe zu Engelbrecht dessen Notizheft, in dem er seinen bevorstehenden Selbstmord erklärt, zerreißt. Sie manipuliert die Welt, eben weil es ihre Welt ist, sie radiert ganze Teile aus dem Leben Engelbrechts aus, da sie ihr nicht gefallen. Sogar ihr eigenes — nicht vollzogenes — Todesurteil wird von diesem völlig autonomen Ich selbst ausgesprochen. Die monologische Erzählstrategie ermöglicht dem Leser ein intimes Verhältnis zur Hauptperson: Wenn in ihrem Erfahrungsbereich sich die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt, wird diese perspektivische Einblendung auch vom Leser erfahren. Die Schwester wird zum erzählerischen Seismographen, dessen Aufzeichnungen den einzigen Halt für den Leser zum Verständnis des Geschehens bilden. Die monologische Struktur erweist sich als ein wirkungsvoller Kunstgriff zur Erlangung einer größeren Intimität. Sowohl Die Schwester als auch Der Straßenmann sind ein erschütterndes Zeitdokument zum Leben im Deutschland der Krisenjahre und wurden kurz nach Erscheinen ins Englische und Französische übersetzt. Die Funkfassung der Schwester war außerordentlich erfolgreich und wurde unter dem Titel Schwester Henriette mehrmals in London, später von deutschen Sendern und schließlich in fast ganz Europa ausgestrahlt. 1930 erhielt Kesser den — zum ersten und gleichzeitig zum letzten Mal verliehenen — deutschen Rundfunkpreis, in erster Linie für seine Hörspiele, doch nicht zuletzt auch für die vielen kulturpolitischen Vorträge, die einen politisch engagierten Fürsprecher für eine sozial gerechte Gesellschaft und einen vehementen Gegner des Krieges zeigen. In seinen Hörspielen beschränkt sich Kesser hauptsächlich auf den in Die Schwester erprobten inneren Monolog, während andere Hörspielautoren sich schon bald anderen Techniken wie der erlebten Rede oder dem epischen Präteritum zuwandten. Trotz seiner eher konservativen Ansichten im Hinblick auf die formale Gestaltung des Hörstücks ist Kesser ein Pionier und Vorkämpfer dieser Gattung, die in seinen Worten «eine Großaufnahme des inneren Menschen, der denkt, fühlt und handelt», darstellt. 1979 erlebte Kessers 1931 an der Frankfurter Volksbühne von Fritz Peter Buch uraufgeführtes Schauspiel Rotation. Schauspiel in Szenen eine Neuinszenierung auf

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der Bühne des Oldenburgischen Staatstheaters unter der Leitung Harry Niemanns. Das Drama, dessen Schauplatz «Die Stadt der Millionen» zeigt, ist eine Stellungnahme gegen die Arbeiterausbeutung in der Weimarer Republik der frühen dreißiger Jahre und ein Bekenntnis zur Aktion, wie aus dem Mitteilungsblatt der Volksbühne zu entnehmen ist: «Ich glaube, daß man gut daran tut, die Wahrheit zu sagen: daß man der Zukunft am besten dient, wenn man ins Bewußtsein bringt, wie es gegenwärtig in Wirklichkeit um uns bestellt ist; und daß wir nur dann richtig handeln können, wenn wir vorher richtig gedacht und erkannt haben11.» Dieser geradlinige Prozeß zur Handlungsbereitschaft wird anhand der Mittelpunktfigur Dr. Kellermann, Chefredakteur der von rückwärtsgewandten Kapitalgebern finanzierten Internationalen Metropol-Zeitung, I.M.Z., veranschaulicht. Der zuerst in Interessenverflechtungen verstrickte Geheime Legationsrat sieht vor dem Hintergrund der weitverbreiteten Arbeitslosigkeit die Notwendigkeit einer Änderung des Wirtschaftssystems ein, lehnt sich gegen die reaktionäre Haltung seiner Zeitung auf und geht mit der radikalen Redigierung der nächsten Zeitungsnummer im Sinne einer humaneren Wirtschaftsstruktur zur Aktion über. Der sprunghafte Anstieg der Zeitungsauflage bestätigt die Richtigkeit seines Handelns, doch wird sein Eintreten für die Arbeitergemeinschaft gerade von der Arbeiterpresse als politisch begründeter Trick zur Steigerung der Abonnentenzahlen und damit als eine «durchsichtige Anbiederung zu Geschäftszwecken»12 abgelehnt. Kellermann überwindet den Schock dieser Nachricht nicht und bleibt als gebrochener Mann zurück. Es sollte nicht überraschen, so meint Thomas Schumann in einer Besprechung anläßlich der Oldenburger Aufführung, daß gerade Rotation für eine Neuinszenierung gewählt wurde, da das Stück einprägsam heutige soziale Probleme anspricht: Es ist schon frappierend, wie aktuell dieses Stück weithin geblieben ist, wie wenig sich im Grunde bis heute (abgesehen von der sozialen Lage der Arbeiterschaft) geändert hat: Das krampfhafte Einhalten der Tagesordnung, das Phrasendreschen und permanente Vermeiden von konkreten Lösungsvorschlägen für die Arbeitslosigkeit seitens der wissenschaftlichen Theoretiker...;

der Boulevardstil der

I.M.Z. mit «nischt wie Beine und Busen» (wie ein Metteur der Zeitung einmal sagt) 13 .

In der Inszenierung Herbert Maischs erlebte das Schauspiel 1932 in Mannheim über dreißig Vorhänge. Neben den realistisch dargestellten Arbeiterszenen — die Dialoge sind im Dialekt abgefaßt — fasziniert die offenherzige Kritik am System und das Tempo, mit dem die insgesamt neunzehn Szenen aufeinanderfolgen. Im Schweizer Exil entstanden in den Jahren 1934-1939 einige Aufsätze über Balzac und über Kleists Michael Kohlhaas, ferner die Überarbeitung eines Essays zum hundertundzehnten Todestag Beethovens, Beethoven der Europäer, in dem der ehemalige Musikhistoriker Kesser seine Bewunderung für die Freiheitsbegeisterung

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des romantischen Komponisten kundtut. Doch arbeitete Kesser damals vor allem an seinem historischen Schauspiel zur Geschichte der napoleonischen Zeit, das 1938 unter dem Titel Talleyrand und Napoleon. Dramatische Chronik in Szenen drei Inszenierungen, in Basel, Zürich und Bern, erlebte. Diesem historischen Drama liegt die Kontroverse um das politische Schicksal Talleyrands zugrunde, dessen opportunistische Meinungswechsel neuartig anhand dreier projektierter Zeitungsblätter dargelegt werden: Begleitet von Trauermarsch und Marseillaise wird Talleyrand als Präsident der Nationalversammlung, Freund Dantons und einsichtiger Diplomat gehuldigt, doch geht die Musik während der Projektion des zweiten Zeitungsblatts allmählich in Spottmelodien über und verstärkt die gehässige Schilderung des «größten Schurken der Weltgeschichte, de[s] entlaufene[n] Priester[s] Talleyrand», der sich anschickt, «nach der Hölle zurückzukehren, woher ihn der Satan entsandt hat»14. Das dritte abrollende Zeitungsblatt fordert zur Klärung der Kontroverse auf und leitet somit den Ablauf der folgenden sieben Szenen ein: Noch ehe der Staatsmann, den Goethe den ersten Diplomaten seiner Epoche genannt hat, die Augen geschlossen hat, erheben sich zahlreiche Fragen. Was wollte Talleyrand? War er wirklich ein großer Mann? Was hat ihm Europa zu verdanken? ... Alle Welt möchte jetzt wissen: W E R W A R T A L L E Y R A N D ?

(NuT, 14)

Das als Rückschau komponierte Stück überspannt sechsundvierzig Jahre und setzt sich aus einzelnen Stationen im Leben Talleyrands zusammen, in denen Danton, Napoleon, Montrond und Metternich auftreten. Die Szenenfolge ist nahezu zyklisch, indem die vorletzte Szene mit der ersten identisch ist. Die Schlußszene zeigt Talleyrand als fünfundachtzigjährigen Greis beim Lesen der gegen ihn gerichteten Beschuldigungen in den Zeitungen, während er auf die Sterbesakramente wartet. Die Szene spiegelt synoptisch die in den vorangegangenen Szenen dargestellte politische Laufbahn Talleyrands wider, indem die Kaminwand im Zimmer eine Reihe Gemälde jener Monarchen zeigt, unter denen Talleyrand gedient hat. Dieser rechnet in gespielter Höflichkeit rigoros mit Ludwig XVin., Karl X. und Louis Philippe ab, doch erkennt er in Napoleon den einzigen Fürsten, den er jemals bewundert hat. Seine Liebe erstarrt jedoch zu Haß: Wenden Sie sich nicht ab! — Ich weiß, in Ihrem Schatten ist jeder ein dunkler Mann. Der Ruhm zog allzu hell mit Ihnen dahin. Mir blieben — die Schritte in der Nacht.... Noch Eines sage ich Ihnen zum Abschied: An Ihrer Seite wäre ich mehr als der größte Staatsmann aller Zeiten geworden! Nur ein Teil von mir ist den Menschen zugute gekommen. Daran sind Sie schuld! Dafür hasse ich Sie!

(NuT, 130-131).

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Kesser stellt Talleyrand als Freund des Erneuerers, jedoch als Gegner des fanatischen Welteroberers Napoleon dar, der Tausende von Menschen in den Tod geschickt hat; der Advokat des Teufels, der in den Zeitungen selber als Teufel geschildert wird, lehnt sich letztlich gegen Napoleons Verrat am Leben auf: «Sie wollten das Leben an den Tod verraten! — Das war es, Sire! Und das habe ich zuerst gewußt! Die Menschen wollen LEBEN!» (NuT, 131). Aus dieser Szene geht hervor, daß für Kesser, obgleich er Talleyrand zur Mittelpunktfigur wählt, im Grunde die Welteroberungssucht Napoleons das Hauptthema ist. Anhand der Darstellung von historischen Ereignissen, in deren katastrophalem Ausgang durch seinen maßgeblichen politischen Einfluß und seine diplomatischen Beziehungen die zentrale Figur des Talleyrand verwickelt ist, prangert Kesser indirekt den Größenwahn Hitlers an, dessen Truppen noch im Jahr der Aufführung 1939 in Polen einfallen sollten. Kurz nach Erscheinen von Talleyrand und Napoleon wurde das Drama für eine Erstaufführung in New York ins Englische übersetzt. Kesser, der schon 1937 auf einer Konferenz des PEN-Clubs in Paris seine Wahlheimat, die Schweiz, vertrat, nutzte zu Beginn 1939 die Möglichkeit, einem Kongreß des PEN-Clubs in den USA beizuwohnen, um gleichzeitig die Aufführung seines Stückes miterleben zu können. Der Ausbruch des Weltkrieges veranlaßte ihn, in New York seinen Wohnsitz zu nehmen, wo er während seines fast siebenjährigen Exils — verhältnismäßig kurz im Vergleich zur überwiegenden Mehrheit der Exilschriftsteller in Amerika — mehrere dramatische Pläne ausarbeitete. Seine Bemühungen waren jedoch wenig erfolgreich, nicht zuletzt, da er am Anfang seines amerikanischen Exils bereits im fortgeschrittenen Alter war und sein gesundheitlicher Zustand ihn in seiner Arbeit beeinträchtigte. Kessers Psychiater-Komödie Theorie der Liebe, die im Schauspielhaus Zürich (1942) unter dem Titel Professor Intermann zur Aufführung gelangte, erntete nur schwachen Beifall. Sein Vorhaben, eine Tragikomödie zur nazistischen Katastrophe mit dem Titel Der letzte Tag zu schreiben, wurde trotz umfangreicher Vorarbeiten nie verwirklicht. Fragment blieb auch sein Theaterstück Faber und Marion unterwegs: Schauspiel in sieben Szenen, in dem er dramatisch zu gestalten versuchte, wie ein Wissenschaftler sich von seinen menschenunwürdigenden pharmakologischen Experimenten distanziert und zum Humanitätsverfechter wird. Im Oktober 1945 kehrte Kesser mit seiner Frau auf einem leeren Truppentransporter in die Schweiz zurück, wo er sich, häufig von andauernder Krankheit geplagt, in Basel um die Neuausgabe seiner novellistischen Werke bemühte und sich seiner autobiographischen Arbeit mit dem Titel Chronik von Tag und Nacht widmete. Wie aus dem Manuskript seiner unvollendeten Autobiographie hervorgeht, erhoffte sich Kesser nach den schwierigen Jahren seines Exils eine neue Periode schriftstellerischer Kreativität:

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Seit ich wieder in der Schweiz war, wußte ich, was ich entbehrt und wieder erhalten habe, um verweilen und denken zu können. Um zu verweilen und die Flut der Ideen in Formen hineinzuarbeiten, die man weitergeben darf, sei es in Bemerkungen, sei es in dramatischer Dialogform, muß man sich schon behütet empfinden; gesichert vor allem, was nach Krieg aussieht, vor allem vor den täglichen Gewittern der Nachrichten (o. S.). Seine zunehmend sich verschlechternde Gesundheit verhinderte jedoch die Vollendung seiner literarischen Vorhaben, und als Hermann Kesser am 5. April 1952 starb, war er bereits ein vergessener Dichter.

Anmerkungen 1

2 3

4

5 6 7 8 9 10 11 12 13

Thomas Schumann, «Hermann Kesser». In Bernd Jentzsch (Hrsg.), Das Verbrechen der Elise Geitier und andere Erzählungen (Ölten, Freiburg i. Br.: Walter, 1981), S. 256. Siehe auch die Bibliographie von Charles H. Helmetag, «Hermann Kesser (1880-1952)», in Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. IV: Bibliographien USA. Hrsg. John M. Spalek, Konrad Feilchenfeldt und Sandra H. Hawrylchak (Bern/München: K.G. Saur Verlag, 1994), Teil 2, S. 897-903. Werner Mittenzwei, Kunst und Literatur im Antifaschistischen Exil, 1933-1945 (Frankfurt/M: Roderberg, 1981), II, S. 109. Werner Röder und Herbert Strauss (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 (München/NY/London/Paris: K.G. Saur, 1980), Bd. Π, S. 616. Vgl. Charles Linsmayer, «Hermann Kesser», in Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. Walther Killy (Gütersloh/München: Bertelsmann, 1990), S. 306-307. Röder /Strauss geben 1945 als Jahr der Naturalisation in der Schweiz an; ebda. Hermann Kesser, Die Stunde des Martin Jochner. Erzählungen (Berlin: Rutten & Loening, 1975), S. 52; von nun an im Text als SdMJ mit Seitenzahl zitiert. Vorrede zum Essayband, Vom Chaos zur Gestaltung (Frankfurt/M: Frankfurter Societäts-Druckerei, 1925), S. 10. Zitiert nach Paul Raabe (Hrsg.), Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung (Zürich: Arche, 1987), S. 222. Hans-Jörg Knobloch, Das Ende des Expressionismus. Von der Tragödie zur Komödie (Bern, Frankfurt/M: Herbert Lang, Peter Lang, 1975), S. 189. Vgl. auch das gleichnamige Bühnenmanuskript Zinnoberspitze. Komödie mit Musik in drei Akten; im Nachlaß (DLA, Marbach). Hermann Kesser, Die Reisenden. Eine Komödie in drei Akten (Berlin: E. Rowohlt, 1923), S. 48. Franz Hammer, «Nachwort». In Die Stunde des Martin Jochner, S. 463. Hermann Kesser, Rotation. Schauspiel in Szenen (Berlin: P. Zsolnay, 1931), S. 143. Thomas Schumann, «Die Verflechtungen von Politik, Presse und Wirtschaft. Uber Hermann Kessers Theaterstück ». In Asphaltliteratur: 45 Aufsätze und

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HERMANN KESSER Hinweise zu im Dritten Reich verfemten und verfolgten Autoren (Berlin: K. Guhl, 1983), S. 129. Hermann Kesser, Napoleon und Talleyrand. Dramatische Chronik in Szenen (Zürich: Oprecht, 1938), S. 13; von nun an im Text als NuTmit Seitenzahl zitiert.

RUTH LANDSHOFF-YORCK CHRISTIANE MERKEL Und dann fragte er, ob ich jemals zurückgegangen sei. «Nein», sagte ich.... «Fehlt es dir?» fragte er. «Nein», sagte ich, «Europa ist hin.» «Europa ist hin», sagte er, «mir fehlt es sehr.» In Europa war Krieg1. «Exiled Countess»2, «She flees from Nazi Jew Drive»3, «In Exile»4, «Curious Visitor»5, «Countess writes here»6 — als Ruth Landshoff Gräfin Yorck von Wartenburg, geborene Levy, im März 1937 im Hafen von New York erstmals amerikanischen Boden betritt, kann sie sich über eine schlechte Presse nicht beklagen. Die Meldung ist allerdings klein, ein paar Zeilen nur, nicht mehr als eine Randnotiz, manchmal mit Foto, in immer gleichem Wortlaut wiedergegeben von den mehr oder weniger provinziellen Blättern des amerikanischen Ostens. Eine «echte» europäische Gräfin, Schriftstellerin, Jüdin, auf der Flucht vor einer scheinbar weit entfernten Gefahr — trotzdem kein Material für eine wirkliche Schlagzeile. Noch nicht. Ruth Yorck, wie sie sich fortan nennen wird, hat bereits 1933 Deutschland verlassen. Als Ruth Levy, Tochter eines Ingenieurs und der Opernsängerin Else Landshoff, wurde sie am 7. Januar 1904 in Berlin geboren. Warum und zu welchem Zeitpunkt sie sich entschloß, den Namen ihrer Mutter anzunehmen, bleibt unbekannt. Sie wuchs mit zwei Brüdern als wohlbehütete und geförderte Bürgerstochter auf, besuchte Internat und Lyzeum, nahm Ballettunterricht und spielte schon als Kind Kricket mit den größten Dichtern und Schriftstellern des jungen zwanzigsten Jahrhunderts auf dem Rasen vor dem Haus ihres Onkels, des Verlegers Samuel Fischer. Die meiste Zeit über waren die Kinder in ihrem eigenen Bereich, im Garten, im Spielzimmer, in der Laube hinter der Fliederallee. Nie gesellte sich eines der Kinder zu den Großen, aber häufig entschloß sich einer der erwachsenen Gäste zum Spielen mit uns. Nicht oft waren wir darüber erfreut. Zum Beispiel war Thomas Mann ausgesprochen pompös und unangenehm beim Krockett, wo man sich sowieso leicht zankte. Gerhart Hauptmann war sehr lustig und brachte uns leicht zum Lachen.... Alfred Kerr und Lovis Corinth fanden wir langweilig, und daß Liebermann berlinern durfte, machte uns neidisch. Björn Björnson erzählte keine Märchen. Peter Altenberg machte Tutti Komplimente. Leidenschaftlich geliebt wurde Pimpo, der Whitman-Ubersetzer Hans Reisiger. Hofmannsthal war elegant. Und spielte nicht mit. Wir wurden früh an Berühmtheit gewöhnt.

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Berühmt sein war einfach eine Eigenschaft, wie nett sein oder klug, und eine Tatsache, die nichts an unserem Benehmen änderte 7 .

Im Alter von siebzehn Jahren wurde sie von Friedrich Murnau für eine Nebenrolle in dessen Stummfilmklassiker «Nosferatu» engagiert. Vielleicht trug diese Erfahrung dazu bei, daß sie sich später als Schauspielerin versuchte und nicht studierte, wie ihr Vater es offenbar gern gesehen hätte: Mein Vater war enttäuscht von uns, denn keines seiner Kinder wollte studieren. Sein Lieblingssohn ging nach Amerika, um Kaufmann zu werden. Der jüngere Sohn studierte Musik in Paris. Und das zählte nicht als Studium. U n d seine Tochter reiste nach dem Lyzeum einfach herum 8 .

Nach ihren eigenen Worten bestand Ruth Landshoff die Aufnahmeprüfung bei Max Reinhardt nur wegen der künstlerischen Beziehungen zwischen dem legendären Theaterpädagogen und ihrer bühnenerfahrenen Mutter. Als Mitglied des Reinhardt-Ensembles spielte sie einige Jahre lang Theater, unter anderem auch mit der damals noch unbekannten Marlene Dietrich in Wien. Die junge Ruth Landshoff verkörperte im Berlin der zwanziger Jahre einen neuen Frauentyp: Esprit und Lebenslust und ein geradezu provokatives Selbstbewußtsein. Das Unübliche, Unerhörte empfand sie als gerade angemessen. Sie soll den ersten Bubikopf Berlins getragen haben, «ein vom Glück auserkorenes, exzentrisches Kindgeschöpf, androgyn, von dunkler Schönheit»9. Sie tanzte im Smoking mit Josephine Baker, fuhr Motorrad, ließ sich nackt fotographieren und war eine intime Kennerin der Berliner musischen und literarischen Szene — sie war ein Teil von ihr. Ruth Landshoff fiel in jenen Jahren vor allem durch ihr Außeres auf. Wenn man der Beschreibung Georg Ziviers glauben darf, war sie in jenen Jahren Mythos, Muse und Modell der Berliner Kunstszene: Das schöne Mädchen ... war alles andere als eine «Buhlerin» und hat bewiesen, daß sie mehr zu bieten hatte als exemplarisch schöne Augen und eine Haut wie Alabaster, mehr als nur den erregenden «Mähnenwurf» ihres schwarzen Haares und den Reiz ihrer sportlichen Gliedmaßen. Aber damals, in der Zeit der Hochblüte des «Romanischen» [Cafes] hatte sie es schwer, der geistig interessierte Mensch und der nette Kerl zu bleiben, der sie war, denn sie schien in Idealform alles zu verkörpern, was die Liebessehnsucht sich damals erträumte. Ruth Landshoff wurde gemalt, umworben, geliebt und verhätschelt... 10 .

In diesen Jahren entstand ihre Beziehung zu dem dreißig Jahre älteren Dichter Karl Vollmoeller, eine leidenschaftliche, bewegte und dauerhafte Verbindung, die auch Jahrzehnte später noch weiter bestand. Die Person Vollmöllers taucht unter dem Namen «Peter» in den Briefen und persönlichen Niederschriften der

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Landshoff-Yorck immer wieder auf. In ihren «biographischen Impressionen» beschreibt sie ihn wie folgt: Es hatte mit Peter zu tun und seiner leicht verletzlichen Zwitterstellung in der Literatur. Auf der einen Seite war Karl Vollmoeller der von George entdeckte und gelobte Gedichte- und Dramenschreiber, auf der anderen hatte er sich erlaubt, einen großen Geldverdiener, die Pantomime «Das Mirakel», zu schreiben und sogar Filmmanuskripte.... Einer der ersten, von Stefan George erkannt, es blitzt in dieser langen, glühenden Jugend und sprüht und leuchtet. Was wird daraus werden, wer wird daraus? Stefan George hat irgendwo gedruckt ein Gedicht des ganz jungen Vollmoeller gesehen und ruft ihn zu sich. Dieser ist beglückt, fühlt tief die Auszeichnung, tief auch die Bewunderung für den Meister. Aber der Kreis ist eng, der Kreis ist rund, geschlossen, und er muß ja weiter, viel weiter, auf jeden Fall fort und hinaus {Klatsch, 204 ff.).

Die Verlobung mit Francesco Mendelssohn, wenn sie denn wirklich stattgefunden hat, scheint ebenso wie die Ehe mit David Yorck von Wartenburg im Vergleich zu dieser lebenslangen Beziehung recht unbedeutend. Als die Kinderzeit zu Ende war, hatten Eltern und Onkels aufgehört, die letzte Autorität zu sein. Peter [Karl Vollmöller] übernahm die Leitung meines Lebens. Meine Mutter aber hatte vor einiger Zeit mit Francesco [Mendelssohn] ein Geheimabkommen getroffen, unsere Heirat betreffend, und nahm die PeterAngelegenheit nicht ernst. Sie konnte das abwarten. Peter versuchte, sie mit langstieligem weißem Flieder und Charme zu bestechen. Sie fand trotzdem, daß Cesco und ich im Alter und auch sonst besser zusammenpaßten {Klatsch, 72).

Als Vollmoeller in den vierziger Jahren in den USA als «enemy alien» inhaftiert wird, spricht Ruth ihm in Briefen Mut zu und bemüht sich um seine Freilassung. Nach seinem Tod verwaltet sie seinen literarischen Nachlaß. Als Kolumnistin verschiedener Blätter des Ullstein-Verlags schrieb Ruth in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren Artikel über das gesellschaftliche Leben Berlins, beispielsweise über Charlie Chaplin, den sie anläßlich seines Berlinbesuches im März 1931 betreute. Eine erste Sammlung von Gedichten wurde bereits 1929 unter dem Titel Das wehrhafte Mädchen veröffentlicht. 1930 erschien ihr erster Roman Die Vielen und der Eine. Im selben Jahr fand ihre Heirat mit David Yorck von Wallenburg statt, einem «Jungen mit historischem Namen»11. Außer einem Scheidungsdokument aus dem Jahre 1937 gibt es keinerlei Spuren dieser Ehe in Ruths schriftlichem Nachlaß. Es ist anzunehmen, daß David Yorck von Wartenburg ein Verwandter des Widerstandsaktivisten Peter Yorck von Wartenburg war. In den ersten Jahren ihrer Ehe pendelte Ruth zwischen Frankreich, wo die von ihr sehr verehrte Fürstin Polignac lebte12, Venedig und Berlin. 1933 lagen die

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Druckfahnen zu ihrem zweiten Roman Leben einer Tänzerin bereits vor, als das Buch von den Nationalsozialisten verboten wurde. Ruth verließ daraufhin Deutschland, hielt sich in Frankreich, England und der Schweiz auf. 1937 schließlich emigrierte sie mit Hilfe einer Bürgschaft der amerikanischen Schauspielerin Helen Hayes in die USA. Ruth Yorck's Leben als Emigrantin unterschied sich von dem vieler ihrer Schicksalsgenossinnen und -genossen vor allem dadurch, daß sie von Anfang an darum bemüht war, das Zwanghafte, die Notsituation des Exils umzukehren in eine positive, ja willkommene Erfahrung. Ungleich jenen deutschen Auswanderern der Hitlerzeit, die die Unfreiwilligkeit ihrer Sitation durch bewußte Isolation von Kultur und Bevölkerung des Exillandes zum Ausdruck brachten, stand sie ihrem Gastland mit Offenheit und Dankbarkeit gegenüber. «I can't express my gratitude to you for the privilege of being here in this beautiful country where people are free to believe in the good and in the noble , and where they are free to express what they believe13.» Ihre Rolle als Schriftstellerin und den Grund ihrer Flucht beschrieb Ruth Yorck in diesem Manuskript mit einer bemerkenswert nüchternen Selbsteinschätzung. Sie wußte, daß das Verbot ihrer Bücher zum einen in ihrer jüdischen Herkunft und zum anderen im frivolen Charakter vor allem ihres zweiten Romans Leben einer Tänzerin begründet lag, dessen ungeniert beschriebene Bettszenen von den neuen Hütern der deutschen Kultur allerdings als Affront empfunden werden mußten. Eine politisch-intellektuelle Haltung hatten die ersten Landshoff-Werke bei weitem nicht. Jedoch empfand sie die Schicksalsgemeinschaft mit so bedeutenden Autoren wie Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann und anderen als gewisse Auszeichnung. «Political censorship has silenced many a good voice and I must not be ashamed that mine was silenced too14.» Schon in ihrem Erstlingsroman Die Vielen und der Eine hatte Ruth Yorck mit großer Sympathie die Vereinigten Staaten beschrieben, die sie zu diesem Zeitpunkt noch nie gesehen hatte. Ihre in den ersten Jahren nach der Emigration sehr unkritische Verherrlichimg der Rolle der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg, ihre Funktion als idealistische und gerechte Befreier, verändert sich erst dann, als nach Kriegsende der Zwang zur uneingeschränkten Parteinahme der «gerechten» Sache nicht mehr vorhanden war. Nachdem sie während des Krieges drei Romane, viele Gedichte, Kurzgeschichten und journalistische Arbeiten über Naziherrschaft, Krieg und Widerstand geschrieben hatte, wandte sie sich nun anderen Themen zu. Ruth Yorck gehörte zu den wenigen deutschen Exilautoren in USA, die sich nach ihrer Emigration entschlossen, fortan in englischer Sprache zu schreiben. Die Motive waren vielfältig: Distanzierung von der im Heimatland mißbrauchten Muttersprache, Anerkennung von Kultur und Sprache des Gastlandes, die Bereitschaft zur Integration und schließlich der wohl zwingendste Grund, im Gastland eine Leserschaft zu gewinnen und Geld zu verdienen. Die thematische

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Ausrichtung von Ruth Yorck's während des Krieges erfolgten literarischen und journalistischen Veröffentlichungen deutet zudem darauf hin, daß sie ganz bewußt das amerikanische Publikum ansprechen wollte, um die deutsche und europäische menschliche wie politische Situation in jenen Jahren verständlich zu machen. Der beachtliche Erfolg ihrer Bücher in dieser Zeit spricht dafür, daß sie damit tatsächlich auch das Interesse einer beträchtlichen amerikanischen Leserschaft an den Vorgängen in Europa richtig eingeschätzt hatte. Auffallend ist, daß Ruth Yorck sich hingegen in ihren persönlichen Beziehungen weitgehend von Deutschland gelöst zu haben schien. Kontakte mit anderen deutschen Exilautoren in den USA sind nicht nachweisbar. Um so intensiver pflegte sie den Austausch mit amerikanischen Schriftstellern. Die junge Carson McCullers, die zu dieser Zeit am Anfang ihrer Karriere stand, gehörte ebenso zu ihren neuen Bekannten wie der bereits etablierte Thornton Wilder. In der Absicht, aus der Not eine Tugend zu machen, gelang Ruth Yorck das Leben mit und in der neuen Sprache recht bald, obwohl auch sie den «zweisprachigen Zwiespalt»15 der emigrierten Schriftsteller deutlich empfand. Sie machte es sich zur Aufgabe, ihrer amerikanischen Leserschaft die Verhältnisse in Deutschland und Europa auf eine differenziertere Art und Weise näherzubringen, als man das von der täglichen Kriegsberichterstattung erwarten konnte. Ihre drei von 1939 bis 1945 entstandenen Romane The Man Who Killed Hitler, Sixty To Go und Lili Marlene waren populär und wurden vielfältig rezensiert. Gleichzeitig bemühte Ruth Yorck sich darum, jenes deutsche Volk, das sie in ihren Arbeiten vor allem als Opfer und weniger als Täter darstellte, zum Widerstand gegen die Gewaltherrschaft zu ermutigen. So hatte Ruth Yorck seit Amerikas Kriegseintritt zusammen mit ihrer langjährigen Freundin Eleonora Mendelssohn für das Office of War Information gearbeitet und über amerikanische Radiosender zur deutschen Bevölkerung gesprochen16. Teile ihres dritten Romans Lili Marlene, der im Jahr des Kriegsendes erschien, wurden in den amerikanisch besetzten Zonen Deutschlands im Rahmen eines «Umerziehungsprogramms» gesendet. Nach dem Krieg wurde es stiller um Ruth Yorck. Aus der selbstauferlegten Pflicht entlassen, gegen die Gewaltherrschaft im fernen Europa anzuschreiben und anzusprechen, konnte sich Ruth, die inzwischen auch amerikanische Staatsbürgerin geworden war17, auch in ihrem literarischen Werk mit der amerikanischen Wirklichkeit auseinandersetzen, die sie nun wesentlich differenzierter zu betrachten schien als zuvor. Als Journalistin zog sie in den fünfziger Jahren — selbst überzeuge Antikommunistin — vehement gegen die Hexenjagd McCarthys auf vermeintliche Kommunisten ins Feld18. 1949 erschien ein weiterer Roman: So cold the night, in dem sich Ruth Yorck an die Geschichte eines psychotischen Mörders wagt. Entweder nahm man sie als Chronistin amerikanischer Befindlichkeiten nicht ganz ernst, oder das Thema war ihren Lesern einfach nicht exotisch genug. Jedenfalls hatte die Schriftstellerin, die

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mit der drastischen Schilderung des deutschen Sündenfalls beeindruckte, weniger Erfolg mit der Geschichte des verhaltensgestörten Mörders aus der amerikanischen Gegenwart. Unermüdlich veröffentlichte sie auch weiterhin Short Stories, Gedichte, Dramen, Essays, Artikel, bereiste die Welt und kehrte auch wieder besuchsweise nach Deutschland zurück. Anfang der fünfziger Jahre betrat sie zum ersten Mal wieder deutschen Boden. Aus ihrer Korrespondenz geht hervor, daß sie ein Buch über Deutschland plante, das wohl nie über das Entwurfsstadium hinausgekommen ist. Mitten ins deutsche Wirtschaftswunder geraten, spürte sie die mißtrauischen Ressentiments der «Wir-haben-nichts-gewußt»-Generation gegenüber den heimgekehrten Vertriebenen. Ruth Yorck, die stets ein Leben von der Hand in den Mund führte, mußte sich wie viele andere Emigranten als Drückebergerin beargwöhnen lassen, die dem Krieg und den Entbehrungen entkommen sei und in den USA das süße Leben gesucht hätte. Zwar ließ sich Ruth Yorck in ihrem tapferen Glauben an die Deutschen nicht wirklich beirren, konnte sich jedoch auch nicht zu einer dauerhaften Rückkehr entschließen. Sie beobachtete die deutsche politische und gesellschaftliche Entwicklung, die Literatur- und Kunstszene, verfolgte die frühen Jahre der Gruppe 47 und die Literatur der DDR, sondierte wohl auch das Terrain für ihr eigenes literarisches Comeback im Land ihrer Muttersprache. Leben konnte sie jedoch in Deutschland nicht mehr. Wenn man hier nach Deutschland kommt, so gibt es wohl Leute, die von einer schrecklichen Zeit erzählen wollen, von Verlust und von Angst und von Bomben, von Zerstörung und Unglück und plötzlichem Tode. Sie erzählen das, als seien es Neuigkeiten für uns. Sie erzählen das, als sagten sie: Na, ihr hattet es ja gut und sicher ... Wir hatten es also gut und sicher, und von den Dingen [!] die ich aufzählte [!] hatten wir allerdings die Bomben nicht im Land. Unsere Häuser waren ja schon vorher und ohne jeden Lärm vernichtet worden. Aber Kummer soll man nicht vergleichen wollen... 19 .

Nicht nur die latenten Vorwürfe bereiteten ihr Unbehagen, das deutsche «Wesen» selbst war ihr fremd geworden: Die Deutschen machen mir ansonsten weiterhin angst [!]. Gestern beim Schulfreund einem guten Stück dem nur der Dichterhauch eines Kleistbrecht fehlt gingen die Leut in der Pause nein sie wandelten in einer Richtung auf dem Hof in Pärchen Grüppchen. Nicht ein Grüppchen blieb plaudernd stehen nicht ein Pärchen ging schneller oder gegen die Richtung ein Weg um eine Rasenfläche sie gingen wie G E F A N G E N E verdammt noch mal 20 .

Immerhin erinnerte man sich der emigrierten Ruth Yorck, die in Deutschland als Autorin nie eine nennenswerte Rolle gespielt hatte, in erlauchten Kreisen der zeitgenössischen deutschen Literaturszene durchaus. Alfred Andersch und Hans

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Magnus Enzensberger unterstützten ihre ersten Gehversuche als Schriftstellerin in Deutschland. Andersch — guter Freund und literarischer Mäzen — war von Ruths literarischem Talent überzeugt und erhoffte sich von ihrem unkonventionellen, experimentellen Stil eine Belebung der deutschen Literaturszene. Er versuchte, die deutsche Ubersetzung ihres Romans «Hell Lasts a Long Long Time», der in den fünfziger Jahren entstanden sein muß, bei einem deutschen Verlag unterzubringen: Daß Ihr Roman noch immer unentschieden bei Dr. Schonauer im Luchterhandverlag liegt, ärgert mich, ich kann gar nicht sagen, wie. Schonauer, einer meiner besten Freunde, scheint in seinem Denken nicht die Hürden der Amerikanismen in Ihrem Deutsch nehmen zu können, die im Deutsch in der Tat obenhin betrachtet als Schlampigkeiten erscheinen können, in Wirklichkeit sehr reizvoll sind, selbstverständlich aber einer sehr vorsichtigen und minutiösen Redaktion bedürfen.... Das Buch muß unbedingt heraus. In der Wüste aus Langeweile, die momentan von unseren jungen Autoren verbreitet wird, wäre das Buch eine Oase 21 .

Andersch wurde der Herausgeber eines im «Studio Frankfurt» zusammengestellten Kurzgeschichtenbandes Das Ungeheuer Zärtlichkeit von Ruth LandshoffYorck. Die Texte sind aus dem englischen Original ins Deutsche übertragen, und hier wird der markante literarische Stil der Ruth Yorck besonders deutlich. Enzensberger nimmt als junger Lektor des Frankfurter Suhrkamp-Verlags mit Ruth Yorck Kontakt auf, als der Verlag die Herausgabe der deutschen Ubersetzung ihres Romanmanuskripts «Hell lasts a long, long time» erwägt. ...erst neulich las ich eine gescheite und amüsante Geschichte von Ihnen, die im Frühjahrsheft der Botteghe Oscure erscheinen wird ... als ich heute mit A. [Andersch] telephonierte, erzählte er mir, daß Sie ein Romanmanuskript abgeschlossen haben.... Ich schreibe Ihnen also heute, um Ihnen mein und das Interesse des Verlages für Ihre Arbeit zu erklären...22.

Die letzten Lebensjahre der Ruth Yorck sind geprägt vom ständigen Ringen um künstlerische Anerkennung beim sogenannten zahlenden Publikums, vom Kampf gegen die Depression und gegen ständigen Geldmangel. Der Ton ihrer Briefe ist meist optimistisch, von kindlichem Charme und einer bestechenden Gabe zur Selbstironie, immer häufiger jedoch gefärbt von Resignation, Schwäche und Apathie. Die Korrespondenz mit ihrem Berliner Anwalt, der Ruths Ansprüche auf Wiedergutmachung für durch die Flucht verlorene Sachwerte und erlittene körperliche und psychische Schäden durchsetzen sollte, gibt Aufschluß darüber, wie wenig Bezug sie zu ihren materiellen Lebensgrundlagen hatte 23 . Ruth sollte ihre Einkommensverhältnisse darlegen, aber sie hatte nie Buch geführt. Sie hatte nie regelmäßig verdient, war immer auf die Hilfe von Freunden angewiesen. Der Notar bemüht sich verzweifelt um sachliche Angaben, Ruth antwortet ebenso

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verzweifelt und auch enttäuscht über die bürokratischen Fallstricke. Ihre manischdepressiven Zustände werden nicht als Folgen der Flucht anerkannt und schlagen somit nicht als Berechnungsgrundlage für eine Wiedergutmachungsrente zu Buche. Aufgrund ihres Asthmaleidens wurde Ruth Yorck bereits im Mai 1956 eine monatliche Rente von 237 DM rückwirkend für dreiundsechzig Monate zuerkannt. Darüberhinaus erhielt sie eine Kapitalentschädigung. Insgesamt wurden Ruth Yorck mehr als 30.000 DM ausbezahlt. Als Autorin arbeitete sie in nahezu jedem Genre: Short Stories, Gedichte, Theaterstücke und schließlich auch Hör- und Fernsehspiele. Sie gehörte zu den ungekrönten Königinnen der New Yorker Theater-Subkultur. Die Off-offBroadway-Szene war indes nicht nur ein Gegenentwurf zum etablierten Theaterbusiness. Eine Landshoff-Yorck mit ihrem nonkonformistischen, gern etwas provokativen Kunstverständnis paßte dorthin wesentlich besser als in die heiligen Hallen des Bildungsbürgertums. Im legendären Cafe «La Mama», einem jener experimentellen, improvisierten Theater New Yorks, die jungen Autoren, Schauspielern und Regisseuren Gelegenheit geben wollten, sich und ihr Publikum auszuprobieren, wurden ihre Stücke häufig gespielt. Es waren meist Einakter, in denen sich Ruth Yorck mit Konflikten und Randgruppen der modernen amerikanischen Gesellschaft auseinandersetzte: mit jugendlichen Gangs, Todesstrafe und Homosexualität. «The difference between Off Broadway and Off Off Broadway», says Ross Wetzstein, another Village Voice critic, «is the difference between an organization like Americans for Democratic Action and the N e w Left principle of , the one trying to improve the Establishment, the other trying to replace or at least to exist outside of it» 24 .

In diesem Umfeld des Experimentellen, des Entwurfs, der sich selbst negiert, sobald er sich als Gedanke und als Kunstauffassimg etabliert, hat Ruth Yorck eine geistige Heimat gefunden, die ihrer Persönlichkeit in hohem Maße entsprach. Die Bedeutung des «La Mama» für sie, aber auch der Stellenwert Ruth Yorcks im Kreis der dort beheimateten Autoren, manifestierte sich in einer besonderen Würdigung ein Jahr nach ihrem Tod. Ein Zyklus von neun Theaterstücken wurde unter dem Titel «Ruth Yorck's Golden Series» an ihrem ersten Todestag eröffnet. Die Autoren — Kollegen und Freunde der Yorck — wie auch «La Mama» selbst, Ruths langjährige Freundin Ellen Stewart, würdigten damit Ruth Yorcks Engagement und Loyalität für die Ziele des «Off-Off-Broadway». Sie gehörte zu jenen Persönlichkeiten, die den Charakter des New Yorker Künstlerviertels Greenwich Village geprägt haben. While it may be too early to celebrate saints, martyrs or even singular ladies of N e w Bohemia, Ruth Yorck's total commitment to the avantgarde at its most

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Christiane Merkel creative and dynamic, deserves to be remembered.... When she died, she was neither rich nor as shocking beautiful as she had once been. In New York, she lived modestly, and enjoyed the friendship of young playwrights, artists, film makers and poets of the Village — East and West. Her alliance with New Bohemia was manifested in her plays which were frequently performed at Cafe La Mama and the Caffe Cino — and in her general moral support of all things experimental.... She was a loyal supporter of the aims of Off-Off Broadway and gave unsparingly of her time and energy to Ellen Stewart and La Mama during its crisis-filled beginning. And she was helpful to the young playwrights, actors all of whom responded to her quick intelligence, wisdom and warmth25.

Als Schauspielerin hatte Ruth Landshoff-Yorck ihr Künstlerleben begonnen und in der Arbeit als Autorin für das experimentelle Theater hatte sie schließlich ihr Lebensziel gefunden. Bei einer Aufführung von Marat/De Sade starb sie im Januar 1966 an Herzversagen. Aber wenn nachher beim reden Meine kleine Stimme ganz weiß wird Wenn mein mund eng wird beim reden und keiner mich hört Sagen die mädchen der Stadt: «Sulamith schweigt» {Sulamith, 1932)

Anmerkungen 1

Ruth Landshoff-Yorck [RLY], Klatsch, Ruhm und kleine Feuer. Biographische Impressionen (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1963), S. 194; von nun an als Klatsch mit Seitenzahl zitiert. 2 U.a. in Times Union (Brooklyn, NY), 20. März 1937. 3 U.a. in Times (Raleigh, NC), 19. März 1937. 4 Times Union (Albany, NY), 18. März 1937. 5 Mirror (NY), 18. März 1937. 6 Record (Boston, ΜΑ), 19. März 1937. 7 «S. Fischer», in Klatsch, S. 68. 8 «Der einzige Sohn seiner Mutter», in Klatsch, S. 60. Erstabdruck des englischen Originals unter dem Titel «His Mother's Only Son», Tomorrow (Dez. 1942), S. 45-49; deutscher Erstabdruck in Frankfurter Hefte, XI (1956), S. 268-276. 9 Anna Rheinsberg, «Ruth Landshoff», in Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein. Lyrikerinnen der zwanziger Jahre. Gedichte und Porträts (Mannheim: Persona Verlag, 1993), S. 88. 10 Georg Zivier, Das Romanische Cafe. Erscheinungen und Randerscheinungen rund um die Gedächtniskirche (Berlin: Haude & Spenersche, cl965, 1968), S. 79.

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11 RLY, «Der einzige Sohn seiner Mutter», in Klatsch, S. 61. 12 RLY hat der Polignac in ihren «biographischen Impressionen» ein literarisches Porträt gewidmet unter dem Titel «Liebe zu einer alten Frau», in Klatsch, S. 145-154. 13 Unbetiteltes und undatiertes Manuskript, überschrieben mit der Adresse «Orthopaedie Hospital; 2400 S. Florer Pr 3311»; Nachlaß Ruth Yorck, Mugar Memorial Library, Boston University, Abt. Special Collections: Box 40/5. 14 Ebda. 15 RLY, «Der zweisprachige Zwiespalt». Manuskript; Nachlaß Ruth Yorck, Mugar Memorial Library, Boston University, Special Collections, Box 41/2. 16 RLY, «Früher, Dazwischen, Heute». Typoskript; Nachlaß Ruth Yorck, Mugar Memorial Library, Box 8, Folder Articles 62-90, Nr. 86. Veröffentlichung nicht nachgewiesen. 17 Hinweis auf Prüfung zur «citizenship». 18 RLY, «Ganz deutlich kleine Hörner», FH, IX (1954), S. 568-570. 19 RLY, «Früher, Dazwischen, Heute». Typoskript aus dem Nachlaß. 20 RLY, Brief an Unbekannt vom 17. Apr. 1959, überschrieben «Blaues Hause» [München, d. Verf.]; Nachlaß, Box 22. 21 Brief von Alfred Andersch an RLY vom 12. Sept. 1961; Nachlaß, Box 22. 22 Brief von Enzensberger an RLY vom 5. Feb. 1960; Nachlaß Ruth Yorck. Bei der erwähnten «Geschichte» handelt es sich um die «Georgenlegende», eine Ubersetzung des amerikanischen Originals «Hi George». Was das Romanmanuskript «Hell lasts a long long time» angeht, so ist weder eine amerikanische noch eine deutsche Veröffentlichung nachgewiesen. In einem Brief von James F. Seligman an RLY wird allerdings auf einen Brief RLYs Bezug genommen, in dem sie eine Publikation des Werks bei Kiepenheurer und Witsch erwähnt habe. Nachfragen bei dem Kölner Verlag konnten dies jedoch nicht bestätigen. 23 Briefwechsel mit dem Berliner Notar Dr. Max Baum zwischen 1958 und 1960; Nachlaß Box 20. 24 John Gruen, «The Pop Scene. Series of 9 Plays Commemorates A Singular Lady of New Bohemia», World Journal Tribune (NY), 19. Jan. 1967; Nachlaß Ruth Yorck, Box 49. 25 Ebda.

VALERIU MARCU ANDREI CORBEA-HOISIE Ob Valeriu Marcu, trotz seines rumänisch klingenden Namens, ein deutscher Schriftsteller war, kann heute in Hinblick auf sein Werk nicht bezweifelt werden1. Mehr als ein Dutzend Bücher, die in deutscher Sprache verfaßt und von deutsch(sprachig)en Verlagen (darunter Neuer Deutscher Verlag, Hoffmann & Campe, S. Fischer, Gustav Kiepenheuer, Paul List, Querido, Allert de Lange) veröffentlicht wurden, eine große Anzahl von Aufsätzen und Essays in verschiedenen Publikationen — darunter solche, die zwischen 1920 und 1940 für die Herausbildung der öffentlichen Meinung im deutschen Sprachraum mitbestimmend waren (ζ. B. Das Tagebuch, Die Weltbühne, Die Neue Rundschau, Die literarische Welt, oder im Exil Das Neue Tagebuch) — , die von namhaften Kritikern (Paul Levi, Joseph Roth, Ludwig Marcuse, Willy Haas, Kurt Kersten, Axel Eggebrecht, Rudolf Olden u. a.) gezeichneten Kommentare und Rezensionen seiner Schriften, und nicht zuletzt die Übersetzungen seiner Bücher in den USA, England, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Argentinien oder Polen zeugen von einer unverleugbaren Zugehörigkeit zum deutschen Literaturfeld der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, einschließlich zur Literaturlandschaft des deutschen Exils nach 19332, die übrigens die regelmäßige Führung seines Namens in Kürschners Deutschem Literaturkalender zwischen 1928 und 1933 institutionell nur bestätigen konnte. Die relative Vergessenheit, in die der Autor und sein Werk nach dem Zweiten Weltkrieg gerade in der (west- und ostdeutschen Öffentlichkeit geraten sind3, war die Folge einer Reihe soziopolitischer Umstände, die allgemein die Reintegration der Exilliteraten in die ehemalige, jetzt geteilte Heimat bedingten4. In seinem Fall trug dazu auch die Tatsache bei, daß er schon 1942 starb, zu früh, um seine Projekte für die Zeit «nach dem Sieg» verwirklichen zu können. Trotz der gelegentlichen Erwähnung Marcus in verschiedenen in den letzten Jahrzehnten erschienenen Memoiren-Bänden, wobei die Wärme, mit der ihn Ernst Jünger evoziert, nicht unbemerkt blieb5, hat das Interesse der deutschen Öffentlichkeit, besonders der Fachkreise, für Valeriu Marcus Werk erst in den letzten Jahren langsam zugenommen, was in erster Reihe der vorsichtigen, aber zugleich mutigen Initiative des Münchner Verlegers Axel Matthes zu verdanken ist6. Valeriu Marcu wurde als Kind einer assimilierten jüdischen Familie am 8. März 1899 in Bukarest geboren. Der Vater Samuel Marcu, Sohn eines Jassyer Schneiders, konnte durch die Bemühungen seiner älteren Geschwister an der Zürcher Technischen Hochschule studieren. Als Diplom-Ingenieur kehrte er nach Rumänien zurück, wo er die Bukarester Filiale der AEG leitete. Die Mutter Anette, geborene

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Krauss, hatte ein Biologiestudium abgeschlossen. Die Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn scheint schon frühzeitig gestört gewesen zu sein — der ständig offen ausgetragene Konflikt zwischen der positivistischen Autorität des Ingenieurs Marcu, der wohl nur auf den Anstand einer gesicherten bürgerlichen Existenz bedacht war, und dem zur Unabhängigkeit drängenden Temperament des Jungen war ein mitentscheidender Grund für dessen Entschluß, seinem eigenen Lebensweg zu folgen. Das Zusammenleben war schnell unmöglich geworden, so daß Valeriu Marcu sofort nach dem Abschluß der Grundschule in ein Wiener Internat gesteckt wurde. 1915 schickte ihn die k. u. k. Polizei schleunigst nach Bukarest zurück: Es wurde ihm vorgeworfen, Mauern mit der Losung Vive la France! beschriftet zu haben. Sein altersbedingtes stürmisch-romantisches Temperament sowie intensive Lektüreerlebnisse bewirkten eine frühe radikale Entscheidung, ungeachtet aller daraus erwachsenden Schwierigkeiten. In Wien, wo er vermutlich schon Joseph Roth kennenlernte, knüpfte er erste Kontakte zu linksradikalen Kreisen, in Bukarest wurden diese Verbindungen intensiviert. Valeriu Marcu wurde vom sozialdemokratischen Parteiführer Cristian Rakovski unterstützt und gefördert; durch ihn lernte er 1913 Trotzki kennen, der sich als Korrespondent einer Kiewer Zeitung in Bukarest aufhielt7, um über den Balkankrieg zu berichten. Zum engsten Bekanntenkreis Marcus, der der rumänischen sozialistischen Jugendbewegung als aktiver Mitkämpfer beitrat, gehörte auch Gheorghe Cristescu, der spätere erste Generalsekretär der Kommunistischen Partei Rumäniens (1921), mit dem er in den bewegten Jahren der Neutralität Rumäniens (1914-1916) des öfteren zusammen verhaftet wurde. Als er 1938 über den von dem Stalinschen Terror verfolgten Rakovski schrieb, kam Valeriu Marcu auch auf die Atmosphäre jener Jahre zu sprechen, als er regelmäßig an den Versammlungen und Demonstrationen der Sozialisten teilgenommen und zusammen mit Gleichgesinnten — u. a. auch Panait Istrati — in endlosen Diskussionen die zukünftige Revolution geplant hatte8. Die verzweifelte Familie schickte ihn nach Zürich, wo der Vater noch viele Bekannte hatte; dort sollte Valeriu Marcu sich zum Abitur stellen. Mit einem Empfehlungsschreiben Rakovskis ausgerüstet, nahm jedoch Marcu Verbindung zu Kreisen der jungen Sozialisten auf, erbitterten Gegnern des Weltkrieges und der offiziellen sozialdemokratischen Führung der Zweiten Internationale. Die jungen Leute gaben eine später berühmt gewordene Zeitschrift, die Jugend-Internationale, (zu deren damaligen Mitarbeitern Wladimir Lenin, Leo Trotzki, Karl Liebknecht, Grigorij Sinowjew, Karl Radek, Alexandra Kollontai u. a. zählten) unter der Leitung von Willi Münzenberg heraus, der sich später erinnerte: «Wir glaubten schon fixe Kerle zu sein, aber Marcu überraschte uns durch seine Lebendigkeit und durch die Schnelligkeit, mit der er Probleme erfaßte und löste»9. Am 1. Juni 1916 debütierte Valeriu Marcu in der Zeitschrift mit einem kleinen Aufsatz über die Niederwerfung der Pariser Commune und einem Bericht über die sozialistische Jugendbewegung in Rumänien10. Ein anderer Aufsatz, den er in der Nummer 6

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veröffentlichte, «Zur Taktik der Jugend», lenkte die Aufmerksamkeit Lenins auf sich, der sich damals gerade in Zürich befand. In einem posthum veröffentlichten Fragment11 erinnert sich Marcu an den Augenblick seiner Bekanntschaft mit dem bolschewistischen Führer, in dessen Nähe er sich von nun an aufhält. Marcu lernte auch Martow, Sinowjew, Radek, Paul Levi kennen, prominente Exilierte, an deren Seite er das Studium der marxistischen Literatur vertiefte und sich mit den komplexen ideologischen Problemstellungen, mit der Taktik und Strategie der internationalen Arbeiterbewegung vertraut machte. Seine Begeisterung und Hingabe brachten dem jungen Rumänen das Vertrauen Lenins und seiner engsten Mitarbeiter ein. Er erhielt einen wichtigen Auftrag: Unter dem Vorwand, seinen Wehrdienst bei der rumänischen Armee anzutreten — Rumänien stand seit dem 27. August 1916 an der Seite der Entente im Krieg —, reiste Valeriu Marcu nach Paris, wo er Trotzki traf und dann über England, Norwegen, Schweden und Finnland nach Rußland mit geheimen Botschaften an die illegalen Organisationen der Bolschewiki12 reiste. Die zaristische Polizei verhaftete ihn aber schon in St. Petersburg, und er wurde an der Grenze den rumänischen Behörden übergeben. Wieder verhaftet, wurde er erst nach dem 6. Dezember 1916 befreit, als die deutschen Truppen Bukarest besetzten. Der Jugend-Internationale vom 1. März 1917 kann man entnehmen, daß er sich in Bukarest aufhielt13. Sechs Monate später kann man in derselben Zeitschrift folgende Notiz lesen: «Ein Gruß aus Bukarest übermittelt allen Genossen und Kameraden unser Freund Valeriu Marcu, der dort unter den schwierigsten Verhältnissen sich bemüht, die Reste der sozialdemokratischen Partei und Jugendorganisation zusammenzuhalten»14. Obwohl die Formulierung gewiß eine Uberschätzung seiner Rolle dokumentiert, muß Marcus Auftritt in Bukarest dennoch effektvoll gewesen sein, wenn man bedenkt, daß er im Ausland zu Leuten Kontakt gehabt hatte, die mit dem Sieg der russischen Revolution zu Berühmtheiten geworden waren. Für seine Familie war es zweifellos ein Schock: Einerseits war sie vom Aufschub des Abiturs unangenehm überrascht, andererseits war das Leben eines engagierten sozialistischen Aktivisten in der von den deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen besetzten rumänischen Hauptstadt voller Risiken. Valeriu Marcu hatte sich doch bald einen halb-offiziellen Status geschaffen als ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift Seena, die der Zensur der Besatzungsbehörden unterstand. Diese Publikation, die von Adolphe de Herz und D. Karnabatt geleitet wurde und zu deren Mitarbeitern wichtige Figuren der Bukarester Literatenkreise gehörten, wurde praktisch von einer Gruppe junger, linksorientierter Schriftsteller und Journalisten kontrolliert, der es nicht selten gelungen ist, nonkonformistischsubversives Material in der Zeitschrift unterzubringen. Marcu veröffentlichte regelmäßig vor allem Aufsätze zur deutschen Literatur und Kultur (über Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Frank Wedekind, Heinrich Mann, Hermann Sudermann, Gerhart Hauptmann, Bernhard Kellermann, aber auch über Lessing,

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Goethe, Heine, Storm), die eine bemerkenswerte, für sein damaliges Alter zweifellos ungewöhnliche Gedanken- und Ausdrucksreife belegen. Zur selben Zeit übernahm er, in enger Zusammenarbeit mit den in Bukarest gebliebenen sozialistischen Führern wie Constantin Titel-Petrescu, Gheorghe Cristescu, Al. Constantinescu oder D. Pop den Auftrag, in den Reihen der jungen deutschen und österreichischen Offiziere — er traf hier ehemalige Bekannte aus seiner Wiener Schulzeit wieder — Antikriegspropaganda zu betreiben. Unter dem Einfluß der bolschewistischen Revolution in Rußland verstärkten auch die rumänischen Sozialisten ihre Tätigkeit: Im März 1918 wurden in der Druckerei Bräni§teanu in Bukarest Tausende von Exemplaren eines illegalen, von Valeriu Marcu verfaßten Manifests gedruckt, in welchem zum offenen Kampf gegen die Besatzer aufgerufen wurde15. Die Behörden reagierten mit Haussuchungen und Verhaftungen. Von einem Spitzel verraten, wurde auch Marcu verhaftet, in einen Kellerraum der Militärkommandatur gesperrt und vor ein deutsches Kriegsgericht gestellt. Es scheint, daß öffentliche Proteste16 sowie die Beziehungen des Ingenieurs Marcu in der AEG-Zentrale in Berlin, sogar zu Walter Rathenau selbst, dazu beigetragen hatten, daß das Urteil — Höchststrafe wäre nicht auszuschließen gewesen — milde ausfiel: Valeriu Marcu wurde zur Deportation nach Deutschland verurteilt, zwei seiner Mitstreiter zu je vier Monaten Gefängnis. Ein Militärzug führte den Verurteilten nach Deutschland, wo er in einem Straflager bei Rastatt interniert wurde. Die folgenden Jahre stellten den Höhepunkt einer Entwicklung dar, die Valeriu Marcu später als «meine Parteinahme für Revolution» bezeichnete. Wir treffen ihn an den verschiedensten Schauplätzen an, immer dort, wo es besonders «heiß» zuging. Nach dem Waffenstillstand vom November 1918 reiste er in die Schweiz, um mit seinen Eltern zusammenzukommen: Es war ihr letzter Versuch, ihn zu einem Abschluß seiner Studien zu bewegen. Doch schon zu Beginn des Jahres 1919 war er, wie mehrere Quellen zu berichten wissen17, in Ungarn, wo er an der Seite Bela Kuns kämpfte. Er wurde Mitglied der KPD und gleichzeitig Vertreter der rumänischen sozialistischen Jugend bei der Kommunistischen JugendInternationale, die 1919 in Berlin gegründet wurde18. Seine Erfahrungen aus der Zürcher Zeit sowie die persönlichen Verbindungen zu führenden Bolschewiki hatten zur Folge, daß man den jungen Valeriu Marcu mit immer heikleren Aufgaben beauftragte: So nahm er ζ. B. im November 1919 an der geheimen Konferenz des Komintern-Sekretariats für Westeuropa in Frankfurt am Main zusammen mit Clara Zetkin, Y. S. Reich, Sylvia Pankhurst, Karl Frank und Mieczyslaw Bronski19 teil. Im Januar 1920 war er zusammen mit dem KominternBeauftragten für Deutschland Karl Radek in Berlin-Moabit inhaftiert, wo dieser ihm ein Interview gewährte, das einige Monate später in der Bukarester Zeitung Socialismukrschien2 . In derselben Zeitimg wurden im März 1920 Marcus Berichte aus Milano veröffentlicht21, eindringliche finanzielle Hilferufe an seine Familie in

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Rumänien bezeugen seine vorübergehenden Aufenthalte in Wien. Unter den deutschen kommunistischen Führern fühlte er sich am meisten Paul Levi verbunden, der damals noch Parteivorsitzender war22, dessen Konflikt mit den Vertretern der Komintern sich jedoch schon abzuzeichnen begann. Zum Bruch kam es im März 1921, als Levi der Komintern öffentlich vorwarf, sich auf grobe Weise in die Angelegenheiten der KPD einzumischen. Zu denjenigen, die damals auf der Seite Levis standen, gehörte auch Valeriu Marcu; er setzte sich auch für die Gründung einer neuen Partei (Kommunistische Arbeitergemeinschaft) ein. Seine Situation innerhalb der Führungsspitze der Kommunistischen Jugendinternationale wurde unsicher: Auf dem 2. Kongreß der Internationale in Jena im April 1921 griff er die Tendenz der Komintern an, die Parteipolitik von außen zu steuern23. Es scheint, daß er im selben Jahr auch seine berühmte Reise nach Sowjetrußland unternahm, vielleicht als Teilnehmer an der zweiten Phase desselben Kongresses in Moskau, sicherlich aber einer persönlichen Einladung Lenins Folge leistend, den er bei dieser Gelegenheit wiedersah; auch traf er sich mit Trotzki und Rakovski24. Auch Willi Münzenberg, der Sekretär der Internationale, versuchte — trotz des Druckes, den einige Funktionäre auf ihn ausübten — noch eine Zeitlang mit Valeriu Marcu zusammenzuarbeiten. Bis Juni 1921 zeichnete Marcu Aufsätze in der Zeitschrift Jugend-Internationale25, obwohl er damals schon in Paul Levis Zeitschrift Unser Weg26 veröffentlichte, und im Verlag Junge Garde, einem Sprachrohr der Internationale, erschien mit Münzenbergs Vorwort eine Broschüre mit dem Titel Die weiße und die rote Armee'7. Auf die ausdrückliche Forderung des damaligen Sekretärs des Exekutivkomitees der Internationale, Alfred Kurella, wurde Valeriu Marcu doch endgültig im Sommer 1921 aus der Organisation ausgeschlossen28. Das war gewiß ein äußerst schwieriger Moment im Leben des jungen Kommunisten Valeriu Marcu. Er hatte keinen «bürgerlichen» Beruf erlernt, war mittellos, die Genossen von gestern hatten sich von ihm abgewendet. Er verstand, daß ihm eine einzige Möglichkeit blieb, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten: das Schreiben. Er las viel, schaffte sich Bücher an, reiste — 1922, in den Tagen, als Mussolinis «Marsch nach Rom» stattfand, hielt er sich in Italien auf —, erwog eine Rückkehr nach Rumänien29. Eine wirkliche Unterstützung fand er nur bei Paul Levi und den Freunden aus dessen Kreis: Fritz Schönherr, Bern Meyer und Josef Bornstein sowie bei Willi Münzenberg, der damals schon seinen von der KPD relativ unabhängigen Presse- und Verlagskonzern gegründet hatte. In einer von Münzenberg dirigierten Zeitschrift Sichel und Hammer veröffentlichte Valeriu Marcu30, bis die Komintern erneut intervenierte, um ihn beiseite zu drängen 3 ! Im ebenfalls zu Münzenbergs Konzern gehörenden Neuen Deutschen Verlag erschien ein mit dem Pseudonym Gracchus gezeichneter Essay «Imperialismus und Friede. Raubkrieg und Revolution», und 1925 kamen in der Verlagsreihe «Redner der Revolution» die von ihm edierten Reden Robespierres und Saint-Justs heraus32.

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Von 1924 an arbeitete er regelmäßig für Paul Levis Zeitschrift Sozialistische Politik und Wirtschaft33, nach 1925 Schloß er sich dem Kreis um Willy Haas und der Literarischen Welt34 an, 1926 erscheint sein Name zum ersten Mal in zwei bekannten und verbreiteten Publikationen der linken Intellektuellen: Die Weltbühne35

und Das Tagebuch36, wie auch in anderen, wie Roland, Omnibus, Die neue Bücherschau, Das blaue Heft. Seine publizistischen Arbeiten umfassen einen weitgespannten Bogen: Er veröffentlichte Artikel und Feuilletons zu tagespolitischen Themen, kleine historische Abhandlungen, Porträts bekannter Politiker und Ideologen (Sinowjew, Briand, Caillaux, Maurras, Radek, Rakovski), literaturkritische Essays, Buchrezensionen. Die Radikalität seiner frühen Jahre war etwas abgeschwächt; seinen linksorientierten Uberzeugungen, die mit den eigenen Erlebnissen und der alltäglichen Realität der Komintern-Taktik konfrontiert worden waren, blieb er jedoch treu. Mit der allmählichen Stabilisierung seiner Situation im publizistischen Leben Berlins wurde seine Existenz «bürgerlicher», er rückte von der Boheme ab37. Marcu frequentierte die literarischen Kreise, gehörte zu den Gästen Samuel Fischers38 und Ernst Rowohlts 39 , verfaßte Beiträge für die großen liberalen Tageszeitungen (Vossische Zeitung , Berliner Tageblatt), wurde Mitarbeiter der Neuen Rundschau40, wo viele Größen jener Zeit veröffentlichten, verlangte und erhielt die Naturalisierung als «Preuße». 1930 warf ihm Willi Münzenberg vor, er sei «ein bürgerlicher Schriftsteller geworden, den die Kritiken der Blätter der Grossbourgeoisie ebenso entzücken, wie er sie früher mit uns verspottete» 41 . In der Tat waren seine beiden Porträt- und Essaysammlungen

Schatten der Geschichte42 und Männer und Mächte der Gegenwart3 sowie seine Monographien Lenin. 30 Jabre Rußland 44 und Das große Kommando Scharnhorsts45, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erschienen, vom Publikum und von der Kritik besonders gut aufgenommen worden 46 ; einige von den genannten Titeln sowie seine Studie Die Geburt der Nationen47 wurden nach ihrem Erscheinen in englischer, französischer, italienischer Übersetzung verlegt 48 . Es begann sich jedoch eine große Gefahr abzuzeichnen: der Aufstieg Hitlers, den Marcu schon 1923, nach dem Münchener Putsch als «düstere Perspektive einer kommenden, ungeheuren, blutigen Zeit» voraussah 49 . Nach der NSDAP-Wahlniederlage im Jahre 1928 gehörte er zu denjenigen, die am wenigsten optimistisch waren. Er warnte vor politischer Kurzsichtigkeit und vor der Spaltung der potentiell antifaschistischen Kräfte 50 . Zu jener Zeit, vor allem nach dem Freitod seines Mentors Paul Levi 51 , schwand Marcus Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiterparteien, dem Ansturm des Nationalsozialismus standzuhalten, immer mehr. Es festigte sich seine Uberzeugung, daß eine Lösung nur im Lager der Konservativen zu finden sei, das ihm homogener erschien und stabiler für eine Konfrontation mit dem Rechtsradikalismus. Symptomatisch sind in diesem Sinne seine immer engeren Beziehungen zu Ernst Jünger, Ernst Niekisch, zum General von Seeckt, dem ehemaligen Chef der Reichswehr, zu den katholischen Politikern

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Brüning und Treviranus. In der Atmosphäre der bunt zusammengewürfelten Gesellschaften bei Arnolt Bronnen oder anläßlich von Zusammenkünften in seinem eigenen Haus am Wannsee (wo er nach seiner Heirat mit Eva Gerson, der Tochter eines jüdischen Kaufmanns, wohnte) machte sich Verunsicherung breit, wie auch das Bewußtsein, die katastrophale Entwicklung nicht aufhalten zu können 52 . Ernst Jünger erinnert sich an die Worte Marcus, die dieser während eines Spaziergangs zwischen den Villen von Berlin-Dahlem äußerte: «Wissen möcht ich, wer in zehn Jahren darin wohnt. Andere als heut bestimmt»53. Bald nach der Machtergreifung durch Hitler beschloß das Ehepaar Marcu, Deutschland zu verlassen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Osterreich ließen sich die Marcus in Südfrankreich nieder, in einem Ort neben der spanischen Grenze 54 . Die Antwort der deutschen Behörden ließ nicht lange auf sich warten: Marcus gesamte Bibliothek, einige zehntausend Bände, wurde einfach beschlagnahmt. Der Briefwechsel mit Ernst Jünger vermerkt diese Episode mit dramatischem Hintergrund, die erst nach zahlreichen Interventionen der in Berlin verbliebenen einflußreichen Freunde mit der Rückerstattung eines Großteils der Sammlung ihr Ende fand55. «Das Leben ratenweise zu verlieren, ist ein feiger Zustand. Aber was ist Feigheit und was Hoffnung?» Für den Emigranten Valeriu Marcu blieb die Hoffnung der einzige Lichtblick in einem von verschiedenen Sorgen geprägten Alltag der finanziellen Not, der Enttäuschung und der Unsicherheit. «Durch die Tatsache, daß ich nicht in Deutschland bin, bin ich zu 3/4 besiegt», schrieb er am 24. Januar 1936 an Ernst Jünger, fügt jedoch hinzu: «ich hoffe aber noch während meiner relativen Jugend mit Ihnen Nächte zu zerreden. Ich las noch 1932: Man erlebt alles und das Gegenteil davon». Ein Argument taucht bei Valeriu Marcu immer wieder auf: «Das Schönste, was Deutschland geboren hat, ist und bleibt die . Diese Autonomie hat eine dynamische Kraft, an die Fichte, Hegel und Clausewitz geglaubt haben, und an die ich auch glaube»56. Dieser Glaube sah sich den Nachrichten aus Deutschland gegenübergestellt, die Marcu auf verschiedenen Wegen zu erlangen wußte. Jedes kleine Zeichen von Unzufriedenheit und Widerstand, sorgfältig vermerkt im Briefwechsel mit Gottfried Treviranus, wurde, wenn auch nur zeitweilig, zu einem Quell der Zuversicht. «Der wirkliche Dynamismus wird ja erst beginnen. Und der Dynamismus wird sich ... gegen Hitler wenden. Die Änderung in Deutschland wird kommen, so wahr es ein Deutschland gibt.... Die Änderung wird von sozialen Momenten kommen, die sich wieder mit irgend einem Humanismus binden werden. Hitler ist ein ausgesprochenes Provisorium»57. Die Verbindungen Marcus zu diversen oppositionellen Gruppen und Grüppchen, die im Land geblieben waren, schienen seine politischen Voraussagen — wenigstens vorläufig — zu bestätigen58. Andererseits engagierte sich Marcu für die antihitleristische Kampagne der Opposition im Ausland; zusammen mit Gottfried Treviranus plante er die Herausgabe einer «konservativen» und

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zugleich «eminent revolutionären» Zeitschrift59, er veröffentlichte regelmäßig in Leopold Schwarzschilds Zeitschrift Das Neue Tagebuch60, er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Bunds Freie Presse und Literatur, zusammen mit Alfred Döblin, Klaus Mann, Leopold Schwarzschild, Hermann Kesten, Walter Mehring, Josef Bornstein, er war in der deutschen Sektion des PEN-Clubs aktiv61; vom Widerstand der spanischen Republik gegen den Ansturm des Faschismus beeindruckt — «Spanien ist... die interessanteste Erscheinung im Jahrzehnt. Es ist der Prolog zu einem Weltstück»62 — plante er 1937 eine Spanienreise und eine Zusammenkunft mit dem republikanischen Außenminister Alvarez del Vayo63. Ermüdend und auf die Dauer schädlich waren hingegen die ewigen Konflikte und Zerwürfnisse innerhalb der Emigration. Die Gründe waren manchmal kleinlich — wie im Fall der vorübergehenden Distanzierung von Joseph Roth64 oder des Bruchs mit Alfred Neumann — , in anderen Fällen jedoch lagen dem Konflikt fundamentale politische Differenzen zugrunde. Valeriu Marcu gehört zu jenen, die die Taktik und Strategie der Komintern im Kampf gegen den Faschismus offen in Frage stellten. Die Moskauer Schauprozesse, denen Bekannte aus Marcus Jugendzeit, Bolschewiki der ersten Stunde, zum Opfer gefallen waren, dann der Pakt Ribbentrop-Molotow bestärkten ihn in seiner Weigerung, mit den Verfechtern einer breitangelegten «Volksfront» der Emigranten zusammenzuarbeiten65. Eine Annäherung an Willi Münzenberg beispielweise, in dessen Zeitschrift Die Zukunft er zu veröffentlichen begann, erfolgte erst, nachdem dieser von der Komintern desavouiert worden war 6 . Die Atmosphäre war gespannt, und selbst dauernde Freundschaften — wie jene mit Rene Schickele, Heinrich Mann, Walter Hasenclever, Andre Gide, Andre Malraux — konnten das bedrückende Gefühl der Isolation, unter dem Valeriu Marcu litt, nicht außer Kraft setzen. Die Briefe, die aus jener Zeit erhalten sind, gewähren einen Blick auf die Folgen jenes Gemütszustandes, dessen Einfluß auf die literarische Tätigkeit unmittelbar war: «Die Fronten der Kaffeehaustische haben sich hier verändert...», schrieb Marcu am 27. September 1940 an Hermann Kesten. «Es sind Anekdoten aus dem Irrenhaus»6 . Schon ein knappes Jahr nach seiner Abreise aus Deutschland zeichnete Valeriu Marcu drei bedeutende historische Aufsätze zur Bismarck-Ära in Klaus Manns Exil-Zeitschrift Die Sammlung, im Jahrbuch des Amsterdamer Verlages Allert de Lange69 (neben Bertolt Brecht, Joseph Roth, Max Brod, Rene Schickele, Egon Erwin Kisch, Alfred Polgar, Alfred Neumann u.a.) wie auch in der Bukarester Revista Fundafiilor Regale0. 1934 erschien sein Buch Die Vertreibung der Juden aus Spanien71, das sich großer Beliebtheit erfreut, vor allem durch die Übersetzungen, die der Reihe nach in den USA, England, den Niederlanden und Argentinien erschienen sind72 — wobei er ironisch-verbittert feststellte: «Da der Autor keine Leser hat, denn das Publikum ist zu Hause geblieben und nur die Rezensenten sind ausgewandert, vermag er sich den Luxus zu erlauben, für eine ideale, d. h.

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imaginäre Gemeinde zu schreiben»73. Drei Jahre später brachte Allert de Lange das letzte Buch von Valeriu Marcu heraus: Machiavelli. Die Schule der Macht74, eine Biographie, an der er lange Zeit gearbeitet hatte, unter anderem auch in Italien. Ein Essay über die militärische Kunst von der Antike bis zur Neuzeit, für den er das gesamte Material zusammengetragen hatte und der schon angekündigt war, blieb nur Projekt, ebenso konnte er eine geplante, autobiographisch gefärbte «Geschichte» der europäischen Arbeiterbewegung, Die Legende des Proletariats75, nicht fertigstellen. Es waren überhaupt schlechte Zeiten für die schriftstellerische Produktivität. «Ich versuche, trotz der Ereignisse zu arbeiten, werde aber geschüttelt, wenn ich den Radiokasten öffne»76, schrieb er an Treviranus. Südfrankreich war zu einem zu unsicheren Aufenthaltsort geworden; schon 1939 erwog Marcu einen Umzug nach England77, ein Jahr später begann er den Papierkrieg zur Erlangung eines US-Visums. Nach dem militärischen Zusammenbruch Frankreichs und der Einrichtung der Regierung Petain in Vichy hatte sich die Lage der deutschen Emigranten drastisch verschlechtert. Trotz der Anstrengungen, die Hermann Kesten in den USA unternahm78, war das Visum noch immer nicht da. Von der allgemeinen Panik erfaßt, unternahm auch Valeriu Marcu verzweifelte Versuche zur Lösung seiner Probleme; er verschaffte sich einen honduranischen Paß79 und suchte sogar die Unterstützung rumänischer Diplomaten80. Erst am 15. November 1940 wurde die Familie Marcu vom amerikanischen Konsulat verständigt, daß ihre Einreise in die USA bewilligt wurde. Obwohl diesmal die französischen Behörden Schwierigkeiten machten, kam es am 9. Februar 1941 zur überstürzten Abreise aus Frankreich. Die gesamte Bibliothek wurde Marcus (und zugleich Andre Gides81) Freundin Jane Simone Bussy anvertraut. Der Schwiegervater und der Schwager des Schriftstellers blieben in Nizza zurück — beide sind umgekommen, der erste in den Gaskammern eines KZs, der zweite durch Freitod. Valeriu Marcu, seine Frau Eva und ihre Tochter Monica verließen den europäischen Kontinent über Lissabon am 29. März 194182. Valeriu Marcu ließ sich in New York nieder, wo er sich total entwurzelt fühlte. Es kostete ihn gewaltige Anstrengungen, alte Kontakte wieder anzuknüpfen, vor allem aber mit den Verlegern zu verhandeln. Von den alten Freunden halfen ihm Heinrich Mann83, Hermann Kesten, Fritz Landshoff, Josef Bornstein. Aus Mexico City forderte ihn Egon Erwin Kisch auf, an einer geplanten Emigrantenzeitschrift mitzuarbeiten84. Stufenweise wurde der Zugang zu den amerikanischen Medien gesucht und gefunden: Aufsätze über den Weltkrieg und zur Lage in Europa erschienen in American Mercury, Liberty, Commonweal und die Familie in Rumänien verfolgte seine Kommentare in den deutschsprachigen Sendungen von Voice of America85. Parallel dazu arbeitete er er an den Manuskripten, die er aus Nizza mitgebracht hatte. Am 4. Dezember 1942 starb Valeriu Marcu in der New Yorker Wohnung von Gottfried Treviranus, während er einigen

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Freunden ein kurz vorher abgeschlossenes Kapitel über eine Seeschlacht in der Antike vorlas, an einem Herzinfarkt86. Valeriu Marcus stürmische Existenz, die von Brüchen nicht verschont blieb, sein Lebensweg, der oft verworren verlief und von einem dreifachen Exil ohne Rückkehr geprägt war, kann von seinem Werk nicht getrennt werden. Der Person des Autors war, wie ihn verschiedene Zeitgenossen beschreiben, eine verführerische Ausstrahlung eigen: Marcu war leidenschaftlich bis zur Vehemenz im Einsatz für eine Idee, dabei ein Zyniker; ein Bonvivant, der für seine Liebesaffären bekannt war, und zugleich ein fanatischer Bücherfreund; ein glänzender Weltmann, der in den Berliner Salons immer gern gesehen wurde, und ein geborener Tribun. Sein geheimes Vorbild, mit dessen Biographie er sich gründlich auseinandergesetzt hat, scheint Machiavelli gewesen zu sein — jener Mann, der sich lange in der Nähe der Mächtigsten seines Jahrhunderts aufhielt und der, ungeachtet seiner Leidenschaften, Inkonsequenz und Widersprüche, die Wissenschaft und Kunst der Machtausübung, auf die man seinerzeit sowie in der politischen Konfrontation nicht verzichten konnte, hervorragend verkörperte. Mit diesen Gedanken spielt schon einer von Marcus Rezensenten des Machiavelli-Buches, Rudolf Olden, indem er feststellt, daß «eine seltene Verwandschaft zwischen Held und Autor besteht»87. Marcu selber, von der möglichen Analogie eingenommen, nährte diesen Gedanken durch mehr oder weniger deutliche Anspielungen und Fakten, die ihn seiner Meinung nach dem italienischen Renaissance-Helden annäherten, sowohl auf der Ebene des Geistes als auch auf jener des Schicksals. Jenseits von komödiantenhaften Allüren, von der Effekthascherei, gegen die auch so mancher Zeitgenosse Marcus nicht gefeit war, bleiben einige unzweifelhafte, wesentliche Eigenschaften bestehen, die der Mensch Valeriu Marcu auf sein Werk übertragen hat: die außerordentliche Gründlichkeit dokumentarischer Investigation, die Fähigkeit, von der Analyse zur Synthese vorzudringen, die innere Freiheit von jeglichen Vorurteilen, eine solide Schule der Dialektik, die er sich im Studium der Werke von Hegel, Marx und Lenin erworben hatte, die prophetisch zu nennende Weitsicht seiner Urteile, die von der späteren Entwicklung in den meisten Fällen bestätigt wurden. Dazu kommen die Phantasie und der Skeptizismus, die Ironie und der moralische Anspruch, die Neigung zur Metapher und der spielerische, wache Geist, die Vorliebe für Paradoxa und schockierende Gegensätze, eine provokative Haltung, die gegen alle Klischees gerichtet war. Eine präzisere gattungsmäßige «Einordnung» seines Werkes, das sich jedoch sämtlichen gängigen Etikettierungen entzieht, müßte von allem Anfang vorgenommen werden. Seine großen Biographien (über Lenin, Scharnhorst, Machiavelli), die «Geschichte» der Vertreibung der Juden aus Spanien, die «europäischen Profile» (in Schatten der Geschichte und Männer und Mächte der Gegenwart) können, trotz stilistischer und struktureller «Signale» des Textes, nicht als Literatur im

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engeren Sinne, d. h. Belletristik, angesehen werden, da das Element der Fiktion fehlt; doch ebenso sind Die Geburt der Nationen oder Die Sozialistengesetze im kaiserlichen Deutschland nicht als Geschichtsstudien im eigentlichen Wortsinn zu betrachten, da die Narration, von allen formalen Zwängen befreit, das Dokumentarische aufsaugt und jeden Anspruch auf Systematik zunichte macht. In der literaturgeschichtlichen Perspektive stellt diese Art von «Prosa der offenen Form»88 keinen Einzelfall dar. Bei Marcu liegen ihre Wurzeln in der Tradition des Feuilletons, denn er war in erster Linie Journalist, indem er seine Arbeit den Erfordernissen des Mediums Presse anpaßte und seine Bedingtheit als Zeitungsschreiber reflektierte89. Aufschlußreich ist der Kommentar von Willy Haas zu einem seiner «essayistischen» Sammelbände: «Ganz formvollendet ist er in der Erzählung des Gesehenen, Erlebten, dessen, was ihn persönlich affiziert hat. Deswegen eben nenne ich ihn einen Journalisten, und zwar einen von der besten Art»90. Valeriu Marcu äußerte öffentlich seine Verachtung für eine «Literatur», deren soziales Engagement rein theoretischer und deshalb dogmatischer Natur blieb, und für die «Literaten», die jene Literatur produzierten: «Verschlossen in der Stube ihrer abergläubischen Sicherheit, verzichteten sie darauf, selbständig die Mannigfaltigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen zu sehen. Sie sind stumme Beter vor dem großen Drama der Weltgeschichte, und die fruchtbarste Periode der wirklichen Veränderungen ist die unfruchtbarste in der zustimmenden, begeisterten, sich selbst überschreienden, ohne wirklichen Inhalt dahinsiechenden Literatur»91. Im Gegensatz zu jenen schätzte er Jack London, den Romancier, der nur über das schrieb, was er aus eigener Anschauung kannte92, oder Kurt Tucholsky, dessen Artikel («Ein Sieg über die Maschine, ein Triumph der Qualität», so Marcu)93 ihre eigenen Grenzen überschreiten und dennoch zur Literatur werden. Einige Sätze über Bernard Shaw (dem, neben Anatole France und Heinrich Mann, seine ganze Bewunderung gilt) scheinen Marcus eigenes Programm auszudrücken: «Die Klarheit seiner geschichtlichen Darstellungen wurde schon oft zu einem Argument gegen ihn verwendet. Man wirft dem Historiker und dem Schriftsteller Oberflächlichkeit vor, man behauptet, die Weltereignisse dienten ihm nur zur Fabrikation einiger für die Lachmuskeln und für den Kassenerfolg konstruierter Komödien.... Der leichte, elegante, flüssige Stil soll eine oberflächliche Gesinnung verraten! Die Männer dieser Argumentation finden nur dann , wenn sie sich bei der Lektüre langweilen und wenn die von ihnen verehrten Literaten das Geheimnis einiger Auserwählter bleiben»94. Es wurde Valeriu Marcu des öfteren vorgeworfen, daß «seine Historie ... ein Mosaik aus Akten, Porträts und Reflektionen», daß «durch den ständigen Wechsel der Perspektiven ... jede Bild-Illusion in dem die Details zum Schein einer Einheit zusammengehen könnten, ausgeschlossen» sei95, während weniger wohlwollende Rezensenten sich nicht scheuten, der von Marcu vertretenen «feuilletonistischen Geschichtsauffassung» die bewußte Manipulation des Sensationellen vorzuhalten96. Gerade die Lesbarkeit seiner Bücher, die

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keinesfalls mit gewissen «kulinaristischen» Rezepten zu verwechseln war, sollte aber laut anderer der Grund des Publikumserfolgs sein: durch den «großartigen stilistischen Schwung» und das «gallische Pathos», die Axel Eggebrecht zu schätzen wußte97, durch die geschickte Handhabung sämtlicher Modalitäten der literarischen Prosa (auktoriales und personales Erzählen, Kommentar, Beschreibung, innerer Monolog, erlebte Rede usw.). Im Unterschied zu Emil Ludwig oder Andre Maurois gelang es Marcu, eine bezeichnende Distanz zum «Objekt» seiner Investigationen zu bewahren; er kannte genau die Grenze, jenseits derer die Geschichte entwertet wird und in billige Bewunderung der zum «Helden» gewordenen Persönlichkeit umschlägt. Die plastische, an Jakob Burckhardts Schriften geschulte Ausdrucksweise98 verbindet sich in Marcus Texten mit einer Ironie, die an Anatole France gemahnt («ein Spott voller Bonhomie, der Spott des Lateiners, der eine kindliche, fast rührende Zärtlichkeit verrät»)99, und vor allem mit einem ausdrücklichen Skeptizismus, der die intensive Lektüre von David Hume, Leopold von Ranke und Hans Delbrück verrät — eine kritische Haltung, die manchmal in die Nähe dessen rückt, was Joseph Roth «geselligen Zynismus» nannte100, und die, im Falle des Lenin-Buches beispielweise, irritierte und zu heftigen Reaktionen in KPD-nahen Intellektuellenkreisen Anlaß gab101. Diese «skeptische» Art, Geschichte zu schreiben, prägte Marcus Stil — der manchmal zum Aphoristischen tendiert, oder, im Gegenteil, mit Bildern und Metaphern überladen ist — in nicht geringem Maß. Ludwig Marcuse warnte: «Es wäre tragisch und ein großer Verlust, wenn ein Schriftsteller von Marcus Talent, Fleiß und Wissen nicht sehen würde, daß die Skepsis immer nur ein wichtiger Durchgang ist zu überskeptischen Fundamenten. Dem absoluten Skeptiker bleibt nichts übrig als zu schweigen; das wußten schon die Griechen»102. In der Selbstanzeige der Männer und Mächte der Gegenwart bekennt Valeriu Marcu freimütig: «Ich bin zwar kein Historiker», gibt aber den Historikern den Rat, «zwischen zwei dicken Büchern über die Vergangenheit ein dünnes über die Gegenwart zu schreiben»103. Diese Faszination der erlebten Gegenwart — «denn noch nie hat eine Zeit in zwei Jahrzehnten ... das durchgemacht wie die unsrige» — stellt laut Marcu den einzigen Schlüssel zum Verständnis der Vergangenheit dar, «die beste Schule für die Geschichte». Es gilt für ihn auch der umgekehrte Satz: Zweifellos bietet die Geschichte den Schlüssel zur Interpretation und zum Verständnis der gegenwärtigen Ereignisse. Genauso wie «heute ein Buch über Politik im Sinne Machiavellis, was Tiefe und Qualität anbetrifft, das Gegebene» wäre, so wäre auch ein Buch über Machiavelli und seine Zeit außerordentlich lehrreich. Marcu liefert den Beweis, indem er das Buch schreibt. Denn «vor, während und nach Machiavelli» weisen die Gesetze der Geschichte und die Regeln der Politik frappierende Ähnlichkeiten auf. «Die Menschheit kennt nur eine der Religion ebenbürtige Kraft — die Macht!»104, eine brutale und gleichzeitig verführerische Kraft. Ihn, den «keuschen Liebhaber der Macht», deren Nähe er

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sucht — wie einst Machiavelli — , «nicht um mitzuherrschen, sondern um mitzusehen»105, fesseln die Mechanismen der Macht in all ihren Äußerungsformen, das fundamentale Verhältnis zwischen Individuum und Masse, zwischen Freiheit und Diktatur, zwischen Reaktion und Revolution. Eigentlich kann man seine zwei letzten Bücher, Die Vertreibung der Juden aus Spanien und Machiavelli, auch als Meditationen über das Exil-Dasein lesen; der Bezug zur Gegenwart und sogar zur eigenen Existenz im Exil ist unverkennbar. In seinen Betrachtungen verweilt er vor allem bei den Wendepunkten der modernen Geschichte, die für die spätere Entwicklung entscheidend waren, wobei er, vom Phänomen der Macht und ihren spezifischen Instrumenten — Bürokratie, Propaganda und Werbung, Massenhysterie, religiöse Gerichte, Arbeiterbewegung, Taktik und Strategie der Kriegsführung, militärische Organisation — ausgehend, sein Interesse gleichzeitig den machtausübenden Persönlichkeiten zuwendet: Niemand empfindet diese Notwendigkeit der Veränderung mehr als führende Individuen. Sie wachsen in einer eigenartigen Atmosphäre kommender Dinge auf, werden von der Härte der Welt angezogen.... Der Einfluß, den sie erlangen, durch den Völker und Klassen denken und handeln, ist der Macht-Urtrieb. Diese Allgewaltigen, deren Wille zur Wirkung von allen Schrecken der Hölle nicht vernichtet werden konnte, sind zugleich die Allerschwächsten, abhängiger von der Notwendigkeit als gewöhnliche Sterbliche in ihren Tafel- und Ehefreuden 106 .

Die Reflexion über die Macht umfaßt auch die Analyse der gegenseitigen Beziehungen zwischen jener und den Intellektuellen, einschließlich des eigenen Verhältnisses zur Macht. Als Biograph beobachtet Valeriu Marcu die «Mächtigen» als Elemente eines umfassenden, ununterbrochen wirkenden Prozesses der geschichtlichen Entwicklung, mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Zufällen. Die Perspektive dieser Entwicklung beschränkt sich nicht auf die Gegenwart, sondern umreißt auch — jenseits aller Utopie — ein mögliches Bild der Zukunft. Diesen Prozeß nennt Marcu «hart, kalt, gleichgültig, folgerichtig, unbarmherzig»; «es sind Kräfte, die ringen, Interessen, die morden, gigantische Anstrengungen, die sich messen, Willensballungen, die sich vor dem dunklen Hintergrund des geschichtlichen Horizonts in blitzender Aktion entladen»107. Daher auch seine Abneigung gegen das Jonglieren mit jeglicher Propaganda108, seine Verachtung für Schriftsteller, die nichts als Worte «einer vorgeschriebenen Meinung» 109 wiederholen. Dabei stellt er immer wieder zwei Grundhaltungen des Intellektuellen zur Macht einander gegenüber: Auf der einen Seite steht der begeisterte «Optimismus», feige und verlogen, auf der anderen das freimütige Bekenntnis zur Vernunft: «Deshalb sind seine Bücher [von Ignazio Silone] wichtiger, bedeutender, aufklärender als alle offiziellen Staatsakte aller dieser Wachsfiguren der Politik, die täglich einen Status quo paraphieren und beschwören, der in den Tiefen der Nationen nirgends existiert» 10 Gerade Marcus eigene «Sozialisation» ist symptomatisch für den

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inneren Werdegang eines Menschen, der die Skepsis der kritischen Beobachtung jeglichem Aktivismus vorzog. «Wenn ein Jüngling mit den neugierigen Augen eines Zwanzigjährigen die Welt betrachtet, verliebt er sich in Prinzipien», schrieb Valeriu Marcu in dem kurzen Vorwort zu Schatten der Geschichte. «Er glaubt, aus Grundsätzen alles ableiten, durch sie allein alles verstehen zu können.... In dieser Rebellion steckt mehr Optimismus als Uberhebung. Bald jedoch beginnen schmerzliche Prozesse, die ertragen werden müssen, um die Selbständigkeit, die Autonomie des eigenen Denkens zu erlangen». Diese neue Eigenschaft, die er «ohne zu trauern oder [sich] zu freuen» erlangt hat, wird in seinem Werk wichtiger als zeitweilige Kontakte und dezidiert politische Haltungen. Die Lektüre seines unbeendeten Manuskriptes zur Legende des Proletariats läßt ahnen, was dieses Buch hätte werden können: ein Zeugnis des Irrwegs eines Einzelnen, der sich mühsam vom kollektivistischen Mythos der Menschheitserlösung befreit, um im skeptischen Alleingang das eigene individuelle Dasein behaupten zu dürfen, und zugleich eine durchaus nüchterne Betrachtung des im zwanzigsten Jahrhundert in apokalyptischer Dimension wiederholten menschlichen Wahnsinns. Die jugendliche Identifizierung mit der Marx'schen Fortschritts-Utopie, die sehr früh ihre unerbittlich menschenfeindlichen Mechanismen offenbarte, wird in den zustandegebrachten Kapiteln dieser Memoiren mit der Weisheit desjenigen geschildert, der in den späten dreißiger Jahren seine schlimmsten Visionen der totalitären Macht in dem NS-Terror in Deutschland und in dem Sowjet-Terror in Rußland verwirklicht sah. Die frühe Reife seines politischen Denkens weist auf eine «prise de conscience» hin, die Valeriu Marcu zusammen mit einem Victor Serge oder Panait Istrati zu einer der wichtigsten Gestalten der früh ernüchterten nachrevolutionären «Renegaten» qualifizierte. Das Ende der Illusion von einer aufgeklärten, intelligenten, wirksamen, der Ration untergeordneten Macht fällt für Marcu mit der realen Katastrophe Deutschlands unter Hitler zusammen. «Sie [die Nazis] sind so erfüllt von einer permanenten