Deutsches Staatsrecht: II. Verfassungsgeschichte. Ideologie und Wirklichkeit [1 ed.] 9783428432660, 9783428032662


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German Pages 140 Year 1974

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Deutsches Staatsrecht: II. Verfassungsgeschichte. Ideologie und Wirklichkeit [1 ed.]
 9783428432660, 9783428032662

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WALTER HAMEL · DEUTSCHES STAATSRECHT

Deutsches Staatsrecht II. Verfassungsgeschichte Ideologie und Wirklichkeit

Von

Dr. Walter Hamel Professor der Rechte an der Universität Marburg/Lahn

DUNCKER & HUMBLOT I

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

C> 1974 Duncker & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1974 bel Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 85 Printed in Germany ISBN 3 428 03266 7

Inhalt Einleitung

7

Erstes Kapitel: Stadtregiment und Landeshoheit im Mittelalter

9

Zweites Kapitel: Der aufgeklärte Absolutismus in Deutschland

20

Drittes Kapitel: Die Idee der redltsstaatlidlen Verfassung in Deutsdlland

25

Viertes Kapitel: Der Kampf um eine Verfassung

30

1. Abschnitt: Reformen und Reformpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. 3. 4. 5.

Abschnitt: Volk und Staat, ein geistiger Organismus . . . . . . . . . . . . . Abschnitt: Der Deutsche Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschnitt: Die Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschnitt: Die Vorbereitung des konstitutionellen Staates durch die Staatsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünftes Kapitel: Der konstitutionelle Staat und die Pläne einer deutschen Verfassung

1. Abschnitt: Die Revolution von 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abschnitt: Das Scheitern der deutschen Einigung . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 36 38 39 42

49 49 52

Sechstes Kapitel: Der Norddeutsche Bund

56

Siebentes Kapitel: Das konstitutionelle Kaiserreim

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1. Abschnitt: Die Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abschnitt: Die deutsche Reichsverfassung von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abschnitt: Der Zerfall des politischen Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abschnitt: Über das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abschnitt: August Bebel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Abschnitt: Der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 60 63 69 71 72

6

Inhalt Achtes Kapitel: Die Weimarer Republik

1. Abschnitt: Die Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Abschnitt Die Weimarer Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abschnitt: Das Versagen der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 76 77 85

Neuntes Kapitel: Der Nationalsozialismus

90

Zehntes Kapitel: Die Bundesrepublik Deutschland: Repräsentant des Deutschen Volkes

97

1. Abschnitt: Die Errichtung der Bundesrepublik Deutschland 2. Abschnitt: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland . . . . . 3. Abschnitt: Die Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97 98 104

4. Abschnitt: Die Verfälschung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abschnitt: Der Feind der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die materialistisch-kommunistische Ideologie S. 113 - b) Die Errichtung der "Deutschen Demokratischen Republik" S. 117 - c) Die Spaltung Berlins S. 118

106 113

6. Abschnitt: Prüfet die Geister! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Untergrabung der Freiheit S. 120 - b) Der Moskauer Vertrag S. 123 - c) Verfassungsrecht und Politik S. 127 - d) Der Grundvert rag mit der "Deutschen Demokratischen Republik" S. 131 - e) Der Untergang Deutschlands und der deutschen Nation als politische und rechtliche Realitäten S. 134

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Einleitung Eine Staatsverfassung erfüllt ihren Sinn nur dann, wenn sie der irrationalen Wirklichkeit des Gemeinschaftslebens an-"gemessen", ihr rationales Gewand ist, in dem die Träger' das Leben schöpferisch gestalten und zum Blühen bringen. Diese Wirklichkeit ist nur durch Beobachtung - des Gewordenen, der Bedürfnisse und neuer aufbauender Kräfte - zu erkennen. Werden einer Gemeinschaft freier Menschen abstrakte Gedanken (=Ideologien), Wunschbilder und theoretische Systeme, die der wirklichen Lage nicht gemäß sind, aufgezwungen, so bedrohen sie das gemeinsame Leben: sie sind Schwarmgeister des Untergangs. Rousseaus a:bsolutistischer Volkswille (volonte generale), der "nicht irren kann", und die von ihm ausgehende jakobinische Bewegung, die den politischen Mord rechtfertigte, brachten in Frankreich die Diktatur Napoleons. In Deutschland rief die jakobinische Bewegung der "Radikalen" durch Mord und Attentate den Absolutismus des monarchischen Prinzips und die "Demagogen"-Verfolgungen hervor; das monarchische Prinzip Frankreichs wurde durch die Wiener Schlußakte (Art. 57) vom 15. Mai 1820 allgemeines deutsches Staatsrecht. Die kommunistische Ideologie, die in der Pariser JuniSchlacht von 1848 unterlag, führte zum plebiszitären Cäsarimus Napoleons III. Das Scheitern der parlamentarischen Demokratie in der vierten Republik Frankreichs begründete die Präsidial-Demokratie von 1962. Es bleibt zu prüfen, welche ideologischen Irrwege vom Jahre 1918 ab in Deutschland den allgemeinen Wunsch nach der "großen Führerpersönlichkeit" und damit die Diktatur Hitlers zur Folge hatten, und welche Ideologien in der heutigen Jugend das Verlangen nach einer sozialistischen Diktatur geweckt haben. Damit verbunden ist die alte Frage, welche Art der Demokratie Polybius im Auge hatte, als er die These aufstellte, die reine Demokratie führe zur Tyrannis; die PräsidialDemokratie der USA besteht fast 200 Jahre, und es gibt keine Anzeichen, daß sie in Tyrannis umschlagen könnte. Das geistig~seelische Substrat, das ein Volk verbindet und jeweils seine ihm eigene Verfassung hervorbringt, ebenso wie seine Unterwanderung durch wirklichkeitsfremde Ideologien, die sich als "Fortschritt" lautstark empfehlen, ist das Thema einer Verfassungsgeschichte. Kein "System" ist abstrakt~begrifflich wahr und gerecht, sondern der Mensch soll wahr und gerecht sein: ein Staat kann und soll durch seine Ver-

8

Einleitung

fassung den Menschen in ihrer konkreten Eigenart und Situation nur die Freiheit sichern, mit- und füreinander gerecht zu sein. Mit der Beseitigung eines "schlechten" Systems kann immer nur ein Symptom, nie aber die wirkliche Krankheit: der pathologisch affizierte Mensch, sein Hang zur Unwahrheit, zur Ungerechtigkeit, seine Selbstsucht geheilt werden. Die Überzeugung, daß Gerechtigkeit ein Volk verbindet, ist die integrierende Macht führender Persönlichkeiten, die verstehen, mit den Mitteln der Verfassung die einenden sittlichen Kräfte der Nation zu wecken.

Erstes Kapitet

Stadtregiment und Landeshoheit im Mittelalter Die europäischen Reiche des frühen Mittelalters waren durch persönliche Bande vereint: durch den Stamm und durch die Lehnstreue gegenüber dem König und den Herren; am Grund und Boden bestanden nur einzelne Rechte (die häufig die Grundlage des Standes waren). Eine allgemeine umfassende Herrschaft über ein Gebiet war eine vorübergehende Ausnahme, z. B. im Westgotenreich die einheitlichen Gesetze für Römer und Westgoten. Staat und Staatsverfassung nahmen in Deutschland ihren Anfang, als in zahlreichen Gebieten ein allgemein für alle gültiges Recht gesetzt wurde und dieses Recht Institute, Eckpfeiler des gemeinsamen Lebens hervorbrach.te1 : zunächst in den Städten, die die Marktfreiheit, das Marktrecht und eine eigene Gerichtsbarkeit mit dem Recht zum Erlaß von Friedens- und Marktordnungen erhielten. Später, etwa vom 12. Jahrhundert ab, gaben Könige und Landesfürsten für ihr Land mit Zustimmung der unteren Landherren (Geistliche, Adel, Herren der kleinen Städte) Landfriedensordnungen als Gesetze (constitutiones) und "neues Recht": die ersten Gesetze, ·die ihren Sinn in der Ordnung eines Gebietes hatten und uber Lehns- und Stammesrechte hinweg allgemein gültige Gebote für jedermann im Gebiete gaben (das Wort "Gebiet" kommt von "gebieten" her). Das Anwachsen der Wirtschaft.Sbeziehungen, des Handels, das Aufblühen handeltreibender Städte machten auch im Lande solche Friedensordnungen für jedermann, die jede Gewalttat verboten, notwendig, um ungehindertes Reisen und Handeltreiben zu ermöglichen. Auch die Kaiser errichteten gemeinsam mit den Reichsfürsten Landfriedensordnungen für das ganze Reich (Reichslandfr:ied:en) oder für bestimmte Gebiete. Wesentlich. für die neue rechtliche Gestaltung war ein Wandel der geistigen Voraussetzungen. Der Glaube, daß Kaiser und Reich - das letzte der vier prophezeiten Weltreiche auf Erden - in allen seinen Gliedern 'bis hinunter zu den kleinen Herren und Landsassen unmittelbar und ständig von Gott gelenkt werde, war seit dem 11. Jahrhundert im Schwinden und mit ihm das persönliche in Gott wurzelnde Band 1

Vgl. dazu mein "Reich und Staat im Mittelalter" (Hamburg 1944), S. 129 ff.

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I.

Stadtregiment und Landeshoheit im Mittelalter

der Lehnstreue. Man begann, die Welt mit dem Verstand aus sich selbst heraus zu begreifen und nach deren allgemeinen Gesetzen zu fragen, um die Welt zu beherrschen - in den Naturwissenschaften, im politischen Leben, in der Rechtswissenschaft -. Gott trat als causa remota, ja, causa remotissima dahinter zurück. Die biblischen Fürstenspiegel wurden seit dem Ende des 11. Jahrhunderts allmählich verdrängt durch politische Philosophien; die Frage, ob die antiken Philosophien mit dem Glauben an Christus zu vereinbaren seien, wurde erörtert. Die Schönheiten der Welt wurden gepriesen von Minnesängern, Meistersängern und Troubadours. Man suchte den Nöten des Zusammenlebens in Stadt und Land durch räumlich geltende allgemeinverbindliche Gesetze abzuhelfen, also das Leben durch neues Recht sinnvoll zu gestalten. Die Verhaftung des Papstes Bonifacius VIII. durch den französischen König Philipp den Schönen (1302) und die "ba!bylonische Gefangenschaft" der Kirche unter weltlichen Fürsten machten offenkundig, daß nicht mehr die Kategorien des Glaubens das Reich beherrschten, sondern säkulare Willensmächte an die Stelle getreten waren. In derselben Zeit lehrte Dante, daß das im gesellschaftlichen Körper Einende die Willenskraft sei, diese Einheit also durch einen herrschenden Willen repräsentiert werde. Auch der erste entschiedene Demokrat des Mittelalters, Marsilius von Padua, legte bald darauf hypothetisch dar, daß ein politisches Gemeinwesen, das nicht unmittelbar von Gott geführt werde, der Lenkung durch einen irdischen Willen bedürfe. Der gleiche Gedanke kehrte in den folgenden Jahrhunderten in vielen Lehren des Rechts und der politischen Formen wieder. Ein neuer status der Herrschaft begann (nach römischem Vorbild) und verdrängte das Lehnsrecht: die zentrale Regelung gemeinsamer Angelegenheiten einer Stadt oder eines Landes, die Gebietshoheit. MaßstaJb und Sinn wurde, insbesondere in den Städten, ein neues Gemeinschaftsgefühl, das nationale Prägung hatte und sich gegen eine universale Herrschaft, sei es des Papstes, sei es des Kaisers wandte2 • Die Legitimation der säkularen Herrschaft war mannigfach, das Ergebnis dasselbe. Die Idee einer unbegrenzten Weltherrschaft der Kaiser, die sich seit Kaiser Barbarossa entfaltete, war zwar nur ein vorübergehendes Phänomen. Aber sie bestärkte die Gestaltung der territorialen Ordnung in den Königreichen der Kaiser. Die rationale Beherrschung des Raumes ordnete die mannigfaltigen Herrschaften mehr und mehr ein- und unter: unter ihr wurde ein Königreich zu einem territorial bestimmten Reich. Die objektive Gebietshoheit ("imperatura") 2 Vgl. Erich Kaufmann, Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, Gesammelte Schriften (1960) I, S. 11 ff.

I. Stadtregiment und Landeshoheit im Mittelalter

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wurde mit der Königswahl übertragen. Im Königreich Sizilien (dem ersten Flächenstaat in Europa) traten römische Vorstellungen von der "majestas", vom "imperium" und vom "princeps" hinzu, die Kaiser Friedrich II. den Päpsten entgegensetzte ("Allmacht", "Allgegenwart", "heilig", "weder Gott noch Mensch"). Die gleiche Oberhoheit (die die Kaiser aus ihrem universalen imperium herleiteten) nahmen nach und nach auch andere Könige, Fürsten, Grafen, Herren und Städte für ihre Gebiete in Anspruch. In den italieni-schen Städten war es die Autonomie der freien Gemeinschaft, die sich mit Selbstbewußtsein vom Kaiser löste und nach politischer Opportunität durch den "principe" gesteuert wurde (die Grundlage für Macchiavels Lehre der Staatsraison). In Frankreich ging anfangs die Gestalt der Herrschaft von den Städten aus; schließlich a~ber begründete das nationale Charisma des Königs seine Überordnung über alle Gewalten im Gebiete (entstanden durch Tradition, Legenden des Klosters Cluny, und durch politische Erfolge, insbesondere durch J eanne d'Are). "Der König von Frankreich ist Kaiser in seinem Königreich": diese von den Juristen der Könige aufgestellte These wurde Vorbild zur Legitimation jeder umfassenden Gebietshoheit der Landesherren auch in Deutschland. Die römisch-rechtliche majestas des princeps, dessen "volle", "ganze" und "höchste" Gewalt wurde zur Begründung herangezogen. In Deutschland verdichtet sich das Stadtregiment und - vom Ende des 14. Jahrhunderts ab - auch die Landesherrschaft zu einer allgemeinen einheitlichen Hoheit mit einheitlichem status nicht durch eine charismatische oder nationale Idee, auch nicht durch historische Rechte, nicht durch einen Auftrag - sei es des Kaisers oder der Stände sondern allein durch die reale Situation der Stadt oder des Landes, d. h. durch praktische Nöte und die praktische Notwendigkeit einer einheitlichen Wahrnehmung aller gemeinsamer Angelegenheiten. In den Städten lag die Vollmacht hierfür ihrem Kern nach 'bereits im Marktrecht und der Gerichtsbarkeit, die - vom Stadtherrn (in den Reichsstädten vom Kaiser) verliehen - eine gesetzgebende und executive Gewalt, kurz: das Stadtregiment einschlossen. Die weiteren Regalien, die zur einheitlichen Lenkung der öffentlichen Angelegenheiten gehören Münzrecht, Recht zur Erhebung von Steuern, Abgaben und Zöllen usw. - erwarben die Städte. Dem Stadtregiment standen nicht, wie der landesfürstlichen Hoheit, ständische Rechte entgegen, da die städtischen Stände am Stadtregiment teilnahmen. Die Städte konnten daher mit eigener Gewalt Politik, insbesondere Wirtschaftspolitik treiben. Sie nahmen als erste weltliche Institution kirchliche Aufgaben - Armenund Krankenfürsorge, Schulunterricht, Gesundheitspflege (Seuchenschutz!) usw.- in eigene Regie. Hier entstand eine öffentliche politische

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Gemeinschaft, die Mauern und Gebiet als wesentliche Elemente einschloß und durch eigene Verfassung im Rat und in der Bürgerschaft ihre Repräsentanten hatte. Was Dante und Marsilius von Padua als das Einende im gesellschaftlichen Körper aufgezeigt hatten: den einheitlichen lenkenden Willen, der das Ganze repräsentierte, offenbarte sich für Deutschland zuerst in den Städten als notwendiges Verfassungsinstitut. Dieselbe Erkenntnis vereinigte im 15. Jahrhundert auch die größeren Territorien unter der hoheitlichen Gewalt ihrer Landesherren. In diesem Prozeß, der unter heftigen Kämpfen von den Landesherren durchgesetzt wurde, spielte deren politischer Ehrgeiz sicherlich eine Rolle, aber wohl kaum die entscheidende3 • Sondern dahinter standen die zur Einheit drängenden Mächte und Interessen des Landes: die Notwendigkeit, die gemeinsamen Angelegenheiten einheitlich wahrzunehmen, "das praktische Bedürfnis nach möglichst freier und umfassender Verwendung aller Kräfte des Landes"'. Denn der Landesherr war Friedensrichter des Landes, d. h. er hatte nicht bloß richterliche Funktionen im heutigen Sinne, sondern auch Aufgaben, die wir heute als allgemeine polizeiliche bezeichnen würden: Wahrung der "guten Ordnung". Sie lronnten nicht erfüllt werden, wenn Ritter, geistliche Korporationen und Städte im Lande sich unter Berufung auf ihre Sonderrechte widersetzten. Die Landesfürsten hatten sich auf den Reichstagen zu Eger und Nürnberg (1437, 1438) bemüht, mit Hilfe des Reiches den Landfrieden, die Gerichtsbarkeit und die Urteilsvollstreckung neu zu ordnen und zu sichern, inSbesondere dadurch daß die Landstände der fürstlichen Gerichtsbavkeit, d. h. der fürstlichen Ordnungsgewalt unterstellt würden. Erst als die fürstlichen Landesherren ihre Pläne nicht durchsetzten und auch das Landfriedensgesetz des Kaisers von 1442 weder die gerichtliche Zuständigkeit neu ordnete, noch eine Executive sicherte, noch die Fehden beilegte, kam es zu den schweren kriegerischen Auseinandersetzungen der großen Fürsten mit ihren Landständen, insbesondere mit den Städten, die sich auf ihre Autonomie beriefen. Der Grund für dieses gewaltsame, überwiegend erfolgreiche Vorgehen der Fürsten lag in der Situation des Landes, die unumgänglich eine einheitliche rechtliche Ordnung der gemeinsamen Belange des Landes und einheitliche Gerichtsbarkeit gebot: die Natur der Sache, das Naturrecht des Staates machte sich geltend; es entwickelte sich schließlich in den folgenden zwei Jahrhunderten zur Staatsraison. Die eine hoheitliche Gewalt, der jedermann im Lande unterworfen ist, trat an 3 4

wie Hartung (Deutsche Verfassungsgeschichte, 9. Aufl., S. 61) meint. Hartung, a.a.O.

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Stadtregiment und Landeshoheit im Mittelalter

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die Stelle eines Konglomerats von Rechten, die der Landesfürst erworben hatte. Schließlich galten alle Rechte, die zur Ordnung im Gebiete erforderlich waren, als albgeleitet aus der einen umfassenden Hoheit: diese Landeshoheit wurde zum "status", zur Verfassung des Gebiets. Das bestehende Recht des Landes wurde in "Landesordnungen" vereinheitlicht. Das Amt des Friedensrichters, ursprünglich vom Kaiser übertragen, galt nunmehr als ein von Gott verliehenes Amt, das allgemeine öffentliche Pflichten gegenüber dem Lande enthielt; die kaiserliche Oberhoheit wurde auf begrenzte Rechte beschränkt. Damit war die Verantwortung des Landesherrn für das zeitliche und ewige Wohl, auch für den rechten Glauben der Untertanen begründet: sie prägte den "christlichen Landesvater". Die Herrschaft war patriarchalisch - während in Frankreich der dominiale Begriff des Sacheigentums und die Dienstpflicht der Untertanen die Königsherrschaft entscheidend bestimmten - . Die Reformation entnahm jenes Amt des deutschen Landesherrn unmittelbar aus Gottes barmherzigen Willen, die Welt zu erhalten, ohne kirchliche Vermittlung. Aus dem öffentlichen Amt des Landesherrn ergab sich die Unveräußerlichkeit bestimmter konstituierender Rechte (regalia majora) und die Unteilbarkeit des Landes. In den kleinen Grafschaften, Herrschaften, Reichsstädten und Reichsritterschaften, in denen jenes politische Streben, die Kräfte eines Landes einheitlich zu ordnen, nicht geweckt wurde, ist es nicht zu kriegerischen Auseinandersetzungen, a:ber auch nicht zu einer umfassenden Landeshoheit, einem staatlichen Wesen gekommen. Das Mittel zur Zusammenfassung aller Rechte am Lande zu einer einheitlichen Landeshoheit war das römische Recht, da es allgemeine Geltung hatte. Doch erhielten die römischen Begriffe, insbesondere die Rechtstellun.g des princeps, in Deutschland eine andere Bedeutung als in den oberitalienischen Städten und in F1rankreich. Das gleiche gilt von dem Satz: "der Fürst hat in seinen Landen die gleichen Rechte wie der Kaiser im Ganzen": er verneinte in Deutschland - im Gegensatz zu seinem französischen Vorbild - weder die Obrigkeit des Kaisers, noch die Verbindlichkeit des Reichsrechts, sondern zeigte die ständige Quelle, die die Hoheit des Landesherrn im Kaiser und Reich hatte, unter Wahrung der dem Kaiser und Reich verbliebenen Rechte und der Rechte der Landstände: daher konnte dieser Satz schon im 14. Jahrhundert von den deutschen Landesfürsten übernommen werden. Die "höchste", "volle" und "ganze" Gewalt, die "majestas" des deutschen princeps stand im Reiche und in der Gemeinschaft des beherrschten Landes und seines Rechts.

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Stadtregiment und Landeshoheit im Mittelalter

Das gleiche Einheitsbewußtsein ergriff - reziprok zur Verantwortlichkeit der Fürsten - auch die Landstände und formte das Land zu einer politischen Gemeinschaft, die sich anfangs häufig den - vielfach privaten - Forderungen der Fürsten verschloß, dann aber das Amt und die Pflicht der Fürsten evkannte und an deren Erfüllung teilnahm, ja dort, wo kein Landesherr vorhanden war (wie in Friesland, in den Niederlanden und in den Kantonen der Schweiz) selbst die öffentlichen und politischen Aufgaben erfüllte: die Landstände wurden zu Repräsentanten des Landes. Sie vereinigten sich überall, oft auf Betreiben des Fürsten, unter einem rechtlichen status (Verfassung), der einen gemeinsamen, für das Land verbindlichen Willen sicherte und das aufkommende Staatsbewußtsein festigte. Fürst und Landstände prägten den Staat. Nie wurden Stadtregiment und Landeshoheit in Deutschland von ihrer genossenschaftlichen Wurzel, d. h. von der Gemeinschaft der Stadt oder des Landes, nie von deren Recht und Gerichtsbarkeit gelöst, sie behielten ihre Bestimmung und ihre Aufgaben in dem Recht, Wohl und Nutzen ihres Gebietes zu fördern - im Gegensatz zum status des italienischen Stadtfürsten (principe) und dem des französischen Königs, die ungebunden über der beherrschten Gemeinschaft standen. - Stadtregiment und Landeshoheit lebten in der Gemeinschaft, sie gehörten zu deren status ("der volle und gantze status"), waren nicht persönliche unbegrenzte Macht, die Bodinus im 16. Jahrhundert "souverainite" (des :flranzösischen Königs) nannte. Stadtregiment und Landeshoheit setzten zwar die Befugnis einseitig durch, bestehende Rechte ohne Zustimmung der Betroffenen zu verändern, soweit es das allgemeine Interesse nach Gesichtspunkten der Vernunft erforderte. Am Ende des 15. Jahrhundert verfestigte sich dieses oft geltend gemachte Vorrecht zu einem besonderen, allgemein anerlkannten Institut: der Polizei (=gute Ordnung), das wahrscheinlich von Burgund recipiert wurde. Auch die Polizeigewalt hatte jedoch dem "Landeswohl", dem Nutzen der Gemeinschaft zu dienen und war durch diesen vernunftgebotenen Zweck begrenzt. Dieser Begriff der "Polizei" war das Mittel, um das neu geprägte öffentliche Amt des Landesherrn und die daraus folgenden Aufgaben durchzuführen. Die "Vernunft", auf die man sich berief, hatte in diesem Amt und in den Werten und Werturteilen der Bevölkerung ihren substantiellen irrationalen Inhalt; sie wurde nicht abstrakt verstanden. Denn durch die Entfaltung der Manufactur, des Handels, der weltlichen Wissenschaft, d1..11rch Verbreitung wirtschaftlicher Selbständigkeit und gelehrter Bildung, durch die Künste wurde die Vernunft als das von Gott gegebene Maß der Persönlichkeit, als die "virtu" angesehen, in der sich Tüchtigkeit, Mut und Tugend, Wille und Moral, Freiheit und christliche Verantwortung ver-

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einigten. An die Stelle der sozialen Urkategorien der römisch-katholischen Kirche traten - da deren Diener durch Lebenswandel und Machtpolitik unglaubwürdig geworden waren - neue soziale Werte, die (beginnend in Italien) die Grundlage des christlichen Humanismus bildeten. Die Entwicklung wurde- nach vielen Rückschlägen- im 16. und 17. Jahrhundert durch die Renaissance antiker Lebensformen, durch die Reformation und dUJl'ch die Philosophie vollendet. Die neuen, selbstständigen, zu Ansehn gelangten Schichten des Volkes, die nicht in den überkommenen mittelalterlichen Ständen ihre Rechte und ihre Vertretung fanden, erhielten vom Staate neue angemessene Lebensformen in christlicher Zucht und um der "guten Ordnung" (= Polizei) willen, die aus dem vernünftigen Staatszweck folgte. Der Gesichtspunkt der Polizei war das Mittel, um Bevölkerungspolitrk zu trei'ben, insbesondere Wirtschaftspolitik (Merkantilismus in den zum Nutzen des Ganzen gebotenen Grenzen). Die Staatsraison des Polizeistaats wurde vom Rechtsbewußtsein des Volkes getragen; sie hatte darin ihre Wurzel und ihre Legitimation: sie gehörte zur Verfassung des Landes, sie diente dessen allgemeinen Nutzen. In ihr trat die allgemeine Natur jedes Staats hervor: das Volk zu regenerieren und zu entfalten. Daher wurde die deutsche Landeshoheit "status" genannt- so wie die Herrschaft der italienischen Stadtfürsten ("lo stato") und die des französischen Königs ("l'estat"). - In diesem Wort prägte sich das Phänomen der Neuzeit "Staat" aus: die verfaßte Einheit der Herrschaft über ein Gebiet- auch die der Landstände- galt als "status". Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts finden wir demgemäß in Deutschland die ersten Darstellungen einer allgemeinen Staatslehre und eines deutschen Staatsrechts. Man fragte nach dem Sinn der öffentlichen Gewalt, die eine Herrschaft über freie Menschen rechtfertigt, und bestimmte die Kompetenzen und die Pflichten des hoheitlichen Amtes. Das Land wurde, ebenso wie die Stadt und das Reich, als ein "corpus", also als organisches Ganzes angesehen, das Herrschaft urnd Gemeinschaft, Landeshoheit und Landstände umfaßte- so wie der corpus der Stadt Stadtregiment und Bürgerstände und der des Reiches Kaisermacht (imperium) und Reichsstände enthielt-. Jeder hatte mit seinem Teil am Ganzen mitzuwirken, d. h. den in ihm verbundenen Menschen zu dienen: die nie versiegte, in das 11. Jahrhundert zurückgehende deutsche Anschauung vom Wesen menschlicher Verbände! Der Herrscher galt als das Haupt und Repräsentant des Ganzen. Dieses Bild des "corpus", die ovganische Vorstellung wurde später, im Anfang des 19. Jahrhunderts fruchtbar für den Staatsbegriff. Die irrationale Wirklichkeit des Lebens, seines Wachsens und Reifens kann nur in Bildern und Gleichnissen dargestellt werden; jede begriffliche Trennung in be-

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Stadtregiment und Landeshoheit im Mittelalter

stimmte Beziehungen zerstört bereits die lebendige Einheit, in der jeder jeden in seinem Wesen gestaltet5 • Daher erhielt die höchste Gewalt (Souveränität) - bei Bodin nur eine rationale Form der Ausgrenzung aller Willensmächte aus der königlichen Macht - in Deutschland ihren irrationalen Sinn und Wert: sie galt als der Primat höchster auf das gemeinsame Wohl abzielender Gerechtsamen des Landes. Somit war sie von ihnen begrenzt und konnte auf mehrere Träger verteilt sein: das imperium des Kaisers war höchste Gewalt, aber der Sache nach war auch die Hoheit des Landesherrn "höchste" Gewalt im Lande, begrenzt durch "höchste" kaiserliche Vorrechte und die Rechte der Landstände. Fast ohne Ausnahme wurde - im Gegensatz zu Bodin - die mittelalterliche Lehre übernommen, daß der Herrscher bei Ausübung der höchsten Gewalt an die besonderen konstituierenden Grundgesetze des Landes und an Verträge gebunden sei (nicht nur an allgemeines Naturrecht). Galt er doch bei Ausübung der Hoheit als Haupt und Repräsentant des Ganzen. Darüber hinaus verbreitete sich - offensichtlich unter dem Einfluß der antiken Philosophien und der demokratischen Lehren des Mittelalters (Marsilius v. Padua) -die Anschauung, daß die höchste Gewalt ihrer Natur nach auch den von ihr gegebenen Gesetzen unterwarfen sei; denn sie stellten allgemeine Regeln der Vernunft für die ganze Gemeinschaft dar, deren Aufga!ben die höchste Gewalt zu erfüllen habe; hier erscheint die Gesetzgebung bereits als wesentliche vom Naturrecht bestimmte Funktion des Ganzen (corpus). Allgemein galt der - schon im 13. Jahrhundert anerkannte - Satz, daß Akte der Landesfürsten, wenn sie die rechtlichen Schranken ihrer Gewalt verletzen, nkhtig sind, ja, ein Widerstandsrecht auslösen. Die oberste Gewalt (Staat) in Deutschland bewegte sich (im Unterschied zum französischen Staat und zum englischen Commonwealth) teils im Recht des Landes (in heutiger Sprache: im Privatrecht), teils in den besonderen hoheitlichen Rechtsformen des übergeordneten Befehls, der das Recht des Landes im öffentlichen Interesse beschränken, ja, aufheben konnte (Polizei und Steuerhoheit). Die begriffliche Unterscheidung und die Frage, wie die höchste Gewalt an das Privatrecht gebunden und ihren eigenen Gerichten unterworfen sein könne, bereitet bis in das 20. Jahrhundert hinein Schwierigkeiten. Um die Einklagung vermögensrechtlicher Ansprüche gegen den Staat zu ermöglichen, behandelte man die staatliche Schatulle ("Fiskus") als privatrechtliches Rechtssubjekt, dem die vermögensrechtlichen Rechte und Pflichten des Staates zustanden - eine Abgrenzung, die noch im heutigen Recht fortwirkt, da einige Ansprüche, die wir jetzt :zrum öffent5

Vgl. mein Deutsches Staatsrecht, I. Grundbegriffe, S. 44 ff.

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liehen Recht zählen, vor den ordentlichen Gerichten einzuklagen sind (Art.14 Abs. 3 Satz 3 GG; § 40 Abs. 2 Verw. GO.). Die Unvereinbarkeit der französischen "souverainitE~" Bodins mit deutschen Vorstellungen zwang das aufkommende deutsche Staatsrecht zu der - auf Kaiser Friedrich II. zurückgehenden - Erkenntnis, daß die höchste Gewalt, der Staat, nicht ein statisches Sein (essentia), sondern ein Wirkungsvermögen (potentia) ist. Sie ermöglichte, die höchste Gewalt (majestas realis) mehreren Glieder, die reziprok die Lebenseinheit (corpus) formen, zu übertragen, also von dem persönlichen Recht der Ausübung zu unterscheiden. Diese Konzeption führte zu dem noch heute wichtigen Ergebnis, daß die höchste Gewalt (summa potestas) nicht allumfassende Gewalt (plenitudo potestatis) bedeute (Limnäus), d. h. die Ausübung der höchsten Gewalt könne derart auf die Glieder des Ganzen verteilt sein, daß sie dem einen (dem Kaiser) in bestimmten Angelegenheiten, den anderen (den Reichsständen) in den übrigen Sachen zustehe. So konnte die Hoheit der Landesfürsten (Reichsstand) als "höchste Gewalt" angesehen werden, obwohl sie nicht nur durch das imperium des Kaisers, sondern auch durch Rechte der Landstände in der Ausübung begrenzt war. Auf dieser Grundlage gelangte man zum Bilde eines Staatenstaates (civitas composita), d. h. aus Staaten bestehenden Staates (Besold, Ludolph, Hugo, Leibniz); hieraus wurde später der Begriff des "Bundesstaats" gebildet. Diese Entwicklung war in Deutschland nicht einartig und gradlinig. Die römisch-rechtlichen Begriffe (princeps, majestas, imperium, dominium), mit denen die höchste Gewalt zur Lenkung des Landes begründet wurde, stellten den Amtscharakter der Landeshoheit, d. h. deren Schranken und Pflichten oft in Frage. Gehörte doch das Grundeigentum (dominium) des Landesherrn, in dem er ohne Bindungen gebieten konnte, seit alterher mit rum Inhalt seiner Hoheit und Verwaltung, ja, überwucherte (durch die dominiale Staatsauffassung der französischen Könige) vielfach den öffentlichen sittlichen Hoheitsbegriff Deutschlands, insbesondere in den Kleinstaaten. Nur in den Städten und den großen Territorien wurde die öffentlich-rechtliche Ordnung (Polizei und Steuerordnung) zur Mitte der öffentlichen Gewalt. Ihre Krönung erhielt die Staatslehre von der Warte der praktischen Vernunft aus zunächst durch den Holländer Hugo Grotius. Er hat Recht und hoheitliche Gewalt als naturrechtlich gegebene, nicht weiter ableitbare Kategorien der menschlichen Existenz erkannt, sie also weder auf einen Vertrag, noch auf Zwecke oder Triebe zurückgeführt, wie im Mittelalter üblich war. Damit legte Grotius die Grundlage für den kritischen Rationalismus Kants. Volk oder Staat (beide Begriffe fließen bei Grotius noch ineinander) ist "die volle und umfassende Gemeinschaft" 2 Hamel

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Stadtregiment und Landeshoheit im Mittelalter

(consociatio); sie umfaßt alle Bereiche des äußeren Daseins. Die Wirkung dieser Lebenseinheit ist die Hoheit, "das Band, das den Staat zusanunenhält", "der Lebensodem, den viele Tausende atmen" (Seneca). Auch hier ist die Hoheit somit ein Wirken, ist Lebensfunktion der vollkommenen Gemeinschaft. Sie hat den Sinn, das Recht zu erhalten und in den Formen des Rechts den gemeinsamen Nutzen zu fördern: damit hat Grotius den Grundsatz des Rechtsstaats gefunden. Dem Staate erwächst daher gegen uns und gegenüber dem, was unser ist, gewissermaßen ein noch höheres Naturrecht, soweit es zur Erreichung des genannten Zieles erforderlich ist - aus dem Naturrecht des Staates leitete Grotius die Überordnung des öffentlichen Rechts über dem privatem ab. - Der Staat kann daher die private Rechtsverfolgung um des öffentlichen Friedens willen aufheben, d. h. die gewaltsame Verfolgung von Rechten sich selbst vorbehalten. Mit dem naturrechtliehen Sinn der staatlichen Hoheit begründete Grotius als erster auch das Recht des Staates zum Zwangskauf (Enteignung gegen Entschädigung) und zur Steuererhebung. Die Qualifizierung der Landeshoheit als "höchste" Gewalt bedeutete für ihn nur, daß ihr "Tun und Lassen keines Menschen Recht so unterstellt ist, daß sie nach seinem Willen und Gutdünken unwirksam gemacht werden könnte"; sie hat die letzte Entscheidung über Recht und Unrecht, verfügt aber nicht nach eigener Willkür darüber; sie ist die Einrichtung des Rechts, die zu seiner Durchsetzung auf allen Lebensgebieten naturrechtlich notwendig ist. Das Volk muß die Ausübung der Hoheit, da es zur eigenen Wahrnehmung außerstande ist, einem Herscher oder (in den Städten) einem Kollegium anvertrauen durch naturrechtlich gebotenen Urvertrag (die Ausübung durch das Volk selbst lehrte Grotius' Zeitgenosse Jobarmes Althusius). Eine klare Erkenntnis der gegebenen Polaritäten (Rechtsgebot und it'echtliche Verpflichtung)! Dem Herrscher steht die höchste Gewalt als Glied und Repräsentant des corpus (Volk und Staat) zu; seine Handlungen sind so anzusehen, als wenn der Staat sie getan hätte, der Staat, die "unsterbliche" civitas ist Träger der Rechte und Pflichten. Zum ersten Mal taucht hier der heutige Begriff der Repräsentation auf. Auch die Differenzierung der staatlichen Gewalten hat Grotius vorgezeichnet; er unterscheidet die universelle, die in der Gesetzgebung besteht, von der singulären, die entweder öffentliche Interessen verfolgt oder Privatstreitigkeiten entscheidet. Grotius hat das Wesen des Rechts und der staatlichen Hoheit erkannt und damit den Grund für die Rechtsphilosophie der Neuzeit, für die allgemeine Staatslehre und für jedes moderne Staatsrecht gelangt. Er konnte darauf das erste System des Völkerrechts aufbauen. Vor allem sollte die Polarität von Volk und höchster Gewalt- daß beide, obwohl aufeinander bezogen, doch nie sich in rationaler Einheit decken - dem

I. Stadtregiment und Landeshoheit im Mittelalter

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politischen Bewußtsein und jeder Wissenschaft vom Staate erhalten bleiben! Bogislav von Chemnitz hat im Jahre 1640 schließlich die deutsche Landeshoheit und die Hoheit der Reichsstädte als "souverän" bezeichnet (was sie der Sache nach bereits waren), und der Friedensvertrag zu Münster (1648) erkannte ihnen ausdrücklich "souverainite" zu - in der deutschen Ausprägung des Begriffes, d. h. als Grundsatz höchster rechtlicher Zuständigkeit, die Ausnahmen nach Außen und Innen zuließ, ja, der Aufteilung unter mehreren Hoheitsträgern ermöglichte.- Pufendorf ist dem gefolgt und nannte daher das Reich ein "Monstrum aliquot irregulrure" (was es für die logische Betrachtung auch war); aber das politische Leben ist voll von Irregularitäten! Diese Konzeption der Landeshoheit - souverän, d. h. höchste rechtliche Zuständigkeit zur Erhaltung und Förderung des Landeswohls führte dazu, daß der Reichstag im Jüngsten Reichsabschied (Reichsgesetz von 1654) das Reichskammergericht anwies, in allen Sachen der Landeshoheit das öffentliche Interesse, das allein der Landesherr wahrzunehmen habe, zu b€rücksichtigen. Die Wahlkapitulation Kaiser Leopolds (1658) verpflichtete auch den Kaiser, Klagen, die ,die Landstände gegen thren Landesherren beim Reichshofrat einreichten, ohne weiteres abzuweisen. Einige Landesherren erhielten das gleiche Privilegium auch für Klagen, die die Landstände beim Reichskammergericht einbrachten.

Zweites Kapitel

Der aufgeklärte Absolutismus in Deutschland Damit waren die Grundlagen des staatlichen Absolutismus in Deutschland gelegt. Doch wid€rstanden die Fürsten der großen deutschen Länder den Entartungen einer persönlichen Willkür-Herrschaft, die die französischen Könige und die StuaTts in England in Anspruch nahmen. Die Auffassung Hobbes', des schärfsten Verfechters des radikalen Absolutismus, ging dahin, daß alle Freiheit und alle Rechte nur durch den Willen des Herrschers bestünden, also reiner schrankenlosen Verfügung unterlägen. Diese Lehre konnte indes nicht die deutsche organische Verfassung der Länder vernichten, wonach der Herrscher Glied und Repräsentant eines corpus, des Landes, war. Jene ausländischen Einflüße führten nur zum "aufgeklärten" Absolutismus, insbesondere zur "Staatsraison" Preußens, di€ das Staatsethos, die rechtlichen Pflichten des Herrschers gegenüber dem Lande einschloß. Nach dem 30jährigen Kriege bestand in Preußen für den Großen Kurfürsten die staatspolitische Notwendigkeit, alle Kräfte seiner Länder zentral zu lenken und durch ein ständiges, auf den Kurfürsten vereidigtes Heer zu verteidigen, um Wohlstand, Frieden und gottesfürchtiges Leben zu sichern. Dieses allgemeine Staatsinteresse nahm Jeden in Dienst und Pflicht aus dem Gesichtspunkt der "guten Polizei" (= Ordnung), es wurde zum sittlichen Prinzip des gemeinsamen Lebens, ja, durch den Pietismus zum Gottesdienst. Christliche Zucht, vemünftige Nächstenliebe, Toleranz Ullld Pflichterfüllung bewivkten schließlich einen besonderen Lebensstil. Handwerk, Manufactur, Landwirtschaft und Handel wurden nach den Bedürfnissen der Gesamtheit gesteuert und gefördert. Der große Kurfürst prägte den Satz, er selbst habe sein Kurfürstentum mit dem Bewußtsein zu lenken, daß es die Sache des Volkes, nicht sein Interesse sei: die Grundlage des aufgeklärten, d. h. pflichtgebundenen Absolutismus. Seine straff gelenkte Macht stellte der große Kurfürst in den Dienst des Reiches: er beklagte in einer Flugschrift, daß Rhein, Weser, Elbe, Oder fremder Nationen Gefangene seien, und erhob die klassische, sprichwörtlich gewordene Mahnung: "Gedenke, daß Du ein Deutscher bist".

II. Der aufgeklärte Absolutismus in Deutschland

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Die Prinzipien des Gesamtwohls wurden die verfassungsrechtliche Grundlage, auf der er alle seine ererbten und erworbenen Gebiete, die bisher nur durch seine Person verbunden waren, zu einem preußischen Gesamtstaat mit einheitlicher, mehr und mehr an die Heeresverwaltung angelehnter Verwaltung vereinigte unter Befreiung von jeglicher fremder Lehnshoheit; daher konnte sein Nachfolger sich die preußische Königskrone zusprechen (Friedrich 1.). Verwaltung und Heer wurden fortan mehr und mehr vom König persönlich gelenkt, Beamte und Offiziere zu einem einzigartigen Pflichtbewußtsein, zur Sparsamkeit, Redlichkeit, Sachlichkeit, Ehrgefühl und spartanischer Disziplin erzogen. Der König selbst unterstellte sich diesen Prinzipien. Als äußeres Zeichen der gemeinsamen Pflicht und Ehre trug hernach Friedrich WHhelm I. ständig Offiziers-Uniform. Die meisten anderen Souveräne folgten diesem Beispiel. Freilich wurde die Zucht überspitzt: der Polizeistaat regelte zunehmend das Privatleben, ja, bevormundete den Einzelnen. Auch die Wissenschaft unterlag nicht dem Abso·l utismus der französischen Könige und der Stuarts. Pufendorf (der Hauptvertreter des deutschen .Nbsolutismus) erkannte, ebenso wie Lei:bniz, in Staat und Volk (die sie nicht unterschieden) eine geistige Lebensganzheit und Person. Daher wurden der Landesfürst oder (in den Städten) das herrschende Kollegium, die die Lebenseinheit repräsentierten, an deren Naturrecht und an das Naturrecht der Bürger gebunden. Pufendorf erkannte und präzisierte - gegen Hobbes - das Widerstandsrecht des Volkes gegen Rechtsbrüche des Fürsten. Für Lei'bniz begrenzte außer dem Naturrecht auch die positive Staatsverfassung die Gültigkeit der Befehle und die Gehorsamspflicht der Untertanen. Die Nachfolger (Ulrich Huber, Thomasius) fügten, nach dem Vorbild der englischen Revolutionen, bestimmte angeborene Menschenrechte (Freiheit des Gewissens, der Persönlichkeit, der Meinung, des Eigentums) als Schranken der fürstlichen Gewalt hinzu. Somit war in Deutschland der Grundsatz des Rechtsstaats - die staatliche Gewalt stehe unter dem Recht - im Kern erhalten, als J ohn Lockes Abhandlungen über die Regierung (1690) erschienen. Daher konnten die von England ausgehenden rechtsstaatliehen Institute vom aufgeklärten Absolutismus Deutschlands seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts aufgenommen werden, wesentlich gefördert durch die Schriften von Christian Wolff und Montesquieu. Denn der Rechtsstaat wird nicht in bestimmten abstrakten Rechtsformen wirklich. Er erlangt Wirklichkeit im Willen der entscheidenden Staatsmänner, das Recht mit den Prinzipien seiner Determinierung und Konkretisierung zu beachten. Schon unter dem preußischen König F riedrich Wilhelm I. trat Samuel von Cocceji (ab 1737 Chef de justice, von Friedrich dem Großen

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li. Der aufgeklärte Absolutismus in Deutschland

1747 zum Großkanzler ernannt) für die Unabhängigkeit der Gerichte und Beseitigung der königlichen Kabinettsjustiz (Richtersprüche des Königs) ein; unter Friedrich II. (dem Großen) konnte er diesen Grundsatz und die dazu erforderlichen Änderungen der Prozeßordnung durchsetzen. Später wurden die Gerichte durch den Großkanzler Carmer nach den Lehren Montesquieu zu unabhängigen Instanzen zwischen dem absoluten König und der Privatspähre der Untertanen. Justiz und Verwaltung suchte Friedrich durch das Ressortreglement von 1749, das als Staatsgrundgesetz galt, voneinander zu trennen (während bis dahin richterliche und verwaltende Geschäfte nach wechselnden Gesichtspunkten unter die Behörden verteilt wurden). Allerdings wurde die Trennung noch nicht nach Funktionen, sondern nach sachlichen Gesichtspunkten (interesse privatum, interesse publicum) vorgenommen. Auch die Verwaltungsbehörden (die "Kammern") hatten nach einer Prozeßordnung und nach Gesetz und Recht zu verfahren. 1782 schuf Friedrich eine unabhängige und unparteiische Rechtsprechung in Verwaltungssachen; sie wurde Kammerjustizdeputationen- in zweiter Instanz einem Oberrevisionskollegium - übertragen. Friedrich ging offenbar am Ende seiner Regierung von einer einheitlichen Funktion der Rechtsprechung aus. Wenn auch die Vorstellung, daß der Einzelne gegen den Staat auf Vornahme oder Unterlassung von Hoheitsakten klagen könne, noch in weiter Ferne lag, hob 1782 doch bereits die Verwaltungsrechtsprechung in Deutschland an. Die Krönung des verfassungspolitischen Werkes aber war das Gesetz, das Herrscher und Land zu einem "corpus humain" verband. Die alte deutsche Erkenntnis, daß Fürst und Volk eine organische Einheit, ein "corpus" bildeten, wurde durch Friedrich zum ersten Mal praktische Wirklichkeit: er schuf den gesetzmäßig gelenkten Staat, dem als objektiven, Fürst und Volk verbindenden Wesen auch der Herrscher zu dienen hatte. Die Verschmelzung aller preußischer Länder zu einem einheitlich verwalteten Gebiet wurde bereits seit dem Großen Kurfürsten fortschreitend durchgeführt. Aber daß diese Einheit nicht allein durch den Willen des Königs, sondern durch allgemeine Gesetze zusammengehalten wurde, war das Neue, der Staatsbegriff in der Wirklichkeit. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Montesquieus "Esprit des Lois" (17 48) erklärte F·r iedrich ein Gesetzbuch für die höchste Leistung des menschlichen Geistes und betrieb seitdem mit Nachdruck die Kodifikation des gesamten preußischen Rechts. Das "Allgemeine Gesetzbuch" geht im wesentlichen auf Friedrichs Initiative zurück, wenn es auch erst nach seinem Tode unter dem Titel "Allgemeines Landrecht" veröffentlicht wurde. Danach hatte der König die Rechtsstellung dP.s "Oberhauptes", in dem sich "alle Rechte und Pflichten des Staates" vereinigten; er stand im Staate - dem corpus humain - und daher unter

II. Der aufgeklärte Absolutismus in Deutschland

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dessen Gesetz. Zuerst wurden im Allgemeinen Landrecht seine Pflichten bestimmt; nur zur Erreichung der ihm aufgegebenen Zwecke des Staatskörpers standen ihm die - im einzelnen aufgeführten - Majestätsrechte zu. Machtsprüche des Königs galten als ungesetzlich. Auch die Verwaltung war an das Gesetz gebunden. Pütters ·rechtsstaatliche Konzeptionen (1777) wurden weitgehend aufgenommen: die Kompetenz der unteren Polizeibehörden wurde darauf beschränkt, die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu erhalten und Gefahren von der Allgemeinheit abzuwehren. Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Eigentum und die Gleichheit vor dem Gesetz wurden garantiert. Beschränkungen und Entzug von Vermögensrechten waren nur zur Beförderung des gemeinen Wohls zulässig und verpflichteten den Staat zur Entschädigung. Der Beamte, der als Staatsdiener galt, hatte jede Rechtswidrigkeitauch gegenüber den Untertanen zu vertreten. Das öffentliche Wohl und die öffentlichen Interessen - die der Staatskörper wahrzunehmen hatte - waren dabei keineswegs abstrakte Begriffe; sie hatten ihre konkrete Gestalt in der öffentlichen Meinung des Volkes. Friedrich legte Wert auf die öffentliche Meinung und die Freiheit der Presse ("gazetten dürfen nicht genieret werden"), ohne sich ihnen zu unterwerfen; sie sollten durch Vorangehen der Staatsmänner gesteuert, durch Beispiel erzogen werden- die Polarität eines Staatswesens! -. Die Gültigkeit von Gesetzen hatte Friedrich im Jahre 1782 davon abhängig gemacht, daß vor ihrem Erlaß eine Gesetzgebungskommission gutachtlich dazu gehört war. Der aufgeklärte Absolutismus Preußens hat den Boden bereitet für konstitutionelle Anschauungen. Andere deutsche Staaten folgten dem preußischen Beispiel. Einige stießen noch weiter vor als Preußen. So befreite Kaiser J oseph II. die Bauern in Österreich schon 1781 von der Erbuntertänigkeit und gab ihnen die Möglichkeit, ihre Lasten abzulösen. Das Bewußtsein der staatlichen Gemeinschaft und ihres besonderen Lebensstils führte dazu, in Preußen wie in Bayern, von "Volk", "Nation" und "Vaterland" zu sprechen ("Ich ·bin ein Preuße, will ein Preuße sein"). Doch wurden diese Begriffe damals rationaler verstanden als in späterer Zeit. Friedrich begründete die Liebe zum Vaterland damit, daß das Vaterland durch allgemeine Gesetze Asyl unseres Glückes sei; soweit darin Werte des Gefühls ("Glück") durchbrachen, waren es typisch deutsche Werte: es kam darin die deutsche Nation - da der Kaiser seine Wirkungskraft eingebüßt hatte - zum ersten Male in einem ihrer Zweige wieder zu politischer Geltung: zur WiPklichkeit einer Gesamtordnung des Lebens. Ihr klassisch!es Drama war Kleists "Prinz Friedrich von Homburg".

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li. Der aufgeklärte Absolutismus in Deutschland

Die mittleren und kleinen deutschen Staaten, die keine politische Eigenart hervorbrachten, aber die kulturellen Werte der deutschen Nation im Stammes- und Landesbewußtsein bewahrten, empfanden sich gegenüber dem Nationalitätenstaat der Habsburger sowie gegeni.i!ber Preußen und Bayern als das "dritte Deutschland", in dem sich die deutsche Nation "rein" manifestiere - versponnen und zwiespältig, abgeschlossen gegen die politische Wirklichkeit. -

Drittes Kapitel

Die Idee der rechtsstaatliehen Verfassung in Deutschland Die rechtsstaatliehen Grundsätze konnten in absoluten Staaten nur Prinzipien der Regierung, nicht aber konstituierende Rechtsquelle der staatlichen Hdheit sein. Die praktische Wende zum Verfassungsstaat, dessen Hoheit um der Freiheitwillen allein durch das Recht begründet und begrenzt ist, wurde in Deutschland zwar vom Ausland her ausgelöst: durch die Unabhängigkeitserklärung der USA, durch die französische Revolution und durch die napoleonischen Kriege. Diese Ereignisse integrierten indes nicht unmittelbar das deutsche Staatsbewußtsein, sie führte nicht zur Rezeption fremder Rechts- und Staatsauffassungen. Sie waren für das deutsche Volk nur mächtige Anstöße, sich auf die geistigen Substrate der eigenen Existenz, insbesondere seines politischen Bewußtseins zu besinnen. Die besondere Art des deutschen Geistes - auch des Rechtsstaats wurde zuerst von Kant in das Licht der Erkenntnis gestellt. Er brachte eine "kopernikanische Wende", für die Philosophie, insbesondere für die Rechts- und Staatslehre: nur in unserer Vernunft ist Wahrheit- das göttliche Gesetz in mir - während alle Erfahrung durch Sinneswahrnehmung nicht die Wahrheit- die Dinge an sich- sondern nur deren Erscheinung (das was uns erscheint) zeigt; denn sie ist geformt durch den erkennenden Geist, durch dessen Anschauungsformen (Raum und Zeit), sowie durch dessen Denk- und Verstandesformen (Kategorien). Das bloße Denken (heute würden wir sagen: die Ideologie) aber gibt ebenfalls keine Erkenntnis, weil ihr kein wii'klicher Gegenstand entspricht. Nur die sittlichen Gebote der Vernunft erkenne ich autonom; sie begründen meine Freiheit gegenüber den Gesetzen der Natur. Denn sie gelten unbedingt, schlechthin; sie fordern, unabhängig von, ja, entgegen unseren natürlichen Neigungen zu handeln: die "eherne Stimme", "vor der wir zittern". Der kategorische (unbedingte) Imperativ des Sittengesetzes ist das wahre allgemeine aufgegebene Gesetz aller vernünftigen Menschen (das "obere Erkenntnisvermögen der Vernunft") Das Recht, der eine Teil des Sittengesetzes, enthält diejenigen Gebote, die erforderlich sind, damit die Freiheit des einen mit der des anderen zusammen bestehen kann (während die Tugend auch meine Pflichten

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111. Die Idee der rechtsstaatliehen Verfassung in Deutschland

mir gegenüber umschließt). Das Recht gibt daher die Befugnis, andere zur Beachtung des allgemeinen Sittengesetzes gegenüber dem Inhaber des Rechts zu zwingen; damit wird nicht deren Freiheit, sondern nur deren Willkür eingeschränkt; denn nur im Sittengesetz besteht die Freiheit. Recht ist somit die Bedingung der Betätigung der Freiheit im menschlichen Zusammenleben. Der Staat aber hat die Aufgabe, das Recht zu schützen, d. h. es ·z u determinieren und es notfalls durch Zwang zu konkretisieren. Die Ausübung seiner öffentlichen Gewalt ist nicht durch einen historischen Vertrag legitimiert, sondern ist als praktisches VernunftpTinzip allgemein geboten und verbindlich; denn die Meinungen über das, was rechtens i:st, gehen auseinander und der böse Wille der Menschen widersetzt sich dem Recht, •so daß es nur durch hoheitlichen Befehl (des Gesetzes oder des Richters) die Gemeinschaft ordnen kann. Nicht aus übereinstimmender Willkür der Menschen, sondern aus allgemeingültigen Prinzipien der Vernunft folgt die Unterordnung unter die Staatsgewalt; nicht die willkürliche Entscheidung der Einzelnen, sondern das unbedingte Gebot des Sittengesetzes - der kategorische Imperativ - begründet das Recht und dessen Verwirklichung durch den Staat.

Zum ersten Male wurden Recht und Rechtsstaat als sittlich gebotenes Gesetz der Freiheit aufgezeigt: sie sind notwendige, das Zusammenleben konstituierende Gebote der Freiheit. Diese Erkenntnis entstand nicht unvermittelt wie der Phönix aus der Asche: sie findet sich in den Grundlagen angedeutet bereits bei Grotius, und praktisch in dem Pflichtbewußtsein, der Zucht, der Redlichkeit, die der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große dem Staate und dessen Gliedern als politische Grundsätze eingeprägt hatten. Kant hat somit das kategorische Gebot der Pflicht, das ihm, seinem Staat und seiner Umgebung die Form gegeben hatte, in die Klarheit philosophischer Begründung gehoben. Die Rigorosität, mit der jene preußischen Herrscher die staatspolitischen Pflichten durchsetzten (der strengste: Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, der jeden Krieg vermied) entspricht der Rigorosität des kategorischen Imperativs, den Kant lehrte. Die staatliche Gewalt differenziert sich nach Kant ihrer inneren Logik nach in drei voneinander getrennte Gewalten: die souveräne der Gesetzgebung, die das Recht allgemeingültig bestimmt, die rechtsprechende, die es auf den Einzelfall anwendet, und die vollziehende der Regierung, die es durchsetzt. In dieser Unterscheidung erblickte er das Wesen einer "rechtmäßigen Verfassung", nämlich der einer reinen Republik ("res publica"). Nur die Staatsverfassung sei rechtmäßig, die "allein die Freiheit zum Prinzip, ja, zur Bedingung des Zwangs macht", d. h. "wo das Gesetz selbstherrschend ist und an keiner besonderen

111.

Die Idee der rechtsstaatliehen Verfassung in Deutschland

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Person hängt". Die äußeren Staatsformen (Monarchie, Demokratie, Aristokratie) traten dahinter zurück (England ist danach eine monarchische Republik). Die souveräne, gesetzgebende Gewalt stehe dem vereinigten Willen des Volkes zu. Doch bleibt dies alles nicht ein abstrakter theoretischer Gedanke, wie Rousseaus volonte generale. Denn nach dem notwendigen Gebot der Vernunft (Idee als praktischem Vernunftsprinzip) ist das Volk erst durch den vorhandenen konkreten gesetzgebenden Willen wirklich vereinigt, also ein Volk (d. h. im monarchisch regierten Ländern durch den Monarchen); er repräsentiert den vereinigten Willen aller (im Gegensatz zu Rousseaus Lehre). Aber er ist verpflichtet, "die Regierungsart jener ldee angemessen zu machen" derart, "daß sie mit der einzig wahren rechtmäßigen Verfassung, nämlich der reinen Republilk, ihrer Wirkung nach zusammenstimme". Der gesetzgebende Volkswille ist somit nicht despotisch (wie Rousseaus volonte generale), sondern muß nach den notwendigen Prinzipien der Vernunft gehandhabt werden; sie erst konstituieren den vereinigten Volkswillen. Er kann daher nur allgemein gültige Gesetze geben, nicht aber in die Ausführung (Rechtsprechung und Regierung) eingreifen. Das Ideal einer Regierung ist für Kant wirkZieh in den irrationalen Gegebenheiten als patriotische oder vaterländische Regierung, die die Untertanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie (die alte deutsche Vorstellung!), doch zugleich als Staatskörper, d. h. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbstständigkeit behandelt, sodaß keiner vom absoluten Willen eines anderen neben oder über ihm abhängt (die englische Idee eines patriotischen Königs, von Bolingbroke entwickelt, taucht hier auf). Es ist also ein Mißverständnis zu meinen, Kant sehe allein die Vernunft als praktisch konstituierend für Volk und Staat an: aber in und durch die irrationalen seelischen Mächte des Gemüts und der Empfindung sollen die Prinzipien der Vernunft wirksam sein. Mit dieser aus dem Sittengesetz der Vernunft gewonnenen Erkenntnis vom Recht und vom Staate begann die Eigenart der deutschen Rechts- und Staatsanschauung, die sich von der des westlichen Auslands abhob. Denn der Westen leitete Recht und Staat unmittelbar aus der Erfahrung, aus Angst, Streben nach Glück, nach Sicherheit und Nützlichkeit ab und legitimierte sie allein durch wirkliche oder hypothetische Verträge der Einzelnen. Daher untersucht der Westen den Staat pragmatisch, nicht grundsätzlich philosophisch, er trerbt political science (science politique), nicht allgemeine Staatslehre. Aus der deutschen Eigenart, die ihre Wurzel in der Rigorosität Kants hatte, ging der deutsche Idealismus hervor, die Größe des deutschen Rechts und der deutschen Staatsidee, die nur vereinzelt vom Westen übernommen wurde, aber die Gefahr der Isolierung in sich ·b arg.

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III. Die Idee der rechtsstaatliehen Verfassung in Deutschland

Kants Lehren gaJben zwar das Fundament für die Entwicklung des Rechtsstaats. Doch sie führten in Deutschland, so sehr sie auch die Gemüter bewegten, erst allmählich zu praktischen verfassungspolitischen Neugestaltungen. Das Entsprechende gilt von der Verfassung der USA, die ebenfalls den Staat auf der Grundlage der Freiheit und Vernunft errichtete: die Freiheit (life, liberty, property) war dort nicht bloß als Individualrecht geschützt, sondern war Grundlage und Rechtsquelle (basis and foundation) der Regierung (government im weitesten englischen Sinne der staatlichen Hoheit überhaupt); sie war konstituierendes Prinzip der politischen Gemeinschaft. Das freie Menschentum war in den USA zur vollen politischen Wirkung gekommen. Doch war die poltische Situation in Nordamerika von der in Deutschland so verschieden, daß eine unmittelbare Beeinflussung oder gar Übertragung der Verfassungsprinzipien nicht in Frage kam: dort hatten sich freie Siedler aus freiem Entschluß zu Staaten, die ihrem Leben angemessen waren, vereinigt; hier aber galt es, die neuen Erkenntnisse der Zeit in die Wirklichkeit monarchischer Staaten zu integrieren. Die französische Revolution von 1789 beseitigte zwar die bestehenden politischen Mächte in Franikreich und setzte einen Staat nach abstrakten Ideen ( = Ideologien) an die Stelle. Doch eben die Despotie dieser Ideen, die zu entsetzlichen Exzessen führte (wie jede a:bstra:kte Idee, die sich für allgemeingültig hält), bewahrte das deutsche Volk in kritischer Distanz gegenü:ber diesen Vorgängen. Die Erkenntnis, daß echte Ideen immer nur in einer konkreten Gemeinschaft einen bestimmten Sinn erfüllen und nur in ihr, begrenzt durch irrationale Gegebenheiten, relativ und U!lZUlänglich wirklich werden können, blieb in Deutschland erhalten. Nur die Wirklichkeit, nicht ein abstrakter Gedanke, birgt Werte. Der Gedanke erhält erst dadurch einen Wert, daß er die Wirklichkeit durch persönliche Tat befruchtet; niemals kann er eine neue Wirklichkeit schöpferisch erzeugen. Daher hatten die Ideen der französischen Revolution in Deutschland eine durchaus andere Wirkung als in Frankreich. Die Souveränität des französischen Königs, sein schrankenloser Wille galt in Frankreich als höchstes Gesetz des Landes. In Deutschland war die Souveränität des Monarchen, insbesondere des preußischen, oberste Zuständigkeit in einem Ganzen ("corps humain"), gebunden an das Recht und berufen zum Dienst am Ganzen, auch an der Bevölkerung. In Frankreich hatte sich der Bürger gegen die Mißachtung seines Menschentums, seines Rechts, seiner Freiheit und Gleichheit, gegen Willkür und Mißbräuche in Regierung und Verwaltung empört; es ging um die Grenzen des Staates, um die bereits die Protestanten im 17. Jahrhundert (Jurieu um

III. Die Idee der rechtsstaatliehen Verfassung in Deutschland

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die Gewissensfreiheit) gerungen hatten. In Deutschland war das Gefühl der Gerechtigkeit und das Bewußtsein vom gemeinsamen öffentlichen Sinn des Staates im Monarchen und in allen Ständen und Schichten der Bevölkerung lebendig geblieben; die Exzesse einzelner Fürsten blieben Einzelerscheinungen ohne nachhaltige Wirkung. Das allgemeine Recht des Landes war in Deutschland nicht, wie in Frankreich, gegenüber dem Monarchen und seiner Verwaltung unwirksam, sondern wurde von Gerichten geschützt. Auch hoheitliche Eingriffe ("Polizei") ergingen nicht nach Belieben, sondern im allgemeinen Interesse; sie waren Rechtsentscheidungen, deren Rechtmäßigkeit nachgeprüft werden konnte (in Preußen von unabhängigen Jurisdiktionskommissionen). Das französische Prinzip des service royal hatte nicht, wie grundsätzlich in Frankreich, die Repräsentation des Landes annulliert und an die Stelle königliche Notables gesetzt (1787). In den meisten deutschen Ländern wurden noch am Ende des 18. Jahrhunderts die Angelegenheiten des Landes gemeinsam vom Fürsten und den Landständen beschlossen, die als Repräsentanten des ganzen Landvolkes galten. Die Bauern wurden gegen Übergriffe des Adels geschützt. Gegen den Staat wurde in Deutschland nicht der Vorwurf der Rechtlosigkeit und Willkür, sondern der der Sterilität und Bevormundung erhoben. Die Ideen des Humanismus und der Aufklärung - Freiheit und Vernunft - lösten daher in Deutschland ein anderes Empfinden aus als das des Aufstandes gegen den Staat. Denn Ideen heben nur die wirkenden Mächte des Gefühls ins Bewußtsein; das Denken allein gibt keinen konkreten Inhalt. Die Reformation hatte das Bewußtsein der Gewissensfreiheit und die Bruderliebe wach gerufen. Romantische Erinnerungen an altdeutsche Freiheiten wurden durch Möser geweckt; sie wurden vielfach verwoben mit Herders Geschichtsphilosophie, die zum ersten Male die Geschichte nicht rational..Jbegrifflich, sondern als ein ständig sich wandelndes und entfaltendes Gemälde darstellte und den Staat darin als die Naturordnung der Menschen verstand; in ihr war jeder das, woru ihn die Natur bestellte. Je mehr der deutsche Bürger erkannte, daß er durch seine Leistungen den Staat mit formte, und daß seine eigenen Angelegenheiten vom Staate geregelt wurden, desto mehr fragte er nach den Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Wilhelm v. Humboldt behandelte in seiner Jugendschrift im Jahre 1792 dieses Thema. Das Anliegen des deutschen Bürgers war nicht Revolution, sondern er verlangte, den status des gemeinsamen Lebens, den "corps humain" nach den Erkenntnissen der Zeit- Freiheit und Gleichheit- neu zu konstituieren.

Viertes Kapitel

Der Kampf um eine Verfassung 1. Abschnitt: Reformen und Reformpläne

Die praktisch-politische Bedeutung des deutschen Volkes und seines Vaterlandes- bis dahin Gegenstand abstrakter Schwärmereien- kam durch die Schläge Napoleons zum allgemeinen Bewußtsein. Eine staatliche Macht, die alle Kräfte ihres Volkes und Vaterlandes zusammenzufassen verstand - Frankreich - bedrängte, besiegte und zerbrach die sterilen deutschen Staaten des A!bsolutismus. Volk, Nation, Vaterland erschienen nach diesen Erlebnissen auch in Deutschland mehr und mehr als die gemeinsamen Substanzen des Lebens, die die Seele mit Liebe, Ehrfurcht und Sehnsucht erfüllten. Die deutsche Nation begann, ihre Geschichte zu gestalten. Der preußische Staat ging voran. Er trat nach dem Prinzip der politischen Pflicht, das ihn geformt hatte, seinen Dienst am deutschen Volke an. Praktisch maßgebend wurden insbesondere die preußischen Minister Stein, Hardenberg und Wilhelm von Humboldt. Zahlreiche französische und andere Vorbilder beeinflußten zwar die Neugestaltung Preußens seit 1806: die schon vorbereitete Bauernbefreiung (Aufhebung der Erbuntertänigkeit und die Regulierung der Besitzrechte am Grund und Boden), die Beseitigung der Vorrechte des Adels beim Erwerb ländlicher Grundstücke und bei der Besetzung der Offiziersstellen, die Aufhebung der Steuerfreiheit des Adels, die Gewerbefreiheit für alle Stände, die allgemeine Wehrpflicht (1813 für die Dauer des Krieges), die Judenbefreiung; ferner die organisatorischen Reformen: die Beseitigung der Kabinettsregierung (die zwischen dem König und den verantwortlichen Ministern stand) und die Aufgliederung der Verwaltung unter fünf Minister, die den König unmittelbar berieten (ein Prinzip, nach dem Napoleon seinen Staat aufgebaut hatte). Doch stets wurde nur das aufgenommen, was mit der politischen Wirklichkeit des preußischen Staates vereinbar war, sie regenerierte und weiter entwickelte. Daraus ist zu erklären, daß die deutschen Staaten, die nicht (wie Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt) unmittelbar in französischer Abhängigkeit standen, nur einen Teil jener Reformen vor 1815 durchführten.

1.

Reformen und Reformpläne

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Albgelehnt wurde vor allem die französische Verfassungsmacherei nach a!bstrakten Prinzipien. In Fralllkreich war durch die Revolution die Souveränität des Königs, d. h. die unteilbare und unbegrenzte Fülle aller Herrschaft auf das Volk übertragen derart, daß die Freiheit der Bürger allein darin bestand, am souveränen Volkswillen teilzuhaben, ihn aber nicht beschränkte( die despotische Demokratie Rousseaus: "der Volkswille kann nicht irren"). Damit war die Polarität der Herrschaft (Herrscher/Beherschte) im Prinzip aufgehoben, eine Antinomie, die Rousseau durch die mystische, aber gefährliche Fiktion überwunden hatte, daß - nach dem Grundvertrag aller - in der Mehrheit sich der wahre Willen eines jeden - also das, worin sich alle einig sind - manifestiere. Die politische Wirklichkeit aber verlangt rechtlich verkörperte Einheit und Kontinuität der Herrschaft: ein Institut! Die flüchtige Erscheinung einer Mehrheit, die jederzeit einer anderen Mehrheit mit anderen Intentionen weichen muß, ist kein Institut. Nach Beseitigung der Monarchie in Frankreich wurde derher zweimal versucht, den allgemeinen Volkswillen durch Institute zu repräsentieren. Die erste republikanische Verfassung (1793) löste, noch ehe sie in Kraft trat, die jakobinische SchrekkenSherrschaft aus: der souveräne, nicht durch Institute geformte Volkswille bedeutete ständige Revolution, Anarclüe. Die zweite republikanische Verfassung (1795) fand 1799 ihr Ende durch den Staatsstreich Napoleons, der die Verkörperung des Volkswillens in Anspruch nahm. Dem deutschen Volke war und blieb der abstrakte Begriff eines allgemeinen Volkswillens fremd : es erblickte in der staatlichen Herrschaft das sinnbestimmte und begrenzte Mandat, für Recht und öffentliches Wohl im Lande zu sorgen. Unvergessen blieb, was das Volk den Königen und Fürsten in dieser Hinsicht verdankte. Stein bezeichnete die französischen Verfassungs-Ideologien als "metapolitischen Schwindelgeist" wirklichkeitsfremder Staatsphilosophen und Literaten, dessen Übel ein Freund Steins dahin kennzeichnete, "daß man nach kurzsichtiger menschlicher Weisheit", mit einem Male und "von Grund aus neu aufbauen wolle" 1• Unter dem Eindruck der Streitschrift des englischen Staatsmanns Edmund Burke gegen die französische Revolution2 rundete Stein und sein Kreis- beginnend schon vor der Niederlage von 1806- die deutsche Staatsvorstellung durch einen organischen Volksbegriff, der ihr bisher gefehlt hatte, ab: das Volk ist danach eine Lebenseinheit, die sich in Generationen entwickelt, ihre ihr eigentümliche Staatsverfassung hervorbringt und als geschichtliches Erbteil den Nachkommen über1 Gerhard Ritter, Stein (1931) I, 155 f. Auch die ostasiatischen Philosophien halten durchweg für unklug und schädlich, etwas "machen" zu wollen. 2 Edmund Burke, Reflections on the revolution in France (ed. A. H. Grieve, Everymans Library, London 1964).

IV. Der Kampf um eine Verfassung

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liefert. Der politische Wille dieser Einheit ist somit durch zahllose geschichtliche Faktoren bestimmt; er manifestiert sich nicht im Willen einer Volksgeneration, sondern im Herkommen. Daher dürfe der Staatsmann "vor schöpferischen Aufgaben gestellt, nicht den beschränkten Einfällen seines subjektiven Denkvermögens allein vertrauen", sondern er müsse "der göttlichen Methodik der Natur folgen, die nichts Neues schafft, das nicht organisch aus Altem erwächst und nichts Altes bestehen läßt, das sich nicht beständig erneuert"3 • "Allein dadurch, daß man das Gegenwärtige aus dem Vergangeneu entwickelt, kann man ihm eine Dauer in der Zukunft versichern" 4• Eine Verfassung müsse daher nicht erfunden, sondern erneuert werden. In dieser Erkenntnis wurde - wahrscheinlich beeinfiußt von SeheHing und Schleiermacher - die alte deutsche Vorstellung eines geistigen Corpus fruchtbar, d. h. einer durch eigene Kraft bestehenden Lebenseinheit, in der sich alles wechselseitig Zweck und Mittel ist5• Diese organische Volks- und Staatsanschauung war die Wurzel der preußischen Reformen. Einig war man sich darin, daß das Volk an der Ausübung der Staatsgewalt zu beteiligen sei: "demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung" forderte Hardenberg. Die höchste Gewalt konnte ja nach deutscher Auffassung, die durch Montesquieu bekräftigt war, geteilt und eingeschränkt werden. "Der preußische Staat hat keine Staatsverfassung: die oberste Gewalt ist nicht zwischen dem Oberhaupt und Stellvertretern der Nation geteilt", sagte Stein6 • Einmütigkeit bestand auch darin, daß politische Rechte nicht dem isolierten Individuum als solchem - einem abstrakten Begriff zukommen. Sondern maßgebend war die Befruchtung und Förderung des Ganzen, die Verantwortung und Berufung für die gemeinsame Existenz im Volke, eine politische Weisheit, die, wie erwähnt, das Werden der nordamerikanischen Verfassung bestimmt hatte: Freiheit und Rechte "as basis and foundation of government". - Der Staat sollte selbst den politischen Willen des Volkes auf seine Mühlen leiten. Regierung und Verwaltung sollten die Bürger an öffentliche Aufgaben heranführen, um das Bewußtsein ihrer Verantwortung für Volk und Staat zu wecken. Da:bei sollten ·die Staatsmänner durch vorbildliche überzeugende Tat jedes Volksglied zum verantworlichen, auf das Gemeinwohl gerichteten Gebrauch seiner Freiheit - zur wahren Freiheit Ritter, a.a.O., I, S. 157. Stein, vgl. Ritter, a.a.O., I, S. 1. 5 Auf die Analogie des Staates zum natürlichen Organismus hatte schon Kant hingewiesen, Kritik der Urteilskraft, Akad. Ausg. Bd. V, S. 374, 375 Anm. 6 In seiner Denkschrift über die fehlerhafte Organisation des Cabinetts vom 27. April1806. 3

4

1. Reformen und Reformpläne

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im Sinne Kants- führen. Den Kräften der Nation sei "eine freie Tätigkeit und eine Richtung auf das Gemeinnützige zu geben, sie vom müßigen sinnlichen Genuß oder von leeren Hirngespinsten der Metaphysik oder von Verfolgung bloß eigennütziger Zwecke abzulenken7 " . "Teilnahme der Nation an Gesetzgebung und Verwaltung bildet Liebe zur Verfassung, eine öffentliche richtige Meinung über nationale Angelegenheiten und die Fähigkeit bei vielen einzelnen Bürgern, die Geschäfte zu verwalten" 8 • Die Schwierigkeit lag jedoch darin, daß in Deutschland die politisch interessierte und geschulte Oberschicht fehlte, "die in England den Staat zugleich verwaltete und parlamentarisch regierte". "Die tiefe Entfremdung des deutschen Bürgerstandes vom Staate, seine politische Unbildung, seine philiströse Dürftigkeit, seinen Mangel an Mut und aufrechter Haltung- eine Folge seiner jahrhundertelangen Verdrängung aus der Politik, seiner Unterwerfung unter das Territorialfürstentum und die adligen Stände -" haben Stein und seine Freunde "ebenso bitter beklagt wie die starre, kastenmäßige Absonderung der deutschen Aristokratie vom bürgerlichen Leben9." Da alle politischen Rechte nur aus der wirklichen Befähigung der Bevölkerung zur Gestaltung des öffentlichen Lebens fließen können, mußte der Bürger zunächst an den engsten Kreis seiner Interessen herangeführt werden und sie verantwortlich wahrnehmen. Grundidee Steins war, "durch das Mittel der Selbstverwaltung sittliche Grundsätze, edles, kräftiges Handeln für das Gemeinwohl an Stelle träger Genußliebe, gemeiner egoistischer Sinnlichkeit in der ganzen Nation zu verbreiten10". Zuerst erhielten daher die Städte Verfassungen; Stein sah sie als Korporationen mit eigenen politischen Rechten an (nach dem Vorbild der pouvoirs intermediaires Montesquieus). Aber auch dort erschienen damals nur die selbständigen Bürger politisch reif genug, um einen praktischen Überblick über die Erfordernisse des öffentlichen Lebens zu haben. Die Angehörigen der unselbständigen Berufe waren von politischen Rechten (Wahlrecht, Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten) im allgemeinen ausgeschlossen - nicht aus Kastenbewußtsein, sondern aus der politischen Notwendigkeit, den Aufgaben der öffentlichen Verwaltung gerecht zu werden. - Die städtischen Angelegenheiten wurden an der Spitze gewählten Repräsentanten (Stadtverordneten und Magistrat), die laufende Verwaltung in weitem Umfange ehrenamtlich tätigen Bürgern in Deputationen übertragen. Hierdurch sollte nach Steins Absicht der Sinn der Bürger für das Gemeinwesen geweckt und geschult werden. Man wählte zum ersten Mal in Stein in der Nassauer Denkschrift v. Juni 1807, vgl. Ritter, a.a.O., I S. 297. Stein, vgl. Ritter, a.a.O., I, S. 432. 9 Ritter, a.a.O., I, S. 161. 1o Ritter, a.a.O., I, S. 179 f. 7

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3 Hamel

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IV. Der Kampf um eine Verfassung

Deutschland nach Bezirken, nicht nach Ständen. Zugleich wurde die städtische Verwaltung von der Justiz, die dem Staat oblag, getrennt. Dem Lande eine ähnliche Selbstverwaltung zu geben, stand zunächst noch der Mangel an politischer Urteilskraft der Bevö,lkerung entgegen; die Bauern waren noch in den Anfängen ihrer Selbständigkeit. Doch gingen Steins weitere Pläne dahin, aus den Repräsentanten der örtlichen öffentlichen Korporationen - denen auf dem Lande eine andere Gestalt als in den Städten zu geben sei - Kreistage, aus deren gewählten Repräsentanten Provinziallandtage und aus ihnen schließlich die Nationalrepräsentation aller preußischer Lande hervorgehen zu lassen. Die Minister Altenstein und Hardenberg stimmten diesem Plan zu. Auch hier knüpfte Stein an die Wirklichkeit der Lage, der Befähigung und Verantwortlichkeit der Wähler an: der Einzelne kann Überblick und Verantwortung nur für den Umkreis seines Lebens haJben, während die Wahrnehmung der weiter greifenden öffentlichen Angelegenheiten den Repräsentanten der öffentlichen Korporationen vorbehalten bleiben sollte, da sie bereits politische Erfahrung besaßen. Wahlrecht und Mitbestimmung sollten daher nicht abstrakt zugeteilt, sondern stets auf einen bestimmten Aufgabenkreis, für den der Entscheidende Verantwortung tragen konnte, bezogen sein. Direkte Wahlen zur Nationalrepräsentation hingegen sah Stein als revolutionäre Verirrung an: sie führten, wie sich 1789 in Frankreich gezeigt hatte, mit Notwendigkeit zur Bildung zentral gelenkter Parteien, die sich zwischen Wähler und Kandidaten schalten; daher wurden dort nicht Persönlichkeiten, also nicht echte Repräsentanten gewählt (der Sinn der Wahl), sondern ein Kollektiv mit einem abstrakten, allgemeinen, meist ideologischen Programm, das die wechselnden politischen Situationen nicht berücksichtigt und daher kaum je durchführbar ist oder zur Willkür führt. Denn Politik ist Entscheidung in der jeweiligen politischen Lage. Stein konnte seine Pläne nicht zu Ende führen, da er nach 14monatlicher Tätigkeit als Minister 1810 auf Napoleons Befehl entlassen werden mußte. Harden:berg, der der liberalen Wirtschaftsauffassung und den französischen Staatsprinzipien zuneigte, ·sah sich (als er 1810 Staatskanzler wurde) unter dem Druck der allgemeinen Anschauung und, nicht zuletzt, des Ansehens Steins genötigt, einige der Reformen im Sinne Steins zu verwirklichen. Er hob die Zünfte auf, erweiterte aJber darüber hinaus die Gewerbefreiheit im französischen Sinne. Steins Pläne einer Landgemeinde - Kreis- Provinzial- und Nationalvertretung wurden nicht durchgeführt; sie wurden zum Teil durch französische Institute (ernannte Notabeln) ersetzt und damit verfälscht. Wohl aber hat Hardenberg ~bestärkt durch Stein) den König 1810 zu einem Verfassungsversprechen veranlaßt Die Zusagen blieben aller-

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dings weit hinter Steins Vorschlägen zurück: sie sahen eine Repräsentation durch Stände (Adel, Bauern, städtische Bürger) mit nur beratender Funktion vor. Doch einer Denkschrift Steins und seiner Position beim russischen Zaren ist es zu verdanken, daß in dem Aufruf des Zaren und des preußischen Königs zum Freiheitskrieg (25. März 1813 zu Kalisch) über Preußen hinaus "die Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches", ein "Deutschland" und eine "Verfassung" verheißen wurde, "dessen Gestaltung ganz allein den Fürsten und Völkern Deutschlands anheim gestellt werden soll"; der Aufruf fährt fort: "Je schärfer in seinen Grundrissen und Umrissen dies Werk heraustreten wird aus dem ureigensten Geist des deutschen Volkes, desto verjüngter, lebenskräftiger und in Einheit gehaltener wird Deutschland wieder unter Europas Völker erscheinen können". Damit war das Fürsten und Volk verbindende und verpflichtende Ziel aufgezeigt, für das jeder Opfer zu bringen hatte und - insbesondere in den Freiheitskriegen - brachte. Die konstiutionelle Frage und die Einheit Deutschlands wurden politische Wirklichkeit. Ein neuer Abschnitt der Verfassungsgeschichte Deutschlands und jeder seiner Staaten begann, wesentlich vorausgeplant und vorangetrieben durch Stein. Die Erfüllung folgte zwar erst nach Jahrzehnten und nicht durchweg gemäß den Erkenntnissen Steins. Aber seine Absichten und jene Verheißung im Aufruf zu Kalisch gab der nationalen und altliberalen Bewegung den Grund, immer wieder auf Integrierung des Volkes in die Staaten durch rechtsstaatliche Verfassungen und auf Vollendung des Reiches zu drängen. Zunächst erneuerte der König 1815 sein Verfassungsversprechen von 1810. Zwei Jahre später wurde demgemäß eine Verfassungskommission eingesetzt und Anfang 1819 Wilhelm v. Humboldt zum Minister für ständische und Kommunal-Angelegenheiten ernannt, ein Amt, dessen Aufgabe er in der Vorbereitung einer "Ständischen Verfassung" erblickte. Sowohl Staatskanzler Hardenberg wie Humboldt legten bedeutende Denkschriften zur Verfassungsfrage vor. Hardenbergs Entwurf entsprach weitgehend Steins Plänen: er verlangte Se~bstverwaltung für alle Stadt- und Landgemeinden; dieVertreterwaren nach Bezirken (nicht Ständen) zu wählen. Von ihnen sollten die Mitglieder der Kreistage, von diesen die der Provinziallandtage und von ihnen schließlich der Allgemeine Landtag Preußens gewählt werden. Die Abgeordneten sollten allein ihrer Überzeugung folgen und an keine Instruktionen gebunden sein. Dem Landtag sollten alle Gesetzesentwürfe, die Rechte der Staatsbürger betrafen, zugeleitet werden. Humboldt jedoch forderte in seiner Denkschrift vom 4. Februar 1819 unmittelbare Wahlen durch drei neue Stände (Adel, Gutsbesitzer, Städter), weil bei direkten Wahlen "die Stimme der Nation" viel deutlicher zu erkennen sei, als bei den gestuften (Steins). Auch nach Humboldts

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IV. Der Kampf um eine Verfassung

Plänen sollten die "Reichsstände" der preußischen Monarchie über Gesetzesvorlagen der Regierung, die in den Rechtsstand der Bürger eingreifen, entscheiden und selbst Gesetzesentwürfe einbringen dürfen. Humboldt sagte, eine solche Verfassung, mit der eine Veräußerung königlicher Rechte verbunden sei, lasse sich nur durch die innere Überzeugung rechtfertigen, daß sie "dem Staate in der erhöhten sittlichen Kraft der Nation und in ihrem belebten und zweckmäßig geleiteten Anteil an ihren Angelegenheiten eine größere Stütze und dadurch eine sichere Bürgschaft seiner Erhaltung nach außen und seiner inneren fortschreitenden Entwicklung" verschaffe. Humboldt hoffte, eine solche Verfassung würde durch ihre moralische Kraft Preußen ein größeres politisches Gewicht im Kampfe um die Lösung der deutschen Frage geben und Österreich in den Schatten stellen.

2. Abschnitt: Volk und Staat: ein geistiger Organismus

Stein hatte die Ideen der neuen Zeit in ihrem praktischen Sinn für das deutsche Volk aufgezeigt und damit die maßgebenden Gesichtspunkte für die deutschen Verfassungen gegeben. Mit der organischen Staatsvorstellung - die bereits im alten Begriff des corpus (corps humain) enthalten war- hat er das Grundprinzip des Absolutismus, die Vereinigung aller Gewalt im Monarchen, überwunden. Er hat das Volk als belebendes Glied des Staates erkannt und damit die verantwortliche Mitwirkung des Volkes im Staate gerechtfertigt. Stein gilt mit Recht nach Bismarck als der größte deutsche Staatsmann des 19. Jahrhunderts, ja, er ist in seiner konstruktiven politischen Weisheit vielleicht der größte deutsche Staatsmann bis heute. Seine organische Volks- und Staatsauffassung war geformt durch deutsche Staatsphilosophien und hat selbst zu ihnen beigetragen, ohne daß sich im einzelnen die wechselseitigen Einflüsse feststellen lassen. Insbesondere stand Stein der Anschauung Schleiermachers nahe, der im Volke einen Lebensprozeß, eine unerklärliche Einheit von polaren geistigen Kräften, die sich unter einer "individuellen Idee der Kultur" reziprok bestimmen und ergänzen, erkannte: "der belebende Saft" ist wahre Liebe und Treue, wie sie Brüdern ziemt, ist Gemeingefühl, Gesinnung der Zuneigung, Volksbewußtsein, daß "in wahrer Eintracht alle verschiedenen Teile desselben sich zu einem eigentümlichen Dasein und Leben vereinigen", einem Gemeinwesen, das die höheren Güter des Lebens erzeugt. Der Organismus des Volkes und Staates umfasse die Generationen: Geist und Weisheit der Vorfahren strömen ein in die späteren Geschlechter, Vergängliches, das sich überlebt hat, werde abgestoßen, und neue Blüten und Früchte, neue politische Einrichtungen werden hervorgebracht. In der nationalen Eigentümlichkeit des Volkes, dem

2. Volk und Staat: ein geistiger Organismus

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Geist der alle eint, könne die Würde der freien Persönlichkeit und ihrer Hingabe an die Gemeinschaft, könne die Individualität mit der Allgemeinheit der Gattung, könne die Regierung mit den Regierten als polare Einheit von Kräften, die einander ergänzen, vorgestellt werden. Die Regierung steht für Schleiermacher nicht über der Nation, sondern in ihr; sie bildet mit den Regierten eine organische Einheit, deren Glieder sich reziprok bestimmen. Zur Einführung der Stein'schen Städteordnung hat Schleiermacher in einer Predigt diese Zusammenhänge aufgezeigt, aber auch sonst in seinen Predigten Steins Reformen gewürdigt. Auch Fichte hat in seinen älteren Jahren die Freiheit nicht mehr universal und kosmopolitisch begriffen, sondern ihre konkrete Wirklichkeit in der Nation erkannt, in der der einzelne seine göttliche Bestimmung habe und seine Freiheit vollende. Die Freiheit der Nation umfasse organisch die Freiheit eines jeden. Der Staat aber ha:be als höchster Verweser menschlicher Angelegenheiten ihn zu dieser Einsicht zu erziehen, er sei der "Zwingherr zur Freiheit" (die Formulierung stammt von Rousseau); der Zwang werde durch nachfolgende Einsicht rechtmäßig. Die Idee der nationalen Freiheit, der Freiheit aller, von Stein, Schleiermacher, Fichte und anderen vorangetragen, gab den Freiheitskämpfern die Kraft, sich gegen den Eroberer zu erheben. Sie war aber auch der "belebende Saft" der nationalen Bewegung, die die Mitwirkung des Büvgers am Staate und ein deutsches Reich forderte. Konservative, Li!berale und Sozialisten sehen in Fichte einen ihrer Ahnherren. Doch in der absoluten Gewalt, die Fichte dem Nationalstaat gab, zeichnete sich zugleich die Gefahr dieser Idee a:b - wie stets, wenn eine Idee zum absoluten, göttlichen Wert heraufgeschraubt wird-. Die begrifflichen Gegensätze: Obrigkeit/Untertan, Befehl/Gehorsam, Zwang/Freiheit können nicht mit dem Verstande überwunden werden, weil der Verstand nur analytisch unterscheidet. Der patriarchalische Staatsgedanke hatte, aus dem Luthertum hervorgegangen, in der Gesinnung des Fürsten und der Untertanen- einer Kategorie der Seele, nicht des Verstandes - die Einmütigkeit gesucht. Der aufgeklärte Absolutismus hatte diese Gesinnung rational in einen "Dienst" am Volke umgedeutet. Stets blieb jener Gegensatz, da alles politische Wirken allein nach dem Ermessen der "Obrigkeit" bestimmt wurde. Die organische Staatsvorstellung, ausgehend von derselben Kategorie der Gesinnung, brachte die Synthese: Regierung und Volk befruchten sich reziprok durch Erfüllung ihrer staatlichen Aufgaben. Alle sind - wie im natürlichen Organismus - wechselseitig Zweck und Mittel. Sie stehen im wesensgestaltenden Zusammenhang miteinander.

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IV. Der Kampf um eine Verfassung

Doch kamen die Verfassung-Arbeiten, denen diese Ideen zugrunde lagen, Ende 1819 zum Erliegen; die Reaktion begann.

3. Abschnitt: Der Deutsche Bund Der liberalen Reform-Bewegung, die auch die nationale Einheit Deutschlands forderte, widersetzte sich der Kaiser von Österreich: er wünschte, die alte führende Rolle der Kaiser zu restaurieren; hinzu kam, daß seine Herrschaft mehrere Völker vereinigte, eine nationale Bewegung der Deutschen also die Gefahr der Spaltung in sich barg. Auf Betreiben seines Staatskanzlers Metternich vereinigten sich die deutschen Fürsten und Freien Städte auf dem Wiener Kongreß 1815 zum Deutschen Bund, einem völlig unzulänglichen, viel bespötteUen Ersatz für die zu Kalisch verheißene, von "Fürsten und Völkern" gestaltete "Verfassung" Deutschlands, die das Volk wünschte. Er war ein lockerer Bund, die die Souveränität seiner Mitglieder wenig antastete. Nur die Fürsten und Städte, nicht das Volk war im Deutschen Bund vertreten. Das Volk wirkte auch nicht an seiner Verfassung mit, Der Untertan konnte sich, wenn ein Staat seinen Rechtspflichten nicht nachkam, nur mit einer Beschwerde an den Bund, genauer: an dessen Organ, die Bundesversammlung wenden. Der Deutsche Bund wird überwiegend als völkerrechtlicher Bund von Souveränen ohne eigene Souveränität umschrieben. Aber diese Auffassung ist zu eng. Zwar hatte der Deutsche Bund nur eine begrenzte Zuständigkeit (Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands, Unverletzlichkeit und Unabhängigkeit der einzelnen deutschen Staaten). Aber um diese Aufgaben zu erfüllen, konnte er doch die Souveränität seiner Mitglieder ohne deren Zustimmung einengtm. Sein einziges, aus Vertretern der Souveränen bestehendes Organ, die Bundesversammlung (meist Bundestag genannt) entschied in wichtigen Sachen im "Plenum", grundsätzlich aber im "Engeren Rat", in dem nur den großen Staaten je eine Stimme zustand, von den kleineren aber mehrere zu einer gemeinsamen Stimme verbunden waren. Nur bestimmte, in der Verfassung aufgeführte Beschlüsse erforderten Einstimmigkeit, andere Zweidrittel-Mehrheit im Plenum; in der Regel aber genügte die einfache Mehrheit im Engeren Rat zur Rechtskraft. Beschlossene Bundesgesetze waren ohne weiteres für jedes Mitglied verbindlich, auch wenn sie in dessen Souveränität eingriffen. Sogar das Recht zum Erlaß einer Verfassung beschränkte die Bundesverfassung für ihre Mitglieder. Art. 13 ordnete an: "In allen Bundesstaaten w ird eine Landständische Verfassung stattfinden"; diese Verheißung hatte eine juristisch ver-

3. Der Deutsche Bund

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bindliehe Bedeutung, auf die Metternich pochte. Der Deutsche Bund besaß von Anfang an einige Merkmale eines Staates (Bundesstaates)11• Er war auch neben seinen Mitgliedern Rechtssubjekt des Völkerrechts. Doch fehlten ihm wesentliche staatliche Institute: ein Bundesoberhaupt und eine Bundesregierung.

4. Absclmitt: Die Reaktion Im Laufe des Jahres 1819 sagte sich der preußische König mehr und mehr von der konstitutionellen Reformbewegung los und schloß sich der restaurativen Politik des Österreichischen Staatskanzlers Metternich an. Der König hatte schon 1817, Metternich folgend, jede studentische Vevbindung an den preußischen Universitäten verboten, als die Burschenschaften auf dem Wartburgfest ihre vaterländischen, von den Ideen der Nation und der Freiheit getragenen Forderungen in Reden gegen die Fürsten geäußert und auch liberale Bücher verbrannt hatten. Eine Wandlung in der Verfassungspolitik des preußischen Königs und anderer Fürsten aber wurde ausgelöst durch die Ermordung des Schriftstellers und russischen Legationssekretärs Kotzebue im März 1819 und durch den Mordanschlag auf einen nassauischen Staatsrat im Juli 1819. Beide Verbrechen wurden ausgeführt von Mitgliedern der "Unbedingten", einer jakobinischen Gruppe der Gießener Burschenschaft. Die Attentate veranlaßten Metternich, zehn deutsche Ministerpräsidenten für August 1819 zur Konferenz nach Karlsbad einzuberufen. Die dort gefaßten Beschlüsse unterstellten die Hochschullehrer einer strengen Kontrolle, sahen Entlassung "verde!"blicher" Hochschullehrer vor, verboten den Studenten die Teilnahme an jeder nicht genehmigten Verbindung, insbesondere an den Burschenschaften, verhängten Vorzensur für alle Schriften im Umfange bis zu 20 Bogen. (Mettemich hatte die Pressefl"eiheit als die "Geißel der Welt" bezeichnet); eine zentrale Untersuchungskommission sollte die revolutionären Umtriebe feststellen, sie sollte den staatlichen Behörden Weisungen geben und Haftbefehle ausstellen können. Diese Beschlüsse wurden hierauf vom Plenum des Bundestages als Bundesgesetze erlassen (am 20. 9. 1819); die hierfür erforderliche "Einstimmigkeit" wurde im offiziellen Protokoll vermerkt, die Vorbehalte, die einige Staaten gemacht hatten, wurden unterdrückt und in einem Geheim-Protokoll verwahrt. Die Eingriffe in die Souveränität der Mitgliedstaaten wurden durch diese Gesetze erheblich vermehrt. 11

Eingehend hierüber E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I (1957),

s. 561 ff.,

663 ff.

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IV. Der Kampf um eine Verfassung

In Preußen widersetzte sich Wilhelm v. Humboldt der vorbehaltlosen Annahme der Karlsbader Beschlüsse; er und zwei seiner Anhänger wurden entlassen. Eine neu gebildete Verfassungskommission unter dem Vorsitz des Kronprinzen, eines Verfassungsgegners, brachte alle konstitutionellen Vorschläge zum Scheitern; sie veranlaßte den König, die zugesagten Reformen auf die Provinziallandtage zu beschränken und darin dem Adel eine Stimmen-Mehrheit zu geben. In ganz Deutschland folgte die Zeit der "Demagogen-Verfolgungen", d. h. der Unterdrückung der liberalen und nationalen Bewegungen, entsprechend den Karlsbader Beschlüssen. Stein, Gneisenau, Hardenberg (der 1822 starb) und Wilhelm v. Humboldt wurden des Jakobinertums verdächtigt. Der Turnvater Jahn kam ins Gefängnis, Ernst Moritz Arndt, der eine Vertretung der Nation im Bund forderte, wurde aus seinem Amte als Hochschullehrer entlassen, Schleiermacher übeJ:'!Wacht. Die organische Staatsauffassung, die das Volk mehr und mehr beherrschte, wurde von den Fürsten Deutschlands mit einem entgegengesetzten undeutschen Staatsgrundsatz des französischen Absolutismus bekämpft: dem monarchischen Prinzip, das die Charte des französischen Königs Ludwigs XVIII. (1814) dahin formulierte: "Obwohl die Staatsgewalt vollständig in Frankreich in der Person des Königs enthalten ist, haben unsere Vorfahren nicht gezögert, deren Ausübung einzuschränken". Die meisten Verfassungen, die die deutschen Fürsten in der folgenden Zeit ihren Ländern gaben, ubernahmen dieses französische Prinzip, um die Auslegung auszuschließen, daß der Monarch durch die Verfassung in seiner Gewalt beschränkt werde. Die Verfassungen - auch die Grundrechte - galten demgemäß, wie die französische Charte, als Gnadengeschenke des Monarchen, sie waren nicht mit dem Volke vereinbart, sondern "oktroyiert" (ausgenommen die Verfassung Württembergs und einige Verfassungen von Kleinstaaten). Nur in wenigen Verfassungen von Kleinstaaten (z. B. von SachsenWeimar-Eisenach) fehlte das monarchische Prinzip. Der Sinn der Verfassungen war, die Bevölkerung zu staatlichen Aufgaben heranzuziehen, um ihr Interesse am Staate, ihr Staatsbewußtsein, ·z u beleben und damit die Autorität des Fürsten zu festigen. Für einige Staaten (Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt) kam hinzu, daß die Monarchen ihren Landbesitz ganz oder zum Teil Napoleon verdankten und Napoleon ihnen Titel und Souveränität im französischen Sinne verliehen hatte: diese Souveränität, die das monarchische Prinzip einschloß, war die Rechtsgrundlage ihTer Herrschaft; darauf gestützt, suchten sie d ie Bevölkerung der Landesteile durch Mitwirkung am Staate zu einem gemeinsamen Staatsbewußtsein zu vereinigen. Alle Verfassungen sahen die Vertretung des Landes durch

4. Die Reaktion

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zwei Kammern (in einigen Kleinstaaten durch eine Kammer) vor; die Abgeordneten einer der Kammern wurden von der Bevölkerung nach Ständen gewählt (soweit nicht die alten Stände unter Hinzunahme der Bauern fortbestanden, wurden neue Stände - Adel, Großgrundbesitzer, selbständige Bürger- gebildet); nur in Baden wurden die Vorrechte des Adels und der Großgrundbesitzer gestrichen. Einige Verfassungen (insbesondere die der erwähnten vier süddeutschen Staaten) garantierten dem Abgeordneten das freie, nicht an Instruktionen gebundene Mandat; die Verfassung Württembergs sagte, daß er als Abgeordneter "des ganzen Landes anzusehen" sei. Die Verfassungen trennten das Staatsgut vom Privatbesitz des Monarchen, forderten für jeden Staatsakt die Gegenzeichnung durch einen Minister, der damit die Verantwortung übernahm, und erkannten einige Grundrechte an, ohne deren praktische Bedeutung zu regeln. Durch die Wiener Schlußa