Deutsche Versgeschichte: Band 1 Teil 1 und 2: Einführendes. Grundbegriffe der Verslehre, der altgermanische Vers [Reprint 2019 ed.] 9783111609515, 9783111234144


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German Pages 317 [320] Year 1925

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INHALT DES ERSTEN BANDES
TEIL I: Einführendes. Grundbegriffe der Verslehre
Teil II. Der altgermanische Vers
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Deutsche Versgeschichte: Band 1 Teil 1 und 2: Einführendes. Grundbegriffe der Verslehre, der altgermanische Vers [Reprint 2019 ed.]
 9783111609515, 9783111234144

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GRUNDRISS DER

GERMANISCHEN PHILOLOGIE UNTER MITWIRKUNG

ZAHLREICHER FACHGELEHRTER

BEGRÜNDET

VON

HERMANN PAUL WEIL. OBD. PROFESSOR D E S DEUTSCHEN PHILOLOGIE AH OER U N I V E R S I T Ä T UOHCHEV

8/1

BERLIN UND L E I P Z I G

WALTER DE GRUYTER & CO. VORM. G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG. VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP. 19^5

DEUTSCHE VERSGESCHICHTE MIT EINSCHLUSS DES ALTENGLISCHEN UND ALTNORDISCHEN STABREIMVERSES

DARGESTEI.LT VON

ANDREAS HEUSLER

ERSTER BAND TEIL I UND II: E I N F Ü H R E N D E S ; GRUNDBEGRIFFE DER VERSLEHRE DER A L T G E R M A N I S C H E

BERLIN

UND

VERS

LEIPZIG

W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. VORM. G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG. VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP. 1925

Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten. Druck von C. G. Röder G. m. b. H., Leipzig. 874625.

INHALT.

III

INHALT DES ERSTEN BANDES. Teil I. E i n f ü h r e n d e s .

G r u n d b e g r i f f e der Verslehre. Seite

1. Abschnitt: Die Zeiträume der deutschen Versgeschichte (§ 1-4) . . . 2. ,, Aufgaben der Verslehre (§ 5-20) 3. ,, Der Rhythmus (§21-29) 4. ,, Die Bestandteile des metrischen Rhythmus: A. Der metrische Rahmen (§ 30-40) 5. ,, Die Bestandteile des metrischen Rhythmus: B. Die Versfüllung (§ 41-54) 6. ,, Die metrische Form und der Vortrag (§ 55-60) 7. ,, Die deutsche Sprache als Versstoff (§ 61-87) 8. ,, Wägender und messender Versbau. Silbenzählung (§ 88-103)

1 4 '5 22 31 42 51 75

Teil II. D e r a l t g e r m a n i s c h e Vers. 9. Abschnitt: 10. ,, 11. ,, 12. ,, 13. ,. 14. ,, 15. ,, 16. ,, 17. ,. 18. „

Quellen ( § 1 0 4 - 1 1 3 ) 86 Der Stabreim (§ 114-134) 92 Stabreim und Satzton (§ 135-152) 105 Deutungen des Rhythmus (§ 153-174) 116 Die zwei Langtakte (§ 175-186) 134 Die Füllung der Versglieder (§ 187—219) 144 Die Verstypen (§220-270) 167 Das epische Langzeilenmaß im Norden (§ 271-313) . . . 201 Der nordische Spruchton (§ 314-332) 230 Gruppenbau (§ 333-367) 244

1920. 21.

Altgermanischer Versstil (§ 368-379) Zur Vorgeschichte des Stabreimverses (§ 380-389) Die Skaldenkunst (§390-428)

..

. . . .

266 276 284

D E R ZEITRAUM DES

I

STABREIMVERSES.

T E I L I:

Einführendes.

Grundbegriffe der Verslehre. TSN

QEIQN

o

PR«MOX.

1. Abschnitt: Die Zeiträume der deutschen Versgeschichte. 1. Deutsche Verse kennen wir seit dem achten Jahrhundert. Am Anfang steht eine Verskunst, die der Stabreim auszeichnet. Der stabreimende Vers, dürfen wir schließen, geht in urgermanische Zeit hinauf; er ist die älteste uns erkennbare Dichtform der germanischen Familie. Den urtümlichen niederen Gattungen, wovon Tacitus um das Jahr 100 einen Teil bezeugt, schreiben wir diese Form zu; die höheren Dichtarten, die in der Völkerwanderung entsprangen, bauten darauf weiter. Einzelne stabende Verse in annähernd urgermanischer Lautung haben wir in nordischen Runeninschriften. Der Stabreimvers war jahrhundertelang gemeingermanisch. In der Verskunst tritt die Verwandtschaft der drei Hauptliteraturen klar zutage, der deutschen, der englischen, der nordischen. Dieser gemeinsame Versbau hat auch außer dem Stabreim viel Eigenart; er hebt sich ab sowohl von den außergermanischen Formen wie von den späteren Arten der Germanen selbst. Wir nennen ihn den altgermanischen. Der erste Zeitraum der deutschen Versgeschichte ist der des stabreimenden oder altgermanischen Verses. Schon im 9. Jahrhundert geht dieser Zeitraum in Deutschland zu Ende, und es beginnt die Herrschaft des Reimverses. In England und in Skandinavien hat sich der altgermanische Vers länger gehalten. Das englische und das norwegisch-isländische Schrifttum bieten uns viel reichere Quellen stabreimender Verskunst als die beschränkten Reste in deutscher Sprache. Aus den deutschen Denkmälern allein würde man den stabreimenden Vers mangelhaft kennenlernen. Deshalb ziehen wir für den ersten Zeitraum den englischen (angelsächsischen) und den nordischen (nordgermanischen, skandinavischen) Vers heran. Unsere Betrachtung der altgermanischen Verskunst gründet sich auf die drei Literaturen: die deutsche H e u s l e r , D e u t s c h e Versgeschichte.

I

2

D E R Z E I T R A U M DES R E I M V E R S E S .

(nieder- und hochdeutsch) — die englische — die nordische (zumeist norwegisch-isländisch). Die deutsche und die englische Verskunst schließen sich in vielen Punkten näher zusammen (§ 389): sie bilden die westgermanische oder südgermanische Gruppe. Den Namen "germanisch* brauchen wir nicht gleichbedeutend mit altgermanisch; er ist uns kein Zeitbegriff. 'Germanisch' umfaßt die ganze Sprachfamilie in alter und neuer Zeit. Unter 'vorgermanisch' verstehen wir auch das, was man zuweilen prägermanisch nennt: die indogermanische Vorstufe des Germanischen.

2. Die Einführung des Reimverses in Deutschland, um 850, war ein Bruch so entschieden und folgenreich wie kein zweiter in unsrer Versgeschichte. Mit dem Reimverse fängt die deutsche Verskunst an, fremden Formen zu folgen, und zwar zunächst den lateinischen der Kirche. Sie tritt auch in anderem Sinne aus der germanischen Familie aus: die enge Verwandtschaft mit den Formen der Engländer und der Nordländer löst sich. Mag es auch im weitern Verlaufe noch viel Gemeinsames, auch gegenseitige Entlehnung, gegeben haben: die Geschichte des deutschen Reimverses durch die Jahrhunderte ließe sich nicht wohl im Zusammenhang mit der englischen und der nordischen Versgeschichte erzählen. Auch wird der deutsche Reimvers aus sich selbst verständlich, wenngleich Seitenblicke auf die englischen und nordischen Zustände die Einsicht fördern. Im Zeitraum des Reimverses behandeln wir nur noch die deutsche Masse. Seit dem 16. Jahrhundert kennt die deutsche Dichtung reimlose Verse. Seit dem 18. hat sie auch Stabreimverse wieder eingeführt. Aber der Endreim — der 'Reim' kurzweg — beherrscht die letzten tausend Jahre. 3. Die Versgeschichte dieses Zeitraums kann man verschieden einteilen. Ein verhältnismäßig scharfer Einschnitt liegt um 1600. Damals wandte sich die deutsche Buchdichtung welschen und antiken Vorbildern zu und setzte bisher volksübliche Formen ab. Man rechnet damit den Beginn der neudeutschen Verskunst. Innerhalb der neudeutschen Jahrhunderte bildet das Auftreten des jungen Klopstock, dann des jungen Goethe, um 1750, die merklichste Wende. Die voraufgehenden fünf Menschenalter können nach dem einflußreichen Schulhaupt Martin Opitz der Opitzische Zeitraum heißen. Für die folgenden sechs Geschlechter böten sich nur die der Literaturgeschichte geläufigen Sondernamen (klassisches, romantisches Zeitalter usw.). Der Reimvers v o r Opitz, vom 9. bis 16. Jahrhundert, kennt keinen Umschwung von ähnlicher Gewaltsamkeit. Eine Grenze

UNSERE

3

ZEITGLIEDERUNG.

kann man legen ins 14. Jahrh.: als die vhm. einheitliche Verskunst, die mit F u g die ritterliche heißt, auseinanderfiel in ungleiche Richtungen, womit Hand in Hand ging, daß die einheitliche, gepflegte Buchsprache, das Mittelhochdeutsche, einer Mehrheit neuer Schriftmundarten wich. Für den Versbau vom 14. bis 16. Jahrh. treibt man schwer einen handlichen Gesamtnamen auf. Man hat das Zeitalter nach den Meistersingern oder nach der Reformation oder nach Hans Sachs benannt; drei zu enge Bezeichnungen. Wäre das Wort 'mitteldeutsch' nicht schon im räumlichen Sinne vergeben, dann wäre es der passende Name für diesen Zeitraum in der Mitte zwischen Alt- und Neudeutsch. Der Not gehorchend, gebrauchen wir den Ausdruck frühneudeutsch. Den Reimvers vom 9. bis 14. Jahrh. nennen wir den altdeutschen. Dieser Name faßt also die zwei Sprachstufen 'althochdeutsch' und 'mittelhochdeutsch' zusammen, so jedoch, daß er erst mit dem Reimverse, um 850, einsetzt und auch den niederdeutschen Reimvers des Mittelalters einschließt. Die sprachlich begründete Zeitgrenze um 1050 (Übergang vom Alt- zum Mittelhochdeutschen) tritt auch in der Versgeschichte hervor. Fühlbarer hebt sich die verfeinerte höfische, ritterliche Kunst, seit etwa 1170, von dem Vorangehenden ab. Sie steht unter dem zweiten fremden Einfluß, diesmal weltlich französischem. Doch verläuft immer noch der Reimvers in seinem ersten halben Jahrtausend in ungebrochenem Flusse. 4. Beachten wir noch, d a ß diese Einteilung auf die erhaltene Buchdichtung zielt. Die schriftlose Volksdichtung haben die Umschwünge u m 1600 und um 1750 kaum bewegt, auch die Verfeinerung nach 1150 und die Verrohung nach 1300 hat schwerlich gerührt an das Versemachen der unteren Schicht. Den Übergang zum Reim, den hat die häusliche Kleinkunst vollzogen, wohl nicht später als im zehnten Jahrhundert. Aber im Bau des Verses wird sie schon damals, wie hernach, den gelehrten Mustern ferner geblieben sein. Die volksmäßigsten Verse bewahren bis heute Züge, die noch über den altdeutschen Reimvers zurückweisen. Unsere Zeitgliederung mit den zugehörigen Namen ist demnach diese (die untere Zeitgrenze bei I gilt nur für die deutsche Dichtung) : I. Stabreimvers, altgermanischer Vers: von urgermanischer Zeit bis ins 9. Jahrhundert. 1*

4

V E R S UND PROSA.

II. Reimvers: A. Altdeutsch: 9. bis 14. Jahrhundert. B. Frühneudeutsch: 14. bis 16. Jahrhundert. C. Neudeutsch: a) Opitzischer Zeitraum: 1600 bis 1750. b) die von Klopstock und Goethe eröffnete Zeit: seit 17502. Abschnitt: Aufgaben der Verslehre. 5. Gegenstand der Verslehre sind dichterische Kunstformen. Versgeschichte ist ein Ausschnitt der Dichtungsgeschichte: sie befaßt sich mit der Form der Dichtung. Dies verlangt genauere Bestimmung. Wie grenzen wir die Dichtung von der Prosa ab ? — Das Übergangsgebiet der 'dichterischen Prosa* scheidet für uns aus. Für uns reicht die Dichtung so weit als der Vers. Das liegt schon im Namen Verslehre. Aber wie weit reicht der Vers ? Können wir klar unterscheiden zwischen Vers und Prosa, zwischen gebundener und ungebundener Rede? Das sichtbare Merkmal der abgebrochenen Zeilen reicht nicht aus; man hat gestritten und kann streiten, ob alle versmäßig abgesetzten Texte aus Versen bestehen. Und bei vielen Texten alter Zeit fällt diese Hilfe weg. Als entscheidend gilt uns ein gehörmäßiges Merkmal: der Takt. 'Verse' sind uns taktierte, takthaltige Rede. Das nähere darüber in § 31 f. Dann bleibt immer noch die Frage, ob der Urheber seinen Text takthaltig gedacht hat. Denn der Formwille des Urhebers ist uns verbindlich. Schriftlich überlieferte Texte aus alter und neuer Zeit lassen uns nur zu oft im Zweifel, wie sie ihr Schöpfer gesprochen wissen wollte. Dann versagt unser gehörmäßiges Wahrzeichen; dann können wir im ungewissen bleiben, ob uns takthaltige Rede, also Verse, vorliegen. Aber dies ist Schuld unserer mangelhaften Kenntnis, kein grundsätzlicher Grenzstreit zwischen Vers und Prosa. 6. Die Form der Versrede beschäftigt den Metriker. Und zwar die äußere, die hörbare Form: die Schallform. Darin liegt das Geständnis, daß Verse von ungleichstem Werte — nach Inhalt und sprachlichem Stil — für den Metriker gleiche Größen sein können. Aber wir müssen noch weiter gehen. Auch am Hörbaren berührt uns nur die eine Seite. Unser Gegenstand ist die Schallform des Verses, soweit sie von der der Prosa abweicht.

M E L O D I E , S C H A L L F A R B E UND RHYTHMUS.

5

Außerhalb liegt für uns die Sprachmelodie: die klangliche Höhe und Tiefe der stimmhaften Sprachteile; die Unterscheidung von Frageton und Aussageton; die allgemeine Höhenlage der Stimme. Denn hierin stehen Vers und Prosa unter gleichen Gesetzen. Für die metrische Betrachtung gibt es keine FrageHexameter und keine Baß-Trochäen — so wenig als ZischlautJamben oder Nasal-Anapäste. Denn für uns scheidet auch aus die Lautform, das Phonetische, Artikulatorische. Auch hierin bestehen Vers und Prosa aus gleichem Stoffe. So wichtig es für die Schallform eines Verses ist, ob er rauhe Mitlauter häuft; wie er seine Selbstlauter aufreiht usf.; so sehr sich das Gebot Vossens hören läßt: 'Nie herrsche ein Gepiep, nie ein rauhes Hauchen oder Gezisch!' — : all dies zählt für die Verslehre nicht mit, es begründet dem Metriker keine Unterscheidungen. Denn die nämlichen Dinge würden wir an der Prosa beobachten. Ein deutscher Verskünstler hat ein Gedicht gemacht ohne jeden r-Laut 1 ). Da wirkt also die Lautform mit, das Dichtwerk von der natürlichen Rede zu unterscheiden. Würde derartiges zum Herkommen, dann müßte es wohl der Verslehrer in die Artbestimmung aufnehmen! Vorläufig bleibt es ein Spiel, das sich auch mit Prosa verträgt und für deutsches Formgefühl nichts Versmäßiges an sich hat. Nur da fällt die Lautform in den Bereich der Verslehre, wo sie den Vers planvoll von der Prosa abhebt: die verschiedenen Arten des Reims. Im übrigen gilt der Satz: die gesamte Schallfarbe ist eine sprachliche, keine metrische Erscheinung2). Darin liegt das zweite Geständnis: daß auch die Gehörwirkung, der Schallreiz eines Verses nicht nur von metrischen Größen abhängt. Der von Stimmbewegung und Schallfarbe bedingte Wohllaut steht nicht vor dem Forum der Verslehre. *) Rückert in der fünften seiner Makamen. Daß es Reimprosa ist, tut hier nichts zur Sache. *) Schallfarbe ist, gegenüber Klangfarbe, der umfassendere Begriff: er schließt die Artverschiedenheit der Geräusche ein. Stimmlose Sprachlaute, wie /, s, x, unterscheiden sich zwar auch im Klang, nach Höhe und Tiefe, sie haben Klangfarbe; aber ihr'spezifischer Unterschied' ist der des Geräusches. Das Wort Schallfarbe umspannt alles. Vgl. Bremer, Deutsche Phonetik 117 ff.

7. Die Seite der Schallform, womit es die Verslehre zu tun hat, ist der Zeitfall; der Rhythmus. Ihn haben wir uns in Abschnitt ßff. klarzumachen. Die 'dichterischen Kunstformen' also, die wir zu untersuchen haben, sind die rhythmischen Formen, die den Vers planvoll von der Prosa unterscheiden.

6

D A S RHYTHMISCHE

ERLEBNIS.

Diese rhythmischen Formen vernehmen wir im Gesang wie in der Sprechrede. Gesungene Verse sind ebensogut Stoff des Metrikers als gesprochene. Dies hat man zwar geleugnet, aber mit dem Leugnen nie Ernst gemacht: keine deutsche Verslehre übergeht den Minnesang, das Kirchenlied, das Volkslied; Werke also, die ihren Schöpfern durchaus nur gesungen vorschwebten; die ihr wirkliches Leben nur mit der Melodie führten. Auch bei gesungener Dichtung gilt unser Satz: daß die Verslehre aus dem Schallbild nur den Zeitfall auslöst. Die Tonhöhen der Weise, das Melodische und Harmonische denken wir uns weg. 8. Für den Metriker ist der Vers eine Gehörgröße. Das stille Lesen eines Gedichtes ist ihm so viel wie dem Musiker das Ablesen einer Partitur. Eine geschriebene Zeile wird ihm erst dann zum 'Verse', wenn er ihr, und war es nur in Gedanken, die Schallform mit dem bestimmten Zeitfall verleiht. In allen wipfeln Spürest du . . . dies, so schwarz auf weiß, sind noch keine Verse. Die Verse stecken darin. Der Vortrag, sprechend oder singend, hebt sie heraus und trifft die Wahl unter den verschiedenen Möglichkeiten des Zeitfalls (§ 83). Dann erst ist das r h y t h m i s c h e E r l e b n i s da: die Größe, worauf dem Versforscher alles ankommt. An das rhythmische Erlebnis knüpft das Lust- oder Unlustgefühl, das Werturteil, knüpft das Abbilden in sichtbaren Zeichen, das sachliche Zergliedern und Beschreiben und weiter die geschichtliche Herleitung. Die stumme Wortreihe war nur Rohstoff und Anreiz zum rhythmischen Erlebnis. So nachdrücklich wir das Hörbare am Vers, also den Vortrag, verlangen: wir müssen hier noch eine Schranke ziehen, die den Metriker gewissermaßen vom Vortrag abrückt. Was der Metriker am Verse festhält und bucht, das sind unmöglich die hundert kleinen Verschiedenheiten im Zeitfall bei jedem einzelnen Sprecher oder Sänger. Über diese wandelbaren Zufälligkeiten muß er hinausdringen zur objektiven Form: er muß den vom Dichter gesetzten Zeitfall ergründen. Nur der ist das Feststellbare. Das für die Verslehre Feststellbare — und Feststellenswerte — bedeutet der bunten Wirklichkeit gegenüber ein für allemal eine große Vereinfachung. Auch über diese Frage, das Verhältnis der Form zum Vortrag, haben wir uns später noch zu verständigen (6. Abschnitt). 9. Die Verslehre, sagten wir, ist Kunstlehre. Sie gehört zur Literaturgeschichte; nicht zur Grammatik.

V E R S - UND SPRACHFORSCHUNG.

7

Wohl steht sie zur Grammatik in enger Beziehung, nehmend und gebend. Sie lernt aus der Grammatik die genauere Beschaffenheit der Sprachformen, aus denen sich die Verse aufbauen, und sie lernt die geschichtlichen Sprachwandlungen, die Einfluß übten auf Rhythmus und Reimkunst. Umgekehrt zieht die Sprachlehre Gewinn aus der Verskunde. Die Reime der alten, auch der neueren Dichtung haben zu manchem grammatischen Schlüsse geführt. Vor allem für Betonung und Dauer der Silben hat sich die Sprachforschung an die Verslehre zu wenden; ja, man hat diese Kapitel der Grammatik wohl in die Metrik fiinübergespielt. Bei manchen Untersuchungen, z. B. Lachmanns, wäre kaum zu entscheiden, ob das Ziel mehr ein vers- oder ein sprachgeschichtliches ist. So hat man die Metrik gelegentlich auch als Anhängsel zur Grammatik untergebracht. Aber die Verslehre will anderes sein als eine Hilfswissenschaft der Sprachkunde. Ihre Fragestellungen weisen über die Grammatik hinaus. Mag sie von dieser eine Lehre übernehmen oder ihr eine Erkenntnis zuführen: der Metriker seinerseits fragt, was diese Tatsachen für den Vers, also für die Kunst, zu bedeuten haben. An diesen Grundsatz werden wir uns bei der Behandlung von Ton und Dauer halten (7. Abschnitt). 10. Rückblicke auf die Forschung wollen wir einzelnen Hauptteilen mitgeben. Verfolgt man die Verswissenschaft — soweit sie in den Rahmen unseres Werkes fällt — zeitlich vorrückend durch ihre vier Menschenalter, so sieht man sich vor einer wirren Bilderreihe. Die einzelnen Zeiträume und Vorkommnisse gaben gar ungleiche Fragen zu lösen! Die Probleme des altgermanischen Rhythmus — des ritterlichen Reimverses—der Opitzischen Neuerung — der Nachahmung griechischer Maße: diese und andere waren schwer mit gleichen Handgriffen zu bewältigen. Die Arbeitsfelder waren meist zersplittert. Ein gleichmäßiges Vorschreiten auf dem Gesamtgebiet, das Erstarken einer Methode, die allen Stufen gerecht würde, blieb aus. Mit der Sprachforschung konnte es die Versforschung nicht entfernt aufnehmen an Stetigkeit und sicherm Ausbau. Was sie an Ergebnissen zu allgemeiner Anerkennung brachte, war bescheiden. Über ziemlich alle tiefer dringenden Fragen herrscht Uneinigkeit bis heute. Die Uneinigkeit erstreckt sich auf die Ziele der Versbetrachtung, auf das Verfahren, nicht zum wenigsten auf die technischen Ausdrücke und Sinnbilder. In keinem anderen geschichtlichen Fache ist es so schwer, sich unter Forschern zu verstehen. Denn in der Metrik redet jeder seine Sprache und läßt sich von seinen Voraussetzungen leiten. Nach der Menge

8

D A S ANTIKE STRECKBETT.

und Schärfe der gemeingültigen, ohne weiteres verständlichen Begriffe steht die Verswissenschaft auf einer Stufe, die die Sprachwissenschaft seit Menschenaltern hinter sich gelassen hat. Gleiches gilt für die Verslehre in andern Sprachkreisen. Auch bei den alten Griechen, auch bei den Romanen sind gerade die Grundfragen umstritten. Den Ursachen, die die Mündigkeit unsers Faches hintangehalten haben, graben wir nicht nach. Aber die angedeuteten Verhältnisse schärfen ein, wie nötig es ist, den Boden für unser Vorgehen mit aller Umsicht und Klarheit zu festigen. Die,Ausschau über die metrische Forschung seit dem Isländer Jön Olafsson d. J. (1786), dem Dänen Rask (1811) und dem Deutschen Lachmann (1819) zeigt die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, die Irrtümer, die die Einsicht verbauten. Das Wichtigere davon wollen wir herausheben und daran Leitsätze für das eigene Verfahren knüpfen. 11. Schwer hielt es, sich den antiken Formeln und Begriffen zu entwinden. Was man seit der Humanistenzeit als Verstheorie gewohnt war, das schwamm ja ganz und gar im antikischen Kielwasser. Man wußte: jeder Vers war darauf zu befragen, ob er aus Jamben, Daktylen usw. bestehe. Damit aber kam man der Eigenart germanischer Verse nicht bei; für diese brauchte es andere Fächer und Namen, neu geschaffene, auf das Modell zugeschnittene. Es ist Lachmanns Verdienst, daß er den altdeutschen Vers folgerecht aus dem antiken Streckbett heraushob. Seine Kunstausdrücke ließen zwar an gehörhafter Deutlichkeit fast alles zu wünschen übrig, aber sie waren unverbraucht, nicht belastet mit griechelnden Vorurteilen. Den Vätern der altnordischen Verslehre war es damit nicht geglückt. Rask ist in seiner jüngem Darstellung 1 ) zurückgefallen in die Suche nach griechischen Füßen, und der ausgezeichnete Skaldenkenner K. Gislason konnte noch sechzig Jahre später den zwei im Zeitfall so ungleichen Versen: vasa pat beert und bana Gobiaugs (| ^ x >

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'

Kauft ihrer so wenig oder so viel, als man für einen dreier geben will.

D A S RHYTHMISCHE G E R I P P E .

RHYTHMUS.

17

Man spreche diese Zeilen ausdrucksvoll und markig vershaft, ohne die natursüchtige Wasserscheu vor dem 'Skandieren'! Die vier Hebungen lege man an die bezeichneten Stellen (die erste könnte man auch um eine Silbe verschieben). Die Schallform ruht auf den uns bekannten vier Größen. Nun verfahren wir wie bei dem Prosastück. Wir murmeln uns erst das melodische Gerippe vor. Dann klopfen wir das rhythmische Gerippe nach. Damit schälen wir also den R h y t h m u s dieses Verspaares heraus. Und nun wiederholen wir uns den Rhythmus des Prosasatzes und vergleichen die beiden Skelette. Ihr Unterschied kann keinen Augenblick dunkel sein. Dort, in der Prosa, verspüren wir eine ungeordnete, regellose Folge; hier, im Verse, Ordnung, Gleichmaß. Dabei haben wir mit Fleiß eine Versprobe gewählt von stark bewegtem Gang, damit uns das alte Schlagwort 'regelmäßiger Wechsel leichter und schwerer Silben' nicht die Kreise störe (§ 13). Belauschen wir die Ordnung, das Gleichmaß im zweiten Rhythmus ein wenig genauer, so hören wir: von Hebung zu Hebung sind gleiche Abstände; wir e r w a r t e n die nächste Hebung in einem bestimmten Zeitpunkt. Die Wiederkehr gleicher Abschnitte regt unser Muskelgefühl an, erinnert uns an Marsch oder Tanz oder Rudern . . . . Der Rhythmus Nummer 2 durchströmt unseren Leib mit einer gewissen Straffung, und daraus entspringt ein eigenes Lustgefühl. Der Rhythmus Nummer 1 übt d i e s e Wirkung nicht. Das 'rhythmische Erlebnis' ist in den zwei Fällen deutlich verschieden. Das Doppelbeispiel hat uns vorläufig veranschaulicht: 1. Prosa wie Vers haben Rhythmus; 2. der Rhythmus des Verses wirkt neben dem der Prosa geordnet, abgewogen; wir empfinden wiederkehrende Zeitspannen. Fassen wir nun die Sache etwas allgemeiner! 24. 'Rhythmus' (ßuö|n6c) hat schon bei den Alten und wieder in der Neuzeit ungleichen Sinn gehabt. Wir verstehen unter dem Worte: Gliederung der Zeit in sinnlich faßbare Teile. Die Gliederung geschieht durch Bewegungen. Die Sinne, die uns Rhythmus ersthändig vermitteln, sind Muskelsinn, Drucksinn und Gehör. Auf ihnen beruht unser 'Zeitsinn'; der ist nichts anderes als die Empfänglichkeit für Rhythmus. Das Auge ist ein mittelbarerer Zeitmesser, zu schweigen von Geruch und Geschmack. Damit die Teile den Sinnen faßbar, meßbar werden, dürfen sie ein paar Sekunden nicht überschreiten. 'Rhythmus der Tages-, H e u s 1 e r , D e u t s c h e Versgeschichte.

2

i8

GEORDNETE RHYTHMEN.

der Jahreszeiten' und ähnliches ist übertragene Verwendung des Wortes. Mit dem Worte Zeitfall, das wir für Rhythmus gelegentlich brauchen, würden wir gern das Fremdwort, das den Schallstil unserer Sprache stört, ganz ersetzen, wären damit nur auch die Ableitungen 'rhythmisch', 'rhythmisieren' bestritten! Auch in Zusammensetzungen wirkt 'Zeitfall' zu plump. 25. Rhythmen nimmt der Mensch wahr in Bewegungen um sich her; und er zeugt selber Rhythmen, triebhaft und bewußt: im Pulse des Blutes, im Atmen; in den Bewegungen der Glieder und der Sprech Werkzeuge: Singen und Sprechen. Schon unter diesen naturgegebenen oder doch außerhalb der Kunst stehenden Rhythmen gibt es geordnete: mit Wiederkehr gleicher Zeitglieder. Man denke an die Pendelbewegung, den Puls, das ruhige Atmen; das stetige Schreiten oder Laufen. Die Lust an geordnetem Rhythmus ist das älteste der Schönheitsgefühle; viel älter als der homo sapiens, wie uns die Spiele der Tiere zeigen. Und so hat der Mensch Bewegungen, die er willkürlich lenkt, in geordneten Zeitfall gebracht: damit hat er die musischen Künste geschaffen, die Bewegungskünste, die Künste der Zeit: Tanz, Musik, Dichtung. In ihnen sind diese Bewegungen zu rhythmischer Ordnung gebändigt: das mannigfaltige Regen der Gliedmaßen, des Kopfes, des Rumpfes; die feineren Bewegungen in Lunge, Kehlkopf und Ansatzrohr, woraus Singen und Sprache hervorgeht. All dies war gleichsam der Rohstoff für den Rhythmenschaffer; diese Tätigkeiten, auch das Singen, verliefen in ungeordnetem oder doch nicht gewollt-geordnetem Zeitfall — bis der göttliche Funke der rhythmischen Ordnung sie durchzuckte. Davon sind wir in § 22f. ausgegangen, daß die natürliche Rede, die Prosa, in ungeordnetem Rhythmus geht und sich darin von der musischen Rede, dem Verse, unterscheidet. 26. 'Metrischer Rhythmus' und 'metrische Form', diese Ausdrücke wollen wir einschränken auf die geordneten Formen, die in gesprochener oder gesungener Rede, in Versen, verwirklicht sind. Wichtig ist, daß wir uns über die Spannweite des Begriffes Rhythmus einigen. Schon bei den alten Griechen und auch heute, in gelehrtem und ungelehrtem Gebrauche, herrscht vor, daß man unter Rhythmus kurzweg den geordneten Rhythmus versteht1). Den ungeordneten nennt man Arrhythmie, Rhythmuslosigkeit. Man bezeichnet ihn somit verneinend, als die Abwesenheit rhythmischer Ordnung.

GLEICHMASS

UND A B W E C H S L U N G .

19

Das ist ein Übelstand. Ungeordneter Rhythmus — in natürlicher Rede, im Rollen des Donners usw. — ist eine bejahte Größe, ist Gegenstand rhythmischen Erlebens. Vor allem fördert es die Klarheit, wenn wir den geordneten, den metrischen Rhythmus als eine Unterabteilung, eine besondere Art des Rhythmus im allgemeinen erkennen; wenn wir festhalten, daß die menschliche Sprache 'Rhythmus' hat, schon eh sie in den Vers kommt. Damit vermeiden wir auch den Ausdruck 'rhythmische Prosa'; für uns ist j e d e Prosa rhythmisch (vgl. § 62). Uns ist also 'Rhythmus' der umfassende Name für sinnlich meßbare Zeitgliederung. Das W o h l g e f ä l l i g e der Gliederung lassen wir aus der Artbestimmung weg. Schon ungeordnete Rhythmen können Wohlgefallen wecken; das weiß jeder Prosaist mit Stilgefühl. Ob a l l e geordneten Rhythmen, auch der einförmige Pendelschlag, wohlgefällig wirken, die Frage hat man ungleich beantwortet. Man hat hier auch von 'unerträglicher Monotonie' gesprochen, und Tatsache ist, daß der Hörer in diesen einfachen Rhythmus Gliederungen höherer Ordnung hineinzuhören oder -zufühlen pflegt: er erlebt das objektive 1 2 3 4 5 6 . . . als ein 1 2 3 4 5 6 . . . oder I 2 3 4 5 6 . . . oder 1 2 3 4 5 6 . . . usf.: das 'subjektive Betonen' 2 ). Zusammengesetzte Rhythmen gefallen besser als einfache. Aber auch zusammengesetzte, reiche können Mißfallen wecken: durch ihre Regelmäßigkeit. Denn der uralten Lust an rhythmischer Ordnung wirkt etwas entgegen: die Lust an Abwechslung. Jene verlangt nach Gleichmaß, diese nach Freiheit. Die beiden Bedürfnisse setzen sich auseinander in wechselnder Stärke auf den verschiedenen Erziehungsstufen und nach der seelischen Anlage. J e mehr Gehirnmensch, je verkümmerter 'das Dumpfe', die Sinnlichkeit, um so langweiliger erscheint das Gleichmaß. Dem Naiven ist Monotonie süß, nicht 'unerträglich'. Ob man einmal nur noch v e r d e c k t e s Gleichmaß wünschen wird? Und wie lange man dann noch fortfahren wird mit metrischen Formen ? . . . Jedenfalls setzen unsere bisherigen metrischen Formen die Lust am Gleichmaß voraus, wenn nicht bei jedem, der sie gebraucht und vernimmt, so doch bei ihrem Urheber und Deuter. Man halte dazu den 6. Abschnitt. Eine Ausnahme macht Aristoteles: f>u6|^6v bei ? x e l v T ° v ^Ötov (rr)v XiEiv, die Prosa), |aerpov ^ir). 2 ) Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie 5 53, 2 5 f f .

27. Auf Plato geht zurück die Lehre von dem g e m e i n s a m e n Ursprung der drei musischen Künste und damit des Tanz-, Musik-und Versrhythmus. E s ist die 'orchestische Herleitung', denn die Orchesis, der Tanz, erscheint dabei als der gebende oder führende 2*

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D E R TANZURSPRUNG.

Teil, der Erwecker des rhythmischen Ordnungswillens. Der vom Tanz gelöste Gesang stellt sich als zweite Stufe dar, der gesprochene Vers als dritte, jüngste. Die deutschen Poetiken seit dem 17. Jahrh. tragen diese Lehre mit mehr oder weniger Geschick vor. Es ist nicht unsres Amtes, diese klassische Genese des Verses zu prüfen 1 ). Nur im Blick auf die germanischen Zustände wollen wir einiges anmerken. Gesetzt, es ging so zu, wie Plato meinte — : dann braucht sich doch dieser Hergang nicht bei j e d e r Volksfamilie aufs neue abgespielt zu haben! So wenig jedes Volk den Pfeilbogen oder das Hakenkreuz neu erfunden hat. Metrische Formen, und damit die Erziehung zum Versgefühl, zum Versemachen, kann ein Volk von dem anderen entlehnt haben, so gut wie die Vorbilder in den Raumkünsten. Was wir von der heimischen, vorkirchlichen Dichtkunst der Germanen wissen, verbietet die Annahme, unser Stamm habe die Stufenfolge durchlaufen: zuerst nur Verse zu Tanz oder sonstiger Leibesbewegung ('Leich'); darauf auch nur-gesungene Verse (Chor-, dann Einzelgesang); zuletzt auch rein gesprochene Verse. Damit legte man dem Germanen jenseits unserer Zeugnisse eine ganz andere Wesensart bei als dem uns geschichtlich bekannten. Man stempelte ihn zum tanz- und sangesfreudigen Menschen. In den Quellen erscheint er als das Gegenteil — bevor er beim römischen Mimus und bei der römischen Kirche in die Schule gegangen ist. Dem Tanzursprung der metrischen Form geben die Germanen keine Stütze. I s t die klassische Herleitung allgemeingültig, dann haben die Germanen oder Vorgermanen ihre musische Kunst gelernt aus Vorbildern, die bereits auf der dritten, jüngsten Stufe angelangt waren. Dann konnte in der heimisch-germanischen Formentwicklung von Anfang an der gesprochene Vers vorherrschen. Wir lassen damit die Möglichkeit offen, daß gesungene Gattungen mitbauten an dem Formenschatz der Stabreimzeit. Ablehnen wir es, für die germanischen Versformen sangliche und getanzte Vorstufen, 'Urrhythmen', zu fordern2). Gesetzt, den metrischen Rhythmus gebar letzten Endes der Tanz — : seit Urzeiten hat sich das G e f ü h l für die metrische Ordnung, das Wohlgefallen an ihr, selbständig gemacht; es braucht nicht mehr die Stütze der Gliederbewegung und den Zwang des Massenvortrags. Das Bedürfnis nach geordnetem Rhythmus ist zu einer selbstherrlichen Anlage geworden: die wirkt in dem Dichter gesprochener Verse und in seinem Hörer bis

T E X T UND W E I S E .

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auf den heutigen Tag. Die Meinung: der nur gesungene und vollends der nur gesprochene Vers schleppe die metrische Form als Überlebsel weiter und dränge von selbst nach ungeordnetem Rhythmus; löse sich der Vers von der Musik, so werde er eigentlich sinnlos 3 ): diese Meinung vergißt das Wichtigste, was es in der Verslehre gibt, die Lust an der rhythmischen Ordnung. Beachtenswerte Bedenken dagegen erhebt Louise Pound, Poetic origins and the baliad (1921), Kap. 1. *) Wie dies Saran in seinen verschiedenen Arbeiten unternommen hat. 3 ) So Richard Benz, Die deutschen Volksbücher ( 1 9 1 3 ) 7. Auch in den Konstruktionen Sarans (Jenaer Hschr. 2, I39f., D.Verslehre 1 3 1 - 2 2 1 , Streitberg-Festgabe 314 f.) kommt das autonome Wohlgefallen am metrischen Rhythmus nicht zu seinem Rechte (vgl. § 60).

28. Während wir aus dem ersten Zeitraum fast nur gesprochene Verse haben, gehen'in der ganzen endreimenden Zeit gesungene und gesprochene Dichtung nebeneinander her. Wie stellt sich dazu die metrische Betrachtung? Wo der Urheber seine Verse auf eine Weise, die wir kennen, gedichtet hat, da ist der Rhythmus der Weise für den Metriker verbindlich. Einen Gegensatz von Vers- und Melodierhythmus dürfen wir da nicht aufstellen; der Dichter w o l l t e seinen Text gehört wissen in den Formen der — eigenen oder fremden — Melodie. Ein Beispiel. Bei Franz Kuglers 'Rudelsburg' könnte man an gewohnte Trochäen denken: An der Saale hellem strande

stehen bürgen stölz und kühn.

Der Text würde nirgends Einspruch erheben. Nun hat aber dem Dichter die wohlbekannte Weise vorgelegen: die hat einen ganz anderen Zeitfall (§44, 6); d e r ist also die vom Dichter gesetzte Form. Ist der Dichter zugleich der Tonsetzer, so tritt dieser Fall ohne weiteres ein. Die Frage ist dennoch berechtigt, ob sich der Text ohne Härten zu der Weise füge. Den alten Zustand: daß zu einem sangbaren Gedicht von Anfang an seine Weise gehört, hat das Volkslied festgehalten. Im neueren Kunstliede ist dies nicht mehr die Regel. Auch sangliche Texte finden erst später den Vertoner, und dann kann es geschehen, daß Weise und Text ungleichen Zeitfall haben, d. h. daß der Tonsetzer einen Rhythmus wählte, der dem Dichter nicht vorgeschwebt hat. Unsere Musiker fanden sich nicht gebunden, dem Dichterwort seine angestammte, vom Dichter gesetzte Form abzulauschen und d i e s e r die Melodie zu finden. Der Text galt ihnen mehr oder weniger als rhythmischer Rohstoff. Bei unseren großen Liederkomponisten von Mozart bis Brahms ist ganz ge-

22

SANGLICHER UND UNSANGLICHER V E R S .

wohnlich der Textrhythmus ins reichere und wechselnde verschoben; zu schweigen von den A r i e n , die ihren Text, auch wo er aus geregelten Versen besteht, ganz frei ausformen können. Aber auch manches volkstümlichere Lied weckt den Verdacht, daß der Dichter die Form anders gemeint habe, als wir sie singen. Man prüfe daraufhin das Rheinweinlied von Claudius und Geibels bezeichnet), nicht die höheren (an 3., 7., 9. Stelle). Gleiches gölte von der S c h a l l f a r b e . Zwei einfache Beispiele. In den Ketten: la le la la le la la le f s f f s f f s wirkt die bloße Schallfarbe gruppenbildend. abstufung dazu, z. B.: la le la la le la la le > > . > f s f f s f f s , so bestimmt s i e die rhythmische Linie.

Tritt aber Stärke-

24

IKTUS, T A K T , AUFTAKT.

Es ist denn auch allgemeiner Sprachgebrauch, daß man zwei Melodien 'gleichen Rhythmus* zuerkennt, wenn sie abweichen nur in den Höhenstufen oder der Klangfarbe. Damit ist gesagt: von den arthaften Unterschieden der Zeitglieder ist für den Rhythmus wesentlich der dynamische. Mit anderen Worten: den R h y t h m u s m a c h e n D a u e r und S t ä r k e . Davon sind wir schon ausgegangen, als wir in § 22 f. die rhythmischen Gerippe herausschälten. 31. Dynamische Auszeichnung eines Gliedes nennen wir Iktus oder Hebung. Schwache, iktuslose Zeitteile sind Senkungen. Die Ausdrücke 'Akzent, Betonimg, Stark- und Schwachton 5 versparen wir streng und folgerecht auf die sprachlichen Eigenschaften der Silben (§ 63). Ganz vermeiden wir die Wörter Arsis und Thesis; sie sind durch widersprechenden Gebrauch entwertet. Einen metrischen Rhythmus bestimmt man, indem man die Dauer der Zeitteile und die Lage der Ikten angibt. Wir sahen, den metrischen Rhythmus unterscheiden von dem ungeordneten die wiederkehrenden gleichen Zeitspannen von Iktus zu Iktus. Damit ist gegeben, was die Griechen TÖEig xpovwv nannten: zwischen den Zeitteilen bestehen einfache, ohrenfällige Verhältnisse. Z. B.: 1 1 1 1 4 2 1 1 2 2 älles in der weit läßt sich ertragen. Der unmetrische, ungeordnete Rhythmus hat irrationale (inkommensurable) Zeitverhältnisse. Die angeführte Zeile könnte als Prosa beispielsweise diese Werte haben: 1,4 0,8 1 0,7

2,3 1,7

1,2 0,6 1,9

0,6.

32. Die geregelten Zeitspannen von Iktus zu Iktus sind die Takte. Wir begrenzen sie so, daß sie mit dem Iktus beginnen. Die Taktstriche, die den Takt einschließen, fallen vor den Iktus: | alles in der | wölt | läßt sich er- | trägen. Was dem ersten Iktus der Reihe vorangeht, nennen wir Auftakt: die | steme | die be- | gehrt man | nicht = Auftakt 4- drei zweisilbige + ein einsilbiger Takt. Damit folgen wir unserer musikalischen Notenschrift. Die Alten haben ihre 'Füße* anders begrenzt; der Jambus z. B. be-

F u s s . TAKTGESCHLECHTER.

25

ginnt mit der Senkung | w L |. Nach diesem Vorbild hat man auch bei uns eingeteilt: die st er- | ne die | begehrt | man nicht: = vier vollständige jambische Füße. Wir betonen schon hier: es ist l e d i g l i c h ein Unterschied der Benennung und des Schriftbildes! Für die Auffassung der Schallform macht es nichts aus. Unser Verfahren denkt nicht daran, die Zweiheit Jamben und Trochäen zu mißachten oder den Auft a k t die 'außerhalb der rhythmischen Reihe' zu stellen! Auftakt steht durchaus in der rhythmischen Reihe. Nach dem ersten wie d e m zweiten Verfahren ist der Taktstrich eine Hilfe fürs Auge: er bezeichnet keine Pause, keinen hörbaren Einschnitt (§ 65). Das Hörbare ist die Gleichheit der Zeitspannen von Iktus zu Iktus. Die besteht, gleichviel ob man den Taktstrich da- oder dorthin setzt. Für die Klarheit der Einteilung und Benennung aber hat unser Verfahren unschätzbare Vorteile. Die andere Art gerät in die Klemme schon bei einem Vers wie dem vorigen: Alles in der weit läßt sich ertragen. Was für 'Versfüße' soll sie da abgrenzen ? Folgt auf den 'Trochäus' alles ein 'Anapäst' in der weit ? Oder bilden die vier ersten Silben einen 'Päonier' usw. Unsere Odendichter schon vor Klopstock sind da einer Verwirrung und Willkür verfallen, wovor sie der andere Weg bewahrt hätte. Die unverfänglichen Ausdrücke 'fünffüßiger Jambus, jambischer Fünffüßler' u. dgl. brauchen wir uns nicht zu verwehren. Im übrigen aber sprechen wir nur von Takten, nie von Füßen oder Versfüßen; auch nicht von 'Wortfüßen' (§65). ' F u ß ' ist eine der abgegriffenen Münzen ohne Bild, von denen die Verslehre entlastet sein will. 33. Metrischer Rhythmus gehört zu den zusammengesetzten Rhythmen: er kennt Glieder höherer und niederer Ordnung. Der Takt ist im metrischen Gerüste nicht die kleinste Zeiteinheit : er zerfällt in Taktteile. Für unseren Versstoff kommen wir mit vier 'Taktgeschlechtern' aus. (Wir gebrauchen vorläufig und bis zu § 43 die musikalischen Notenzeichen.) 1. der zweiteilige oder Zweiviertelstakt (f): | ^

f

|

2. der dreiteilige oder Drei viertelstakt (£), der 'Walzertakt':

I f r rI

3. der vierteilige oder Vierviertelstakt ( | ) : | f

f (* * |

26

TAKTGESCHLECHTER.

TEMPO.

4. der 'schwere dreiteilige* oder Dreihalbetakt (f), der 'Ländlertakt':

|

f

f

|

Textbeispiele versparen wir auf § 41. 44. Den Taktteil f , das Viertel, nennt man auch Mora ('Zeitteil'). Der Taktteil ® , die Halbe, ist die Doppelmora. 'Guter Taktteil' ist das iktustragende, gehobene Glied; 'schlechte Taktteile' sind Senkungen. Das dritte unserer Taktgeschlechter, der Vierviertelstakt, hat z w e i 'gute Taktteile': eine Haupthebung auf der ersten, eine Nebenhebung auf der dritten Mora. Wir nennen diesen Takt auch den 'Langtakt' zum Unterschied von dem 'Kurztakt' unter Nr. 1. Zerfällt die Doppelmora des Ländlertaktes, Nr. 4, in zwei Viertel, dann verhält sich das erste zum zweiten wie Hebung zu Senkung: | f

f f f f f I

34. Die Ausdrücke 'ein Viertel, eine Halbe . . ' mit den zugehörigen Zeichen dürfen nicht zu dem Glauben verführen: es handle sich um absolute Zeitwerte; der £-Takt daure anderthalbmal so lang als der J-Takt. Die Zeitmessung im Rhythmus ist relativ. Sie rechnet mit Zeit V e r h ä l t n i s s e n . Wenn wir dennoch unterscheiden zwischen f - und £-Takt, obgleich das Verhältnis beidemal | 1 : 1 : 1 | ist, liegt es daran, daß die versmäßige Behandlung hier deutlich zweierlei Taktgeschlecht erweist. Jeder weiß, daß man dieselbe Melodie, dieselbe Verszeile langsamer oder schneller vortragen kann, ohne die Zeitverhältnisse einzutasten. Da ist der Rhythmus gleichgeblieben: geändert hat sich das Tempo. Man mache sich klar, daß dies zwei verschiedene Größen sind! Ein ungenauer und verwirrender Sprachgebrauch wirft die beiden Größen durcheinander. In der Musik fiele es niemand ein, etwa bei dem rhythmischen Motive:

1 r r r r i r nr i m s r r i r

zu sagen, gegen Schluß des zweiten Taktes setze ein 'schnelleres Tempo' ein. Ebensowenig darf man beim gesprochenen Verse von Beschleunigung des 'Tempos' sprechen, wenn z. B. in Rückerts «Gräbern zu Ottensen' auf die Langzeile: Darinnen liegt begraben der Vers folgt: *

*

ein ganzes volksgeschlecht >

väter mütter brüder töchter kinder knaben . . . Dieser Vers bringt kürzere Zeitglieder, eine raschere rhythmische Bewegung: das Tempo aber, d. h. das Maß der absoluten Ge-

TAKTWECHSEL.

D E R VERS.

27

schwindigkeit, ist nicht beschleunigt. Im Gegenteil besteht in solchen Fällen die Neigung, der gedrängten Silbenfolge durch v e r l a n g s a m t e s Tempo entgegen zu wirken. Man merkt beim Taktschlagen, wie sich die Zeitspannen dehnen. 35. Lieder alter und neuer Zeit kennen Taktwechsel, d. h. Verbindung von Takten ungleicher Dauer und ungleichen Geschlechts. Der bekannte 'Prinz Eugen, der edle Ritter* wechselt zwischen drei- und zweiteiligen Takten 1 ). Das Kinderlied 'Droben auf grünender Heid, da steht ein schöner Birnbaum, schöner Birnbaum, trägt Laub' beginnt mit leichten Dreiviertelstakten und geht mit da zum schweren dreiteiligen Takt über 2 ). Ein Volkslied in Aufzeichnung von 1601: 1. Mein gmüt ist mir verwirret, das macht ein jungfrau zart... 3. Hab tag und nacht kein ruh, führ allzeit große klag verbindet in der ersten Langzeile und £-Takt, die dritte bewegt sich in geradteiligem (f) 3 ). Annäherung an ungeordneten Rhythmus ist Taktwechsel nicht, nur eine minder einfache Ordnung, bei der sich das Gehör mit mehr als e i n e m Taktmaß abzufinden hat. Unserer Kunstmusik ist die Erscheinung so ziemlich abhanden gekommen; die Wenigsten haben noch Gefühl dafür. Über den gesungenen Vers drang Taktwechsel nur ganz vereinzelt hinaus4). Unsre Versgeschichte hat es im allgemeinen nur mit gleichtaktigen Versarten zu tun. Wie fast alle Ausdrücke der Verslehre, so hat auch 'Taktwechsel1 ganz widersprechenden Sinn. Man hüte sich vor Unklarheiten ! Manche reden von Taktwechsel, wenn ein Blankvers mit starker Silbe anfängt (sterben ist nichts . . .): also ein Punkt der sprachlichen Füllung; das einheitliche Taktmaß des Rahmens steht hier nicht in Frage. ' ) Die richtige Gliederung ist die Silchersche, sieh Erk-Böhme 2, 134 f. Falsch sind die Notierungen im J-Takt. *) Bei Bücher, Arbeit und Rhythmus 4 87; Erk-Böhme 3, 531. Die Bezeichnung mit und ¡¡-Takt verdeckt das Gewichtsverhältnis; besser J für J . •) Reimann, Das deutsche Lied 3 Nr. 61. Auch 4 Nr. 82 verwendet diese drei Taktgeschlechter. *) Aus deutscher Buchdichtung wüßten wir nur Vossens Galliamben zu nennen; vgl. Vf., D.antVers 172.

36. Bisher hatten wir die Takte mit ihren Taktteilen. Über dem Takt steht als metrisches Glied höherer Ordnung der Vers. Die Frage, wie sich der 'Vers* abgrenze nach unten und oben; mit andern Worten: was ein 'Vers' sei und was ein Versteil oder eine V e r s g r u p p e : diese Frage erlaubt keine allgemein begriffliche Antwort (Paul, PGrundr. 43f.). In der deutschen Vers-

28

TAKTZAHL DES VERSES.

GRUPPENBILDUNG.

geschichte gibt es nur wenig Stellen, die der Entscheidung Schwierigkeit machen. A u c h dann liegt in der Entscheidung wenig Erkenntniswert. Deutsche Verse gibt es von 2, 3, 4 . . . . bis zu, sagen wir, 16 Takten. Die Grenze nach oben bleibe offen. Bei Ernst Stadler begegnet noch dieses streng jambische und mit einem Schlußleim versehene Gebilde, das auch nach dem Druck als ein Vers gelten will: ein Vers von 16 Hebungen: Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrissene luft, hoch übern ström. O biegung der millionen lichter, stumme wacht. Erklärt man alles, was über 4 oder über 6 Takte zählt, für eine Verbindung mehrerer Verse, so geht man über die schlichte Feststellung hinaus und begibt sich in den Bereich entstehungsgeschichtlicher Vermutung. Zeilen mit e i n e r Hebungssilbe sind wohl immer zweitaktig. Zeilen mit drei, fünf, sieben Hebungen werden meist einen pausierten T a k t haben, also bzw. vier-, sechs- und achttaktig sein. Aber a u c h Verse von ungerader Taktsumme muß man anerkennen. E s begegnet auch, daß scheinbar vierhebige Zeilen im metrischen Vortrag als fünftaktig herauskommen. Den Fall, d a ß Zeilen mit zwei gehobenen Silben dreitaktiges Maß haben, werden wir in skaldischen Formen antreffen (§ 294 u.ö.). Wir gebrauchen die Namen 'Viertakter', 'Sechstakter' usf. Die kürzeren Ausdrücke 'Vierer, Sechser' vermeiden wir schon deshalb, weil einige Metriker damit die Zahl der S i l b e n bezeichnen. Den Grundsatz der festen oder starren oder gebundenen Taktzahl haben wir da, wo jedem Verse eines Gedichtes seine T a k t summe vorbestimmt ist; wo Wechsel in der Taktsumme eine andere Versart bedeutet. Dem steht gegenüber der Grundsatz der freien (unfesten, ungebundenen) Taktzahl: da können Zeilen von wechselnder Taktsumme beliebig durcheinander gehen. 37. Zwei und mehr Verse können sich zu metrischen Gliedern höherer Ordnung verbinden: Versgruppen, Perioden. Z. B. zwei grundsätzlich gleiche Verse, durch den Reim verknüpft, bilden ein Reimpaar; zwei grundsätzlich gesonderte Verse bilden eine Langzeile oder ein Distichon usw. Diese einfachsten, zweigliedrigen Gruppen können sich wieder zu planvollen Gebäuden höherer Ordnung zusammenschließen. Z . B . zwei Langzeilen ergeben ein gereimtes Langzeilenpaar, und zwei solche Paare machen die Nibelungenstrophe aus. Hier haben wir einen Bau von vier Stockwerken: Vers — Langzeile — Lang-

GRUPPENBILDUNG.

STICHISCH.

29

zeilenpaar — Strophe. Es gibt weit zusammengesetztere Perioden, auch solche, die nicht einfach aus fortschreitender Verdoppelung erwachsen; auch solche, die aus Versen ungleicher Taktzahl bestehn 1 ). Die Periode höchster Ordnung innerhalb ihres Gedichts ist die Strophe, das Gesätze. Die Strophe ist, rhythmisch betrachtet, ein in sich ruhendes, nicht über sich hinausweisendes Gebilde (vgl. §52). Über die Strophe geht die m e t r i s c h e Architektur einer Dichtung nicht hinaus: planvolle Strophengruppen betrachten wir als s t i l i s t i s c h e Einrichtung. In gesungener Dichtung war die Strophe zugleich die oberste melodische Einheit: mit der Strophe wiederholte sich die Weise; das 'Strophenlied'. So noch heute in halbwegs volksmäßiger Liedkunst. Das 'Durchkomponieren' — Vertonung des Gedichts ohne genau wiederholte Gesätze — herrschte früher bei Texten von freier, unstrophischer Gruppenbildung: Sequenzen, Leichen; strophische Texte hat man erst in neuzeitlicher Kunstmusik durchkomponiert. *) Für die metrischen Glieder der verschiedenen Ordnungen gibt es Einzelnamen, teils den A l t e n , teils dem Meistersang entnommen: Kolon, Metron, System; — Lasche, Glied, Bund, Reihe, K e t t e , Gebinde, Gesätze: RoßbachVVestphal III I, 175 f f . ; Saran, DVersl. 168 f.

38. Stichisch nennt man Gedichte, die über dem Einzelvers keine m e t r i s c h e n Gruppen kennen. Die größeren Abschnitte, die Ruhepunkte bestimmt nur der Inhalt, nicht die Form. ((TTIXO? 'Zeile, Vers'.) Stichisch im strengen Sinne sind Werke in Blankversen, in Hexametern. Soweit Stabreim oder Endreim herrschten, also in der altgermanischen, altdeutschen und frühneudeutschen Zeit, konnte es eigentlich-stichische Dichtung nicht geben; denn diese beiden Reimarten binden Verse zusammen, schaffen also Gruppen (vgl. § 334). Fortlaufende Reimpaare pflegt man denn auch nicht als 'stichisch', sondern als *unstrophisch' zu bezeichnen. Dagegen ist es Brauch, die stabreimende Gruppe, die 'Langzeile', als einen Stichos zu fassen und demnach die Werke in fortlaufenden, nicht weiter gegliederten Langzeilen 'stichisch' zu nennen. Wir werden sehen, daß es da einer weitern Unterscheidung bedarf: den Namen stichisch beschränkt man am besten auf die Fälle, wo die stabende Langzeile eine sprachlich geschlossene Größe ist (§ 350. 362). Der Gegensatz strophisch : stichisch (im weiteren Sinne) fällt in germanischer Versgeschichte lange nicht immer zusammen mit dem Gegensatz gesungen : gesprochen. Zwar dürfte reicherer Strophenbau immer vom Gesänge ausgehn; seinen wahren Sinn



FREISTROPHISCH.

hat er im Tonstück. Allein, die Germanen konnten Sangesstrophen von Fremden entlehnen und für ihre Sprechdichtung verwenden ; ein altes Beispiel ist der geregelte Strophenbau der westnordischen Skalden, der auch auf die Edda abgefärbt hat. Oder man verpflanzte eine Strophe des Minnesangs auf die unsanglichen Heldenbücher : Kürnbergs-Nibelungenweise. Anderseits sind auch einfachste, zweigliedrige Perioden singbar. Von den Reimpaaren wissen wir es aus altdeutscher Lyrik und Spruchdichtung, dann aus dem Volksliede. Von den stabreimenden Langzeilen vermuten wir es, weil ein Teil der gesungenen Dichtung keine höheren Gruppen kannte. Bei Finnen, Slaven, auch im welschen Heldenepos finden wir stichische Dichtung gesungen; also Wiederholung der Weise mit jedem Verse. Unbedingt sangeswidrig wurde unsre Dichtung erst da, wo sie die Schlüsse der Langzeilen und Reimpaare sprachlich übersprang, die syntaktische Einheit dieser kleinsten Perioden löste und damit ins Unsymmetrische zerfloß (§52). Mit andern Worten: noch nicht unstrophischer Bau, erst Zeilensprung, Bogenstil usw. erlauben verseshalber den Schluß auf Unsanglichkeit. Überschwere Senkungen und Auftakte stützen diesen Schluß. 39. Man spricht von ungleichstrophigen Gedichten da, wo die obersten Gruppen nach Länge oder sonstigem Bau verschieden sind. Die Fälle sind ungleicher Art. Nicht hierher gehört ein Fall wie das Sonett: seine zwei viergliedrigen und zwei dreigliedrigen Gruppen bilden als Ganzes einen metrischen Bau, eine Strophe. In gesungener Dichtung kann die Melodie die wechselnden Gruppen kontrastieren, so daß die 'Ungleichstrophigkeit' einem höhern musikalischen Plane dient. Der Gesang kann auch die Ungleichheit der Textgruppen a u f h e b e n ; z. B. so, daß er in zweizeiligen Gruppen beide Zeilen wiederholt (:J|), in dreizeiligen nur die eine (Erk-Böhme 1, 632f.): 9. Unter ihrem grünen kränzelein :'| hat sie gezeugt drei söhnelein :j| 10. Zwei hat sie im tiefen meer ersäuft, :|| und mich hat sie in hohlen bäum versteckt, mit dorn und disteln zugedeckt. Da ist Gleichstrophigkeit hergestellt — in dem gehörten und vom Dichter gewollten Vortrag, und nur der kümmert den Metriker. Sprechpoesie kennt keine solchen Mittel. Da hat man immer die Frage zu stellen, ob die Abschnitte nur aus dem Inhalt folgen oder doch noch eine Formabsicht, ein freieres Ebenmaß zu erkennen geben. Ist das erste der Fall, dann spräche man besser von freier

GRUNDMASS

UND V E R S F Ü L L U N G .

3i

Gruppenbildung, nicht von Ungleichstrophigkeit; denn eine 'Strophe' ist doch immer eine metrisch bedingte Größe. Wo e i n e Gruppe bestimmten Baues vorwaltet, wie in manchen Eddaliedern, ist der Name freistrophisch am Platze. 40. Die in § 32-39 besprochenen Glieder, von unten nach oben: Mora, Takt, Vers, Periode (Strophe), bilden ein Gerüste: den metrischen Rahmen oder das Grundmaß. Um den Rahmen einer Versart zu bestimmen, müssen wir angeben: 1. welche Taktzahl die Verse haben; 2. welches Taktgeschlecht ihnen zukommt; 3. was an Gruppenbildung vorhanden ist. Bei Versarten mit freier Taktzahl (§ 36) kann man keinen einheitlichen, für alle Verse geltenden Rahmen aufstellen. Dies ist die eine Seite am metrischen Gegenstand. Rein gedanklicher Art ist sie nicht: dieser 'Rahmen' besteht als Wirklichkeit im rhythmischen Gefühl des Dichters und des formempfänglichen Hörers; zum sinnenfälligen Ausdruck brächte ihn ein ideales Taktschlagen, das den Aufbau der Teile vom kleinsten bis zum größten begleitete. Aber Verse selbst hören wir damit noch nicht klingen. Rhythmische Gerippe von Versen haben wir damit noch nicht herausgeschält. Wir haben noch nicht einmal festgestellt, was alles den sämtlichen Versen einer Art gemeinsam ist. Ein V e r s entsteht erst, wenn sich der metrische Rahmen mit sprachlichem Inhalt füllt. Wir reden da von Versfüllung.

5. Abschnitt: Die Bestandteile des metrischen Rhythmus. B. Die Versfüllung. 41. Den Begriff Versfüllung und sein Verhalten zum 'metrischen Rahmen' sollen uns ein altdeutsches und zwei neudeutsche Beispiele vorläufig klarmachen. 1. Wiener Genesis 6 1 , 1 ; 26,13: der dir si gelich: f | F I P f | f \ von diu wil ich

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sumellche heten houbet sam

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sumellche heten an den brüsten den munt

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Diese zwei Reimpaare liegen in ihrer Schallform, ihrem Rhythmus offenbar weit auseinander. Dort der ruhige Schritt mit den

GRUNDMASS UND VERSFÜLLUNG.

32

Dehnungen und Pausen; hier die bewegten, vielgliedrigen Figuren. Das erste Paar hat 9, das zweite 22 Glieder. Und doch sind es Vertreter eines Versmaßes. So verschiedene Stücke gehn in einem Gedicht beliebig durcheinander. Der metrische Rahmen ist beidemal derselbe: gepaarte Viertakter im f - T a k t : •• i r

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Diesen rhythmischen Gang kann man gleicherweise zu den beiden Verspaaren schreiten oder anschlagen. Den ganzen Unterschied hat die V e r s f ü l l u n g ergeben. Der einheitliche Rahmen hat ungleichen Inhalt aufgenommen. Daher der so weit abweichende Zeitfall der beiden Paare. 2. Den zwei Hexametern (Reineke Fuchs 12, 373; 8, 190): Hochgeehrt ist Reineke nun! zur Weisheit bekehre. . Zölle und zinsen erhüben und dörfer und mühlen benutzten geben wir diese rhythmischen Gerippe: \ f

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Auch hier zwei merklich ungleiche Figuren I Die Ungleichheit entspringt aus der sprachlichen Füllung. Gemeinsam ist beiden Versen dieser metrische Rahmen: sechs J-Takte; i r

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Unsre beiden Einzelverse haben diese gemeinsame, einheitliche Grundform zu zwei Sonderformen geprägt. 3. Künstlers Morgenlied (W. A. 2, 178) hat den metrischen Rahmen: Viertakter im J-Takt; zwei Viertakter zu einer Langzeile, zwei Langzeilen zu einer Strophe zusammengefaßt. Durch die Versfüllung entstehn z. B. diese zwei bestimmten Langzeilen; ihr rhythmischer Unterschied liegt in der verhältnismäßigen Stärke der Hebungen: Der tempel ist euch aufgebaut, r i r

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ihr hohen musen all . . .

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VERSTYPEN.

33

U N S R E ZEICHENSCHRIFT.

42. Aus diesen Beispielen lernen wir: der metrische Rahmen bildet das Gleichbleibende, die sprachliche Füllung bringt die Buntheit hinzu. Da kann sich die Mora, die Zeiteinheit des Rahmens, spalten; da können zwei und mehr Morae in e i n e n Wert verschmelzen. Statt der Kette gleicher Einheiten können sich Zeitwerte abstufen, deren größter das Sechzehnfache des kleinsten i s t . . . Von Vers zu Vers prägt sich eine metrische Art in neuen Rhythmen aus. So fanden wir den Viertakter in Beispiel i in vier verschiedenen Füllungstypen oder Verstypen. Die Abwechslung ist bald freier, bald begrenzter. Die Einheit in dieser Vielheit ist das Grundmaß. Das Grundmaß irgendeines Verses hat zwar zusammengesetzten Rhythmus (§ 33); aber dieser Rhythmus ist — von den Fällen mit Taktwechsel abgesehen — ungemischt, d. h. er besteht aus lauter gleichen und kongruenten Gliedern. Die Versfüllung schafft daraus gemischte Rhythmen; d. h. mit den gleichen Abschnitten verbinden sich ungleiche Teilglieder oder Gruppen. So vereinigt die rhythmische Schallform jedes Verses Mannigfaltigkeit mit Gleichheit. Die Gleichheit liegt im Rahmen, die Mannigfaltigkeit in der sprachlichen Füllung. 43. Unsre Rhythmenbilder brauchen also Zeichen für vielerle 1 Werte. Es hätte Vorzüge, bei der musikalischen Notenschrift zu bleiben; die ist eindeutig und kommt den feinsten Unterscheidungen bei. Wir ersetzen sie durch Zeichen, die bequemer zu schreiben sind und aus dem Druckbild des Textes weniger herausstechen; gern fügten wir bei: die der Verslehre geläufiger sind! Aber leider liegt es so, daß ein herrschender Brauch nicht besteht. Unsre Zeichen sind zwar zum kleinsten Teile neu, aber ihr Sinn ist wenn nicht bei jedem, so doch bei jedem dritten Metriker wieder ein andrer. So treibt uns nicht nur das Bedürfnis nach genauem Rhythmenbilde, eine eigne Auswahl zu treffen: auch der Mangel einer anerkannten Umschrift berechtigt zu solchem Vorgehen. Am nächsten folgt unsre Verwendung der bei Möller, AhdAllit. (1888) 109 ff. Eben w e i l all diese Zeichen so vieldeutig sind, können wir dem Benützer unseres Buches nicht ersparen, sich die Umschrift einzuprägen mit dem Sinne, den wir ihr im folgenden, und zwar für alle Zeiträume gleichmäßig, zu geben denken. Die metrischen Zeitwerte, von oben nach unten, erhalten die hier rechts stehenden Zeichen: Vier Viertel

0 : L_I

Drei Viertel H e u s l e r , Deutsche Versgeschichte.

3

34

UNSRE ZEICHENSCHRIFT.

Eine Halbe Drei Achtel Ein Viertel Ein Achtel Ein Sechzehntel

0

1 • — : Xr : X r : w

c

:

2 Ein zeitlich unbestimmter Silbenwert (§ 218): c Das pausierte Viertel i[ : /\ Längere Pausen bezeichnen wir durch mehrfache Kürzere Pausen als ein Viertel bleiben unbezeichnet. Iktenzeichen: Den stärkern Iktus, die Haupthebung, bezeichnet der Akut ' , z. B. / ^ y/y usw. Den schwächern Iktus, die Nebenhebung, bezeichnet der Gravis v , z. B. ^ «v, usw. Nach Bedarf heben wir einen stärksten Iktus durch Doppelakut, einen stärkern Nebeniktus durch Doppelgravis hervor; z. B. I^x^xlDie T a k t e begrenzen wir mit Strichen | (§32); der Taktstrich am Schluß einer Formel bleibt weg. Ein Punkt vor dem ersten Taktstrich | bedeutet: es kann einsilbiger Auftakt stehen; zwei Punkte • |: es kann ein- oder mehrsilbiger Auftakt stehen. Die V e r s g r en z e bezeichnen wir in Formeln mit : oder, wo sie mit der Taktgrenze zusammenfällt, mit ||; in Textzeilen mit Spatium oder ||. Die Z ä s u r im Versinnem bezeichnen wir mit 44. Zur Veranschaulichung wiederholen wir die Beispielverse von § 41 mit beigefügter Rhythmenschrift. 1. der dir sl gellch: von diu wil ich sumeliche heten houbet sam hunt, sumeliche heten an den brüsten den munt

2. hochgeehrt ist Reineke nun! zur Weisheit bekehre . . zölle und Zinsen erhüben und dörfer und mühlen benutzten i l_Lxl —

'xl}£xxl-^-'Xl/£xxl—X

l ^ x x l ^ x x I k x ' x l ^ x x l ^ x x l A - x

U N S R E ZEICHENSCHRIFT.

SILBENSUMME.

35

3. der tempel ist euch aufgebaut, ihr hohen musen a l l . . bis dann auch er, gebändiget von einer götterhand . .

Die noch fehlenden Zeichen und Taktgeschlechter findet man in den folgenden Beispielen. 4. zappelt wie eine laus, hüpft wie ein floh (W. A. 16, 3) 5. es saßen beim schäumenden, funkelnden wein drei fröhliche bursche und sangen 1 ) I

W L & ^ - X

I¿ W X

I^ - ^ X U :

6. an der Saale hellem strande

XL>
) X' Man sieht und hört den Widerstreit der beiden Rhythmen. Die Stärkestufen widerstreiten einander bei Silbe 4 : 5 und bei Silbe 8 : 9. Sprechen wir Rhythmus a, so beugen wir die natürliche Betonung; wer getröst fortgehet, der kömmt an. Sprechen wir Rhythmus b, so hören wir keinen Vers, jedenfalls keinen Hexameterschluß. Diese Zeile ist sprachwidrig oder verswidrig. 67. Sprach- und versgerechte germanische Verse entstehen, w e n n I k t u s u n d B e t o n u n g i m E i n k l a n g sind. Dieser Grundsatz gilt als Eckstein des germanischen Versbaues, genauer: der Sprachbehandlung im germanischen Verse. Es ist die prosodische Hauptregel germanischer Dichtung. Im Hinblick auf diesen Grundsatz nennt man den germanischen Vers akzentuierend

(§88).

Der Grundsatz muß so alt sein wie der germanische Stärketon, also unseren frühesten Sprachzeugnissen vorausliegen. In gotischer oder althochdeutscher Zunge wären nichtakzentuierende Verse so sprachwidrig gewesen wie in neudeutscher (Vf., D. ant. Vers 5 f.). Der Einklang von Iktus und Sprachton ist kein 'Gesetz'; keine unerläßliche Bedingung. Es gibt Myriaden deutscher Verse, die den Einklang entbehren; doch, wohlgemerkt, n o c h k e i n e im altgermanischen Zeitraum, als unsre Verskunst noch ganz heimisch war! — Man kann jene Verse schadhaft, fehlerhaft nennen; nicht alle fanden und finden sie unschön; Verse sind es jedenfalls. Gesungene Dichtung, in alter und neuer Zeit, k a n n sich freier über den Einklang wegsetzen als unsangliche. Die Weise kann

58

HEBUNGSFÄHIG UND HEBUNGHEISCHEND.

das Ohr ablenken von dem Widerstreit ; man wird weniger empfindlich für den Anspruch des Sprachrhythmus. 68. Der 'Einklang' von Iktus und Sprachton läßt sich genauer bestimmen. Zu viel sagt der beliebte Satz: die beiden müssen sich decken. Was darauf hinausliefe: jede betonte Silbe gibt eine Hebung, jede unbetonte eine Senkung. Verse wie: sumun te fälle, sùmun te fróbrù1) guoten mórgen, gùoten

àbènt2)

heißemagfster,hèiBedóctorgàr

w

w

w

| ^-y'^wX 1n ^

wwl^xl^xl-Alik i X X ! >< X I >< X I >
^

4144 heliÖos, üsaro höbdo

w ^ I

Mhd.: wan wecket uns leider schiere x I X w w l X X l - i I k benomen flz sinem muote

xlv^wXlxxl-^-lk

mir enkome min holder geselle u w l ^ / w X l X w w I l I k Schon Lachmann unterschied hier 'Verschleifung auf der Senkung und auf der Hebung*. Den r h y t h m i s c h e n Unterschied, X gegen v^/ w X , zeigt uns der Versbau d e r alemannischen Mundarten, welche starktonige Länge und Kürze noch sondern (Vf., AdVersk. 47. Weitere Beispiele bei Reinle, Volksreime 16 ff.). Ohne diese lebenden Verse zu kennen, hat Amelung 1871 den Unterschied in voller Klarheit hingestellt (Beitr. z. d. Metrik 51). C. Spaltung des Viertels X in Achtel w w (oder Sechzehntel) erfolgt im agerm. wie im adtsch. Verse ö f t e r bei sprachlicher Kürze der Silben. Also ein ^ w v ^ w wird häufiger durch |friöusamo|, | managemo | gebildet als durch | luttic wäri |, | nuzzun thera |. Die sprachlich kurze Silbe ist eben nicht nur ^mdehnbar': sie hat weniger Schallmasse und schmiegt sich daher leichter in den kleinen Zeitwert.

64

D I E KURZE STARKTONSILBE.

Gepflegterer Versbrauch, so der skaldische, der ritterliche, kann den Grundsatz zur Regel erheben: w ü , nicht kann ein einsilbiges Gied X ersetzen. Z. B. Auftakt ist einsilbig oder besteht aus fara, nicht aus halda. Nicht zu verwechseln damit sind die häufigeren Fälle, wo sprachliches gemessen 'X X , gleichwertig ist einem sprachlichen 1, gemessen -L; z.B. mhd.: vliesen da daz leben • • • I X X I vrouwen unde man . . . |

/

|^

der uns mit dem degene . . . j £ x I daz er dir so lange

. . . | j_ | >< X X I gegen | J _ X X I) offen bleiben soUen.

103. Durch ail diese Eigenschaften stand der lateinisch-romanische Versbau in scharfem Gegensatz zum heimisch-germanischen. Sprachstoff, Kunstrhythmus und Prosodie: alles war so verschieden als möglich. Mit wenig Ausnahmen — im 13. und 16. Jahrh. — hat sich die deutsche Nachbildung nur auf den Kunstrhythmus gerichtet; dies gebot die Vernunft, hier wie beim antiken Verse (§98). Auch hatten von der Sprachbehandlung der Welschen unsre Verslehrer Opitzischer Zeit verworrene Begriffe. Wie sich die deutschen Dichter mit dem fremden Vorbild auseinandersetzten, haben die geschichtlichen Abschnitte zu zeigen.

86

KLEINKUNST. INSCHRIFTVERSE.

T E I L II:

Der altgermanische Vers. 9. Abschnitt: Quellen. 104. Die schlichtesten Vertreter altgermanischen Versbaues sind Denkmäler der Kleinkunst: Formeln, Sprichwörter; Denkinschriften ; Zaubersegen und Verwünschungen; rituale und andre Rechtsverse. Vieles davon in Prosatexte eingesprengt1). Zu diesem untersten Stockwerk tragen alle germanischen Literaturen bei. Von den Zauberversen setzt einiges urindogermanische Stufe fort, und der deutsche Wurmsegen ist erst mit einem Fuß in der germanischen Form. Von den Zwillingsformeln sind manche gemeingermanisch, führen uns auf Verse in urgermanischer Gestalt zurück und leben bis heute mündlich fort; z . B . freunde und feinde: urgerm. *frijöndlz andi fijandlz. Auch die urnordischen Runenverse, kaum mehr als 15, stehen noch ziemlich vor dem einzelsprachlichen Endsilbenschwund2). Die zahlreicheren aus dem 9. bis 12. Jahrh., etwa 40 Kurzverse aus Dänemark, vielleicht dreimal soviel aus Schweden, haben schon ungefähr die Wortformen der nachmaligen Schriftsprachen. Dies gilt auch von den wenigen englischen Inschriftversen (8. Jahrh.). Diese urtümlichen Gebilde mit mancherlei metrischen Freiheiten sind einer versgeschichtlichen Betrachtung unentbehrlich. Sie nach den feineren Regeln 'bessern' zu wollen, wäre geschichtswidrig. *) Zur Ergänzung dieser Paragraphen sei hingewiesen auf AgDicht. § 17, 29 und die Kapitel V I I - X I . *) Die umord. Inschriften bei A. Noreen, Altnord, Gramm. I 4 374 ff-; AL J6hannesson, Gramm, der um. Runeninschriften (1923) 75 ff., dazu Mogk-Festschrift 1924, 380. Annehmbare stabende Verse bieten die Inschriften von: Gallehus (Goldenes Horn), nach 400, 1 Langzeile (§ 223)1 Tune, 5. Jahrh., 3 zusammengestabte Kurzverse (§ 335); Kjölevig (Strand), um 500, 2 unpaarige Kurzverse: ek HagustaldaR hlaiwiSö || magu mininö; Noleby (Fyrunga), um 600, 1 Langzeile: rünö fähi || raginakundö; Stentofta, 7. Jahrh., 3 Langzeilen (mehrdeutig, vgl. § 187 1 ). In synkopierter Sprachform 1 Eggjum, um 700, 1 Langzeile: ni s sölu söt || uk ni sakse stain skorin. Weiteres ist noch fraglicher.

C iEDMONISCHE FAMILIE.

SKOPVERS.

87

105. Auf höherer Stufe stehn die eigentlichen Gedichte. Die Überlieferung fängt in England an: um 700. Die deutschen Reste liegen um 800 herum. Zu eben dieser Zeit setzen die nordischen Werke ein, und zwar nur bei dem westnordischen (norrönen) Stamme: zunächst in Norwegen, seit 900 auch auf Island; von 1000 ab ist Hervorbringung und Überlieferung wesentlich isländisch. In England hört das stabreimende Dichten erst nach 1500 auf, bei den Isländern steht es noch heute in Kraft. Aber den Zeitraum des 'altgermanischen' Verses kann man in England mit der Normannenzeit (1066) abschließen, auf Island mit dem i4.Jahrh., dem Aufkommen der neuartigen Rimur. Aus Deutschland haben wir nach 900 kein Stabreimgedicht mehr. Unser erster Zeitraum, hat mithin auf den drei Gebieten sehr ungleiche Erstreckung. Die altenglischen Stabreimgedichte belaufen sich auf gegen 30000 Langzeilen. A n Masse stehen die altnordischen dahinter zurück, haben aber den ungleich größeren Formreichtum. Der deutsche Bestand zählt rund 6500 Langzeilen, wovon mehr als elf Zwölftel auf e i n Werk, den niederdeutschen Heliand, entfallen. In hochdeutscher Sprache haben wir nur zweihundert Langzeilen des alten Maßes.

106. Nach dem Versbau kann man diese höhere Dichtung so einteilen. Eine verhältnismäßig gleichförmige Familie bildet die Hauptmasse der englischen Werke: nicht nur die großen Epen (metrisch wichtig der Beowulf, wohl nach 730), sondern auch kürzere Erzählstücke, Lyrik, Rätsel, Lehrhaftes. Es ist der von Caedmon, vor 700, begründete Buchstil der schreibenden Geistlichen. Eng schließt sich ihm an die sächsische Bibeldichtung, Heliand und Genesis. Kenntlich weichen ab, nach Versfüllung oder Gruppenbau: in England die Merkreihen des Weitfahrt, die Gnomica, die zwei Elegien Sängers Trost und Wulfklage, das späte zeitgeschichtliche Epos Byrhtnoth (992), das Bruchstück des Hengestliedes (Finnsburg); — in D e u t s c h l a n d das Hildebrandslied (dem Finnsb. nächst verwandt), auch das kleine Wessobrunner Gebet. Diese Werke haben die Technik der weltlichen, schriftlosen Dichter, der Skope, oder sind von ihr stärker bestimmt als die Caedmonische Familie. Unter Einfluß des geistlichen Reimverses steht das bayrische Muspilli. Dieser ganzen englisch-deutschen Menge kann man doch noch ein Versmaß zusprechen; nur an wenig Stellen wird es durchbrochen: Stellen, die der Versgeschichte mehr bedeuten als zu-

88

EDDISCH UND SKALDISCH.

D I E ZWEI EDDISCHEN MASZE.

fällige Fehler. Es ist das 'epische Maß', die in der Füllung geregelten fortlaufenden Langzeilen. Wir zitieren Beowulf, Waldere, Finnsburg, Weitfahrt (Widsii), Sängers Trost (Deors Klage) nach Holthausen, Beowulf nebst den kleineren Denkmälern der Heldensage6 1921; die übrigen engl. Werke nach Grein-Wülcker, Bibliothek der ags. Poesie 1883-98 (Gr.-W.); Heliand und Genesis nach Behaghel 4 1922; die hd. Denkmäler nach Braune, Ahd. Lesebuch8 1921; ein paar kleinere Stücke nach Müllenhoffs und Scherers Denkmälern* 1892 (MSD.); die ae. Rechtstexte nach Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen 1903-16. (Der erste Merseb. Segen, eine Übergangsform zum Reimvers, bleibt in diesem Teile fern; s. § 437-)

107. Anders steht es um die n o r d i s c h e (norwegisch-isländische) Dichtung: die kennt tiefschneidende metrische Grenzen. Keine Rolle spielt hier die Zweiheit: weltlich-mündlich gegen geistlich-schriftlich. Der große Gegensatz: eddische und skaldische Dichtung (kürzer: Edda und Skalden) bedeutet auch im Versbau eine Zweiteilung, wenngleich mit Übergangszonen. Die metrischen Unterschiede kreuzen sich manchmal mit denen der dichterischen Gattung, der Überlieferungsart und des sprachlichen Stiles. Gemeinsam ist beiden Massen der Unterschied von den Südgermanen: sie sind in Strophen gegliedert. Doch gibt es auch da Übergänge von beiden Seiten: freie Gruppenbildung und freistrophische Anlage (§ 39). Der skaldische Versbau ist kunstvoller und von den gemeingerm. Formen abgerückt, eine höchst eigenartige westnordische Erscheinimg. Wir behandeln ihn in einem besondern Abschnitt. Bis dahin bleibt er, wo nicht ausdrücklich einbezogen, außer Rechnung. 108. Innerhalb der eddischen Familie spaltet es sich noch einmal in zwei deutlich verschiedene Versgattungen (oder Strophenmaße). Die eine hat lauter Langzeilen; es ist das epische Maß wie. im Süden, wenn auch mit nordischen Besonderheiten, auch mit manchen Spielarten. Ein isländischer Name für diese Gattung ist fornyrbislag1). Wir sagen gewöhnlich 'der epische Vers* oder 'das Langzeilenmaß'. Eine seiner Spielarten heißt mdlahdttr. Wir rechnen diesen nicht als besondere, dritte Hauptklasse der Eddakunst, sondern als Unterabteilung der epischen Klasse (§278). Viel weiter vom Westgerm, ab liegt das zweite Maß, das zwei Siebentel der Eddadichtung beherrscht; vermutlich eine norwegische Schöpfung. Es verbindet mit den Langzeilen unpaarige Verse, 'Vollzeilen'; meistens so: 1 Langzeile + 1 Vollzeile, dies zweimal gesetzt. Auch die Versfüllung ist eigenartig. Der isl. Name ist Ijdtahdttr. Sachlich zutreffende Bezeichnungen sind je nach dem Zusammenhang, Spruchton und Redeton (das 'gno-

ZERSINGEN UND UMSCHREIBEN. BRAGARMÄL.

89

misch-dialogische Maß'). Um dem mdlahattr, zu deutsch Redeton, nicht ins Gehege zu kommen, wählen wir 'Spruchton'. Für die Vergleichung mit dem engl.-deutschen Verse kommt also in erster Linie das epische Maß der Edda in Betracht. l ) Diese Namen erläutern wir § 292. 309. 315. Die skaldischen Texte sind gedruckt in dem vierbändigen Werke: Den norskislandske Skjaldedigtning udg. ved F. Jönsson 1912-15 (Skjald.). Die eddischen Texte zitieren wir nach: E d d a hg. v. Neckel 1914; Eddica minora hg. v. Heusler und Ranisch 1903 (EM.). Eddischen Versbau haben auch, von kleinerem abgesehen, die Merkvershaufen der Snorra Edda, die S61arlj65 und die zwei umfänglicheren Übertragungswerke: die Merlinrede und die Disticha Catonis (13. Jahrh.): Skjald. B 1, 635. 658; 2, 10. 185 (später bei den statistischen Angaben ausgeschlossen). Diese Denkmäler mitgerechnet, belaufen sich die eddischen Verse im Langzeilenmaß auf 7300 Langzeilen, die im Spruchton auf 2700 (die Vollzeile als halbe Langzeile gezählt).

109. Unsere H a n d s c h r i f t e n führen uns lange nicht immer zu dem Versbau der Dichter hinan. Die englischen sind bis zu 300, die isländischen bis zu 500 Jahren jünger als die Gedichte selbst. Diese Zeiträume hat teils schriftliche, teils mündliche Wiedergabe durchmessen; in England mehr das erste, auf Island mehr das zweite. In der mündlichen Überlieferung gab es das 'Zersingen'; auch die Versbetrachtung hat damit zu rechnen. Es muß nicht kurzweg Entstellung gewesen sein; aus anderm Geschmack konnte man Teile um- oder zudichten. Zu der metrischen Buntheit gewisser Eddalieder hat dies beigetragen. Von den eigentlichen Änderungen abgesehen, haben die Vortragenden, auch die Schreiber ihre jüngeren Sprachformen eingesetzt: ae. frea für frega; an. mun eigi für munat usw. In England kam dazu der mundartliche Gegensatz: anglische Dichter des 7.-9. Jahrh., sächsische Schreiber des 10. und 11. Manches davon hat die Silbenzahl, damit den feineren Versbau angetastet. Eben die Metrik gibt Handhaben, die älteren Formen herzustellen und so die Zeilen rhythmisch zu reinigen. Die isl. Poetiker des 13. Jahrh. waren sich dessen bewußt: bei Snorri und seinem Neffen Olaf finden wir den besondern Kunstausdruck bragarntdl 'dictio poeseos' für das Verstummen schwacher enklitischer Vokale, wie in varbak aus varba ek; fars aus par es (SnE. 1, 6 1 0 ; IgL. 2, 87). Unsre deutschen Denkmäler fordern solche Umschrift nicht; der Zeitabstand zwischen Dichter und Schreiber ist hier kürzer (abgesehen von der Kleindichtung § 104). Die zwei sächsischen Werke zeigen im großen den Versbau ihrer Verfasser. Die hd. Gedichte kranken an tieferen Verderbnissen: während im Hild., auch im Wess., ein von Hause guter Vers durch Lücken und

9o

SANGBARKEIT.

HARFENLIED.

anderes entstellt ist, kann man die vielen Freiheiten des Musp. schwer auf Dichter, Bearbeiter und Schreiber verteilen (§ 435). Weil nun auf deutscher Seite die unverderbten Texte, die sächsischen, eine entschiedene Spätform des Stabreimverses darstellen, braucht es die Hilfe der engl, und nord. Masse, um von unserer ältesten Verskunst ein Bild mit geschichtlicher Anlage zu gewinnen (§ i). 110. Auf die Frage 'sangbar oder unsangbar ?' wird uns der Stabreimvers öfter führen. Man kann folgendermaßen einteilen (vgl. §29.38.59): 1. Verse, die nach äußerem Zeugnis oder inneren Merkmalen gesungen wurden. Hierher nur vereinzelte Stücke. 2. Verse, die nach dem metrischen Bau wiederkehrende Weise zuließen, aber nach äußeren oder inhaltlich-stilistischen Fingerzeigen im Sprech Vortrag lebten. Hierher der größere Teil der nordischen Dichtung. 3. Verse, die schon nach ihrem metrischen Bau (Gruppenbildung, Taktfüllung) unsangbar waren. Hierher die große Masse der wgerm. Denkmäler, auch solche außerhalb der Caedmonischen Familie (§ 106); auch manches Skaldische und Eddische. Dazu käme noch die Gruppe der Fraglichen: metrisch sangbare Verse, bei denen kein Zeugnis über die Vortragsart entscheidet. Hierher etwa die Zaubersprüche, die Wulfklage, das Wess., ein Teil der Eddafamilie. Über die Schallwirkung des agerm. Sprech Vortrags können wir nur aussagen, was der Rhythmus an die Hand gibt. Tempo, Stimmaufwand, Höhe und Tiefe, Klangfarbe bleiben unbekannt. Die Höhestufen der Prosa konnte der Vers mehr oder weniger festigen, stilisieren; es gibt da — wie im Rhythmischen — fließende Übergänge von Sprechen zu Singen. Gesang wäre es von dem Punkte ab, wo die wechselnden Satzmelodien in der einen, wiederkehrenden Liedmelodie erlöschen. 111. Nach sittengeschichtlichen Aussagen gab es bei Südgermanen seit dem 6. Jahrh. Gesang zur Harfe 1 ). Ein paarmal ist es die bescheidenere Kleinlyrik, meistens sind es die zwei jüngeren und höfischen Dichtgattungen, Preis- oder Heldenlied. Beide aber kannten auch das Sprechen, das Preislied gleich bei seinem ersten Erscheinen (nach Priskos a.448). Einzelgesang ohne Harfe wird im Süden eigentlich nirgends eindeutig bezeugt. Der Irrtum, der südgerm. Vortrag zur Harfe sei Melodram gewesen (Sprechstimme mit akkordischen Griffen), geht von einer musikgeschichtlichen Unmöglichkeit aus und ruht auf der unbegründeten Annahme: man habe unsangbare Texte, wie

CHORGESANG.

TANZVERSE.

9i

etwa den Beowulf oder das Hild., mit Harfe begleitet. Ein Text, der keinen Gesang, vertrug auch keine Harfenweise. Den alten Nordländern ist das Lied zur Harfe unbekannt. Von Singen ist einigemal die Rede, aber in Verbindung mit niederen Dichtarten (Zauberlied u. ä., Arbeitslied): bei den Vorträgen der Hofdichter verlautet nichts von Sangeskunst. Für Chorgesang haben wir im Süden spärliche, z. T. unbestimmte Zeugnisse. Im Norden versagen sie vollends. In den Bereich der isl. Saga tritt Singen als gesellige Unterhaltung, verbunden mit Tanz, erst um 1100: es ist die welsche Carole (Reihentanz) mit Kleinlyrik. Tanzdichtung aus altgerm. Wurzel wird nirgends wahrscheinlich. Verse zu Marsch, Umzug, Arbeitsbewegung hat es gegeben: Reste davon sind die nordischen Heereslosungen und ein norweg. Vierzeiler zum Schmieden. Das zählt zu der kunstlosesten Schicht. l)

Zum folgenden vgl. A g D i c h t . § 32 ff. und passim.

112. Es fällt auf: für England sind Gesang und Harfe am reichsten bezeugt — und unsre ags. Dichtung ist, im großen genommen, noch mehr Sprechpoesie als die des sangfremden Skandinavien! Das macht, die Werke in Caedmons Linie sind eine buchmäßige, schriftstellerische Weiterbildung der weltlichen, z. T. gesungenen Gattungen. Doch ist auch das weltliche Heldenlied, Finnsburg, wie sein deutscher Bruder, Hild., unsanglicher als die meisten nordischen Vettern. Würdigt man die Zeugnisse mitsamt Inhalt und Form der bewahrten Dichtung, so erscheint der Glaube tatsachenfremd: Tanz und Gesang hätten einst, vor der Zeit unsrer Denkmäler, das germanische Dichten beherrscht und ihm seinen Vers anerzogen (§ 27). Ebenso künstlich ist die gewissermaßen entgegengesetzte Meinung: wie der gesungene Stabreimvers ausgesehen habe, davon wüßten wir gar nichts; was wir kennten, das vertrage sich nur mit Gesprochenem1). Ob man dies im Ernst auf Rhythmen wie in § 186 ausdehnen möchte ? . . . Aber den Satz erzwang ja nur die gedankliche Forderung: der Stabreimvers in globo duldet keinen Takt und darf daher in keiner Zeile Gesangsvers sein; sieh § 60. Nur hat man in keinem Schrifttum eine so unbedingte Zweiheit von sanglichem und unsanglichem Versstil nachweisen können. x ) Sievers, AgMetr. § 5 , 5 ; Saran, DVersl. 223; Unwerth-Siebs 38. § 378.

Vgl. u.

113. Auch seine Verslehrer hat der agerm. Zeitraum gefunden. Zuerst da, wo isländischer Formenreichtum zusammentraf mit der alten Schulung der Iren (§427): auf den Orkaden nach

9 2 H Ä T T A L Y K I L L UND H Ä T T A T A L . D A S GERMANISCHE AM S T A B R E I M .

1140. Diesen 'Schlüssel der Töne', Jarl Rögnvalds HdttalykiU1) — einige vierzig Formen in je zwei Beispielstrophen —, überbot nach 1220 Snorri Sturluson mit seiner Mustertafel von hundert Nummern nebst einem Prosakommentar. Dieses Hdttatal, die Tönereihe', bildet den dritten, den metrischen Teil von Snorris Skaldenlehre4). Ein paarmal kommt auch Snorris Neffe Olaf in seinem grammatisch-stilistischen Abriß auf Verskunst zu reden3). Aus diesen Arbeiten hat die Verswissenschaft einen Teil ihrer Kunstwörter geschöpft: Ausdrücke, von denen wenig gemeinwestnordisch, noch weniger gemeingermanisch gewesen ist. Auch sonstige Belehrung erhalten wir, namentlich von Snorri. Aufhört dessen Verständnis, wo das Ohr, der Rhythmus anfängt. So sicher er unbewußt die schwierigen Formen meistert: bewußt wird ihm fast nur die Zahl: Zahl der Silben, der Stäbe, der Reime, der Verse. Auch von dem geschichtlichen Nacheinander ahnt er nichts . . . In beidem ist der scharfsinnige Planmacher ein mittelalterlicher Mensch4). Mit beidem hat er auf die neuzeitliche Forschung mehr hemmend als klärend gewirkt. l ) Gedruckt Skjald. B 1, 487ff. *) SnE. 1, 594ff.; mit Erläuterungen: Hattatal hg. v. Möbius 1879. 81; die Strophen auch Skjald. B 2, 61 ff. ' ) IgL. 2, i f f . 33 ff. 4 ) Vgl.Thurneysen, MiVersl. 109: 'die Regeln (einer irischen Verslehre) beziehen sich durchaus auf die Silbenzahl der Verse und auf die Versausgänge'.

10. Abschnitt: Der Stabreim. 114. Hat der Endreim die deutsche Dichtung mit den Romanen verschwistert, so war der Stabreim Hausmarke der germanischen Familie. Zwar kennen den 'Reim des Anlautes' viele Literaturen, in Prosa und Versen, gelegentlich und planmäßig. Aber zum Stabreim der agerm. Dichtung gehört eine Reihe besondrer Eigenschaften: 1. Er ruht auf sprachlich starktonigen Wurzelsilben. 2. Er verlangt eine Hebung im Verse. 3. Er fließt nur selten aus Wortwiederholung oder gar Wortspiel (Paronomasia, Adnominatio). 4. Die höhere Dichtung führt ihn lückenlos durch. 5. Man zielt nicht auf Häufung der Stabsilben; man befolgt eine durchsichtige Stellungsregel, die dem einzelnen Verstypus wenig freie Wahl läßt. 6. Der Stabreim greift über die kürzeste, zweigliedrige Periode nie planmäßig hinaus. 7. Von dem Stabreim hängt der Rhythmus ab; der Stabreim prägt den gemeingermanischen Versstil. Wohl konnte man ihn in andersartige Metra verpflanzen (Skalden; Engländer des Spät-

A L T E R DES

STABREIMS.

93

mittelalters; Isländer der Neuzeit), aber wo er schwand, da ging auch seinem angestammten Versmaß der Atem aus. Einige dieser Züge teilt der irische und der finnische Stabreim: vereint kehren sie draußen nicht wieder. Ein kleiner lateinischer Dreizeiler veranschauliche uns widergermanischen Gebrauch von Stabreim; der Gegensatz trifft Punkt 3, 5-7: Veni, virgo virginum, Veni, vena veniae.

Veni, lumen luminum,

Zu Punkt 3 sieh § 119.384. — Manches in diesem Abschnitt Übergangene steht in dem Artikel 'Stabreim' RLex. 4, 231 ff.

115. Im Vers zeigen uns den Stabreim zuerst die Runen des Goldenen Horns, nach 400 (§223). Höher hinauf führen Eigennamen : mythische, heroische und namentlich geschichtliche. Auch die geschichtlichen können für stabende Verskunst zeugen, sofern die Namenwahl bestimmt wurde durch Dichterbrauch, vor allem das Preislied, mittelbar Heldenlied und Merkpoesie. Das Stäben der Sippennamen — in Sagen sind es auch sonstige: Helgi: Hundingr: Hqbbroddr u. ä. — blüht im 4. bis 6. Jahrh., und eben damals kamen die höheren Dichtarten auf. Aber stabende Namengruppen fangen schon früher an; die älteste bietet Plinius: Inguaeones: Erminones: Istuaeones. Bei Erwägung aller Umstände wird man glauben, daß der Stabreim als metrisches Mittel nicht zu den gotischen Neuerungen um 400 gehört; daß er schon der urgerm. Kleindichtung eignete — in den freieren Stellungen, die dem damaligen kunstlosen Gruppenbau entsprachen (§333ff.). 116. Ohne den dynamischen Wurzelton der Sprache wäre der germ. Stabreim nicht zu denken. Wieviel jünger er ist als die Einführung dieses Tones, ahnen wir nicht; aber er bestimmt den Vers in dem Grade, daß eine Dichtung noch o h n e Stabreim gleichsam noch vorgermanisch erschiene. Die Frage nach dem Ursprung streifen wir später noch, zusammen mit der Vorgeschichte des germ. Verses (§ 384). Von welchem Stamme der Stabreim ausging und wann er zu den übrigen drang, ist dunkel. Unsre splitterhafte Überlieferung spricht dafür, daß er Jahrhunderte hindurch bei allen Germanen in Kraft stand. Bei allen uns näher bekannten Stämmen hat er die heidnische Zeit überdauert. Den wnord. Skalden wurde er auch für ihre neugeschaffenen Maße unerläßlich, z. T. neben Silbenreim. Verse vorgermanischer Erbschaft, die dem Stabreim widerstanden, darf man in dem deutschen Wurmsegen erblicken (MSD. i„

94

STABLOSE VERSE.

17, vgl. AgDicht. § 48). Gelegentliche Zeilen ohne Stäbe hat man auch später gebaut: der Stabreim war nicht dermaßen unentbehrlich, daß sie nicht den kennzeichnenden Zeitfall der übrigen teilen konnten. Neben den stabenden Zwillingsformeln stehn stablose von gleichem Bau : hände und füße wie freunde und feinde. Nordische Sprichwörter zeigen gleichen Rhythmus mit und ohne Stäbe: med iQgum skal land byggia; 1 fQrf skal vinar neyta. ftöö Veit, fiat er Jirir vitu; ferr orÖ, er um munn llör. blindr er betri, en brendr sé; bü er betra, |>5tt litit se. 117. Folgen stabloser Verse begegnen nur in kunstloser Kleindichtung : die 5 Romulusverse des engl. Runenkästchens um 700 (zweie mit Binnenstäben) ; eine engl. Interdiktsformel um 1000 1 ) : 20 gut metrische Langzeilen mit nur spärlichen Gelegenheitsstäben. Von den 47 Zweitaktern der engl. Rechtsformel 'Anspruch auf Land' 1 ) sind 15 stablos. Unter den engl. Zaubersegen hat der gegen Geschwulst (Gr.-W. 1, 326) zur Hälfte stablose Verse, im Reisesegen (ebd. 3 2 8 f f . ) sind es 5 Zeilen auf 4 2 . Von den deutschen besteht der gegen Spurihalz aus 7 Zweitaktern im alten Rhythmus, wovon nur der vorletzte stabt 8 ). In den jüngeren Fällen kann es sich schon um Erlöschen des alten Versschmuckes handeln. Oft, so in Inschriften und Rechtsversen, bleibt fraglich, ob S ellen ohne Stäbe als Verse gemessen sein wollen. Z. B. der Wahrspruch einer ostn. Inschrift auf der Insel Man (A. Noreen, Aschwed. Gramm. 489), umschrieben: Baetra aes laeiva || föstra göf>an II {»an son illan, gäbe drei rhythmisch gute Zweitakter. Der gepflegteren Dichtung läuft höchstens einmal ein stabloser Vers unter, was den Forschern unbesehen als Verderbnis gilt 4 ). So trifft das Wort des isl. Poetikers Olaf, um 1250, nicht nur auf seinen Stamm zu: der Stabreim 'ist die Grundlage der Versform, er hält die nordische Dichtung zusammen, so wie die Nägel das Schiff zusammenhalten, das der Zimmermann fertigt, und fallen sonst die Planken auseinander : so hält auch diese Figur die Versform in der Dichtung zusammen mit den Stäben (Buchstaben), welche Stollen heißen und Hauptstäbe' (IgL. 2, 96f.). Ahnlich ,entschieden äußerte sich über den neuisländischen Vers Jón Ólafsson d. J . a. D. 1786. l ) Bei Liebennann I, 438 f. *) Ib. 1 , 400. ' ) Sieh in Band 2 § 436. *) Rieger, ZsPhil. 7, 15 f. Eine Ausnahme macht Wilken, Germ. 24, 279 f.

LAUTFORM DES STABREIMS.

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Der Vf. erinnert sich an ein Gespräch mit seinem verewigten Lehrer Hermann Paul. Paul sprach dagegen, daß man Verstöße usw. immer auf die Überlieferung abschiebe; nur freilich, Verse ohne Stab: d a komme man, Lutherisch zu reden, nicht aus ohne der Mäuse Mist im Pfeffer.

118. Im Gegensatz zum Reime, der Silbenreim ist, ist der Stabreim Lautreim: er fordert Gleichklang in e i n e m Sprachlaute. Eine Ausnahme machen die Lautverbindungen sk, st, sp: die muß man irgendwie als Einheiten empfunden haben, denn sie staben nur je mit sich selbst. Einer der festesten Grundsätze; auf Island bricht ihn erst ein kirchliches Gedicht des 14. Jahrh. 1 ). Alle Vokale staben durcheinander: ubil arbedi,

Inwidrädo.

Snorri erklärt dies für 'schöner' als die Bindung gleicher Vokale. Das war nicht nur skaldischer Geschmack; zwei Proben: Von den 207 Heliandzeilen mit 3 vokalischen Stäben haben 147 drei ungleiche Vokale, nur 7 drei gleiche 2 ), wie z. B. ald mid is armun, || al antkende. Und gar im Beow. kommt auf 121 Zeilen mit drei ungleichen Vokalstäben nur eine mit drei gleichen (835): earm ond eaxle, || f>£r waes eal geador 3 ). Danach hat u: a:i gleichklingend gewirkt so wie b : b: b oder st: st: st. Auch der irische und der finnische Vers kennt dies. Man hat an scharfen Vokaleinsatz gedacht: dann würde die Gleichheit für Sprecher und Hörer vermehrt durch Stimmbandverschluß und -lösung. Die agerm. Prosa hatte wahrscheinlich weichen Einsatz 4 ); aber zur Auszeichnung stabender Vokale fällt man beinah von selbst auf den scharfen. Ohne den würde der Stabreim kaum hörbar z. B . in Wessobr. 6 dö dar niuwiht ni was 1| enteo ni wenteo. Man spreche: därn iuwiht. *) F. Jönsson, Lit. 3, 18. Die ae. Psalmen erlauben sich nur sc: s: Rieger, ZsPhil. 7, 16; Schipper 1, 51. Gruppen wie: aisl. skipa ok stiörna; aschw. spoth ok skadhi; staar eller sether in Formeln spricht Vendell als stabend an (Lagspräk S. V). 2 ) Nach Mayer, ZsAlt. 47, 411 f., doch mit Scheidung der Vokale ungleicher Herkunft; z.B. östar : ö5il: Ööran (Hei. 718) hat dreierlei ö. 3 ) Lawrence, Chapters 58 ff., wieder mit Scheidung der etymologischen Stufen. Die Statistik bei Classen, On vowel alliteration (1913), steht im Dienste der künstelnden Theorie, eine bessere Vorzeit habe lauter gleiche Vokale gebunden. *) Zu RLex. 4, 237 sieh Ed. Hermann, Gött. Gel. Nachr. 1918, I l 9 f . ; Hoffmann-Krayer, Behaghel-Festschrift 1924, 40.

119. Aber auch konsonantische Stäbe verbinden, wie der Silbenreim, mit der Gleichheit eine Ungleichheit: da wo dem übereinstimmenden Anlaut abweichende Laute folgen. Auf uns wirken, wie Rudolf Hildebrand bemerkt hat, die Stabreime unter a) wohllautender als die unter b):

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LAUTFORM DES STABREIMS.

a) thiu Illödar, thurh minnea, managaro drohtin; snelle tesamne, thea swäsostun mest. b) so manag mid mannon mahtig drohtin; an seli settean, that thea gesehan mugin. Wieweit die Dichter die Ungleichheit neben der Gleichheit erstrebten ? Kaum irgendwo als Gesetz. Sogar als besondere Zierde kann durchgreifender Gleichklang gesucht sein, wie in der skaldischen Zeile (Ynglingatal 35): J>röttar prös |[ of f>röazk haföi. Mehr will sagen, daß die verschiedenen Arten des rührenden Reims beim Stabreim Gegenstücke haben. Darunter die 'identische' Art, der sog. grammatische Stabreim: ahd. ben zi bena; fries. morth möt morthe kela; ae. drihtna drihten; an. orö mer af orÖi||orÖs leitaÖi; — ögean: ögun (Hei. 1977); fries. umbetelede telem || and umbethingade thinze ('ohne gesprochenen Spruch und geklagte Klage');—an. gaft: gefa; veit:vita; sem metendr mätu || ok teliendr t