Design/Theorie: Essays 1982 bis 2020 9783035625257, 9783035625226

Design beinhaltet immer, aus sich heraus, den Anstoß zur Theorie. Theorien wiederum sind regelmäßig Faktoren in einem dy

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INHALT VON BAND 1
VORWORT BIRD
VORWORT Für Michael Erlhoff (1946–2021)
1 Vom Erbe
Einleitung
DESIGN UND DIE KRISE DER MACHT – EINE KURZGESCHICHTE INSTITUTIONELLER GESTALTERAUSBILDUNG, ZUR EINFÜHRUNG
DESIGN, KUNST, STYLING – GESTALTUNGSVISIONEN UND KULTURKAMPF IN DER ÄSTHETIK VON LEBENSFORMEN IM 20. JAHRHUNDERT
INDUSTRIEKULTUR UND WARENPROPAGANDA – WERBUNG FÜR MARKENARTIKEL SEIT 1850
SCHWIERIGKEITEN MIT DER MODERNE? ZUR INTERNATIONALISIERUNG DER LEBENSGEWOHNHEITEN IN DER SCHWEIZ
‚HIGH‑DEFINITION‑CITY‘ – RAUMKONZEPTE IM EUROPÄISCHEN DENKEN VOM MITTELALTER BIS ZUR TECHNOLOGIE DER BESCHLEUNIGUNG
STILNOTATE ZWISCHEN LEBENSFORM/SUBVERSION UND FUNKTIONSBEGRIFF
ARM, ABER EHRLICH. NACHSICHTEN ZUM DDR-DESIGN
VORAUSSETZUNGEN VON DESIGNTHEORIEN – THESEN
IMMER WIEDER DEM LEBEN HINTERHER – UNERLÖSTHEITEN DER GESTALTUNG IM AUSBLICK AUF THEORIEN DES DESIGNS
FORDERUNGEN AN DESIGNTHEORIEN – THESEN FÜR DEN SCHWEIZERISCHEN WERKBUND
2 Aporien der Moderne – vom Produkt zum Diskurs
Einleitung
DESIGN TOTAL?
THEOLOGIE DES GESCHMACKS. EIN KOMMENTAR
STADTPLANUNG ALS STADTZERSTÖRUNG – EIN PLÄDOYER FÜR UNPLANBARKEIT
ARCHITEKTUR ALS GESTALTUNGSTRAUMA ZWISCHEN UTOPIE UND MODERNE
GEFRÄSSIGE KINDER – ÜBER IRONIE UND PLANUNGSKRITIK
DESIGN ALS MACHT: GESTALTUNG ALS ÄSTHETISCH VERZEICHNETER GEBRAUCH
3 An der Schwelle zur Postmoderne – Wahrnehmung, Teleologie, Technologie
Einleitung
KENNWORT: GRENZBEGEHUNGEN (AUSZÜGE)
IM HINTERLAND DER DINGE – DESIGN AN DER HIRNRINDE
AUGENSCHEIN – DIE AUFLÖSUNG DER DINGE IM KOPF. ZUM STELLENWERT DES DESIGNS IM ILLUSIONSZEITALTER
DESIGNAUFFASSUNGEN IM WANDEL – CHANCE FÜR NEUE PRODUKTIONSWEISEN? – KONZEPT FÜR DEN ÖFFENTLICHEN FORUMKONGRESS DES INTERNATIONALEN DESIGN ZENTRUMS (IDZ) BERLIN IM NOVEMBER 1984
IDZ-KONGRESS DESIGNAUFFASSUNGEN IM WANDEL – CHANCEN FÜR NEUE PRODUK - TIONSWEISEN? – EINLEITUNG DER TAGUNG
NOTIZEN ZUR ZUSAMMENFASSUNG DES 4. FORUM-KONGRESS DES INTERNATIONALEN DESIGN ZENTRUMS IDZ BERLIN DESIGNAUFFASSUNGEN IM WANDEL – CHANCEN FÜR NEUE PRODUKTIONSWEISEN?
MYTHOLOGIEN DER TECHNIK UND IMPROVISATION IM WIDERSTREIT
Front matter 2
INHALT VON BAND 2
4 Theorie an Kunst- und Designhochschulen
Einleitung
WAS MEINT THEORIEUNTERRICHT FÜR DIE AUSBILDUNG VON GESTALTERN?
NAVIGIEREN MIT EINGESCHRÄNKTER SICHT – ZUR FRAGE DER THEORIE IN DER DESIGNAUSBILDUNG
POSTZIVILISATORISCHE UNBERECHENBARKEITEN – ZUR LAGE DER BILDUNG UND ZU DEN KONSEQUENZEN FÜR DESIGNAUSBILDUNG
EUPHORIE UND ELEND: EIN PROJEKT
EINLEITUNG/VORWORT ZUM KATALOG EUPHORIE UND ELEND
ZUR AKTUALITÄT DER AUSBILDUNG VON GESTALTERINNEN
BILDUNG, ZERSPLITTERT
DESIGN – ZUM FORSCHEN PRÄDESTINIERT
ZUM STAND VON DESIGNTHEORIE
THEORIE DURCH THEORIEMANGEL – EPISTEME UND VERFAHREN IN KUNST UND DESIGN, AUCH ZU VERSTEHEN ALS EINE ERÖRTERUNG ÄSTHETISCHEN URTEILENS
VOM WELTBESITZ UND ETLICHEN SEINER MÖGLICHEN MYSTIFIKATIONEN. DESIGNTHEORIE AKTUELL: AVANCEMENTS, HANDELN, REFLEXION
5 Neue Kontextualisierungen und Kontroversen – Design und Forschung
Einleitung
VERSTREUTE NOTIZEN A: GRUNDLAGEN UND KONTEXT ZU FORSCHUNG IM GESTALTERISCHEN FELD
DOKTORIEREN AN KUNSTHOCHSCHULEN – EINIGE VORAUSSETZUNGEN, KRITERIEN UND PERSPEKTIVEN
VERSTREUTE NOTIZEN B: PROMOVIEREN DURCH KÜNSTLER ALS WISSENSCHAFTLER AN KUNSTHOCHSCHULEN – FORSCHUNG, RECHERCHE, THEORIE, REFLEXION
ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVE FORSCHUNG FÜR HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG ZÜRICH: AUFTRAG, ARBEITSFELDER, ORGANISATION
6 Zur Symbolizität der Dinge
Einleitung
EXKURS: DER PERFEKTE MODELLKÖRPER
EINE ANMERKUNG ZUR MODE ALS SPRACHE
EXKURS: POLITICS FOLLOW EMOTION – ‚STILETT‘ ODER DIE KEHRSEITE DES NEUEN ‚EMOTIONALEN DESIGNS‘
DAS RINGEN UM DEN GEGENSTAND: DESIGN ZWISCHEN KUNST, KULT UND LIFESTYLE
DESIGN UND SPRACHE
7 Nach der und trotz der Moderne – Exempel und Diskurse
Einleitung
ABWEISUNGEN, VAGE ERINNERUNGEN: GEGEN GESTALTETE ZEIT
MÜLL, ABFALL, CHAOS – EINE MÖGLICHKEIT, MIT RELIKTEN DER GÜTER-GESELLSCHAFT UMZUGEHEN
PARTEILICHKEIT HAT AUSGEDIENT: BLOSS WAS NÜTZT DAS? KRITISCHE BEMERKUNGEN ZUR ZEITSCHRIFTEN-ÄSTHETIK DER 1980ER
VOM BEFREIENDEN UNWERT DER KLEINEN DINGE, MIT EINEM SEITENBLICK AUF DIE UTOPIEN DES KONSTRUKTIVISMUS – ERWEITERTE VERSION
IMITIEREN? KLAR, IMMER. ABER WIE?
NACH DER ORDNUNG DES GESCHMACKS: FÜR EINE ÄSTHETIK DES EXPERIMENTELLEN
VOM ENDE DER DIFFERENZ: ÄSTHETISCHE PERSPEKTIVEN AUF EINEN MOTIVZUSAMMENHANG DER MODERNE – ERWEITERTE VERSION
8 Nach der Postmoderne – Design, Designpolitik und Medien
Einleitung
DAS PLÖTZLICH POLEMISCHE AUFSCHEINEN DES ZEITGEISTES – EINE KRITIK DER NEUHEIT
REFLEXIONEN ÜBER DIE ZUKUNFT DES DESIGNS
„JEDES NEUE DESIGN IST RE-DESIGN“ – ZUR ‚THEORIE DES DESIGNS‘ VON MICHAEL ERLHOFF
STILFIGUR. AUSZÜGE FÜR MICHAEL IN DIVERSEN STÜCKEN
DESIGN DER ZUKUNFT IN DEN KÖPFEN DER DESIGNER HEUTE
VOM ‚UNSICHTBAREN DESIGN‘ ZUM UNSICHTBAREN DESIGN – MEDIALE HERAUSFORDERUNGEN EINER AKTUELLEN DESIGNTHEORIE
‚STYLE & DESIGN‘: ÄSTHETISCHE BETRACHTUNGEN ZU EINEM PERFORMATIVEN MODELL IN DER AKTUELLEN GESELLSCHAFT DER SPEKTAKEL UND SEINEN WEITGREIFENDEN THEORETISCHEN VORAUSSETZUNGEN
DENK(FORM)GLEICHUNGEN. KLEINE MEDITATION ÜBER EIN PLÄDOYER FÜR DAS BÖSE, HÄSSLICHE UND UNZWECKMÄSSIGE
9 Gemeinsinn und Revolte
Einleitung
ALLTAG ALS KULTUR?
DIE ANDERE SEITE DES UTOPISCHEN: WIEDERHOLUNGSZWÄNGE
OFFENES DESIGN/PUBLIC DESIGN
GRAFFITI – ZEICHEN, RÄUME, KÖRPER: EINSCHREIBUNGEN UND VERWERFUNGEN
VOM PROTEST ZUR REVOLTE – DESIGN UND MEDIALE TRANSFORMATIONEN IN GEGENKULTURELLEN BEWEGUNGEN
‚TUGENDTERROR‘
TERROR UND BLASPHEMIE
10 Ausblick mit Michael Erlhoff
Einleitung
EINFACHER AUSSTELLUNGSHINWEIS FÜR BESUCHERINNEN UND BESUCHER
„ETWAS ZEIGEN, WAS MAN NICHT BEGREIFEN KANN“ – EIN BERICHT ZUR AUSSTELLUNG HEUTE IST MORGEN. ÜBER DIE ZUKUNFT VON ERFAHRUNG UND KONSTRUKTION
UNSCHÄRFE UND PARADOXIE-INSZENIERUNGEN – AUSSTELLUNGSKONZEPT FÜR DIE KAH
11 Zum Konzept der Edition ‚Design/ Theorie – Essays 1982 bis 2020‘
ÜBER DEN AUTOR
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Design/Theorie: Essays 1982 bis 2020
 9783035625257, 9783035625226

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Design/Theorie

Board of International Research in Design, BIRD

Members: Tom Bieling Uta Brandes Michelle Christensen Sandra Groll Wolfgang Jonas Ralf Michel Marc Pfaff

Advisory Board: Lena Berglin Cees de Bont Elena Caratti Michal Eitan Bill Gaver Orit Halpern Denisa Kera Keith Russell Doreen Toutikian Michael Wolf John Wood

Hans Ulrich Reck

Design/ Theorie Band 1 Essays 1982 bis 2020

Birkhäuser Basel

INHALT VON BAND 1 Vorwort BIRD

009

von Sandra Groll

Vorwort für Michael Erlhoff (1946–2021)

1  Vom Erbe

010

028

Design und die Krise der Macht – eine Kurzgeschichte institutioneller ­G estalterausbildung, zur Einführung

029

Design, Kunst, Styling – Gestaltungs­v isionen und Kulturkampf in der Ästhetik von Lebens­ formen im 20. Jahrhundert

040

Industriekultur und Warenpropaganda – Werbung für Markenartikel seit 1850

048

Schwierigkeiten mit der Moderne? Zur Internationalisierung der Lebens­ gewohnheiten in der Schweiz

099

‚High‑Definition‑City‘ – Raumkonzepte im euro­p äischen Denken vom Mittelalter bis zur Technologie der Beschleunigung

121

Stilnotate zwischen Lebensform/­S ubversion und Funktionsbegriff

132

Arm, aber ehrlich. Nachsichten zum DDR-Design 164

004 DESIGN/THEORIE 

Voraussetzungen von Designtheorien – Thesen

177

Immer wieder dem Leben ­h interher – ­ Unerlöstheiten der Gestaltung im ­A usblick auf Theorien des Designs

180

Forderungen an Designtheorien – Thesen für den Schweizerischen ­W erkbund

212

2  Aporien der Moderne – vom Produkt zum Diskurs

216

Design total?

217

Theologie des Geschmacks. Ein Kommentar

219

Stadtplanung als Stadtzerstörung – ein Plädoyer für Unplanbarkeit

222

Architektur als Gestaltungstrauma ­ zwischen Utopie und Moderne

231

Gefräßige Kinder – über Ironie und ­P lanungskritik

283

Design als Macht: Gestaltung als ­ä sthetisch ­v erzeichneter Gebrauch

287

3 An der Schwelle zur Postmoderne – Wahrnehmung, Teleologie, ­Technologie

300

Kennwort: Grenzbegehungen (Auszüge)

301

Im Hinterland der Dinge – Design an der Hirnrinde

320

Augenschein – die Auflösung der Dinge im Kopf. Zum Stellenwert des Designs im Illusionszeitalter

333

Designauffassungen im Wandel – Chance für neue Produktionsweisen? – Konzept für den öffentlichen Forum-Kongress des Internationalen Design Zentrums (IDZ) Berlin 339 im November 1984 IDZ-Kongress Designauffassungen Im Wandel – Chancen für neue Produktionsweisen? – Einleitung der Tagung

346

INHALT VON BAND 1  005

Notizen zur Zusammenfassung des 4. Forum-Kongresses des Internationalen Design Zentrums IDZ Berlin Design­ auffassungen im Wandel – Chancen für neue Produktionsweisen? 354 Mythologien der Technik und ­I mprovisation im Widerstreit

006 DESIGN/THEORIE 

358

Michael Erlhoff (1946–2021) gewidmet

VORWORT BIRD Viel ist die Rede von der Vernetzung durch gestalterische Prozesse und der Vernetztheit des Designs in größere soziale und kulturelle Zusammenhänge. Gleichzeitig sind die Theorien des Designs eingebettet in größere Diskurse, die sich als historisch veränderlich erweisen und in deren Licht die Bedingungen und Bedingtheit des Designs stets neu befragt werden. Selten jedoch hat man die Gelegenheit, diese Befragung des evolutionären Vollzugs zu beobachten, der von den Kontinuitäten und Diskontinuitäten entsprechender Diskurse, Ein- und Entgrenzungstendenzen, Neujustierungen und Wiederaufgriffen, Verzerrungen und plötzlichen Klarheiten ebenso geprägt ist wie von kulturellen und sozialen Metaentwicklungen. Noch seltener hat man die Gelegenheit, diesen Bewegungen und Positionierungen in einem gesamten Werkkorpus nachspüren zu können. Im Spiegel der einzelnen Beiträge lässt sich nicht nur die Entwicklung bestimmter, für die Theorien des Designs relevanter Denkfiguren nachvollziehen, sondern auch durch Wiederaufgreifen und Weiterentwickeln das Erkenntnispotenzial vermeintlich bereits tradierter Positionierungen und Argumentationen beobachten, die sich dann einer unvermuteten Aktualität erweisen. Umso mehr freut es uns, mit den nun in zwei Bänden versammelten Essays Hans Ulrich Recks den Leserinnen und Lesern genau einen solchen Einblick – oder besser noch Ausblick – bieten zu können. In seinen Beiträgen zu Theorie und Diskurs des Designs aus den letzten vier Dekaden gewährt Hans Ulrich Reck den Leserinnen und Lesern einerseits Einblick in die eigene Auseinandersetzung mit Design und Gestaltung. Andererseits ermöglicht er außerdem das Beobachten der Meilensteine und Umschlagspunkte der größeren, designbetreffenden Diskurse. Von Auseinandersetzungen mit den Ursprüngen des modernen Designs in der Renaissance, über den Abschied von Moderne und Postmoderne, Fragen der curricularen Weiterentwicklung der Designausbildung, den unscharfen Rändern der Disziplin bis hin zu Fragen nach den Bedingungen von Designwissenschaft und Forschung ermöglicht Hans Ullrich Reck nicht nur das Nachvollziehen eigener Positionierungen, sondern auch einen Ausblick auf ein Evolutionsgeschehen, das sich in Bereich Design praktisch vollzieht.

Sandra Groll Board of International Research in Design (BIRD), Februar 2022

VORWORT BIRD  009

VORWORT Für Michael Erlhoff (1946–2021)

Wenige persönliche Bemerkungen seien hier, vertretend so vieles mehr, festgehalten und meinem weiteren Bericht vorangestellt.

1 Die Abdankungsfeier für Michael mit Ausstreuung der Asche in einem offenen Teil des Friedhofs von Bornheim bei Bonn fand am 14. Mai 2021 um 11:15 Uhr statt. Ich war mit dem Auto rechtzeitig unterwegs, dachte ich, nahm nicht, leider, die Landstraße, sondern die A 555 Richtung Bonn. Wenige Minuten nach 10 Uhr fuhr ich in Richtung Bornheimer-Abfahrt (N° 5 auf der A 555) einen knappen Kilometer vor dieser, auf einen Stau auf. Die letzte Ausfahrt, Godorf/Wesseling, lag etwa zwei Kilometer zurück. Es musste sich just vor der Abfahrt nach Bornheim ein grauenhafter Unfall ereignet haben, der die gesamte Straße blockierte, ein Trümmerhaufen, wie man später sagte. Nach 3 ½ Stunden Stehen wurden wir in die umgekehrte Richtung zurück nach Godorf dirigiert. Da ich als einer von zwölf Menschen gebeten war (und zusagte), einen kleinen Redebeitrag von etwa einer Minute mit einer Episode zu Michael, in durchaus heiterer Absicht, beizusteuern, entfiel nicht nur meine Präsenz, sondern eben auch diese kleine Rede, die ich dann später am Tag für die Freunde notierte, wie folgt: Inmitten der Absurdität des heutigen Alltags und in Trauer um die ebenso absurde, allerdings unvermeidliche Kontingenz des Todes und des Sterbens habe ich einige Stunden in der Nähe des Friedhofs, aber eben nicht auf diesem meditiert und mit Michael verbracht, meinen Gedanken an ihn.

Ich schreibe Euch, was ich erzählt hätte. Im Februar 2018 verabredeten wir uns zu viert, ziemlich spontan, auf eine weiträumig operierende Karnevalsflucht aus Köln. Ihr habt uns damals eingeführt in eine Euch liebe Gegend im Norden, mit Neuharlingersiel als Zentrum. Ihr wart, wenn wir recht erinnern, vorher in Hannover, seid jedenfalls über ­Osnabrück angereist. Wir fuhren über Emden nach Norden. In Emden hatte der Zug mal wieder eine Verspätung, die uns zwang, eine Stunde zu warten. In Norden stiegen wir in den Bus, der wiederum auf Anschlüsse längere Zeit noch wartete. Wir schauten müßiggängerisch zum Fenster hinaus. Zwei Merkmale tauchten im visuellen Feld auf: ein roter Kreis und Qualm. Wir sahen: Uta und M ­ ichael stehen vor einem Taxi, das wartete, bis Michael seine Zigarillo geraucht hat. Wir hatten Zeit, auszusteigen, das Gepäck auszuladen, Euch zu fragen, ob wir mit Euch im Taxi reisen durften, was ein gutes Geschick

010 DESIGN/THEORIE 

war, da die Auskunft zur Haltestelle, an der wir für das Hotel hätten aussteigen müssen, nicht sehr genau war, um es positiv zu sagen. Ohne Verspätung wären wir nicht rechtzeitig ­gewesen, in diesem glücklichen Moment. Wir verbachten drei Tage dort, mit Essen, Reden, Kartenspielen, Fisch einkaufen, einigen Spaziergängen, auch immer wieder rund um den kleinen Hafen. Es ist für uns immer ein Wunder gewesen, wie Michael – mit seiner über Jahrzehnte anhaltenden, immer stärker werdenden Beeinträchtigung der Sehkraft – die Karten so gut identifizieren konnte. Er hat wenige Fehler gemacht und wenn, dann durfte er natürlich nachkorrigieren. In den allermeisten Fällen lief das korrekt und leicht. In wenigen anderen ertappten wir zuweilen den Freund dabei, den Lapsus nicht unbedingt zu seinen Ungunsten auszulegen. Wie man auf im Moment von mir nicht gut übersetzbares Französisch sagt: „Corriger la fortune.“ Ihr seid die ersten Freunde gewesen, als wir nach Köln kamen 1995. Ihr seid die besten geworden, die treuesten geblieben, von Anfang an bis heute, bis zum Schluss. In aller dankbar vermerkter Konstanz, bei einigen belebenden und zuweilen auch heftigen Disputen, allerdings immer ohne bleibende Dissonanzen. Beide Seiten, vier Personen haben sich eine zu guter Letzt immer heiter ausgesprochene und bekräftigte, stets lukullisch umrahmte Treue gehalten. Was sich mir in den Meditationen auf der Autobahn heute erschloss und was ich nicht gesagt hätte, nun aber schreiben muss: Das Leben schenkt nie einen verpassten Moment zurück, auch diesen nicht. So schmerzhaft dies ist, für mich zumal: In der Sub­ stanz der Treue ändert sich dadurch aber nichts, sie wird nicht berührt von solchem. Sie bleibt.

2 Es kann hier nicht um eine angemessen ausführliche Arbeitsbiografie gehen, sondern nur um das Herausstellen einiger typischer, ebenso typologisch wirkender Markierungen oder Eckpfeiler. Fünf Kennzeichnungen sind wesentlich, andere wären möglich – in Differenzierung der Gewichtung stößt man immer wieder auf eher transversale oder ‚heterarchische‘ Eigenschaften, was bereits ein wichtiges Charakteristikum der Denk- und Handlungsphy­ siognomie von Michael Erlhoff, also seiner theoretischen wie seiner praktischen ­Vernunft, seiner Erkenntnisanstrengung wie seiner ethischen Haltung ist. Wie wenige, besonders nicht im Feld der sogenannten ‚wissenschaftlichen Philosophie‘ war Michael Erlhoff der Auffassung, dass die dritte, die ‚verklammernde Vernunft‘, nämlich die Urteils­kraft, ­wesentlich praktischer Natur ist und der Umsetzungen, der Vergegenständlichung von Modellen und Beispielen bedarf. Also zielt eine angemessene ästhetische Handlungsweise auf ein Experimentieren mit der Welt in der Welt, im identischen Maßstab – keine Vorgriffe, keine Simulationen, sondern tentative Interventionen, vorläufige Artikulatio­ nen, testende Eingriffe, reversible Vorschläge. Solches bezeugt eben keine vorrangig­epis-

VORWORT 011

temische Größe, sondern, es wird immer wieder von solchem die Rede sein, eine des ‚gemeinen‘, des alltäglichen Lebens, der Lebensform und Sozialverhältnisse. Wenn man Kants Architektur kritisch weiterdenkt, ergibt sich die Erkenntnis der grundlegenden Dimension von Design, nämlich nicht handlungsanleitende Theorie, gar Rezeptur, für die Erzeugung von Dingen, Produkten, Umgebungen und Environments zu sein, sondern die Artikulation der Verknüpfung dieser Dimensionen zu Szenarien der Differenzierung der sozialen und politischen, also unser aller gewöhnlichen Welt zu ermöglichen. Ein Gespräch zwischen Michael Erlhoff und mir unter dem Titel ‚Streifzüge und Wegmarken im Gemeinen‘ eröffnete die unter das Thema Gemeinsinn – Sens commun – Common Sense gestellte Jahreskonferenz der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung an der Köln International School of Design/KISD am 22. Juni 2007.

3 Nun also zu den fünf möglichen wesentlichen Kennzeichnungen in der Auffassung und mentalen Konfiguration von Michael Erlhoff, seinem Denken, seinen Vorschlägen, seiner Theorie: • Design ist immer Thematisierung, Diskursivierung, rhetorische Vermittlung, also, eng gefasst: Kommunikationsdesign, sofern man dies nicht als Gebiet von und für Aufgaben, sondern als Methode bei und in Handlungen versteht. • Design ist immer auch zu betrachten im Hinblick auf Ableitungen, Umwege, Epiphänomene, zu artikulieren als gelehrte Kollateralstrategie. Mit Uta Brandes zusammen hat er Belege und Exempel gesammelt für eine Art deviantes, an ursprünglichen Auf­ gaben vorbeizielendes Design. Sie haben das unter den Titel des ‚nicht-intentionalen ­ eiterhin Designs‘ gestellt. So lehrreich die Phänomene und alles, was sich daraus w ­erschließt, auch ist und bleibt, ich hätte es vorgezogen, wenn sie von ‚Transformationsdesign‘ gesprochen hätten, weil ja gerade die situationistisch inspirierte Zweckentfremdung, also, mit Guy Debord gesprochen, la dérive (wörtlich: Abweichung, Abdrift) das Entscheidende war, im Grunde eine Hyper-Intentionalität über und gegen die ursprünglichen und alle bisherig akzeptierten Intentionen. Eine kontrafaktische Kritik an blinden Zwecken zugunsten einer Luzidität des Nutzens von Dingen, weitab von dem, was ihnen ursprünglich zugeschrieben worden ist – dieser Modus zeigt ein generelles Umgehen mit gesellschaftlichen Beständen und Wertungen des Geschaffenen an, und zwar in der ersten wie der zweiten, der dritten und v. a. der vierten Welt, der Aneignung der Relikte der ersten zwei Welten durch Arme. • Paradoxien des Besitzens: Nutzen statt besitzen als stetige Aneignung von Teilen des öffentlichen Raumes. Nutzen statt besitzen, meint natürlich nicht ein Plädoyer für das, was später, die Sachverhalte verdrehend, ‚Tauschökonomie‘ oder gar ‚Gabenökomie‘ genannt wurde, also nicht eine freie Verfügung über simpel Vorhandenes, s­ ondern ein klares Bewusstsein einer damit verbundenen Ambivalenz, ja eigentlichen Doppelbö-

012 DESIGN/THEORIE 

digkeit. Unterscheidet man eine primäre von einer Meta-Ebene, dann ergibt sich nämlich, dass Nutzen auf der primären Ebene nicht ausreicht, nichts bedeutet. Das wäre z. B. die Position derjenigen Hausbesetzer, die meinen, dass alles für alle frei und gratis sein soll, da die bösen hyperreichen Kapitalisten nichts einzunehmen bräuchten, weil man hier den von ihnen illegitimerweise der Gemeinheit enteigneten Reichtum dem Volk, das man ja (mindestens seinem eigentlichen tiefen Wollen als allgemeiner Kraft zum Revolutionären) in toto vertrete, nun einfach, wiederum stellvertretend, ‚zurückgibt‘. Also Retroaneignung zum Nulltarif. Auf der Meta-Ebene sieht das jedoch ganz anders aus, da man nutzt, wofür andere die Kosten schon übernommen, also ‚vorgeschossen‘ haben, weshalb man natürlich für diese Nutzung ­einen angemessenen Preis entrichten muss. Es geht also um ein Unterlaufen von blindem Eigentum vom Typus derjenigen Klientel, die inzwischen alle ihre Ferien- und Zweithäuser im Süden und diese opulent ausgestattet haben in der Meinung, dass sie dann Besuch von ihren Freunden bekommen können, die aber blöderweise ihrerseits ihre Häuser ebenso groß ausgestattet haben und ihrerseits nun auf Besuch warten. Mit dem Effekt, dass überhaupt keiner mehr Besuche bekommt und alle weiterhin auf solche warten. Es geht also um Überwindung des Fetischs von Eigentum, allerdings in einer Weise, die korporative Nutzung im Bewusstsein der realen Kosten ermöglich, die letztlich auf ­einen Verbrauch der Ressourcen von Natur und Zukunft hinauslaufen, für welchen Verzehr man endlich ausreichend Äquivalente bezahlen muss. Dies entwickelte und dachte Michael Erlhoff lange vor der inzwischen und aktuell gewachsenen Sensibilität für solche Fragen. Es geht um ein angemessenes Abgelten, nicht um Wachstums- oder Profitökonomie. Das Modell erlaubte wesentlich agilere und differenziertere Formen der Nutzung, die man heute im Kern dort beobachten kann, wo sie Geschäftsmodelle zwischenzeitlicher Nutzung ermöglichen, die ja inzwischen ebenfalls in einer falschen Weise zu einer Vermarktung und damit erneuter Devastierung von ganzen Städten führen. Diese ermöglichen nicht die gedachte Zwischennutzung von zeitweilig freiem Wohnraum, sondern sind – legale, aber komplett illegitime, ja in gewöhnlicher Weise obszöne – Immobilienspekulationen von Reichen, die unter solchem Vorwand Wohnraum und soziale Nutzungen schlicht enteignen. Dagegen böte Erlhoffs Modell einen Ausweg. Hier ist also entscheidend, dass es um eine Aktivierung der Wahrnehmung der Chancen und Widersprüche auf allen Ebenen, auch der Meta-Ebene, geht, die ja gerade deshalb so wichtig ist, weil sie die Formen von Nutzen und Besitzen in neuer Weise thematisiert. Mit klugen und witzigen Beispielen erläutert Michael Erlhoff in seinem locker geschriebenen kleinen Büchlein eine das Denken aktivierende These im Bewusstsein der Widersprüchlichkeit, dass es kein Nutzen ohne ein Besitzen gibt, da klar ist, dass nutzen statt besitzen hier meint: Nutzen des Besitzes anderer. • Design ist denkend motiviertes Probe-Handeln in überkomplexen Situationen und im Bewusstsein eines permanenten Nicht-Genügen-Könnens. Design ist also aus­gerichtet auf eine selbstreflexionsfähige Fragmentierung aller vorgetragenen Ansprüche, besonders aber auch auf eine Wahrnehmung der Folgen und Schäden der sogenannten Wissens-, sogenannten Telekommunikations-, sogenannten Überproduktions- und Technikgesellschaft.

VORWORT 013

• Jedes Design ist Re-Design. Es geht also um den immer wieder getätigten, einen erneuten Anlauf zur besseren Artikulation von bisher Mangelhaftem. Klassisches, notorisches Beispiel ist der Stuhl: Jeder neue Stuhl ‚löst‘ nicht das Problem des Sitzens, ist also auch nicht bequem oder funktional evident. Vielmehr verkörpert jeder Stuhl auch die Erzählungen darüber, dass genau dieser ergonomisch reduktive Gestaltungs­ anspruch scheitern muss. Und im besten Falle, so soll es zumindest sein, erzählt der Stuhl auch, weshalb er in diesem Anspruch wiederum vorläufig etwas realisiert, dessen sich der Entwurf als Scheitern bewusst ist.

4 Michael Erlhoff ist, es ist stets mitzudenken, bei allem Tun – solchem der Theorie und des Diskurses, anderem des Entwerfens und der politischen, öffentlichen Intervention –, immer auch Organisator, Kommunikator, Anreger, Anleitender gewesen. Das betrifft die seit Jahrzehnten gesuchte, also früh eingegangene Kooperation mit Universitäten, Hochschulen, Kolleginnen und Kollegen in Asien, Hongkong, Taipeh, China. Der Aufbau dieser internationalen Plattformen erfolgte stetig. Über die institutionellen Bezüge hinaus, ihnen zugrunde liegend, sie oft erst ermöglichend, erarbeiteten und pflegten Uta Brandes und Michael Erlhoff generell ein transkontinental verbindendes Zusammenbringen von Kolleginnen und Kollegen, also ein weltweit funktionierendes Netzwerk. Für eine spezifizierte Fortsetzung besonders der Asien-Kooperationen wollte ich Erlhoff im Auftrag eines Fachbereichs der FH Pforzheim als Organisator nach seiner Pensionierung ­gewinnen, was leider genau so wenig gelang, wie ein breiteres Engagement dort, in welches dieser internationale Bezug eingebettet gewesen wäre. Andere Bezüge und Kooperationslinien führten nach New York. Zahlreiche Leute lernte man bei Treffen in Köln, an der Hahnenstraße, kennen, Tim Marshall, Shutaro Mukai, Kunihiko Nakagawa, den vielgliedrigen deutschen Umkreis und die alten Schweizer Bekannten ohnehin. Entscheidend waren natürlich die Aktivitäten, die Michael Erlhoff nach seiner Zeit im Rat für Formgebung als Gründungsdekan des Designbereichs (später KISD) der Fachhochschule Köln (später TU Köln) und Professor für Geschichte und Theorien des Designs entfaltet hat. Als ein herausragendes Beispiel für Michael Erlhoffs Organisations- und Kommunikationsqualitäten darf der Kölner ‚Design Preis‘ erwähnt werden, der international ausgerichtet und mit einer gewichtigen Preissumme in verschiedenen Kategorien ausgestattet war, ermöglicht durch einen von Erlhoff motivierten Stifter. Mit kluger Umsicht und erheblichen Aufwand hat Erlhoff diesen Preis in der Stadt Köln auch kulturpolitisch verankert. Besonders war zudem, dass Nominierungen für alle, auch privaten Hochschulen der Stadt Köln, damit auch alle Typen von Beschäftigungen mit einem weiten, offenen Designbegriff möglich waren. Es konnten Projekte aus den medialen Künsten, Szenarien, Produkte, Filme eingereicht werden. Eine unabhängige Jury wählte aus. Der Preis wurde ausgelobt, hatte für einige Jahre neben einer prominenten Ausstrahlung nach außen auch eine erhebliche kommunikative Wirkung nach innen, war zudem eine

014 DESIGN/THEORIE 

Bühne für die Begegnung von Studentinnen und Studenten sonst getrennter Richtungen ohne viel Kontakte dazwischen. Öffentlichkeitswirksame Preisverleihungen mit Reden und eine Ausstellung aller in Betracht gezogenen Projekte fanden im Museum für angewandte Kunst Köln statt. Der Preis wurde dann im Zuge der allgemeinen Zinsentwertungen – auch dies ein Kollateralschaden der EZB-Politik unter notorisch bekannter Führung – leider in eher schroffer Art vom Stifter und besonders der Stadt Köln entgegen ihrem Ratsbeschluss im Stich gelassen oder aufgegeben. Ersatzweise ohne Ausstattung und Förderung wurde er, als Surrogat, einer nicht einmal mehr offiziellen Selbstorganisation der Kölner Hochschulen eher aufgedrängt als nur übergeben. Michael Erlhoff bewies eine für mich immer vorbildliche Resistenz, Unabhängigkeit, setzte auf geteilte Verantwortung. Was nicht allen jederzeit gleichermaßen gefallen mochte. Besonders förderte er vehement die informelle Selbstorganisation der Studentinnen und Studenten, die zahlreiche Aktivitäten in Eigenregie entfalteten, für welche die gegebene normale Ausstattung der Hochschule nicht ausreichte: Betreiben eines Cafés, Öffentlichkeitsarbeit, Ausstellungen, Publikationen, Einrichtung und Redaktion des Jahrbuchs; Jahrespräsentation, Preisverleihungen, Abschlussfeiern. Der kommunikative Ausgleich von Infrastruktur- und Ausstattungsdefiziten durch Eigenaktivitäten wurde zur Höchstleistung entwickelt: immer noch eine agile AG, informell, halblegal zuweilen und doch offiziell, das Café am Ubierring, dann Öffentlichkeitsarbeit, Projektbegleitungen und temporäre Ausstellungen, Interventionen und Aktionen im öffentlichen Raum zur Thematisierung von dessen Gestaltung, Genealogie und Machtsymbolik. ­Qualifikationsscheine wurden dafür ausgestellt, da ja Organisation, Kommunikation, Vermittlung Schlüsselkategorien von Design sind.

5 Eine wesentliche Eigenschaft und Fähigkeit Michael Erlhoffs besteht also im Vermögen zu einer Subversivität, die nicht einfach nur agile Kommunikation bedeutet. Subversive Qualität, nun darf man es endlich aussprechen und es wird weiter unten im Zusammenhang mit der Abschiedsvorlesung von Erlhoff noch einmal darauf zurückzukommen sein, war für einen Gründungsdekan des FB Designs der FH Köln, später semantisch ‚korrigiert‘ und internationalisiert zur Koeln International School of Design KISD der Technischen Universität Köln wirklich vonnöten. Wurde doch eben aufgebaut und war wenig erst, kaum etwas davon definitiv formalisiert. Das machte sich Erlhoff weidlich zunutze. Möglichst wenig offizielle Formalisierungen bedeutet nämlich: möglichst viel interne Freiheit in Gestaltung von Lehrplänen und v. a. Abschlussprüfungen. Die beste Prüfungsordnung aus dieser Sicht ist nämlich gar keine, da dann alles je aktuell und situativ möglich ist und von internen Kommissionen von Fall zu Fall festgelegt werden kann. Sie zu formulieren und zu bereinigen, reduziert den Spielraum und bedeutet, dass Freiheiten verloren werden, Festlegungen dauerhaft unverändert eingeklagt werden, was leider umgehend nach Ende der Leitung durch Erlhoff auch geschehen ist.

VORWORT 015

Es soll nicht nur das evident Hervorstechende im positiven Register genannt werden. Es gab, aus meiner Sicht, auch Problematisches: Ob die Forcierung einer Rechtsfähigkeit eigener Art und Kraft der KISD und ihren Anhängseln nahezu schrankenlos kommerzialisierbaren Drittmittelprojekten wirklich genützt hat, ist fraglich. Und, es sei nicht verschwiegen, nicht alle, die geprägt worden sind von der Ära Erlhoff/Brandes, haben den Überhang oder Vorrang des Diskursiven und Rhetorischen wirklich geschätzt, hätten zuweilen gerne mehr Realien in den Werkstätten und Laboren, Ateliers und dinghaftem Entwerfen, weniger Eigenpräsentation im verbalen Register sich gewünscht. Aber eben: Es allen recht zu machen, ist eine Kunst, die niemand versteht, und wohl erst recht und eigentlich keine Kunst im ­Designbereich. Den Kolleginnen und Kollegen im Professorenverbund blieb Michael Erlhoff stets ein förderlicher Partner, was aber seiner Meinung nach nicht ging ohne entschiedene Forderungen an Leistung, Präsenz, Engagement. Die Attitüden des stolz absenten, idiosynkratisch auf alles systemisch Administrative unterhalb der eigenen Rentenberechtigung generös verzichten wollenden Kunstprofessors, inzwischen längst eine Karikatur seiner selbst geworden, was nicht heißen soll, dass nicht zuweilen die Realität selber eine ­Karikatur solcher Karikatur, also durchaus noch real ist, solche Attitüde war Michael ­Erlhoff immer zuwider. Ebenso erfolgreich wie die internationalen Vernetzungen der KISD unter Leitung von Michael Erlhoff – nicht selten wurden Curriculum und Methoden der KISD zu Vorbildern für den Ausbau von Studiengängen auf höherer Ebene asiatischer Hochschulen – waren die Initiierung und langjährige Moderierung der ‚Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung‘, gegründet im November 2002, aus welcher und für welche die BIRD-Konferenzen und auch die Schriftenreihe hervorgingen in welcher die vorliegende Publikation erscheint.

6 Michael Erlhoff kannte ich aufgrund von Publikationen und Ausstellungen vor meiner Ankunft und damit persönlichen Bekanntschaft mit Uta und Michael in Köln Mitte 1995. Und umgekehrt verhielt es sich, wie sich herausstellte, auch so. Meine Zeit als Vorsitzender des Arbeitsrates des Internationalen Design Zentrums Berlin (IDZ) von 1983 bis 1986 mitsamt den begleitenden und weiteren darauf aufbauenden Publikationen wie Design im Wandel (1984) und, bei DuMont 1986, Stilwandel, dann aber auch Essays in Zeitungen und Zeitschriften hat Resonanzen erzeugt, Widerstand provoziert und zuweilen Polemiken ausgelöst. Es war die Zeit einer teilweise üblen und dummen, ebenso vehementen wie aggressiven Denunzierung der Postmodernen als der neuen Irrationalisten (eine ­Denunziationsrhetorik, die maßgeblich Georg Lukacs in seiner Zerstörung der V ­ ernunft vorgegeben hat). Das traf in erster breiter Front Denker wie u ­ nseren ­gemeinsamen Freund Dietmar Kamper (ein Gegner setzte fest: „rasendes Gefasel der Gegenaufklärung“). Auf der anderen Seite haben gerade im Bereich des Designs die

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‚Postmodernen‘ v. a. gegen solche zurückgeschlagen, die vermeintlich auf ihrer Seite gestanden hätten und nun Renegaten geworden seien. Ein Christian Borngräber meinte damit explizit mich aufgrund einiger Artikel in Zeitungen und Zeitschriften. Michael verstand, was Borngräber und andere missverstehen wollten, meine besonderen Positionen zwischen oder ‚über‘ (‚Meta‘) der nur äußerlich optierenden Divergenzen von Moderne und Postmoderne. Auf meiner negativen Seite, so sehe ich es inzwischen und seit Langem, steht eine bornierte Rezeption der ersten Kasseler ‚Documenta‘, es war die D8 von 1987, die zeitgenössisch avanciertes Design zeigte. Zwar ging es im Beitrag um eine breitere Rhetorik eines zeitgeistigen Konformismus, wie er sich, für mich störend, auch in vielen programmatischen Abhandlungen in den Katalogen und Publikationen der D8 niederschlug (s. Hans Ulrich Reck, „Die Kunst der Sprache. Verkleidungsenthüllungen in der d8“, in: Kunstnachrichten 5/87, Zürich, S. 140 ff.). Nicht die Objekte störten mich, es war klug eingerichtet und thematisiert, aber ich meinte doch, was per se nicht falsch war, solche Objekte fände man auch im Fachgeschäft ‚um die Ecke‘. Das trifft nun allerdings für die Kunst ja auch zu. Die ‚Documenta‘ ist schließlich, was sich erst später in aller drastischen Offenheit oder Unverschämtheit zeigte, was aber früher schon bestimmende Realität hinter schamhaft vorgeschobenen Kulissen war, eine Verkaufs-Schau ganz nach offenen und v. a. hinter dem inszenierten Anschein der Vorderbühne laufenden Bedingungen des internationalen Kunstmarktes. Später redeten wir viel über solche Bezüge, Konflikte, Divergenzen, Abdriften zwischen diesen und anderen ‚Lagern‘, und ich lernte zu verstehen, dass ich mit meiner negativen Reaktion in die von Michael bewusst gestellte Denkfalle getappt war: Er wandte sich über Jahrzehnte öffentlich immer wieder gegen die ins Singuläre versponnene Egozentrik oder die im Egozentrischen sich verlierende Attitüde der idiosynkratischen Exklusivität des poetischen Erschaffens von Kunstwerken. Dennoch blieb vieles an der von ihm geschätzten Kunst auch argumentativ ein Meilenstein in seiner Biografie, dokumentiert u. a. in der Sammlung von Uta und Michael, besonders den frühen Aktivitäten für die Zweitschrift und Künstlereditionen, Gerhard Rühm, Kurt Schwitters ohnehin, aber auch Kriwet, die konkrete Poesie, Ror Wolf, die ABC-Structures oder minimal Artisten, Konzeptkunst, Land-Art, alle Formen eines klugen ‚intervento minimo‘. Und dann vor allem die Fluxus Künstler, in Sonderheit Robert Filliou, die Multiples des ‚Vice‘-­ Versands von Wolfgang Feelisch (Remscheidt). Dass Kunst und Design keine Faktoren einer Lagermentalitätsbildung sein können, sondern Dynamiken und Handlungsweisen beschreiben, die sich gegenseitig zwar durchaus bekämpfen können, sich aber doch immer durchdringen und ergänzen, aktu­ einen ell bestreiten, zuweilen auch negieren etc., daran hat Michael Erlhoff auch dann k Zweifel aufkommen lassen, wenn er vehement Kritik an der doch arg vorherrschenden egozentrisch-narzisstischen Selbstverblendung von Künstlerinnen und Künstlern geäußert hat, eine Kritik, die man natürlich gerne sofort auf die ja nicht weniger eitlen und selbstgefälligen Designer bezogen oder ausgedehnt hat, welche dann sich nicht zu schade waren, Designkunst als Kunstdesign anzubieten.

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7 Die Formung und teilweise Leitung von Zeitschriften, von der selber initiierten Zweitschrift über K-Kunstzeitschrift und Design Report bis zu form-diskurs, gehören ebenso zu den die Positionen von Autorschaft, Redaktion und Vermittlung verbindenden konzeptuellen wie praktischen Tätigkeiten wie die Initiierung und Moderierung von Symposien, Vortragseinladungen. Wie selbstverständlich dachte Michael Erlhoff in Modellen der Inter- und Transmedialität, verstand sich auf die Verflechtungen zwischen Künsten (bildende Kunst, Literatur besonders), Philosophie, Medien und Design. Ein Beispiel illustriert dies auf das Beste: Michael Erlhoff war, zusammen mit dem, um es so zu formulieren, keineswegs kongenialen, aber am Kritikermarkt umtriebigen Lothar Romain einmal Chefredakteur einer Zeitschrift, die meines Wissens nur ein einziges Mal erschienen ist: K-Kunstzeitschrift, März 1985, Westermann Verlag. Michael schrieb ein für immanente Differenzierung in allen Grau- und Zwischentönen plädierendes Editorial unter dem schönen Titel ‚Edle Einfalt bunter Vielfalt‘. Das Heft brachte gewichtige theoretische und monografische Arbeiten von Freunden und ­Kolleginnen: Oswald Wiener schrieb kritisch über das Wiederlesen von Carl Einstein, Oskar Negt gegen einen wieder angewärmten Irrationalismus, Uta Brandes über Rotraut Pape. Weitere Beiträge stechen hervor, deren Autorinnen und Autoren auch später relevant blieben: Barbara Wien, Manfred Schneckenburger, Wulf Herzogenrath, Helmut Heißenbüttel (über Schallplatten), Günter Zamp Kelp (über Architektur), S. D. Sauerbier (über Farbe). Und die Herausgeber brachten Künstler dazu, Texte mit Bildern und nicht nur Bilder zu liefern: Bernhard J. Blume, Stephan Huber, Jürgen Partenheimer, John M Armleder. Kunst ist als Potenzial der Irritation und des Zielens auf Nicht-Einfaches, also als absichtsvolle und ‚überflüssige‘ Komplizierung unverzichtbar. Design kann sich, reduktiv oder überkomplex verfahrend, solche Potenziale aneignen. Darum geht es. Der Zusammenhang, Absicht, Ziel und Richtung, werden in der Zeitschrift K auch dadurch auf das Beste illustriert, dass auf der linken Seite, neben der Impressumsseite und den Erläuterungen zum Titelbild von Michael Buthe, die Zeitschrift zweitschrift ganzseitig präsentiert worden ist, ohne Nennung ihrer Erfinder und Herausgeberin, Uta Brandes und Michael Erlhoff. Es steht da: „zweitschrift ist eine internationale zeitschrift für kunstmusik-literatur-architektur-politische u. ästhetische theorie und verlegt in der edition copie künstlerbücher. zweitschrift, warbüchenstr. 26, d-3000 hannover 1.“

8 Für das ästhetische Denken Michael Erlhoffs, egal, ob Künste oder Design, Architektur und Musik, Literatur und Kulturgeschichte betreffend, blieben Gestalten wie Kurt Schwitters und Raoul Hausmann, aber auch Ror Wolf oder Schuldt, permanente Anreger. Der Dadaismus insgesamt, zu denen Anthologien vorgelegt wurden, blieb stets

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wichtig. Dabei ging es nicht um periphere oder schlicht individuelle Interessen oder Leidenschaften, sondern Dadaismen wurden ‚wie andere Dinge auch‘, in den Designkontext als eher ungewöhnliche Ausdrucksformen integriert und analysierte. Das Erscheinen als bleibende Möglichkeiten einer Remedur gerade in Zeiten, in denen man von Design nahezu heilsgeschichtliche Energien erwartet oder schlicht nur von einem dumpfen Boom ausgehen muss, zumal, wenn er die Mentalität und das Selbstempfinden neuer Reichtumseliten betrifft und zu beleben hat, wie wenig sonst. Eine Resonanz auf die Orientierung am Da­daismus ist leitend auch für meinen Beitrag zu der von Uta Brandes betreuten Festschrift zu Michael Erlhoffs 60. Geburtstag (s. in Band 2 dieser Edition, Teil 8 unter dem ­Titel ‚Stilfigur‘). Um eine delegitimative Grenzfigur zu nennen: Etabliertes, marktgängiges Prestige-­ Design ist auf diesem Hintergrund vorrangig possessiv freigestellte Vitalisierung von prä- oder postpotenten Bedürfnisenthemmungen derjenigen, die schlicht über alles meinen verfügen zu sollen, was sie sich leisten können, oder gar der Auffassung sind, dass ihnen dies per se zustehe. Wenn man so will, dann ist Kritik solcher Verselbstständigungen der radikale linke Kern in der – im Übrigen nicht nur designtheoretisch, sondern auch ästhetisch begründeten – Identität von Michael Erlhoff, der sich, zusammen mit Widerspruchsgeist und je störrisch wirken könnender Ausweitung der Themen des Designs und der Künste ein Leben lang erhalten hat.

9 Früh fiel mir auf und blieb markant in Erinnerung die Ausstellung Ornamenta in Pforzheim, mit prächtigem und opulentem Katalog. Unvergessen auch weitere, spätere ungewöhnliche Unternehmungen, zum Beispiel das Aufgreifen und Abwägen von scheinbar externen oder peripheren Quellen des Designs: Psychoanalyse, Soziologie/Systemtheo­ rie, Ethnologie, Hermeneutik wie dies an der Tagung der Deutschen Gesellschaft für ­Designtheorie zur ‚Design-Forschung als elastischer Diskurs‘ (BIRD-Konferenz, Köln International Design School 19. und 20. Juni 2009 in Seminarräumen und dann der Aula der KISD am Ubierring, Köln) durchgeführt worden ist – mit Vorträgen, Koreferaten und jeweils von zwei Partnern bestrittenen Seminarien oder Workshops, u. a. mit Alfred Krovoza über ‚Psychoanalyse als Ressource für Designtheorie‘, wie der von Krovoza und mir geleitete Workshop betitelt war. Es ergaben sich über die Jahre unter diesem Zugriff immer wieder eigenwillige und ausgefallene Begegnungen, Gesprächssituationen, einmal saßen wir zusammen redend mit vielen Besuchern und einfach auch anwesenden Gästen in einem Café in ­Kassel anlässlich der Eröffnung der Documenta 10 („erhaben und unterhaltsam – ein Streitgespräch zum großen E und großen U“, Gespräch zwischen Michael Erlhoff und Hans Ulrich Reck zur Eröffnung der Documenta X, Sparkassencafé Treppenstraße 13, Kassel, 21. Juni 1997). In Gestalt von Tischgesprächen zur Mittagszeit moderierten Uta Brandes und Michael Erlhoff eine Reihe von Gesprächen im Kölner Restaurant ‚riphahn‘

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an der Hahnenstraße unter dem Titel ‚be/sprechen‘, am 2. November 2014 beispielsweise mit mir zum Thema ‚Über Paradoxie, Problem und Aufgabe der Wissenschaften heute‘. Ein schon angekündigtes weiteres Gespräch in einer prominent angelegten Reihe zum Zwecke einer besseren Wahrnehmung der riesigen, aber nach Köln’schen Regeln vernachlässigten bis gar missachteten Kölner Kunst- und Museumsbibliothek, angekündigt für Juni 2020, wurde pandemiepolitisch bedingt abgesagt. Die KMB-Veranstaltungsreihe hatte zum Titel ‚KMB – Kunst Macht Bücher‘, wurde moderiert von Ulli Seegers und Michael Erlhoff. Sie wollten sich am Abend des 24. Juni 2020 im Gespräch mit mehreren Partnern (neben mir: Lutz Fritsch, Steffen Missmahl, Elke Purpus, Wolfgang Laubersheimer, Walther König oder Gerhard Theewen, Anna Friebe, Carola Willbrand) zu verschiedenen Themen äußern. Für den Teil mit mir waren Fragen vorgesehen wie: „Was ist ein Buch? Wie nimmt man Bücher wahr? Wie handhabt man Bücher? Gibt es noch Bücher? Der Unterschied zwischen Büchern und anderen Medien?“ – und das alles in ungefähr acht Minuten …

10 Neben traditionelleren gemeinsamen Unternehmungen und Einladungen, wie zum Beispiel zum Symposium zu Bazon Brocks 60. Geburtstag, organisiert von Martin Heller und mir im Museum für Gestaltung Zürich 1996, traten andere, experimentellere Formen. Zum Beispiel, zu meiner Überraschung – und ich muss die Leserinnen und Leser um Nachsicht bitten für die Häufung des Wortes ‚ich‘ und Erzählungen aus seiner Perspektive in diesem Teil – am Abend der Übergabe einer Festschrift im Herbert von Halem Verlag an der Schanzenstraße in Köln am 30. November 2018, in welchem Reigen von Vor- und Beiträgen Uta Brandes und Michael Erlhoff mit einer originellen Performance aufwarteten, die bestimmte Motive meines Denkens anhand der Erörterung verschiedener Senf-Sorten und der Zusammensetzung der Ingredienzien und Aromen abhandelten. Es wurde daraus eine Philosophie des Senfs, und zugleich diente der Senf zum Medium einer Philosophiegeschichte. Die früheren Tätigkeiten als Leiter des Rates für Formgebung sind historisch ebenso positiv bewertet worden wie die bereits geschilderte Arbeit an Zeitschriften. Neben Design Report spielten form und v. a. das entschieden von Michael vorangetriebene Supplement dieser Zeitschrift in Gestalt eines reinen Textheftes unter dem Titel ‚form. Diskurs‘, zu welchem auch komplexe Texte über das Verhältnis von Kunst-, Medienund Designtheorie beigesteuert werden konnten. Das kleiner formatige Heft wurde der Zeitschrift form gelegentlich beigelegt, leider war dem Unternehmen kein dauerhafter Erfolg beschieden. In einem Beitrag für das Jahrbuch Künste und Apparate der Kunsthochschule für Medien Köln schrieb Michael Erlhoff noch einmal besonders plastisch über Raoul Hausmanns legendäre Bild-Ton-Maschine, das Optophon (Michael Erlhoff, „Image und Magie. Zwischen Sphären-Klang und Lausch-Ergriffenheit: Das Optophon

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des Dadasophen Raoul Hausmann“, in: Lab. Jahrbuch 1998 für Künste und ­Apparate der Kunsthochschule für Medien Köln, Verlag Walther König, Köln 1998, S. 122 ff.). Unvergesslich bleibt auch der besondere Beitrag, wiederum von Uta Brandes und Michael Erlhoff gemeinsam, an dem von der KHM initiierten Gedenkveranstaltung für Harun ­Farocki (Ein Abend für Harun Farocki. Die KHM erinnert an den Filmemacher und Künstler und sein Werk, organisiert und moderiert von Dietrich Leder, Aula KHM, 18. Dezember 2014).

11 Michael Erlhoff und weitere Kolleginnen und Kollegen ermöglichten mir über Jahre immer wieder Lehre am Fachbereich Design der FH Köln, was für mich besonders wertvoll war, weil Motivation, Voraussetzungen, Agilitäten sowie Arbeits-, Denk- und Redegewohnheiten doch ziemlich verschieden waren von den mir an der KHM vertrauten, mich eher wieder an eine mir liebe Vorgeschichte an den verschiedenen Gestaltungsabteilungen der Basler und Zürcher Hochschulen für Künste und Gestaltung erinnerten, diese auf besonders artikulierter Ebene fortführend und mit dem inzwischen Erarbeiteten verbindend. Neben Vorträgen im Rahmen der Tuesday Talks, u. a. auf Einladung als Gast von Christine Bruggmann im Rahmen ihrer mittleren und kürzeren Projekte, beispielsweise im November 2009 zum Thema ‚Rausch der Verwandlung‘, eröffnete mir Michael Erlhoff in partieller Lehr-Vertretung die Möglichkeiten, mit den Studentinnen und Studenten der KISD ein ganzes Semester zum Thema ‚digitales Erinnern‘ zu arbeiten, woraus dann auch die Betreuung von Hausarbeiten bis zu Diplomarbeiten sich ergab. Seiner und Utas Vermittlungs- und Verknüpfungsarbeit verdanke ich eine Gastprofessur an die University of Western Sidney (Penrith Campus, School of Communication, Design & Media) im März 2004 mit Vorträgen und Projektberatungen, u. a. von Doktorarbeiten und Promotionsprojekten in Verbindung von Theorie und Praktik, zusammen mit Hart Cohen, einem MacLuhan-Schüler, Kanadier und inzwischen bedeutender Kenner der Aborigine-Kultur, ihren Songlines, ihrer Musik und Gesänge, ihren heiligen Stätten, über welche er einen Film machte, ohne diese Stätten, ihre religiös sanktionierte Unberührbarkeit und Aura zu zeigen und damit zu zerstören, einen Film, mit dem ich ihn zum Vortrag ‚The Ethnographic Imagination‘ nach Köln (an den Fachbereich Design der Fachhochschule Köln, Aula, 26. Mai 2004) einladen konnte. Es ergab sich dadurch auch eine Eröffnung wie anschließende Vertiefung der Bekanntschaft gemeinsamer Freunde, u. a. der Dekanin Kay Shumack. Einer der Doktoranden stellte sich im Verlauf der Gespräche als chilenischer Linksaktivist heraus, ein ­Mapuche-Abkömmling, der mit einem Filmvorhaben zu der in Chile bis heute ­politisch nicht ausreichend thematisierten Unterdrückung der Gewalt gegen die Mapuche dort promovieren wollte.

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12 Wichtige Projekte von Michael Erlhoff blieben zuletzt offene Vorhaben, nicht umsetzbare Szenarien, Relikte, so zum Beispiel ein weit angelegtes zu den alles andere als widerwilligen oder unabsichtlichen Bezügen und Verstrickungen des Bauhauses und in Sonderheit von Gropius mit dem Nationalsozialismus (vgl. wohl auch dazu die eben erschienene Publikaiton Im Schatten von Design: Zur dunklen Seite der Gestaltung, Basel: Birkhäuser Verlag 2021). Erlhoff hat in der Zeitschrift form dazu schon einen wichtigen Aufsatz veröffentlicht, in dem er eine erstaunliche, ja schwindelerregende Fülle von Namen und Beispielen der nach dem Krieg seitens der ‚Modernen‘, die ja die ‚Guten‘ waren, durchweg verschwiegenen Partizipation an der Propaganda für den NS sowie teilweise auch eines üblen Fortwirkens des ‚Bösen‘ in den Köpfen und Händen der angeblich ‚Guten‘ nachweist und auflistet. Ein Thema, zu dem bisher nur wenige andere beitragen mochten, der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger zum Beispiel oder ­Bazon Brock. Schier unzählbar sind aber auch die realisierten Aktivitäten, Texte, Vernetzungen, Kooperationen, Projekte. Zuweilen in Gestalt von subtilen Vermittlungen, Anregungen, Hinweisen, die viel bewirkten. Die Anfrage, eine Rezension seines als theoretische Summe in Gestalt essayistischer Kommentierungen Buches über seine Auffassung von Designtheorie zu schreiben (im Fink Verlag; s. in diesem Band Teil 8 den Text unter dem Titel ‚Jedes neue Design ist Re-Design‘ – Zur ‚Theorie des Designs‘ von Michael Erlhoff“), führte in der Folge unter der Redaktion von Stefan Ott zu einer Reihe mir besonders wichtiger Beiträge zur Analyse zentraler Themen für ein besseres Verständnis der Mechanismen im Maschinenraum des Zeitgeschehens (Arbeit, Graffiti, Design-Bildung, Minimalforderungen an Designtheorie, Perspektiven der Bildungspolitik u. a. m.). Wie schon in der ursprünglichen Fassung seiner Dissertation, lehnte Michael Erlhoff auch in diesem Buch den Kult der Fußnoten schon in seiner Dissertation ab, hielt sie keineswegs für eine Auszeichnung oder einen Adelstitel des wissenschaftlichen Arbeitens, sondern eher für einen Fetisch und eine anmaßende Prätention von ‚Wissenschaftlichkeit‘. Gerade weil dies nicht nur Konvention im blinden Betrieb blieb, sondern oft die Argumentation durch collagierte Referenzen zu ersetzen oder mindestens zu verschleiern drohte oder, je nachdem wie man will, erlaubte. Ein nicht umgesetztes Szenario blieb auch das Ausstellungsprojekt Paradoxien und Unschärfe mit ausgefeilter Thematik, Beispielen, Aufteilung in Recherche und Forschungsgruppen. In der Phase der Differenzierung entstand das Konzept eines Entwicklungsganges von kleinen Ausstellungen in Folge mit Unterbrechungen über mehrere Jahre. Das war konkret vorgesehen für die Bundeskunsthalle Bonn, ist dann leider durch den erzwungenen Weggang von Direktor Wenzel Jacob untergegangen und war leider nicht mehr reaktivierbar, nicht bei Robert Fleck oder Rein Wolfs und auch nicht bei Peter Weibel in Karlsruhe. Das Vorhaben nahm letzte Gestalt an als zwar interessanter, aber nicht realisierbarer Vorschlag, bei dem es eben sein Bewenden hatte. Auf angeblich geduldigem Papier verbleibt ein ausgefeiltes Szenario von einhundert Seiten mit Bildbeispielen für die Sachverhalte und auch mögliche Exponate (das Konzept ­Unschärfe und Paradoxie-Inszenierungen mit einer Skizze von Beispielen und Situationen ist abgedruckt als letzter Text in Teil 10 dieser Edition).

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Grundlage für die mögliche Realisierungsperspektive gerade an der Bundeskunsthalle war die Vorgänger-Ausstellung Heute ist morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Konstruktion, die mir bis heute als ein Höhepunkt philosophischer wie designspezifischer (Einheit von Theorien und Praktik ermöglichenden) Denkhandlung, Objektivierung forschenden Denkens gilt. Auch stellt sie ­zweifellos ­einen Höhepunkt in der Zusammenarbeit mit Michael Erlhoff dar, die ich stets, hier aber besonders, als überaus ehrenhaft und förderlich verstand. Auch wenn für ihn die große Ausstellung über das Verhältnis von deutschem und italienischem Nachkriegsdesign (‚4:3‘) die Hauptarbeit ausmachte und auch breite Aufmerksamkeit erwirkte, als Hauptausstellung, welche diese Nebenausstellung erst ermöglichte, war Letztere doch genau so wichtig. Durch eine charakteristisch kluge Disposition konnte Michael Erlhoff Geld umleiten für eine alles andere als nur ergänzende, vielmehr das poetische Handeln in wechselseitiger Durchdringung in der Tiefendimension verklammernde Ausstellung, welche eben nicht museal das Vergangene dokumentiert, sondern tentativ, heuristisch und evaluativ eine mögliche ­Zukunft in und zwischen Künsten und Wissenschaft konturieren wollte. 1998 bis 2000, nachdem die Ausstellung ins Programm schon aufgenommen worden war, beteiligte mich Michael Erlhoff an einer gemeinsam entwickelten Konzeption, Realisierung und Redaktion von Ausstellung und Publikation zum Thema Heute ist morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Konstruktion. Sie wurde gezeigt in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, vom 30. Juni 2000 bis zum 7. Januar 2001. Eine Publikation nicht der Ausstellungsbeiträge, sondern von theoretischen Reflexionen der Beitragenden erschien in der Editionsreihe der Bundeskunsthalle Bonn im Cantz Verlag, Stuttgart, im Jahre 2000, trotz gegenteiliger Zusicherung des Verlags nur auf Deutsch. Michael Erlhoff kuratierte, ich beriet, die Projektleitung lag bei Jutta Frings. Beiträge zu Ausstellung und Publikation erarbeiteten Siah Armajani, An­ dreas Broeckmann, Bernhard J. Dotzler, Michael Erlhoff, Ernst von Glasersfeld & Michael Stadler, Dietmar Kamper, Arthur & Marilouise Kroker, Shutaro Mukai, Kunihiko Nakagawa, Hans Ulrich Reck, Knowbotic Research, Otto E. Rössler, Lesiba J. Teffo & Ntate Kgalushi Koka, Oswald Wiener, Günter Zamp Kelp (vgl. dazu meinen Bericht „Etwas zeigen, was man nicht begreifen kann“ in Teil 10 ‚Ausblick mit Michel Erlhoff‘ dieser Edition). Eine Serie von gemeinsam von Erlhoff und mir konzipierten und moderierten Gesprächen, die leider, wie alle anderen Veranstaltungen von der Eröffnung bis zu den ­Debatten des ‚Forum‘ der Bundeskunsthalle nicht archiviert, wenn auch zunächst aufgenommen worden sind (die Ton- und Bild-Dokumente scheinen definitiv nicht mehr auffindbar), fanden in verschiedenen Räumen der Bundeskunsthalle wie folgt statt: • ‚Heute ist morgen‘ – Gespräch zwischen Shutaro Mukai, ­Kunihiko Nakagawa, Michael Erlhoff und Hans Ulrich Reck zur Eröffnung der Ausstellung am 30. Juni 2000; • ‚Wir machen, was wir sehen‘ – Gespräch mit Otto Rössler und Ernst von Glasersfeld am 7. Dezember 2000; • ‚Existenzialismus d’outre tombe‘ – Gespräch mit Dietmar ­Kamper am 8. Dezember;

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• ‚Die Philosophie des U’Buntu – afrikanische Perspektiven ­einer humanistischen Philosophie der Versöhnung‘ – ­Gespräch mit Ntate Kgalushi Koka, Lesiba L. Teffo am 13. Dezember 2000.

13 Eine letzte, also die Abschiedsvorlesung von Michael Erlhoff, wurde gegeben als ‚Wednesday lecture‘ am 4. Juli 2012 an der KISD zum Thema ‚The End‘ vor vollem, ja übervollem Haus am Ubierring. Welches Thema für ihn natürlich nur eine rite de passage sein konnte für offene Reflexion und Gestaltung, da, genau besehen, unterhalb des apokalyptischen Negativismus ein Ende gar nicht in Sicht genommen werden konnte, weshalb, so die Diagnose als Ausgangspunkt der letzten Erörterungen, ‚Das Ende‘ gegenüber den Setzungen von ‚Anfängen‘ im Design eine jämmerlich vernachlässigte, selten angenommene Herausforderung darstellt. Zu dieser Veranstaltung wurde ich für einen kurzen zweisprachig adressierten Gastbeitrag/Insert eingeladen (‚Zur Dialektik der Subversivität/Remarks on the dialectics of beeing subversive‘). Eine Ehre, Freude, Aufgabe zugleich. Hier endlich durfte, was eben erst post festum geht, von der klugen Subver­ sivität Erlhoffs geredet werden, der Disposition im Hintergrund, in der ‚off-scene‘ des Betriebes, dort also, wo man einfach macht, was man machen will, tunlichst ohne Einholen einer Erlaubnis von wo und wem auch immer. Ich zitierte hierzu, angeregt durch die Erwähnung einer Sentenz Dylans im Vortrag von Erlhoff, der nach nicht immer alle studieren und zur Schule gehen müssten, denn für viele sei es einfach ‚better go swim‘, Bob Dylans Aussage „If You wanna be subversive, don’t tell anybody that You are subversive“. Dylan sagte das in einer seiner Radiosendungen ‚Theme Time Hour‘, und zwar zum Thema ‚Trains‘, in welchem er einen der anscheinend harmlosen Hits der späten 1960er-Jahre, und zwar ausgerechnet von der ersten dem Aussehen nach geschniegelten Boy-Group ‚The Monkees‘, ansagte, die unter dem Titel ‚Last train from Clarksville‘ einen Hit hatten. Allerdings ging es darin eben nicht um irgendeinen romantisierbaren Abschied, sondern um die letzte Station für den Versand junger Soldaten nach Vietnam. Clarksville war der Ort, und davon sangen die ‚Monkees‘, an den nie jemand aus dem Krieg in Vietnam zurückkehren wird.

14 Es gab auch über lange Jahre literarische Ambitionen, vorrangig zum Zwecke eines ­kommerziell erfolgreichen ‚bestsellers‘. Diese Spielvorgabe wurde zu einem späten nächtlichen Vergnügen ausgebaut, mit Diktieren, Entwerfen nach dem i­ nternationalen Kommunizieren. Ein einziger, letzter Romantext erschien, auf Betreiben von Uta Brandes: Musils Mullis beim Verlag Walther König in Köln wenige Wochen vor seinem Tod.

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Wir erhielten ein Exemplar überreicht bei unserem letzten gemeinsamen Treffen mit einem letzten, aus Frankreich mitgebrachten lu­kullischen Verzehr. Es war eben angeliefert worden. Auf unsere Bitte hin schrieb Michael eine Widmung, das war drei Wochen vor seinem Tod.

15 Nicht mehr möglich geworden ist leider eine erste gemeinsame Beurteilung einer gemeinsam betreuten Dissertation, für welche in rechtlich verbindlichem Sinn der damalige Rektor der KHM Abklärungen traf bezüglich der Kompetenz der Dissertationsabnahme durch den Kollegen einer angewandten Universität oder Hochschule, zusammen mit der Kollegin, damals Prorektorin und amtierende Rektorin, der Kunstwissenschaftlerin Annette Tietenberg, welche dem aufgrund einiger gewichtiger Gutachten zum Honorarprofessor ernannten Michael Erlhoff zusammen mit einem ständigen Auftrag zur Lehre auch das Promotionsrecht an der Braunschweiger Hochschule der bildenden Künste gewährte, was im notorisch skurrilen Gerangel um sachliche Zuständigkeiten (weit ab von einer inhaltlichen Auseinandersetzungen mit ‚Fähigkeiten‘) zur Promotionsbetreuung in Deutschland diesem ‚ungelösten Fall‘ wenigstens ein Ende setzte. Argumentationen im Hin und Her gab es reichlich, die Diskussion, wer an welchen Hochschulen wen wie promovieren dürfe, ist hier nicht zu führen (es finden sich Überlegungen dazu in den Teilen IV und V in Band 2 dieser Edition). Jedenfalls teilte ich seit Langem schon Michael Erlhoffs Einschätzung, dass im Umkehrschluss die Disqualifizierung der Fachhochschulen bereits deshalb argumentativ nicht haltbar sei, weil und insofern und wenn man den Schwachsinn betrachtet, der an und durch Universitäten als Promotionen auch ermöglicht werde, inzwischen gar in direkter Auftragslage durch epistemisch – wie übrigens auch moralisch – so hoch qualifizierte und für die deutsche Zukunft systemrelevante Organismen wie Auto-Firmen, an welche der Sachverstand schon im Vorfeld mitsamt aller relevanter Tradition des freien Denkens in freien, nur und ausschließlich der Wahrheitssuche verpflichteten Institutionen der europäischen Forschung abgegeben werde. Ein Fall von so evidentem Missbrauch und evidenter Korruption, dass man jedenfalls den herausragend ausgewiesenen wissenschaftlichen Domänen und Disziplinen an Fachhochschulen und Technischen Universitäten ein nicht nur korporatives, sondern autonomes Promotionsrecht schwerlich auf Dauer wird vorenthalten können. ‚Nicht-autonomes‘ Promovieren bedeutet, dass die Federführung und letztgültige Abnahme just wieder bei den Universitäten liegt, die im Bologna-Zeitalter so ungefähr alles preisgegeben haben, was Würde und Ehre der europäischen Universitäten ausmacht: Ja, es gibt Ausnahmen, ja, ich bin glücklich über die Ausnahmen, ja, leider ist es ein Elend, dass diese Ausnahmen mindestens minoritär sind. Und im Übrigen ist Maßgabe für solches nicht der Beschluss von Politikern, gar Außenministern, sondern die Wahrnehmung der Tatsache, dass und weshalb die unabhängigen europäischen Universitäten älter sind als die Demokratie auf diesem Kontinent.

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16 Diese Aspekte, Vorhaben, Gedanken sind weiterzuentwickeln, auch und gerade über den in diesen Bänden dokumentierten Stand hinaus. Jedenfalls ist seit der Mitte der 1990er-Jahre, seit unserer Ankunft in Köln, diese wechselseitige Weiterentwicklung designkritischer Reflexion nicht nur ein Medium, in welchem sich die Freundschaft mit Michael Erlhoff und Uta Brandes weiterentwickelt hat, sondern verkörpert zumindest immer wieder fragmentarisch in zahlreichen Texten seit der Mitte der 1990er Jahre dieser Edition, in und als Spuren, Resonanzen, phänomenal, reflexiv, direkt und indirekt. Sie wird beschlossen mit auch gemeinsamen Texten zu Ausstellungen, realisiert als ‚Heute ist morgen‘, unrealisiert, aber ausgearbeitet und Desiderat bleibend als ‚Unschärfe, Paradoxie‘. Beginnt der Band mit dem Text ‚Für Michael Erlhoff‘, so endet er im Ausklang mit Projekten und Texten ‚mit Michael Erlhoff‘. Schreiten wir also wieder und weiter zur Gegenwart, damit auch zu den – Überle­ rlhoff in gungen von ihm referierenden oder von ihm inspirierten – Texten zu Michael E dieser Edition. Im September 2021.

Ausgewählte Literatur von Michael Erlhoff  Baacke, Rolf-Peter/Brandes, Uta/Erlhoff, Michael (Hrsg.). Design als Gegenstand. Der neue Glanz der Dinge, Berlin 1983. Erlhoff, Michael. „kopfüber, zu Füßen. Prolog für Animateure“. In: Documenta 8, Katalog, Kassel 1987, Bd. 1, S. 107 ff. Erlhoff, Michael (Hrsg.). „Ornamenta. Internationale Schmuckkunst“ [anlässlich der Ausstellung Ornamenta 1, Schmuckmuseum Pforzheim, 30. September bis 19. November 1989], Kat. Ausst. Pforzheim, ­München: Prestel 1989. Erlhoff, Michael (Hrsg.). Deutsches Design 1950–1990, München: Prestel 1990. Erlhoff, Michael. Nutzen statt Besitzen, Göttingen: Steidl 1995. Erlhoff, Michael/Reck, Hans Ulrich (Hrsg.). „Heute ist morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Kon­ struktion“. Katalog Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, Stuttgart-­ Ostfildern: Cantz 2000. Brandes, Uta (Hrsg.). Michael Erlhoff & Friends, Txt & Img. Basel: Birkhäuser Verlag 2006. Baur, Ruedi/Erlhoff, Michael. Design Studieren, Paderborn: UTB Fink 2007. Brandes, Uta/Erlhoff, Michael u. a. Designtheorie und Designforschung. Paderborn, Fink: 2009. Erlhoff, Michael. Theorie des Designs. Paderborn/München: Verlag Wilhelm Fink 2013. Erlhoff, Michael/Moritz, Christina (Hrsg.). Design studiert: Perspektiven nach dem Studium. Köln: KISDedition 2013. Erlhoff, Michael/Marshall, Timothy (Hrsg.). Wörterbuch Design: Begriffliche Perspektiven des Design. Basel: Birkhäuser Verlag 2013. Erlhoff, Michael. „Zu Formen von Protest. Hongkong als Perspektive“. In: fabeln und fehler. Journal der Kunsthochschule für Medien Köln N° 2, 01/2015, hgg. Hans Ulrich Reck (online unentgeltlich verfügbar unter: https://e-publications.khm.de/frontdoor/index/index/docId/28). Erlhoff, Michael. Im Schatten von Design: Zur dunklen Seite der Gestaltung. Basel: Birkhäuser Verlag 2021.

026 DESIGN/THEORIE 

1  Vom Erbe

1  Vom Erbe Vorab zum Erbe als Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, Theorie und Ästhetik der Werbung und des Designs: Die Entwicklungsgeschichte der variablen Auffassungen vom Gestalter oder Designer bezieht sich auf mehrere Kontexte, je unterschiedlich anliegende Gebiete. Zum einen erzwang die Auffassung vom neuen, autonomen Künstler seit dem 16. Jahrhundert eine Absetzung vom bisherigen Handwerk. Akademien und später polytechnische Schulen sind für Professionalisierung besorgt. Die Industrialisierung fordert ein Weiteres. Besonders im 19. Jahrhundert kommen wichtige Dimensionen hinzu: Modernisierung, Mechanisierung, ein eigentlicher Technologieschub in mancherlei Hinsicht. All dies spielt sich in einer zunehmend globalen Verstädterung ab. Weitere Internationalisierungsschübe erlebt dann das 20. Jahrhundert, mit einer Mediatisierung auf erweiterter Skala. Die Intensivierung von PR, Werberhetorik, Training des visuellen Sinnes, individuell wie gesellschaftlich, ergänzen die Dynamik der Entwicklungen. Deshalb beschäftigen sich die hier versammelten Texte aus den 1980er-Jahren bis an die Schwelle um 1990 mit Wirtschaftsgeschichte, international, aber besonders auch der Schweiz, mit der Kulturgeschichte der Warenpropaganda, der Internatio­nalisierung spezifisch moderner und entsprechend technisch-mediatisierter Lebensverhältnisse. Im Laufe der Zeit ändern sich die in der klassischen Moderne nahezu geschichtsphilosophisch akzentuierten Erwartungen an Funktion, Stil, gute Form, gelingendes Design. Es wird konzeptualisiert, begründet, gestritten, theoretisiert. Nicht zuletzt ein gewandeltes Selbstverständnis der Gestalter und Designer mitsamt ihren ‚internen‘ Debatte und Diskussionen steht im ­Fokus der Erörterungen dieses Teils, neben Fallstudien zu speziellen Situationen und Kontexten.

028  VOM ERBE 

DESIGN UND DIE KRISE DER MACHT – EINE KURZGESCHICHTE INSTITUTIONELLER GESTALTERAUSBILDUNG, ZUR EINFÜHRUNG Die Geschichte der Gestaltung ist seit einigen Jahrhunderten auch die Geschichte der Vorstellungen über Sinn, Zweck, Begründung und Zielsetzung gestalterischer Tätigkeit. Und die Geschichte der Institutionalisierung, Formulierung und Ordnung dieser Vorstellungen. Das moderne Design ist im Kern entsprechend konzipiert worden als eine Ästhetik der Macht. ‚Modern‘ meint hier wesentlich und noch undifferenziert: ‚neuzeitlich‘; ähnlich verkürzend, zum Zwecke der Verdeutlichung, ist die These von einer Ausrichtung auf die Macht formuliert. Was sich mit der Moderne ändert, ist – bezogen auf Stil und Ausdruck – vieles, das aber hinter allen Innovationsbehauptungen strukturell durch Kontinuität gekennzeichnet bleibt. Es ist nämlich charakteristisch eine bloße Verlagerung oder Verschiebung einer unverändert auf autoritative Identität und Entfaltungsmacht (der Entwerfenden eher denn der Ausführenden) fixierten Gestaltungsprogrammatik. Das wesentliche Gestaltungsmodell ist durch Verschiebung von den autoritären Mächten des Ancien Régime auf die utopisch formierte Macht einer elitär konzipierten, didaktisch in der Pyramide der Schichten nach unten durchgereichten sozio-­ästhetischen Befreiung mittels Geschmackserziehung hinreichend genau beschrieben. Die Orientierung an der Macht hat sich demnach grundsätzlich konstant erhalten. Im Zeitalter der formierten Techno-Mega-Maschine globaler Informationskontrolle in einer ‚globalisierten‘ Weltsynchrongesellschaft ist dieses Problem identisch erhalten geblieben, wird nun aber bezeichnet als die Herausforderung zur Kontextprägung durch zentralistisch oder substanziell bedeutsam ausgewiesene Eingriffsmöglichkeiten oder -notwendigkeiten von ‚Gestaltung‘ in einen gegebenen und akzeptierten Regel-­Bestand (formatierende Maschine). Zu solchen Maßgaben einer De-Regulierung und Regelkorrektur rechnen pauschal auch alle Konzeptionen und Bestrebungen der Künstler- und Gestalterausbildung. Die Vorgeschichte der Moderne kann deshalb von ihrer Entfaltung nicht getrennt werden. Sie folgt derselben Logik. Es hat sich im langen und stetigen Übergang von einer vormodern-handwerklichen, dann akademisch erweiterten und nobilitierten Künstlerausbildung bis zur technologisch orientierten Gestaltungskonzeption des modernen Entwerfers, der sich vorrangig als Ingenieur, nicht mehr als Künstler sieht, eine tragfähige und kontinuierlich verfestigte Struktur, ein Dispositiv ausgebildet, das immer wieder verändert, anders akzentuiert und gerichtet, aber niemals grundsätzlich preisgegeben, verlassen, überwunden oder transformiert worden ist. Das Verhältnis der Prämoderne zur Moderne ist nicht durch einen Bruch oder Abgrund gekennzeichnet, sondern durch eine Schichtung, Überlagerung und wechselseitige Durchdringung, die auf dem Niveau entfalteter ­Modernität in beide Richtungen funktioniert, also auch vormoderne ­Potenziale ­innerhalb der Moderne als deren Fermente – und nicht nur archaische Relikte oder dysfunktionale Störungen – reaktiviert (das belegt auf ihre Weise auch die

DESIGN UND DIE KRISE DER MACHT  029

fatale Verkürzung in der Diskussion um die faschistische Orientierung auf Modernität, die in aller Regel mit abstraktem, reinlichem, aber sachlich falschem Schnitt gegen ein mythisch fixiertes, vormodernes Volksleben ausgespielt wird). In seinen utopischen, besten Teilen ist der moderne Kunstanspruch ein Design der Krise der Macht, von Kritik und Selbstkritik gewesen. Die Geschichte des modernen Designs beginnt mit der Bearbeitung einer Krise und wirkt mit an einer Epoche, die nie mehr aus der Krise herausgekommen ist. Es handelt sich zunächst um eine Krise des 16. Jahrhunderts 1517 schlägt Martin Luther seine 95 Thesen gegen die Ablasspraxis in Wittenberg an. Die Spaltung der Kirche wird unausweichlich. 1527 schreibt sich nachhaltig als Schock wirkend ins europäische Bewusstsein der ‚sacco di Roma‘ ein, die Plünderung Roms. Italien wird für Jahrhunderte der Fremdherrschaft ausgeliefert. 1534 soll die Gründung des jesuitischen Ordens präventiv mittels ordnungspolitischer Rigidität das Auseinanderbrechen der Glaubensgemeinschaft auffangen. Zunächst aber dominieren in der Kunst die selbstquälerischen, asketischen und formverzerrenden Züge, die später unter den Begriff ‚Manierismus‘ gefasst worden sind. Erst die zweite Phase des Tridentinischen Konzils nach 1560 liefert einen Ausweg aus der Krise durch die Konzeption einer triumphalen Kulturpolitik, nach welcher die Künste die Sinne umschmeicheln sollen und man mit Farbenpracht und Lebensfreude gegen reformatorische Bilderfeindlichkeit angehen will. Die damalige ästhetische Konzeption ist eine Kampfposition: Der später als ‚Barock‘ bezeichnete Hang zum Gesamtkunstwerk ist ihr Kampfmittel und Werkzeug. Mit dieser Ordnung der Krise, die nie mehr eine Macht sein wird außerhalb der Krise, beginnt auch die Geschichte der modernen Gestaltung. Diese Geschichte – aber auch das moderne Design selbst – ist zugleich eine Geschichte der Vorstellungen über Sinn, Zweck, Begründung und Zielsetzung gestalterischer Tätigkeit. Und ebenso die Geschichte der Institutionalisierung, Formulierung und Ordnung dieser Vorstellungen. Das heißt, diese Geschichte hat eine Empirie, die von ihrem Diskurs nicht zu trennen ist. Sie wird von diesem begleitet, geformt, aber auch immer wieder bedroht, verändert, jederzeit gereizt, herausgefordert, nicht selten auch irritiert. Erinnern wir uns diesbezüglich an die Zeit der ersten quasi-modernen Akademiegründungen. Die Einrichtung der eigentlichen ersten ‚Accademia del Disegno‘ durch Giorgio Vasari, den Gründer der Kunstgeschichtsschreibung, datiert, wie gut erinnerlich, von 1563 und ist, genau besehen, ebenso traditionell wie modern ausgerichtet. Modern ist sie, weil nur durch Neuorganisation der Künstler, ihrer Aufgaben wie Interessen im Rahmen eines gewandelten Sozialprestiges des ‚neuzeitlichen‘ Artisten auch die traditionellen, werkspezifischen Eigenheiten der Künste erhalten werden konnten. Ohne Übertreibung darf man hierzu sagen: Rettung durch Modellierung und partielle Transformation. Vasaris Einrichtung erfolgte im Bewusstsein der Notwendigkeit, die als Bildproduzenten immer mächtiger, selbstbewusster und eigenwilliger werdenden Künstler wieder in eine Achse der Macht zu zwingen. Seit Vasaris Tagen bis weit ins 19. Jahrhundert, im Grunde bis zum Ende der akademischen beaux-arts-Architekturausbildung im Kontext der dezidierten Gestalter-Reformbestrebungen des beginnenden 20. Jahrhunderts, bleibt diese Zentrierung unverrückbar.

030  VOM ERBE 

Erst die Generation von Le Corbusier basiert Architektur auf der kollektiven, eher anonymisierten Kreativität der Konstrukteure und Ingenieure. Nicht mehr die klassizistische Ordnung von Museum, Villa und Rathaus gibt das Beispiel, sondern der Brückenbau, die Pariser Passagen oder auch Joseph Paxtons Glas-Skelett-Architektur für die erste Weltausstellung von 1851. Allerdings ändert sich nichts an der prinzipiellen Orientierung, in diesem Fall eine befreiungsrhetorisch aufgeladene Kooperation zwischen politischer Macht und Gestalterelite – nur wird sie auf die Zukunft, auf emanzipatorische Innovation zentriert, weil angeblich die notwendigen Bedingungen gegenwärtig noch nicht existieren. Auch an der Beurteilung der Qualifizierung von Entwerfern und Architekten ändert sich im Kern nichts. Es ist weiterhin das disegno und der Kult um das disegno, welches die Richtung der Anerkennung und fachlichen Diskussion vorgibt. Disegno meint: Vorrang des Konzepts, des Entwurfes. Es soll den Ausweg aus der Krise der Macht weisen. ‚Design‘ wird seither immer geprägt sein von der Erwartung, mit ihm könne eine gesellschaftliche Krise überwunden oder mindestens kaschiert werden. Vasari, selbst Architekt, Maler, Gestalter und Kulturpolitiker, hat sich als Repräsentant der neufeudalen Kräfte jedenfalls bewährt. Ihm war klar, dass in der Krise des Reformationszeitalters und mit dem Verlust einer durch Obrigkeit verbindlich geregelten Ästhetik Gestaltung nicht länger subjektiver Willkür überlassen werden dürfe. Design wird bei ihm konzeptuell und institutionell verstanden als Entwerfen von Problemlösungsstrategien aus der Sicht der Macht-Eliten. Federico Zuccari, der 1593 die Lucasgilde Roms in eine moderne Kunst- und Designakademie umwandelt, ist seinerseits auch theoretisch für die autoritäre Herleitung und Grundierung eines entsprechend umfassenden, mythosfähigen Gestaltungsbegriffes besorgt gewesen: Disegno müsse gelesen werden als ‚segno di Dio in noi‘ – Entwurfs­ arbeit aus göttlichem Geist, ermöglicht durch ihn in uns. Eine weitere wesentliche Zäsur markiert das 17. Jahrhundert. In ihm entwirft JeanBaptiste Colbert als Oberintendant der Finanzen und Bauwerke eine eigentliche Designpolitik, nicht zuletzt zum Zwecke der Verbesserung und imperialen Durchsetzung des Exports. Der Triumph der wissenschaftlichen Akademien beginnt um 1650, als der Sieg der experimentellen Wissenschaften über die klerikale Opposition allgemein durchgesetzt und gerade für die Wissenschaftspolitik des aufgeklärten Absolutismus unerschütterlich geworden war. Der Streit zwischen den Alten und den Neuen (Querelle des anciens et des modernes) sollte dann weiterführend auch der Klärung eines verbindlichen, ästhetischen Systems dienen. Der König bewilligte den neuen Institutionen von Anfang an erhebliche Zuschüsse und Räumlichkeiten im Collège Royale de l’Université. Im Grunde wurde die Akademie dadurch zu einer königlichen Angelegenheit. 1656 bezog die Akademie Räume im Louvre. 1661 wurde Colbert zum Vizeprotektor der Akademie gewählt, womit der notwendige unbegrenzte Handlungsspielraum gewährleistet war, war doch der Vizeprotektor die eigentlich beherrschende Position im System. Colbert war ein Vollender. Er perfektionierte das System des Merkantilismus, das er selbst aber nicht erfunden hatte. Die Entwicklung der ‚Académie Royale de Peinture et Sculpture‘ beeinflusste er entschei­ aßnahmen dend. Auch dies war keine auf ihn zurückgehende Gründung. Colberts M

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waren teilweise drakonisch. Es ging um die organisatorische Erzwingung ­dessen, was erreicht werden sollte, nicht um eine ‚organische Entwicklung‘. Mit einem ‚Arrêt du Conseil‘, einem Dekret vom 8. Februar 1663, wurde allen privilegierten Malern des ­Hofes befohlen, sich der Akademie anzuschließen, wenn sie nicht ihrer Privilegien verlustigt gehen wollten. Dem ging die Monopolisierung bei der Organisation des Aktzeichnens voraus. Man kann die Entwicklung zu diesem Zeitpunkt so resümieren: „Somit war die Diktatur gefestigt. Der Absolutismus hatte erfolgreich über jene tatsächliche Unabhängigkeit des einzelnen Künstlers triumphiert, für die weniger als hundert Jahre vorher die ersten Akademien gegründet worden waren. Während nach außen hin die mittelalterliche Struktur der Gilden bekämpft wurde, setzte man ein System an ihre Stelle, das von der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit des Malers und Bildhauers weniger übrig ließ, als er unter der Herrschaft der Gilde besessen hatte, und unvergleichlich viel weniger, als ihm durch die Privilegien der früheren französischen Könige gewährt worden war.“1 Colbert kalkulierte richtig: Durch die organisatorische Anbindung in einer straff kontrollierten Körperschaft königlicher Akademiker war es viel einfacher, die Wünsche und Absichten des Königs durchzusetzen als in einer Gilde, einer privaten Vereinigung oder einer autonomen Universität, die auf ihrer kritischen Hoheit und Unabhängigkeit gegenüber jeder Form von Staat – aus Prinzip und historischer Erfahrung – bestehen würde. Mit unbeugsamer Entschlossenheit ging Colbert ans Werk und gründete eine Akademie nach der anderen: 1661 die ‚Académie de Danse‘, 1663 die ‚Académie des Inscriptions et Belles Lettres‘, 1666 die ‚Académie des Sciences‘, 1669 die ‚Académie de Musique‘ und 1671 die ‚Académie d’ Architecture‘. Für die Kunstausbildung interessant und wichtig festzuhalten ist, dass das Curriculum der Akademie keineswegs vorsah, der Pariser Akademie die gesamte Berufsausbildung eines jungen Malers oder Bildhauers zu übertragen. Die praktische, handwerkliche, gestalterische Arbeit lernte er in der Werkstatt eines Meisters, bei dem er, ähnlich wie im Mittelalter, wohnte und arbeitete. Als Student zur Akademie vorgelassen wurde nur, wer das Zeugnis eines Meisters vorlegen konnte. Der Unterricht an der Akademie bestand in Zeichnen, Zeichnen nach Abgüssen und dem lebendigen Modell, Kopieren von Zeichnungen. Aktzeichnen war Grundlage und Hauptbestandteil des Lehrplans. Dazu kamen theoretische Vorlesungen, die sich erzieherischen Zwecken widmeten, insbesondere dem Training des ästhetischen Urteils. Die Vorlesungen des Malers und Kulturimpresarios, des Managers auch der jährlichen ‚Salons‘, der scharf selektionierten repräsentativen Ausstellungen, Charles Lebrun – dessen 1667 in Paris publiziertes Buch Méthode pour apprendre à dessiner les pas­ sions ein Klassiker der akademischen Ausbildung für lange Zeit wurde – widmeten sich der Entwicklung und Einübung der wesentlichen Regeln für junge Künstler. Es ging um eine exakte Beurteilung von Kunstwerken. Dazu wurden Bilder aus den königlichen Sammlungen nach Maßgabe verschiedener Kategorien analysiert. Es ging um eine zergliedernde Methode. Kategorien waren beispielsweise Erfindungsreichtum, Proportion, Farbe, Ausdruck und Komposition. Nach solchen Kategorien analysierte Lebrun in seinen Vorlesungen auch die Bilder von Nicolas Poussin. Testelin, der Sekretär der Akade-

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mie, fasste die Regeln in einem 1680 erscheinenden Buch zusammen unter dem Titel Tables de Préceptes. Roger de Piles’ Balance de Peintres von 1708 bewertete alle berühmten Maler nach Punkten von 0 bis 80, je nach dem Wert ihrer Komposition, des Ausdrucks, des Dessins (Zeichnung) und der Farbe. Allegorien als Sujets waren nicht nur bevorzugt, sondern im Grunde exklusiv notwendig. Die anderen Sujets wurden als ‚genres mineurs‘ verachtet. Dazu gehörte alles, was nicht unter die Rubrik ‚histoire‘ fiel. Still­ leben rangierten am Fuße der Stufenleiter, dann kamen Landschaften und Tierbilder, die bereits höher bewertet wurden, weil sie angeblich eine höhere Form des Lebens zum Gegenstand hatten. In dieser Argumentation war natürlich die Menschenwelt der Tierwelt überlegen. Realistische Darstellung von Einzelwesen rangierte schon sehr hoch. Ganz oben stand aber das Historienbild. Man kann also leicht bemerken, dass eine tödliche Idolatrie und ein fataler Anthropozentrismus im Kern dessen wirksam sind, was man den allegoretischen, naturalistischen Stil nennt (Bilder als eigentliche Bildergefängnisse in genau der Weise, wie das Giovanni Battista Piranesi in seinen „Carceri d’ Invenzione“ um 1760 reflektieren wird). Wie tief solche Strukturen aller künftigen Entwicklung eingeschrieben sind, kann man an den Bewegungen der Abweichung, Verwerfung und Kontestation ermessen – der Motor der Avantgarden seit Courbet gründet in der Verwerfung dieser Konstruktion, die natürlich darin noch einmal eine letzte Urkunde ihrer historischen Wirksamkeit ausgestellt bekommt. Wie bewusst diese Zusammenhänge jedem Maler gewesen sind, belegt das stilistisch geradezu unterwürfig ausgeführte und dennoch im Salon scheiternde, da ein falsches Thema wählende Bild „Floß der Medusa“ von Théodore Géricault (Ausstellung im Salon 1819). Was man, wenn man denn die Bilder gekannt hätte, in den maßgeblichen Kreisen von seinen Portraits der Irren aus der Salpêtrière oder der angehäuften Leichen- und Körperteile gehalten hätte, liegt auf der Hand und ist nicht schwer zu erraten. Zu den Vorteilen der Akademie, die von den Studenten – übrigens bis in die Generation von Georges Braque – am meisten geschätzt wurden, gehörte die Befreiung vom Militärdienst: Die Zugehörigkeit zur Akademie war eben zuweilen lebensentscheidend. Ein weiterer herausstechender Zug des akademischen Lebens waren Preisverleihungen. Die höchste Auszeichnung eines Studenten, noch über den ‚Grand Prix‘ hinaus, war der ‚Prix de Rome‘, ein Stipendium in Gestalt eines in der Regel vierjährigen Aufenthaltes an der ‚Académie de France‘ in Rom. Diese Zweigstelle der Pariser Akademie wurde 1666 gegründet – nach einem Plan, es wird nicht wundern, von Colbert. Mit diesem Mittel wurde die Kontinuität des Stils bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts erzwungen – und zwar wesentlich als eine eherne und unberührbare Kontinuierung der klassizistischen Ordnung auch in der Architektur. Noch beim Wettbewerb um den Bau des Völkerbundpalastes in Genf spielt in den 1920er-Jahren der Konflikt zwischen der Architektur der ‚Beaux arts‘ und den Modernisten um Le Corbusier eine entscheidende Rolle; durchgesetzt wurde von der Jury, ein letztes Mal, ein Rom-Stipendium. Dies endet zu dem Zeitpunkt, als die Kennzeichnung des ‚Akademismus‘ ein vernichtendes – ja das schlechthin und ultimativ vernichtende – ­Urteil abgab. Es stand nurmehr und abschließend für Unselbstständigkeit, erstarrte

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­ tilisierungen, Einfallslosigkeit, Unterworfenheit unter überkommene Regeln, insgeS samt für Minderwertigkeit der künstlerischen Invention, thematisch wie formal. Die öffentliche Kunstschule als einziges und alleiniges Institut für die Ausbildung von Künstlern ist jedoch erst eine Neuerung des 19. Jahrhunderts. Vorher blieb das System noch mittelalterlich verwurzelt, da man das Handwerk des Malers privat bei einem Meister lernte. Es zeigte sich deutlich, dass die Schulen gerade zwischen 1750 und 1800 konservativ blieben. Dennoch konnte sich unter dem rasant zunehmenden Druck der Technisierung in Lebenswelt, Erkenntnisgewinnung und den Wissenschaften auch eine ‚Académie de Peinture et de Sculpture‘ nicht länger einer Intensivierung eines theoretisch erweiterten Studiums verschließen. 1748 wurde die ‚École des Élèves Protégés‘ gegründet. Sie war in einem Gebäude an der alten Place de Louvre untergebracht und sollte den sechs besten Studenten der Akademie, die mit dem ‚Grand Prix‘ prämiert wurden, Kost und Logis bieten. Unterrichtet wurde im Kopieren von Gemälden (bis 1765 in der Apollon-Galerie des Louvre) sowie in Komposition, Mythologie, Perspektive und Anatomie. Zum ersten Mal findet sich ein kompletter Lehrplan für die Fortbildung nicht nur als Konzept formuliert, sondern auch in der Praxis ausgeführt. Im Frankreich Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. war der Künstler eine gesellschaftliche Notwendigkeit als Dekorateur der Macht und Inszenator, Mediator der aristokratischen Prunksucht. Die Spitze der akademisch organisierten Künstler arbeitete für diese Zwecke äußerst bereitwillig, wie überhaupt das Kennzeichen auch an den Höfen der Renaissance und sogar schon davor gewesen ist, dass die Künstler – man betrachte nur Leonardo oder Mantegna – selbstverständlich in Allianz mit der ökonomischen, militärischen und politischen Macht arbeiteten, im Verbund und als Teil der maßgebenden, prägenden Elite (vgl. Warnke 1985). Und zwar wie selbstverständlich. Es blieb einer späteren Zeit vorbehalten, allein aufgrund eines solchen Faktums die Künstler für unselbstständig, fremdbestimmt und korrupt zu halten und als Verräter an der Zwecksetzung oder ‚heiligen Idee‘ der Kunst anzusehen. Für die herrschende Klasse waren sie ebenso unentbehrlich wie die Weber in den königlichen Gobelinmanufakturen oder die Kunsttischler in der Manufaktur der ­Meubles de la Couronne. Und für die Kunst waren sie in der Weise verantwortlich, dass ihnen niemand sonst abnahm, was allein der künstlerischen Autonomie geschuldet war und ihr wiederum zuzukommen hatte. Francisco de Goya ist ein brillantes Beispiel für diese Zusammenhänge und keineswegs die absolute Ausnahme, als die sich sein melancholisch-romantisches Außenseitertum im ästhetischen Bereich immer wieder behauptet. Seine Erfahrungen sind nämlich durchaus typisch. Ob als Entwerfer von Gobelins oder Portraitist der Königsfamilie: Noch der Hofmaler ist in seiner Stellung vollkommen unterworfen und medioker. Er ist es aber nicht als Künstler, der die Wahrheit seiner Imagination für maßgeblich hält und seine Kunst entsprechend praktiziert. Als Künstler kann er es gar nicht sein. Diese normative Instanz ist einzig Teil seiner Ethik als Künstler und nicht Bestandteil des Arbeitsverhältnisses am Hof. Noch vor der Inanspruchnahme der Führungsrolle in der Wissenschaftspolitik durch die Franzosen wurde in England 1662 eine ‚Royal Society‘ zur Förderung der ­Naturerkenntnis durch Karl II. gegründet, faktisch eine Umwandlung einer seit 1645 in

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Oxford und London existierenden Zusammenkunft von Wissenschaftlern, Privatgelehrten und interessierten Laien. In Deutschland setzte sich Leibniz intensiv für die Einführung eines akademischen Systems nach französischem Vorbild ein. Um 1670 schrieb er eine Abhandlung über die Einrichtung einer entsprechenden Gesellschaft in Deutschland, einer ‚Societät‘, die Kunst und Wissenschaft, aber auch ‚handel und commercium mit Wissenschaft‘ förderlich sein sollte. Nach mehreren Publikationen gelang es ihm, das Interesse Charlottes und ihres Gemahls, Friedrichs I. von Preußen, zu gewinnen. 1700 kam es dann zur Gründung der ‚Academia Scientiarum‘ in Berlin, in welcher zum ersten Mal die Aufgaben der drei Pariser Akademien in eins zusammengefasst wurden. Diese Akademie entwickelte sich zu Friedrichs des Großen ‚Académie Royale des Sciences et Belles Lettres‘ und später zur ‚Königlichen Akademie der Wissenschaften‘. Seit 1754 wurden in Frankreich, aber auch in anderen Ländern zahlreiche Gewerbeschulen gegründet. Im früh industrialisierten England nahm die ‚Society for the Encouragement of Arts, Manufactures and Commerce‘ in London Prämierungen vor. 1756/57 wurde in England die erste Industrieausstellung organisiert. Den Gewerbeschulen traten nach 1800 in ganz Europa polytechnische und technische Hochschulen zur Seite. Sie waren ganz dem Geiste napoleonischer Nutzung elitärer Qualifikationen verpflichtet. Die fortschrittlichsten Errungenschaften aus den Wissenschaften wurden technologisch für die Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens genutzt. Mit einer breiten Industrialisierung und der Mechanisierung ganzer Handwerksbranchen wird erstmals das Problem der Qualität in der Massenkultur relevant. Daraus entsteht eine bis heute nicht abgeschlossene Diskussion um das Verhältnis von Ökonomie und Ästhetik, Funktion und Geschmack, Kunsthandwerk und Indus­trie, Entwurf und Technologie, Echtheit und Rationalisierung. Diese Diskussion ist nicht selten im Stile eines Kulturkrieges geführt worden. Industrialisierung, so die schmerzliche und unübersehbare Erfahrung bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts, befördert keineswegs aus sich heraus ein gestalterisches Leitbild oder eine ästhetische Qualität. Zum Zwecke einer eigentlichen ästhetischen Massenerziehung, nicht nur der Konsumenten, sondern auch der Produzenten – der Arbeiter wie der Unternehmer – gründete Henry Cole 1849 ein ‚Journal of Design‘, organisierte Ausstellungen und war wesentlich am Zustandekommen der Weltausstellung industrieller Güter und Maschinen im berühmten Kristallpalast von 1851 in London beteiligt. Wenig später erfolgte die Gründung des Kensington Museums für angewandte Kunst. Industrielle Produkte, Gebrauchsgüter, Dinge des Alltags, Funktionen der Massenkultur werden damit erstmals in den Rang kulturell wertvoller Erzeugnisse erhoben. Das wird bestimmend sein für spätere Reformbewegungen, zunächst des Kunsthandwerks, dann der industriellen Fertigung. Herausragend sind seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Bemühungen John Ruskins („Seven lamps of Architecture“, 1849), von William Morris und Gottfried Semper („Der Stil in den technischen und architektonischen Künsten“, 1860–63). Waren die Reformbewegungen zunächst noch auf die Rückkehr zu den ästhetischen Qualitäten der mittelalterlichen Handwerksproduktion ausgerichtet (‚Arts and Crafts‘ seit 1888), so findet im Umkreis der internationalen ‚Art Nouveau‘ und der Sezessionen, der Abspaltungen von der offiziellen, staatlich gesteuerten Ästhetik, ein

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Anschluss an die industrielle Fertigung hochwertiger Güter statt. Damit richtet sich das ästhetische Leitbild erstmals dezidiert gegen die ästhetische Bevormundung durch den Staat und bloße Profitinteressen gegenüber der maschinisierten Produktionsgesellschaft durch den klassischen Kapitalismus. Design ist – seit dem entschiedenen Auseinanderbrechen der Industriegesellschaft in diverse Kulturen – nicht mehr ungebrochen Technik der Macht, sondern historischer, sensibilisierter Ausdruck der Krise der Macht, der mit bloßem Dekorum und ästhetischer Lüge nicht mehr beigestanden werden kann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgt der Übergang von der Gestaltungskritik am Industriezeitalter zum utopischen Entwurf einer Nutzung von Technologie und Industriekultur für das Design, zu jener ästhetisch wie sozial guten Form, die bis heute die Grundlage für die Bewertung des Verhältnisses von Form und Funktion darstellt. Gesamteuropäisch versuchten zahlreiche Bünde, wie zum Beispiel der ‚Dürerbund‘ (gegründet 1903), der ‚Bund Heimatschutz‘ (gegründet 1904) oder der ‚Deutsche Werkbund‘ (gegründet 1907), die Qualität des alten Handwerks in der Hinwendung zum Halbfabrikat und der Typenfabrikation zu modernisieren – allerdings unter gleichzeitiger Wahrung respektive konkurenzieller Stärkung eines ‚modernen‘ Nationalstils. Von diesen Impulsen geprägt wurde eine Generation von Gestaltern, die sich 1919 im ‚Staatlichen Bauhaus Weimar‘ zusammenschlossen. Das Bauhaus war – abgesehen von seiner spezifisch radikalisierten Fortsetzung in den 1950er-Jahren durch die anfänglich von Max Bill dirigierte Hochschule für Gestaltung in Ulm – die letzte Gründung eines Gestalterverbandes, der von einer, im Übrigen bis heute unerfüllten, sozialutopischen Gesamtkonzeption ausgegangen ist. Es ging dem Bauhaus in der Überwindung aller Grenzen zwischen freien und nützlichen Künsten um nichts weniger als um die Nutzung der entfalteten Technologien für die Befreiung der Gesellschaft von allen Herrschaftsverhältnissen. Die Konstruktion des modernen Lebens als einer geistigen Form vollzieht sich auf der Grundlage der Philosophie der Aufklärung. Ästhetik wird verstanden als Ästhetik der Lebensformen, das Funktionale konzipiert als soziale Erneuerung, die sich letztlich von jedem dinglich-materiellen Zwang, von jeder Verdinglichung befreit. Design als Aufhebung von Design – das ist die utopische Vorgabe für die letzten 20 Jahre einer, allerdings fatal verkürzten, Auseinandersetzung mit dem Funktionalismus. Zwar ist die Kritik am monokulturellen Zug der Moderne ebenso berechtigt wie die Entwicklung zahlreicher Designkonzepte ein Schritt der Befreiung. Der aktuelle, ‚postmodern‘ apostrophierte Dingkult unterschlägt allerdings eine Vielzahl von Designtheorien, die sich ohne Huldigung an Moden seit Längerem nicht mehr mit Produkten, sondern mit Regulierungssystemen der Gesellschaft im Ganzen beschäftigen. Die Hinwendung zu immateriellen und polykulturellen Gestaltungszusammenhängen, die Annäherung des Designs an Erkenntnistheorie, die Darstellung des kulturellen Zuwachses an Fiktionalisierungen – gipfelnd in den Versuchen der Erschaffung von künstlicher Intelligenz, der Programmierung kreativer Maschinen und den Adaptionstheorien des Lernverhaltens, die ästhetische Sachverhalte an die Imaginationsleistungen des Gehirns binden, wie William Ross-Ashbys Publikation Design for a Brain (in Verlängerung von Arbeiten Alan Turings und Norbert Wieners) bereits 1952 skizziert –, all diese Ten-

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denzen machen eine weitere, wesentliche und noch offene Gelenkstelle zwischen der bisherigen Geschichte der Designkonzeptionen und einem Zukunftskalkül in der sogenannten Kommunikationskultur aus. Der Konstruktionsgeist der Moderne ist nicht ornamentlos. Es geht ihm um den Ausdruck sozialer Formen, die den Funktionen des modernen Lebens gerecht werden können. Ästhetik ist die subtile, übersteigerte Formfindung für eine Kultur, deren Vision – wie sie von den Gestaltern des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist – bis heute eine unerfüllte Utopie geblieben ist. Die sozialutopische Vision hat ihr Hauptgewicht auf dem Aspekt der Befreiung des Geistes und des Bewusstseins. Krise der Macht und Technik der Macht – das sind die beiden Wesenselemente der Geschichte moderner Gestaltung. Auf welche Seite sich ein Gestalter begibt, hängt von seiner Moral ab. Ästhetik ist auch als eine Domäne der Ethik sichtbar und in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, von Wittgenstein bis Foucault, entsprechend behandelt worden. Ohne Zweifel kann man sagen, dass die Geschichte des modernen Designs tendenziell eher auf der Seite der Krise der Macht, also mitten in dieser steht und bemüht ist, als Kritik der Macht und der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zu wirken. Im Konkreten, Alltäglichen des Designerstudiums geht es um Folgendes. Gestaltung muss heute nicht nur Produkte und ‚Dienstleistungen‘ liefern, erst recht nicht bloß materielle Nützlichkeit. Sie hat einen berechtigten Anspruch, die Geschichte der Industrie und Kommunikationskultur auf ihre Weise zu erforschen, Bedeutungen und Wahrnehmungen zu analysieren und mit experimentellen, bis hin zu künstlerischen Methoden neue Umsetzungen vorzuschlagen. Design wird sich zunehmend auch mit Einbildungskraft und Visionärem befassen. Design kann heute nicht mehr in erster Linie auf die Herstellung von Produkten oder Propagandabildern für Produkte eingeschränkt werden. Gestaltung bezieht sich nicht mehr nur auf die materiell greifbaren Dinge. Gestaltung könnte auch darauf zielen: • Reglemente, Nutzungsgewohnheiten, veraltete Vorschriften und Gebrauchsweisen umzuformen; • Herstellungsweisen zu überdenken und andere Prozess­modelle vorzuschlagen; • noch unbemerkte Wahrnehmungsbedingungen und ­Wahrnehmungsweisen aufzugreifen. Jede Frage nach einem Gestalterleitbild setzt voraus, dass ‚naturwüchsige‘ Traditionen problematisch geworden oder zerbrochen sind. Sinn und Qualität können nicht in materiellen, bloß quantitativen Größen erfasst werden. Gestaltung als Formulierung eines Konzepts (für Gebrauch, Nutzung, Funktion, Ästhetik, System) hat zur Voraussetzung die Notwendigkeit, über die Probleme zu kommunizieren, das zur Lösung Aufgegebene unter Sinnaspekten zu interpretieren. Deshalb spielen für Gestaltung seit je neben funktionalen auch ästhetische und moralische Qualitäten eine herausragende Rolle. Unglücklicherweise ist durch die einseitige Einpassung der Gestaltung an den technisch-ökonomischen Produktionsprozess die funktionale Komponente

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überbetont und erst noch auf technische Nützlichkeitsaspekte verkürzt worden. Die ästhetischen, moralischen und funktionalen Qualitäten betreffen nicht nur Dinge, sondern auch Lebensformen. Gestaltung bezieht sich deshalb auf die gesamte Kultur und versucht, institutionell getrennte Bereiche an ihren Schnittstellen wahrzunehmen (Technologie, Forschung, Wissenschaft, Zivilisation, Alltagskultur, Kunst, Ökonomie, soziales Rollenverhalten, psychische Wirkungen). Weil Gestaltung von kommunikativer Qualität abhängig ist und nicht nur von dinglicher Qualität, braucht sie immer wieder Spielräume, Experimentierfelder. Da sie stärker als die reine, freie Forschung an der Erwartung gemessen wird, zukünftige Pro­ bleme zu erfassen und lösen zu können, bedarf sie auch einer entsprechenden Infrastruktur: Sie muss mit neuen, noch ungesicherten Methoden und Inhalten arbeiten, mit außergewöhnlichen Modellen vorgehen können. Gestaltung geht weder in Wissenschaft noch in Produktion oder Technologie auf. Weniger die Hoffnung, Gestaltung möge Instrumente zur Zukunftsbewältigung bereitstellen, als vielmehr die Tatsache, dass Gestaltung notwendig kritisch angelegt ist, muss heute als Gestalterleitbild, als Orientierung für die Auseinandersetzung mit praktischen und theoretischen Vorschlägen zugestanden werden. Gestaltung setzt an der kritischen Aufarbeitung aller Umsetzungsmodelle an. Da sie ein Medium für Kultur und Kommunikation ist, darf sie nicht in erster Linie an Effizienz in eingeschränkten, spezialisierten Teilbereichen gemessen werden. Sie muss immer auch daran gemessen werden, wie sie die Teilsysteme gedanklich und wahrnehmungsgemäß verbindet, wie sie Alternativen zu scheinbar plausiblen Lösungen mitbedenken und sich selber in den Bereichen reflektieren kann, in ­denen sie vorerst nicht erwartete oder berechenbare Auswirkungen, sogenannte unerwünschte Nebenfolgen, eintreten könnten. Aufgrund eines solchen Modelldenkens ist Design heute nicht nur ökologisch orientiert, sondern versteht sich als kritische Vorläufigkeit gegen alle vorgeblich endgültigen Lösungen. Design ist keine Paradiestechnik. Sie ist ein Gestaltungsvorschlag zum Verständnis von Sinn im Umgang mit Gütern und Erfahrungen in der spätindustriellen Gesamtgesellschaft, die sich – wenn man Soziologen Glauben schenken will – auf dem Weg zur Kommunikationsgesellschaft befindet. Daraus ergeben sich einige Forderungen an eine vorerst weder ausreichend existierende noch anerkannte Infrastruktur für die Ausbildung in Gestalterberufen. Gestaltung muss die Möglichkeit haben, • die Geschichte der Alltagskultur als Geschichte des Umgangs mit materiellen und immateriellen Nutzungen und Orientierungen mit eigenen Methoden, über die spezialisierten Disziplinen hinaus, zu erforschen; • die ökologische Vernetzung aller für Gestaltungsentscheide ­wesentlichen Faktoren aufzuarbeiten (das gilt nicht nur für die Ökologie der Stoffe, sondern auch die der Regulierungen, der ­Lebensform, der Bedürfnisse und des Bewusstseins);

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• Innovationen zu erschließen für die zukünftige Entwicklung bis hin zu ungesicherten utopischen Experimenten. Für die höhere Stufe der Gestalterausbildung ist deshalb die Beigliederung freier Forschungsinstitute unerlässlich. Sie widmen sich unter anderem dem bisher zu wenig ­Beachteten, dem Nicht-Funktionierenden, den vermeintlich bereits überwundenen Lösungsansätzen. Gestaltungsarbeit hängt deshalb auch davon ab, produktiv mit Krisen umgehen zu können. Ohne Zweifel, ohne Orientierungsprobleme wäre die Notwendigkeit konzeptueller Gestalterarbeit und Gestalterausbildung nicht gegeben. Gestaltung widmet sich speziell den Aspekten der Umsetzung und Vermittlung. Wie wohl kein zweiter Bereich hat Gestaltung mit den Problemen der Vermittlung von Theorie und Praxis, Ästhetik und Ethik, Wissen und Kreativität zu tun. Die Orientierungen, die Leitbilder, an denen Gestaltung immer wieder arbeitet, sind deshalb alles andere als Wegweiser ins Paradies. Gelingt ihr jedoch eine kritikfähige Orientierung, dann wohl nur in der Tradition der ästhetischen und moralischen Aufklärung mit ihren Werten: Gerechtigkeit, Mündigkeit, Bearbeitung der Missbeziehungen zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mensch, Gesellschaft und Kultur.

In Kerngedanken und erster Version geschrieben im Januar 1987 unter dem Titel „Zur Geschichte institu­ tioneller Gestalterausbildung – Gestaltungsleitbilder und Ansprüche an Gestaltung heute“ als bildungs­ politisch profilierte Selbstdarstellung der Höheren Schule für Gestaltung Basel, Abteilung Innenarchitektur, ­Produkt- und Raumgestaltung.

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Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, München 1986, S. 96 f.

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DESIGN, KUNST, STYLING – GESTALTUNGS­ VISIONEN UND KULTURKAMPF IN DER ÄSTHETIK VON LEBENSFORMEN IM 20. JAHRHUNDERT „Gott ist ja auch nichts anderes als ein Künstler. Er erfand die Giraffe, den Elefanten und die Katze. Genaugenommen hat er keinen Stil. Er versucht immer neue Dinge“, so, gelegentlich und dem Vernehmen nach, Pablo Picasso. Der Künstler und der Designer sind auch nichts als stillos, also Götter, Kreateure, Bildner von philosophischen Weltimplikationen und Zellteilungen? Wir, als stillose Betrachter, demnach ebenfalls Weltschöpfer, hemmungslose Agenten unserer Bildbegierden und Abgrenzungsneigungen? Gottschöpfungsvisionen sind Resultate von Machtkämpfen, Ästhetik eines ihrer wesentlichen strategischen Kampffelder, Styling ihre Behauptung, Kunst ihre Vergöttlichung und Design die Handhabung zugehöriger Lebensformen. Die Durchsetzung der Macht bricht sich demnach an allem, was nicht Kunst, nicht Design, nicht Styling ist: Leben, Lebensform, Kulturkampf gegen Gestaltungsvisionen und Totalitätsansprüche, die nichts weiter sind als: totalitäre Ansprüche. Und dies in jedem Fall. Damit wäre das Thema abgehakt und erledigt, ‚eigentlich‘. Zwei Dinge würden bloß stören: die Preisgabe des utopischen Erbes der Visionen gegen die Realität und die Notwendigkeit des Scheiterns der Utopismen an einer trägen, zähen Wirklichkeit des Normalen und das heißt: einer willkürlichen, im Grunde vermeidbaren Verweigerung. Ich frage an einem anderen Punkt nach: am Schnittpunkt von Traditionsbildung aus Ungleichzeitigkeit und Aneignung von Geschichte aus Aktualitätsdruck. Es gibt Probleme der Realität und Probleme der Geschichtsdarstellung. Und es gibt Problemlagen der Aktualisierungen: diktiert durch den Druck der Gegenwart, gebündelt in Interessenzusammenhängen und undurchschauten Neigungen, projiziert auf einen vorgeblich reinen, unbelehrbaren Bestand von Überlieferungen. Wiederum ein Feld von Stilisierungen und Behauptungen: die Äußerung von Bedeutung als Produkt bloßer Macht. Noch die letztbehauptete Gestaltungsvision unserer Zeit bezieht sich nicht auf die Arbeit an etwas Sachlichem oder wäre gar einer objektiv-realen Tendenz des befähigenden Wirklichen geschuldet, sondern bloß: auf jene vorgebliche Intensität der Gefühle, die doch nur das Mittel strategischer, ja: logistischer Anspruchs­ behauptung geworden ist. Die Bestimmungsgründe unseres Daseins liegen in Apparaten und der Automatisierung von Programmen, die längst nicht mehr von uns gestaltet werden, sondern uns bloß als Realisierungs- und Stellgrößen für ihren Selbstlauf noch brauchen. Alle Logistik, auch wenn sie scheinbar bloß ästhetisch erscheint, ist heute eine Logistik der automatisierten Kriegsführung im, wie Paul Virilio sagt, „reinen Zustand des Krieges“, d. h. in einem Krieg ohne wirkliche Kriegsführung auf dem Niveau jener bereitgestellten Apparate, die ihr Programm deshalb verwirklichen werden, weil jedes überhaupt ausgedachte und als Apparatur eingerichtete Programm sich irgendwann realisieren wird: Es kann sich stauen, es kann gestaut werden, aber seine Logik ist durchaus die terroristi-

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sche eines sicheren Ereignisses. Es ist eben niemals folgenlos, irgendetwas stringent zu denken. Wir leben heute in jenem ‚Zustand reinen Krieges‘, der zwar faktische Kriegsführung im technologisch großen Anwendungsstil verbietet, aber den Krieg in die Permanenz der Tötungs- und Vernichtungsvorbereitung vorverlegt. Und ihn damit, ganz anders und doch gleich, was die psychische Integration in die Permanenz des Schreckens anbetrifft, vorwegnimmt. Historisch neu ist nicht die Tatsache, dass Katastrophen, die in unsere Lebenswelt eingreifen, nur verständlich sind, wenn wir sie als Abfallprodukte einer solchen Ständigkeit vorverlegter Selbstvernichtungsrituale wahrnehmen. Historisch neu ist, dass diese Wahrnehmungen, die eindringlich, präzis, unerbittlich sein können, in der Realität nicht mehr greifen und sie demnach nicht mehr orientierend und eingreifend verändern können. Es scheint, als spiele das keine wirkliche Rolle mehr. Es scheint, als versorge sich der Schein und der Bedarf an Schein selber und von selbst. Die Sprache, die Darstellung, die Thematisierung mit welchen Mitteln auch immer: Sie beziehen sich bloß auf das Problem des Bedarfs an niveausichernder Zugehörigkeit, einer ästhetischen Innenausstattung der Salons der Macht und der Geltungssüchtigkeit ihrer Darstellungseliten. Die soziale Realität, die Wirklichkeit, wie sie ist, driftet dagegen und davon ab. Zwischen dem Unterbau eines missglückenden „Experiments Welt“ (Ernst Bloch), das in unbeschreiblicher physischer Gewalt degeneriert, und dem Oberbau einer sich logistisch selbst versorgenden Ästhetik von Eigendünkel und Wohlstandskitsch, zwischen diesen beiden Sphären breitet sich ein Vakuum aus, das an der Grundlage Wahrnehmung zu zerstören droht, weil es Differenzbeziehungen nicht mehr erlaubt. Beispiele? Obwohl wir wissen, zumindest wissen könnten, dass wir in der Schweiz – ‚wir‘ hier ungenau, grob und ungerichtet genommen – vom Völkermord in der dritten und dem anthropologischen Mord an der vierten, unserer eigenen sozialen Welt leben, richten wir uns ein in den Nischen der Tantiemen und Pfründe, der Konten und Rücksichtnahmen, der Bestätigungsrituale und Beschwörungsformeln. Wenn heute wirklich alles „von Inszenierungsstrategien geprägt“ ist und wir uns „eingebettet in eine neue Künstlichkeit“ finden, wie das Zürcher Museum für Gestaltung eine Vortragsreihe des vergangenen Wintersemesters einleitete, dann sind die Probleme von Künstlern und Designern, dann sind die Probleme der ästhetischen Aneignung des Wirklichen ebenso wenig ein Thema wie das Ringen um den Aufklärungswert der Dinge, die doch Ausdruck sein müssten einer wirklichen, menschlichen Solidarität in der Handlungsrichtung von Glück, Gerechtigkeit, Gleichheit, Versöhnung mit den Grundlagen des Lebens, Verschonung der Natur, Sittlichkeit des Politischen. Unser ökologisches Bewusstsein wächst: Nie sind derartig exponentielle Zuwachsraten des Verkaufs aus der Autoindustrie gemeldet worden. Unser Krisen­bewusstsein wächst: Unsere politische Abstinenz hält damit spielend Schritt. Gestaltungsbedingungen werden weiterhin an der Basis zerstört, das Privateigentum an Arbeit und Boden ist ebenso unantastbar wie die völlig widersinnige Koppelung von Arbeit an Lohn: Wir verzichten auf Mieterschutz und gesellschaftliche Kontrollen; wir verzichten auf die Abschaffung der Armee; wir verzichten auf Aneignung und Autonomie und jubeln stattdessen der immer wieder neu geborenen Kunstkunst von Kunstarchitekten zu, beispiels-

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weise. Welches ist denn der Punkt, der uns wirklich zur Auseinandersetzung mit Design zwingt? Was ist die Notwendigkeit von Kunst, wenn wir die meist öden, leeren und esoterischen Formulierungsversuche einer aussterbenden Gattung Mensch betrachten, die im Zoo der eigenständigen Individuen einen letzten herausragenden Platz behaupteter Zurückgebliebenheit einnehmen darf, der mit der Realität nichts mehr zu tun hat? Ist es der Gipfel abendländischer Ästhetik und Kunstleistung, dass Hans Hollein seine glanzvolle Ausstellung schwach-sinnig gleich über dem Eingang signiert und seinen öd luxurierenden Goldturnsaal ebenso ausstellt wie noch den schwächsten Einfall zu irgendeiner Art von Vasenform? Ist es mehr als unbemerkte Selbstdenunzierung, wenn die angestrengte sogenannte Postmoderne ihren Abschluss in mittelpubertären Zeichnungen weiblicher Gesäße findet, die in das Templum der Kunst zu Dutzenden ebenso aufgenommen werden ebenso wie, sage und schreibe, ‚signierte‘ Bierdeckelkritzeleien? Das vermag vielleicht den zu beeindrucken, der noch nie Berninis Verzückung der heiligen Theresa gesehen hat. In Wahrheit klar wird hier bloß, dass die trendbildenden, sogenannten Spitzenleistungen heutiger Baukunst nichts anderes bedeuten als die Suche nach jener sich andienenden Glätte, die jeglichem sozialen Impuls längst entraten ist, stolz auf den nächsten Museumsbau-Auftrag wartet – welch zeitgemäße Aufgabe! – und ansonsten mit der Pflege des Images beschäftigt ist. Eine erinnernde Betrachtung: Solange Bauten Problemdarstellungsgrößen eines Sozialverbandes gewesen sind; solange Design sich auf die mögliche Korrektur der Auswirkungen industrieller Massenproduktion und Entmündigung der Menschen bezogen hat, die ihrer Produktions- und damit Gestaltungsmittel beraubt worden sind; solange Kunst die Spannung einer die erste Natur ‚Mensch‘ zivilisatorisch bezwingenden Apparatur zu brechen suchte an Erfahrungen des anderen, der Wahrnehmung des Fremden, zielend auf Irritation und Verunsicherung; solange Architektur, Design und Kunst Modelle einer Ästhetik von Lebensformen gewesen sind, solange blieben und bleiben ihre Leistungen für kulturelle Erneuerung unverzichtbar. Aber das scheint Vergangenheit, wenigstens vorerst noch. Heute, da wir die Vergangenheit des Gegenwärtigen leben, herrscht ganz im Gegenteil die stilisierte Selbstbehauptung von Lebensformen als ­abgelöster Ästhetiken vor, die gerade nicht mehr aus der Spannung und Differenz zum Sozialen ihren Wert erhalten. Sie sind nicht mehr Wahrheit des als Schein erkannten Fiktiven, sondern behauptete Eigentlichkeit eines Scheins als des einzig Wahren. Das ist etwas ganz anderes als die Einsicht in die Notwendigkeit jener Funktionskritik, die das Vorgaukeln des Machbaren als Instrument eines abgehobenen Rationalismus zurückweisen will. Bauten soll man diskutieren, solange Bauen ein soziales Verständigungselement ist. Wenn Bauten aber nicht mehr Architekturen sind, sondern multiple Materialisierungen von Architekturzeitschriften, dann erübrigt sich Architekturkritik als Baukritik. Wenn Kunst in vorgeschobener Position zunehmend sich erschöpft in neuerfindenden Entdeckungsbemühungen gegenüber den Banalitäten, die wir alle schon begriffen haben, dann kann man die Erörterung der Kunst ihren Ausstellern, Propagandisten und dem Selbstlauf ihres Programmerfolgs überlassen. Der Erfolg der Kunst ist eben: ein

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­ rfolg; sein Geheimnis nur, dass wir all das bestätigt sehen, von dem wir Bestätigung erE sehnen. Wenn Design ein Medium der Erörterung sozialer Freiheit und der Befähigung dazu im komplexen Verhältnisgeflecht von Form und Sprache, Gebrauch und Bedeutung, Darstellung und Nutzung gewesen ist, dann hat Design eine zentrale Bedeutung für alles, was kulturelle Aneignung, d. h. Reichtum und Intensität in der Beziehung von Mensch und Natur bedeuten kann. Wenn Design aber immer mehr eine bloß merkwürdige Variante der modischen Kunstattitüden ist, die sich an Buntheit, an Animalisierung und irgendwelche Geschmacksdiktate oder an vage Stilsehnsüchte anschließen, dann erübrigt Design Designkritik ebenso wie Kunst Kunstkritik erübrigt, wenn Kunst die bereits bekannten Banalitäten wiederholt: Kunst und Design lassen ihre Wahrnehmung leerlaufen. Wenn Karl Kraus in seiner Dritten Walpurgisnacht schreibt: „Zu Hitler fällt mir nichts ein“, dann genau dieses Effektes wegen. Es gibt eine Art ritueller Selbstbehauptung, die eigentlich auf ihre eigene ironische Überwindung und Selbstenttarnung hinausliefe. Wird sie aber mit einem Pathos vorgetragen, das die Ironie durch die Faszination von Macht wieder vernebelt, dann gibt es den ideologiekritischen Standort als Möglichkeit von Enthüllung nicht mehr. Heute liegen, dies die Kontinuität unseres Beispiels, die Dinge so, dass die Vernebelung deshalb funktioniert, weil alles in hemmungsloser Direktheit sich ausspricht. Antwortet Herr Blocher in einem Interview mit dem Satz: „Wir haben ein wunderbares Volk in der Schweiz“, dann bleibt, so weit sind die selbstverständlichen Unverständnisse gediehen, eine Nachfrage seitens des Redaktors aus. Geschuldet einer Deutlichkeit, in der elementare, hier sprachliche Mechanismen nicht einmal mehr wahrgenommen werden. Wenn Sprache aber noch in differenzierender Spannungskraft zum Realen stünde, nämlich: Erkenntnisleistungen aufbewahrte, dann bliebe wohl doch zu fragen: „Herr Blocher, wie meinen Sie das? Was heißt denn hier ‚haben‘? Sie meinen offenbar nicht eine Aussage wie: ‚Wir empfinden uns als stolzen Teil eines stolzen Volkes‘; oder: ‚Wir als Schweizer Volk haben wichtige friedensstiftende, Rassenhass und Unterdrückung überwindende weltpolitische Aufgaben‘; oder gar, nun schon mit einigem Pathos vorgetragen: ‚Wir Schweizer sind ein wunderbares Volk‘. Nein, Sie sagen: ‚Wir haben ein wunderbares Volk‘. Was kann gegen die im Äußern bereits verschwindende Genauigkeit der Aussage noch an verdeckten Haltungen aufgearbeitet werden, wenn die Verflüchtigung die Wahrheit in die bloße Oberfläche zwingt?“ Herr Blocher hat genau an der Oberfläche recht. Leute seines Schlages ‚haben‘ das Volk, sie ‚sind‘ keineswegs einfacher, demokratischer, gleichwertiger Bestandteil eines Ganzen, ‚Volk‘ genannt. Das ‚haben‘ enthüllt es: Es gibt Haber und Gehabte, es gibt ein Volk und seine Herren, die diesseits der Kontenverwaltung und jenseits jeglicher Belangbarkeit sich wähnen. Das Volk, unterhalb des Besitzstandes, der zur intimen Privatsphäre gehört, ist und wird gehabt. Eine der vielen Paraphrasen auf das unsterbliche Untertanentum. Eine nur vermeintlich bloß politische Paraphrase. Stehen diese Dinge im Designbereich wirklich anders? Es wäre so einfach und entlastend, zu sagen: Aber wir, die Designer und Architekten, die Ehrlichen und Gutformenden, die Visionäre und Engagierten, wir, die ästhetischen Volkserzieher und Kitschbekämpfer, wir Kulturführer und Reformhelden, wir Heranbringer und Heraufkommende

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eines neuen, des endlich menschlichen, des erlöst-erlösenden Lebens, wir Brüderschaft des Geistes, Menschheitsbildner der wahren Formen und Gültigkeiten, der Bezüge und Letztbegründungen, wir also, so behaupten wir einfach, setzen uns ab vom Elend, indem wir glaubhaft Treu und Redlichkeit beanspruchen in unseren Solidarbezeugungen gegen die böse Macht, die böse Politik, die böse Ökonomie. Nochmals eine Geistigkeit und deren Kathedrale, diesmal Kathedrale des Sozialismus? Abgesehen davon, dass diese Vision der klassischen Moderne heute von der Faszination gerade umgekehrt für das Böse an Politik, Macht und Ökonomie und der Kathedrale ästhetisch überhöhter Hemmungslosigkeit im Zugriff auf die Schaltzentren der Macht abgelöst worden ist, abgesehen von dieser ‚Postmoderne‘ genannten historischen Klamotte: Reicht eine solche Abgrenzung aus, kann das so einfach sein? Die Wirklichkeit ist komplexer, wohl auch betrüblicher. Für die Themenvorgabe dieser Tagung ‚Kunst und Gestaltung‘ ist, epochal, der Hinweis auf das Zentenar Le Corbusiers gegeben worden. Die Rezeption von Le Corbusier ist ein guter Beleg dafür, dass Design in keiner Weise sich den hier umrissenen Modellen der Selbstvergessenheit durch bloße Unschuldsbehauptungen entziehen kann. Eine der Wahrheit angemessene Aufarbeitung Le Corbusiers steht nämlich nach wie vor aus. Denn Aufarbeiten heißt doch wohl: etwas kritisch und nicht bloß äußeren Anmutungsreizen, immanenten Selbstbeanspruchungsweisen und abstrakten Werkqualitäten nach zu würdigen. In einer kürzlich durchgeführten Diskussion zu Le Corbusier im Schweizer Fernsehen war keiner der Redner bereit, aus eigenen Stücken auch nur ein Argument ‚gegen‘ den doch immerhin massiven Gestaltungs- und Wirkungsanspruch von Le Corbusier vorzutragen. Der Moderator musste die Gesprächspartner richtiggehend zwingen, wenigstens verschämt Le Corbusiers bewusstes Ignorieren eines sozialen, autonomistischen Ansatzes in Gestaltungsfragen, eines kommunikativen und basisdemokratischen Prinzips von Designerörterung zuzugeben und als ‚mögliche‘ Schwäche zu interpretieren. Solange also auch Designer eine mögliche, allerdings immer eher beschwerlich zu erarbeitende, geistige Mündigkeit lustvoll verleugnen, indem sie ihr Gestaltungscredo ans bloße Untertanentum gegenüber vermeintlich abgesicherten Jahrhundertefiguren und Gestaltungshelden abgeben, lässt sich eine wirkliche soziale und politische Öffentlichkeit in Wahrnehmungsfragen von Gestaltung weiterhin bloß fordern. Sie existiert noch nicht. Die aktuelle Gier nach Vergötterung unreflektierter Modelle kann man verstehen als präventive Abwehr einer autonomen Ästhetik sozialer Befreiung, die unter dem Zugriff ökonomischer Bedarfsgrößen nun auch ästhetisch als veraltet denunziert wird. Das ist der politische Kern der Schrumpfung von Kunst und Design zum Styling der ästhetischen Innenausstattung und libidinösen Verkleidung von Macht, das wir heute von so vielen Seiten vorgefeiert bekommen. Was im politischen Leben allerdings meist noch der Pression bedarf, funktioniert gegenüber Leitfiguren wie Le Corbusier als ganz normale, bereits eingeschliffene Selbstentmündigung. Man muss sich aber doch endlich daran machen, Le Corbusier als eine der im furchtbarsten Sinne prägenden Figuren dieses Jahrhunderts zu analysieren: in seinem Handlungs- und Geltungsanspruch nichts anderes als ein Albert Speer für Modernisten, was auch den einfachen Wechsel der Fas-

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zinationsverteilung auf solche Projektionsfiguren erklärt, wie jüngst wieder Leon Krier eindrücklich und wohl unbewusst belegt. Solange Architektur und Design dem sinnlichen Reiz der Formen, dem subjektiven Geschmack von Formmustern oder willkürlichen geometrischen Abstraktionen wertbildend sich unterwerfen, bleibt noch die vorgeblich radikalste soziale Befreiungsarbeit im Gestaltungszusammenhang ein der Vision totalitärer Macht verhaftetes Anspruchsmodell. Liest man die Schriften der Klassiker der Architektur- und DesignModerne, dann drängt sich als Fazit auf: Es sind gerade diese Modernen, die vor den Kriterien der Selbstreflexion von Erkenntnis-, Handlungs- und Gestaltungsansprüchen vollkommen versagen. Sie kehren zu einer kritisch längst überholten Ontologie, zum Jargon des Eigentlichen zurück; sie unterlaufen die notwendige Selbstbeschränkung des Erkenntnis- und Handlungsanspruchs, wie sie die Geschichte des modernen Denkens als Krise einer bloß fragmentarisch noch möglichen Erfahrung erzwungen hat. Gegenüber Le Corbusier und dem Bauhaus als den maßgeblichen Programmvisionen und Utopisten erscheint selbst ein oft und zu Recht des Totalitarismus verdächtigter Denker wie G. W. F. Hegel beinahe schon als kritischer Kopf. Es hilft nichts, wenn es auch etwas zu scharf gesagt erscheint: Im Designbereich gibt es heute bloß Prätentionen beliebiger Herkunft. Diese Prätentionen sind genauso interessant, maßgeblich oder wichtig wie die Prätentionen irgendeines der 6–7 Milliarden Individuen auf unserem Planeten. Sie sind insofern überhaupt keiner gesonderten Beachtung wert. Wiederum zugespitzt: Es gibt keine Freude über eine Überwindung der Krise eines funktionalistischen oder postfunktionalistischen oder irgendeines anderen Designs, weil es eine so fundamentale Krise des Designs gar noch nie gegeben hat. Heute gibt es sie weniger denn je. Allerdings wünsche ich uns diese Krise. Denn erst durch sie würden Erkenntniskritik, Selbstrelativierung und das Überwinden einer auf Tod und Glanz eingeschworenen Macht möglich. Die Bedingungen der Möglichkeit dieser Selbstbegrenzung muss für Design erst noch entwickelt werden. ‚Gegen‘ heutiges Design und ‚im‘ Geist der Moderne: Es wird kein Vorwärts möglich ohne Zurück zu einer Programmatik der Selbstkritik, wie sie die Philosophie Immanuel Kants umrissen hat. Im Zerfall des Prinzipiellen und im Abschied vom Eigentlichen, d. h. Doktrinären und Totalen, Übergreifenden und Apodiktischen, Unumstößlichen und Selbstgewissen scheint aber auch nicht das Pathos der Krise auf, sondern die stillere Möglichkeit einer beharrenden, rettenden Kritik. In einer kurzen Zusammenfassung: Die aktuelle Designeuphorie lebt nicht von einer Missachtung der modernen Gestaltung allein, sondern von einer erneuerten Ästhetisierung des Lebens, das von der sozialen Realität abgekoppelt wird. Strategisch tritt diese neo-barocke Ästhetik in Kunst, Design, Architektur und Weltbild-Diskurs mit Vergöttlichungsstrategien in eine eigentliche Kampfphase. Gottschöpfungsvisionen sind Resultate von Machtkämpfen, Ästhetik eines ihrer wesentlichen strategischen Kampffelder, Styling ihre Behauptung, Kunst ihre Vergöttlichung und Design die Handhabung zugehöriger Lebensformen. Gegen diese Durchsetzung der Macht steht alles, was nicht Design oder Styling ist: Leben, Lebensform, Kulturkampf. Angesagt ist heute in jedem Fall im Großbereich der politischen Situation eine Aufarbeitung der sozialen Innovations-

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kraft konzeptioneller Gestaltungstätigkeit: Kontinuität der Arbeit an Aufklärung, was ohne eine wie immer schmerzvoll wirkende Selbstaufklärung nicht geht.

ZUSAMMENFASSUNG Die aktuelle Designeuphorie lebt nicht von einer Missachtung der modernen Gestaltung allein, sondern von einer erneuerten Ästhetisierung des Lebens, das von der sozialen Realität abgekoppelt wird. Strategisch tritt diese neo-barocke Ästhetik in Kunst, Design, Architektur und Weltbild-Diskurs mit Vergöttlichungsstrategien in eine eigentliche Kampfphase. Gottschöpfungsvisionen sind Resultate von Machtkämpfen, Ästhetik eines ihrer wesentlichen strategischen Kampffelder, Styling ihre Behauptung, Kunst ihre Vergöttlichung und Design die Handhabung zugehöriger Lebensformen. Gegen diese Durchsetzung der Macht steht alles, was nicht Design oder Styling ist: Leben, Lebensform, Kulturkampf. Angesagt ist heute in jedem Fall im Großbereich der politischen Situation eine Aufarbeitung der sozialen Innovationskraft konzeptioneller Gestaltungs­ tätigkeit: Kontinuität der Arbeit an Aufklärung.

RIASSUNTO L’attuale euforia del «design» non vive soltanto dello spregio délia creazione moderna, ma anche di un rinnovamento dell’estetismo délia vita che viene sganciato dalla realtà sociale. Strategicamente questa estética neobarocca nell’arte, nel «design», nell’architettura e nel dibattito délia concezione del mondo con Strategie di «deifica- zione» entra in una propria faso di lotta. Vision! délia creazione di Dio sono risultati di lotte per il potere, l’estetica uno dei suoi campi di battaglia strategic! essenziali, «styling» la loro affermazione, l’arte la loro deificazione o «design» l’applicazione di modi di vita attinen- ti. Contro questa costrizione del potere si trova tutto ciö che non è «design» o «styling»: vita, modo di vita, «Kulturkampf». Oggi, nell’ambito esteso della situazione política, è annunciate in ogni caso un disbrigo della forza innovativa sociale d’attività creativa concezionale: continuité della campagna informativa.

RÉSUMÉ L’actuelle euphorie de design ne vit pas seulement du mépris pour l’aménagement moderne mais d’une esthétisation renouvelée de la vie détachée de la réalité sociale. Cette esthétique néo-baroque dans l’art, le design, l’architecture et le discours de la conception du monde entre, avec des stratégies de déification, dans la phase d’un véritable

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combat. Les visions de créations divines sont le résultat de luttes pour le pouvoir, l’esthétique un de leurs champs de bataille stratégiques essentiels, le styling leur affirmation, l’art leur déification et le design la manipulation des formes de vie qui leur sont propres. Contre cette puissance s’oppose tout ce qui ne relève pas du design ou du styling: la vie elle-même, la forme de vie, la lutte culturelle. Indiquée est en tout cas dans la situation politique globale d’aujourd’hui une augmentation de la force innovatrice sociale émanant de l’activité créatrice conceptionnelle: la continuation du travail d’éclaircissement.

SUMMARY The current design euphoria does not only build on a disregard for modern design but also on a renewed aestheticism of life which is detached from social reality. The neo-baroque aestheticism in art, design, architecture and different philosophies of life enters into a veritable struggle with the strategies of deification. The vision of divine creation is the result of struggles for power, aesthetics one of its essential strategic battlefields, styling its allegation, art its deification, and design the handling of pertinent ways of life. Anything that is not design or styling opposes this force: life, lifestyle, cultural struggle. In today’s global political situation an improvement of the social innovation force emanating from the conceptual creativity is necessary: the continuation of the work of elucidation.

Erstpublikation unter dem Titel „Design, Kunst, Styling: Gestaltungsvisionen und Kulturkampf in der ­ sthetik von Lebensformen im 20. Jahrhundert“. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunst­ Ä geschichte – ZAK 45/88/Heft 1, Zürich 1988, basierend auf einem Vortrag vom 8. November 1987 an der Schweizer Kunsthistoriker Tagung im Kunsthaus Zürich.

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INDUSTRIEKULTUR UND WARENPROPAGANDA – WERBUNG FÜR MARKENARTIKEL SEIT 1850 Urbane Texte und Texturen Am 10. Januar 1775 schreibt Georg Christoph Lichtenberg – es ist sein zweiter EnglandAufenthalt und er blickt auf Cheapside und Fleetstreet, Banken- und Zeitungszentrum der Metropole – an Ernst Gottfried Baldinger: „Dem ungewöhnten Auge scheint dies alles ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nötig, alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen Sie still, Bums ! läuft ein Packträger wider Sie an und ruft by Your leave wenn Sie schön auf der Erde liegen. In der Mitte der Straße rollt Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen und Karrn hinter Karrn. Durch dieses Getöse, und das Sumsen und Geräusch von Tausenden von Zungen und Füssen, hören Sie das Geläute von Kirchtürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leiern und Tambourinen englischer Savoyarden und das Heulen derer, die an den Ecken der Gasse unter freiem Himmel Kaltes und Warmes feil haben. […] Ehe Sie es sich versehen, nimmt Sie ein schönes, niedlich angekleidetes Mädchen bei der Hand: come, my Lord, come along, let us drink a glass together, or I’ll go with You if You please; dann passiert ein Unglück 40 Schritte vor Ihnen […] Zwischendurch hören Sie vielleicht einmal ein Geschrei von Hunderten auf einmal, als wenn ein Feuer auskäme oder ein Haus einfiele […] Wo es breiter wird, da läuft alles, niemand sieht aus, als wenn er spazieren ginge oder observierte, sondern alles scheint zu einem Sterbenden gerufen. Das ist Cheapside und Fleetstreet an einem Dezemberabend“1 (Lichtenberg, Briefe, S. 211 f.). 1840 hat Edgar Allan Poe in Der Massenmensch dem städtischen Blick, dem zerstreuten Flaneur, dem urbanen Chaos der Neuzeit ein erstes Denkmal von ethnologischem Rang gesetzt. Er portraitiert dort den modernen Großstadtmenschen, verdammt zur Einsamkeit, ohne Einsamkeit ertragen zu können, er portaitiert ihn als den schuldbeladenen Massenmenschen. Und er portraitiert den modernen Voyeur, der sich, Spielball dessen, was um ihn und mit ihm geschieht, vorbehaltlos von den Ereignissen bestimmen lässt, den Beobachter an sich selbst, der immer auf dem Sprung ist, sich an allem zu interessieren, was er nicht ist. Schon bei Lichtenberg findet sich – dort möglicherweise zum ersten Mal – die Lust am Flüchtigen. Lichtenberg gibt den Gesichtspunkt einer literarischen Schilderung im überlieferten Sinne auf. Er geht breit und leidenschaftlich auf die niedrige Lebenssphäre ein. Er versucht, seine Sinne für eine Erfahrung zu schärfen, für deren Wahrnehmung sie noch keine Technik entwickelt haben. Sein Briefstil wird experimentell: detailreiche Anschaulichkeit, Zusammenschießen verschiedenster Beobachtungspartikel, ein Hin-und-Her-Springen, eine stets neu vorgeschlagene Kombination von Sinnesfetzen. Der literarische Text ist wie ein Auge, das zugleich in die verschiedensten Richtungen blickt. Gerade das Einschieben der aufgeschnappten Redewendungen, Anreden, Ausrufe, Gerüchte macht die Technik modern im Sinne einer literarischen Montage und einer raschen Schnittfolge von auditiven und visuellen Sequenzen. Gäbe es Außenwer-

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bung, so würde sie – wie später bei den Kubisten und ihren Materialcollagen – als zusätzliche Form laut ins Auge springen. Es gab sie noch nicht. Aber es gab das Auge, und es ist, wie Lichtenberg richtig sagt, ungeübt. Noch lange ist das Auge in diesem Sinne ungeübt geblieben. Carl Einstein führt im Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders 1906 viele Passagen ein, in denen er Gestalten von Litfaßsäulen als Personen beschreibt, die keinem Grenzschutz gegenüber einer realistischen, also typisierenden und reduzierenden, vor Reizüberbeanspruchungen schützenden Wahrnehmung ausgesetzt sind. Bebuquin, betrunken, wütend, mit Hetären und Phantasmen unterwegs, er will der Sonne in den Bauch treten, erschrickt, ein Brillant kommt ins Spiel, Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, nur von der Frauengestalt wird weiter berichtet: „Die Hetäre zog alleine weiter. Man ließ sie unbenutzt stehen, sie spannte ihren pfaufarbenen Schirm auf, sprang wild ein paarmal in die Höhe, dann fügte sie sich in die Fläche einer Litfaßsäule. Sie war nur ein Plakat gewesen für die neueröffnete Animierkneipe ‚Essay‘.“2 In den 1920er-Jahren nehmen Schriftsteller wie Walter Serner und Pitigrilli den luxurierenden Reiz einer nicht mehr kohärent zu organisierenden Wahrnehmungswelt auf und zersetzen die Vorstellung vom fest gefügten Rahmen für identifizierbare Ereignisse, für ein der Identität mächtiges Subjekt. DaDa hält Einzug und passt die Sprache an die moderne urbane Umwelt an: eine Non-Sense-Mischung, die sämtliche literarische Quellen in den Strudel einer restlos entfesselten Slogan- und Werbewelt hineinzieht. Karl Kraus nutzt die querlesende Montage als Form einer Sprachkritik, in der sich das kollektive Unbewusste ständig seiner Fehler überführen lassen muss. Alfred Döblin befreit schließlich 1930 in Berlin Alexanderplatz die eingesprengten Realitätspartikel, die ohne Filter und Kontrolle auf das städtische Sensorium eindringen, vom literarischen Formzwang und schiebt während des Schreibens am Roman immer wieder Sätze aus eben Gelesenem ein: Slogans, Presse, Werbung. Es ist der Blick, der hier an sich selber ein visuelles soziales Training ausübt.

Modellierung der Sinne, verstärkte visuelle Reize, Primat des Auges Das Auge ist solches noch ungewohnt. Es ist von Natur aus solchem nicht per se gewachsen. Die neue Situation setzt ein entwickeltes gesellschaftlich motiviertes Training voraus, das zu absolvieren sich die Menschen erst anschicken in dieser kulturell neuen Lage. Der Augensinn ist ein komplexes Organ gesellschaftlicher Sinnbildung. Zahlreiche literarische Zeugnisse von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre – grob gesagt bis zum ‚Surrealismus‘ - leben von der Konfrontation des städtischen Wahrnehmungsraumes mit dem Modell von Selbstbewusstsein und der Ordnung des Wahrnehmungsvermögens. Joris-Karl Husymans entwirft in À rebours (1884) die Figur des Grafen des Esseintes, der sich in seine Villa zurückzieht und nur noch Bilder betrachtet, seine Langeweile und ein sich stetig entleeren wollendes Selbst kultiviert. Paul Valéry verändert und perfektioniert das Modell mit seinem Monsieur Teste, der überhaupt nicht mehr als personale, festgefügte Identität fassbar wird, der ortlos den alten

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Idealen einer letztlich romantisch Subjektivität abschwört. Auch der junge Louis Aragon schließt in einer Erzählung aus Libertinage, betitelt „Madame steigt in ihren Turm hinauf“, an diese Tradition an. Matisse, eine junge Frau, hat ihre Wohnung gänzlich mit Reklameerzeugnissen gefüllt. Plakate statt Tapeten, Reklame statt Philosophie, die Lust an der Verführbarkeit statt des Pathos der Erkenntnis, so lässt sich Matisse beleben durch die kommerziellen Tätigkeiten des Menschen. „Welch ein Zauber, ein Luxustier zu sein, welch ein Zauber, einfach da zu sein: sie schließt die Augen und schnurrt vor sich hin. Oder aber sie hat sich ganz dem Mobiliar angepasst, wenn die Beleuchtung ein bestimmtes Plakat auf Kosten eines anderen begünstigt, gerät Matisse in Verzweiflung und schwört, dass dieses MENETEKEL PHARES eines Apothekers die Lüge ausruft; sie löscht das Licht, wechselt die Glühbirne gegen eine andere farbige aus, die die grelle Reklame grau macht, und triumphiert wie ein glücklicher Industrieller beim Erfolg seines Lieblingsprodukts, seiner jüngsten Saltrate. Manchmal wiederum starrt sie auf die Wandinschriften, um die Buchstaben einen phantastischen Reigen tanzen zu sehen. Tanz des R und des O. Scheidung des I und des Punktes.“3 Das ungewohnte Auge wird zum Konzentrationspunkt einer multimedialen Beschreibung von außen. Das ist das besondere Städtische, und das ist das besondere Problem der Erklärung des ungeheuren Schubes, den die Organisation des städtischen Lebens bis in die Mikrostruktur des individuellen Hirns des Städters in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein erfahren hat. Neue literarische Techniken, die Zerstückelung der Sprache, die Konfrontation von Natur aus unverträglichen Materials, der innere Fluss der Assoziationen, die ständige Ergriffenheit durch äußere Anreize wurden mit neuen urbanen Erfahrungen gekoppelt: Massenelend auf der einen, prunkvoll inszenierter Reichtum auf der anderen Seite, der Triumph des Bürgertums, die Entfesselung von neuen Produktivkräften, Technologien und Erfindungen, die Einrichtung der Städte zu Metropolen des Warenumsatzes. Umgekehrt wirken viele künstlerische und kulturelle Erneuerungen auf den Stil und die Art, mit denen die neue Realität inter­ pretiert wird. Folgenreich wird die Aufspaltung der Künste in dokumentierend-abbildende Fotografie und experimentell-formalisierende bildende Kunst. Der Gedanke der Formung der Städte zu Metropolen ist wichtig: Die Metropolen enthalten nicht nur neue Massenmedien, sie werden selber zum Massenmedium: zum öffentlichen und totalen Warentheater. Die Kapitalen sind definiert durch ihre Fähigkeit, die Kauflust, Luxus und Verschwendung anzuheizen. Das enge Verhältnis von Metropole und Massenmedien, die immer stärkere Durchsetzung des städtischen Lebens mit visuellen Darstellungstechniken führt zu einer Veränderung nicht nur des inneren Gefüges der Metropolen, sondern auch der Art und Weise, wie sie wahrgenommen und interpretiert werden. Die Orte von Luxus und Verschwendung, von Armut und Elend, sind auch Orte, in denen die maschinisierte Produktion in den Reichtum ästhetischer Warenkörper umschlägt. Die Stadt gleicht immer mehr einer riesigen Maschinerie zur Versorgung verschiedenster ­Lebensformen, und als solche wird sie zu einer technischen Leistung höchsten Ranges. Literarisch wurde das Faszinosum einer gigantischen anonymen Lebensversorgungstechnik früh erspürt und in unverstellter Begeisterung vielleicht am deutlichsten durch das erste

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Manifest des Futurismus, 1909, ausgesprochen: „Wir werden die arbeitbewegten Menschen, das Vergnügen, die Empörung singen, die vielfarbigen, die vieltönigen Brandungen der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; die nächtlichen Vibrationen der Arsenale und Zimmerplätze unter ihren heftigen, elektrischen Monden; die gefrässigen Bahnhöfe voller rauchender Schlangen; die durch ihre Rauchfäden an die Wolken gehängten Fabriken; die gymnastisch hüpfenden Brücken über der Messerschmiede der sonnendurchflimmernden Flüsse; die abenteuerlichen Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen stampfen wie riesige, mit langen Röhren gezügelte Stahlrosse, und den gleitenden Flug der Aeroplane, deren Schraube knattert wie eine im Wind wehende Fahne und die klatscht wie eine beifallstobende Menge.“4 Die Futuristen – im wesentlichen Marinetti, Boccioni, Carrà, Sant’Elia – formulieren nicht allein eine ideologisch motivierte Absage an die gesamte Tradition und die Überlieferung der Geschichte. Sie artikulieren am deutlichsten den Triumph der Technik in vordem menschlicher, freier Subjektivität vorbehaltenen Lebensbereichen. Und sie motivieren ihr Plädoyer für die Technik mit dem entscheidenden Hinweis auf die übermenschliche Reizproduktion der ‚kakophonischen‘, modernen Großstadt. Erst jetzt entstehe der wirkliche moderne, der urbane Mensch, der sich nicht mehr als Subjekt, sondern als Element der Technik verstehe. Und zum urbanen Menschen gehört die Möglichkeit, dass er die schwarzromantischen, die dekadenten, die destruktiven Seiten ausleben kann. Mit dieser Auffassung von der Metropole beginnt der ständige, hochpolitische Kampf um die Prinzipien der Ordnung des städtischen Lebens. Die Nationalsozialisten wollten auch hier radikale, den unkontrollierbaren und undisziplinierten Sumpf der Großstädte militärisch zu einer Ordnung der überschaubaren Serie umbauen. Nicht zufällig wandten sie sich gegen diejenigen Literaten, welche die Zerstörtheit des modernen Menschen nicht preisgeben wollten: die Expressionisten. Der Expressionist Bauermeister schreibt im zweiten Ziel-Jahrbuch 1918: „Nein, und wären die Großstädte arm, elende Hungerlöcher, Herde von Pest und Gestank, nur hier, ja gerade hier, könnte der Geist ergluten, an ihrer Not würde sich seine Flamme hochzünden, Schutt und Qual verbrennend, um Raum für das Paradies zu schaffen.“5 Ein Paradies für Nachtschwärmer und Schattenwesen, lichtscheue Romantiker und Arbeitsverweigerer, Asoziale und Saboteure. In einer Metropole zu leben bedeutet: Asozialität zu trainieren. Solche Asozialität war auch das bewusste Programm vom Ende der Kunst, welches der Dadaismus im kurzen Schub von 1917 bis 1920 durchgespielt hat. „Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben, und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagssprache und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird.“6 Die expressionistischen Schriftsteller feierten die Stadt als Lebensweise schlechthin. Die Spannungen, Drohungen, Gefahren, Verlockungen der Stadt geben ihr die Realität e­ ines Pandämoniums, hinter dem, aber nur vielleicht, die Hölle lauert und das eher Laboratorium für die stetige Konstruktion des modernen, genusssüchtigen Menschen

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ist denn ein moralischer Lehrpfad zum berechtigten Glück. Im Gegenteil: Glück und Lebensgier spielen in den Grauzonen, werden selber Akte einer Illegitimität, werden Raub- und Strandgut. Es wimmelt nur so von faszinierter Gemeinheit in den poetischen Städtebildern jener Zeit, und das heißt für die Mitte des 19. Jahrhunderts (Paris) und für die Nachkriegszeit (Berlin): Vorstadt, Kaschemmen, Spelunken, Abfall, Gärungen, Wunden, Narben, Verstümmelungen, Vorstädte, Fabriken, Bordelle, Asyle, Irrenhäuser, Bahnhöfe, Straßen, Cafés, Variétés. 1919 schreibt Klabund über Georg Heym: „Der dämonische Naturbursche Georg Heym machte dann mit der neuen Dichtung ernst. Er krempelt sich dazu die Hemdsärmel auf: wie ein Riese schritt er über die Dächer und zwischen den Straßen Berlins, und alles dies: Mensch, Trambahn, Mond, Spelunkenspuk war ihm wie Riesenspielzeug, die Stadt wurde ihm zur Landschaft, Berg wurde Haus.“ Bei Heinrich Mann steht, Berlin sei die ungeheure Menschenwerkstatt schlechthin. Die Stadt wird zum Naturereignis, die literarischen Mittel passen sich in ihrer naturalistischen Drastik an. Die ungeheuren Zuwanderungen und Umschichtungen, die Ausdehnung, das chaotische Stadtbild, die Masse, Monotonie und Unruhe zugleich, Luxus und Elend sind die antreibenden Motive, die von den Literaten affektiv besetzt werden. Johannes R. Becher schreibt im Gedicht „De profundis IÏI“: „Singe mein trunkenstes Loblied auf euch ihr großen, ihr rauschenden Städte. / Trägt euer schmerzhaft verworren, unruhig Mal doch mein eigen Gesicht! / Zerrüttet wie ihr, rüttelnd an rasselnder Kette. / Glänzende Glorie, seltsamst verwoben aus Licht und Nacht du, die meine zerrissene Stirn umflicht / Und doch: singe mein trunkenstes Loblied / auf euch ihr großen, / ihr rauschenden Städte! / Von euch verdorben. / In euch verirrt. / Von euch verführt. / Doch sterbend vom Schein himmlischen Lichtes berührt.“7 Elias Canetti erinnert sich 1976: „Eines Tages kam mir der Gedanke, dass die Welt nicht mehr so darzustellen war wie in früheren Romanen, sozusagen vom Standpunkt eines Schriftstellers aus. Die Welt war zerfallen, und nur wenn man den Mut hatte, sie in ihrer Zerfallenheit zu zeigen, war es noch möglich, eine wahrhafte Vorstellung von ihr zu geben.“8 Der ‚eine Tag‘, den Canetti erwähnt, ist ein Tag im Berlin der 1920er-Jahre. Unter den vielen formalen Experimenten, mit denen die Lebenswelt der Metropole direkt, nicht als literarische Form, sondern als Abbildung ihrer realen Zerrissenheit, zur Sprache kommt, ragen die Simultan- und Tempogedichte von Walter Mehring heraus. 1922 erscheint sein Band Wedding-Montmartre Darin heißt es: „Metropolis / Das ist die Welt / Von Sous-Paris, / Die Tout-Paris / In Atem hält, / Die Menschen schluckt / Und Züge spuckt / Durch die couloirs / – zum Geld? Ici! / „La Boures“ – La Vie! / Et „Grands Boulevards“ … / Sie öffnet rund / Affichenschlund! / C’est le goût américain / Et attention! / Changez de train! / Prenez le Métro / Prenez le Métro / C’est le plus beau / le plus beau du monde / Dansons la ronde / la ronde du Métro.“ Die Stadt wird zum neuen Schauplatz des modernen Bewusstseins, die Metro­pole erscheint exemplarisch und beispielgebend zugleich. Ulysses von James Joyce, Manhattan Transfer von John Dos Passos werden zu mythischen Werken, aus dem Inneren der Städte im Kopf geschrieben – Ströme von Bewusstsein in Sprachbildern, die wie die lauteste Werbung im Hirn dröhnen.

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Amoralität der Moderne, Anonymität der Metropolen – Baudelaire und Paris, neben anderem 1926 dreht einer in Berlin den Film der Metropolen schlechthin, einen Film, angeregt durch die äußere Gestalt von Manhattan: Fritz Lang, Metropolis. Alles wird mit allem zusammen montierbar, alles verweist auf anderes, die Realität wird zum Zitat ihrer Darstellung. Montagen und De-Montagen lösen sich ab. Der erste und vollendetste lyrische Physiognomiker der ersten modernen Metropole, zugleich der erste, der das Training der Asozialität als städtischer Voyeur ernst nimmt, ist Charles Baudelaire, der durch eine meisterhafte Übersetzung auch Edgar Allan Poe bekannt gemacht hat. Vor allem in seinen Fleurs du Mal von 1861 tauchen die seltsamsten städtischen Geschöpfe und Gerüche, Geräusche und Gebilde auf. Es ist eine Lyrik der Ortlosigkeit, eine Sprache, die Tages- und Nachtzeiten nicht mehr voneinander unterscheidet. Die Stadt selber wird zum poetischen Subjekt, und ihre Poesie ist nicht mehr dem schönen Schein, sondern der Erfahrungsgleichheit von Gut und Böse, Schön und Hässlich, verpflichtet. ‚Die Sonne‘: „Will durch die Vorstadt mit verfallnen Häusern ziehn, / Wo Wollust sich verbirgt im Schutz der Jalousien,  / Wenn Sonne grausam sengend uns mit Hitze schlägt, / Die sich auf Städte, Felder, Dächer, Saaten legt, / Und dort mein wunderliches Fechthandwerk ausführen, / In jedem Winkel glücklich einen Reim aufspüren, / Über die Worte wie übers Pflaster holpern, / Zuweilen an schon lang erträumte Verse stolpern/.“ Für Baudelaire wird Dichten zur Fechtkunst: immer auf Sichtnähe zu den ihn überfallenden Eindrücken. Die Stadt – in ‚Morgendämmerung‘ – wird zu einem Subjekt, das ‚sein Werkzeug voller Fleiß‘ packt und ‚sich seine Augen als ein emsiger Greis‘ reibt. Der Abend – in ‚Abenddämmerung‘ – wird begrüßt als „Freund des Liederlichen / Er kommt wie ein Komplize wölfisch leis geschlichen; / Der Himmel zieht sich sacht wie ein Alkoven zu, / Die Menschen werden Bestien und finden keine Ruh./“9 Dämonen erwachen hämisch in der Luft, Prostitution entzündet sich in allen Gassen, Feinde unterlaufen die Stadt, es gibt nur noch die geheimen Wege, der Mensch wird zum Opfer seiner selbst. Theater, Spiele, Vergnügen, Huren, Gauner, Diebe ohne Ruh – die Nacht greift nach dem Hals, Tod geht um. Der Mensch ist ohne Heim, und doch voller Gier nach Heimatlosigkeit. Der Dichter ist der asoziale Beobachter, Stadtindianer und Flaneur zugleich. In Spleen drückt Baudelaire die Intensität der Stadt als stetige Aktualität alles Geschichtlichen aus: „Ich habe mehr Erinnerung als zählt ich tausend Jahre.“ Meist ist diese Erinnerung tapeziert mit einem Gemisch intensiver (orientalisch geprägter) Gerüche und von Verwesung: Tod als Schicksal, Preis und Freund zugleich. Es ist ein neuer, städtischer Blick auf die Schönheit. Schön ist, was vergänglich ist, schön ist, woraus gelernt werden kann, worum es dem neuen Bewusstsein zu tun ist: die letzte und nicht nur letztlich, sondern schon erstlich unmoralische Intensität des sich verzehrenden Lebens; ständige Entgrenzung. ‚Hymne an die Schönheit‘: „Kommst du vom Himmel, Schönheit, oder aus den Tiefen? / Gibst gute Taten und Verbrechen ein, / Die deine Blicke höllischgöttlich riefen /… Ich seh dich achtlos über Leichen schreiten; / Zu deinem Schmuck gehört auch das Entsetzen; /“10 Dieses Entsetzen ist längst nicht mehr der mittelalterliche Tugendterror eines Bosch oder Grünewald, nicht mehr Erschaudern ob den Freveln, mit

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denen die Vorstellung sich belastet, um die Visionen vom Paradies sich zu verdienen. Es ist das Entsetzen als Medium der Wahrnehmung überhaupt. Der Schock, nicht mehr die Kontemplation, die Straße, nicht mehr die Kirche sind Ausdrucksweisen und Orte der Sammlung, Diffusion, nicht mehr Konzentration bildet die Form der Erkenntnis. Die Straße schafft Himmel und Hölle ab, weil sie das Pandämonium darstellt. Dass die Stadt zur Gebärerin allen denkbaren Entsetzens wird, ist nicht Metapher, sondern ein von der Generation der Baudelaire, Gautier, Courbet, Daumier gefeiertes Ereignis der modernen Welt und gibt zumindest die damalige Beobachtungsgabe und Auffassung von den sinnlichen Reizen wieder, die ein Durchgang durch Straßen und Winkel allemal bietet. Innerhalb kürzester Zeit ändern sich nicht nur die Häuser und Straßen, sondern auch die Waren und Menschen. Im Gleichklang des vermeintlich totalen industriellen Triumphes – 1855 gibt es in Paris die zweite Weltausstellung für industrielle Produkte und Produktionstechnologien (die erste fand 1851 in London statt) – spielt sich eine Veränderung der Inszenierung der Körper ab. Der Körper der Waren, deren Materie zur Grundlage für beliebige Erscheinungsbilder und ästhetische Anreizungen wird. Der Körper der Menschen, deren materielle Objektivität zum Kalkül der Selbstinszenierung wird, die den alten Bestand moralisch gefestigter Identifikation abgelöst hat, tauchen doch, gerade als neuartiger Anreiz, käufliche Figuren gerade im Gewand des Flaneurs auf; die Kurtisanen und Dirnen erobern die Bereiche, in denen sie nichts zu suchen hatten; es sind neue Bereiche der Warendarstellung und -zirkulation: In den Ladenstraßen der Passagen sind offensichtlich die neuen Kurtisanen nicht mehr ohne Weiteres identifizierbar. Unter anderen Waren fallen sie nicht auf. Aber gerade sie – im neuen, distanzierten Verhältnis zwischen einem physikalischen Kern des Körpers und einer darumgelegten disponiblen Hülle – sind es, die für einen so geschulten und allem Neuen hemmungs- und bedingungslos sich ausliefernden Betrachter zum eigentlichen Synonym werden für das Antlitz der Stadt im Ganzen, für die neue Verschmelzung der Begeisterung für Waren mit der Freigabe des subjektiven Lebens, der Möglichkeiten eines subversiven und wölfischen Außenseitertums, der Erotisierung des Blicks zwischen anonymen, flüchtigen und immer schneller aneinander vorbeiziehenden Passanten und der Zersetzung der Öffentlichkeit im Ganzen. In À une passante setzt Baudelaire nicht einer neuen gesellschaftlichen Figur, sondern anhand ihres Vorkommens einem neuen, neu geschulten, gesellschaftlich vermittelten Blick und dem entsprechenden Augentraining ein sentimentales und erkenntnistheoretisches, gesellschaftliches und geschichtsphilosophisches Denkmal zugleich. „Der Straßenlärm betäubend zu mir drang. / In tiefer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft, / Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft / Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang; / Anmutig, wie gemeißelt war das Bein. /Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht, / Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht, / Sog Süße, die betört, und Lust, die tötet, ein. / Ein Blitz … dann Nacht – Du Schöne, mir verloren, / Durch deren Blick ich jählings neu geboren, / Werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn? / Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn? / Da du mich ließest und ich dir entschwand, / O dich hätt ich geliebt, o du hast es geahnt!“11 Es herrschen vor die Flüchtigkeit, das Vergängliche, das ätzend klare Bewusstsein von der Hinfälligkeit alles Existierenden

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gegenüber dem einen, substanziellen, nie festhaltbaren Augenblick. Es ist das Bewusstsein von der neuen Funktion des Auges, das die Neuheit des Sehens ermöglicht und sie auf alles Bekannte ausdehnt, bis kein Blick mehr sieht, was einfach ist, es sei denn allein, was neu erscheint, weil es neu gelesen wird. Das ist das trainierte Auge, das im urbanen Leben sich entzündet. Es ist dieses Auge, welches Vorbedingung ist aller Warenästhetik, erst recht aller Werbung. Ohne den Zusammenhang der Stadt als Massenmedium mit diesem differenzierten Organ wird weder die moderne Kunst noch die Intensität der modernen Massenpsychologie und Massenwerbemittel verständlich. Werbung findet statt in der Metropole und dringt ein ins Auge. Sie findet dieses Organ, weil die Metropole über das Sehen andere Bezüge zur Erinnerung erzwingt und weil das Organ Auge über das Sehen hinausreicht und zu einem Organisationsprinzip der Metropole selber wird.

Ende der Aristokratie, Bürgertum im Aufwind Die Epoche der Verstädterung, des Entstehens gigantischer Agglomerationen ist der historische Ort des organisierten Bürgertums, das mit dem Triumph der Industrialisierung die politischen Funktionen zentralisiert und deshalb – panoptisch, vermittelt über die Kanalisierung des Blicks durch die Schönheit der Waren – auch die Städte beherrscht. Das Bürgertum übernimmt die Möglichkeiten der Repräsentation im Stil der Aristokratie und greift auf deren Themen zurück: Stadtwohnung und Sommerresidenz außerhalb, Villa und Garten, Gewächshaus und Landschaftsgarten. Es gibt gerade in Deutschland auch den umgekehrten Vorgang: Die Aristokratie versucht sich, bürgerlichen Machtbezeugungen anzuschließen. Auf Veranlassung des Prinzen von Preussen finden 1845 bis 1847 regelmäßige Corsofahrten im Tiergarten statt. Die Beteiligung an diesen Fahrten in Berlin soll, nach den Zeugnissen, die von Königswald (1938) gesammelt hat, außerordentlich gewesen sein. Blumengeschmückte Equipagen in mehreren Reihen, eine öffentliche Repräsentation des alten und des neuen Adels, des Adels des Geschlechts und des Adels der Eigenarbeit, eine historisch signalisierte Vereinigung einer Herrschaft, die sich zeitgemäß den Blicken der Öffentlichkeit stellt und die auch den Blick der Betrachter auf den städtischen Ort lenkt, der durchfahren wird mit der Geste des Besitzers, der seinen stolzen Garten zeigt: Das Königspaar, Prinz und Fürstlichkeiten, Minister und Generäle, berühmte Gelehrte und Offiziere, Mitglieder der Akademie und der Königlichen Hoftheater paradierten gemeinsam vor dichtem Publikum. Das ist aber nur der letzte Schein des repräsentierten Adels gewesen. Die bürgerliche Revolution von 1848 hat solchen Unternehmen ein prinzipielles Ende bereitet: Die bürgerliche Selbstdarstellung monarchischer Macht entsprach, trotz Kontinuität des Obrigkeitsstaates – wovon Heinrich Manns Der Untertan von 1918 spricht – nicht mehr den realen Machtverhältnissen. Das Bürgertum begann, und das in ganz anderem Ausmaß, ins Gesicht der Städte einzugreifen. Die Faszination am Blick, der das Antlitz der Stadt erschließt, gilt in dieser Zeit vor allem Paris. In Paris konzentriert sich das kulturelle Potenzial dieser ganzen ­Epoche.

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In Paris entsteht die Modernität, formuliert unter anderem durch Arthur Rimbauds Slogan: „Il faut absolument être moderne.“ In Paris entstehen die neuen Warentempel, die Passagen, in Paris entsteht die kapitalisierte Ware als perfektioniertes Erscheinungsbild, in Paris entstehen Formen, Techniken und Inhalte der Warenpropaganda, des Designs und der Reklame. Und in Paris findet der sich modern wähnende und wollende Künstler seinen Raum für Asozialität, seinen Ort bewusster Entgrenzung. In Paris entsteht das Bild vom modernen Künstler als realer Lebenszusammenhang, es entsteht die künstlerische Entbindung vom ideologischen Auftrag, die Möglichkeit, Kunst als Fluchtort wie Grenze ästhetischer Authentizität, als hervorstechende Expression auch ideologie- und sozialkritisch einzusetzen. Vorerst im Rahmen der Dialektik des Bürgertums, das nun mit den Folgen seiner historischen Errungenschaften konfrontiert wird: den Kosten der Arbeitsgesellschaft, den Auswirkungen der Technologie, der nun auch anders genützten freien publizistischen Öffentlichkeit, auch wenn zwischen 1812 und 1875 immer wieder auf Zensurmaßnahmen zurückgegriffen wird. In der ‚Leipziger Illustrirten Zeitung‘ ­erscheint 1847/48 eine anonyme Beschreibung der Boulevards von Paris, neu herausge­geben vom Panorama-Forscher S. Öttermann.

Das Paris von Haussmann, strategische Modernisierung Das ist eine der letzten historischen Möglichkeiten, das alte Paris noch zu sehen. Am 2. Dezember 1851 setzt der Staatsstreich von Louis Napoleon und seine eigene Ausrufung zum Kaiser der jungen Republik von 1848 ein abruptes Ende. Paradox brach erst jetzt der ungehemmte Einfluss von Militärs und Börsenleuten durch. Die Herrschaft wurde autoritär verstärkt. Auf Kosten des Kleinbürgertums und der Arbeiter wurde ein wirtschaftlicher Aufschwung durchgesetzt, der inhaltlich zusammenfällt mit dem Durchbruch zu einer modernistischen Lebensweise mit all den Anzeichen, die wir von heute für spezifisch großstädtisch halten. Das Tempo steigert sich, die Hektik der Moderne nimmt ihren Anfang. Die typischen Wandlungen des täglichen Lebens in der Haupt-Stadt des Second Empire, die Veränderungen der Gewohnheiten und der Wahrnehmung finden einen architektonischen Ausdruck, der die Motive bürgerlicher Herrschaft, zentralisierter Blickrichtungen, kapitalisierter Produktion, gesteigerten Konsums mit dem ganzen historischen Pathos einer ungebrochen tätigen Produktionsmacht auf das alte Paris prallen lässt. Es schlägt die Stunde des Baron Georges-Eugène Haussmann (1809–1891), des entscheidenden Stadtgestalters der Moderne und in dem Sinne auch einer der wenigen, die tatsächlich mit großem Erfolg die ästhetischen Fähigkeiten der Menschen grundlegend kanalisiert und umgeleitet haben. Eine Mischung zwischen Ingenieur und Mythologe, Architekt und Utopiker, verliebt in die zentralistischen Ordnungsutopien der Renaissancephilosophen und -architekten (Campanella, Filarete), wird er von Napoleon III. zum Präfekten des Seine-Departements ernannt. In seinen Memoiren erinnert er sich an einen Tag im Juni 1853: „Seine Majestät der Kaiser hatte Eile, mir einen Plan von Paris zu zeigen, auf dem er eigenhändig mit

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blauen, roten, grünen oder gelben Strichen, je nach ihrer Dringlichkeit, die neuen Straßenzüge eingezeichnet hat, die er anlegen lassen wollte.“12 2000 Jahre mehr oder minder ‚natürlich‘ gewachsene – meint: in sorgfältiger Überwachung bezüglich ihrer Grenzparameter strikt kontrollierte –Architektur sollen nun einem möglichst strikten Zugriff auf eine zentralisierende moderne Metropole weichen. Neben ästhetischen und sozialen Gründen spielen die strategischen die Hauptrolle: Neue, breite, asphaltierte Straßen sollen verhindern, dass ein Barrikadenbau von Aufständischen möglich ist, wie er 1830 und 1848 den Ordnungskräften außerordentliche Schwierigkeiten und Paris zu einer besetzbaren Stadt hat werden lassen. 1871, beim Commune-Aufstand, stellt sich her­aus, dass das neue Prinzip dieser ersten modernen Stadtplanung zu Recht mit militärischer Logistik und absoluter Herrschaft verknüpft worden ist: Der Straßendurchbruch hat das Gelingen einer Besetzung verhindert. Auf den breiten Straßen hatte das Militär keine Konkurrenz. Die Anlage schnurgerader Prachtstraßen war verkehrstechnisch und strategisch auf der Höhe der Zeit. Von sternförmig angelegten Plätzen sollten ausgedehnte Boulevards in alle Richtungen ausstrahlen: Étoile und Trocadéro im Westen, Place de la Bastille und Place de la Nation im Osten, Achsen wie die von Rue Lafayette / Rue d’Allemagne, denen ganze Viertel geopfert wurden. Die Haussmannisierung, die einen Funktionswandel der seit 1760 in Mode gekommenen Boulevards bewirkte, war ein autoritär durchgesetztes Ordnungsmodell für die propagierten Erfordernisse der Zeit und damit vor allem für die Umrüstung des alten, verwinkelten Paris zu einem, dem Warenverkehr förderlichen, weiträumig angelegten Gebilde. Außerdem wurde damit eine Umsiedlung der wohlhabenderen Familien von Ost nach West erzwungen und eine soziale Segregation durchgesetzt. In drei Bauwellen – 1860–70, 1880–84, 1901–13 – entstand in der Gegend der Concorde und der Champs ­Elysées ein neues Paris, ein Luxusviertel, etwas monoton, aber weiträumig. Glanzstück der damaligen Schöpfung: die Avenue de l’Impératrice, heute Avenue Foch, eine 120 Meter breite Prachtstraße vom Triumphbogen zum neuen Attraktionsort des Westens, zum Bois de Boulogne. Zola und später Proust beschreiben, wie zu Beginn der Saison sich auf Promenaden und Reitwegen des Parkes die kritische Musterung der Damen- und Herrenmode abspielt. Im Zuge von Haussmanns Stadtplanung wurden 25 000 Gebäude abgerissen. 40 000 Neubauten werden errichtet, mit deutlicher Tendenz zum Westen der Stadt. Um 1860 wurden die Außenbezirke eingemeindet. Da die Neubaumieten für die Werktätigen zu hoch waren, wanderten sie in den Norden der Stadt ab. Das hat die Distanzen zum Arbeitsplatz vergrößert. Emile Zola schildert am Anfang des Romans Die Schnapsbude (1876), wie „im morgendlichen Dröhnen von Paris der ununterbrochene Strom von Männern, Zugtieren, Karren von den Höhen des Montmartre und der Chappelle ins Zentrum hineinflutet. Es war ein nicht enden wollender Durchmarsch von Werktätigen, die mit ihren Geräten auf der Schulter und dem Brotlaib unter dem Arm zu ihrer Arbeitsstätte gingen; dieses Gewimmel drängte sich in die Pariser Straßen, wo es sich verteilte.“ Die Überbevölkerung des nördlichen Ostens der Stadt begünstigte das Entstehen von Elendsvierteln. Auf der anderen Seite wurden der neuen Stadtplanung durch Haussmann Monumentalbauten – teils Renovationen, teils Neubauten – zur Seite gestellt: das neue Handels-

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gericht, die Oper ‚Palais Garnier‘, ein propagiertes Nationaldenkmal im Stil ‚Napoléon III‘, das größte Schauspielhaus des 19. Jahrhunderts. Schließlich werden Nutzbauten

als dritte Maßnahme des gigantischen Face-Liftings errichtet: fünf neue Brücken und v. a. die ­Vergrößerung der zu klein angelegten Endstationen der Eisenbahnlinien, gefeiert als die eisernen Kathedralen des modernen Zeitalters, gemalt im Sinne des beschönigenden Optimismus der Gründerjahre von Claude Monet. Unentschieden, ob die Stadterneuerung die Bevölkerungsexplosion der Metropolen erst ermöglicht oder ob umgekehrt die Stadtplanung auf die gesamtgesellschaftliche Umschichtung, das Einwandern der verarmten Landarbeiter und Handwerker antwortet: In jedem Falle wachsen von 1825 bis 1850 und weiter bis 1900 die Metropolen in einem unvorstellbaren Ausmaße. Und zwar weltweit: New York von 170 000 auf 680 000 und 4,2 Mio., London von 1,3 Mio. auf 2,3 Mio. und 6,4 Mio., Paris von 855 000 auf 1,3 Mio. und 3,3 Mio., Berlin von 220 000 auf 440 000 und 2,4 Mio.13 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts explodieren die Städte mit einem Faktor ‚mal‘ 6 (New York und Berlin), ‚mal‘ 4 ½ (London), ‚mal‘ 3 (Paris). Und Paris wähnt sich, damals nicht ganz zu Unrecht, in Permanenz als das kulturelle Zentrum der modernen Welt. Walter Benjamin, der ein nichtvollendetes Lebenswerk – erst 1982 als Fragmentsammlung erschienen: Das Passagenwerk – dieser Metropole des 19. Jahrhunderts widmete, der entlang er die Urgeschichte der Moderne schildern wollte, weist darauf hin, dass das perspektivische Ideal des Durchblicks durch Straßenfluchten zwei Seiten hat, die dann in der Präsentation der Warenwelt und den vielen Eisen-Glas-Konstruktionen einen Ausdruck fanden: die Neigung zu technischen Großprojekten und die Tendenz, technische Notwendigkeiten künstlerisch zu veredeln. So seien während der Haussmannisierung ganze Straßenzüge wie früher Herrscherdenkmäler enthüllt und eingeweiht worden. Der wirtschaftliche Aufschwung begünstigt Spekulationen. Die Spiele um und mit Geld, vor allem das Börsenspiel, werden zu Vorgängen eines bürgerlich-rationalen Abenteuers, das untergründig die lustvolle Anarchie eines schrankenlosen Egoismus gesellschaftsfähig macht. Haussmann versucht, Paris unter ein Ausnahmeregime zu stellen. 1864 bringt er in einer Rede vor der Kammer einen unbändigen Hass gegen die wurzellose Großstadtbevölkerung zum Ausdruck. Er will Ordnung gegen ein unüberschaubares Chaos durchsetzen. Es handelt sich hier um einen veritablen Kampf, nicht nur eine ‚Maßnahme‘. Dass er mit Überschaubarkeit zu tun hat, meint nicht eine Metapher: Die Kontrolle des angeleiteten Sehens wird wichtig, gilt doch eine immer stärkere und genauere Kalkulation mit der Zeit als ökonomische Überlebensbedingung. Der durchgängig triebgesteuerte, alles besetzende Hass von Haussmann gegen das Chaos motiviert ihn, historischer Nostalgie zu entraten und ein Paris zu schaffen, das die Unmenschlichkeit der metro­ politanen Lebensweise mit der Unmenschlichkeit einer synthetisch geschaffenen Ordnung bekämpfen soll. Er nennt sich selbst ‚artiste démolisseur‘. Und dem haben auch die alten Boulevards zu weichen. Nach 1760 bilden die Boulevards mit den Promenaden, Cafés, den Vergnügungsgärten und Theatern eine neue Öffentlichkeitsform, die stärker als früher auf soziale Inszenierungen hin angelegt ist. Mit der Zeit bevölkerte bis spät in die Nacht eine ungeheure Menschenmenge die Boulevards, ein stetiges, aber noch kein hektisches Auf und Ab herrschte, ein Hin und Her. Arbeiter, Gecken, B ­ lumenmädchen,

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jede Menge Damen jeglicher Art, Limonadeverkäufer, zahlreiche, öfter auffallend unpassend gekleidete Touristen, Gaukler und Schausteller. Seit 1820 verkehren Pferdeomnibusse. Natürlich gibt es Trubel und Geschäftigkeit, aber die Boulevards sind in erster Linie noch Orte des Müßiggangs, und die Kunst des extrem verlangsamten Flanierens – Gegenbild zum lauernden Voyeur und hektischen Geschäftsmannes der späteren Jahrzehnte – geht bewusst an gegen das Getriebe der Großstadt. Der Flaneur ist eine Kunstfigur, eine Konstruktion, die mit der ganz anderen, technischen Konstruktion der Passagen eng verbunden ist, im Übrigen aber empirisch niemals existiert hat.14 Der Flaneur tut noch so, als sei das ganze Geschehen ein Spektakel, das nur zur Befriedigung seiner Schaulust in Szene gesetzt wird. Ermüdet der Blick am Gewühl auf den Boulevards, so kann der Flaneur beiseite treten und in einer der Passagen die kunstvoll arrangierten Auslagen der Mode-, Galanterie- und Luxuswarenhändler würdigen. Der Blick des Flaneurs macht aus Menschen und Waren gleicherweise Darstellungskörper. Er liest das Geschehen wie eine Rhetorik visueller Oberflächendarstellung. 1856 ist es mit diesem Müßiggang vorbei. Die Haussmannisierung entzieht ihm den gesellschaftlichen Ort wie dem, was er sieht, den realen städtischen Raum. Die Grands Boulevards werden als städtische Verkehrsadern ausgeformt und ausgerichtet, die großen Plätze unterbrechen die gesellschaftliche Intimität des Flanierens. Dem Flaneur droht, unter die Räder zu geraten. Es ist nicht einfach, die Übersicht über die offeneren und verdeckteren Zusammenhänge zwischen vielen neuen Erscheinungen und Einrichtungen sich zu verschaffen, die wiederum in einem Hinweissystem stehen zur wesentlichen Umgestaltung des alten Paris zur Metropole. Walter Benjamin hat in einigen Arbeiten versucht, eine solche Übersicht in enger assoziierender Verbindung noch mit entlegenen Vorkommnissen auszubreiten. Seine Darstellung von Paris ist vom Interesse geleitet, in der Aktualität eines anonymen Vorgangs zugleich die Traumreste einer realen Urgeschichte des modernen Lebens aufzuspüren. Neben erkenntnistheoretischen, kulturellen, geschichtsphilosophischen und Interessen der Massenpsychologie räumt er den neuen visuellen Techniken von Fotografie, Warenpräsentation und Reklame einen großen Stellenwert ein. Und wieder spielt der Dichter Charles Baudelaire die Rolle eines historischen Augenund Gedächtniszeugen. An seinen Gedichten – wie im erheblich späteren Romanzyklus von Marcel Proust – untersucht Benjamin die Frage, wie die Veränderung am individuellen Blick als Umwälzung des gesamten menschlichen Sinnenvermögens verstanden werden kann. Er sieht in der Entwicklung zur Metropole und als eines ihrer wesentlichen Elemente das, unter anderem von Sigmund Freud genauer untersuchte, Auseinandertreten von Gedächtnis und Erinnerung am Werk. Die Erinnerung zersetzt die Schutzfunktion des Gedächtnisses. Das kollektive Bewusstsein wandelt sich in dieser Zeit und beginnt immer mehr, mit Choks zu rechnen. Es enthält immer weniger Gedächtnisspuren und immer mehr Anreizungsmaterial durch Erlebnisse und Eindrücke.15 Das Chokerlebnis wird immer mehr zur Norm und zum Raster, in denen Erfahrungsmaterial geordnet wird. Baudelaires Sensibilisierung für Blicke, seine Bestimmung der Wortkunst als Fechthandwerk zeigen, wie stark er die Veränderung der Wahrnehmung, die stetige Beschleunigung des Ereignistempos als soziale Erlebniswelten versteht. Entscheidend für die historische Tendenz in der Veränderung der Wahrneh-

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mungsweisen ist die Ablösung der Erfahrung durch das Erlebnis. „Je größer der Anteil des Chokmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewusstsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muss, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses.“16 Die historisch unvergleichliche Rolle Baudelaires besteht nach Benjamin darin, dass dieser die Chokerfahrung ins Zentrum seiner artistischen Arbeit stellt. Der Chok als Darstellungsmedium des Bewusstseins prallt im Paris des 19. Jahrhunderts auf die großstädtische Masse. Sie ist amorph: Menge der Passanten. Die Erscheinung, welche den Großstädter fasziniert, ist die Faszination an den Geschehnissen, die unkontrollierbar aus der Menge entstehen. Der Rhythmus beschleunigt sich, die Wahrnehmung wird überreizt, die Erlebnisse legen sich in Choks auseinander. Par­ allel dazu wird das Arbeitstempo durch die Maschinerie der Fabrik immer mehr beschleunigt. Es gibt eine Reihe von Neuerungen, „die das eine gemeinsam haben, eine vielgliedrige Ablaufsreihe mit einem abrupten Handgriff auszulösen“17: das Streichholz, Telefonautomat, das Knipsen von Fotografien. Aber auch der städtische Verkehr zwingt dazu, die Bewegungen als eine Folge von Choks und Kollisionen zu berechnen. Dazu bedarf es eines Bewusstseins, das nicht mit der Bildung von verarbeitender Erinnerung belastet ist. Aber auch die Aufmachung hervorgehobener Inseratenteile in Zeitungen gehört dazu. Die Art von Hinweisen und Reklamen trägt dem Rechnung: pointierter, präziser, knapper, schneller. „So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chokförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde.“18 Es beginnt die entscheidende Epoche der Mechanisierung aller Lebensbereiche (Giedion). Und mit der Mechanisierung wird auch das vermeintlich chaotische Durcheinander in den Metropolen zu einem immer stärkeren Produkt eines umfassenden Trainings. Das Verhältnis von Wildheit und Ordnung, von Entgrenzung und kontrollierender Beobachtung wird immer stärker auf den Pol der Organisation, Automatisierung und Ordnung verlegt. Schon Edgar Allan Poe hat im erwähnten Massenmenschen den freischwärmenden Beobachter als eine Art Automaten geschildert. In den interessantesten und frühesten Großstadtgemälden, denen von James Ensor, tritt neben die Masken als Symbole der amorphen Menge, ja auch: der Menge im Individuum selbst die Ordnungsmacht: Militär und Polizei. Maske und Uniform bilden ein zivilisatorisches Ergänzungsverhältnis im Raum der Metropole.

Passagen, Fetisch Ware, soziale Traumsphären, Moderne im ­Halbschlaf Die Pariser Passagen, deren technische Konstruktion gegen Ende des Jahrhunderts im ­Eiffelturm einen endgültigen, monumentalen, einen Jahrhunderttraum realisierenden Ausdruck findet, entstehen ab 1822 als Handelszentren für Luxuswaren. Sie werden neu präsentiert und immer stärker Objekte einer träumenden und träumerischen Ästhetik, in

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der die Dinge als Botschaften erscheinen. Nichts bündelt die sozialen, ästhetischen, wahrnehmungsmäßigen und warenproduzierenden Veränderungen der Metropole so sehr wie die Pariser Weltausstellungen. „Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware.“19 Nationale Ausstellungen der Industrie gibt es in Frankreich zwar bereits seit 1798. Aber die Industrialisierung des Zeigens von Industriegütern – Produkten und Produktionsmitteln – ist etwas, das ohne die geschilderten Vorgänge nicht denkbar ist. „Die Weltaussstellungen verklären den Tauschwert der Waren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem der Gebrauchswert zurücktritt. Sie eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen. Die Vergnügungsindustrie erleichtert ihm das, indem sie ihn auf die Höhe der Ware hebt.“20 Ausstellungswesen und Reklame gehen eine enge Verbindung ein. Benjamin sieht eine Vorahnung der universalen Werbesprache, einer kosmischen Manipulation im Werk des Jean Ignace Grandville, der z. B. in Un autre monde von 1844 die Dinge als Fetische, als maschinisierte menschliche Automaten in der Gestalt von Objekten über den ganzen Kosmos ausdehnt. „Die Inthronisierung der Ware und der sie umgebende Glanz der Zerstreuung ist das geheime Thema von Grandvilles Kunst.“21 Reklame, Verfügbarmachen der Dinge, ihre Einpassung in die Slogans der Werbung für sie – der gesamte Bereich der Güter und die hinter ihnen stehende, in ihnen verschwindende Organisation der produktiven Tätigkeiten wird ritualisiert. Die Sprache der Dinge, die Zeichen ihrer Darstellung, die Sprache der Menschen in der Öffentlichkeit, die Ausdrücke ihres Verhaltens, ihre Selbstinszenierungen werden rituelle Organisationen, werden zur Mode. „Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch Ware verehrt sein will.“22 Grandville habe als Erster dargestellt, dass der Fetischismus den Lebensnerv der Mode ausmache und dass man das als Sex-Appeal des Anorganischen verstehen müsse. Die rituelle Dimension ist es, die Benjamin motiviert, vom Ineinanderverwobensein von Moderne und Urgeschichte zu sprechen. Die rationalste Konstruktionsform der zeittypischen Erscheinungen wird zu einem archaischen, rituellen Akt. Die Ware wirkt durch eine unberührbare Verehrung, mit der ein gesellschaftlich koordinierter Blick sich ihren Versprechungen und Lockungen verschworen hat. Die Ware als Fetisch wird zum Bild. Die Passagen sind solche Bilder, ebenso die Häuser und Straßen. Die Faszination ist modern und urgeschichtlich, unbegriffen zugleich. Das macht den dialektischen Charakter der öffentlichen Erscheinungen aus. Das Bild wird zum Traumbild, das Träumerische zum Bann, dem man folgt, und das gesamte 19. Jahrhundert, als Moderne konzentriert, wird zu einem Zeit-Traum. Es ist ein kollektives Unbewusstes, das den Ursprung des Scheins hervorbringt. Das erklärt den Zuwachs in den Bereichen von Mode und Reklame, den schubartigen Durchbruch neuer Bildertechniken wie die der Fotografie. Die Zunahme des Verkehrswesens entwertet die öffentliche Wirksamkeit der älteren Kunst der Malerei. Die Fotografie beginnt, massenwirksame Inszenierungen und Formen zu erproben. Die bildende Kunst beginnt, sich vom Dokumentarismus zu befreien und zweifelt an sich selber. Ihr Ausweg ist bekannt: Sie verschwört sich bedingungslos dem jeweils Neuesten. Ihr Avantgardismus, von dem immer wieder die angewandte Kunst als Werbung zehrt, hat mit diesem Verlust der primären Bildfunktion entscheidend zu tun. Um die Jahrhundertmitte dehnt die Fotografie den Kreis der Warenwirtschaft aus. Sie bietet Figuren, Landschaften und Ereignisse in unbeschränkter Menge an, die ­vorher

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überhaupt nicht verwertbar waren. Ihr Objektiv beginnt, Entdeckungen vorzunehmen in vorher unsichtbaren Bereichen. Dies nicht allein aus technologischen Möglichkeiten, sondern aus der Freisetzung neuer Wahrnehmungsformen heraus. Die Reklame wird an der Stelle der Malerei zum bilderzeugenden Informationsmedium. Gestaltungsformen lösen sich von der Kunst; im Zeichen der Produktivität des schönen Scheins werden die Bilder immer mehr zu Wunschsymbolen. In Auge, Herz und Hirn der Konsumenten wird der Boden bereitet für die heutige Wunschlandschaftstechnik einer totalen, aufs Ganze und auf alles gehenden und greifenden Werbung, der Tatsache, dass die Werbung die internationalste Darstellungsform von Warenhinweisen und damit von Inszenierungsritualen geworden ist. Grandville hat die Natur maskiert. Die Figur der Mode lasse, so Benjamin,23 die Geschichte aus dem ewigen Kreislauf der Natur hervorgehen. Die Hinweise auf Waren, die Propaganda für den schönen Schein, sind Organisationen am immer stärker reaktiv eingeübten Verhalten der Massen. Die Durchsetzung dieser Warenpropaganda fand im Umkreis der Weltausstellungen, in der Vergnügungsindustrie statt. Zum Beispiel wird bereits 1855 eine erste Sonderausstellung Photographie der Weltausstellung beigesellt. „Die Vergnügungsindustrie verfeinert und vervielfacht die Spielarten des reaktiven Verhaltens der Massen. Sie rüstet sie damit für die Bearbeitung durch die Reklame zu.“24 Ebenfalls 1855 durften Waren erstmals mit Preisen ausgezeichnet werden. Bild, Name und Preis bilden also ein strukturelles System für die Organisation der Wahrnehmung der Waren. Es sind auch die Grundelemente der Warenwerbung. Es ist das Preisetikett – andere Bilder von Prestige werden bis heute im Zusammenhang mit dem Preis, der Imagination von Kosten und Kostbarkeiten entwickelt –, welches die Ware erst zum Erscheinungsbild für Massenmärkte macht. Wie stark auch hier der Chok die Wahrnehmung anleitet, lässt sich auf dem Hintergrund der oben zitierten großstädtischen Montagetechnik nachvollziehen. Die enge Verwandtschaft der literarischen mit den reklameindustriellen Erneuerungstechniken hat mit diesem objektiven Vorgang in zweiter, mit der Fundierung der Fetische und Bilder im Traum in erster Linie zu tun. „Die Dichtung der Surrealisten behandelt die Worte wie Firmennamen und ihre Texte sind im Grunde Prospekte von Unternehmungen, die noch nicht etabliert sind.“25 Die Reklame nutzt das Komische. Und sie benutzt die Triebmomente des Arbeitslebens, das aus seiner Notwendigkeit herausschießen und Gleichnisse finden will für den Alltag des Utopischen, das nahe, das doch immer fernbleibt. Die dialektische Konstruktion von Nähe und Ferne zu Traumbildern ist, was die Werbung zu einer künstlerischen und literarischen Kunstform macht – eine Frage der Technik, keine Frage der ideologischen, moralischen Inhaltlichkeit des in diesen Formen jeweils Dargestellten. Die Reklame hat aber auch ein starkes Fundament in einer hochpolitisierten Öffentlichkeit zwischen den beiden Revolutionen von 1830 und 1848. Es gab Veröffentlichungen aller Art, Affichen in einem nie dagewesenen Ausmaße. Benjamin zitiert Maurice Talmeyr (‚La cité du sang‘, Paris, 1901): „Il n’existe de bonnes affiches que dans le domaine de la futilité, de l’industrie ou de la révolution.“ Und genau die technische Entsprechung im Formalen macht den Unterschied in Inhalt, Ästhetik und Erfahrungsdichte zwischen Reklame und Kunst unüberwindbar. „La morale, en somme, dans l’affiche, n’est donc jamais du est l’art, l’art n’est jamais ôu est la morale, et rien ne détermine

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mieux le caractère de l’affiche.“26 Zu diesem Problem fasst Benjamin einige Überlegungen wie folgt zusammen: „Unter europäischen Aspekten sahen die Dinge so aus: In allen gewerblichen Erzeugnissen ging im Mittelalter und bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der Technik viel langsamer vor sich als die der Kunst. Die Kunst konnte sich Zeit nehmen, die technischen Verfahrungsweisen mannigfach zu umspielen. Der Wandel der Dinge, der um 1800 einsetzt, schrieb der Kunst das Tempo vor und je atemberaubender dieses Tempo wurde, desto mehr griff die Herrschaft der Mode auf alle Gebiete über. Schließlich kommt es zum heutigen Stand der Dinge: die Möglichkeit, dass die Kunst keine Zeit mehr findet, in den technischen Prozess sich irgendwie einzustellen, wird absehbar. Die Reklame ist die List, mit der der Traum sich der Industrie aufdrängt.“27 Im Zeitalter der platten Manipulationsideologien liest sich dieser letzte Satz wie eine Erleuchtung dessen, was ‚unter der Hand‘, konnotativ, kollateral oder eben ‚auch noch‘ geschieht im Vorgang der Industrialisierung der Bildtechniken und der Besetzung der urbanen Öffentlichkeit. Und man kann die Reklame kaum genauer definieren als mit diesem Zusammenhang von Traum und Industrie. Denn was später – und Benjamin hat über die alltägliche Chok­erfahrung des Filmischen schon berichtet – als Traumfabrik oder Kulturindustrie bezeichnet worden ist, hat seine Urkunde als Reklamebild. „Die Reklame ist die List, mit der der Traum sich der Industrie aufdrängt“ – mit dieser Charakterisierung Benjamins machen wir eine Reise in die helvetische Provinz. Da aber spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine reale Weltwirtschaft existiert, können auch periphere Vorgänge in der Schweiz nicht verstanden werden ohne jene, eben umrissene, gigantische Projektionsleinwand metropolitaner Hektik und Bildereuphorie. Die Reklame kommt später als die Industrie. Zunächst wird gearbeitet; industrielle Arbeit lädt selten zum Träumen ein: Sie tötet Träume. Die Reklame produziert das Träumerische nach dem Erreichen einer industriell bewaffneten Volkswirtschaft, nach dem Aufbau einer Infrastruktur für eine große Maschinerie und eine Produktion, an der die unmittelbaren Produzenten nicht nur teilhaben sollen, sondern die allein sie als Kaufkraftmasse in Gang halten können. Der Einzug des Traums in die Reklame bezeichnet die Geburtsstunde des Markenartikels. Und der Markenartikel ist Resultat einer erfolgreichen Industrialisierung. Dazu gibt es Ausprägungen, die gerade nicht im Zentrum, sondern nur an den Rändern beobachtet werden können. Die Industrie wird im Hinterland aufgebaut, unter anderen und dennoch nicht gänzlich fremden Bedingungen. Davon wird im Folgenden die Rede sein.

Umschichtungen, Lage und Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen in der Provinz, Auswirkungen der internationalen Situation auf die Schweiz Die Erfindung des Markenartikels fällt in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weite Teile Europas haben gegenüber England und Frankreich den Modernisierungsschub nachzuholen: Industrialisierung, Kapitalisierung, Maschinisierung, Mechanisierung sind

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angesagt. Die Fabrik absorbiert ehedem ländliche Arbeiten und löst die agrarische Lebensweise auf. Es beginnt historisch unsere Gegenwart. Die Weichen werden nicht von den Individuen gestellt, sondern durch eine gesellschaftliche Umschichtung, einen Wechsel im System, einen Wechsel der Funktionen von Arbeit und Versorgung der Arbeitskraft. Die Technologisierung Englands hat die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals beschleunigt. Ein neuer Maßstab für gesellschaftliche Produktivität wird aufgestellt, die Arbeitsteilung wird weiter differenziert, Arbeitsabläufe werden weiter zerstückelt, der gesamte Arbeitsvorgang wird in elementare Einheiten zerlegt. Die Voraussetzung für die maschinelle Herstellung der Produktionsmittel wird durch die Ausbeutung des verarmten Land- und Stadtproletariats geschaffen. Es ist die Zeit von Massenelend, Hunger und schrankenloser Ausdehnung der Arbeitsbelastung. Indirekter Druck, Gesetzgebung und direkte Gewaltanwendung spielen ineinander, das ländliche Proletariat wandert in die Städte ein, wo sich die neuen Produktionsmaschinen befinden.28 Friedrich Engels beschreibt die Situation der arbeitenden Klasse in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ähnliche Verhältnisse des Massenelends bestimmten die Situation des Industrieproletariats in anderen Ländern.29 Das Massenelend am Rand der Städte ist die Kehrseite der Maschinisierung und der Eroberung von Märkten, die durch Kapitalkonzentration England eine kolonialistische Vormachtstellung bis zum Ersten Weltkrieg sichern. Auch die Schweiz wird von der ökonomisch-kolonialistischen Macht Englands betroffen. Gegen dessen maschinisierte Produktion sind die einheimischen Handarbeiten nicht mehr konkurrenzfähig. Die ländliche Hausarbeit, immer schon unter dem Zwang, die agrarische Tätigkeit mit Zusatzverdiensten auf ein Überlebensniveau zu bringen, wird ausgezehrt, der Bauernstand bedroht. Davon gibt es eine politische und eine ökonomische Seite. Die politische verzeichnen aktenmäßig jene Ämter, die mit der Organisation der Auswanderung verarmter oder arbeitsunwilliger Schweizer beauftragt waren. Davon wird noch die Rede sein. Die ökonomische Seite ist schlechter dokumentiert. Man kann nicht auf Statistiken zurückgreifen, sondern muss die Strukturen der allgemeinen ökonomischer Entwicklung zur primären Kapitalisierung im Aufbau der großen Industrie zurate ziehen. Die ausgehungerten, ihrer Produktionsmittel beraubten Landarbeiter bilden eine wesentliche Voraussetzung für die Errichtung der Fabriken. Maschinen arbeiten nicht von selbst, und da niemand freiwillig Landarbeit mit der harten Fabrikarbeit vertauscht, müssen existenzielle Motive vorliegen. Ein solches ist die indirekt über Konkurrenzrückstände Freisetzung von Arbeitskraft. Das Elend all derer, die sich nicht mehr selber versorgen konnten im Umgang mit der Natur, ist die Voraussetzung für die Konzentration des Kapitals und die kostenintensive Einrichtung einer volkswirtschaftlichen Infrastruktur auf modernem Niveau. Das Pioniertum der Gründerphase, die seither so beliebte Charakteristik des das Risiko tragenden Patrons, des individuellen Weitblicks und der entsprechenden Verdienste, ist in dieser Phase ein realer Faktor, aber bei Weitem nicht der entscheidende, erst recht nicht der einzige. Ohne die Tatsache der ursprünglichen Akkumulation – die immer noch die Verallgemeinerung der Geldwirtschaft durchsetzen muss30 –, ohne den Blick auf Massenelend und Ausbeutung, Entrechtung und Aushungerung versteht man den Faktor des unternehmerischen Pioniertums im Rahmen der volkswirtschaft-

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lichen Veränderungen nicht. Die neue Produktionsstruktur, die allein modernen Fortschritt ermöglichte, nicht zuletzt – auch wenn das aus heutiger Sicht nicht mehr ungebrochen so erscheint – auch ein Heraustreten aus der primären Abhängigkeit von Natur, war im strikten Sinne ein funktionaler, unmoralischer Vorgang, der Belastungen über die Grenzen aller denkbaren Zumutung an eine Kultur hinaustrieb, die sich ideologisch der Existenz der Menschlichkeit verpflichtet hatte. Am Ende dieses Prozesses war die Maschinerie für die Herstellung gesellschaftlichen Reichtums aufgebaut, der in scharfem Gegensatz steht zu der privaten Form seiner Abschöpfung. Am Anfang bewirkte die importierte Umstrukturierung der Landwirtschaft Umsiedlung und Auswanderung, Familienelend, materielle, soziale und psychische Entwurzelung und Entfremdung, Hunger, Unruhe und Armut. Die gesamtgesellschaftliche Änderung, der Umbau der Lebensweise hat sich nicht allein in der Ausdehnung der Städte, im Entstehen von Agglomerationen ausgedrückt, sondern auch in einigen Neuheiten in der Präsentation industrieller Güter. Der Ausbau und die Änderung der Produktepalette bedurften ebenso der Hinweise auf ihre Existenz wie die Orte, an denen diese Produkte gekauft werden konnten. Es brauchte Produkte, welche geeignet waren, eine Massenproduktion am Laufen zu halten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt auch in der Schweiz Schritt für Schritt eine Phase der Intensivierung der Zirkulation von Gütern. Diese Güter werden erst jetzt im eigentlichen kapitalistischen Sinne zu Waren: designte, präsentierbare Nutzungsobjekte, die propagandistisch ihren Nutzen darstellen können. Nach Abschluss der ursprünglichen Akkumulation steigen die Löhne. Der Massenkonsum muss durch Kaufkraft verwirklicht werden; er wird zur Steuerungsinstanz des Produktionspreises. Die Unternehmen orientieren sich zunehmend am Konzept einer Konsumgesellschaft. In dem Maße, wie die Nutzungsgüter nicht allein als Objekte erscheinen, sondern auch als Bilder, Namen und Marken ein Design erhalten, das über die primäre Nutzung hinausgeht, entstehen auch neue Berufe und neue Tätigkeitsfelder: Designer, Public Relation, Marketing. Das Medium Geld wird immer dominanter. Immer mehr wird darin vermittelt und getauscht, immer weniger demnach und gleichermaßen im primären Bereich der Naturalwirtschaft erfahrbar. Immer mehr verschwindet auch das archaische Ritual der ‚Gabe‘, das mit dem Geschenk Reichtum bezeugt und eine andere Ökonomie: Reichtum an Land, an Nahrungsquellen und vor allen an freier Zeit – aus unserer Sicht ein Modell der Armut, aus anderer Sicht eine reiche Ökonomie der Verschwendung.31 Dass die Tauschvorgänge nicht mehr Gaben sind, sondern einer abstrakteren Logik gehorchen, ist für den Zusammenhang von visueller Orientierung in der industrialisierten Welt und dem Stellenwert der Namen für Dinge entscheidend. Es gilt nämlich, im Sinne der abstrakten Vermittlung durch das Geld, durch etwas Symbolisches, durch ‚reines Können, Imstande-Sein schlechthin‘,32 die Dinge auf Nutzungen und diese auf ein verfügbares oder verweigertes Recht zum Konsum zu beziehen. Was in der Gesellschaft die Dinge im Fluss hält, das muss auch im Kopf geleistet werden: Abwägungen von Bezeichnungen, deren Geltung über Tauschvorgänge auf einige allgemeine Muster bezogen werden müssen. Der Markenartikel ist nicht eine technische Erfindung und er ist nicht eine Einrichtung von Dingen. Er ist Ausdruck eines veränderten imaginären

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­ ugangs zu den Dingen. Der Markenartikel ist so etwas wie eine angewandte NamentheZ orie, welche die Dinge mit ihren emotionalen, intellektuellen und seelischen Assoziationen durch die Ausdrücke, in denen diese Assoziationen hergestellt werden, überformt.

Zur Genesis der Markenartikel und der Werbung für diese Es entsteht eine neue, komplexere Einheit von materiellem Objekt und Bezeichnung des Nutzens, der durch die Dinge realisiert wird. Die Orientierung entsteht nicht mehr aus der direkten Begegnung mit rohen Stoffen, sondern aus der indirekten Benennung nicht-materieller Wertigkeiten. Die Werbeform des Emailplakates spielt hier eine aufschlussreiche Rolle, ermöglichen doch Aufwand und Dauerhaftigkeit extreme Überzeichnungen der Hinweise auf Waren. Die Ausrichtung einer Werbung auf Dauer – inhaltlich folgt diese Bestimmung aus der technischen Machweise des Emailplakates – ist etwas Neues und führt zur ‚Steigerung der Kultur der Dinge‘ und zum ‚Zurückbleiben der Kultur der Personen‘.33 Die Produkte, für die mit Emailplakaten geworben wird, lassen einige Gruppierungen zu, die sowohl der neuen Zirkulation, der Herrschaft der symbolischen Tauschform Geld, wie auch den veränderten Bedingungen des Hinweisens entsprechen. Es sind hauptsächlich drei Bereiche, die eine Werbung mit Emailplakaten lohnend machen: • Luxusartikel (Tee, Kaffee, Zigaretten, Liköre, Parfums), für die ein hoher Werbeaufwand verkraftbar ist; • Artikel, mit denen die gesellschaftlich notwendige Veränderung alter Gewohnheiten propagiert wird; dazu gehört der gesamte Bereich der Mechanisierung der Hausarbeiten, deren Dauer ­reduziert werden muss, weil auch die Frauen zunehmend in ­Fabrik und Büros arbeiten, wodurch die Freisetzung des Haushaltbereichs für gesellschaftlich produktive, nämlich öffent­ liche und monetarisierte Tätigkeiten realisiert werden kann (Waschmittel, Konservennahrung); • Dienstleistungen durch Berufsverbände, die auf Langzeitwirkungen eingestellt sind (Elektrizität, Versicherungen, Banken); • Produkte, die unter langer Forschungszeit und technologisch aufwendig realisiert werden (Nähmaschinen, Fahrräder, Autos). Die Werbeträger zielen auf mehr Umsatz, aber man versteht ihre Botschaft nicht, wenn man nur den ästhetischen Schein der Produktedarstellung im Auge hat. Es geht um einen komplexen Prozess der Verdichtung, der bild- und schlagwortmäßigen Propagierung eines neuen Lebensstils. Die Rahmenbedingungen dazu liegen nicht in einer freien Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Produktekultur, für oder gegen eine bestimmte Form der Warenpropaganda, sondern in den Zwängen einer Entwicklung

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zur industriellen Massenkonsumgesellschaft. Es gilt, die wirtschaftlichen Grundlagen und Vorgänge zurate zu ziehen. Das ist schwierig, fehlt es doch in der Schweiz an spezialisierten Archiven und ausreichend gesicherten Daten. Was verfügbar ist, sind wirtschaftsgeschichtliche Darstellungen – natürlich angeleitet durch bestimmte, äußerst heterogene theoretische Modelle –, Sozialgeschichten und, von der Seite der Unternehmen, Jubiläumsschriften sowie Reste von Archiven, die aufgrund bestimmter gesetzlicher Regelungen geführt worden sind. Gerade die Schweizer Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist bisher schlecht dokumentiert. Das hat Gründe, die zum Thema der Markenartikel gehören. In der Zeit ihrer Durchsetzung oder ihres sozialen Erfolges spielt sich real ab, was später als Mythos des freien Unternehmers immer wieder zu anti-staatlichen Forderungen geführt hat. Und wie der Unternehmer der gesetz­ gebende Patron war, so wird meistens der Name des Unternehmers auch zum Namen seiner Produkte. In dem Maße, wie dieser Generation risikoliebender, experimentierender Gründer ein Massenerfolg der Produkte zuteil wurde, wurden auch Hinweise auf die Bezugsorte, Art und Inhalt, Ziel und Nutzen der Produkte wichtig. Deshalb ist der Markenartikel Ausdruck einer bestimmten Unternehmerkultur. Genau diese Unternehmerkultur gibt das Modell ab für die Akzente, welche im Umgang mit Geschichte die späteren Jubiläumsschriften der Firmen kennzeichnen. Die Professionalisierung der Werbung im Zeitraum von 1880 bis zum Zweiten Weltkrieg, mit vielen Rückschlägen und Einbrüchen, ist eine Folge der zunehmenden Differenzierung der Arbeitsteilung in den Betrieben, der klareren hierarchischen Organisation der Betriebsabläufe und einer ausgedehnten Organisation des Konsumverhaltens. Die firmeninternen Darstellungen sind natürlich ideologisch, sind Propagandamittel. Das macht sie aber nicht untauglich als Bearbeitungen der Geschichte. Sie sind vielmehr Dokumente eines zweifachen geschichtlichen Bezugs: einmal zu der Entstehung der Firma, zum anderen zu der ideologischen Wirkkraft jener Propaganda, die damals wie heute dem nichtgesellschaftlich gebundenen freien privaten Unternehmertum verpflichtet ist. Bevor hier auf einzelne solcher Jubiläumsschriften eingegangen wird, müssen die Grenzen dieser Ideologie benannt werden. Ihr Modell wird der humanistischen Philosophie, genauer, ihrer systemphilosophischen Ausprägung in der Zeit des sogenannten deutschen Idealismus entliehen: Ein Subjekt, das Zentrum seiner Handlungen ist, wird auch zum Zentrum der Erzählungen seiner Handlungen. In ihm bündelt sich in zurechenbarer und realer Weise alles, was es betrifft, es übt Kontrolle aus, über seine Handlungen, die Wirkungen, aber auch die Rahmenbedingungen seiner Handlungen, diese selbst, nicht zuletzt über sich selber. Es gibt nichts, was nur äußerliche Kontingenz oder blindes, gar insignifikantes Schicksal ist. Es herrscht eine hierarchische Abstufung: Wichtig ist, was nahe am Zentrum liegt, entscheidend, was aus dem Zentrum, als reiner Ausdruck des Subjekts, nach außen wirkt. Diese Erzählform als Form dargestellter Geschichte ist offensichtlich durch die Ausblendungen definiert, die es ermöglicht. Die Lebensgeschichte der Firmenchefs wird zum Synonym für die Geschichte der Unternehmen schlechthin. Was nicht dieser Perspektive entspricht, wird, logisch, nur als Störung, als zu überwindendes Hindernis, wahrnehmbar. So erklärt sich die Lust an Zahlen, sofern sie dem Modell entsprechen. Und so erklärt sich auch das Fehlen aller Zahlen, die

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innerhalb des Modells nicht als signifikant erscheinen oder nicht interpretiert werden können. Zu diesen Zahlen gehören: Lohnangaben, Angaben über Arbeitsaufwand, Arbeitszeit, Beschleunigung des Arbeitstempos, arbeitsbedingte Krankheiten und Unfälle, soziale Auswirkungen der stetig erhöhten Arbeitsbelastung. Dazu gehört auch eine Berechnung der Relation zwischen dem volkswirtschaftlich notwendigen Ertrag der Ressourcen für die primäre Kapitalbildung – d. h. die Umwandlung des Mehrwerts in das tote Kapital der Produktionsmaschinerie – und der Einführung eines ganz neuen Maßes für produktives Handeln, das sich definiert als Preis und Wertausdruck der Waren. Die Wirksamkeit dieses Maßstabes bewährt sich am gerechten Lohn. Aber die Beziehung zwischen Arbeitsleistung und Lohn – ausgedrückt in Geldeinheiten, die wiederum in Titel der zeitlichen wie umfangbezogenen Berechtigung zu Konsumtion und Verzehr von Nutzungsobjekten umgerechnet werden – ist volkswirtschaftlich bedingt und muss der Natur nach unvereinbare Größen in Bezug setzen. Es mag nicht sehr populär erscheinen, den kulturellen Hintergrund einer Werbeform historisch auf den gesamten Bereich der Industriekultur zu beziehen. Aber die ökonomische Darstellung jener Kultur liegt auf der Hand. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird alle Kultur in Westeuropa Industriekultur. Kultur muss als Industriekultur konzipiert werden können, das gilt vor allem für die Frühphase. Damit verändert sich das Erscheinungsbild sämtlicher Vorkommnisse. Im Leben aller an der Industrie Beteiligten muss der Vorrang der industriellen Erzeugnisse zur Erscheinung gebracht werden. Der Markenartikel ist nichts anderes als das dingliche Resultat der Verunmöglichung lokaler Selbstversorgungsmärkte. Das kann man auch aus heutiger Sicht noch leicht begreifen, wenn man an die historischen Vereinigungen der Konsumenten gegen Markenartikel denkt, die mehr von der Substanz der Güter als vom volkswirtschaftlich untragbaren Verschleiß des Warenglanzes ausgehen: Migros, Usego. Das Bürgertum beseitigt die Schranken gegen die Ausbeutung der Natur. Das humanistische Subjekt verwandelt sich in den praktischen, instrumentierenden Menschen. Das ist Wahrheit und Ideologie zugleich. Das ist auch die historische Wahrheit und Grenze der Firmengeschichten, einen gesellschaftlichen Vorgang in obrigkeitsförmigen Handlungen eines einzelnen Individuums darzustellen. Nur wenige Firmen verfügen über brauchbare, sehr wenige über befriedigende Archive, einige haben später kleine Museen eingerichtet, meist für den touristischen ­Bedarf oder für Schulklassen. Die Phase der ursprünglichen Akkumulation – in der die Herstellung der gesamten Produktionsbedingungen erwirtschaftet werden musste – war aus guten Gründen ganz sicher keine Epoche, in der Archive angelegt und Dokumente gesammelt wurden oder auf spätere historische Interessen geblickt wurde. Wie immer, so beginnt auch hier die Geschichtsschreibung erst nach bestandenem und überwundenem Überlebenskampf. Es sind aber nicht nur Firmenarchive, die oft fehlen. Auch von staatlicher Seite ist für die Frühphase wenig beizubringen. Der Schweizer Staat des 19. Jahrhunderts sah es als seine Aufgabe an, das Entstehen der Bedingungen für die privatkapitalistische Wirtschaft nicht zu behindern und auf der anderen Seite darauf bedacht zu sein, möglichst viele der aus Elend entstandenen Probleme sei’s an die Firmen zurückzugeben, sei’s aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Diese strikte ­Zurückhaltung

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ist zu einem selbstbewussten Kennzeichen helvetischer Konsensideologie geworden, die bis Ende der 1970er-Jahre nur zwei Mal durchbrochen worden ist: beim gewaltsam zerschlagenen Generalstreik von 1918 und während der Massenarbeitslosigkeit nach 1929, was aber im Zuge der ideologischen Selbstbehauptung der wehrhaften Schweiz als Klassenproblem neutralisiert worden ist.

Jubiläumsschriften, Selbstdarstellungen, ­Beschaffenheit der ­Archive – zum Beispiel Henkel, zum Beispiel Maggi, zum Beispiel Lindt & Sprüngli Es gibt einige Jubiläumsschriften, die als typisch angesehen werden können. Die umfangreichste stammt von Henkel zum 100-jährigen Bestehen der Firma 1976. Auch die 125 Jahre Lindt & Sprüngli sind in ihrer ansehnlich aufwendigen Präsentation als typisch anzusehen. Henkel Schweiz hat zum 25-jährigen Bestehen eine kleine Broschüre, zum 50-jährigen Jubiläum noch ein Heftchen vorgelegt. Der Basler Lokalhistoriker und nicht selten auch Lokalidylliker G. A. Wanner hat zum 100-Jährigen der Firma Wart­eck eine knappe Übersicht über die Familiengeschichte beigesteuert. Das Gros solcher Schriften ist hausintern produziert. Aufwendig und doch nicht einnehmend gestaltet, auf Solidität bedacht, aber doch reichlich unprofessionell in Bild- und Textredaktion spiegeln diese Schriften weniger ein volkswirtschaftliches Bewusstsein oder ein Interesse an historisch umfassender Wahrheit als vielmehr eine Aura wider, der es weniger um die geschichtlichen Auswirkungen einer Produktionskultur geht als vielmehr um die Tatsache, dass kapitalistische Ökonomie eine Geschichte des Erfolges darstellt. Es geht um Fortschritt, Aufschwung, Prosperität. Sie erscheinen als Auswirkungen individueller Weitsicht und Entscheidungsstärke, Wendigkeit und Motivation der Gründer und Leiter. Ihre Handlungen sind dem Modell der weltgeschichtlichen Individuen, konkret: dem bürgerlichen Bildungsroman der heroischen Phase weltgeschichtlicher Emanzipation und der Utopie der Aufklärung nachgebildet. Nicht selten kommt dem das militärische Vokabular entgegen, das mittlerweile in den Bilanzen und Berichten der Firmen als Beweiskraft der Effizienz üblich geworden ist: Kämpfe führen und gewinnen, Fronten einschätzen, Logistik bereitstellen; Zusammenhänge von Zweck und Mittel messen; Märkte erobern.

Das Beispiel Henkel Hundert Jahre Henkel ist die anspruchsvollste und beste der mir zugänglichen Jubiläumsschriften. Materialreich, obwohl das Firmenarchiv durch zwei Brände (1920/1922) und eine Bombardierung (1943) verloren gegangen ist. Dennoch, deshalb, trotzdem: jedenfalls auch gekennzeichnet durch Ausblendungen und Akzentuierungen, die für den historisch wirksamen Umgang mit Geschichte wiederum eine Propagandaquelle des

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i­ndustriellen Güterabsatzes bilden. So widmet die Schrift dem Nationalsozialismus einige wenige Zeilen und beklagt vor allem den Verlust, der „durch die entschädigungslose Enteignung von Betrieben in der sowjetischen Besatzungszone“34 entstand. Fritz Henkel war ein Pionier des Markenartikels. Und er war einer der Ersten, die neue Werbeformen forderten und zur Anwendung brachten. Er ließ z. B. weiß gekleidete Männer mit Sonnenschirmen durch Geschäftsstraßen gehen. Der Schriftzug ‚Persil‘ wurde mit Scheinwerfern in den nächtlichen Himmel projiziert. Beliebt waren bei ihm auch das Sprühen der Namen mittels Flugzeugen am Himmel. Fritz Henkel wollte eine Werbung, die nicht weiter in informative und emotionale Werbeteile auseinandergelegt werden konnte. Es ging ihm dabei nicht allein um die Emotionalisierung des Informativen. Es ging ihm vor allem darum, die Notwendigkeit seiner Produkte durch eine ästhetische Aura in das unmittelbare Alltagsleben hineinzutragen. Daraus erklärt sich das Konzept, das alltäglich Funktionale als Sensation des Notwendigen zu veredeln. Mit der ganzen Übertreibung formuliert das ein modernes Konzept: eine Mischung von Funktion, Emotion und Information als Warenpropaganda, die eine alltägliche Notwendigkeit zu einem Lebensstil macht und dafür rhetorisch nicht die Zugehörigkeit allein, sondern Teilnahme und Nachfolge inszeniert. Fritz Henkel hat von Anfang an Produktewerbung mit Aufwand betrieben, und er hat Werbung als eine Art ‚Vor-Verkauf‘ verstanden, der mit kaufmännischer Leidenschaft betrieben werden müsse. Diese Leidenschaft als Rhetorik des Lebensstils hat zur Schaffung einer der Werbe-‚Ikonen‘ dieses Jahrhunderts geführt: zur ‚Weißen Dame‘. Mit ihr führt Kurt Heiligenstaedt vor, was Markenartikelwerbung ausmacht: wandelbare Mode im gleichen Bildschema, Kontinuität durch Aktualisierung, Einprägung, Vertiefung, Wiederholung, Anpassung. All das gipfelt im Vorgang der Identifizierung der Nutzerin mit der weißen Dame. Die weiße Dame zeigt nicht das Produkt, sondern seine Auswirkungen. ‚Persil‘ benutzen heißt also nicht, eine Technik benutzen, sondern: an einer Aura teilhaben. Heiligenstaedts Entwurf ist eine dialektische Konstruktion von Nähe und Ferne, von Identifikation, Bewunderung und Vorbildlichkeit, die für die Traumund Wunschkraft der Werbung im Ganzen exemplarisch steht und sich dementsprechend ausgewirkt hat. Die weiße Dame ist nicht eine Wunschfee, die etwas Übernatürliches macht, sondern eine Traumfigur, die man fabrizieren oder übernehmen kann. Bedingung dazu: Man muss die Aura des Namens des Produktes, das sie belebt, auf sich wirken lassen. Und das war ja der Witz davon: Die jahrzehntelange Wiederholung des jeweils den Strömungen angepassten Motivs macht ideal jeden Bewohner eines indus­ triell-zivilisierten Landes zu einem Teilhaber an der Traumaura, einem Nachfolger der Rhetorik der Propaganda. Die Produktewerbung wird zur Namenwerbung. Der materielle Träger wird zweitrangig: Der Name verwandelt sich in das Bild der Frau, wie sich die schmutzige Wäsche in deren strahlendes Weiß verwandelt. Ein Sesam-öffne-Dich mit theologisch-christlichem Einschlag, klingt doch das Verwandlungsmotiv nach. Henkel hat umfassende Persil-Werbung betrieben. Es wurden ganze Schaufenster zusammengestellt und den Händlern angeboten. Die Kampagne der sogenannten Verbraucher-Information, auch ‚Aufklärungskampagne‘ geheißen, sollte vorerst die

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Händler zur Ausstellung der propagierten Firmenerzeugnisse bewegen. Die Händler waren die entscheidenden Drehscheiben für den Absatz, da keine ungeformten Güter auf lokalen Märkten mehr wirtschaftlich erfolgreich sein konnten. Diese neu verarbeiteten Werbeprodukte zeichnen sich durch Inhalt und Verpackung, Stoff und Form aus. Henkel richtete die Kampagne zu Beginn dieses Jahrhunderts zunächst an die Frauen der immerhin 300 000 deutschen Kolonialwarenhändler. Handelsreisende, Kommissionäre und Agenten waren angehalten, immer wieder auf den primären Nutzen für diese Frauen hinzuweisen. Dem Pionier Fritz Henkel war klar, dass der Markenartikel eine Antwort war auf den großen gesellschaftlichen Umbau der Arbeit durch die Industrie und auf die Kapitalisierung des gesamten Lebenszusammenhangs. Er wusste: Markenartikel würden die Konzentration der Energien auf das Arbeiten verstärken. Der Markenartikel hat die Aufgabe, den Alltag zu ‚erleichtern‘. „Markenartikler wie Fritz Henkel hatten erkannt, dass mit dem Eindringen der Technik auch in den Haushalt die Wiedererkennbarkeit des Produkts Voraussetzung für einen nachhaltigen Erfolg ist.“35 Die Einprägung der Namen, die Ausrichtung der Warenpropaganda auf Wiedererkennbarkeit bietet natürlich die Chance, die Darstellungsqualitäten der Waren propagandistisch zu intensivieren und innerhalb der Besetzung des visuellen Gedächtnisses der Konsumenten durch die Beschreibung von Namen die Produkte in einem eigentlichen Warentheater auftreten zu lassen. Es ist demnach zwingend, dass Henkel schon früh das relativ neue Medium Film benutzt hat. Darin treten bekannte Schauspieler auf, die Henkel als die richtige Art zu waschen propagieren: Paul Henckels, Ida Wüst. Den Film Wäsche, Waschen, Wohlergehen sollen innerhalb von sechs Jahren 30 Millionen Menschen gesehen haben. Zwischen 1927 und 1939 hat Henkel in eigenen Veranstaltungen zehn hausgemachte Filme gezeigt.

Das Beispiel Maggi Die Firma Maggi hat ihre Geschichte relativ gut dokumentiert. Zum 100-jährigen Bestehen erscheinen 1983 einige Nummern einer speziellen Zeitschrift. Außerdem stehen hektografierte Datenübersichten zur Verfügung. Julius Maggi ist ein ausgezeichnetes Beispiel für den Schweizer Gründergeist und die Art, mit dem Modell des Markenartikels umzugehen. 1894 hinterlegt Julius Maggi als Schutzmarke für die Produkte den Kreuzstern. Ein Signet, das er selber entworfen hat und das seiner persönlichen Devise entspreche: durch das Kreuz zum Erfolg. Man sieht: Die gebotene Darstellung der eigenen Leistungen gehorcht nicht einem strategischen Modell von Werbung, sondern dem persönlichen Bedürfnis und dem personalen Zentralismus des Gründernamens. Maggi hat in der Schweiz die ersten kinematografischen Aufnahmen aus Fabrik und Gutswirtschaft an die Öffentlichkeit gebracht. Das war 1920. Maggi ist längst ein international anerkanntes Gütezeichen schweizerischer Wirtschaft geworden. In der Tat zeichnet sich die Firma als eine der wenigen durch ein Gespür für die sozialen Hintergrundpro­bleme aus und führt freiwillig einige gewerkschaftliche Einrichtungen ein, die allgemein erst

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nach dem Generalstreik erzwungen worden sind. 1903 gibt es Ferien für Arbeiter, 1906 den freien Samstagnachmittag und 1917 den Neun-Stunden-Arbeitstag. Maggi drückt am klarsten die notorisch bekannte, inzwischen in Vergessenheit geratene Schweizer Situation einer im 19. Jahrhundert rückständigen Industrialisierung aus. Im Zürcher Oberland wurden um 1880 viele Textilfabriken gebaut. Die Kleinbauern wurden mit Maschinen beliefert, die Heimarbeit intensiviert. Ökonomisch und arbeitstechnisch war es erforderlich, dass Frauen und Kinder einen großen Teil der Arbeiten miterledigten. Haushalt, Erziehung, Ernährung wurden hier wie anderswo entsprechend vernachlässigt. Pestalozzi konnte ein Lied davon singen. „Kein Wunder, dass der Haushalt zu kurz kam und die Bevölkerung immer schlechter ernährt und damit auch anfällig für Seuchen und Krankheiten wurde.“36 Julius Maggi stand in engem Kontakt mit Fridolin Schuler, seines Zeichens Fabrikinspektor. Sie entwickelten, auf dem Hintergrund der spezifischen Unternehmerethik der damaligen Zeit, ein gemeinsames Ziel: die Erzeugung eines nahrhaften Fertigproduktes. 1883 geling die Herstellung des dafür geeigneten Leguminosemehls: zerstoßene Hülsenfrüchte (Linsen, Bohnen, Erbsen – proteinreich, mit nötigen Fetten und Kohlehydraten aufgebessert), die als Brei gegessen werden können. In den hausintern verfertigten ‚Betrachtungen über Ursprünge und Entwicklung von Maggi‘ heißt es: „Viele befassen sich zur damaligen Zeit mit der sozialen Umstrukturierung, die das industrielle Zeitalter zwangsweise mit sich bringt.“ Fridolin Schuler war Mitglied der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) und am Zustandekommen verschiedener Gesetze über die Fabrikarbeit beteiligt. 1884 übernimmt die SGG die Schirmherrschaft für Maggis Hülsenfruchtproduktion. Eine staatliche Maßnahme also, aufgegriffen von Unternehmern, die noch volkswirtschaftlich denken konnten und wussten, dass die Vernichtung von Arbeitskraft auf Dauer die Grundlagen der Produktion auch in Bezug auf die privaten Interessen (Profit, Mehrwertabschöpfung, Re-Investition, Wachstum) angreift. Trotz vieler Schwierigkeiten hält Maggi an der Propaganda für eine gesunde Volksernährung fest, die zur Kompensation der Mehrarbeit mittels der Konservendosen organisiert werden soll. Maggis Erfolg ist weniger ein Resultat privaten Erfindergenies als vielmehr Ausdruck einer historischen Notwendigkeit: Versorgung in Engpässen einer im ungebändigten chaotischen Spiel internationaler Dynamiken und staatlich nicht überschaubarer Kräfte zu schnell durchgesetzten Änderung der Lebensweise, Auffangen einer stetig wachsenden Verarmung des Bauernstandes. Aus den speziellen Zwängen der industriellen Arbeitskultur ergibt sich, dass die primären Selbstversorgungsarbeiten im Haushalt rationalisiert und technisiert werden müssen. Das drückt sich auch in der Werbung aus. Sie kommt rational und sachlich daher. Maggi hat schon um die Jahrhundertwende die Konsumenten nicht nur zu überreden versucht, sondern auch informiert. Auf den Packungen stehen ausführliche Angaben über Erntejahr, Inhalt und Gegenwert in Lebendgewicht von Frischgemüse, Zubereitungsanleitung, und moralische Appelle an eine gesunde Ernährung und an die Notwendigkeit, in den modernen Zeiten den Ernährungsspezialisten von Maggi Vertrauen entgegenzubringen. Der Erfolg wird gemessen an der Beharrlichkeit, „mit der eingefleischte Ernährungsgewohnheiten reformiert wurden“.37 Julius Maggi hat die Werbung selber über-

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wacht. Das hat auch für die Texte seines Werbemanagers Frank Wedekind gegolten. Die persönliche Überwachung soll die personale Autorität ins Bewusstsein der Hausfrauen hineintragen. Maggi ist kein simples Ernährungsgut, sondern ein glänzender, auratisch aufgeladener Name, der für eine selbstverständliche Bereitschaft steht, unter solider Ernährung, und unter mehr oder weniger leidvoll zugestandener Zustimmung zu den Erfordernissen der Zeit, genau das zu verstehen, was Maggi als Produkte anbieten kann. Die Mechanisierung der Ernährung, die nichts anderes ist als die Tilgung einer ganzen Tradition im Umgang mit einer direkt erfahrenen Natur, ist Ausdruck des gesellschaftlichen Zwangs zur Industriearbeit. Der Erfolg eines solchen Markenartikels – gut schweizerisch schon damals eine Maßnahme zur Volkshygiene – hat ökonomische Hintergründe. Der normale Arbeitstag dauerte 13 Stunden. Noch 1880 mussten die Familien im Durchschnitt 62 Prozent ihres Einkommens allein für Lebensmittel ausgeben. Die Organisation einer industriekonformen Ernährung ist also volkswirtschaftlich alles andere als ein Randproblem gewesen38.

Das Beispiel Lindt & Sprüngli Mit goldener Schrift auf sattblauem Grund tritt uns die ambitionierte Jubiläumsschrift 125 Jahre Freude schenken entgegen. Im Impressum wird ein Autor vermerkt: Dr. Hans Rudolf Schmid, Thalwil. Dieser Doktor Schmid hat eine genreübliche Propagandaschrift verfasst, die mit den bewährten Mustern arbeitet. Es geht um die Person der Chefs, es geht um Firmenglanz und Erfolg. Was geschieht, geschieht offenbar einzig, weil ein verantwortungsbewusstes Individuum etwas beschlossen hat. Ein etwas aufwendig gemachtes Familienalbum also – mitsamt den nicht ungewöhnlichen Idyllisierungen. Die darin geschilderten Biografien der Chefs – und das ist nicht uninteressant – stellen wahre Lehrstücke des protestantischen Ich-Aufbaus, also positivistisch erfolgreicher Transformation des idealistischen bildungsbürgerlichen Subjekts dar: Gehorsam, Entsagung, immer im Dienst der höheren Aufgaben. Und das wird in der Tat nicht bloß von den Unteren gefordert. Der entschiedene Tatmensch entfaltet jedoch seine Individualität stets im Verzicht auf den Glanz des Individuellen: Er ist Erfüller von Notwendigkeiten. Bewährung nach allen Seiten, Entgelt von oben, Disziplin von unten – je nach Standort. Die Entgleisungen des Jubel-Autors – und man muss hier von solchen tatsächlich reden – sind, wenn es um das scheinbar Nebensächliche geht, interessant. Auf S. 28, als Bildlegende, steht: „Nach den gesetzlichen Vorschriften hatte jeder Arbeitgeber ein genaues Arbeiterverzeichnis zu führen. Ergötzlich sind zum Teil die ‚Bemerkungen‘ über die Entlassungsgründe, z. B. wegen ‚wiederholten Blaumachens‘.“39 Wahrhaft ‚ergötzlich‘. Stattdessen wird kaum beachtet, dass Lindt wie Maggi im primären Sektor von der strukturellen, in ihrem Falle aber auch persönlich sich profitabel ausgestaltenden Gewalt der Industrialisierung profitiert haben. Zum Beispiel von der mangelhaften Ernährung in der Folge des gesellschaftlichen Umbaus der Tätigkeiten. Rudolf Sprüngli-Ammann empfahl die Chocolade nicht allein als Grundnahrungsmittel für die Armee, er empfahl sie auch für eine andere Art von Armee: die Industrie­

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arbeiterfamilien. Er pries sie unter Zuhilfenahme einer heftigen Polemik gegen die ungesunde, verzuckerte ‚Chicorienbrühe‘ gerade den höheren Orten an, damit diese dar­auf hinwirken, dass die Cacaopräparate „auch bei den weniger begüterten Klassen zum Genusse eingeführt werden“.40 Das war 1883. Zur Popularisierung der Chocolade wurden Kochkurse angeboten. Sprüngli vermerkte auf den Packungen das Nettogewicht, damals keine selbstverständliche Angelegenheit. In der Jubiläumsschrift erfährt man viel über die Persönlichkeitsstrukturen der Firmenleiter. Den grauen Rest bringt Dr. Schmid nach 80 Seiten Text über Väter und Söhne der Leitung aus der Sicht des immer nachdenklichen, immer verantwortungsvollen, immer wendigen und richtig handelnden Patrons auf exakt drei Seiten unter. Man muss es, um es glauben zu können, schon selber gelesen haben, wie hier unter dem Titel „Von Krisen, Kriegs- und Mangelzeiten“ Arbeiterkämpfe und sämtliche Errungenschaften der Liberalisierung des Arbeiterlebens aufgelistet werden: freier Samstagnachmittag, Teuerungszulage, Gründung von Arbeiterkommissionen, 48-Stunden-Woche. Im Unterschied zu Maggi bedurfte es dazu des Generalstreiks. Viele erfolgreiche Schweizer Markenartikel wurzeln in der gesundheitsschädigenden und demoralisierenden Gewalt der Industrialisierung, v. a. im Tempo, mit der die neue Arbeitsordnung auf dafür gänzlich ungeeignete Lebensformen prallte. Mit dem an staatliche Behörden gerichteten Hinweis auf die fatale Situation der Volksgesundheit ließ sich in der Schweiz Markenartikelpolitik betreiben. Neben Maggi und Lindt & Sprüngli hat auch ein dritter Großer der Schweizer Lebensmittel- und Konservenbranche die Produktion mit der puren Sachlichkeit einer unerlässlichen Gesundheitspolitik durchsetzen können: Kaffee Hag. Kaffee Hag befreite den Kaffee vom Nimbus einer Genussdroge und machte ihn zu einem wehrschaften Stück schweizerischer Überlebensgestaltung. Es ist aufschlussreich, dass Kaffee Hags Erfolgskurve mit den Krisen zusammengeht, in denen die Einstellung zur nationalen Gesundheitspflege ein Indikator der nationalen Selbstbehauptungskraft wird. Das spiegelt sich am Aktienkapital. 1916: 100 000 Franken, 1921 bereits eine Million. Das bleibt ziemlich stabil durch die 1920erJahre hindurch. Die 1,5 Millionen von 1929 werden während der Weltwirtschaftskrise bis 1931 verdoppelt.41 Krisen ermöglichen eine politische Protektion für die Durchsetzung von Markenartikeln, sei’s als Lizenz, sei’s als staatliches Monopol. Gerade für die Schweiz ist die Überlagerung der Industrialisierung mit merkantilistischen und vorindustriellen Errungenschaften typisch. Die früheren Firmennamen nämlich gehen auf Monopole zurück, die für einen bestimmten Objektbereich den gesamten Handel kontrollieren durften. Die Freigabe der Organisation des Handels ist dort identisch mit der Marktpräsenz einer bestimmten Firma. Das lässt sich am Beispiel der Wasser von Spa zeigen42 und gilt für das Problem der staatlichen Koordination der schweizerischen Volkswirtschaft, in Resten auch noch in der Periode eines vermeintlich ungebundenen, freien Marktprinzips. Weitere Angaben und Beispiele lassen sich in Firmendarstellungen finden, die als besondere Webeformen oder zu Industrieausstellungen vorgelegt worden sind. So z. B. in einer undatierten Broschüre der Fabriken Peter, Cailler und Kohler anlässlich der natio­nalen Ausstellung 1914 in Bern einem ‚Pavillon des Choclats‘ beigegeben, für

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das die drei Firmen ein Diorama bauen ließen. In der Broschüre werden aufgeführt: 3500 Arbeiter, 500 Angestellte, 6 Fabriken, Verarbeitung von 18 Millionen Liter Milch pro Jahr, 5 Wagons Kakao, 750 Wagons Zucker, 1000 Wagons Kohle. Daraus werden pro Jahr 15 Millionen Kilo Chocolade mit einem täglichen Nährwert von total 243 168 840 Kalorien produziert. 5000 Kühe braucht es, um den Milchbedarf zu decken. Die Chocoladenproduktion von Peter, Cailler und Kohler entspricht einem Nährwert von 30 Millionen Kilo Brot. Damit kann man, wie die Firma stolz vermerkt, eine Armee von 100 000 Mann ernähren. Auch die Firma Klaus gibt zum 100-Jährigen 1956 ein kleines Heft heraus. Es wird darauf hingewiesen, dass Jacques Klaus der Gründer der Schweizer Konfiserie im industriellen Stadium gewesen sei. 1885 wird eine Mechanisierung in großem Stil eingeführt. Lange Jahre nutzte allein die Firma Klaus die Dampfkraft. Jacques Klaus sei der typische Repräsentant der Gründerjahre. Sein Ziel: auf der Höhe des industriellen Fortschritts bleiben. Die Firma Klaus hat, undatiert, auch ein Kartenklebebuch für Jugendliche als Werbemittel benutzt. Billig reproduzierte Bildchen konnten in folgenden Serien auf jeweils einer bis zwei Seiten eingeklebt werden: Wunder des Himmels, Essbare Pilze, Giftige Pilze, Prähistorische Tiere, Exotische Vögel, Orchideen, Nützliche Insekten, Schädliche Insekten, Raubvögel, Unterirdische Wunder, Kathedralen Frankreichs, Französische Monumente im Andenken an die Toten des Großen Krieges 1914–1918, Französische Marschälle und Generale des Großen Krieges, Nützliche exotische Pflanzen, Glückliche Überraschungen.

Lebensstandard, Kaufkraft, Konsumentenprofile, Alltag der ­Werktätigen Aber wie haben die Menschen gelebt, die in erster Linie den Produktionsprozess unter industriellen Bedingungen ermöglicht. mit ihrer Arbeit erst eigentlich hergestellt haben? Auch aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht ist die Interpretation des Lebensniveaus nicht einfach, gibt es doch für die Industrialisierung der Schweiz weder präzise Statistiken noch ausreichende Übersichten. Das ist zwar während der Industrialisierungsphase in ganz Europa so gewesen, allerdings nicht mehr im 19. Jahrhundert. In dieser Zeit bleibt die Schweiz eine erhebungsfeindliche Ausnahme.43 Das ist nicht zuletzt, worauf hier schon hingewiesen worden ist, eine Folge der liberal-föderalistischen Staatspolitik. Sie zielte auf die Garantie einer unbeschränkten wirtschaftlichen Entfaltung nicht zuletzt deshalb, weil die Schweiz nach der Neuordnung Europas 1815 eklatante Rückstände in der Produktion von Maschinerie und Technologie aufwies. Durch die Aufhebung von Schutzgrenzen diktierten die avancierteren Industriestaaten nicht allein die internationalen Handelsflüsse, sondern auch das Niveau der Konkurrenz. Eine, und vielleicht die einzig wichtige, staatliche Voraussetzung für den möglichen Gleichschritt mit der ausländischen Technologie war der Verzicht der öffentlichen Verwaltung auf jegliche Richtlinien zur Kontrolle der wirtschaftlichen Kräfte. Durch diesen Verzicht

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war es nicht mehr geboten, Informationen zu erheben. Die sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Mängel sind auf das Ausbleiben dieser Kontrollen zurückzuführen. Es bleiben also wiederum wirtschaftliche Modelle zur Rekonstruktion der relevanten Vorgänge und Daten. Das augenfälligste Merkmal auch der Schweizerischen Entwicklung ist natürlich die Industrialisierung, wie wir sie typischerweise aus anderen Ländern und bereits früher kennen: Einführung von Maschinen in den Produktionsprozesse, Entstehung von Fabriken, Nutzung von Dampf- und Wasserantrieb. Der Einsatz von Maschinen bedingte gewaltige Investitionen. Es ändert sich mit der Art des Wirtschaftens auch der Parameter der Darstellung von Produktivität: Zeitwirtschaft, Entgelt der Arbeit über ein Medium abstrakter Lebenszeit: Geld. Die Freisetzung von Arbeitskräften, v. a. durch die Maschinisierung der Landwirtschaft, ist die wesentliche Bedingung der Aneignung der Arbeitskraft durch die Maschinerie. Diese Maschinerie wird zum Träger und zum Kriterium des industriellen Fortschritts. Das 18. und 19. Jahrhundert sind in der Schweiz die Jahrhunderte einer gesteigerten Bevölkerungszunahme, ja, ohne Übertreibung, einer eigentlichen Bevölkerungsexplosion. Die ehedem in sich geschlossene Landwirtschaft wird aufgebrochen und der abstrakteren Vollzugsarbeit an der Maschine zugeführt. Die durch Ausbeutung erwirtschafteten Investitionen verändern auf der anderen Seiten nicht allein die Form der Kapitalbildung, sondern die Kapitalstruktur als solche. Damit eine Massenproduktion umgesetzt werden kann, müssen Märkte erschlossen und Transportmittel geschaffen werden. Die Produktivitätssteigerung, was den Ertrag, nicht was die Subsistenzbedingung betrifft, findet zuerst in der Landwirtschaft statt. Sie ist beträchtlich und eine Kehrseite der Bevölkerungsexplosion wie eine Voraussetzung der ursprünglichen Akkumulation. Die aktive ländliche Bevölkerung beträgt in der Schweiz 1850 650 000 Personen, 1930 sind es noch 390 000. Diese bloß noch 20 Prozent, gegenüber den früheren 60 Prozent der aktiven Bevölkerung erwirtschaften aber einen höheren Selbstversorgungsgrad.44 Die Verarmung der Bevölkerungsmasse reicht weit zurück; sie wird aber durch die Maschinisierung und bei knappen Ressourcen dazu mit einem Schlage deutlich. Massenarmut ist sozusagen die industrielle Keimzelle der modernen Massenkonsumgesellschaft.45 Die früher selbstständigen Produzenten werden durch den Vorgang der Maschinisierung nicht allein von veralteten Technologien befreit, sondern ihrer Produktionsmittel enthoben. Nur so entsteht die Konzentration des Infrastrukturbedarfs in maschinisierten Zentralen einer kooperativen, aber im Vergleich zu früheren Epochen wesentlich weiter getriebenen Arbeitsteilung. Die politische Macht der bürgerlichen Kultur, darauf kann nicht genügen hingewiesen werden, wenn man die visuellen Erzeugnisse dieser Kultur und ihrer fortentwickelten Techniken wirklich verstehen will, gründet in der Herrschaft über die Fabrik. Das hat mit Tyrannei als Herrschaftsform im antiken Sinne – ethische Einschränkung mittels äußerst selektiver Willens- und Wahlfreiheit – nichts zu tun. Die Schaffung von Kapital, über dessen Regeln das Bürgertum zu verfügen gelernt hat, ist ein Lebensverhältnis. Die Nutzung der Herrschaft folgt aus der technologischen Organisation der Modernisierung der Wirtschaft. Ihr Lebensverhältnis wird geschaffen durch eine Auflösung eines früheren Lebenszusammenhangs, der nicht ­freiwillig

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weicht.46 Modernisierung ist noch nie ein Argument gewesen für die Änderung bewährter Traditionen. Dazu bedurfte es schon der systematischen Drücke, welche unter dem Zwang zur Technologie aus dem neuen gesellschaftlichen Ort der legitimen Tätigkeiten entstanden: der Fabrik. Die Fabrik als eine große Maschine zersetzt die frühere handwerkliche Kooperation. Die Zentren der Arbeit sind nicht mehr Räume, sondern Apparate zur Intensivierung von Zeit. Die Arbeit wird als messbare Energie in Zeit zentralisiert, ihre Abläufe werden immer mehr zerstückelt; man beginnt, von wissenschaftlicher Betriebsführung zu sprechen und plant für jeden elementaren Handgriff einen optimalen Bewegungsablauf, ein möglichst perfektes Zusammenspiel des auf Handgriffe und Abläufe spezialisierten und trainierten Körpers. Der stetig optimierte, nie vollkommene, immer in ausreichenden Resten ­mangelhaft bleibende Bewegungsablauf wird durch minimalisierte Zeiteinheiten kon­ trolliert und damit ein Arbeitstempo an der Basis der Arbeit bis an die Grenze des Möglichen erhöht. Zwar wird der Grad der Kooperation verstärkt – was einmal eine Hoffnung auf revolutionären Zusammenschluss gewesen ist –, aber parallel dazu steigen Monotonie und das Gefühl, der Maschine total ausgeliefert zu sein. Mit welcher Gewalt diese Neuordnung den Menschen aufgezwungen worden ist, mit welchem Gefühl des Ausgeliefertseins die Menschen die Fabrik empfunden haben, wird deutlich, wenn man von einem meist verschwiegenen, zumindest unerklärten Geschehen in der Schweizer Geschichte berichtet: von den militanten, illegalen Zerstörungsakten von Schweizer Arbeitern gegen die Maschinen. Maschinensturm, das Demolieren ganzer Fabriken, Sabotage, kulminierend im Brand von Uster. Nachvollziehbar erschienen den Menschen, die ohnehin nicht das arbeiten konnten, was sie wollten und noch kannten, die neuen Orte als Höllenmaschinen, als Teufelswerk. Etwas Dämonisches drang in ihre ungeübte Wahrnehmung ein. Typisch für die Ortlosigkeit des neuen Lebensprinzips ist die Tatsache, dass die Fabriken vor den Städten, in halbländlichen Gegenden, außerhalb der alten Orte, aber auch außerhalb einer totaler Massierung der verarmten Massen, hingebaut wurden.

Fortschritt durch Verarmung, Elend, Migration Im 19. Jahrhundert wurden die nötigen gesetzlichen Anpassungen an die Erfordernisse der Umschichtung und v. a. der Mobilität der industriellen Arbeitskräfte vorgenommen. Neben eine liberalere Ehegesetzgebung – das Einholen der Erlaubnis bei Arbeitgebern war ein feudales Relikt – trat die Niederlassungsfreiheit. Die Verfassung von 1848 beseitigte weitere Hemmnisse einer wirtschaftlichen Entfaltung, so auch das kantonale Münzrecht und die Binnenzölle. Nachdem nach dem Ende der Herrschaft Napoleons die Kontinentalsperre – und mit ihr die vielen und vielgestaltigen Schutzzölle – aufgehoben wurden, kam der Vorsprung Englands ungemindert zum Zuge. Die Produktivitätssteigerung, die damit erzwungen wurde, betraf zunächst das Textilgewerbe, genauer gesagt: den Spinnereibereich. Die Zahl der mechanischen Spindeln stieg, die Zahl der Betriebe und Arbeitsplätze nahm ab. In einer zweiten Phase kam die Fertigung von

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Produktionsmitteln dazu. Es setzt der Aufschwung der Maschinenindustrie ein. Parallel dazu verschärft sich die Krise der Agrarwirtschaft durch den Bau der Eisenbahnen nach 1848. Die neue Transporttechnologie setzte den natürlichen Distanzschutz lokaler Märkte außer Kraft. Die Industrialisierung, ihre Genesis und ihr Ausformungsprozess, reicht in der Schweiz über einen langen Zeitraum. Erst um 1920 arbeitete mehr als die Hälfte der im sekundären, also im industriellen, Sektor Beschäftigten in Fabriken. Wenn von der Industrialisierung der Schweiz und den ersten massiven Schüben der Proletarisierung gesprochen wird, dann darf man nicht an eine dominante quantitative Erscheinungen denken, sondern muss die qualitative Veränderung, den Bruch mit einer lang währenden Lebensweise in Betracht ziehen. Das Zusammentreffen des seit 1750 rapide zunehmenden Bevölkerungswachstums mit der Maschinisierung und Industrialisierung erklärt, weshalb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und für die Schweiz noch wesentlich länger, eine massive Verschlechterung der Lebensbedingungen eintrat. Eine Missernte wie die von 1817 zog eine katastrophale Hungersnot und besonders in der Ostschweiz ein Massensterben nach sich. Eine Vitalstatistik wird in der Schweiz erst ab 1870 geführt. An Unterlagen über Wachstum, Entwicklung und Probleme der Bevölkerung gibt es vor diesem Datum vor allem Dokumente über Ein- und Auswanderungsbewegungen.47 Die Mechanisierung hat zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten vernichtet und regionale Umschichtungen hervorgerufen.48 Einige markante Daten mögen den Sachverhalt illustrieren. Nach 1817 verlassen gegen 3000 Schweizer die Heimat. In den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts wandert ein Zwanzigstel der Glarner Bevölkerung, gegen 1400 Personen, aus. Die Lebenskosten im primären Bereich steigen, die Löhne fallen. Gemeinden greifen zu behördlichen Maßnahmen, fördern die Auswanderungswilligen mit finanziellen Zuwendungen. Zwischen 1851 und 1854 ermöglichen 35 von 100 Solothurner Gemeinden etwa 700 Personen die Ausreise.49 Auf der anderen Seite nehmen Einwanderungen in die Schweiz zu. Dieser Zufluss ist groß: 1910 sind 14,7 Prozent der Wohnbevölkerung Ausländer. Die Erklärung dafür liefert die Zuordnung der Berufsgattungen zu den beiden Strömen. In der Regel besetzen die Einwanderer die durch die Industrialisierung geschaffenen neuen Arbeitszweige, während die fast ausschließlich aus Agrarkantonen stammenden Auswanderer es vorziehen, in Übersee eine landwirtschaftliche Existenz aufzubauen, die ihnen in der Heimat nicht mehr möglich ist. Außerdem ist die behördliche Unterstützung der Auswanderung eine glänzende Möglichkeit, auf Fürsorge Angewiesene und sogenannte Arbeitsscheue auszuschaffen. Grund, ein Fürsorgefall zu werden, gibt es reichlich: Bis zu 70 Prozent der Löhne beansprucht das Haushaltgeld. Die Lebensmittelknappheit treibt die Preise in die Höhe. Während des ganzen 19. Jahrhunderts bewegen sich die Löhne an der Minimalgrenze der reinen Subsistenz, öfter auch darunter.50 Wie schon erwähnt, kommt zu diesen Schwierigkeiten der Erfolg im Maschinensektor dazu. In den bäuerlichen Gebieten sind bis zu 10 Prozent der Bevölkerung auf Fürsorge angewiesen, während der Prozentsatz im Kanton Zürich drei bis vier beträgt.51 Der Arbeitstag beträgt bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen 13 und 15, vor 1848 sogar bis gegen 18 Stunden. Das Fabrikgesetz von 1877 beschränkt

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den Arbeitstag auf elf Stunden und verbietet Arbeit für Kinder unter 14 Jahren. Mit diesem Gesetz wird erstmals öffentlich ein Recht auf körperliche Gesundheit und die Existenz einer Moral für Proletarier ausgesprochen. Das spiegelt einen Prozess der Entwürdigung der Verarmten. Die früheren Lebensbedingungen aber sind 1877 noch längst nicht beseitigt, sie bleiben bis weit ins 20. Jahrhundert gültig, mit allen Begleiterscheinungen wie soziale Deklassierung, Kriminalisierung und Ausgrenzung.52 Die Industrialisierung der Schweiz muss in breiten Dimensionen begriffen werden. 1850 machen die Fabrikarbeiter bloß 5 Prozent der Arbeitenden, 2 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. 1910 sind es dann bereits 45,5 Prozent.53 Zwischen 1850 und 1880 nehmen die im primären Sektor Beschäftigten von 650 000 auf 557 000 ab, die im sekundären Sektor Beschäftigten von 400 000 auf 550 000 zu, wobei der Bedarf an Tertiarisierung, d. h. an Dienstleistungen, auch innerhalb der Industrie wächst.54 Weitere Daten belegen den qualitativen Durchbruch der industriellen Arbeit in Schlüsselindustrien, vor allem der Maschinen- und Metallindustrie. Dort arbeiten 1895 33 355 Personen, 1929 bereits 112 673. Auch in der Uhrenindustrie und anderen, technologisch fortgeschrittenen Industrien nimmt der Beschäftigungsgrad im Maße der Kapitalkonzentration und der Intensivierung der Arbeit zu.55 1911 sieht die prozentuale Beschäftigungsverteilung auf Branchen so aus: 31,5 Prozent Textilien; 21 Prozent Metalle, Maschinen und Fahrzeuge; 11 Prozent Uhren; 8 Prozent Nahrungs- und Genussmittel. Im Chemiebereich arbeiten ganze 2 Prozent.56 Das Problem der schweizerischen Volkswirtschaft – auch zum Ausdruck gebracht durch den letzten und in gewisser Weise auch verspäteten Arbeiterkampf, dem Generalstreik von 191857 – liegt in der Textilindustrie auf der einen, in der versetzten agrarischen Lebensweise auf der zweiten und die gegenüber dem Ausland rückständige Maschinenindustrie, d. h. die ungenügende Technologisierung der Produktionsmittel, auf der dritten Seite. „Überall ergaben sich Gewichtsverlagerungen weg von Textil- und Nahrungsmittelindustrien hin zu Maschinen. Dabei hatten die älteren Industrieländer zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch sehr ungleiche Startpositionen bezogen. Die Schweiz befand sich – im Vergleich etwa zu Deutschland oder zu den USA – mit dem starken Gewicht besonders der Textilindustrie, von der späteren Modernisierungstendenz her betrachtet, in schlechter Ausgangslage. Denn die Einflussfaktoren, die den Strukturwandel in vielen Industrieländern auslösten, machten in der Schweiz größere Verschiebungen notwendig als anderswo und entwerteten dabei ein bedeutendes technisches Know-how, einen sehr beträchtlichen Stock an Fähigkeitskapital.“58 Arbeiteralltag ist Betriebsleben – auf diese Formel lässt sich die soziale Dimension der Industriekultur bringen, auch wenn Alltag und Betriebsleben nicht bruchlos zusammenfallen. Dass die juristischen Bestimmungen vor allem für den staatlichen Ordnungswillen stehen, nach der ursprünglichen Akkumulation nun die Belastungen zu begrenzen, nicht aber für die soziale Realität der Fabrikordnung, in welche die Behörden nach wie vor nicht sehr aggressiv eingreifen, lässt sich unter anderem dadurch belegen, dass im Kanton Sankt Gallen noch 1909 15 Prozent aller schulpflichtigen Kinder mit Arbeiten in der Stickerei belastet sind, und zwar keineswegs nur nebenbei.59 Das ist gerade volkswirtschaftlich unproduktiv, falsch in jeder Hinsicht. Denn das soziale Elend, die

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Verwahrlosung und Vernichtung der Jugend bilden exakt jene (Un-)Produktivitätsfaktoren, die zur Konkurrenzschwäche der Schweiz im internationalen Zusammenhang beitragen. Nur mit der langfristig hohe soziale Folgeschäden und -kosten verursachenden Kinderarbeit kann ein technologisch veralteter und volkswirtschaftlich unproduktiver, ja den Fortschritt gar blockierender Industriezweig künstlich, gewaltsam am Leben gehalten werden. Die Maschinisierung trifft nun ländliche Gebiete, in denen ein sichtbares Massenelend zwar verhindert, dafür umso mehr Kosten und Leiden im privaten, tendenziell eher unsichtbaren Bereich produziert wird. Die Textilkrise hat dann vor allem das Glarnerland getroffen, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch zu den am höchsten industrialisierten Regionen der Welt gehört hatte. Dass dort die Hälfte der Bevölkerung im Textilsektor arbeitet, wirkt sich nun fatal aus. Die Industrialisierung in der Schweiz beinhaltet eine Distribution der Fabriken. Die Konzentration zur Maschinerie in der Fabrik spielt sich nicht in der Weise ab, wie das in den ausländischen Metropolen zu den eingangs geschilderten Situationen geführt hat. Die regionale Situation drückt sich darin aus, dass 1888 in der ganzen Schweiz nur 23 Industriebetriebe über 500 und nur wenige mehr als 1000 Arbeiter beschäftigen. Ein Blick auf eine Karte von Uster und Umgebung zeigt die Zerstreuung deutlich. Die Rückständigkeit der Schweiz lässt sich daran messen, dass sich die Industrialisierung nur auf einen verschwindend kleinen Organisationsapparat – Verwaltung, Distribution, Marketing, Werbung – stützen kann. Der Durchbruch vollzog sich denn auch erst in der Stärkung des sogenannten Fähigkeitskapitals: in den Etagen der Organisation. Mit dieser Entwicklung hat der Markenartikel, dessen Erscheinung ja von den Unternehmern nicht selten eigenhändig bestimmt worden ist, wesentlich zu tun. In dem Maße, wie die Industrialisierung zunehmend eine Frage der Organisation von Marketing wird, wird auch die Markenartikelpalette erweitert, umgebaut und modifiziert. Es entsteht das Modell des Sortiments. Und es entsteht gerade in den 1920er-Jahren, die das Jahrzehnt der Organisation der Werbung ist, eine eigentliche Angestelltenkultur60, die das bevorzugte Objekt der Sozialkritik und Karikatur Tucholskys abgeben. Die Aufwertung der Organisation ist die historische Stunde des massiven Einzugs der Frauen in die Büros.61 Die schnellere Zirkulation der Güter, die ästhetische Aufwertung ihrer Darstellung, ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Methodisch ist es leider außerordentlich schwierig, zuverlässige Angaben über die Ökonomie der Löhne und der Lebenshaltungskosten zu erstellen, um eine volkswirtschaftliche Ertragsbilanz zu erhalten, welche den gesamten Lebenszusammenhang zu beschreiben vermöchte. Industrialisierung heißt: Mehrwert als materielle und immaterielle, potenzielle, aber jederzeit aktualisierbare und in Geldwerte rückverwandelbare Waren zu produzieren und damit auch Bedingungen zu schaffen, mittels des Konsums der angeeigneten Waren den potenziellen Mehrwert nun aktuell zu realisieren. Das Funktionieren des Warenkaufs, seine Effizienz, die Beschaffung der Mittel können berechnet werden. Dazu gibt es Forschungsresultate.62 Erstaunlich ist immerhin, dass eine Hauptquelle für Lohnstatistik die Unfallverzeichnisse darstellen. Es gibt zwar Lohnerhebungen der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften, deren Aussagekraft aber bezweifelt wird. Mit den Unfallverzeichnissen

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lässt sich auch belegen, wie ausgedehnt der Arbeitstag im Zeitraum von 1880 bis 1919 ist. Interessant sind auch die Erhebungen zur Wohnungsgröße. Für Arbeiter durchschnittlich in Zürich: 1896 2,83 Zimmer, 1920 2, 97. Im Kanton Bern: 1896 1,9 Zimmer, 1920 2,4. Diese Werte gelten auch für die anderen Stadtkantone. Die wirtschaftliche Situation zwischen 1900 und 1920 ist kompliziert. Es gibt zwei deflatorische Perioden. Zwischen 1911 und 1915 fallen z. B. die Mieten um 20 Prozent. Danach erfolgte, bei konsolidierten Löhnen und reduzierter Arbeitszeit, ein großer Preisschub. Ohne hier im Einzelnen auf die Interpretation solcher zyklischen Schwankungen einzugehen, kann man sie doch ohne Weiteres als Ausdruck einer langwierig verlaufenden Geschichte der Schweizer Industrialisierung und ihrer phasenhaften Beschleunigung verstehen. Am wichtigsten – und damit komme ich zum Schluss der Beobachtungen der Schweizer Industrialisierungsgeschichte – ist, dass die Ausstattung der Infrastruktur, parallel zum Massenelend, zwischen 1850 und 1914 empirisch nachgewiesen werden kann.63 Sieht man den Erfolg der Modernisierung im volkswirtschaftlichen Bereich und kontrastiert dem die Elendsbedingungen der Bevölkerung, dann lässt sich nachvollziehen, wohin der erzwungene Mehrwert geflossen ist. In der Zeit von 1850 bis 1914 beträgt die jährliche Zuwachsrate am Investitionsvolumen fast 5 Prozent. 60 Prozent der Bruttoanlageinvestitionen fließen in den Hochbau. Der Erfolg der schweizerischen Industrialisierung nach der Phase der ursprünglichen Akkumulation besteht in der Verlagerung der Kapitalinvestition auf das Fähigkeitskapital, d. h. auf Organisationsleistungen. Die Kapitalisierung der Schweiz hieß nicht: Auspressung gesellschaftlichen Reichtums für privaten Eigennutz. In dieser Phase bedeutete Kapitalisierung der Schweiz: Akkumulation der Investitionsvoraussetzungen für eine moderne Volkswirtschaft auf dem Rücken einer verelendenden Arbeitsbevölkerung. Von der allgemeinen Verlagerung zur Organisationstechnik der Warenzirkulation zeugt der Höhepunkt der Markenartikelwerbung, die 1920er-Jahre, ebenso wie an Rückschlägen reiche Geschichte einer Theorie rationaler und effizienter Werbung.

Theorie der Werbung, Rhetorik der Überredung, Bildrhetorik, ­Gefühlstechnik, eine Art ‚Massenkulturkunst‘ Auf die Reklamekunst durch Reklametheorie soll im letzten Teil dieser Erörterungen in gebotener Verkürzung eingegangen werden. Die Markenartikelwerbung wird nicht nur zu einem ökonomisch bedeutsamen Faktor der Gesamtwirtschaft, sie stellt eine bestimmte Bildrhetorik und Gefühlstechnik dar. Das gilt natürlich in dieser Allgemeinheit für die gesamte Geschichte der Werbung. Eine der Wurzeln der neuzeitlichen Werbung hat denn auch nichts mit dem System der Kapitalisierung zu tun, sondern liegt in Voraussetzungen der Zivilisation: in der nicht-eliminierbaren, kompensatorisch eingesetzten Lust am Ungewöhnlichen, in der Gier nach Sensationen und Exotischem, in der Funktion von Wunscharbeit und Traumbildern, die immer neue Paradiesorte finden.64 Formen der Darstellung solcher Absichten liegen im Bereich der gemeinen Ästhetik

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und sind schon immer auf Jahrmärkten und bei Volksbelustigungen zu sehen gewesen. Dass diese Formen gerade vom Bürgertum als Trivialität und Kitsch denunziert worden sind, ändert nichts am Hunger nach Ferne, der gerade im Bürgertum zu einer Schattenökonomie führt, die moralisch doppelt besetzt wird. Auch die neuzeitliche Werbung hat eine wesentliche Wurzel in den Attraktionsblättern herumziehender Artisten, Wunderdoktoren, Wahrsagerinnen, Schausteller. Die Erfindung des Holzschnittes und der Buchdruckkunst ermöglicht zwar eine gezieltere Werbung, aber sogar die politische Kampfrhetorik – z. B. die sogenannten Reformationspolemiken – ist vorwiegend an die gebildete Oberschicht adressiert. Versuche, die Zirkulation von Gütern und Ereignissen durch institutionalisierte Hinweise zu kontrollieren, gibt es schon früh. Nicht selten entwickeln Institutionen eine Technik, die gesellschaftlich noch nicht durchgesetzt werden kann. Eine solche Einrichtung ist das ‚Bureau d’addresse et de rencontre‘, das Théophraste Renaudot 1612 gründet. Im 18. Jahrhundert dient das Plakat vorwiegend der Kriegswerbung. Erst im 19. Jahrhundert sind die Bedingungen für einen entscheidenden Durchbruch gegeben. 1798 entdeckt und erfindet zugleich Alois Sennefelder die Lithografie und damit eine massenwirksame, schnell und präzis handhabbare Werbetechnik. Von da an lauten rhetorische Strategien in ihrem Kern für die Werbung so: „Klarer Umriss, packende Originalität, Wahl der stärksten Farben, die mit dem Wesensinhalt des Angebotes harmonisieren, äußerste Prägnanz und Beschränkung der Beschriftung.“65 Hauptsächlichen Anteil an der Entwicklung haben Frankreich und England. Unter dem Einfluss japanischer Holzschnitte entwickelt Jules Chéret ab 1865 eine spezielle Plakatgestaltung. Mit den radikalliberalen politischen Auseinandersetzungen um 1848 tritt ein Funktionswandel des Plakats ein. Streitschrift und großformatiges Werbeplakat verschmelzen zum Flugblatt. Die sorgfältigere Gestaltung, eine pointiertere Typografie und ungleich höhere Auflagen ermöglichen den Einzug der Plakatsprache in eine politisierte Öffentlichkeit. Aber bereits 1849 werden politische Plakate mit Zensurauflagen belegt. Die Werbeerlaubnis wird auf geschäftliche, kommerzielle Werbung eingeschränkt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreicht die Plakatwerbung einen Höhepunkt. In Deutschland wird der internationale Trend und besonders der Einfluss von Frankreich und England adaptiert. Visuelle Formen, die für eine öffentliche Rezeption bestimmt sind, werden immer mehr durch werbeästhetische Gesichtspunkte bestimmt, die auf wirtschaftliche Erfordernisse verweisen. Angestrebt wird die optimale Wirkung der Einheit von Schrift und Bild, das reine grafische Ausdrucksmittel. Dafür stehen die Namen Chéret, Hardy, Grasset, Bradley. Zentral ist das Prinzip der Reduktion aufs Wesentliche: scharfe Abgrenzung der einzelnen Flächen, Herausarbeitung der Silhouetten nach japanischem Vorbild. Toulouse-Lautrec hat am perfektesten, die Trennung zwischen hoher und gemeiner Kunst aufhebend, die neue Plakatsprache gehandhabt. Er ist es, der das Prinzip der Wiederholung gleicher Formen zur Steigerung des suggestiven Ausdrucks verwendet. Die Zeitschrift ‚Jugend‘ bringt als Titelbild jeweils ein Plakat. Dennoch ist um die Jahrhundertwende die Plakatgestaltung noch Gelegenheitsarbeit und entbehrt der breiten wirtschaftlichen Förderung, die zuerst in der Münchner Vergnügungsindustrie geleistet wird. Erst nach 1900 werden die

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spezifischen Formen des Werbeplakats in großem Stil für die Interessen industrieller Auftraggeber genutzt. Um 1910 schießt eine Vielzahl von Ateliers aus dem Boden. Hollermann & Schmidt ist die erste Druckerei, die keine einzelnen Aufträge mehr annimmt oder vergibt, sondern Gesamtkonzepte nach rhetorisch einheitlichen Prinzipien entwickelt. Der Bedarf an Plakatdesignern führt 1910 zur Gründung einer ‚Höheren Fachschule für Dekorationskunst‘, an der anerkannte Plakatkünstler wie Klinger, Hartwig, Deutsch und Wagner als Lehrer beschäftigt werden. Die damalige zeitgenössische Plakattheorie versucht, die sichtbar werdenden Zwänge der Wirtschaft mit dem schillerschen Gedanken des versöhnenden Kunstgenusses zu verbinden. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und einer nicht selten rücksichtslosen Verwertung tritt eine neue Generation von Reformern und Oppositionellen auf den Plan. Der ‚Deutsche Werkbund‘ feiert auf seinen Plakaten das Ethos der verantwortungsbewussten Arbeit, die perfekte Beherrschung des Metiers und plädiert für eine sachliche Ästhetik im Dienste einer professionalisierten Produktekultur. Das Instrumentarium des Jugendstils und seine mehr oder minder heimlichen Träume vom Gesamtkunstwerk werden abgelöst vom Pathos der Neuen Sachlichkeit. Die besonders klare Tektonik in der Gestaltung der Reformer einer anonymen und anspruchslosen Produktekultur kann als ästhetisches und gesellschaftspolitisches Programm verstanden werden: Unterordnung der Menschen unter die sachlichen Erfordernisse der Massengesellschaft. Die Rhetorik der Werbung wird mit Ansprüchen an eine ästhetische Volkserziehung aufgeladen. Neben dem Werkbund macht sich der Dürerbund für eine Kritik des Massenkonsums stark. Er gibt vielbeachtete „Flugschriften zur Ausdruckskultur“ heraus. In der 44. dieser Flugschriften schreibt der Philosoph Ferdinand Avenarius ein Pamphlet gegen das, was er spöttisch ‚Hausgreuel‘ nennt: Salzfässer als gotische Kathedralen, Löffel mit Bildnissen etc. Der Erste Weltkrieg setzt der Bildrhetorik und Werbepropaganda vorerst ein Ende. Das moderne Werbeplakat, die Entstehung des besonders unverwüstlichen Emailplakats fallen ebenso in die Zeit nach 1880 wie die Verwirklichung der Weltwirtschaft und die soziale Differenzierung über Löhne. Dazu gehört auch der Stellenwert, den die Markenartikel haben. Was ist das Besondere am Markenartikel? Markenartikel heißt: einheitliches Angebot eines Gutes in einheitlicher Verpackung zu gleich bleibenden Preisen. Dazu bedarf es eines feststehenden und bleibenden Namens und einer kohärenten Erscheinungsform. Der Markenartikel macht den entscheidenden Schritt vom rohen zum verpackten Gut, vom stofflichen Objekt zum Träger einer semiotischen Bezeichnung. Die Dinge, die über die Abstraktionsform ‚Geld‘ angeeignet werden können, erhalten eine abstrakte Hülle. Sie werden auch ästhetisch abgestimmt auf die modernen Transportformen, Lagerungsbedingungen. Typisierung und Reservebildung sind ebenso ein Resultat davon wie Haltbarkeit und chemisch bedingte Konservierung. Mit dem Markenartikel setzen sich neue Kommunikationsstrategien durch.66 Die auf ein breites exotisches Repertoire zurückgreifende Übertriebenheit, die gerade für das Emailplakat typisch wird, das aus produktionstechnischen Gründen mit einigen deutlich akzentuierten formalen Lösungen auskommen muss – Farbenpracht, Blickreizung durch elementare Anordnung –,

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markiert eine historische Zäsur: den Einzug der eindeutigen Appellationssprache in den formalen Bereich der hohen Kunst. In der Schweiz steht dafür als Beispiel Ferdinand Hodler. Es werden, parallel zur Popularisierung der Kunstsprache, politische Propaganda und Kitsch zu alltäglichen Ereignissen in der visuellen Ordnung der Städte. Gerade dieser veränderten Dispositionen bemächtigt sich die Wirtschaft zur Etablierung einer neuen Aura, die sie um die Dinge legt, eben der Marken. Das Emailplakat ist historisch als Darstellungsform durch seine Produktionstechnik interessant, die zur Entgrenzung von Undeutlichkeiten zwingt. Im Emailplakat kommt die Aura des Markenartikels am besten zur Geltung. Die Produktionskosten zwingen zu einer verlässlichen, dem Imagewunsch der Firmen am besten entsprechenden Werbung. Mit der Phase der ständigen Innovation, mit der Verlagerung der Werbung in andere Medien wird das Emailplakat dem gesteigerten Tempo der Zirkulation zum Opfer fallen. Es hat keine Funktion mehr den Autostraßen entlang, auch keine Funktion mehr in einer Medienlandschaft, die immer weiter ins Innere des Menschen dringt und ihm überallhin mit Bildschirmen zu folgen vermag. Konzepte der Werbung richten sich natürlich auf die Firmenpropaganda anhand ihrer Produkte, die Erfolg als Namen machen oder Misserfolg als Scheitern des Namens erfahren müssen. Mit der offensichtlich marktbestimmenden Tendenz zum Markenartikel und zu seinem Massenkonsum tritt erstmals die theoretische Arbeit auf die Bühne kalkulierter Manipulation. Die reale Öffentlichkeit der Werbung zwingt zur Verwissenschaftlichung der visuellen Strategien. So empfiehlt Segessemann 1910 auch die Manipulation des redaktionellen Teils von Zeitungen. Zugleich geißelt er aber noch Missbräuche und Tricks, die der Werbung von damals einen anerkannt schlechten Ruf eintragen. Werbung gilt als aufdringlich und unseriös. Nicht allein Waren, auch neue Werbeformen für sie müssen durchgesetzt werden. Dazu bedarf es eines Umbaus an den Toleranzschranken, Gewohnheiten, Bereitschaft und auch am Wahrnehmungsvermögen der Menschen. Entsprechend tritt die Theorie der Werbung mit einiger Verspätung auf. Ein Schub setzt erst zwischen 1910 und 1925 ein. Franz Seidt publiziert 1914 seinen äußerst erfolgreichen Berater in allen Reklameangelegenheiten des kaufmännischen Lebens. Bereits 1879 – das unterstreicht den Zusammenhang von emotivem Werbebild und Markenartikel – wird ein Großkampf zwischen Nestlé und Anglo-Swiss in Großbritannien durch die bessere Werbung Nestlés zu dessen Gunsten entschieden.67 Die Entwicklung der Markenartikel fordert neue Marktstrategien. Die Werbemaßnahmen gleichen nicht selten und nicht zufällig der militärischen Kriegsführung. Der Markenartikel kann nicht durchgesetzt werden ohne umfassendes Kalkül und eine Logistik im engeren Sinne. Dazu gehört auch die Rationalisierung der Verkaufsorganisation. Nun wird nicht mehr in die Produktion, sondern in die Organisation investiert. Es beginnt die Tertiarisierung; Sanders Bestseller markiert hier einen Einschnitt.68 Die früheren Werke – Meister Hämmerli (1902), Segessemann (1910), Büsch (1909) – fordern zwar die Propagierung der Werbung im Allgemeinen, es fehlt aber noch entscheidend an der Rationalisierung im Warenvertrieb. Und vor allem fehlt es noch am Zugriff auf die psychischen Befindlichkeiten und Abläufe. Es mangelt an der Organisation einer emotional anders besetzten Wahrnehmung im Kopf der Käufer. Das kommt durchschlagend

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erst auf dem Umweg über Amerika zurück69 und wird später zu einer eigentlichen Hier­ archie kalkulierbarer Affekte und Bedürfnisse, nach Intensitäten geordnet, ausgebaut. Die Phase der Durchsetzung des Markenartikels erscheint heute als die historische Epoche der modernen Gesellschaft, in der diese in eine Warenöffentlichkeit umgebaut worden ist. Damals werden die heute leicht einsehbaren Bedingungen gelegt für die totale Öffentlichkeit der Werbung. Heute ist die Werbung zur öffentlichsten aller mit künstlerischen Mitteln hergestellten Darstellungsformen menschlicher Belange geworden. Unter den Erfordernissen der modernen Werbung ist schon damals die überlieferte Trennung des Zweckmäßigen vom Zweckfreien als dem Schönen, wie Immanuel Kant sie für die Behauptung der bürgerlichen Bildungskultur konzipiert hat, problematisch geworden. Das ist noch ein Relikt, das aus dem Defizit der frühbürgerlichen Ökonomie gegenüber den feudalen Herrschaftsformen stammt. Erst die unbegrenzte Warenöffentlichkeit überwindet mit der Allgegenwart der Warenwerbung auch die idealistische Abgrenzungsästhetik und verwandelt die Schauplätze des Lebens in die Ruhmeshalle eines vergötterten Warenscheins. Die Politisierung der Kunst als Strategie der Herrschafts­ sicherung und die Entdeckung der Massenbeeinflussungsmedien fallen mit der Herausbildung der Waren-Werbe-Öffentlichkeit zusammen. Die Verkündigung des Reichs der Dinge nimmt im strikten Sinne theologische Züge an: Werbung löst die Offenbarungsund Verkündigungsreligion ab. Das Bürgertum tritt rhetorisch an die Stelle der Scholastiker, Priester und Jesuiten. Seither gehört zur Debatte um die Werbung, die Werber als betrügerische Priester zu denunzieren. Die Verführbarkeit durch Werbung ist der Skandal, mit dem wirksam falsche Priester den falschen Weg ins falsche Paradies weisen.70 Ein Paradies ist es, immerhin, gleichwohl. Die Darstellung von Emblemen zur Repräsentation der höheren Macht wird mit einem theologischen Aufwand geleistet.71 Wie in der moralischen Umsetzung der Theologie des Mittelalters geht es in der Werbung um die Durchdringung sämtlicher Alltagsbereiche mit Auffassungen, Bedeutungen und Symbolen, die einem dogmatischen Glauben verpflichtend und durchgängig zu entsprechen vermögen. Es geht also um eine Rhetorik der Überredung (‚Persuasion‘).72 Formal heißt das: Die Text-BildEinheit kann als erschlossener linguistischer Code verstanden werden, der alternative Interpretationen der Wirklichkeit und damit die Einsicht in den Unterschied von Zeichen/Bezeichnung und Realität/Darstellung eliminiert.73 Die Werbung verdeckt die von ihr vorgenommene Umwandlung differenzierter Realitäten zum einen, geschlossenen Wirklichkeitsmodell. Und verdeckt damit die selektiven Wertungen, die an die Stelle eines Ganzen gesetzt werden. Der Witz der Werbung ist ihre Theologie; sie bietet eine Weltsicht ohne Alternative. Der perfekte Warenschein wird zur irrealen, höchst wirksamen Öffentlichkeit. Die Werbung führt den modernen Bilderkrieg durch; es geht um eine kohärente Logik der Bilder, die lückenlos die bestimmten Modelle der Ordnung realisieren soll. Die Verwandtschaft zwischen Theologie und Werbung – zwischen zwei totalitären Rhetoriken – beweist auch die Tatsache, dass jede fundamentalistische Theologie problemlos die formalen Modelle der Werbung massensuggestiv nutzt.74 Die moderne Werbung setzt zwar Güter um, aber sie ist eine Technik, die auf ­einen Lebensstil, nicht auf ein Objekt aus ist. Die Geldform wird zum akzeptierten

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­Genussmittel, die Arbeitskraft zur disponiblen Zeitmaschine. Der Zugriff auf den Lebensstil – und das ist die eigentliche Leistung der Werbung – setzt voraus, dass die Menschen zwischen einem Kern und der Hülle der Dinge unterscheiden können, zwischen ihrer Substanz und ihrer Erscheinung, ihrem Status als Objekte und ihrer visuell-imaginativen Präsenz. Werbung sanktioniert Genussrechte. Sie erklärt die Zugriffsrechte auf den Warenfluss von der Fabrik ins Schaufenster. Sie macht die Dinge als Waren vom rücksichtslosen Standpunkt des Genusses abhängig und etabliert ihren Text als Luxus. Vom berühmten Soziologen Max Weber stammt die bekannte These, wonach der protestantische Geist der Askese, seine weltbejahende Entsagung den Kapitalismus erst möglich gemacht haben. Ein anderer berühmter Soziologe der ersten Jahrhunderthälfte – ein Kapitalismusforscher von Rang auch er – hat in einer großes Aufsehen erregenden Schrift von 1912 eine ganz andere These verfochten. In Luxus und Kapitalismus begründet er, warum, exakt umgekehrt, der Kapitalismus aus dem Geist der Verschwendung entstanden sei. An seinem Beginn stünde nicht die reformatorische Innerlichkeit, sondern eine soziale Umschichtung in der Beziehung der Geschlechter, nämlich die Trennung von Liebe und Ehe. Niklas Luhmann würde sagen, dass Intimität noch nicht codifiziert und Passion noch nicht juristisch gezügelt ist. Der Geist der Verschwendung ist luxurierende und objekthafte Projektion Es gibt deshalb gerade für ihn einen, übrigens weitherum belegbaren, Zusammenhang zwischen Warenkörper und Frauenkörper. Die Erotisierung des Objekthaften wird der Ästhetisierung der Bezeichnungen und Darstellungsweisen der Objektwertigkeiten zur Seite gestellt. Deshalb tritt in den Fokus gesellschaftlich produzierten, luxurierenden Reichtums der belebte Warenkörper der Verschwendung: die Amoure. Sie will gesellschaftlich inszeniert sein. Sie betritt, mehr oder minder versteckt, in jedem Falle aber neben der protestantischen Moral Bühne und Parkett, bezieht im idealen, disponiblen Falle nicht eines, sondern mehrere Betten und möchte vor allem gesehen sein. Das heißt: ‚Die‘ muss sich zeigen lassen können. Nicht wenig vom Wirtschaftsschub der Gründerjahre nach 1871 wird als ökonomisches Prestige in dekorierendes Raffinement umgewandelt. Der dekorierte Luxuskörper wird zur Gestalt des schönen Scheins, der an der Mode messbar ist. Dieses Messen kokettiert mit dem Blick und seinen neuen Örtlichkeiten: Feste, Theater, Variété. Nach Sombarts Auffassung sind es weder Askese noch Rationalität, weder die ökonomische Vernunft noch die Vernunft als Kontrollorgan der Triebe, welche den Prozess der Kapitalisierung in Gang setzen, sondern die Halbwelt. Sombarts Theorie erklärt stringent, warum der Industrialisierung unter der Leitung des Bürgertums eine ideologisch nicht-konforme Doppelmoral notwendig innewohnt. In ihrem ganzen Ausmaß ist sie aus der bürgerlichen Gesellschaft nicht fortzudenken, das zeigt die Organisation der Prostitution in den letzten hundert Jahren deutlich.75 Diese Doppelmoral kommt in den Gründerjahren unverhüllt zur Darstellung. Das zeigen die Impressionisten, die hauptsächlich diesen Modekörper inszenieren. Dieser Frauentypus taucht auch auf Emailplakaten auf, wenngleich gezähmt; zum Beispiel bei Opel. Das heimliche Ideal jener Zeit ist nicht die Hausfrau und Mutter, sondern die Rennommierkokotte, die Tänzerin, Sängerin und Maitresse der Belle Epoque.76 Der Zusammenhang von Luxuskörper, Stilisierung der tabulosen Frau und Anreizung

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der Markenartikelwerbung belegt jenes von Sombart für prinzipiell gehaltene Verhältnis von Luxus und Kapitalismus aus dem Geiste der Verschwendung. Sombart weist zu Recht darauf hin, dass man den Kapitalismus nicht versteht ohne Einsicht in die Durchsetzung des Illegitimitätsprinzips in der Liebe. Das gilt gegen innen, als Hauswirtschaft, wie gegen außen, als erotisches Welttheater. Die Kurtisane wird zu dem, was auch die Produkte in jener Zeit werden: zu ab­ strakten, reinen Körpern, auf die Benennungen projiziert werden können, die nach sozialem Prestige und Verfügung über Mehrwert differenziert werden. Kapitalisierung wie Verstädterung haben mit dem Verschwendungsprinzip des Luxus zu tun, nicht zuletzt auch mit der Verdrängung der Produktionskosten des Luxus. Sombart redet vom ‚Sieg des Weibchens‘ als sozialpsychologischem Motor der industriellen Tätigkeit. Gleichzeitig mit dem öffentlichen Auftauchen der Kokotten in den Passagen, den Straßen öffentlicher Warendarstellung, tritt eine andere gesellschaftliche Projektionsfläche in den öffentlichen Raum: die Litfaßsäule. Man verstünde sie schlecht, sähe man darin nur räumlich-physikalische Notwendigkeiten am Werk. Sie stellt immer auch eine Säule in einem imaginären Feld dar. Dieser wie andere Projektionsorte speisen sich aus der Phantasmagorie der Ware, wovon im Zusammenhang mit Grandville und den Weltausstellungen bereits die Rede war: der Zauberkraft der Dinge als Fetische, dem Rausch, der sich an der Bemächtigung der Waren entzündet, wozu nun eben auch die lebendige Erotik gerechnet werden kann. Da die Markenartikel nicht Massengüter in erster Linie sind, sondern Produkte einer individuell heraushebenden Verfeinerung, steckt in ihnen immer schon ein Stück Luxus. Die erste Möglichkeit, das kapitalistische Ertragsvolumen – in Tauschwerten gerechnet – zu erhöhen, ist die Häufung. Die zweite die Verfeinerung. Der moderne Weg ist der Weg der Verfeinerung. Der Feinbedarf ist es, der zur Entwicklung der Transporte und zur Errichtung kostenintensiver und darum profitabler Technologien beigetragen hat, weil er immer schon auf überlokale Märkte angewiesen gewesen ist. Bis zum Ende der frühkapitalistischen Periode wird der Bedarf an Gebrauchsgegenständen für die Masse der Bevölkerung durch Eigenwirtschaft oder Handwerk befriedigt.77 Gründe dafür sind: Es gibt keinen wesentlichen Bevölkerungszuwachs, keine Agglomeration der Menschen, keine Steigerung der Transportfähigkeit von Waren. Es besteht kein Bedarf an zusammengesetzten Gütern, die Techniken der Gütererzeugung und des Gütertransports bleiben dieselben, es gibt keinen Markt für kapitalistische Produktion und ihren Warenabsatz. Sombart nennt nur zwei Ausnahmen, die vor die Zeit der Hochkapitalisierung fallen: die Kolonien und die modernen Heere. Luxus, Markenartikel, Beschleunigung, Überlagerung der Automatismen der Wahrnehmung durch veränderte Ereignisreize, schließlich die Zugriffe der Werbestrategien auf die Motorik der kollektiven Psyche bilden eine für die Entwicklung der Werbetheorie bedeutsame Kette. Die Handbücher für Reklame bilden den Anfang. Es folgen massenpsychologische und statistische Werke. Im Amerika des Zweiten Weltkriegs schließlich werden die großen ­Werbetheorien geschrieben, meist Enzyklopädien, die in philosophischer Manier sämtliche Denk- und Triebregungen, Affekte, Eigenheiten und Fähigkeiten in einem Stufenmodell organisieren.

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Eine eigentliche Theorie als Anleitung für die Werbepraxis gibt es vor der Einführung des Markenartikels nicht. Erst der Markenartikel verlangt eine spezifische Originalität. Die Werbung für Markenartikel wendet sich nicht mehr an bestimmte, dem Händler bekannte Personen, sondern an die Masse unbekannter Verbraucher. Ideale oder empirische, spekulative oder statistische Erforschungen nicht mehr der Lebensgewohnheiten, sondern der Belastbarkeit der Psyche, lösen den Bezug zu etablierten Verbrauchsgewohnheiten auf. Es wird der Passant angesprochen, eine historisch für den Verkauf neue Konsumfigur. Die Dauerhaftigkeit des Emailplakats kommt dem entgegen, ist es doch besonders für Außenwerbung geeignet: Dauerplakate als Wegweiser und soziale Unterweiser für die neue Produktekultur.78 Die Technologisierung der Produktion schlägt sich in der Verwissenschaftlichung der Konsumbedürfnisse und der Kalkulation von Verbraucherinteressen nieder.79 Noch etwas anderes kommt hinzu: die neue Verpackung in Blechdosen. Die industrielle Fertigung haltbarer Güter – die nicht mehr als Objekte, sondern als angeschriebene Markenartikel identifiziert werden müssen – fällt in die Zeit, in der die Durchsetzung der Marken die massenhafte Verwertung ermöglichen soll.

Markenartikelwerbung und zeitgemäße Psychologie der ­Massenmodellierung Mit seiner besonderen visuellen Aufmachung wird der Markenartikel zum entscheidenden Instrument eines Zugriffs auf die Massenpsychologie. Nun wird – ein halbes Jahrhundert nach Jules Chérets ersten großen Entwürfen – der Gebrauchsgrafiker zu einem wissenschaftlichen Designer mit einer besonderen Berufsethik. Er hat von nun an die größtmögliche technische Handhabung gegen eine ‚hohe‘ Kunst auszuspielen und wird zum aufwendigen Arrangeur des Banalen. Die Emailplakate bestätigen den Erfolg der Unternehmer. Sie fungieren außerdem als Kontrollinstanzen der Designberufe. Die Gestaltungen werden meist firmenintern durch Techniker erstellt. Der Auftraggeber kann weiter dem Reklamehersteller einen Entwurf vorlegen oder diesen beauftragen, durch einen Grafiker einen Entwurf anfertigen zu lassen. Die Blechschilder sind darum oft von nicht bekannten Künstlern gefertigt. Im Maße aber, wie die Gestaltung ausdrücklicher Zielwerbung und verfeinerten Ansprüchen zu genügen hat, werden professionelle Gestalter beigezogen. Neu wird der Endabnehmer vom Erzeuger direkt umworben.80 Ist die Markenartikelwerbung etabliert, lassen sich folgende Kriterien für ihre Strategie nennen: • • • • •

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Auszeichnung einiger exklusiver Merkmale, gleich bleibende Qualität, direkt den Verbraucher ansprechende Werbung, auf langfristigen Erfolg ausgerichtete Werbung, systematisch aufgebautes, engmaschiges Vertriebsnetz.

Es soll der Konsument über die Qualität der Güter entscheiden. Leitend ist das traditionelle bürgerliche Modell von der Vernunft der Marktteilnehmer. Trotzdem spielt der Mechanismus der Konkurrenz gerade an diesem entscheidenden Punkt nicht. Die eta­ blierten Marken können, der langen Anlaufzeit wegen, mit Aufpreisen und damit indirekten Kostenbelastungen verkauft werden. Bei den meisten Artikeln beherrschen einige wenige Anbieter den Markt.81 „Markierungen – Markenzeichen – wurden zum Surrogat für das Bedürfnis des Anbieters, Vertrauen in seine Produkte zu schaffen und für den Käufer Äquivalent für den persönlichen Kontakt mit dem Hersteller.“82 Gerade die Massenproduktion hat den Markenartikel hervorgebracht. Die Herstellung von Markenartikeln ist immer schon darauf aus gewesen, ein Image zu entwerfen, mit dem die Produkte hervorgehoben werden konnten. Der Konsum hängt ab von einer historisch neuen Form der Rezeption. Die Wahrnehmung wird auf den ästhetischen Reiz von Warenerscheinungsbildern eingestimmt. Von nun fällt der Charakter der Produkte nicht mit ihren objektiven Eigenschaften zusammen. Werbung wird zum Styling am Produkt. Und, bei erfolgreicher Werbung, wird die Eigenständigkeit der Produkte durch die Werbung selber abgelöst. Nicht mehr die Güter, sondern die Werbung wird mit dem Image identisch. Sie wird zum Styling ihrer selbst. All das ermöglicht die Heraushebung gegen Konkurrenten – auch dann, wenn die physischen Eigenschaften sich unwesentlich von den Produkten der Konkurrenz unterscheiden. Selbst äußerlich homogene Güter können durch Werbung differenziert werden. Das zeigt das Beispiel der Schaffung von Marken bei Früchten. Die Fachtheorie nennt das: Die Markenartikelwerbung schafft Produktedifferenzierungen.83 Unter Werbung versteht Hotchkiss „all sorts of public messages for commercial purposes“.84 Der prinzipiell öffentliche Zugriff auf die materielle und die imaginäre Kultur ist schon für die Frühzeit der Markenartikelwerbung sicher das wichtigere Datum als die Funktion, Eigenschaften der Produkte zu propagieren. Von Anfang an stehen mehr oder minder wissenschaftliche, experimentelle und auch ganz einfach spekulative Interpretationen des Konsumentenverhaltens und der psychologischen Beeinflussungen im Zentrum des Werbeaufwands. Die Werbung soll nicht nur beeinflussen, sie soll den Kaufakt legitimieren. Die Werbung wächst in dem Maße an, wie die Grundbedürfnisse gesättigt sind. Eine systematische Werbung nach heutigem Anspruch – formulierte Ziele, überprüfbare Realisation von Zweck-Mittel-Beziehungen im Werbeplan – gibt es, nach übereinstimmender Einschätzung, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ebenso­wenig wie eine experimentelle wissenschaftliche Psychologie, die – nach der Befreiung von den philosophischen Lasten der Allgemeinbegriffe – mit mathematischen Methoden nach dem Ideal der Naturwissenschaften arbeitet. Werbung und Psychologie g ­ ehen eine enge Verbindung ein. Das macht ihren modernen Charakter aus. Die Werbung steht unter dem Zwang, immer größere Aufwendungen zu rechtfertigen. Dazu benutzt sie scheinbar objektive, in Wirklichkeit vor allem Objektivitätsmythen anreizende Verfahren. Die statistische Elementarpsychologie untersucht, unbelastet von moralischen und anthropologischen Skrupeln, den Menschen nach Reiz-Reaktions-Mustern. Dazu benutzt man den Vorläufer der behavioristischen Psychologie: die m ­ echanistische,

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­atomistische oder auch ‚Elementarpsychologie‘ genannte Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Diese Psychologie ist, wie jede andere mechanistische, der Auffassung, dass der Inhalt der Wahrnehmung sich durch die einzelnen Elemente der ­ rsten Wahrnehmungsfähigkeit quantifizieren lassen. In der Werbetheorie nach dem E Weltkrieg findet diese Tradition starke Beachtung, ist man doch an einer besonders reizintensiven Werbesprache interessiert. Die Werbung stellt sich darauf ein, die Wahrnehmung (nicht im Sinne der individuell prägenden Physiologie, sondern des gesellschaftlich Imaginären) aus einzelnen Teilen neu zu modellieren und zusammenzu­setzen. Man führt Untersuchungen durch über die Wirkung von Farben, Größe und Anzahl der Buchstaben, der Schrift, Größe und Platzierung der Anzeigen. Die Psychologie der Werbung beruht – gerade bei den Pionieren Münsterberg und König – auf Verwissenschaftlichung. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass nur Begriffe wissenschaftlicher Objektivität und entsprechende Planungsmodelle das Werbebudget sichern, auch wenn die Werber viel intuitiver arbeiten, als das allgemein für möglich gehalten wird. Die Verwissenschaftlichung orientiert sich an elementaren Gestaltungs- und Informationseinheiten: an geometrischen Grundformen, am Gesetz der Nähe, der Gleichartigkeit, am Theorem von der semantischen Geschlossenheit, später am Modell der Firmenidentität verstärkenden Werbe- und Produktereihen. Natürlich ist es noch ein weiter Weg bis zu den abschließenden, statistisch-empirischen Untersuchungen der Werbung hinsichtlich Ökonomie und Psychologie, erst recht zu Formalisierungen wie den ‚Check lists of Advertising Essentials‘85 oder ökonometrischen Untersuchungen86 und Affektenzyklopädien.87 Gerade die letzteren Titel leben von der Vision, eine Anthropologie steuerbarer Affekte in praktisch-positiver wie positivistischer Absicht auf den höchsten Punkt experimenteller Beeinflussbarkeit vorzutreiben. Einige Jahrzehnte später verwandelt sich diese Vision in einen harten Bürokratismus, der den Menschen, seine Lebenswelt und Person als technisch bearbeitbare, quasiyphysikalische Ereignisse beschreibt.88 Trotz dieser späteren, unabsehbaren und zugleich monotonen Entwicklung verzeichnet immerhin schon 1918 eine Bibliografie weit mehr als 1500 Titel aus dem Bereich der Reklame.89 Die Lehrbücher der 1920erJahre sind nicht nur systematischer, sie artikulieren ein erstarktes Selbstbewusstsein der Werbebranche, was offensichtlich auf Jahrzehnte propagandistischer Durchsetzung der Massenkonsumkultur zurückzuführen ist. Immer stärker wird die Marktposition des Verbrauchers in die Kalkulation einbezogen. Der Abnehmer könne nämlich widerspenstige Kleinhändler zwingen, sich Markenartikel anzuschaffen.90 In Büchern jener Zeit91 werden als wirtschaftliche Faktoren der Werbung genannt: Vermehrung des Reinertrags, Vergrößerung des Umsatzes, Beschleunigung des Absatzes, Ausdehnung des Betriebes; volkswirtschaftlich: gesteigerte Produktion, Preisbegünstigungen, Verbesserung der Wa­ ren, Wecken neuer Bedürfnisse, Bejahung des Fortschritts, Regelung der Preise, Bildung von Märkten, Förderung von Handel und Export, Indienstnahme großer Mengen an Berufen, Gewerben und Industrien. Außerdem ganz allgemein eine erzieherische Wirkung auf den Konsumenten durch die Verfeinerung des Geschmacks. Meist werden aber die einzelnen Werbeformen nicht auseinandergehalten. Das Emailplakat wird nur bei Hellweg und Lauterer gewürdigt.92

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Das moderne Niveau der Massenbeeinflussungstechniken erreichte die Werbung und damit das Produktedesign in der Öffentlichkeit erst im Nationalsozialismus. Der ­Nationalsozialismus betrieb Werbung total und mit großem wissenschaftlichen Aufwand. Planungsmodelle und Kalkulation der Mittel waren auf die Anwendung von Beeinflussungen ausgerichtet, denen sich die formalästhetischen Betrachtungen der Wahrnehmungswirkungen einzupassen hatten. Erst in dieser Zeit einer organisierten Produktion von ‚Images‘, steuernden Bildern und der dafür nötigen Inszenierung von Massen93 wird auch die industrielle Massenproduktion der Güter zu einem restlos in der Öffentlichkeit genutzten Darstellungsvorgang. Das drückt sich in der Werbetheorie ebenfalls aus. Erst Redlich94 geht verbindlich davon aus, dass Werbung Massenabsatz ermöglichen muss und dass formalästhetische Mittel, unter Berücksichtigung der Tatsachen, Bedingungen und Beschaffenheit des menschlichen Sinnesapparates und der darin fundierten Wahrnehmung, von diesem Prinzip auszugehen haben. Ähnliches geschieht ja in der massenpsychologischen Nutzung der Sprache der Plakate, die in den späten 1930er-Jahren konsequent auf experimentell-statistische Wahrnehmungspsychologie ausgerichtet werden95. Diese Totalisierung der rein öffentlichen Darstellungsform ist etwas, was in der Struktur der Markenartikelwerbung von Anfang an eingeschlossen war und nun politisch-ideologisch zum ersten Mal breit entfaltet wird: Herrschaft der Namen über die Dinge und Menschen. Die Strategien der Nationalsozialisten wurden später als Maßstab für koordiniertes, abgesichertes Vorgehen zum Vorbild der integrierten Werbung und der sogenannten Corporate Identity der Weltfirmen. Es ist nicht das Hakenkreuz, das die von Hitler beabsichtige universale Präsenz auf der Welt erreicht, es sind die Schriftzüge von Coca-Cola und Lévi Strauss. Der Umbau der gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Köpfen der Menschen, bewirkt durch Umsiedlung, Entwurzelung, Ausbeutung, Umsturz sämtlicher Gewohnheiten, gründet in einem Umbau der Wahrnehmung und besonders in den Städten in der permanenten Anreizung flüchtiger Ereignisse, auf die das Identifikationsvermögen umgestellt wird. Das hat nicht nur ideologische, politische und soziale Seiten, sondern auch eine erkenntnistheoretische: die eigentlich gar nicht selbstverständliche Verschmelzung von Geld, Markenname und Bildzeichen. Behrmann sieht richtig, dass in der Marke die Reklame gipfle, und nicht umgekehrt, und dass dies die Benennung der Waren als koordiniertes Denkhandeln voraussetze.96 Das Sinnbild der Waren wird zur Repräsentation ihres Namens, die Bezeichnung versinnlicht nicht nur das materielle Objekt, sondern den Namen, die Bezeichnung im Kopf der Käufer. Das ist der historische Einbruch der Vermittlungsagenturen und Visualisierungsinstanzen im Kopf der Betrachter und Käufer und ist somit Resultat und Faktor zugleich der Ablösung der Erinnerung durch das Ereignis. Diese Ablösung gipfelt heute in einem neuen Wechsel der kulturellen Interpretation der Gesellschaft: im Schub der Massenkommunikation vom Symbol zum Signal. Die Wurzeln eines Vorgangs, in dem Zeichen sich selber zitieren und nicht mehr die Realität, liegen in der Umwandlung der Waren zu Wortmarken und Bildzeichen.97 Die ökonomische Entwicklung zur totalen Warenästhetik hat eine erkenntnistheoretische Bedingung in der Umwandlung der Dinge in Erscheinungsbilder und der Waren in Namen. Deshalb hängt der wirtschaftliche Erfolg der Konsumgesellschaft von der

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Etablierung der Markenartikel eng zusammen.98 Die Namen werden im Gedächtnis der Konsumenten eingebrannt, sie werden, wie Roland Barthes elegant mystifiziert, zu Götterboten,99 zu Fetischen, zu realen Mythen, die Nachfolger um sich scharen, zu Initiationsritualen des modischen Verhaltens, das beinahe den Mustern und dem Druck religiöser Nachfolge entspricht. Sie werden zu klangvollen Verehrungsnamen – die Dinge sind längst nicht mehr Dinge, sondern Zugangsbedingungen zu bestimmten Lebensstilen –, zu scheinbar mit schöpferisch-subjektiven Kräften begabten Dingen, in denen die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums verschwindet und das Vermögen der Lebendigkeit als etwas von außen huldvoll Dargebotenes erscheint. Der Name einer Ware wird zu ihrer höheren, eigentliche Existenzform. Der Gebrauchswert verschwindet, der Tauschwert wird zum Sinnbild seiner selbst. Die Organisation der Selbstbezüge der Tauschwerte verwandelt – an der Schwelle zum Aufschwung in den 1950er-Jahren dieses Jahrhunderts – die Werbung ein weiteres, ein letztes Mal: Sie wird zur Organisation der Gleichgültigkeit von Wahrheit und Lüge, sie verfügt frei über alles und macht aus Wahrheit Lüge und umgekehrt. Die Marke als Name: „The essential element is that it appears on the merchandise itself and stays there until the merchandise reaches the consumer.“100 Warum erleben Alltagsdinge aus früherer Zeit heute einen solchen Boom? Was ist es, was an Emailplakaten fasziniert? Natürlich hat wie jedes auch dieses ästhetische Gefallen seine historischen Bezüge und eine Vielzahl von Bedingungen, die nicht im Selbstwert der Geschichte, sondern in einem verdeckten Wunsch der Gegenwart liegen. Die schon angesprochene Dauerhaftigkeit der Emailplakate kanalisiert hier weiterreichende Bedürfnisse nach einer speziellen Seite der Geschichte: nach einem Nachschein der guten alten Zeiten ebenso wie nach einer Authentizität eines scheinbar verklärten Alltags. In Krisenzeiten besteht immer eine Neigung, gerade die ästhetischen Zeugnisse für Spuren von etwas Besserem zu halten. Es lebt darin ein magischer Glaube, den schönen Schein in die kompakte Gegenständlichkeit der realen Dinge zurückverwandeln zu können. Die museale Veredelung von Alltagsdingen lebt von der Suche nach einem Ursprung, nach einem Eigentlichen. Und ein Stück weit will sie sich die Substanz der historisch ausgestellten Dinge aneignen. Dem kommen die Emailschilder noch aus einem anderen Grund entgegen. Sie haben von Anfang an eine eigentlich verschwindende Aura ins Bild gebannt: ein besonderes Ambiente, besonders eine Auratisierung der Personen. Je mehr nun diese Aura aus der Gesellschaft verschwindet – und das macht sie im Gleichschritt mit der Formierung der Massenkonsumgesellschaft –, desto mehr wird der Mensch zum Träger der Werbung und emanzipiert sich vom bisherigen Status des Adressaten. Der Mensch wird zum Attribut der Inszenierung, der Dekors und Moden, er wird zum Programmausdruck einer Werbemaschine. In der Regel identifiziert man Unbekannte auf der Straße auch so, dass man unter Einbezug ökonomischer Verfügung auf den Umgang der Unbekannten mit Marken spekuliert. In der heutigen, ent-auratisierten Phase der Werbung werden die Menschen zu Typen, welche die Typologie des Menschen in der Werbung definieren. Das ist der Punkt der Herrschaft der reinen Bildzeichen und Wortmarken in einer Gesellschaft, in der der Erfolg der Werbung vielleicht nur noch daran scheitert, dass sie so durchschlagend öffentlich geworden ist, dass niemand sie mehr wahrnimmt. Aber die

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Zeichensprache der Werbung steht heute im Glanz des totalen Erfolgs und zitiert sich ­selber als Erfolg der Formen, in denen sie produziert wird. Dafür stehen die nackten ­Mädchen bei Lévi Strauss ebenso wie die metallurgisch stilisierten Architekturen in der Werbung von Bally, die lässig behauptete Vitalität der Turnschuhgeneration bei Gauloise ebenso wie das Ritual des göttlich-dämonischen Geschenks bei Citroen.

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094  VOM ERBE 

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Erstdruck der integralen originalen Textfassung, geschrieben im Juli 1985 für den Katalog einer Ausstellung zu Emailschildern im Kunstgewerbemuseum Zürich – auf Betreiben der ‚Pro Marka‘ als Hauptsponsor der Ausstellung im Katalog dann nicht erschienen. Zu verschiedenen Zeiten wurden verschiedene Teile in neu eingeleiteten und bearbeiteten Auszügen an verschiedenen Orten publiziert, u. a.: – „Vom Ende des Flanierens“. In: Basler Magazin – Politisch-kulturelle Wochenend-Beilage der Basler ­Zeitung, N° 22 / 1986. – „Marken und Namen: Bemerkungen zum Luxus“. In: Basler Magazin – Politisch-kulturelle WochenendBeilage der Basler Zeitung, N° 5 / 1986. – „Als die Markenartikel laufen lernten“. In: Der Alltag Nr. 1/1987, Zürich. – „Werbeplakat und Markenartikel. Zur Entstehung eines industriekulturellen Zusammenhangs“. In: ­Ästhetik und Kommunikation, Heft 67/68: Kulturgesellschaft. Inszenierte Ereignisse, Berlin 1987.

INDUSTRIEKULTUR UND WARENPROPAGANDA  095

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G. C. Lichtenberg, Briefe, in: ders., Schriften und Briefe Bd. 4, hgg. v. M. Promies, München 1966, S. 211 f. C. Einstein, Bebuquin (1906), Frankfurt 1974, S. 36 f. L. Aragon, Libertinage, die Ausschweifung, Frankfurt 1979, S. 49.

F. T. Marinetti, zit. n. P. Pörtner, Literatur-Revolution 1910–1925, Bd. II, Neuwied/Berlin 1961, S. 38 f. K. Hiller (Hrsg.), Tätiger Geist. Zweites der Zieljahrbücher, München/Berlin 1918, S. 295. Dadaistisches Manifest 1918, zit. n. K. Riha, Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen, Stuttgart 1982, S. 23. 7 Zit. n. W. Rothe (Hrsg.), Deutsche Großstadtlyrik vom Naturalismus bis zur Gegenwart, Stuttgart 1973, S. 153 f. 8 Zit. n. M. Durzak, Gespräche über den Roman, Formbestimmungen und Analysen, Frankfurt 1976, S. 92. 9 Für eine andere Übersetzung s. Ch. Baudelaire, Die Blumen des Bösen (1861), übers. v. Carlo Schmid, Frankfurt 1976, S. 143. 10 Für eine andere Übersetzung s. ebda. S. 38 f. 11 Für eine andere Übersetzung s. ebda. S. 140. 12 Baron G. E. Haussmann, Mémoires, Bd. 3, Paris 1893, S. 53. 13 Zahlen nach A. Sutcliffe, Metropolis 1890–1940, University of Chicago Press 1984. 14 W. Benjamin, Charles Baudelaire – Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt 1969, S. 36 ff. 15 Ebda., S. 120 ff. 16 Ebda. S. 122. 17 Ebda. S. 138. 18 Ebda. S. 139. 19 W. Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Bd. V, 2 Teilbände, Frankfurt 1982, S. 50. 20 Ebda. 21 Ebda. S. 51. 22 Ebda. 23 Vgl. ebda. S. 267. 24 Ebda. 25 Ebda. S. 235. 26 Talmeyr, zit. n. ebda. S. 234. 27 Ebda. S. 232. 28 K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1972, S. 245 ff., 391 ff. 29 Vgl. O. Rühle, Illustrierte Sittengeschichte des Proletariats, Bd. 1, Berlin 1930. 30 Vgl. K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1972, S. 741 ff. 31 Vgl. M. Mauss, Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frank­ furt a. M. 1968; ders., Der Gabentausch, in: ders., Soziologie und Anthropologie II, München 1975. 32 Vgl. G. Simmel, Philosophie des Geldes, München/Leipzig 1920, 3. Auflage. 33 Vgl. ebda. S. 480 ff. 34 Hundert Jahre Henkel 1876/1976, Düsseldorf 1976, S. 115. 35 Ebda. S. 77. 36 Maggi-Revue, Jubiläumsausgabe 2, 1983. 37 Maggi-Revue, Jubiläumsausgabe 2, 1983. 38 Vgl. dazu: R. Nadig, Vortrag zur Jubiläumsfeier 100 Jahre Maggi, 1983, S. 46 f. 39 H. R. Schmid, 125 Jahre Freude schenken – Lindt & Sprüngli 1845–1970, Kilchberg 1970, S. 28. 40 Ebda. S. 32. 41 Vgl. J. Franaszek, 75 Jahre Kaffee HAG AG, in: Heimatbuch Meilen 1983, S. 89 ff. 42 Vgl. G. Dugardin, Histoire des commerces des Eaux de Spa, Liège o. J. 43 Vgl. F. Bergier, Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, Zürich 1983, S. 123; J. Schwarz, Bruttoanlageinves­ titionen in der Schweiz 1850–1914. Eine empirische Untersuchung zur Kapitalbildung, Bern 1981, S. 21. 44 Vgl. Bergier, a. a. O. (Anm. 43), S. 112 ff. 45 Vgl. Marx, a. a. O. (Anm. 28), S. 741 ff. 46 Vgl. hierzu O. Negt / A. Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt 1972. 47 Vgl. hierzu und nachfolgend v. a.: W. Bickel, Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungspolitik der Schweiz seit dem Ausgang des Mittelalters, Zürich 1947; J. Durrer, Die Schweizer in der Fremde, in: Zeit­ schrift für Schweizerische Statistik 21, Bern 1885, S. 85 ff; W. Hürlimann, Die schweizerische Auswan­ 4 5 6

096  VOM ERBE 

derung und ihre Gesetzgebung, Zürich 1918; L. Schelbert, Einführung in die schweizerische Auswande­ rungsgeschichte der Neuzeit, Zürich 1976. 48 Vgl. L. Schelbert, Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, Zürich 1976, S. 38 ff. 49 Vgl. ebda. S. 52. 50 Vgl. J. Siegenthaler, Zur Entwicklung des schweizerischen Lehensstandards im 19. und 20. Jahrhundert, in: Schweizer Monatshefte XLVI 1966/67. 51 Vgl. J. F. Bergier, Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, Zürich 1983, S. 257. 52 Meienberg hat das exemplarisch für die Ostschweiz am Fall eines ‚Landesverräters‘ gezeigt: N. Meien­ berg, Die Erschießung des Landesverräters Ernst S., Darmstadt und Neuwied 1978. 53 Vgl. Bergier a. a. O., S. 230. 54 Vgl. ebda. S. 225. 55 Vgl. ebda. S. 243, für die Zeit nach 1910: H. Siegenthaler, Schweiz 1910–1970, in: Cipolla/Borchardt (Hrsg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 5: Die Europäischen Volkswirtschaften im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart/New York 1980, S. 245 ff. 56 Die Schweiz vom Bau der Alpen bis zur Frage nach der Zukunft, Zürich 1975, S. 102. 57 Vgl. dazu: H. P. Schmid, Generalstreik 1919 – Krieg der Bürger, Zürich 1980. 58 H. Siegenthaler, Schweiz 1910–1970, in: Cipolla/Borchardt (Hrsg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 5: Die Europäischen Volkswirtschaften im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart/New York 1980, S. 245 ff., hier S. 264. 59 Vgl. Arbeitsalltag und Betriebsleben. Zur Geschichte industrieller Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Schweiz, hgg. v. Schweizerischen Sozialarchiv, Diessenhofen 1981, S. 45 ff. 60 Vgl. S. Kracauer, Die Angestellten, Frankfurt 1930. 61 Vgl. Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Schweiz, hgg. v. Schweizerischen Sozialarchiv, Diessen­hofen 1981, S. 231 ff., 264 ff. 62 Vgl. B. Beck / U. Kern / M. Curti / Th. Gross, Reallöhne schweizerischer Industriearbeiter 1890–1921, ­Typoskript, 4 Bde., Zürich 1981, Sozialökonomisches Seminar, Abteilung Wirtschaftsgeschichte. 63 Vgl. J. Schwarz, Bruttoanlageinvestitionen in der Schweiz 1850–1914. Eine empirische Untersuchung zur Kapitalbildung, Bern 1981. 64 Vgl. N. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., Bern 1969, 2. Auflage; S. Oettermann, Die Schau­ lust am Elefanten, Frankfurt 1982. 65 H. Gagel, Studien zur Stilgeschichte des deutschen Plakats 1900–1914, Berlin 1971, S. VIII. 66 Vgl. dazu: M. Kutter, Werbung in der Schweiz – Geschichte einer unbekannten Branche, Zofingen 1983, S. 26 ff. 67 Vgl. ebda. S. 36. 68 S. F. K. Sander, Verkaufs-Organisation und Geschäftsreklame, 1910, erw. 1924. 69 Vgl. G. À. Jaederholm, Die Psychologie der Anzeige in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in: Grundriss der Betriebswirtschaftslehre Bd. 13: Nachrichtendienst, Schriftverkehr und Reklame, Leipzig 1928, S. 315 ff. 70 Vgl. W. B. Letz, Werbung und Verkündigung. Zur Übertragung sozialpsychologischer Denkmodelle in das religiöse Feld unter dem Gesichtspunkt der ‚Sozialen Steuerung‘, Diss. Göttingen 1971, bes. S. 128 ff; W. Wick, Die Entwicklung des kaufmännischen Stils, in: 25 Jahre C. E. Poeschel Verlag – Ein Jubiläums­ buch, Stuttgart 1927, S. 101 ff., hier S. 106 f. 71 Vgl. H. P. Jeudy, La publicité et son enjeu social, Paris 1977, S. 113 ff. 72 Vgl. J. N. Kapferer, Les chemins de la persuasion – Le mode d’influence des media et de la publicité sur les comportements, Paris 1978, S. 112 ff. 73 Vgl. A. Heiz, Wie argumentiert Werbung. Zur verbalen und imaginalen Konzeption von Werbebotschaften, München 1978, S. 212 ff. 74 Vgl. R. Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt 1964, S. 11 ff. 75 Vgl. R. Schulte, Sperrbezirke – Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt, Frankfurt 1979. 76 Vgl. A. Ulrich, Bordelle, Straßendirnen und bürgerliche Sittlichkeit in der Belle Epoque. Eine sozialge­ schichtliche Studie der Prostitution am Beispiel der Stadt Zürich, Zürich 1985. 77 Vgl. W. Sombart, Liebe, Luxus und Kapitalismus – Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung (1912), Berlin 1983, S. 141 ff. 78 Vgl. W. Hellweg, Die Außenreklame in Stadt und Land, Hamburg 1919, S. 175 ff.

INDUSTRIEKULTUR UND WARENPROPAGANDA  097

79 Vgl. G. À. Jaederholm, Die Psychologie der Anzeige in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in: Grundriss der Betriebswirtschaftslehre Bd. 13: Nachrichtendienst, Schriftverkehr und Reklame, Leipzig 1928, S. 315 ff., hier S. 330 ff. 80 Vgl. O. Blume/G. Müller/B. Röper, Werbung für Markenartikel – Auswirkungen auf Markttransparenz und Preise, Göttingen 1976, S. 180 ff. 81 82 83 84 85 86 87

Vgl. ebda. S. 90 ff. Ebda. S. 7. Vgl. ebda. S. 38 ff. G. B. Hotchkiss, An Outline of Advertising, New York 1950, S. 111. Vgl. Check Lists of Advertising Essentials, compiled by Printer’s Ink. Editors, New York 1958. Vgl. W. S. Comanor / Th. A. Wilson, Advertising and Market Power, Cambridge Mass. 1974, S. 169 ff. Vgl. N. H. Borden, The Economic Effects of Advertising, Chicago 1944; H. P. Bridge, Practical Advertising, New York 1949. 88 Vgl. G. F. Heuer, Elemente der Werbeplanung, Köln/Opladen 1968. 89 Vgl. J. F. Kaindl, Bibliographie der deutschen Reklame-, Plakat- und Zeitungsliteratur, Wien 1918. 90 Vgl. K. Lauterer, Lehrbuch der Reklame, Wien/Leipzig 1923, S. 248. 91 Vgl. neben Lauterer auch: H. Behrmann, Reklame, Berlin 1923; Th. König, Reklame-Psychologie, Berlin/ München 1926. 92 Vgl. W. Hellweg, Die Außenreklame in Stadt und Land, Hamburg 1919; K. Lauterer, Lehrbuch der Re­ klame, Wien/Leipzig 1923, S. 252 ff. 93 Vgl. S. Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt 1963. 94 Vgl. F. Redlich, Reklame. Begriff, Geschichte, Theorie, Stuttgart 1935, S. 4, S. 166 ff. 95 Vgl. F. Medebach, Das Kampfplakat. Aufgabe, Wesen und Gesetzmäßigkeiten des politischen Plakates, nachgewiesen an den Plakaten der Kampfjahre 1918–1933, Frankfurt 1941. 96 Vgl. H. Behrmann, Reklame, Berlin 1923, S. 69. 97 Vgl. ebda. S. 75 ff. 98 Vgl. H. P. Bridge, Practical Advertising, New York 1949, S. 658 ff. 99 Vgl. R. Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt 1964. 100 H. P. Bridge, Practical Advertising, New York 1949, S. 662.

098  VOM ERBE 

SCHWIERIGKEITEN MIT DER MODERNE? ZUR INTERNATIONALISIERUNG DER LEBENS­ GEWOHNHEITEN IN DER SCHWEIZ Anlässlich der Vorstellung seines Low-Budget-Films Ariel (1988) in der Schweiz sprach der finnische Subkulturfilmer Aki Kaurismäki vom schnellen Voranschreiten der Amerikanisierung Finnlands: „Unsere Dörfer sind in den letzten 25 Jahren in Supermärkte, die Wälder in Parkflächen verwandelt worden. Milch wird als ‚Milk‘ angeboten, Brot als plastifizierte Pappe wie in Florida. Ich könnte gut und gerne 300 Schauplätze meiner Filme aufzählen, Wohnhäuser, Hotels, Bars, die in der Zwischenzeit abgebrochen worden sind. Vorsichtshalber drehe ich schon gar nicht mehr an Orten, die ich wirklich mag.“1 Ähnliches ließe sich von der Schweiz in einem vergleichbaren Ausmaß nicht sagen. Die Angst allerdings, eine entfremdende Standardisierung überforme die Schweiz bloß mit üblicher zeitlicher Verzögerung, lässt sich nicht allein im Werk schweizerischer Filmemacher (Alain Tanner, Claude Goretta, Francis Reusser, Peter von Gunten, Urs Graf) seit geraumer Zeit als Leitthema ausmachen. Noch gilt zwar als Glanzleistung der Tourismusbranche, dass unverfälschte regionale Echtheit die Reisenden beglückt, noch gehört der Emmentaler ins Emmental, das Fondue ins Waadtland und schmeckt das Zürcher Geschnetzelte in Zürich unter dem lokalpatriotischen Erwartungsdruck besonders gut, vorausgesetzt, der Koch zeige sich der Höhe seiner Aufgabe gewachsen. Noch ist die Engadiner Nusstorte nicht ein bloßer Markenartikel in den Konditoreien des Unterlandes, noch sind die lokalen Weine eine Attraktion vor Ort, die Polenta lebendig im sonst seiner Wurzeln vornehmlich beraubten Ticino und die Spezialitäten im Appenzellischen Ausdruck lokaler Lebensformen. Besuche des Silvester-Klaus-Singens in Herisau und Urnäsch zeigen, wie weit die selbstverständlichen Naherholungserwartungen der städtischen Unterländer ein vordem marginales Terrain besetzen. Umgekehrt erscheint die Basler Fasnacht – längst nicht so alt und authentisch wie das die lokale, nostalgische Geschichtspropaganda nahelegt – als etablierter Bestandteil im internationalen Sortiment an der Stelle eines früheren Rituals, derweil ein Großteil der baselstädtischen Bevölkerung die Fastnachtsferien an prominenten Orten eines internationalistisch geformten Wintersporttourismus verbringt. Dort ergehen die Anpreisungen in den Sprachen des weltweiten Werbe- und Warenverkehrs, obwohl Erscheinungswelt und Ambiente helvetisch intakt sind. Sie geben aber immer mehr ein Bild dieser Realität als diese selber wieder. Die einheimische Bevölkerung und die rollenbewusste Wiedergabe als solche prägen das Lokalkolorit, doch der Handlungsspielraum ist zunehmend auf Untermalung für eine neue internationale Geld-Elite beschränkt. Die internationale Organisation der modernen zeitgenössischen Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse hat die Realität der Schweiz in perfekt aufeinander abgestimmte Zonen aufgeteilt. Die Städte dienen als Stätten der Kultur, die Autobahnen als gesamteuropäische Durchstoßachsen, die Bergregionen als hoch industrialisierte Betätigungsfelder für spezifische Erlebniserwartungen. Die internationalistische Perfektionierung

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der Abläufe – trotz des regionalen Widerstands z. B. im Kanton Uri – hat neue Zwänge geschaffen, denen kein politischer Wille durch bloße Entscheidungsbehauptung entgeht. Die Internationalisierung der Schweiz, ihre Verwandlung in ein Land des Tourismus und der Reserve-Infrastrukturen, in eine Schweiz der Naturschönheit und Geldhandelsverschwiegenheit, sind Ausdrucksformen eines internationalen Entwicklungsschubs, der alle hoch industrialisierten Länder der technischen Zivilisation betrifft. Dass viele regionale Eigenheiten bis heute haben bewahrt werden können, belegt, dass noch nicht von einer Durchdringung des Heimatlichen durch das andere, Fremde, gesprochen werden muss, sondern nur davon, dass dieses auf der Heimat aufliegt wie eine wesensfremde Schicht. Die Forderung, das andere sei als das Wesensfremde fernzuhalten, prallt heute auf die nüchterne Perspektive, dass das Eigene auf die Dauer nicht durch trotzige Behauptung gerettet werden kann. Die Schweiz ist keine exklusive, paradiesische Insel. Die selbstgefällige Isolierung von den dringenden Zeitproblemen, der Stolz auf das Fehlen aller utopischen Intervention, der Rückzug auf den provinziellen Eigendünkel, der reaktionäre Ausstieg aus Problemen wie den Chancen einer Überwindung nationalstaatlichen Denkens im Zeitalter einer neuen Europa-Ordnung: Sie sind ethnografisch als Ausdrucksformen der Ungleichzeitigkeit ebenso interessant wie sozialpolitisch riskant und moralisch provokativ.

Marken und Moden Die Schweiz ist ein Ort und Faktor in der Standardisierung und Internationalisierung des Warenabsatzes. Die Entwicklung der ‚Migros‘ belegt, dass die Formel der Markenartikel an die Stelle lokaler Gebrauchswert-Versorgung auch dann treten kann, wenn nur die ästhetische Fülle2 als imitative Vertriebsform angeboten wird. Inzwischen hat die Industrialisierung der Vorfabrikation gerade der Migros3 belegt, dass Differenzierung auch synthetisch möglich ist. Die Migros bietet landesweit, wenn auch in jeweilig angepasster regionaler Auswahl, 240 verschiedene Brotsorten an. Die Produktion ist standardisiert; der erzeugte Anschein einer Fülle an Gebrauchswerten zeigt, dass die Aura einer fruchtbaren Natur ebenso industriell produziert werden kann wie ihr vermeintlich unersetzbares Erzeugnis. Die Lancierung eigener Produkteketten durch die Migros zollt der internationalen Standardisierung Tribut, suggeriert aber, es handle sich dabei um aus der Selbstversorgung herauswachsende, spezifisch schweizerische Neuheiten. Ganz ähnlich funktioniert seit Jahrzehnten die Schweizer Modebranche: Auswärtige Impulse und Entwürfe werden modifiziert und in den größeren Ketten angeboten. Ein japanisches Prinzip. Wie präzise in der Schweiz auf die Zwänge und Perspektiven der Standardisierung internationaler Warenangebote und der Möglichkeiten zeitangepasster Neuheiten reagiert werden kann, zeigt das Beispiel ‚Swatch‘: ein internationaler Erfolg, kulturgeschichtlich bereits jetzt die Ikone des ‚Life-Styling‘-Zeitalters. Hochtechnologie als Billigprodukt, endlos in der Variation der Designmuster, grell, frech, unangepasst, zeigt Swatch, dass eine notleidende Branche in der Schweiz die Kunst der Paradoxie be-

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herrschen kann, indem sie mittels der Rhetorik des Nonkonformistischen eine neue Konformität schafft. Diese Erfolgsgeschichte verweist auf eine Konstante in der Kulturgeschichte der international standardisierten Warenangebote. Sie gehen in der Regel auf vorindustrielle oder nichtetablierte Aktivitäten zurück. Es ist oft eine subkulturelle Jugendästhetik, die neue Entwicklungen provozierte. Den Ansprüchen an gerade nicht etablierte Produktionsformen und -objekte wurde deshalb mit dem Eifer der Vereinnahmung begegnet, weil nur das Unbekannte zum Motor für neue Moden werden konnte. Zu Beginn der 1990er-Jahre hat solches zugunsten eines Chics der skrupellosen Vereinnahmung des Ursprungsguts ausgeschlagen. Spätestens mit ‚Benetton‘ und ‚Lacoste‘ ist eine neue Stufe innerhalb der Herrschaft von Symbolen erreicht. Der Triumph der Marken verweist auf immer artifiziellere Formen von Zugehörigkeitserklärungen. Die einzelnen Menschen werden zur lebendigen Werbefläche. Das Persönliche vermischt sich mit solcherart individualisierter Ware. Heute scheint die Standardisierung zu wesentlichen Teilen abgeschlossen. Das Prinzip ‚Disneyland‘ für Freizeitparks, zeitgemäße Museen aller Art, selbst für die Restaurierung einer nostalgisch verklärten und zum öden Dekor umgeschminkten Heimat, die regressive Sehnsucht in ein idyllisch Vergangenes, ist allgegenwärtig und als offenbar unumstößliche Form von Kulturgebung unangetastet.4 Die Wiederholung, das Serielle, das Prinzip der industriellen Herstellung aller Güter – auch der symbolischen und immateriellen – ist natürlich grundsätzlich in der Geschichte der Industrialisierung vorgeformt. Der durchschlagende Erfolg der Markentechnik zeigt, dass die industrielle Herstellung abschließend auch in den Bereich der Primärversorgung (‚fastfood‘) vorgedrungen ist. Damit werden in großem Maßstab Verhaltensweisen an allgemeine Vorbildungen angeglichen. Das Ausmaß der Gewöhnung verweist auf perfekte Handhabung eigentlicher Kulturtechniken. Seit 1945 ist der Gleichklang der Nutzung von Dingen und Ideen, Symbolen und Gebrauchsgütern, ist der Rhythmus der Gleichförmigkeit im Gebrauch umgreifender Darstellungskonzepte international stetig gewachsen. Entsprechende Darstellungen seit 19455 können mit einer kulturgeschichtlichen Modellanalyse des ‚fast-food‘- Sektors am Beispiel von ‚McDonald’s‘ fortgesetzt werden. Heute wird jeden Tag irgendwo auf der Welt mindestens ein McDonald’s-Restaurant eröffnet. In 50 Ländern beläuft sich die Gesamtzahl auf derzeit über 11 000. In der Schweiz sind es vorerst bloß ‚Familienrestaurants‘, die nach demselben Prinzip funktionieren: Ein standardisiertes Angebot wird von knapp eingeführten Jugendlichen in identischer Uniform und innerhalb kürzester Zeit an die sich auf verschiedene Kassen nebeneinander verteilenden Konsumenten ausgegeben. Die Inneneinrichtung ist standardisiert. Das Ziel ist in diesem wie in ähnlichen Fällen – Hotelketten wie ‚Hilton‘, ‚Sheraton‘ etc. – dasselbe: Der Konsument soll, wo immer auf der Welt er sich befindet, Esswaren zu sich nehmen können, die gleich aussehen, gleich schmecken und auf identischen Produktions- und Verteilerformen beruhen; eine synthetische Heimat, die nicht von den Menschen, sondern von einer Marke und ihrer Standardisierung geschaffen wird. Bezeichnenderweise wurzelt der Erfolg von McDonald’s nicht in einem ernährungspolitischen Konzept – wie im 19. Jahrhundert der von ‚Maggi‘ –, sondern im auf stetige Feinoptimierung und Rationalisierung, Zeitersparnis und Ökonomisierung ange-

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legten Erfindergeist von Raymond Kroc, Erfinder eines neuartigen Milchshake-Geräts in San Bernardino, der nach zähen Verhandlungen mit den Brüdern Mac und Dick McDonald deren Restaurationskonzept in großem Ausmaß in die Welt brachte. Der Erfolg von McDonald’s belegt, dass das bewusste Ideal einer Mahlzeit, zugeschnitten auf die typische Mittelklasse in den Vorstädten der USA der endfünfziger Jahre, von einer Formalisierung international verbürgerlichter Lebensverhältnisse und Verhaltensgewohnheiten bestimmt ist. Die ebenso symbolkräftige wie materielle Gestaltung von McDonald’s ist kulturgeschichtlich ein Zeuge für die internationale Standardisierung der Gewohnheiten und Einstellungen. Im Selbstversorgungsbereich der Ernährung setzt McDonald’s fort, was bereits für die Bereiche Automobil6 und Reisen/Tourismus7 gilt: Standardisierung der Produktion, größtmögliche Optimierung der Arbeitsabläufe, weitestgehende Vermarktung als Ausdruck einer symbolisch verallgemeinerten Einstellung. Die nationalen, regionalen und lokalen Differenzierungen schwinden in dem Ausmaß, wie die Mechanisierung und Technisierung der Reproduktion des Lebens voranschreitet. 1985 werden die McDonald’s-Wertpapiere in den Dow-Jones-Index aufgenommen. 1989 wird in Moskau das erste McDonald’s-Restaurant eröffnet. Es ist weltweit eines der größten.

Wandel der Lebensformen Veränderte Einstellungen und Gewohnheiten sind nicht in erster Linie durch bestimmte Marken, sondern durch die jeweiligen Produktegruppen zu kennzeichnen. Bereits der Anschluss an den Gebrauch bestimmter Dinge – von Waschmaschinen bis zu synthetischen Nahrungsmitteln, elektrischen Zahnbürsten, Automobilen, Fernsehapparaten und Videorecordern – garantiert den Anschluss an ein internationales technisches, industriell standardisiertes Niveau. Entscheidend ist die Durchsetzung technischer Erneuerungen. Eine einseitige Auszeichnung bestimmter Marken käme schon mit dem Problem in große Schwierigkeiten, die über Lizenzen allseitig genutzten technologischen Patente gegenüber der Differenzierung des Stylings abzuwerten. Es ist eine unbedingte Forderung, für die Gegenwart Sigfried Giedions Herrschaft der Mechanisierung unter Einbezug fordistischer8 Fertigungstechnologien und der dazugehörenden Sozialkonzepte fortzusetzen. Das dürfte über die Geschichte der Markenerfolge nur ansatzweise gelingen. Besser geeignet erscheinen Beschreibungen von ­Epochenschwellen und Durchbrüchen im Bereich der Nutzung. Die Bereitschaft, hochtechnische Erneuerungen und Erfindungen in das Alltagsleben zu integrieren, ist der Ansatzpunkt für die Beschreibung veränderter Einstellungen und Handlungsformen. Die sozial nahe­gelegte Tendenz zu einer erweiterten Technisierung und Apparatisierung des unmittelbaren Alltagslebens ist auch das Medium, in dem eine Aneignung der symbolischen Ausdrucksformen der internationalen Warengesellschaft stattfindet. Dass sich das in der Schweiz in Form einer Angleichung an die Ausdruckskraft der entwickelten Symbole der dominierenden materiellen und symbolischen Kultur des USA-Konsumkapitalismus vollzieht, liegt in der Dynamik der globalen Situation

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nach dem Zweiten Weltkrieg begründet und hat eine Beschleunigung in der Ablösung von alten Traditionen und damit eine Zerstörung des agrarischen und vorindustriellen Weltbildes9 bewirkt. Eine Geschichte der gegenwärtigen Technologien zur Bewältigung des Alltäglichen müsste die symbolische Ebene einer Ablösung von der Selbstversorgung als Modernisierung des Verhaltens durch konsumkapitalistische Lebenskultur zugrunde legen. Damit könnten die entsprechenden Strukturforschungen zum Verhältnis von Ökonomie und Politik10 ebenso ergänzt werden wie die Darstellungen der weltweit stattfindenden Migrationen aus der Schweiz11 in der Zeit bis 1930 oder die wirtschaftsgeschichtlich aufgearbeitete Technisierung der Agrarproduktion.12 Ein wesentliches Hilfsmittel für die Beschreibung einer Strukturveränderung im Bereich alltäglichen Handelns stellen die 1950, 1960,1965 und 1975 im Auftrag des ‚Schweizerischen Beobachters‘ durchgeführten Untersuchungen über Lebensstandard und Konsumgewohnheiten13 der Abonnenten dieses Forums für Anliegen einer institutionalisierbaren Konsumkritik dar. Wesentliche Verbesserungen über den Datenertrag hinaus sind erst vom Nationalen Forschungsprogramm 29 Lebensformen und soziale Sicherheit zu erwarten.14 Die kontinuierlich umfassende Verbreitung des ‚Schweizerischen Beobachters‘ stellt sicher, dass die Resultate der Befragung einen repräsentativen Aussagewert beanspruchen dürfen. Insofern der ‚Beobachter‘ aufklärerisch auf moderne Einwirkungen von Technologien aller Art in das Alltagsleben reagiert, ist er selber an der Schaffung eines angepassten Verhaltensstandards beteiligt. Er wirkt als symbolische Regulierungsform für eine helvetisch abgedämpfte Anpassung an die Nutzung moderner Hochtechnologien. Das entspricht dem Ziel der Untersuchungen, Aufschlusswerte über ­Lebensformen für entsprechende Inserenten bereitzustellen. 1950 erfassten die Umfragen hochgerechnet 1,484 Mio. Personen. Davon wohnten immerhin noch 46 Prozent in einem Eigenheim. 136 000 Waschmaschinen standen zur Verfügung, 39 000 Kühlschränke. Nur 42 Prozent hatten einen Telefonanschluss, aber immerhin 91 Prozent einen Radioapparat, 33 Prozent eine Privatschreibmaschine. Nur 40 000 Abonnenten besaßen einen eigenen Personenwagen, und immerhin 13 000 weitere bezeichneten sich als Autofahrer ohne eigene Wagen. 80 Prozent der Ferien verbrachten die Befragten in der Schweiz. Der Wunsch nach Reisedistanz und exotischem Erleben war ebensowenig entwickelt wie ein industrialisiertes Tourismusangebot. Ferien blieben Erholung im eigenen Land und dienten zwar einem Unterbruch der gewohnten Tätigkeiten, waren aber noch nicht mit Erwartungen von Bildung, intensivem Erleben der gesamten Welt befrachtet. Deutlich wird aus den Untersuchungen, dass das erste Nachkriegs-Prestige-Objekt das Automobil war. Mit seiner Durchsetzung beginnen die Distanzen ebenso zu schrumpfen wie die Einbildungskräfte sich zugunsten einer visuellen Eigenstimulation zu entstofflichen.15 In der Studie ‚Wie sie leben – 10 Jahre später‘ von 1960 wurde dementsprechend eine eigentliche ‚Kauflust‘ diagnostiziert. In der 1950er-Dekade wurden nicht weniger als 90 000 Automobile, 90 000 Waschmaschinen, 140 000 Kühlschränke, 100 000 Staubsauger, 35 000 Motorräder, 128 000 Nähmaschinen, 79 000 Privatschreibmaschinen, 32 000 Fernsehapparate gekauft. Die Befragung erfasste hochgerechnet 1,453 Mio. Personen. Blieben die Besitzverhältnisse im Wohnbereich stabil – wenn auch durch die

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Verringerung der ­Familiengröße und die Ausdehnung der Bedürfnisse nach Individualraum bereits die in den 1980er-Jahren markante Tendenz zur beschleunigten Ausdehnung des für je eine Person zur Verfügung stehenden Wohnraums begann -, so änderte sich im Bereich des technischen Komforts Wesentliches. Die einschlägigen Zahlen belegen, dass die Internationalisierung des Alltagslebens und die Standardisierung des Verhaltens nicht an der Vorherrschaft einzelner Marken, sondern an der Nutzung von Produktesektoren, damit am Wachsen des jeweiligen Produktemarktes gemessen werden müssen. Die 1950er-Dekade hat nicht nur wesentliche Mythen des US-amerikanischen Kulturbegriffs – die individuelle Schönheit, den Traum vom eigengemachten Glück, die unbegrenzte Verfügung über technisch perfekte Alltags- und Haushaltmaschinen, Jugendlichkeit und Stolz einer Zugehörigkeit zur ökonomischen wie kulturellen Weltführungsmacht – hierzulande bekannt gemacht und damit einen neuartigen Generationenkonflikt erzeugt respektive dafür symbolische Ausdrucksformeln zur Verfügung gestellt. In den 1950er-Jahren vollzog sich auch ein intensiver Anschluss an die Gewohnheiten der US-amerikanischen Mittelschicht. Damit wurde das Selbstverständnis vom traditionalen Symbolhaushalt abgelöst und auf neue Formen des Ausdrucksvermögens umgepolt. Das betraf nicht nur die Prestigesymbole der offiziellen, etablierten Kultur. Mit deren Erfolg setzte sich erstmals eine massenproduzierte Subkultur für die jüngeren Generationen als alternative Existenzdeutung durch. Es gehört zur dialektischen Widersprüchlichkeit der spätbürgerlichen Massenkonsumkultur, dass mit dem Triumph der Konsumtechniken auch die hauseigene Opposition in Form einer subkulturellen Kritik ganz andere Entfaltungsmöglichkeiten finden konnte. Ökonomisch blieb die umfassende Vermarktung des subkulturellen Ideenreichtums dieser symbolischen Opposition unvermeidbar. Damit wurden weltweit wirksame Formen eines radikalen Protestes gegen diese Vermarktung geschürt, wobei die symbolische Ebene der Protestformen wiederum kommerziell als Moden in den Kreislauf der Verwertung reintegriert wurden. Die Endlosspirale dieses symbolischen Konfliktes zwischen der Vermarktung des Lebens und der Vermarktung des Widerstands gegen die Vermarktung des Lebens hat die auf symbolisch-moralischer Ebene sich abspielenden Proteste der 1950er- und 1960er-Jahre – von Existenzialismus, Rock’n’Roll16 bis zu den fundamentalistischen Erneuerungen in der Ökologiebewegung und anderen Formen eines Kampfs um die ‚Grammatik des Lebens‘ – zu einem Öffentlichkeitsfaktor ersten Ranges gemacht. Die Protestierenden von 1968 sind, wie der Filmer Jean-Luc Godard präzise formulierte, die Kinder von Marx und Coca-Cola. Zurück zu den Zahlen: Am Ende der 1950er-Jahre verfügen 220 000 BeobachterHaushaltungen über eine Waschmaschine, 245 000 über einen Kühlschrank, 348 000 über einen Staubsauger, 200 000 über eine elektrische Nähmaschine, 203 000 über eine Privatschreibmaschine. 250 000 Beobachter-Familien sind im Besitz von 345 000 Musikund Filmgeräten – elektrische Plattenspieler, Hi-Fi-Anlagen, Tonbandgeräte, Film- und Diaprojektoren –, 364 000 besitzen ein Radio und nunmehr bereits 70 Prozent einen Telefonapparat. 130 000 Autos geben den wachsenden Wohlstand ebenso wieder wie die Tatsache, dass bereits ein Drittel aller Ferientage im Ausland verbracht wird und 20 000 Beobachter-Familien ein eigenes Ferienhaus besitzen.

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Im Befund der Umfrage von 1965 ragt nicht allein die Angst vor einem ‚unnatürlich‘ überrissenen Konjunkturtaumel hervor, sondern die über Internationalisierung des alltäglichen Konsums bewährte Entstehung neuer Klassen. Nunmehr gehören bereits 77 Prozent aller Beobachter-Abonnenten zu einer wirtschaftlich interessanten Mittelschicht, einer neuen Kaufkraft-Elite. Zwischen 1960 und 1965 sind von den Abonnenten des Beobachters angeschafft worden: 55 000 Personenautos – immerhin im Schnitt über 850 monatlich –, 107 000 Fernsehapparate, 70 000 Kühlschränke, 52 000 elektrische Nähmaschinen, 30 000 Privatschreibmaschinen. 1975 ist die Erstanschaffung von Kühlschränken abgeschlossen. Ein Bedarf wird gemeldet für Tiefkühlschränke, Haushalt-Grill-Geräte, Geschirrspüler und Bügelmaschinen. Bereits 15 000 tragen sich mit dem Gedanken, ein Gartenschwimmbad bauen zu lassen. Elektrische Rasenmäher gehören zur nicht mehr diskutierten Grundausstattung. Das Kaufpotenzial wird nunmehr primär im Bereich der Television, konkret der Anschaffung von Farbfernsehgeräten, geortet. Kassetten-Tonbandgeräte sind auf dem Vormarsch, Filmkameras und Dia-Projektoren werden chic. Hier macht sich die Ver­ änderung im Reiseverhalten, das Umstellen auf exotikverdächtige und reizintensive Fernferien direkt bemerkbar. Fotoapparate sind in drei Vierteln aller Haushaltungen verfügbar. Indirekt aufschlussreich sind die Angaben über den Konsum vorfabrizierter, tiefgekühlter und synthetischer Nahrungsmittel.17 Was in den 1980er-Jahren zum Erfolg wird, erscheint hier noch ein letztes Mal verhindert durch das Festhalten an traditionalen, durch Volksgesundheitsvorstellungen und Hausfrauenrollen vermittelten Ernährungsgewohnheiten. Der Griff zu tiefgekühlten Fertiggerichten, Büchsengemüsen und -früchten wird mehrheitlich als ‚selten‘ bezeichnet. Diät- und Reformprodukte werden fast nie benutzt. Die Epoche der durch US-amerikanische Darstellungsrituale motivierten Körperpflege – von Jogging über Aerobics zum ‚heavy-metal-Gang‘ in die Fitness-Centers bis hin zum rituellen Kult einer als Eigen-Styling betriebenen Gesundheitsmanie stehen erst noch bevor. Für die 1980er-Jahre sind als wesentliche Kennzeichen einer prognostisch zu verwertenden Einschätzung des Wandels der Lebensformen im Zusammenhang mit Problemen der sozialen Sicherheit in der Schweiz zu melden: rasante Überalterung, damit verbundene, wohl nicht zu bewältigende Kostenexplosion im Gesundheitsversorgungsbereich, markanter Geburtenrückgang, fortgesetzte Auflösung der Kleinfamilie, dramatische Zunahme an Single-Existenzweise, eine drastische neue Armut, die immer noch zu den Tabuthemen gehört, wachsende Arbeitslosigkeit und damit nochmals verschärfte Zulassungsbedingungen für Ausländer, Trend zur verstärkten Erwerbstätigkeit von Ehefrauen und Müttern. Trotz der längst nicht realisierten Gleichstellung der Frauen deutet sich eine erweiterte und beschleunigte Aufhebung strikter Funktionstrennungen zwischen den Geschlechtern an. Die technische Rationalisierung lässt eine drastische „Abwertung der Hausarbeit“18 zu. Arbeiteten von den 30- bis 39-jährigen Schweizerinnen 1960 37 Prozent, 1970 38 Prozent im öffentlichen Erwerbsbereich, so 1980 bereits 48 Prozent. Von durchschnittlich 3,3 Personen pro Privathaushalt im Jahr 1960 ging die Familiengröße 1980 auf 2,5 Personen zurück.

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Grauzonen Für die Industrialisierung und Technisierung des modernen Schweizer Alltagslebens von größter Aussagekraft wären Zahlen aus dem Gesundheitsbereich, die aber immer noch dem Tabu-Mechanismus unterliegen. Mit welcher Selbstverständlichkeit in der epochalen Entwicklung des Konsumismus seit 1945 die chemischen Gesundheitsmanipulationen intensiviert werden, ist im Prinzip klar, kann aber nicht detailliert belegt werden. Die allgemeinen Zuwachszahlen der chemischen Industrien lassen jedenfalls eine Hemmungslosigkeit im Umgang mit dem ‚natürlichen Körper‘ als einem normalen Konsumgegenstand und Funktionsmechanismus erkennen. Die Abkoppelung von einem traditionell agrarischen Weltbild und den entsprechenden Tätigkeitsmustern wird an der Industrialisierung des funktionell verformten eigenen Körpers individuell wiederholt, auch wenn gerade die Technisierung der Medizin Gegenbewegungen in Gestalt neuer Gesundheitspflege, von Diät und Ernährungskultur entstehen lässt. Die Indikationsgebiete in einer Aufschlüsselung der Marktanteile als ‚Pharma Daten Schweiz 1988‘19 stellen die präzisesten Rahmenzahlen zur Verfügung. Danach fallen 21 Prozent der Medikamente auf den Herz-/Kreislauf-Sektor, 22 Prozent sind Antiinfektiva, 15 Prozent sind Produkte für das zentrale Nervensystem. Die Vermutung, dass in industriellem Ausmaß eine nach Maßgaben der Arbeitspflichten vollzogene, apparative Manipulation des Körpers – mit der entscheidenden Definition einer funktionalen Gesundheit diesseits aller psychosomatischen Selbstregulierungskreisläufe – selbstverständlich geworden ist, lässt sich innerhalb dieses Rasters bekräftigen. Die Wiederauferstehung hysterischer Erkrankungen in Gestalt von durch ZeitgeistLeitbilder angereizten Selbstmodellierungstechniken – Magersucht, Brechsucht (Bulimie) – zeigt, dass die Tabuisierung der chemischen Manipulation des Körpers zu einem sozialpsychologischen Problem allerersten Ranges zu werden droht. Die Industrialisierung der Selbstbildung nach internationalen Verhaltensstandards – der ‚young, beautiful and rich people‘ – ist ohne Tabuisierung der symbolisch interpretierbaren Veränderungen offenbar nicht durchzuführen. Damit werden Tabubildung und Deregulierung öffentlicher Symbolsysteme zu erstklassigen Wirtschaftswachstumsfaktoren. So bleibt aus kundiger Sicht ein prinzipielles Fazit zu erwähnen, dessen Kontur bereits 1969 präzise benannt worden ist: „Als potentiell Kranker beschäftigt sich der moderne Mensch, der laufend Zeuge eines sich akzelerierenden Fortschritts von Wissenschaft und Technik geworden ist, selbstverständlich auch mit der Frage, ob die von der Wissenschaft noch nicht eroberten Bastionen im Kampf gegen Krankheit und Tod zu seinen Lebzeiten doch noch eingenommen werden. Durch Erziehung und Aufklärung über den Wert prophylaktischer Möglichkeiten vorbereitet, steht der moderne Mensch auch dem eventuellen Einsatz vorbeugender medikamentöser Maßnahmen positiv gegenüber bzw. wendet sie in letztlicher Verfolgung seines Selbsterhaltungstriebes auch mehr oder weniger konsequent an. Denken wir an Appetitzügler, blutcholesterinsenkende Stoffe und so weiter. Viel drastischer jedoch ist das Medikament in das Weltbild des gesunden Individuums durch jene Pforten eingetreten, die man schlagwortartig als ‚die Pille‘, als ‚Psychodrogen‘, als ‚Tranquillizer‘ usw. aufzählen könnte. Das Medikament ist plötzlich nicht mehr ein-

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gewoben in die unlustbetonten und angsterfüllten Assoziationen zu Kranksein, Leiden und Schmerz, sondern als Vermittler von Bequemlichkeit, Befreier von Ermüdung und Sorgen, Eröffner neuer Erlebnisse in der Langeweile eines übersaturierten Daseins.“20 Es gibt kaum etwas kulturell Aufschlussreicheres als die Form des Umgangs mit dem eigenen Körper. Was Internationalisierung, Technisierung und Standardisierung des Verhaltens angeht, sind vorurteilslos durchzuführende Untersuchungen unerlässlich. Sie hätten nicht nur deutlich zu machen, dass der Konsum illegaler Drogen weltweit bloß die gewöhnliche Internationalisierung dieses Verhaltens bestätigt, die mit Automobil und Kino beginnt. Sie hätten zu anerkennen, dass die Geschichte legaler Drogen den Schlüssel liefert nicht für die Bewältigung des Problems der Sucht, sondern für den Zugang zu deren alltäglichen Motivationsgründen. Für den Einbau von Subkulturen in die weltweite Warenproduktion aufschlussreich ist deshalb auch, dass aus der Sicht der Subkultur der 1960er-Jahre kulturgeschichtlich zu verwertende Äußerungen zu den vorherrschenden Handlungs- und Verhaltensformen existieren, die als scharfe Analysen des Symbolischen so lange vorrangig zu berücksichtigen sind, als die darin angesprochenen Sachverhalte nicht wissenschaftlich untersucht werden können. In der Rock-Kultur sind, z. B. von Frank Zappa für die USA, von den ‚Rolling Stones‘ für Großbritannien, sozialpsychologische Kommentare vorgetragen worden, deren Kraft in diversen, ritualisierten Attitüden ihrer Urheber allzu schnell abgeschwächt worden, wenn nicht gar weitgehend verloren gegangen sind, die ihren analytischen Wert jedoch beibehalten. Auf der 1966 publizierten Langspielplatte Aftermath der ‚Rolling Stones‘ findet sich unter dem Titel „Mother’s Little Helper“ ein der oben angeführten medizinischen Analyse ebenbürtiger Kommentar zur biochemischen Manipulation und medikamentengestützten Bewältigung des Alltäglichen.21 In der mikroskopisch präzisen Beobachtung solcher Texte ist ein Alltags-Panorama entfaltet, dessen Zusammenhänge belegen, dass wesentlichste Forderung an ­wissenschaftliche Forschung in unserem Themenbereich bleibt, mit diskursiv-statistischen Erklärungsmodellen nicht hinter dem Reichtum des symbolischen Bewusstseins einer engagierten Beobachtung der internationalisierten Lebenswelt zurückzubleiben. Die engagierte Perspektive formuliert das Ziel, die Verlebendigung des wissenschaftlichen Erkennens selber als Problembeschreibung des Alltäglichen in einer symbolischen Interpretation der Weltkultur zu betreiben. Für diese gibt es keine monokulturellen Leitbilder mehr. Deshalb bedarf die vielgliedrige Kultur eines internationalisierten Alltagslebens und die Analyse ihrer Symbolsysteme eines innovativen Wissensinstrumentariums und neuer Methoden.

Die Selbstverständlichkeit der Technisierung Obwohl die Schweiz ein Musterbeispiel für die Brüche ist, die durch die Industrialisierung eines agrarischen Weltbildes und traditionaler Lebensformen entstanden sind, ist die Entwicklung des 20. Jahrhunderts geprägt von einer wachsenden Selbst-

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verständlichkeit im Umgang mit neuen Technologien, von einer Anverwandlung internationaler Errungenschaften und Waren. Das gilt besonders für die Mediatisierung der Kommunikation und die Mechanisierung der Fortbewegung. Gab es 1931 erst einen Rundspruchsender – Beromünster –, waren es 1945 sieben, 1950 elf. 1955 kamen die ersten vier Fernsehsender dazu. 1966 waren hierzulande 193 Rundspruch- und Fernsehsender zu verzeichnen, 1976 waren es 1053, 1986 1650.22 Besonders interessant ist die Relation zwischen der Bevölkerungszahl und den mechanisierten Kommunikationsformen, d. h. die Dichte des Fernmeldeverkehrs oder anders, inhaltlich, gesagt, der Rhythmus der Mediatisierung der Kommunikation und die Ausdehnung der Reichweite dieser vermittelnden Gesprächsform. Die Bevölkerung stieg von 3,3 Mio. im Jahr 1900 auf 4,412 Mio. (1945), 4,9 (1950), 5,996 (1966), 6,333 (1976), 6,573 (1986). Die entsprechenden Zahlen für die Ortsgespräche sind: 20,9 Mio. (1900), 308 Mio. (1945), 381,8 Mio. (1950), 836,9 Mio. (1966), 1074,4 Mio. (1976), 1457,5 Mio. (1986). Erst die Zahlen für die Ferngespräche machen deutlich, dass die Technisierung der Fern-Kommunikation mit dem Zuwachs an Distanzierung, dem Grad an Mobilität und der Auflösung traditionaler Familienstrukturen, d. h. dem lebensweltlichen Zwangsübergang von der Agrar- zur Industrie- und von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, untrennbar verbunden ist. 1900 fanden 13,6 Mio. Ferngespräche statt. Die Frequenz stieg auf 639 Mio. (1945), 825 Mio. (1950), 2858,1 Mio. (1966). 4322,7 Mio. (1976), 7695,6 Mio.23 Die Ferngespräche stiegen also wesentlich drastischer. Nimmt man die Tatsache hinzu, dass die Telegramm-Aufgabe von 1,00 pro Einwohner 1900 auf 0,32 pro Einwohner 1986 sank, dann kann der Zuwachs an Selbstverständlichkeit als für Lebensformen typische automatische Regulierung interpretiert werden. Die Zahlen belegen die handlungsentlastende Gewöhnung an Errungenschaften der technisch-zivilisatorischen Kultur der Moderne. Die Überbrückung der Distanzen gelingt nicht nur verbal, sondern auch physisch. Die Motorisierung der helvetischen Beweglichkeit ermöglicht Pflege einer ausgebreiteten Verwandtschaft und Freundschaft. Seit den 1950er-Jahren wachsen die Importzahlen im Automobil- und Motorfahrzeugbereich drastisch. Aber nicht nur die absoluten Zahlen sind aussagekräftig. Für den Zuwachs an Kaufkraft, die Steigerung der technischen Lebensqualität, erst recht für die Bereitschaft, konsumistisch Zeugnis vom wachsenden Einkommensprestige abzulegen, d. h. für den Bedarf einer Symbolisierung der materiellen Kultur, für den Drang nach aussagekräftigen Darstellungsformen und Inszenierungsmodellen, ist ein Hauptzeuge die Zahl der in den Verkehr gesetzten neuen Personenwagen. 1947 waren das 19 339,1956 56 345, 1966 145 952, 1976 203 834 und 1986 300 170. Interessant ist, dass das im symbolischen Bereich – Naturwahrnehmung, ästhetische Sensibilisierung, Ideologie – gewachsene ökologische Bewusstsein auf die materielle Kultur keinerlei Auswirkungen gehabt hat. Im Gegenteil: Nach dem Gesetz der kompensierenden Eigenentlastung sind die Anschaffungszahlen neuer Automobile im Zeitalter des ökologischen Bewusstseins parallel zur Einstimmung auf eine apokalyptische Gefährdung überdurchschnittlich gestiegen. Vergleichszahlen zu den Herkunftsländern des Automobilimports zwischen 1947 und 1966 fördern Verblüffendes zutage: Die US-amerikanischen Wagen waren bereits nach Kriegsende etabliert, verloren dann aber – ausgerechnet in den 1 ­ 950er-Jahren,

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der Epoche der Dean und Monroe, des Rock und Hollywoods – kontinuierlich an Terrain. 1947 waren die USA noch Marktleader: 6074 Stück. Aber bereits 1955 sehen die Zahlen ganz anders aus: 7430 (USA), 5781 (Italien), 7 (Schweden), 5861 (GB), 6292 (FR), 27 729 (BRD/DDR). Offenbar schlug die lizenzierte bundesrepublikanische Modifikation der US-amerikanischen Automobilkultur voll durch. 1960 präsentieren sich die Zahlen wie folgt: 3777 (USA), 8240 (Italien), 1911 (Schweden), 7674 (GB), 22 165 (FR), 45 971 (BRD). Und 1966: 5616 (USA), 16 039 (Italien), 4425 (Schweden), 26 420 (GB), 28 601 (FR), 63 907 (BRD). Grundsätzlich kann die Internationalisierung des modernen Alltagslebens in der Schweiz beschrieben werden im Verweis auf die auch für andere Länder ­wesentlichen Daten zur Entwicklung der technischen Zivilisation, ausgedrückt in einer Liste nach genealogischer Folge von Jahreszahlen.24 • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

1920: Einführung der Spritzgusstechnik in Europa 1923: Erster Dieselmotor für Ozeandampfer (Sulzer) 1926: Erste automatische Uhr (Grenchen) 1929: Erste Televisionsübertragung (Berlin) 1929: Erste serienmäßige Spiegelreflex-Kamera (Rolleiflex) 1932: Erster deutscher Fernsehsender (Berlin- Witzleben) 1933: Erfindung des Elektronenmikroskops 1936: Erstes Tonbandgerät (AEG) 1938: Perlonfaser (Schlack)/Nylon (Carothers) 1940: Beginn der Übersee-Telephonie 1940: Mikrofilm wird in Bibliotheken eingeführt 1946: Installation des ersten Computers 1946: Teflon (Du Pont-de Nemours); 1947: Polaroid-­Verfahren für Schwarzweiß-Fotografien 1947: Automatisierung der Telefon-Ortsnetze in der Schweiz ­beendet 1948: Langspielplatte wird lanciert 1954: Baubeginn des ersten Atomkraftwerks (USA) 1956: Waschautomaten mit Druckknopf- oder Lochkarten­ steuerung 1958: Stereo-Langspielplatte 1959: Die Schweiz ist das erste Land mit Telefon-Fernwahl; 1960: Transistoren 1962: Telefon via Satelliten 1964: Erster kommerzieller Minicomputer 1968: Einführung des Farbfernsehens 1971: Mikroprozessoren kommen auf den Markt (‚Silicon ­Valley‘) 1974: Geldausgabe-Automaten bei Großbanken-Filialen in der Schweiz

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• 1974: Halogen-Lampen kommen in die Haushalte • 1974: VW Golf löst Käfer ab; 1974: BBC lanciert Armband­uhren mit Digitalanzeige • 1981: Mikrowellenöfen halten Einzug in den Haushalten • 1981: Hochgeschwindigkeitszug TGV (Lyon-Paris in zwei ­Stunden) • 1982: Lancierung der ‚Swatch‘ • 1982: Lancierung der digitalen Schallwiedergabe (Compact Disc) • 1982: Telefonverkehr über erste Glasfaserkabel-Leitungen. Mit der Telematisierung der Arbeit verbunden ist eine Technisierung der visuellen Selbstversorgung (Home Video). Dazwischen lagen die Erfolge der Kühlschränke, Gefrierschränke, Gefriertruhen, Waschautomaten, Wäschetrockner, Geschirrspüler, Vollherde, Einbau-Backöfen, Einbau-Rechauds, Mikrowellengeräte, Glaskeramikkochfelder, Dunstabzugshauben, Staubsauger, Blocher, Bügelmaschinen, Bügelpressen, Bügeleisen, Haarpflegegeräte, Zahnpflegegeräte, elektrischen Uhren, elektrischen Heizgeräte, Elektro-Luftbefeuchter, Küchenmaschinen, Mixer, Elektro-Kaffeemühlen, Kaffeeautomaten, Grillapparate, Racletteöfen, Toaster, Fritteusen, elektrischen Wärmeplatten. In Deutschland stieg die Produktion zwischen 1955 und 1965 wie folgt an: Elektroherde von 561 000 auf 1,062 Mio., Brotröster von 158 000 auf 916 000, Kaffeemühlen von 78 000 auf 2,238 Mio., Waschmaschinen von 588 000 auf 1,52 Mio., Kühlschränke von 577 000 auf 1,827 Mio., Fernsehgeräte von 326 000 auf 2,776 Mio., Rundfunkgeräte aber nur von 3,235 auf 4,086 Mio.: ein gesättigter Markt25. 1970 gehört die Schweiz zu den europäischen Spitzennationen, was den technischen Elektro-Wohlstand betrifft. Von je 100 Haushalten besitzen 81 einen Kühlschrank, 68 einen Elektroherd. Allerdings haben von 100 Schweizer Haushalten 1970 nur 28 Waschmaschinen, womit die Schweiz den letzten Platz in dieser Sparte der mitteleuropäischen Nationen einnimmt26. In der BRD besitzen bereits 1956 81 Prozent der Haushalte einen Fernsehapparat.27 1979 bewegt sich die entsprechende Prozentzahl in den Ländern der EG für Farbfernsehapparate zwischen 50 und 60 Prozent. In den 1980er-Jahren wird die für industrielle Produktion und kapitalistische Verkehrsformen unabdingbare Herrschaft der Mechanisierung28 abgeschlossen. Die Haushalte sind umfassend elektrifiziert (allerdings nur im herkömmlichen Sektor). Per 1. Januar 198629 besaßen von 100 Schweizer Haushalten 97 ein Bügeleisen, 96 einen Staubsauger, 95 einen Kühlschrank, 88 einen Fernsehapparat, 82 einen Elektroherd, 61 einen Tiefkühler, 58 eine Kaffeemaschine, aber nur 29 einen Geschirrspüler und erst 27 einen Videorecorder. Dennoch wird schon in breiterer Öffentlichkeit unter dem neuen Begriff der ‚Domotik‘ die Errungenschaft eines Verbundsystems der Apparate unter dem Anspruch der ‚intelligenten Gebäude‘ oder des ‚intelligenten Heims‘ wahrgenommen. Die Mechanisierung der primären und sekundären Alltagsgewohnheiten hat mit der Ökonomie der Zeitverknappung, der Effizienzsteigerung konsumistisch verwertbarer Zeit, dem apparativen Training der weiblichen Arbeitskräfte und zuletzt auch ganz banal mit dem Ver-

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lust an familienfremden Arbeitskräften im Haushalt zu tun. Die Zunahme an Haushaltungen, die Individualisierung und Vereinzelung der Lebensformen, die ökonomischen Perspektiven eines ausgereizten Konsums im industrialisierten Freizeitsektor erzwingen eine Technisierung der Nahrungserzeugung und -versorgung, die sich als Aufwandverringerung der Hausarbeiten messen lässt. Die Taylorisierung hat seit den 1950erJahren erfolgreich Einzug in die Haushalte gehalten. Aktuelle Gegentendenzen, die auf den Rückgewinn an differenzierter Kultur auf Kosten der rein technischen Zeitgewinne setzen, bilden aber eher Ausnahmebedürfnisse einer Kulturelite als ein durchschnittliches Alltagsverhalten. Die Rituale der nouvelle cuisine sind sonntägliche Entlastungszeremonien für den Alltag einer Überlebensstrategie und ‚fast-food‘-Ernährung.30 Die technologischen Anwendungswissenschaften stehen am Beginn der erfolgreichen Mechanisierung. Die erste umfassende Marktanalyse für moderne Haushaltungs-­Apparate stammt, durchgeführt für Berlin, von 1933.31 Dem Konsumismus nachgeholfen haben immer schon diejenigen wissenschaftlichen Forschungen, die sich den Unternehmern mit langfristigen Absatzprognosen anzudienen versuchten. Eine Dissertation von 1966 d ­ iskutiert als Markterschließungsmöglichkeit auch die ‚Verkürzung der Nutzungsdauer‘ als wirtschaftliche Möglichkeit der Steigerung des durchschnittlichen Sättigungs­niveaus des haushaltlichen Gesamtbedarfs.32 So erhält der Verschleißkapitalismus der Wegwerfgesellschaft seine markttechnologische Begründung. Nicht zuletzt sind Ängste um den Verlust der helvetischen Besonderheit und nationalen Unverwechselbarkeit unter dem Einfluss internationaler Kommunikationssysteme wie Telematik und Television gewachsen.33

Das Modell Coca-Cola Wie selbstverständlich gehen, parallel zur materiellen Entwicklung, Worte und Symbole aus der Welt der industriekapitalistischen Hochleistungselite weltweit auch in andere Sprachen ein. Die Amerikanisierung des Wortschatzes entwickelt sich immer schneller und scheint nicht mehr aufzuhalten. Was ein ‚Big Mac‘ ist, gehört zur normalen Kenntnis des Alltäglichen. Eine ganze Reihe von Subkulturen und Moden hat den US-amerikanischen Slang auch in der Schweiz heimisch gemacht. Das ‚Sponsoring‘ der 1980er-Jahre verweist ebenso auf US-amerikanische Wirtschaftsgepflogenheiten wie die Aufnahme des ‚Dow-Jones-Index‘ in die Spätausgabe der Tagesschau. Statt von unternehmerischer Zusammenarbeit wird von ‚Joint Ventures‘ gesprochen. Und längst haben die ‚Swimmingpools‘ die Gartenbäder abgelöst. Mit der zunehmenden Verkabelung, dem Satelliten-Fernsehen und ‚Pay TV‘ nehmen Ausstrahlungen US-amerikanischer Standardserien zu. Die Welt der ‚Yuppies‘, die weit über ‚Fitness-Centers‘ hinaus die europäische Kultur amerikanisieren, neue Kino-Mythen ebenso erblühen lassen wie eine neue Geschlechterpsychologie, wird am Bildschirm verdoppelt. Der neue Sozialcharakter kann entsprechend gut mit einem englischsprachigen Wort umschrieben werden: ‚Single‘. Was die symbolische Durchformung des ­Sehens

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durch so einlinig ausbalancierte Bildwelten betrifft, könnten US-amerikanische Zustände demnächst hierzulande entstehen. Laut Auskünften des Produzenten Aaron Spelling wird Denver Clan in über 120 Ländern am Bildschirm aufgeführt: internationale Endlosschlaufen im Konsum eines kompensatorischen Glücks. Interessant ist die epochale Verschiebung der Themen. In den 1950er-Jahren liefen in den USA gleichzeitig 11 Western-Serien, etwa die auch hierzulande bekannt gewordenen Bonanza oder Shiloe Ranch. Die 1960er-Jahre brachten neben Lassie 24 Polizeifilmserien, die 70er viel Menschliches, Zweifel und den Verzicht auf öde, heldensüchtige Männlichkeitsposen, zahlreiche Familienserien und den Konformismus des Nonkonformisten (Inspektor Columbo). Die 1980er-Jahre lassen sich kennzeichnen durch einen bisher unbekannten Grad an Bösartigkeit, Sadismus, erotischer Selbstgefälligkeit und durch ein Theater der Verruchtheiten. Geht es in Denver Clan, Dallas, Top Models letztlich zwar immer nur um Geld und Macht, so sind doch die unaufhörlichen Rochaden im Taumel der Beziehungskisten das dramatische Herz der ‚Stories‘. Von einer gehaltvollen Analyse der ‚Soap Operas‘ ist für die im internationalen Gleichschritt erfolgende Modellierung des Gefühlshaushalts viel zu erwarten.34 Keineswegs aber bestätigen entsprechende Untersuchungen oder Prognosen den Tatbestand einer gradlinigen Manipulation. Die Prozesse der Modellierung sind komplexer und widersprüchlicher. So haben sich hierzulande weder die Massenmythen aus der Welt der Comics35 in breitem Maße durchgesetzt, noch war der beispiellose, gigantomanische Werbeaufwand für den Film Batman 1989 erfolgreich. Da nicht wenige der uramerikanischen Superhelden-Mythen auf Motiven der europäisch-humanistischen Klassik beruhen – z. B. der Odyssee als dem Prototyp einer mit Heldentum zu bestehenden, schicksalhaft verfügten Irrfahrt –, ergießt sich die zusätzliche Mythisierung in einen luftleeren Raum. Die Mythisierungen erscheinen als derart holzschnitthaft verkürzt, dass der Märchenzauber sich selber als Surrogat denunziert. Im Sinne einer Rhetorik der Mythisierungen sind die Anlehnungen an die direkten US-amerikanischen Vorbilder – z. B. Rambo – wesentlich erfolgreicher. Dass überhaupt die Mehrzahl der erzählten Geschichten nach dem Zweiten Weltkrieg die menschliche Einbildungskraft weltweit mit den Hollywood-Standards füttert, hat mit der Tatsache zu tun, dass die Kulturgeschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg selbstverständlich aus der Optik der Siegermacht USA bestimmt werden muss. Dafür ist ‚Coca- Cola‘ das Kernbeispiel. Der Name Coca-Cola wurde 1866 für ein von Major John S. Pemberton wenige Monate zuvor gemischtes Getränk erfunden. Da die Tinktur auch Kokablätter und Kolanüsse enthielt, wurde der Name für gut befunden. Nach gemächlichem Beginn wurde 1891 aufgrund des anziehenden Erfolgs eine Aktiengesellschaft gegründet. Obwohl Coca-Cola von da an schnell zu einem landes-, später weltweit verbreiteten und beliebten Getränk wurde, zeigt ein Blick in die Umsatzlisten, dass die markanteste Steigerung 1947 stattfand. Von 265 Mio. Litern (1946) stieg der Umsatz auf 382,5 Mio. 1981 betrug der Umsatz 746 Mio. Liter. Die effiziente Organisation machte sich bezahlt. Am Ursprungsort produziert wird nur ein Extrakt, dessen Zusammensetzung strengster Geheimhaltung unterliegt. Durch Vergabe von Produktions- und Verkaufslizenzen und die damit verbundene Aufteilung der Welt in Regionen ist der ganze Apparat dezentralisiert,

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die Motivation zum intensiveren Umsatz garantiert. Für die weltweite Durchsetzung entscheidend verantwortlich war der Zweite Weltkrieg. Genauer: die Tatsache, dass der Präsident der Company, Woodruff, versprach, jeder amerikanische Soldat, der auf der Welt, egal wo, für die Freiheit kämpfe, habe einen Anspruch auf seine tägliche Flasche CocaCola für 5 Cent. Die patriotische Deklaration wurde von der Regierung zu wesentlichen Teilen finanziert. Auf ihre Kosten wurden 59 Abfüllanlagen transportiert. Als kriegswichtiges Gut eingestuft, gingen diese nach Kriegsende – ein seltener Fall kapitalistischer Staatssubvention – kostenlos in die Hände örtlicher Konzessionäre über.36 Während des Krieges wurden 5 Milliarden Flaschen Coca-Cola an die Streitkräfte der USA und die Alliierten verkauft. Im Rundschreiben Nr. 51 vom 4. Februar 1944 hält das Kriegsministerium fest, dass die Soft-Drink-Produzenten von Coca-Cola von der Zuckerrationierung ausgenommen seien. Die logistische Effizienz garantierte die Qualitätsansprüche. Jede überseeische Abfüllstation musste monatlich mindestens einmal Proben aus der laufenden Produktion an ein eigens dafür geschaffenes Laboratorium einsenden, das den Gleichklang des ‚Real Taste‘ für die ganze Welt zu garantieren hatte. Es gab kein Schlachtfeld, auf das die technischen Betreuer der Company den Soldaten nicht umgehend gefolgt wären. Nach Kriegsende, bei der Neuordnung der Welt und einer Zuteilung der Prinzipien des Guten und des Bösen, von Reichtum und Elend auf West und Ost, standen die Abfüllanlagen auf der richtigen, der kapitalistischen Seite. Die erste Fabrik, welche die Produktion aufnahm, stand in Nordafrika. Bei Kriegsende befanden sich in Europa Anlagen an folgenden Orten: Brüssel, Spa, Luxemburg, Marseille, Lille, Paris, Nizza, Nancy, Rennes, Reims, Rouen, Niedermendig, Brohl, Frankfurt, Fulda, Hof, Stuttgart, Regensburg, Bad Vilbel, Bremen, Berlin, Augsburg, Mannheim, Amsterdam, Reykjavik, Bari, Cividale, Florenz, Livorno, Mailand, Neapel, Rom, Venedig, Cagliari. Während der Potsdamer Konferenz machte Eisenhower die Russen mit Coca-Cola vertraut. Coca-Cola ist das erste weltumspannende Konsumgut, das die politischen Grenzen ebenso gesprengt hat wie die sozialen. In die Kulturgeschichte hält es Einzug als erste universale Ikone der Massenkonsumgesellschaft. Coca-Cola ist kein Getränk, es ist eine Lebensform. Nicht zufällig hat die Company schon 1890 riesige Summen für Werbung ausgegeben. Das Getränk wurde zunehmend überlagert von Ritualen der Selbstinszenierung. Eine entwickelte Rhetorik umwob den Gebrauchswert. Zur markanten Erscheinung gehörte die Flaschenform ebenso wie die Verpackung. Als Kulturdokument tritt Coca-Cola heute in allen Formen als Eigenwerbung auf. Bereits 1892 setzte Coca-Cola einen Kalender ein, der seit 1898 zu einem begehrten Sammelobjekt geworden ist. Die stoffliche Erfolgsgeschichte von Coca-Cola ist der Triumph einer rhetorisch ausgefeilten Mythen-Technik. Sie berücksichtigt alle Aspekte eines rituell geformten modernen Alltagsverhaltens. Die Geschichte dieses Erfolgs ist die Geschichte international abgestimmter Modellierung der Lebenserwartungen im Horizont marktwirtschaftlicher Glücksversprechen. Die Sprache der Symbole folgt auch hier den Entlastungsdrücken einer Wirklichkeit, die mit den Idealen nicht übereinstimmt. Diese Differenz hat Coca-Cola durch eine Industrialisierung der Einbildungskraft und der Wünsche umfassend genutzt.

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Wirtschaft und Lebensformen: ein Datenproblem Wer über die Einwirkung standardisierter internationaler Warenangebote auf das schweizerische Alltagsleben schreiben will, ist auf Auskünfte angewiesen. Offenbar aber gehört zur helvetischen Wirtschafts- wie Alltagskultur, dass qualifizierbare Daten kaum zur Verfügung gestellt werden. Eine Reihe von Fragen markieren den Ausgangspunkt des Interesses: • Wie viele Beruhigungspillen werden konsumiert? Wie verläuft die Entwicklung der Nervenheilmittel seit dem Zweiten Weltkrieg? Lässt sich die unbestreitbare Mechanisierung und ­Synthetisierung der körperlichen Befindlichkeit statistisch nachweisen? • Auf welcher chemischen Basis wird Nahrung vorfabriziert? ­Welches sind die Fabrikationsmittel, und wie ist die Umsatz­ entwicklung zu veranschlagen (Enzyme, Vitaminpräparate, ­Konservierungs- und Färbemittel etc.)? • Wie sieht die Umsatzkurve in den Bereichen Motorisierung und Technisierung der Kommunikation aus? Zwar gibt es eine ganze Reihe von strukturbezogenen, wirtschaftstheoretischen Arbeiten37 sowie von an prognosefähigen Wettbewerbsanalysen orientierten marktstrategischen Studien.38 Die umsetzende Interpretation wirtschaftsstatistischen Materials aber bedarf anderer Zahlen, die aus Firmenarchiven angeliefert werden müssten. Die Kosten des Gesundheitswesens sind ein politischer, sozialer und ökonomischer Faktor ersten Ranges. Für eine Analyse der Lebensformen aber sind weder die Export-/Import-Verhältnisse noch Publikumspreise oder Marktanteile noch Angaben interessant über die 100 führenden Arzneimittel im Weltmarkt nach Ursprungsländern: alles Zahlen, die problemlos zu beschaffen sind. Produktespezifische Umsatzzahlen dagegen unterliegen der Geheimhaltung. Weder die einzelnen Firmen noch die ‚Schweizerische Gesellschaft für Chemische Industrie‘ noch die ‚Pharma Information – Informationsstelle der forschenden pharmazeutischen Firmen Ciba-Geigy, Roche und Sandoz‘ sind willens – obwohl in der Lage –, die gewünschten Zahlen zu liefern. Kulturgeschichtliche Forschung liegt hier wohl in der Grauzone eines Subversionsverdachtes. Da die publizistisch zugänglichen Zahlen auf Firmen-Daten-Politik beruhen, fördern auch die zahlreichen Dokumente des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs in Basel nichts anderes zutage als die Parameter, nach denen wirtschaftliche Aktivitäten hierzulande, z. B. im Branchenspiegel der Schweizer Wirtschaft (SBG), beschrieben werden: Umsatzsteigerung, Import, Export, Marktanteile nach Sektoren, aber nicht nach Marken. Dieselben Parameter liefern auch die Außenhandelsstatistiken der Schweizerischen Oberzolldirektion (erhältlich im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv). Aber nicht nur bei der traditionell empfindlichen Gesundheitsindustrie wird die forschende Neugierde als Hoheitsgebiete verletzende Aufdringlichkeit gewertet. Das Schweizer Wirtschaftsarchiv besitzt für

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Coca-Cola keine Jahresberichte vor 1970. Im Klartext: Für die interessante Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur endgültigen Durchsetzung zu Beginn der 1960er-Jahre liegen für diese Jahrhundertikone der US-amerikanischen Konsumkultur keine detaillierten Zahlen des europäischen Anschlusses vor. Es existieren im Wirtschaftsarchiv keine Zeitungsberichte zwischen 1946 und 1978. Außerdem erscheint im Jahresbericht des Weltkonzerns erst seit 1978 eine nach Kontinenten spezifizierte geografische Umsatz- und Ertrags­ statistik. Eine für die Auswirkungen auf Mode und Alltagskultur, Symbolisierungen und Attitüden so wichtige Markenartikelherstellerin wie, so der Briefkopf, ‚Levi’s. Quality never goes out of style‘, bittet zuerst um persönliche Kontaktaufnahme, um dann auf eine Rückfrage doch schriftlich zu antworten, die Firma gebe seit 1985, als sie in das „Privateigentum der Familie Haas zurückgekehrt“ sei, keine offiziellen Zahlen bekannt und beantwortet Fragen nach der detaillierten Umsatzentwicklung mit geheimnisvollen Angaben, die nicht zu Aussagen verdichtet werden können. Die beigelegte Firmenbroschüre erwähnt beiläufig, dass, ‚Levi Strauss Germany‘ – auch für die Schweiz und Österreich zuständig – in „einem der größten Märkte Europas die Position des Marktführers“ hat. Wer je den Werbespot für die vorab auszuwaschenden Jeans mit der Musik von Sam Cooke – ein für die 1980er-Dekade typisches Remake der 1950er39 – gesehen hat, möchte aber doch ganz genau wissen, in welchen Jahren sich dieses beispielhaft funktionale, mit den Nöten der Goldgräber und einem doppeltem Hosenboden startende, unter der Bezeichnung ‚Levi’s 501‘ weltberühmt gewordene Kleidungsstück von einem physikalischen in ein symbolisches Gebilde verwandelt hat. Der Mechanismus einer Verschiebung des Stofflichen auf die Zeichen könnte so alltagsgeschichtlich den Einbruch einer für die Jugendästhetik typischen40 Mythenbildung41 belegen. Historisch würde einsichtig, dass die Fähigkeit einer technischen Manipulation solcher Mythenbildungen wächst und es sich keineswegs um eine unbewusste, aus den Zwängen einer modischen Innovationssucht manipulativ folgende Mythologisierung handelt. Zahlen zur Ernährung außerhalb der Zeitungspublizistik sind ebenfalls nicht ohne Weiteres beizubringen. Die traditionelle helvetische Verzögerung in Sachen staatlicher Archivierung kann nicht durch Private ausgeglichen werden. Migros verweist an das ‚Schweizerische Wirtschaftsarchiv‘, das ‚Alimentarium‘ der Nestlé AG an die einzelnen Branchen. Die ‚Gesellschaft zur Förderung der Schweizerischen Wirtschaft‘ liefert mit dem Zahlenspiegel ebenfalls keine qualifizierbaren spezifischen Angaben. Das gilt auch für die Oberzolldirektion, die PTT und den Schweizerischen Straßenverkehrsverband. Aus der Sicht der Konsumenten sind die Anliegen in der Zeitungspublizistik – meist in Form erklärender Beilagen – historisch aufbewahrt. Hauptthemen: in den 1950er- und 1960er-Jahren Waschmaschinen, in den 1970er-Jahren Energieeinsparungen, in den 1980er-Jahren Telematik, Computer und Bürotechnik. Wer sich mit einem Schlüsselthema der sozialpolitischen, materiellen wie symbolischen Modellierung der helvetischen Gewohnheiten im internationalen Kontext beschäftigen will – der Effektivitätssteigerung durch medizinische Präparate, der Mechanisierung der Gesundheitserhaltung –, ist also weiterhin auf Extrapolation des Verhaltens aus den Sucht-Statistiken verwiesen. Damit wird ein folgenreicher Zusammenhang von archivalischem Firmenschweigen und Problemverstärkung im tabuisierten Suchtverhalten deutlich, der nicht allein

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als gigantische Kostenspirale des normalen Krankenhaushalts erscheint, sondern als Absurdität, kriminelle von staatlich und privatwirtschaftlich angeheizten Suchtformen abgrenzen zu wollen. Publizistisch ist das Datenmaterial einer Erörterung der medizinischen Lebensversorgung auf die Dokumente der Suchterörterung, auf die Durchsetzung der Pharmaprodukte als Waren42 oder auf medizinpolitische Überlegungen zum Verhältnis von ‚Medikament, Individuum und Gesellschaft‘43 angewiesen. Die Reduktion des Themas auf die Selbstdarstellung einer Weltrekord-Wachstumsbranche, die mit jährlichen Umsatzsteigerungen von mehr als 20 Prozent aufzuwarten giert, ist weder dem kulturellen Verständnis noch der sozialmedizinischen Bearbeitung der Chancen wie der Gefahren der Medikamentierung angemessen. Darlegungen zur Wirtschaftsstatistik44 jedenfalls reduzieren das für die kulturelle Interpretation Besondere jeweils auf den allgemeinen Anwendungsfall wirtschafts- oder betriebstheoretischer Modellerörterungen. Die Geschichte des Datenmangels in der helvetischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte ist mindestens so scharf umrissen wie diese selbst. Die Klage ist notorisch und allseitig. „Das schweizerische Sozialwesen leidet unter einem ausgeprägtem Datenmangel.“45 „Im Gegensatz zu anderen Ländern existiert in der Schweiz weder eine offizielle Armutsdefinition noch eine offizielle Armutsstatistik.“46

Literatur Aicher, Otl. Kritik am Auto. Schwierige Verteidigung des Autos gegen seine Anbeter. München, 1984. Anders, Günther. Die Antiquiertheit des Menschen. Zweiter Band. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München, 1980. Armanski, Gerhard. Die kostbarsten Tage des Jahres. Massentourismus – Ursachen, Formen, Folgen. Berlin, 1978. Aubrey, Henry G. United States Imports and World Trade. Oxford 1977. Barthes, Roland. Mythen des Alltags. Frankfurt 1964. Bergier, Jean F.. Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz. Zürich, 1982. Biedermann, Ulf. Ein amerikanischer Traum. Coca-Cola. Die unglaubliche Geschichte eines 100jährigen ­Erfolges. Hamburg/Zürich 1985. Brock, Bazon. Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er-Jahre. München, 1990. Brugge, Hans. Die schweizerische Landwirtschaft 1914–1980. Agrarverfassung, Pflanzenbau, Tierhaltung, Aussenhandel. Frauenfeld 1985. Cerletti, Aurelio. Medikament, Individuum und Gesellschaft. Habilitationsvorlesung vom 29. Mai 1969 in Basel. In: Pharma-Information Basel. Oktober 1969. Das Medikament im schweizerischen Gesundheitswesen. Pharma-Information. Basel, 1989. Die Schweiz vom Bau der Alpen bis zur Frage nach der Zukunft. Zürich, 1975. Drechsel, Wiltrud Ute/Jörg Funhoff/Michael Hoffmann. Massenzeichenware. Die gesellschaftliche und ­ideologische Funktion der Comics. Frankfurt, 1975. Eco, Umberto. Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt, 1984. Faller, Carl. Pharmaka. Eine ökonomisch-soziologische Studie über die Entwicklung der Pharmaka zur Ware (unter besonderer Berücksichtigung der Schweiz). Diss. Basel, 1953. Freidank, Michael. Langfristige Entwicklungstendenzen auf den Märkten ausgewählter Haushaltungsmaschinen. Unter besonderer Berücksichtigung des Phänomens der Marktsättigung. Diss. HSG Zürich, 1966. Giedion, Sigfried. Die Herrschaft der Mechanisierung. Frankfurt, 1982. Grauzonen = Grauzonen/Farbwelten, Kunst und Zeitbilder 1945–1955. Ausstellungskatalog NGBK. Berlin/ Wien, 1983.

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Hartmann, Guido. Der schweizerische Chemieexport. Ein wirtschaftsstatistisches Bild. Diss. Freiburg (CH), 1954. Hausmanninger, Thomas. Superman. Eine Comic-Serie und ihr Ethos. Frankfurt, 1989. Haug, Wolfgang Fritz. Zur Kritik der Warenästhetik. Frankfurt, 1971. Heiß und Kalt. Die Jahre 1945–1969. Berlin, 1986. Helling, Gertrud. Nahrungsmittel, Produktion und Weltaußenhandel seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Berlin (DDR), 1977. Höpflinger, François. Das unheimliche Imperium. Wirtschaftsverflechtung in der Schweiz. Zürich, 1977. Höpflinger, François/Jürg H. Sommer. Wandel der Lebensformen und soziale Sicherheit in der Schweiz. ­Forschungsstand und Wissenslücken. Grüsch, 1989. Huber, Jörg/Martin Heller/Hans Ulrich Reck (Hrsg.). Imitationen, Nachahmung und Modell. Von der Lust am Falschen. Frankfurt/Basel, 1989. Jeans. Beiträge zu Mode und Jugendkultur. Tübingen, 1985. Jungwirth, Nikolaus/Gerhard Kromschröder. Die Pubertät der Republik. Reinbek bei Hamburg, 1983. Konsum 75. Eine Analyse der Konsumgewohnheiten in der Deutschschweiz. Glattbrugg, 1975. Krippendorf, J. Tourismus im Jahre 2010. Eine Delphi-Umfrage über die zukünftige Entwicklung des ­Tourismus in der Schweiz. Bern, 1980. Les Années 50. Centre Pompidou. Paris, 1988. Lindenberg, Udo. Rock’n’Roll und Rebellion. Ein panisches Panorama. Frankfurt, 1981. Lüscher, Rudolf M. Henry und die Krümelmonster. Versuch über den fordistischen Sozialcharakter. Tübingen, 1988. Masnata, Albert. „Der internationale Wirtschaftsverkehr im 20. Jahrhundert“. Genf, 1961. Meier, Werner. „Unter dem Primat der Ökonomie. Transnationale Informations- und Datenflüsse ignorieren nationale Souveränität und kulturelle Identität“. In: Massenmedien und Kommunikationswissenschaft in der Schweiz. Jubiläumsschrift der SGKM. Zürich, 1987. S. 283–295. Modleski, Tania. „Auf der Suche nach dem Morgen in den Soap Operas von heute – Anmerkungen zu einer weiblichen Erzählform“. In: Reck, Hans Ulrich (Hrsg.). Kanalarbeit. Medienstrategien im Kulturwandel. Basel/Frankfurt, 1988. S. 104–119. Petsch, Joachim. Geschichte des Auto-Design. Köln, 1982. PTT. Statistisches Jahrbuch 1986. Bern, 1987. Risse im Lack. Auf den Spuren der Autokultur. Hrsg. vom Schweizerischen Werkbund. Zürich, 1985. Roth, Hans. Die chemische Industrie der Schweiz als Exportindustrie unter besonderer Berücksichtigung der Farbstoffausfuhr zwischen den beiden Weltkriegen. Diss. Basel, 1952. Ruoff, Karen. „Warenästhetik in America, or Reflections on a Multi-National-Concept“. In: Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.). Warenästhetik. Beiträge zur Diskussion. Frankfurt, 1975. S. 48–68. Schäfer, Erich. Die Verbreitung von Elektro- und Gasapparaten. Eine marktanalytische Studie über die Absatzbedingungen in den 20 Verwaltungsbezirken Groß-Berlins. Stuttgart, 1933. Schelbert, Leo. Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit. Zürich, 1976. Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt und Neuwied, 1986. „Schweiz im Bild – Bild der Schweiz? Landschaften von 1800 bis heute“. In: Ausstellungskatalog Kunstgeschicht­liches Seminar. Zürich, 1974. Siegenthaler. Hansjörg. Schweiz 1910–1970. In: Cipolla/Borchardt (Hrsg.). Europäische Wirtschaftsge­ schichte Bd. 5. Die Europäischen Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert. Stuttgart / New York 1980. S. 245 ff. Tanner. Jakob. Der Stoff, aus dem die Freizeit ist. Die subversive Banalität von Massenprodukten in der „­Société anonyme“. In: Keinen Franken wert. Für weniger als einen Franken. Ausstellungskatalog ­Museum für Gestaltung Basel 1987. S. 79 ff. The Rolling Stones. Songbook. Frankfurt, 1977. Thorbecke, Erik. The Tendencies towards Regionalization in International Trade 1928–1956. The Hague, 1960. Tschäni, Hans. Wer regiert die Schweiz? Der Einfluss von Lobby und Verbänden. Zürich, 1983. Tschäni, Hans. Wem gehört die Schweiz? Unser Eigentums- und Bodenrecht auf dem Weg zum Feudalsystem. Zürich, 1986. Unbekannt-Vertraut. ‚Anonymes‘ Design im Schweizer Gebrauchsgerät seit 1920. Reihe Schweizer ­Design-Pioniere 4. Museum für Gestaltung Zürich, 1987. Varini, Gianfranco. Marktbedingungen und internationale Wettbewerbsstellung der schweizerischen ­chemischen Exportindustrie unter besonderer Berücksichtigung der Heilmittel- und Farbstoffindustrie. Diss. St. Gallen, 1958.

SCHWIERIGKEITEN MIT DER MODERNE?  117

Vigener, Walfried. Die Weltproduktion wichtiger Waren. Eine Analyse der Entwicklung seit 1870. Diss. Köln, 1969. Virilio, Paul. Der negative Horizont. Bewegung/Geschwindigkeit/Beschleunigung. München, 1989. Wie sie leben. Eine Untersuchung über Lebensstandard und Konsumgewohnheiten der Abonnenten des Schweizerischen Beobachters. Zürich, 1950. Wie sie leben. 10 Jahre später. Zürich, 1960. Wie sie leben. Wachsender Wohlstand. Basel, 1965. Woodruff, William. Impact of Western Man. A Study of Europe’s Role in the World Economy 1750–1960. New York, 1966.

Abkürzungen AT = Aargauer Tagblatt. FAZ = Frankfurter Allgemeine Zeitung. PZ = Programmzeitung Basel. SGT = St.Galler Tagblatt. WW = Weltwoche, Zürich.

Recherchiert und geschrieben im Januar und Februar 1990; Erstveröffentlichung unter dem identischen ­ itel „Schwierigkeiten mit der Moderne? Zur Internationalisierung der Lebensformen in der Schweiz“. T In: Paul Hugger (Hrsg.), Handbuch der Schweizerischen Volkskultur, 3 Bde., Zürich/Lausanne/Bellinzona: ­Offizin ­Verlag/Editions Payot/Edizioni Casagrande, deutsch, französisch und italienisch, 1992.

„PZ“ 28/1990. Vgl. Haug, Wolfgang Fritz, Zur Kritik der Warenästhetik, Frankfurt 1971. Vgl. „WW“, 18.01.1990, S. 65 f. Vgl. Huber, Jörg, Martin Heller, Hans Ulrich Reck (Hrsg.), Imitationen. Nachahmung und Modell. Von der Lust am Falschen, Frankfurt / Basel 1989. S. 201 ff., 213 ff. 5 Vgl. Jungwirth, Nikolaus, Gerhard Kromschröder, Die Pubertät der Republik, Reinbek bei Hamburg 1983; Heiß und Kalt, Die Jahre 1945–1969, Berlin 1986; Les Années 50, Centre Pompidou, Paris 1988; Grau­ zonen = Grauzonen / Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 1945–1955. Ausstellungskatalog NGBK, Berlin/ Wien 1983. 6 Vgl. Petsch, Joachim, Geschichte des Auto-Design, Köln 1982; Risse im Lack. Auf den Spuren der Auto­ kultur, hgg. vom Schweizerischen Werkbund, Zürich 1985; Aicher, Otl, Kritik am Auto. Schwierige Ver­ teidigung des Autos gegen seine Anbeter, München 1984. 7 Vgl. Armanski, Gerhard, Die kostbarsten Tage des Jahres. Massentourismus – Ursachen, Formen, ­Folgen, Berlin 1978; Krippendorf, J., Tourismus im Jahre 2010. Eine Delphi-Umfrage über die zukünftige Entwicklung des Tourismus in der Schweiz, Bern 1980. 8 Vgl. Lüscher, Rudolf M., Henry und die Krümelmonster. Versuch über den fordistischen Sozialcharakter, Tübingen 1988. 9 Schweiz im Bild – Bild der Schweiz? Landschaften von 1800 bis heute, Ausstellungskatalog Kunstge­ schichtliches Seminar, Zürich 1974. Die Schweiz vom Bau der Alpen bis zur Frage nach der Zukunft, ­Zürich 1975, S. 118 ff., 502 ff. 10 Höpflinger, François, Das unheimliche Imperium. Wirtschaftsverflechtung in der Schweiz, Zürich 1977; Tschäni, Hans, Wer regiert die Schweiz? Der Einfluss von Lobby und Verbänden, Zürich 1983; Tschäni, Hans, Wem gehört die Schweiz? Unser Eigentums- und Bodenrecht auf dem Weg zum Feudalsystem, Zürich 1986. 1 2 3 4

118  VOM ERBE 

11 Schelbert, Leo, Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, Zürich 1976. 12 Brugger, Hans, Die schweizerische Landwirtschaft 1914–1980. Agrarverfassung, Pflanzenbau, Tierhal­ tung, Aussenhandel, Frauenfeld 1985; Bergier, Jean F., Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz, Zürich 1982; Siegenthaler, Hansjörg, Schweiz 1910–1970, in: Cipolla/Borchardt (Hrsg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 5. Die Europäischen Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert, Stuttgart/New York 1980, S. 245 ff. 13 Vgl. Wie sie leben. Eine Untersuchung über Lebensstandard und Konsumgewohnheiten der Abonnen­ ten des Schweizerischen Beobachters, Zürich 1950; Wie sie leben. 10 Jahre später, Zürich 1960; Wie sie leben. Wachsender Wohlstand, Basel 1965; Konsum 75, Eine Analyse der Konsumgewohnheiten in der Deutschschweiz, Glattbrugg 1975. 14 Vgl. Höpflinger, François, Jürg H. Sommer, Wandel der Lebensformen und soziale Sicherheit in der Schweiz. Forschungsstand und Wissenslücken, Grüsch 1989. 15 Vgl. Virilio, Paul, Der negative Horizont. Bewegung / Geschwindigkeit / Beschleunigung, München 1989, S. 133 ff; Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen. Zweiter Band, Ober die Zerstörung des Le­ bens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 335 ff. 16 Vgl. Lindenberg, Udo, Rock’n’Roll und Rebellion. Ein panisches Panorama, Frankfurt 1981. 17 Vgl. Konsum 75, Eine Analyse der Konsumgewohnheiten in der Deutschschweiz, Glattbrugg 1975, S. 28 ff. 18 Höpflinger, François, Jürg H. Sommer, Wandel der Lebensformen und soziale Sicherheit in der Schweiz. Forschungsstand und Wissenslücken, Grüsch 1989, S. 40. 19 Das Medikament im schweizerischen Gesundheitswesen. Pharma-Information, Basel 1989. 20 Cerletti, Aurelio, Medikament, Individuum und Gesellschaft. Habilitationsvorlesung vom 29. Mai 1969 in Basel, in: Pharma-Information Basel, Oktober 1969, S. 5. 21 Vgl. The Rolling Stones, Songbook. Frankfurt 1977, S. 77 ff. 22 Vgl. PTT, Statistisches Jahrbuch 1986, Bern 1987, S. 64. 23 Vgl. ebda. S. 38. 24 Unbekannt-Vertraut. ‚Anonymes‘ Design im Schweizer Gebrauchsgerät seit 1920. Reihe Schweizer ­Design-Pioniere 4, Museum für Gestaltung Zürich, 1987, S. 156. 25 Vgl. SGT, St. Galler Tagblatt, 28.10.1966. 26 Vgl. Die Tat, 03.10.1970. 27 Vgl. FAZ = Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 10.1957. 28 Vgl. Giedion, Sigfried, Die Herrschaft der Mechanisierung, Frankfurt 1982. 29 Vgl. AT = Aargauer Tagblatt, 18.03.1987. 30 Vgl. Tanner, Jakob, Der Stoff, aus dem die Freizeit ist. Die subversive Banalität von Massenprodukten in der „Société anonyme“, in: Keinen Franken wert. Für weniger als einen Franken. Ausstellungskatalog Museum für Gestaltung Basel 1987, S. 84 ff. 31 Vgl. Schäfer, Erich, Die Verbreitung von Elektro- und Gasapparaten. Eine marktanalytische Studie über die Absatzbedingungen in den 20 Verwaltungsbezirken Groß-Berlins, Stuttgart 1933. 32 Vgl. Freidank, Michael, Langfristige Entwicklungstendenzen auf den Märkten ausgewählter Haus­ haltungsmaschinen. Unter besonderer Berücksichtigung des Phänomens der Marktsättigung. Diss. HSG Zürich 1966, S. 113 ff. 33 Vgl. Meier, Werner, Unter dem Primat der Ökonomie. Transnationale Informations- und Datenflüsse ­ignorieren nationale Souveränität und kulturelle Identität, in: Massenmedien und Kommunikations­ wissenschaft in der Schweiz, Jubiläumsschrift der SGKM, Zürich 1987, S. 283–295, hier S. 283. 34 Vgl. Modleski, Tania, Auf der Suche nach dem Morgen in den Soap Operas von heute – Anmerkungen zu einer weiblichen Erzählform, in: Reck, Hans Ulrich (Hrsg.), Kanalarbeit. Medienstrategien im Kultur­ wandel, Basel/Frankfurt 1988, S. 104–119. 35 Vgl. Hausmanninger, Thomas, Superman. Eine Comic-Serie und ihr Ethos, Frankfurt 1989; Drechsel, ­Wiltrud Ute, Jörg Funhoff, Michael Hoffmann, Massenzeichenware. Die gesellschaftliche und ideologi­ sche Funktion der Comics, Frankfurt 1975. 36 Vgl. Biedermann, Ulf, Ein amerikanischer Traum. Coca-Cola, Die unglaubliche Geschichte eines 100jähri­ gen Erfolges, Hamburg/Zürich 1985, S. 65 ff. 37 Vgl. Helling, Gertrud, Nahrungsmittel. Produktion und Weltaußenhandel seit Anfang des 19. Jahrhun­ derts, Berlin (DDR) 1977; Thorbecke, Erik, The Tendencies towards Regionalization in International Trade 1928–1956, The Hague 1960.; Masnata, Albert, Der internationale Wirtschaftsverkehr im 20. Jahrhun­ dert, Genf 1961; Woodruff, William, Impact of Western Man. A Study of Europe’s Role in the World Eco­ nomy 1750–1960, New York 1966; Vigener, Walfried, Die Weltproduktion wichtiger Waren. Eine Analyse der Entwicklung seit 1870. Diss., Köln 1969.

SCHWIERIGKEITEN MIT DER MODERNE?  119

38 Vgl. Varini, Gianfranco, Marktbedingungen und internationale Wettbewerbsstellung der schweizerischen chemischen Exportindustrie unter besonderer Berücksichtigung der Heilmittel- und Farbstoffindus­trie. Diss., St. Gallen 1958; Roth, Hans, Die chemische Industrie der Schweiz als Exportindustrie unter be­ sonderer Berücksichtigung der Farbstoffausfuhr zwischen den beiden Weltkriegen. Diss. Basel 1952; ­Aubrey, Henry G., United States Imports and World Trade, Oxford 1977. 39 Vgl. Brock, Bazon, Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er-Jahre, München 1990. 40 Vgl. Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert, Darmstadt und Neuwied 1986; Jeans, Beiträge zu Mode und Jugendkultur, Tübingen 1985. 41 Vgl. Barthes, Roland, Mythen des Alltags, Frankfurt 1964, S. 85 ff., 101 ff.; Eco, Umberto, Apokalypti­ ker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt 1984, S. 30 ff., 44 ff., 81 ff.; Ruoff, Karen, Warenästhetik in America, or Reflections on a Multi-National-Concept, in: Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.), Warenästhetik. Beiträge zur Diskussion, Frankfurt 1975, S. 48–68. 42 Vgl. Faller, Carl, Pharmaka. Eine ökonomisch-soziologische Studie über die Entwicklung der Pharmaka zur Ware (unter besonderer Berücksichtigung der Schweiz). Diss. Basel 1953. 43 Cerletti, Aurelio, Medikament, Individuum und Gesellschaft. Habilitationsvorlesung vom 29. Mai 1969 in Basel, in: Pharma-Information Basel, Oktober 1969. 44 Hartmann, Guido, Der schweizerische Chemieexport. Ein wirtschaftsstatistisches Bild. Diss. Freiburg (CH) 1954. 45 Höpflinger, François, Jürg H. Sommer, Wandel der Lebensformen und soziale Sicherheit in der Schweiz. Forschungsstand und Wissenslücken, Grüsch 1989, S. 134. 46 Höpflinger, François, Jürg H. Sommer, Wandel der Lebensformen und soziale Sicherheit in der Schweiz. Forschungsstand und Wissenslücken, Grüsch 1989, S. 132; vgl. auch: Roth, Hans, Die chemische Indus­ trie der Schweiz als Exportindustrie unter besonderer Berücksichtigung der Farbstoffausfuhr zwischen den beiden Weltkriegen. Diss. Basel 1952, S. 12 f.; Vigener, Walfried, Die Weltproduktion wichtiger Waren. Eine Analyse der Entwicklung seit 1870. Diss. Köln 1969, S. 17 ff.

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‚HIGH‑DEFINITION‑CITY‘ – RAUMKONZEPTE IM EUROPÄISCHEN DENKEN VOM MITTELALTER BIS ZUR TECHNOLOGIE DER BESCHLEUNIGUNG Heute sind Raum und Zeit zergliedert. Ihre Ausdehnung ist Punkt für Punkt identifizierbar. Was existiert, kann in Momente isoliert werden. Nummern bezeichnen die Momente als je unverwechselbare. Die Ausdehnung von Raum und Zeit fällt zusammen mit der Ausdehnung des Zahlenstrahls und den Auswahlregeln, welche die einzelnen Punkte identifizieren. Identifikation erfolgt durch Zählen. Die Bestimmung der Zahl erfordert die Unterschiedenheit von anderen Zahlen. Aus dem Alphabet der Ziffern wird so eine Sprache von Eigennamen. Das Reich der Ziffern und Eigennamen hat sich das Gebiet von Raum und Zeit unterworfen. Deren Physik und Intensität haben sich verflüchtigt. Sie gelten nur noch als soziale Funktionen, Steuerungsgrößen nach Vereinbarung. In gleicher Weise verschwindet das Physische aus den europäischen Städten. Wesentliche Strömungen der gegenwärtigen Architektur verwandeln Bauten in Bilder, Architektur in Bildschirm, Baumasse in Spiegel, Außenraum in Zuschauerraum. Im städtischen Feld reduzieren sich die Handlungen: Banken, Versicherungen, Büros, Telematisierung, Fußgängerzone, Hohlräume. Videospiele auf dem Bildschirm als Stadtspiele auf den Fassaden. Die Entstofflichung des Wirklichen kommt heute zu einem Abschluss. Hightech dominiert, ist aber bloß: Disneyworld für Computerfreaks. Die Ablösung von Raum und Zeit von sozialer Intensität und Erfahrung ist der Beginn dieser Entwicklung. Die Mathematisierung des städtischen Raums entspricht derjenigen des inneren Sinnes. Die Gründung des Menschen im sicheren Fundament eines inneren Wissens – cartesianisches Ritual – hat die gleichförmige Ausrichtung der Zeit als Vektor und des Raums als Gitter erzwungen. Die Mathematisierung der Lebenswelt ist heute total. Sie ist als ausweglos in der Gleichförmigkeit des Wissens konzipiert worden. Die Ästhetik des Digitalen ist dafür nur ein letztes Beispiel. Sie belegt die Abwehr allen Erinnerungszwangs. Und dies präventiv: vor allem Erinnern. Die analoge, sinnliche Erfahrung, wie Zeit auf der Uhr als räumliche Kreisbewegung des Zeigers verstreicht, weicht dem unmittelbaren Ausdruck oder Abrufen von Ziffern. Sie sind strategische Größen und können nicht mehr mit lebendig‑stofflicher Erfahrung verbunden werden. Auf den Fassaden der Dienstleistungsgesellschaft spielt sich das Leben als Performance ab. Räumliche Zonen werden nur noch durch die Reichweite und Frequenzen von Radiowellen gebildet. Hörräume reichen nicht zum Leben, nicht einmal für das Funktionieren der gesellschaftlichen Maschinerie. Die simulative Landscape der Spiegelfassadentürme bedarf deshalb irgendwo der nährenden ­Bilder: Townscapes. Hightech, Townscape, Disneyland, Utopie: Sie feiern entweder das Theater der Erinnerung oder die Ekstase der Imagination. Diese aber belegen das Scheitern aller Konzepte, ein modernes Raum‑Zeit‑Gefühl zu erzeugen. Ihr Auseinandertreiben erzwingt ein bloß abstraktes Gegenteil und erlaubt nicht die Synthese, die moderne Erkenntnis erzwingen möchte. Der Raum der modernen Stadt ist zerfallen durch eine

‚HIGH‑DEFINITION‑CITY‘  121

Zeitmaschine, durch Beschleunigung, Kanalisierung der technischen Fortbewegung. Die Paradieserwartung muss zwingend in apokalyptische Düsterkeit umschlagen. Was in ihr noch verbleibt, ist die Angst vor der Zukunft und die Feier der Traditionen. Sie erscheinen naturgeschichtlich: ohne Anfang. Diese Art Tradition aber ist bloß ein Verrat: Was immer schon währt, hat nie begonnen und kann deshalb gar nie Tradition werden. Was verbindet denn Raum mit Zeit in der Stadt, wenn es nicht die Geschichte ist? Drei Verbindungen zwischen Hightech und Townscapes sind möglich: Highways, Museen, Stadtguerilla. Damit sind nicht Orte gemeint, sondern Modelle. Sie mischen sich nicht selten zu einem ziemlich wirren Durcheinander. Das ist der Ansatzpunkt für Bricolage, die subversiv gegen die kalte Vernunft der geordneten Stadtgrundrisse auf Abweichung setzt, A‑Logik. Im Plan der Ordnung wie im Durcheinander der Unordnung jedenfalls ist der Mythos der Moderne erstarrt und untergegangen. Ihre Ordnung lässt Aneignung und Erneuerung nicht mehr zu. Die ästhetische Formation der Architektur als Kunst findet offensichtlich deshalb Zustimmung, weil sie nichts ist als ein symbolistisches Nachspiel zur Digitalisierung und Mathematisierung der Handlungen. Diese erscheinen unausweichlich. Selbstverständlich sind sie aber keineswegs. Sie sind Produkte einer Geschichte. Diese Geschichte ist unser Problem.

Die Grenze als produktives Scheitern Jede Aufhebung von Grenzen ist nur möglich, weil andere, neue errichtet werden. So schafft heute Europa – mit der Schweiz im Abseits – die Landesgrenzen ab. An deren Stelle tritt die erstmals ungehemmt aufs Soziale greifende Logistik der Eigentumsverteilung. Dafür wird das neue Europa ein Laboratorium. Der Krieg zwischen den Nationen wird so durch den perfekten Sozialdarwinismus abgelöst. The fittest survives – dazu stehen Räume und Menschen im Überfluss, Ressourcen als Mangel zur Verfügung. Die europäischen Städte sind zu Ende gebaut. Es gibt kein Draußen mehr, nur Vororte. Sie dehnen sich in die letzten Winkel vermeintlich unberührter Natur aus. Die Alpen, Meere und Landschaften werden ebenso aufgerüstet wie der menschliche Körper. Die strategische Umverteilung gelingt durch einen Kampf um Benennungen und Kenntnisse, die an die Stelle von Erfahrungen des Unformulierten treten. Keine Zuarbeit am Stofflichen mehr, sondern nur noch Erlebnisse, welche für das individuell siegreiche Manipulieren der Knappheit im übersetzten Nah‑ und Fernerholungsbereich belohnen. Gestaltwahrnehmung trocknet folgenlos aus. Ihre Stelle hält die Annektierung eines Stücks Versprechen im taumelnden Kultur‑ und Reisezirkus besetzt. Wie kann man sich noch bewegen in Landschaften, die genauso städtisch sind wie die Metropolen und ihre Zentren? Dreifach: als Maschinist, Disney‑World‑Besucher, Voyeur. Meine These ist: Das Scheitern der Erneuerungs‑ und Erlösungskonzepte, welche die Moderne zwingend einzuholen versprochen hat, ist prinzipiell und unhintergehbar. Der Grund des Scheiterns liegt vor allen Maschinen in der Technisierung der Zeit, der Mathematisierung des Raumes. Die Ersetzung des Raumes durch die Totalität diskreter,

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bezifferter Punkte formuliert den Endzustand einer Abstraktion. Ihre Gewalttätigkeit ist nicht allein durch eine Vorherrschaft des Visuellen über andere, leibliche Sinne gekennzeichnet. Sie provoziert weit darüber hinaus zwangsläufig den Zusammenbruch, zu dessen Verhinderung die universalen Anwendungssysteme der Ziffern aufgebaut worden sind. Das akute Scheitern zeigt, wachsend in den letzten 20 Jahren, dass der Kampf um Kontrolle oder Entzug der Kontrolle zu einem Feld mythischer Konflikte geworden ist: Performance gegen Stadtguerilla, Hightech gegen Townscape, Computer gegen Automobil. Die Geschichte der Durchsetzung dieser Abstraktion ist ein Kapitel der allgemeineren Mythologie der Maschine. Die leere Gleichförmigkeit des kontinuierlich gegliederten Raum-Zeit-Gitters ist der letzte Triumph der Mechanik. Zu dieser zählt übrigens auch der Computer. Um den Zustand zu verstehen, bedarf es keiner lösenden Prophezeiungen, sondern der historischen Erörterung der Entwicklung, in der die traditionelle von einer modernen, die organisierte von einer strategischen, die polymorphe von einer geometrischen Stadt abgelöst wurde. Diese Entwicklung wird hier chronologisch vom Mittelalter bis zur Gegenwart nachgezeichnet.

Mittelalter: Transzendenz Die mittelalterliche Konzeption von Lebensformen hat eine sakrale und eine profane Ausprägung. Die sakrale besteht im Wesentlichen aus folgenden, kursorisch erwähnten Elementen: Naturalwirtschaft, Bauten (Abteien) in abgeschiedenen Gegenden, Bodenpolitik, Besiedlung als Territoriumssicherung, Auflösung von Raum und Zeit im transzendierenden Akt der kontemplativen Einversenkung ins Jenseits. Diese Momente sind miteinander verschränkt. Wenn die Novizen im Kapitelsaal der Abtei von Fontfroide (bei Narbonne), der der Moschee von Córdoba nachgebildet ist, um die Reconquista als vorgreifende liturgische Inbesitznahme geradezu magisch zu vertiefen, wenn die Novizen von der Öffentlichkeit der Älteren ihre samstäglichen Beichtrituale abhalten, dann ist das die askesetechnische Kehrseite des benediktinischen Arbeitsbegriffs. Beide, Arbeit wie Kontemplation, sind transzendental orientiert. Die benediktinische Regel und ihre späteren, radikalen Erneuerungen haben sich als außerordentlich wirksam in der Verbindung von Ökonomie und Meditation erwiesen. Diese Verbindung ist nur durch eine Flucht aus der urbanen, zerfallenden Antike zustande gekommen. Im Akt der Kontemplation werden Raum und Zeit deshalb aufgehoben, weil die Vergegenwärtigung des Heiligen nicht nur im Jenseits gegründet wird, sondern das Leben in den Städten negiert. Das Wirkliche, das als Heiliges sich in der freien Natur ausbreitet, ist nur die stoffliche Ausprägung der religiösen Symbole: ein Vermittlungsbild, dessen Wert in der Veranschaulichungsgüte Gottes gründet. Aus der transzendenten Auflösung solcher Veranschaulichung kann prinzipiell nie eine städtische Siedlung entstehen. Der Raum verflüchtigt sich wie die dargestellte Natur im Bild. Zeit gerinnt zum Moment der Offenbarung, wird aufgehoben. Die Welt ist in sich geschlossen, das Wirkliche transformiert zum Abstrakten. Es reicht, Zeichen zu erkennen.

‚HIGH‑DEFINITION‑CITY‘  123

Im Gegensatz dazu steht die profane Konzeption des Mittelalters. Sie lässt sich durch Stichworte umschreiben: Anhäufung, Verdichtung, Nutzung des Raums, Schutzmauer, gegliederte Gemeinschaft, Handwerk, Kooperation, Unterordnung unter externe politische und ökonomische Zentralmacht, Versuche republikanischer Verwaltung, Konkurrenz von Kirche und Rathaus. Die Stadtgestalt beginnt, sich aus dem sakralen Bereich zu lösen. Die Sinnbildlichkeit des Heiligen weicht dem Sinnbild der gut geführten Republik (Siena). Städtische Landschaft und die der Natur werden konkret bezogen, im Detail geschildert, visuell erkennbar. Im geordneten Durchein­ander der Straßenzüge enden die spirituellen Abstraktionen des sakralen Mittelalters. Politisches Zusammenwirken erzeugt eine neue Intensität. Der Raum wird in Aggregate, nach Interessen, gegliedert. Die Ausdehnung des Terrains, die Politik irdischer Besitztümer verweist auf ein neues Bewusstsein: die historische Zeit. Handel und Geld, Vertrag und Transport erzwingen Vernunft und verzeitlichen das bisher Geltende. Raum und Zeit werden einem Souverän unterstellt. Dessen Territorium besteht nur lokal.

Renaissance: Ordnungslinien Die folgenreichste Errungenschaft der beginnenden Neuzeit, sofern man aus dem komplexen Zusammenhang etwas herausheben will, dürfte die von Brunelleschi experimentell überprüfte, von Masaccio zuerst angewandte, von Alberti theoretisch zusammengefasste, von Dürer weiterentwickelte Zentralperspektive sein. Sie ist eine technische Konstruktion nicht nur der Abbildung, sondern des Raumes selbst. Mit ihrer Hilfe verwandeln sich die Zeichen wieder in Dinge. War bisher das Bild eine Fläche, auf der Zeichen und Symbole angebracht wurden, so kann es nun als Fenster gelten, durch das sich auf ‚Welt‘ blicken lässt. Damit beginnt der Triumph der analogischen Bildcodierung. Sie steigert sich bis zur perfekten Täuschung und reizt das Mimetische bis zur vollkommenen Selbstentbergung der Natur aus. Ästhetischer Genuss verzehrt die Welt. Dieser Verzehr ist eine Bildtechnologie. Als solche gehört sie zum umfassenden Prozess der theoretischen Neugierde, mit der die Neuzeit die Schranken der Naturbeherrschung endgültig niedergerissen hat. Distanzierung von der Natur spaltet die sinnliche Korrespondenzkraft der Beziehungen in ein Subjekt und ein Objekt auf, trennt das Subjekt von der stofflichen Natur, die nur mehr objekthafter Rohstoff wird. Das Experiment verzeitlicht Natur. Die Entdeckung der Naturgesetze sichert Macht, setzt aber voraus, Natur als abstrakte Kontinuität im Denken bereits zergliedert zu haben. Die mathematische Konstruktion des Raumes ist eine wesentliche Voraussetzung. Erst Brunelleschi entdeckt, dass der Fluchtpunkt einem sphärisch gebogenen Schnitt durch die Sehpyramide entspringt. Die Welt wird gefasst im einzigen Punkt eines direkten Gegenübers des menschlichen Auges. Mathematisch: Der Fluchtpunkt ist der Schnittpunkt der Parallelen, damit ein Produkt der Aneignung des Unendlichen. Hoffte die Kirche noch, diesen Punkt als Moment sich offenbarender Unendlichkeit auch metaphysisch fassen zu können, so schritt der Prozess

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exakt in die entgegengesetzte Richtung. Die Vorherrschaft des ‚göttlichen‘, des mittleren Sehstrahls wurde auf den Menschen, nicht auf Gott bezogen. Die zentralperspektivische Ordnung der Welt wird zum eigentlichen Begründungsmodell und zur Metapher für die Selbstermächtigung des Menschen. Die Welt ist nur noch Bezugspunkt des absoluten menschlichen Auges. Die späteren maschinellen Bewaffnungen des Auges, Fotoapparat und Kamera, beruhen entscheidend auf dieser neuen visuellen Ordnung. Auch alltäglich nahm die Fähigkeit zum sehenden Identifizieren mathematischer Größenverhältnisse, Abmessung von verschiedenen Volumen, zu. Die Technisierung der Sinne schaltet demnach Medien zwischen Natur und Innerlichkeit. Metaphysik und Technik werden strikter unterschieden. Zivilisatorisch ist die Trennung von ‚Natur‘ in eine technisch bearbeitete, neutrale Natur und eine intime geschützte, bedeutungsschwere Subjektivität äußerst folgenreich und äußerst zweideutig. In den Ordnungslinien, die sich zu einem Raumgitter verdichten, steht zum ersten Mal die mittelalterliche Stadt zur Disposition. Dem Geist des Geometrischen erscheint die verwinkelte Unübersichtlichkeit als Gräuel. An deren Stelle hätte die weiträumige Linearität zu treten: Kontrolle. Diese Kontrolle wird am eigenen Körper im Ballett geübt und greift von da auf den äußeren Körper. Da auf die mittelalterliche Stadt nicht zu verzichten ist, wird an einem künstlichen Modell der Geist des Städtischen als Gesetzlichkeit der Geometrie vorgerechnet. Der Renaissancegarten wird so als fiktionale neue Stadt realisiert. In reiner Form existiert die geometrische Stadt nur als inszenierte Landschaft. So wird Versailles der wirklichen Stadt das eigentlich Städtische wissenschaftlich darlegen. Die Identität der Stadtkonzeption – der französische Barockgarten von Versailles realisiert das Renaissancekonzept – ist seit der Renaissance das Paradebeispiel von Modernität. Hier beginnt eine grundsätzliche Formalisierung des Räumlichen. Natur wird aus der Idee der linearen Raum‑Zeit‑Ordnung abgeleitet. Die empirische Mannigfaltigkeit der Natur verschwindet in der gereinigten Idee ihrer abstrakten Ordnung. Das Konzept der Moderne kann deshalb Irregularität nicht denken. Es schließt Ad‑hoc‑Entwerfen ebenso aus wie Bricolage. Gegen die Erkenntnis der Falsifizierbarkeit suggeriert es Wahrheiten, die doch nur vorläufig gelten, als undurchschaute Irrtümer.

Absolutismus und Aufklärung: Weltinnenpolitik Die Verwissenschaftlichung der Renaissance wird auch im höfischen Absolutismus fortgesetzt und der cartesianische Raum aufs Unendliche ausgedehnt. Selbst die kleinsten Übergänge werden berechenbar mit der Infinitesimalrechnung. Kontinuität triumphiert über mögliche Brüche. Dass alle Linien im einzigen Auge des einzigen Herrschers zusammenlaufen, zeigt, dass die Freiheit der angeeigneten Natur einer Ordnungsutopie der maschinell geregelten Gesellschaft unterworfen worden ist. Für die räumliche Entfaltung des Sonnenkönigs liefert Tommaso Campanellas ‚Sonnenstaat‘ die direkte Vorlage: eine perfekte Organisation aller Handlungen nach strikten Zeiteinheiten und ‑vorschriften. Die vollkommene Ordnung ist eine eigentliche Zeitpolitik. Vollkommene

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Geometrisierung und der absolute Zentralismus sind ebenso untrennbar miteinander verbunden wie die Formalisierung des Raumes mit der Mechanisierung der Zeit. Kein Wunder, dass eine herausragende Figur und der Historiograf des Absolutismus, Leibniz, der Erfinder der binären Codierung ist. Die heutige Digitalisierung verdankt ihm das theoretische Modell eines dual notierten Schaltkreises. Neben automatischen Rechenprogrammen und Speichertechnologie ist die binäre Codierung der wesentliche Schlüssel für die Computerkultur. Deshalb ist in der praktischen Unvernunft des Absolutismus schon ein Zwang zur Verwissenschaftlichung der Politik aus dem cartesianischen Geist mitgesetzt. Zwar ist die Lebenswelt des aristokratischen Ancien Regime ein reichlich regressives Disney World. Lange vor seinem politischen Abstieg ging aber sein ästhetisches Prinzip in Modernitätshoffnungen ein: stetiger, unaufhaltsamer Fortschritt, grenzenlose Ausdehnbarkeit der technischen Maschine. Geopolitik durch Aggression lebt aus cartesianischem Identifikationsdenken. Der Raum wird in ein perfektes Koordinatensystem umgerüstet. Dessen militaristische Syntax vollendet die Macht des identifizierenden Sehens. Seither ist alle Wissenschaft Kriegswissenschaft, alle Forschung Kriegstechnologie. Hinter den Kulissen des herrschenden Ancien Regime wird schon ein Prinzip bürgerlicher Kulturherrschaft sichtbar: die Weltinnenpolitik einer unteilbaren Vernunft. Sie stützt sich auf die Reduktion von Raum und Zeit, auf bloß innere Formen der Regulierung von Wahrnehmungsdaten. Raum und Zeit werden als irreal gesetzt. Sie gelten nur so weit als wirklich, als das sich mathematisch und juristisch betrachtende Individuum die Formen des inneren Sinnes als gleichursprüngliche Momente des begrifflichen Denkens, als ihre außerkategoriale Voraussetzung, denkt. In der Aufklärung wird die absolute rationale Geometrie weiterentwickelt: Kulturentwicklung verläuft hinter den politischen Machtpositionen wesentlich kontinuierlicher als die Tageskonflikte unterstellen. Die konkrete Herrschaft des Ancien Regime war dem Bürgertum verhasst, galt als provokativ, geschmacklos und unvernünftig. Seine allgemeinen Prinzipien aber, erst recht die der Wissenschaftsorganisation, blieben unangetastet und wurden zu Leitkategorien der Umwandlung der Welt nach Verstandesgesichtspunkten. Die Reduktion des Stofflichen auf die inneren Formen von Raum und Zeit blendet Wirklichkeitserfahrungen aus. Die Entstofflichung des Realen erzwingt Widersprüche, mit denen das Reale als Nicht­-Gleichgültiges sich zurückmeldet. Der Einspruch gegen die Herrschaft der Abstraktion ist wahrnehmbar als Grenze. Die Ausblendung der Unregelmäßigkeiten des Wirklichen bewirkt eine innere Widersprüchlichkeit der Kulturentwicklung. Die verlangte Vernünftigkeit einer utopisch angestrebten Weltinnenpolitik ist real nur Moment eines Konkurrenzmechanismus, der bis zu Kolonialismus und Weltkrieg die Reinheit der Vernunft einzig aus dem Mangel des unvernünftigen Wirklichen herleitet. Modernität kann Barbarei nicht verhindern, sondern ist durch diese motiviert. Verhindern könnte sie diese nur, wenn sie ungeordnete Stofflichkeit und Dissidenz zulassen könnte. Dann allerdings müsste der universale Vernunftbegriff gesprengt und eine Multiperspektivität der Sprachen und Handlungen ermöglicht werden. Das Prinzip des abstrakten Tausches, von Geld und ­Kapital, Maßformen der leeren Allgemeinheit, könnte dann nicht mehr universal

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sein. Die ­Formalisierung des inneren Sinns ist nicht nur zivilisatorisch interessant, sondern ein Moment in der Geschichte einer Denunzierung des Wirklichkeitsbegriffs. Umwelt wird entstofflicht, Geschichte naturalisiert, Zeit neutralisiert, Raum strategisch gesichert, Natur zum Garten der Erholung oder arkadischen Bildungsbeflissenheit, Geschichte zum Produkt von Naturgesetzen: Man sieht leicht, dass gerade die Neutralität der inneren Sinne und die Mechanik des Denkens einen für bürgerliche Kultur kennzeichnenden universalen Prozess der Mystifikation in Gang setzt. Zeit gilt darin nur noch als Widerstandsmoment innerhalb einer Maschinerie, welche jeglichen Aufwand zu minimieren trachtet. Automatisierung der Lebensprozesse entspringt dieser Minimierung, dem konsequenten Plan einer zentralperspektivischen Ordnung des Raumes seit der Renaissance. Die Abspaltung von Innerlichkeit und einer auf Rohstoff reduzierten Natur ermöglicht den Eingriff der Automatismen.

Das 19. Jahrhundert: Mechanisierungsschübe Der Positivismus des 19. Jahrhunderts kann als eine Art Absolutismus der technisierten Ökonomie auf dem Hintergrund der Reduktion der Erkenntnis auf verwertbares Wissen verstanden werden. Damit ist der Zusammenhang gesetzt: Bürgerliche Weltvernunft entpuppt sich als Herrschaftstechnik. Die Einheitlichkeit der Dinge zeigt die Durcharbeitung von Raum und Zeit an. ‚Mechanization takes command‘ läuft immer auf die Eliminierung von Aufwand hinaus. Streichholz, Elektrizität, Telefon, Haushaltsapparate, Landwirtschaftsmaschinen: Sie alle folgen demselben Prinzip. Das lässt sich bestimmen als Zielvorgabe einer Steuerungsgröße, in der Befehl und Ausführung möglichst identisch zusammenfallen. Sofortauslösung, Soforthandeln überwinden die Traditionen auch im städtischen Raum. Die Stadt wird zum sozial‑physikalischen Labor und zum Operationssaal für die Folgekosten der Klassenkämpfe. Entscheidend ist die Auflösung der Gebrauchswerte, die Überformung der Stofflichkeit durch die Funktionsästhetik der Tauschwerte. Diese Städte, die Metropolen des 19. Jahrhunderts, können nicht mehr durch Flanieren erwandert, sie müssen durch Operationen reguliert werden. Die visuellen Phantasmagorien, welche die Weltausstellungen seit 1851 regelrecht einüben, liefern die wirksamen Kulissen für die Mechanisierung des städtischen Lebens. Zwischen die Betrachter als Konsumenten und die Dinge als Waren treten irrlichternde Intermedien: Preise, Marken und Schaufenster. Käuflichkeit und Lockungen als Prinzipien der Erotisierung von Dingen schlagen zurück auf das nunmehr enttabuisierte und entgrenzte Verhalten der Menschen untereinander: Sie betrachten sich als Objekte der eigenen Lockungen, wie als Verkörperung der Versprechen anderer, welche durch Mode und Inszenierung, Attitüden und Gesten zweideutig ausgespielt werden. Der frei schweifende Blick im Verhältnis der Menschen untereinander entspricht dem von diesen zu den Dingen. Wenig später wird das sich entziehende Traummaterial der uneingelösten Versprechen durch die Psychoanalyse aufgearbeitet, durch die Surrealisten verklärt. Der nächtliche Spaziergang durch die ‚Buttes‑Chaumont‘ in Louis Aragons

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Le Paysan de Paris ist noch eine Erinnerung an Arkadien, aber der wirkliche Weg fördert im Gewächs nichts anderes aus der Natur als die Stadt, in der dieser Park liegt. Die Stadt als poetisches Subjekt, das Urbane als die Natur der Moderne verschränken sich mit der Reiz‑Ästhetik. Das Moderne kann deshalb geradezu als ihr eigenes Archaisches gelten. Wenig später wird der Reiz‑Ästhetik die Ekeltechnik der avantgardistischen Kunst entgegentreten. Aber noch ist das Feld gänzlich beherrscht von Warenwerbung und Warenmarkt, den Phantasmen der Dinge und der Einrichtung neuer Raum‑ und Zeitachsen. Mit triumphaler Geste schafft Baron de Hauss­mann endlich, und zum ersten Mal in großem Stil, Platz und Ordnung in den Wirren der mittelalterlichen Stadt, auch wenn die Boulevards neben ihrer Funktion als militärische Einfallsachsen zur Gängelung der aufmüpfigen Bevölkerung wenig mehr sind als theatralische Rinnsale großbürgerlicher Eitelkeiten. Das Durchschneiden von Raum und Zeit mittels dieser Achsen entsprach den Reiz-Ästhetiken. In sie integriert waren die großen Künstler, deren Darstellungsexperimente die Urkunde der modernen Pla­katwerbung sind. In diesem Moment schien, historisch erstmalig, die Stadt Paris der mögliche Raum einer Koexistenz von Verschiedenem. Wenig später aber zerbrach diese Einheit. Die Erhebung des vierten Standes in der Commune von 1871 warf ein gegen‑impressionistisches Wirklichkeitsbild in die gesellschaftliche Symbolik ein: das der Fabrik und der Maschine als einer Vorhölle. Bis heute antworten darauf verschiedene, insgesamt aber hilflose Strategien: Rückgewinnung von Heimat, Zersiedelung der Stadt in Funktionszonen (Moderne), Verräumlichung von Zeit als Rückkehr zum Mythos (Gegenmoderne), Auflösung des Raumes in Beschleunigung (Simulationsästhetik). Und, als Inbegriff von Modernität: die Modellierung des Seelenlebens durch eine aus der vereinheitlichten Technik‑Wissenschafts‑Kultur abgeleitete Ästhetik.

Dynamische Ikonografie: futuristische Modernisierung Nimmt man vom Modernitätsversprechen das Pathos weg, dann läuft es darauf hinaus, in die alten Menschen diejenigen Gefühle hineinzupflanzen, die einem zeitgenössischen Kulturverständnis als der modernen technischen Lebenswelt als einzig angemessene erscheinen. Insofern steht Modernität immer schon unter dem Druck von Regressionen. Es halten nämlich mit dem Fortschreiten der Moderne die kollektiven Gefühle und Einstellungen nicht Schritt mit den technologischen und ästhetischen Erneuerungen. Im Gegenteil: Die Schere der Ungleichzeitigkeit, die nicht selten als Vorwand für eine ästhetische Erziehung des Volkes genommen wurde, erschien immer größer. Wesentliche Exponenten der Geschichtsphilosophie und Poesie der Moderne – Walter Benjamin, Wladimir Majakowski, Ilja Ehrenburg, Gyorgy Kepes, Piet Mondrian, Laszlo Moholy‑Nagy, Alexander Rodtschenko, Siegfried Giedion – beschwören aus diesem Grund eine neue ‚dynamische‘ Ikonografie. Was heute in den Geschwin­digkeitstheorien Paul Virilios eine apokalyptische Einfärbung erhält, ist der Sache nach nichts anderes als die futuristische Provokation. Aus der Sicht einer perfekten Maschine werden die Menschen eine vernachlässigbare Größe. Sie müssen sich selber zugunsten der perfekten Ästhetik zum

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Verschwinden bringen. Alle Handlungen dienen der Perfektionierung einer Ordnung, die ganz vom energetischen Schub technischer Ästhetik durchdrungen ist. Konstruktive Transparenz, kubistische Überlagerung, dadaistische Demontage: Sie alle fanden ihre abschließende Formulierung im futuristischen Pathos, ein neues Gefühlsleben sei zu entwickeln, das endlich Anschluss fände an die moderne Mechanisierung des Alltags­ lebens, die Überwindung der älteren Psychologie, den Bruch mit dem Historismus, in den schonenden Ornamenten des Überholten und Überflüssigen. Das mechanische Funktionieren wird zum letzten Leitbild. Es wirkt sich selbst in der surrealen Feier des Un‑Persönlichen aus. Damit schien Moderne nicht nur auf Kälte verpflichtet, sondern das Versprechen der Neuzeit einzulösen und überindividuelle Formen des Lebens aus den Apparaten zu gewinnen. Die kulturtragende Persönlichkeit verstand sich als Gegenmodell zum bürgerlichen Individualismus. Eine kontrollierte Ekstase im Hinüberwechseln zu den technischen Systemen hatte die alten Riten zu überwinden. Eine Metapher wird zur Wirklichkeit: der Organismus als eine Art höhere Mechanik in der gesellschaftlichen Totalmaschinerie. Die optische Merkwelt wird ebenso gesprengt wie der innere Sinn. Die technische Kultur – visuell: Kamera als Waffe – wird zum Ausgangspunkt industriellen Handelns. Die Aufsprengung des Kontinuums schafft zwischen den Trümmern Platz für ausgedehnte neue Reisen. Wenig später wird dieser Zwischenraum durch die automatisierten Kriegsvernichtungssysteme gefüllt, welche die Ausdehnung der Welt auf eine Zeitspanne von sieben Minuten zwischen Vorwarnung und atomarer Explosion reduzieren. Zeit‑Politik löst Geopolitik ab. Es herrscht die Vertikale der atomaren Übervernichtungsdrohung. Die so enteignete Zeit erzwingt Kompensation: Schein und Flucht, ausgleichend ausgedehnte Reisen an alte Orte. Die internationale Reise‑Euphorie ist eine verzweifelt hoffende Anstrengung, Spielräume in einer zeitlos wegverwalteten Welt zurückzugewinnen. So bleibt die Regression stabil. Und wahrscheinlich ist die Schere der Ungleichzeitigkeit die einzige utopische Kraft, die uns geblieben ist. Die neue Wahrnehmung, futuristische Schock‑Ästhetik und Diskontinuität, Momentanisierung und verführerisches Aufblitzen jedenfalls sind nicht die Wendezeichen geworden, die ihnen kraft technischen Bildsinns aufgeprägt worden waren. Die Rituale der Gewöhnung haben noch das Unausdenkliche mechanisiert, ohne das Gefühlsleben zu revolutionieren. Zugleich aber auch, ohne dass die futuristische Provokation bis jetzt hätte eine Antwort finden können. Von der Moderne bleibt ihr Zerfall, von der Technik ihre Dysfunktion. Die souveräne Mechanik als Endpunkt einer im Unbewussten signifikant geordneten Geschichte ist eine letzte Suggestion. Immerhin wirkt sie sich auf die Stadt aus, die zur Zeitmaschine verwandelt wird. Ihr Nährgrund ist von kontinuierlicher Masse in kontinuierliche Leere verwandelt worden. Die Objekte und Häuser werden Monumente und sollen dennoch gleichzeitig im absoluten Raster einer gezähmten Natur verschwinden. Die Moderne droht zur Akropolis zu erstarren: Weihestätte. Ein Forum, lebendiger Diskurs, ist ihr in den ästhetischen Darstellungszwängen nicht mehr denkbar. Kultur verschwindet im Transport. Ihre Entwicklung hat keinen wirklichen Ort. Der leere Raum zwischen den massierten Baukörpern ist nur noch der als Natur deklarierte Koordinatenraum, in dem Bewegungen errechnet werden zur Steigerung der Geschwindigkeit.

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Aktualität und Widerspruch Was antwortet diesem Verschwinden? Einmal dessen Überschreitung durch Transgression. Die Kämpfe um eine Stadt, die ihren Raum als Einlösung des Versprechens einer Fülle von Lebensformen, der Verschiedenheit von Zeit, der Zugänglichkeit von Rollen, versteht, sind in den industrialisierten westlichen Gesellschaften nur mit Gewalt unsichtbar zu machen. Seit 1980 ist ein Dauerkonflikt einprogrammiert. Zu verhindern sind die Kämpfe langfristig nicht einmal dann, wenn das gesellschaftliche Leben nicht mehr an Lohn, sondern Autonomie gekoppelt wäre. Weiter eine zweite Möglichkeit – antworten der zeitpolitischen Zersiedelung der Lebensräume nach dem Scheitern der Idealstadt das Lifestyling und die Verschönerung gesichtsloser Orte mittels Kunstwerken. Widersprüche werden sichtbar. Kunst soll mittels Stärkung eines gleichbleibenden Bezugsfeldes die Identifikation erhöhen und die irritierte Wahrnehmung beruhigen. Life­styling setzt dagegen auf die Beschleunigung des Wechsels. Es fördert den Zusammenprall unvereinbarer Erfahrungsteile. Die Möglichkeit eines gegliederten Kontextes wird immer mehr durch eine reiz­ästhetische Zerrüttung aller Kontextbildung aufgelöst. Es herrschen nicht mehr Raum und Zeit, sondern Raum‑ und Zeitsprünge. Wer transkontinental telefoniert, bewegt sich in einer Multilokalität und Multitemporalität. Diese kann als räumliche Verschiedenheit zur gleichen Zeit und als Ungleichzeitigkeit am selben Ort zum Ausdruck gebracht werden. McLuhans globales Dorf ist zur globalen Vorstadt geworden. Als eine dritte Strategie antwortet auf die Herrschaft der Vektoren die Verräumlichung von Zeit. Das gilt für Pasolinis mythensuchenden Filme ebenso wie für die Theorien der Collage City oder des einprägsamen Ortes. Pasolinis Filme beschwören das Mythische durch einen Symbolhunger, der abgründig und ambivalent bleibt. War nicht immer die faschistische Ästhetisierung des Sozialen durch die Verräumlichung der Zeit ausgezeichnet?

Dissens Überall wird auf intervenierendes Handeln im Bereich der Kultur verzichtet. Einzig in der Politik werden derartige Rollenansprüche noch vorgespiegelt. Es scheint, dass Zukunft nur noch als das zu Verhindernde, als ein Ängstigendes wahrgenommen wird. Positivismus und Traditionalismus triumphieren. Die Feier des Relativismus, allseitig beschworen, reicht aber für einen Aufbruch nicht hin. Es gilt, ein umfassendes Symbolisches gegen den bloß zitierenden Zeichengebrauch zurückzugewinnen. Das gelingt nur, wenn Wirklichkeit erneut Widerstandsqualität bekommt. Die Auflösung der Grenzen in Raum und Zeit, die in den europäischen Modellen der technischen Utopie angelegt ist, muss dem gestärkten Sinn für das Unbekannte, Fremde und Fremdbleibende weichen. Der Kult der gepflegten Auffälligkeiten muss einer erneuerten Subversion ausgesetzt werden: dem Rückgewinn einer Vielgestaltigkeit, die sich nur als Dissens gelten lässt, als je eigene Sprache. Es gilt nicht, dafür Ausdrucksformen zu finden. Dringlich

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sind nur noch Formen, wie Konflikte artikuliert werden können. Gegen die High‑Definition‑City der Gegenwart bilden Unberechenbarkeit und das Denkbild des Skandals die entscheidenden Voraussetzungen. Ausblick mit Laurie Andersons „Talk Normal“ (von der LP Home of the Brave): “I don’t know about your dreams But mine are sort of hackneyed. Same thing, night after night. Just … repetitive. And the color is really bad And the themes are just infantile. And you always get what you want – And that’s just not the way life is.”

Erstpublikation unter dem Titel „High-Definition-City. Raumkonzepte im europäischen Denken vom Mittel­ alter bis zur Technologie der Beschleunigung.“ In: Marc Mer u. a. (Hrsg.). Translokation. Der ver-rückte Ort. Kunst zwischen Architektur. Triton, Wien; zunächst und in erster Fassung auf Englisch geschrieben für einen Vortrag, gehalten am 13. Oktober 1990 im Rahmen des vom Goethe Institut veranstalteten internationalen Symposiums „Limits, Borders, Boundaries“ am National Center for the Performing Arts in Bombay unter dem Titel „Space Concepts in European Thought from the Age of Enlightenment to the Technologies of present ­Acceleration“.

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STILNOTATE ZWISCHEN LEBENSFORM/­ SUBVERSION UND FUNKTIONSBEGRIFF 1 Jean Genet braucht einen eigenwilligen, für seine Lebenswelt radikalisierten Stilbegriff. Er baut das Universum seiner Dinge als Landschaft des Geistes und als Ökonomie, der Wünsche. Es gibt keine Brüche zwischen diesen, seinen Dingen und den Wünschen. Zum Beispiel behauptet er seine Würde in bestimmten polizeilichen Untersuchungssituationen mit einer Tube Vaselin. Die wird bei ihm während einer Razzia gefunden. In seiner Lebensschilderung Tagebuch eines Diebes formuliert Genet ein Stilmodell, das den Begriff des Symbols aus der Fetischfunktion individuell ausgezeichneter Gegenstände hervorgehen lässt. „Es handelte sich um eine Vaselintube, deren eines Ende mehrmals umgebogen war. Das heißt, sie war bereits benutzt worden. Inmitten der eleganten Gegenstände, die man aus den Taschen der bei dieser Kontrolle verhafteten Männer zog, war sie das Symbol der Verdorbenheit, die man am tiefsten zu verbergen sucht, Symbol aber auch der geheimen Gnade, die mich bald vor der Verachtung retten sollte. Nachdem sie mich in der Zelle eingeschlossen hatten und meine Lebensgeister wieder hinreichend erstarkt waren, mich über das Unglück meiner Verhaftung hinwegzutrösten, wich dieses Bild der Vaselintube nicht mehr von mir. Mit sieghaftem Ausdruck hatten die Polizisten sie mir vorgehalten, denn sie erlaubte ihnen, ihre Rache, ihren Hass, ihre Verachtung zum Ausdruck zu bringen. Jetzt aber wurde dieses elende, schmutzige Ding, dessen Bestimmung der Welt so gemein erschien, (ich meine jenen konzentrierten Teil der Welt, den die Polizei darstellt, und insbesondere jene ganz besondere Species der nach Knoblauch, Schweiß und Gel stinkenden spanischen Polizisten, mit ihrem vierschrötigen Äußeren, ihren dicken Muskeln und ihrer moralischen Selbstsicherheit) wurde mir unendlich wertvoll. Dieses Ding umgab ich, im Gegensatz zu vielen anderen Dingen, denen meine Zärtlichkeit gehört, nicht mit einem Heiligenschein; es blieb auf dem Tisch eine Tube Vaselin aus grauem, unscheinbarem, gebrochenem, bleichem Blei, dessen erstaunliche Zurückhaltung und wesenhafte Verknüpfung mit den anderen alltäglichen Gegenständen einer Gefängnisschreibstube (der Bank, dem Tintenfass, der Gefängnisordnung, dem Messstab, dem Geruch) mich durch seine allgemeine Gleichgültigkeit traurig gestimmt hätte, wenn nicht durch den Inhalt der Tube, vielleicht ­wegen seiner schmierigen Konsistenz, um derentwillen man an eine Öllampe denken konnte, das Bild einer Totenwache in mir Gestalt gewonnen hätte.“1 Genet weiß zwar, dass die „Pracht des Ausdrucks“2 die Dinge schafft, indem er die Sprache triumphieren lässt. Aber die Dinge, die aus der Sprache hervorgehen, sind reale Dinge. Stil ist ein Sieg, den die Sprache den Dingen aufzwingt. Der Fetisch der Dinge ist das Wort, die Verselbstständigung, der Name, das poetische Umspielen der Beschreibbarkeit eines Namenträgers. Genets poetisches Ziel ist die Wirkung auf Gemütsbewegungen, die eine Befreiung von der naturwüchsigen Macht der

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Dinge voraussetzen.3 Die Zuflucht zu den Dingen erfährt Genet als Scheitern einer absoluten Sprache. Die Dinge rächen sich an dem, der ihre Sprache braucht. Genet zögert vor der Flucht in den Mythos. Die höheren Wesen des Dinglichen – von deren Bedeutung er sich löst –, bannt er in den Ausdruck, weil er die Bezeichnungskraft der Dinge von ihrer Beschwörungskraft, rein verbal, trennt. Diese Absonderung hält nicht nur den Ablauf der Sprache in Gang; sie sichert auch das Terrain der Stilselbstbehauptung. „In dem selben Augenblick, in dem ich aufhörte, ein von der tätigen Welt durch die Scham abgesonderter Bettler zu sein, entglitt mir diese Welt.“4 „So wies ich entschlossen eine Welt zurück, die mich selbst zurückgewiesen hatte.“5 Dissidenz und Widerspruch sind, was Genet erst Wahrnehmung ermöglichen; die Dinge rücken weg; im selben Maße kann von einer Stilbildung gesprochen werden: eine geistige Tätigkeit, die Dinge in Bedeutungen verwandelt. Beliebiges, sofern es der Er­fahrung des Fremden entspringt, kann so ausgeschmückt werden, dass die geistigen ­Gewohnheiten veredelt werden, „indem sie die Gegenstände meines Verlangens verherr­lichen“.6 Das Verlangen bildet Stil, die Dinge erklären nicht das Verlangen.

2 Im kulturellen Austausch nimmt auch heute noch die Vision zu, die Tätigkeit des Subjekts als Maschine erklären zu können. Andy Warhol sieht den Objektschöpfer als Medium, das von maschinellen Medien besetzt gehalten wird. Eigentlich, so der Künstler, möchte er eine Maschine sein können. Deleuze/Guattari erklären das Verschwinden der natürlichen Beziehungen mit ihrem Gefangensein in einem ‚maschinellen semiotischen System‘. „Mensch und Werkzeug sind schon Maschinenteile auf dem vollen Körper der jeweiligen Gesellschaft.“7 Die Wunschmaschinen, verstanden als gesellschaftlicher Körper, der Maschinen erzeugt, bilden das Unbewusste. Deshalb müsse die Bildung von Bedeutungen so verlaufen, dass – nach der Einsicht in die Falschheit der überwundenen natürlichen Beziehungen – der Entwurf von Technologien sich auch auf die Konstruktion von Subjektivität, von Wunschobjekten, von beliebigen Objekten ausdehne. Dagegen ist zu sagen: Die Konstruktion einer Maschine, die Subjektivität, Modelle und Objekte erzeugt, müsste eine sein, die den Zufall integriert. Die Maschine ist vorerst aber noch ein Gegenbegriff zur Organisation des Zufälligen. Die Rede von den maschinellen Systemen verkennt den Charakter der Kultur von Grund auf. Sie kann nämlich keine Grenze des kulturellen Wachstums beschreiben. Offensichtlich gibt es aber systematische Grenzen: Zusammenbrüche. Einen Typus kulturellen Zusammenbruchs kann man als Stil bezeichnen: diejenigen Bereiche, deren Bedeutungen objektneutrale Formulierungen gefunden haben. Stanislaw Lem meint dazu: „Der Mensch ist jenes Geschöpf, das mit der mehrdimensionalen Zufälligkeit seiner Entstehung, seiner Existenz und seiner Stellung in der Welt nicht einverstanden ist.“8 Das zwingt ihn dazu, seine Tätigkeit als Bewusstsein zu konzipieren und als Einheit von Bedeutungen zu behaupten. Einheit von Bedeutungen kann man ‚Stil‘ nennen. „Weil die Weltbilder von

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Kulturen stets parteilich sind, entdeckt die Kultur überall das Nichtzufällige.“9 Gibt es also, in einem eigentlichen, nicht nur einem assoziativen Sinne, Denkstile? Immerhin legt die Funktion der Einheit, die Stil erst erzeugt, nahe, das eigentlich einheitsgebundene Feld menschlichen Tuns, das Denken, für besonders stilträchtig zu halten. Ohne Zweifel existieren, und zwar nicht in historisch chronologischem Ablauf, eine Fülle von Denkmoden. Ist Denkstil einfach eine dominante Denkmode? Von denen hätten wir einige, die zu Recht Denkmoden heißen, weil sie methodisch nicht neutral sind, sondern von bestimmten Dispositionen der Nachfrage und des Interesses abgerufen werden: ‚linguistic turn‘, Marxismus, Strukturalismus, kritischer Rationalismus, Sprachphilosophie und so weiter. Kürzlich ist ein Wissenschaftsanarchismus in Mode gekommen, die Semiotik erblüht immer mehr, und aus Frankreich kommt eine bunte Fülle wissenschaftspoetischer Neuschöpfungen: Diskurstheorie, ‚nouvelle histoire‘, ‚histoire immobile‘. Die Tendenz zum Entlegenen, scheinbar Konkreten, Abseitigen und Alltäglichen nimmt zu. Dafür stehen Namen wie Paul Veyne, Fernand Braudel, Le Roy-Ladurie, Carlo Ginzburg, Salvatore Seths, Nathalie Davis, Mary Douglas. Dazu kommt eine Reihe hermetischer Konstruktionen, die alle ein subjektiv absolutes Stilmodell bezeugen und die vielleicht einzig noch in der metaphysischen Auffassung eines nicht-persönlichen Sprachkörpers und Zeichenuniversums miteinander in Bezug gebracht werden können: Jacques Lacan, Michel Foucault, Julia Kristeva, Jacques Derrida, Michel Serres, Jean-Francois Lyotard, Jean Baudrillard. Bereits älteren Stiltypen gehören andere Denker an: Georges Bataille mit seiner Theorie von der Bosheit des Eros und der Profanierung des Heiligen, Jean Paul Sartre und der letzte Versuch einer Totalisierung des menschlichen Kategorienwissens unter der Vorgabe einer rigiden, geschichtsphilosophisch instrumentalisierten Handlungsvernunft. Vielleicht reden wir noch von einer Mode im Falle von Kristeva, Lacan, Derrida, Serres. Grund: Wir haben deren Sprache noch nicht so entschlüsselt, dass wir ihre Semantik von ihrem poetischen Diskurs trennen können. Vielleicht reden wir eher von einem Stil bei Roland Barthes und meinen die Unverwechselbarkeit einer persönlichen Handschrift. Poetologische Verstiegenheiten und subjektive Manieren nehmen wir dort hin, ohne dass wir an unserer Zuschreibungsfähigkeit von Stilmerkmalen zweifeln – unterstützt vielleicht dadurch, dass der Autor manchmal geradezu unmittelbar über Dinge dieser unserer Welt schreibt, in der wir das allgemein Menschliche mit dem Verzicht auf die subjektive Poesie (die eben Hermetik bedeutet) verbinden. Der Übergang der Denkmoden in einen Denkstil ist erst aus der Perspektive der Nach-Geschichte bestimmbar. Dann nämlich, wenn Sachgehalt und Diskursordnung einer theoretischen Textur auseinanderfallen. Das ist erst möglich durch einen anderen Problemdruck, durch den Bezug auf ein von diesem Diskurs noch nicht beobachtbares und noch nicht eingerechnetes, offensichtliches Problem. Denkstile haben offenbar im Unterschied zu Denkmoden mit diesen kulturellen Verschiebungen und Verwandlungsdrücken zu tun. Im Zeitalter der wachsenden Beschleunigung und des kritischen Raums, der in die Zeit übergeht (Paul Virilio) in der Epoche der Auflösung der Differenz von Realität und Zeichensystem, der Verselbstständigung der Strategien und der Verflüchtigung der definierbaren Grenzen zwischen Kulturellem, Sozialem, Ökonomischem, Ästhetischem und Politischem (Jean

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Baudrillard), ist es aber nicht weiter verwunderlich, dass der Anspruch, andere Denkstile propagieren zu können, wächst. Im Namen einer ‚Ökologie des Geistes‘ propagiert Gregory Bateson den „systematischen Unterschied zwischen den bewussten Ansichten vom Selbst und von der Welt und der wahren Natur des Selbst und der Welt“.10 Damit will er die Zufälligkeiten der Realität ebenso ausschalten wie das erkenntnistheoretische Prinzip, dass wir gegenüber den Anpassungszwängen des Bewusstseins nicht einmal einen angemessenen Begriff von Zufall entwickeln können. Die Ökologie des Geistes – als sei bereits festgelegt, dass zwischen Natur und Geist eine Homologie herrscht – kann deshalb Einsicht in die Propaganda eines bewusst gesetzten Denkstils (eigentlich einer Manier) verwandeln, weil der Beifall zu irgendeiner Kritik der abendländischen Rationalität unausweichlich ist. Voraussetzung ist, dass die soziale Funktion des Denkens vermeintlich naturwüchsig auf eigentlich erst nachträglich herausgefilterte Paradigmen (Grundcharakteristika) zurückgeführt werden kann. Das ist möglich, wenn man Denken in technischen Einrichtungen verwirklicht sieht. Man geht von Ablagerungen aus, die man instrumentell als Ausdruck des Wesentlichen interpretiert. Die Kritik des Denkens hängt dann von beliebigen Common-sense-Überzeugungen ab. An die Stelle des Denkens tritt – und vielleicht macht das den Stil solcher Ideologien aus – die lebensweltlich unter dem Bann der Apokalypse beschworene Weisheit. „Es kann für die Weisheit wesentlich sein, dass die enge zweckgerichtete Sicht irgendwie korrigiert wird.“11 Am wichtigsten wird dann ‚die Liebe‘. Solchen Theorien erscheint die Bewusstseinsleistung nicht nur als individuelle Willkür, sondern als mechanischer Ausdruck eines evolutionären Drucks, der das Individuum über Belohnung und Bestrafung zur Anpassung zwingt. Stil wird zur Drohgebärde: Lernzwang. Immer wenn der Mensch zweckgerichtet denke, sei das ein Fehler: wissenschaftliche Arroganz. Damit wird ein Terrain allen nicht-rationalen, nicht für rational gehaltenen Tätigkeiten gesichert. Kunst wird zur Kreativität, Kreativität zum Heilsversprechen, zur Wiedergewinnung Gottes, den die Menschen aus dem Paradies vertrieben hätten.12 Kultur, Welt, Individuum – sie alle werden zu ‚biologischen Systemen‘. Dass der Appell die Sprache Gottes spricht, ist durchaus wörtlich zu nehmen. „Unter Weisheit verstehe ich das Wissen um das größere Interaktionssystem – jenes System, das bei Störungen dazu neigt, Exponentialkurven der Veränderung hervorzubringen.“13 Mit den Zwecken werde das Individuum notwendig blind gegen die ‚systemische Natur des Menschen‘. Dagegen spricht die Sprache Gottes, die jeder beherrscht, der weiß, was das ‚größere Interaktionssystem‘ ist. Der Stil, das ist hier die Gegenaufklärung, das Plädoyer für jene Entsprechung des Göttlichen, die schon Heinrich von Kleist für das Äquivalent der Gnade und der im Unendlichen reflektiert Gestalt gewordenen Grazie hielt: den Automatismus. Hier verstanden als Vorrang des Unbewussten (das ‚nützlicher‘ erscheint, weil sein Mechanismus nicht angetastet wird): „Kein Organismus kann es sich leisten, sich der Dinge bewusst zu sein, mit denen er auf unbewussten Ebenen umgehen könnte.“14 Das heißt: Das wohlverstandene Funktionieren des menschlichen Geistes führt zur Ausschaltung der Sphäre des Bedeutsamen. Denn Bedeutung ist jene sinnstiftende Tätigkeit des Geistes, die auf einer zusätzlichen Unterscheidbarkeit von Realität und Sprache, Signifikat und Signifikant beruht und die damit von der

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­Selbsterkenntnis des menschlichen Bewusstseins als einer synthetischen Kraft der Zeichensetzung, der Künstlichkeit der Artikulation, abhängt. Dass dies eine zentrale Stilfrage ist, bestätigt selbst Bateson. Er versteht den Stil als metaphorisch und schiebt ihn in einen mit den Träumen verbundenen ‚Primärprozess‘ ab. Primär ist hier alles, was nicht rational reflektiert werden kann. Und natürlich erscheinen die Träume synonym mit der künstlerischen Imagination. Das erlaubt diesem Appell, im Namen einer „primären Natur der Sprache“15 zu sprechen, einen ‚normalen Schöpfungsprozess‘ von der Allegorie als „einer geschmacklosen Art der Kunst“16 vehement abzusetzen. Zwar stimmt, dass die unbewussten Komponenten unsichtbar in vielfältigen Formen des Handelns präsent sind; warum jedoch daraus geschlossen werden soll, der Organismus müsse bloß wissen, was, und nicht wie er etwas wahrnehme, scheint wieder nur aus den ideologischen Vorannahmen verständlich. Der ‚Primärprozess‘ sei umgreifend: metaphorisch und geistig zugleich. Tun wird von Gewohnheit gesteuert, die eigentliche Vernunft sitze im Herzen, in der bildlichen Kommunikation gebe es keine Zeitform17. Bateson vertraut auf den Prozess des Absinkens der Reflexion auf archaische Ebenen: Die Vernunft der Regulierung gilt ihm als Bildung von Gewohnheiten. In seiner Theorie ist Stil nichts anderes als jene Gewohnheit, die eine Ökonomie des bewussten Denkens bewirke, d. h. Denken von Bewusstsein entlaste. Stil ist die Abschaffung des Beobachtungs- und Wahrnehmungszwangs. Mit dem ökologischen Impuls verschwindet also die ästhetische Dimension des menschlichen Handelns. Zurückgedrängt wird der reflektierende Anteil am scheinbar Zwecklosen, Nicht-Instrumentellen. Damit werden die Semantik und die ganze Sphäre der Bedeutungen im Namen eines fragwürdigen Selbsterhaltungsstils aus dem Reich der Vernunft ausgeschieden. Dass Stil hier kein äußerliches Phänomen ist, belegt folgende Stelle bei Bateson, in der deutlich genug das unwirsche Desinteresse einer Weltanschauungsinitiative für ­einen Sachgehalt, eine These genommen wird: „Die Löwen auf dem Trafalgar Square hätten auch Adler oder Bulldoggen sein können und doch dieselben (oder ähnliche) Botschaften über das Empire und über die kulturellen Voraussetzungen im England des neunzehnten Jahrhunderts in sich getragen. Und doch, wie verschieden hätte ihre Botschaft sein können, wären sie aus Holz gefertigt.“18 Exakt so verhält es sich nicht. Der Stil des ökologischen Denkens entpuppt sich als Plädoyer für die Abschaffung jeglicher Bedeutungen im Namen eines übergeordneten Systems, das der Mensch mit seinem Denken und ästhetischen Überschussbedürfnissen nur stören könnte.

3 Denkmoden zeigen gesellschaftliche Einstellungsmuster an. Sie sind Faktoren des Zivilisationsvorgangs, zu dem sie Haltungen vorschlagen. Es gibt neben der ökologischen eine anarchistische Aufforderung, das Denken anders zu handhaben. Denkstil ist, so scheint es, was als andere Denkungsart empfohlen oder befohlen wird. Ein Stil, der herbeigeredet werden möchte. Dafür lieferte in den letzten Jahren – unter zyklischen

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Schwankungen mit sinkender Popularität; als Mode demnach – Paul Feyerabend19. ‚Alles geht‘, ‚anything goes‘ war die Parole und meinte, alle Traditionen seien gleichberechtigt und stünden im Sinne einer abstrakten, dezisionistischen Wahl, eines persönlichen Entscheidungsaktes als gleichberechtigte Quellen der Wahrheit zur Verfügung. Es gibt kein Zentrum mehr: Alle Interpretationen stehen der Wahrheit gleich nahe, sofern sie abgerufen und gepflegt werden. Wahrheit wird identisch mit der Summe der Kulturen. Logisch folgt daraus, dass alles zur Stilform wird: Denken, Imagination, Wirklichkeit. Denken wird zu einer Abfolge von Stilformen, der Wechsel von Kategoriensystemen zu einem Problem des Stilübergangs. Jede neue Wirklichkeitsauffassung sei ein neuer Stil20. Tricks, Irrtümer, Auffassungen, Fähigkeiten – alles Stil21. Feyerabend wie Bateson sprechen den Jargon der Eigentlichkeit und steuern ihren Appell an Vielfältigkeit mit einem extremen Reduktionismus aus. Sie sprechen von ‚der‘ Wirklichkeit, ‚der‘ Wahrheit, ‚der‘ Aufgabe der Kunst. Unter ‚normalen‘ Umständen befänden sich Mensch und Welt in Harmonie22. Der Kunststil wird zum Kunstwollen – deshalb der Rekurs Feyerabends auf Alois Riegl –, der Denkstil zum Denkwollen. Reduktionismus und Relativismus sorgen dafür, dass der Stil, das allzeit Wählbare zur eigentlichen Stillosigkeit verkommt: „Wahrheit ist, was der Denkstil sagt, dass Wahrheit sei.“23 Die bessere Wahrnehmung ist die, die wirklichkeitsbezogener ist. Also erfolgreicher – eine merkwürdige Auffassung für eine Theorie, die den Kampf gegen das abstrakte Rationalitätskriterium des abendländischen Denkens, den instrumentellen Erfolg, führen will. Es scheint, als würde man auf dem Umweg über das Plädoyer für Entgrenzung und Wahlmöglichkeiten wieder beim wohlvertrauten Behaviorismus landen, den man in die ökologische und anarchistische Kritik am instrumentellen Rationalismus hinüberschleppt. Stilprinzipien, Stilreinheit sind die ungebrochenen Leitfiguren, gefragt wird nach ‚innerer Vollkommenheit‘,24 die zwar anders interpretiert, als Formel aber nicht überwunden wird, Kunst habe die Aufgabe, Wirklichkeit zu erforschen25, und deshalb brauche sie einen absoluten Steuerungspunkt. Das steht in hilflosem Widerspruch zur eigentlichen Intention: die Komplexität der Phänomene aufzubewahren, ohne sie einem Begriffsraster zu opfern, wobei die Forderung nach dieser Rettung einer ausdrücklichen Begriffskritik entspringt. Der Sündenfall ist natürlich die intellektualistische Selbstbehauptung, die in den Übergang von Homer zu Aristoteles, in das ‚Hineinschleichen‘ anderer Erklärungsformen als der einzig wahren mythischen im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. verlegt wird. Natur ist absolut, der Angelpunkt ist entdeckt: der „direkte Kontakt mit der Wirklichkeit.“26 Gefragt sind die einfachen, ‚aber reichen‘ Ideen. Radikaler erscheint demgegenüber ein anderer Versuch, Denken als Denkstil zu konzipieren, um ontologische Unterstellungen und eine scheinbar denkfreie Evidenz zu vermeiden: die surrealistische Kritik an der Illusion der Wahrheit, die Louis Aragon in den Jahren 1922 bis 1924 formuliert hat.27 Überwunden werden soll nicht ein Paradigma des abendländischen Rationalismus, sondern nur die Auffassung einer dualen Sonderung von Logik und Metaphysik. Es geht um eine ‚Metaphysik der konkreten Erkenntnis‘. Philosophie scheitert notwendig. Wahrheit und Irrtum werden gleich und damit indifferent gesetzt. Ja: Der Irrtum wird zu einer Reflexionsart, die nicht im Dienst der instrumentellen Bearbeitung der Welt steht

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und demnach einen stärkeren Bezug zur Freiheit hat als die Wahrheit. Evidenz ist eine cartesianische Krücke, die eine verheerende Wirkung auf die Tätigkeit des Geistes ausübe: die Illusion, dass nicht Illusion die Grundlage der Logik sei. Produktiv sei die Einbildungskraft. „Jedem Irrtum der Sinne entsprechen wunderliche Blüten der Vernunft. Wunderbare Gärten absurder Überzeugungen, Ahnungen, Obsessionen und Wahnvorstellungen.“28 Das Gesicht des Irrtums könne keine von der Wahrheit verschiedene Züge haben. Eine moderne Mythologie wäre ein Stil des Denkens, der nicht auf die Beschwörung der ‚wahren Mythen‘ setzt. Feyerabend wie Bateson postulieren eine Totalität, ein organisches geistiges Prinzip, leiten daraus ein Plädoyer für eine geistige wie lebenspraktische Haltung ab, die sie unter dem Appell an Umkehr, Besinnung, Sensibilisierung und an das absolute Prinzip relativer Toleranzen immer wieder bekräftigen und die doch theoretisch unter Ausschluss bestimmter alternativer Auffassungen allein behauptet werden. Sie schließen die jeweiligen ‚Monster‘ ihrer eigenen Auffassung aus. Das wird spürbar durch die Beobachtung, dass sie eine Kritik behaupten, die auf einen neuen Dogmatismus hinausläuft. Denkstil scheint in der Dialektik von Skepsis und Appell das Problem des neuen gegen einen alten Dogmatismus immer wieder neu zu formulieren.

4 Ausgegrenzt wird, was stört. Die ‚falsche Materie‘ kann auch im theoretischen Bereich als Abfall bezeichnet werden. Der Abfall wird sektorisiert, bearbeitet. Man entledigt sich seiner. Die Kohärenz der eigenen Theorie scheint auch in der Rationalismuskritik ein Zwang, oberstes Gebot. Das ist aber noch ein repressiver Stil. Michael Thompson plädiert in seiner Theorie des Abfalls29 für ein Denkmodell, das Monster integriert, ohne sie ihrer eigenständigen Kraft zu berauben. Dazu bedarf es eines Denkens des Bruchs, einer Integration von Katastrophen. Ausgangspunkt ist die Theorie des Abfalls: Abfall ist die unsichtbare oder unsichtbar gemachte Grundlage kultureller Kategorien, die sichtbare Bedeutungsqualität beanspruchen. „Was hat die Theorie des Abfalls mit der Katastrophentheorie zu tun? Die wahrscheinlich einfachste Art, diese Fragen zu beantworten, ist, zu sagen, dass Abfall in ernsthaftem Erwachsenendenken ein ausgeschlossenes Monster ist und dass, da die in jenem Monster enthaltenen Prozesse und Widersprüche für das soziale Leben von entscheidender Bedeutung sind, sein Ausschluss bedauerlich ist. Die Theorie des Abfalls liefert die Beschreibung des Monsters; die Katastrophentheorie liefert die Technik, mit der wir es bewahren können. Die beiden zusammen, Abfalltheorie und Katastrophentheorie, erlauben uns, einen weniger repressiven Stil anzunehmen, der Möglichkeiten an die Stelle von Problemen treten lässt.“30 Was Feyerabend behauptet, ist die Möglichkeit, einen Denkstil subjektiv zu erzeugen, eine beliebige Pluralität aus den Wirklichkeitsformen herauszulösen. Stil wird hier zur Haltung, zur eigentlichen Mode. Feyerabend greift zentral René Descartes an. Auch andere vernunftkritische Autoren meinen, wenn sie von einem Paradigma des verblen-

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deten Wissens und von der Einseitigkeit der reinen Vernunft sprechen, immer wieder Descartes. Und das zu Recht. Was Descartes durchaus subjektiv, als partikularen Stil forderte, hat sich geschichtlich zu einem real definierbaren Denkstil ausgewachsen. Denkstil unterscheidet sich von Denkmoden dadurch, dass er zu einem sozialen, allgemeinen Modell von Denken wird. Descartes ist, das macht Thompsons Ausführungen brisant, ein eigentlicher Problemdenker. Außerdem setzt er sich bewusst repressiv und willentlich (mit einer anderen Manier) von der Tradition ab. Nur das subjektive Bewusstsein des Zweifelns sei Grundlage für Wissen. Das Gespräch unter Philosophen, das offene Reden unter Einbezug aller denkbaren und sogar schlecht denkbaren Vermutungen, Einwände, Lösungen, Möglichkeiten, wie es für die scholastische Rhetorik typisch war, wird bewusst und rigide zurückgewiesen. Ein neuer Typus, ein neues Paradigma, ein neuer Stil: nicht mehr Kommunikation, sondern isolierter Selbstbezug, eigenes Nachdenken, Zwiegespräch mit sich selbst, um das Selbst des Denkens entdecken zu können. Im Namen eines seiner selbst noch nicht bewussten Selbst wird alles Überlieferte, alles scheinbar Vertraute, alles Erklärte, die gesamte beanspruchte Begriffsstruktur als diffus, ungenau, irreführend, als böser Traum und falscher Schein, als Suggestionskraft der falschen Bilder zurückgewiesen. Aus heutiger Sicht ist es nicht schwierig, das Neue daran zu sehen. Ebensowenig wie die Einsicht in die Verarmung an Kommunikation, die dieser bewusste Stilschritt in das Prinzip des atomisierten Individuums erzwingt. Descartes, das lässt sich nachprüfen, hat jenen Stilschritt persönlich vervollständigt, indem er bewusst aus den scholastischen Disputen sich entfernt hat. Sein Stil beginnt mit dem Versprechen des radikalen Zweifels und mit der Ankündigung, nachdem er, Descartes, an sich selber die Bedingungen des Denkens gelernt habe, erwarte er von außen im Grunde keine möglicherweise wahren Einwände mehr. Das alles hat nur noch propädeutischen Sinn. In den 1641 erschienenen Meditationes de prima philosophia lässt sich die Formation eines neuen, durchaus bewusst behaupteten Denkstils beobachten. Ging es früher unter dem Anspruch der ersten Philosophie um die Grundlagen des sich bildenden Denkens, wobei der ‚natürliche‘ Verstand das Recht hatte, alles unzensiert zu äußern, so ist die Methode von Descartes nun eine, die erst nach der Konstruktion der Grundüberzeugung nachgeliefert wird. Dabei wird die feststehende Einsicht verschwiegen und so getan, als ob die Durchführung des Zweifelns, die autobiografischen Schilderungen des sich bildenden Denkens, genau das seien, was der Leser vor Augen hat. Aber die Bewegung des Denkens wird als Text konstruiert, der eigentlich nur noch methodischen Charakter hat. Diskussion und Einspruch, Debatte und Argument, Wirklichkeitsbezug und das Abenteuer der Ideen, die Entwicklung von etwas vorher noch nicht Gewusstem – sie alle machen nun einer rigorosen Selbstbehauptung eines methodischen Anspruchs statt. Denken wird strategisch. Dieser neue Stil kann wohl letztlich nur kulturgeschichtlich begriffen werden. Descartes geht es um die Zerstörung der überkommenen Autoritäten, um eine profane Basis von Bewusstsein. Deshalb rückt er das Mathematische – das er gegenüber Kepler aus der harmonikalen Kosmologie als Problem richtiger Beschreibung herauslöst – ins Zentrum des Philosophischen. Gott wird zu einer Konstruktionsvokabel, die Gewissheit und Sicherheit des Denkens über

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den Bestand des Unendlichen zu sichern hat. Das Bewusstsein selber setzt sich darin unendlich. Gott selber aber hat sich bereits als er selbst erkannt. Mit diesem Erkenntnisanspruch sichert sich Descartes vor der Drohung einer radikalen Skepsis, dass die ‚falschen Bilder‘ alles wahre ‚falsche Bilder‘ sein könnten und der Mensch überhaupt keine Gewissheit hat, ein Fundament seines Denkens vor sich selber ‚clare et distincte‘, klar und unterscheidbar gewiss, zu rechtfertigen. Man darf die politischen und sozialen Bedingungen eines solchen programmatischen Bruchs, der sich durchaus als Kampfrhetorik versteht, nicht unterschätzen. Und dennoch werden die vehemente Absage an die philosophische Kommunikation und die Strategie, wie Descartes sozusagen maschinell sein unaufgedecktes Vorwissen in die Behauptung des Zweifelns überführt, als eigentliche Stilentscheidung nachvollziehbar. Descartes‘ ‚Vorwort an den Leser‘ erscheint unter dem Stilaspekt als eines der interessantesten philosophischen Belegstücke für das, was Denkstil ist: die Konstruktion eines Paradigmas. Im Falle von Descartes ist das Paradigma die Mathematisierung. Bevor er zeigt, wie Begriffe sich bilden, wie Denken zweifelt und wie der Zweifel ein intersubjektiv gangbarer Weg des Bewusstseins in die Strukturen seiner Geltungsansprüche ist, unterscheidet Descartes bereits die ‚Ordnung der Wahrheit der Sache‘ von der ‚Ordnung meines Erfassens‘. Der Leser wird auch später das sich verstärkende Gefühl nie los, dass Descartes mit Erschleichungen und Unterstellungen arbeitet, die darin gipfeln, dass er für die Einsicht in die Evidenz des nicht vom Menschen erzeugbaren Unendlichen wiederum nicht einen Beweis, sondern allein den Appell an die natürliche Einsicht liefert. Die mögliche Grenze der Erkenntnis wird eine bloß methodische Grenze, die als Definition gesetzt wird. Descartes’ Trennung der methodischen Ordnung von den Inhalten der Argumentation ist ein Wandel im argumentativen wie im rhetorischen Stil. Der Beweis wird zu einem plausiblen Ausschlussverfahren: Kritik wird in das bloß für die Vorschule des Denkens bedeutsame Unverständnis definitorisch abgeschoben, Descartes’ Denkstil besteht in einem geschlossenen Modell: Was innerhalb des Systems nicht mehr als zentraler Punkt erkennbar ist, das kann nicht als Einwand gegen das System anerkannt werden, sondern wird als belangloser Irrtum behandelt. An die Stelle der philosophischen Qualität tritt die Eleganz des philosophischen Modells. Das Bewusstsein überwindet den Punkt seiner Anstöße. Es entscheidet die Axiomatik, die eine sich selber reproduzierende Definitionsmaschine in Gang setzt. Hier wird deutlich, weshalb Descartes’ Denkstil ‚modern‘ ist: Es geht ihm um das Paradigma der Forschungslogik. ‚Wahre‘ Sätze sind logisch formalisierbar. An die Stelle von Erkenntniskritik und Selbstkritik tritt die methodische Erklärung, die Selbstbehauptung, letztlich die wiederholte Deklamation des leeren Selbstbezugs. Was Denken weiß, ist unwichtig gegenüber dem Anspruch, dass es sich selber als Denken denkt und sich als Selbst weiß: leere Form, methodische Reflexion als Identität. Philosophie wird von Lebenswelt getrennt, wird zu einem überprüfbaren Aufbau nicht so sehr von Gewusstem, sondern von Formulierungsbedingungen der Wahrheitsansprüche. Fortschritt wird zur Behauptung des einmal gesetzten Denkstils. Zu den geschichtlich wirksamen Inhalten dieses Denkstils gehört die Trennung der Substanzen. Denken und Körperlichkeit sind wesensverschieden. Eigenbewusstsein und Fremdbewusstsein driften auseinander. Ein ­Verhältnis zwischen

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Körper und Seele (engl. mind) zu schaffen, wird zu einem ‚modernen philosophischen Problem‘. Es gibt keinen direkten Zugang mehr zur äußeren Realität. Dieser Denkstil legt – unter anderen Interessebedingungen – auch Zeugnis ab davon, dass die Selbstbehauptung dieser formalen Methode sich einzig in einem zerrissenen Bewusstsein abspielt. Das motiviert heute zu Recht, Descartes als Urheber jenes Denkstils anzusehen, der in einen heillosen, da verabsolutierten, Rationalismus geführt habe. Geschichtlich messbar wird die Behauptung des Stilbruchs darin, dass Descartes den gesamten rhetorischen Reichtum des Mittelalters bis zur wilden Poesie der vielen Welten bei Giordano Bruno eliminiert. Wo die Scholastik die Kritik im Inneren des philosophischen Denkens aufgenommen hat, um die Lust am Bewusstsein zu fördern, indem das Denken sich den ‚Monstren‘ aussetzt, dort reiht sich Descartes in neuer Art in die Gegenreformation ein. Rationalismuskritik – wie sie seit einigen Jahren als Etablierung eines alternativen Denkstils propagiert wird – scheint, gerade als Kritikmöglichkeit an der Gegenreformation, aber eher durch Autoren wie Umberto Eco und Douglas Hofstadter zu greifen als durch Weltanschauungsideologen wie Feyerabend oder Fritjof Capra. Hofstadters Lust an den Paradoxien in Goedel, Escher, Bach – ein endlos geflochtenes Band und vor allem Umberto Ecos Mittelalterthriller Der Name der Rose erscheinen als Zeugen für tiefliegende Einstellungswandlungen. Ecos ausufernde, ja monströs agierende Argumentationsketten greifen direkt auf die scholastische Dialektik zurück und zeigen eine wildanormale Vernunft, wie sie später zivilisatorisch gezähmt worden ist.

5 Alle diese Autoren belegen, dass es eine Affinität gibt zwischen Denkstil, Sprachstil und visuellem Stil. Das ist, wie Descartes erweist, ein Verhältnis, das im Inneren des Denkens – als Verhältnis von Bild und Begriff – ebenso spielt wie im Verhältnis von Denken und visueller Fähigkeit. Dabei geht es um das Verhältnis von Ordnung und Unordnung oder um das Verhältnis von Ordnung und Chaos. Stil formiert chaotische Mannigfaltigkeit. Die visuellen wie die philosophischen Bezüge hat äußerst bewusst ‚die‘ klassisch moderne Kunstbewegung schon in ihrem Titel zum Programm erhoben: De Stijl (1917– 1931). Interessant ist dabei nicht nur, dass De Stijl wie die Konstruktivisten und außerdem Kandinsky entscheidend von der theosophischen Bewegung beeinflusst sind – und zwar nicht allein philosophisch, sondern in ihrem bildnerischen Denken. Interessant ist auch, dass Mondrian offensichtlich organisch neben der Theosophie auf die üblicherweise als Gipfelpunkt des Rationalismus angesehene Philosophie Baruch de Spinozas zurückgreift. Das Verhältnis von erscheinender Wirklichkeit und begrifflicher Ordnung spielt für die Begründung seiner Kunst eine herausragende Rolle. Spinoza hat denkgeschichtlich den Dualismus von Descartes überwunden. Er kennt nur noch eine Substanz; Körper wie Denken, Seele und Affekte sind Modifikationen dieser Substanz. Ziel ist die

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vollkommene Beherrschung der Erkenntnis in die Wahrheit und das Wesen. Das herrschaftslose Denken baut auf der Beherrschung der Affekte auf. Aber dieser Läuterungsprozess ist eine Bewusstseinsleistung, die gerade nicht auf dem Kampf gegen das undurchschaut und trügerisch zur Falschheit sich aufschwingende Reale beruht. Der Begriff ist nicht die Vernichtung des Empirischen. Spinoza, wie dann später Mondrian, geht es nicht um das aus Angst diktierte Ordnungsgefüge, in dem über den Zweifel die falschen Bilder und die undurchsichtigen Affekte eliminiert werden sollen. Zumindest nicht aus dem Grund, dass sie die Unordnung des Realen, den blinden und verführerischen Synkretismus bezeugen. Vielmehr müssen sie überwunden, gleichwohl aufbewahrt werden durch den und im Akt der Erkenntnis, dass Bewusstsein und physische Welt derselben Substanz zugehören. Zwar bewirkt die Natur des Denkens das Bedürfnis nach vollkommener Ordnung; ist diese Ordnung aber erreicht, so resultiert nicht wie bei Descartes ein Übergang in die einzige und eigentliche Welt, die von der dumpfen Welt der Materie gesondert wird, sondern die Einsicht in die Gleichwertigkeit des Realen in allen seinen Erscheinungsformen, die als begriffene in ihrer ganzen Vielfalt die Klarheit der Ordnung bezeugen. Spinoza hat im Durchgang durch die Erscheinungswelt die Struktur der Ordnung durchaus verbunden mit dem Bewusstsein von der ‚wilden Anomalie‘ der Dinge.31 Freiheit und Ordnung haben die Wesenszüge des Heterodoxen. Diese Interpretation Spinozas macht verständlich, dass für Mondrian Theosophie und Rationalismus vereinbar sind, und erklärt, weshalb die Position der Avantgarde den ungegenständlichen Neo-Plastizismus Mondrians ebenso einschließt wie die wilden Improvisationen Kandinskys. Beides sind Modifikationen derselben Substanz und konvergieren, weil Freiheit, Ordnung und Anomalie Bewusstseinsstufen sind, die nicht im cartesianischen Dualismus von klarer Verstandesordnung und wilder Unbegreifbarkeit der Materie aufgegliedert werden können. Die Erscheinungen wechseln, Realität bleibt konstant. Diese Auffassung Spinozas wie Mondrians ist nicht in einer Deduktion gegründet, sondern in einem geometrischen Ideal, in dem das Seiende strahlenhaft in seinem Wesenskern gebündelt wird. Das gilt für die ideelle wie für die visuelle Ordnung. Und beide haben mit Stil zu tun. Überspitzt kann man Stil mit Substanz, Moden mit den Attributen der Substanz gleichsetzen. Aber das ist nicht ganz richtig. Man muss auch bedenken, dass Stile wie Moden Attribute des Unsichtbaren sind. Mondrian braucht beide Begriffe von Stil: die übergeordnete Einheit wie die Abweichung, in der ein bewusster moderner Künstler ständig um den Stil kämpfen muss. Der eigentliche Stil ist die wahre Erkenntnis. Mondrian legt den Akzent auf das Verhältnis von Bewusstsein und Wahrnehmung. Stil ist das Allgemeine trotz des Besonderen. „Das künstlerische Temperament, das ästhetische Sehen erkennt den Stil; die gewöhnliche Sehweise dagegen erblickt Stil weder in der Kunst noch in der Natur. Diese alltägliche Sehweise ist die Sehweise des Individuums, das sich nicht über das Individuelle zu erheben vermag. Solange die Materie individuell gesehen wird, kann Stil nicht erkannt werden. Deshalb steht die alltägliche Sehweise jeder Kunst im Wege. Sie will keinen Stil in der Kunst, sie verlangt nach der detaillierten Abbildung. Der Künstler dagegen will und sucht Stil: Das ist sein Kampf.“32 Abbildung der Natur ist stillos. Natur ist Stillosigkeit: Erscheinung, Trug, Leidenschaft.

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Kunst, die Abbildung braucht, versursacht Leiden: undurchschaute Affekte. Darum der Gruppenname De Stijl: Der bewusste Durchgang durch die Realität zielt auf die Natur des Geistigen, nicht auf das Geistige in der Natur. Deshalb ist Stil identisch mit jener Art Wirklichkeit, die einzig die geistige Ordnung visualisiert. Dass damit ein lebensweltliches Gestaltungsideal wie eine Erkenntnistheorie der Freiheit einhergehen, folgt aus dem Begriff des Stils als der Form von Nicht-Natürlichkeit. Damit wird aber das Mittel der Stilisierung zu einer Möglichkeit, die alltäglichen Sichtweisen zu zersetzen und damit den Blick auf das geistige Prinzip von Stil als der wahren Erkenntnis zu lenken. Deshalb sind in der Sicht Mondrians die nicht-gegenständlichen Moden eine Art Design, das die Grenzen zwischen Kunst und Leben überwindet. Tatsächlich ist die Theorie des Neo-Plastizismus oder der Neuen Gestaltung der De-Stijl-Bewegung fundiert in der ästhetischen Utopie einer Unerkennbarkeit von Kunst, die synonym geworden ist mit dem reinen geistigen Leben. Das beginnt – analog zu Kandinskys Prinzip des ‚Geistigen in der Kunst‘ – mit der Abschaffung des sozialen Zwangs zum Naturalismus der Vorstellungskraft. Das reine Geistige ist jener Stil, der eine reine Imagination ermöglicht. Der Stil würde dann auch den Kampf gegen die Moden aufnehmen, die ihm nur als vorläufige Zersetzungen gelten, die aber selber noch dem Trug der Erscheinungsbilder verfallen. Der Stil behauptet sich dann als das Eigentliche. Die Moden werden zu Formen der Distanzierung, deren Stilisierungskraft an ihnen abgelesen werden kann. Phänomenale Wirklichkeit sei Schein. Was ist, ist Illusion. Stil ist, was im geistigen Sein die Illusionskraft des bloß Erscheinenden einsichtig macht. Illusion ist ein Resultat von Inszenierung und Stilisierung. Wirkliches wird Spiegel von etwas tiefer Sitzendem.33 ­ Erkennen haftet zunächst am Äußeren. Das Erkennen setzt beim Sehen an. Wahre Erkenntnis beinhaltet deshalb geistig-visuelle Stilordnungen: Mittel, Erscheinungen und Realität zu ordnen. Durch die individuelle Gestalt des unmittelbar sichtbaren Gegenstands wird ebenso sehr Täuschung möglich wie durch die subjektiv geprägte Sichtweise des Einzelnen. Aber die individuelle Gestalt ist möglicherweise auch jene Einheit, in der keimhaft die Bedeutung des Stils angelegt ist. Deshalb ist Stil ein anderes Wort für die kommunikative Ordnung von Interpretationssystemen, in der eine bestimmte Kultur sich durch die Aneignung von Welt stetig differenziert. Wenn aber die gesellschaftliche Tendenz auf reine Stillosigkeit hinausläuft, den Stilzusammenhang auflöst und in restloser Individuierung versinkt (was wohl die Rede von der Auflösung des Stilzusammenhangs nahelegt), so büßen nicht nur die Zeichen ihre Repräsentationsfunktion ein. Vielmehr wird den Gegenständen im Ganzen der Erkenntniszusammenhang entzogen. Reines Sehen dagegen ist Identität von begrifflicher Ordnung und der geretteten Wirklichkeit des anormal Wilden. Reines Sehen, so Spinoza wie Mondrian, wäre reines Glück. Kein Stück Natur, kein Stück Passivität trübt die interesselose Handlung des geistigen Schauens. Dieses reine Sehen ist in unserer Kultur – um das Pathos des Glücks hier etwas zur Seite zu schieben – bildnerisches Sehen. Deshalb geht man nicht fehl, Spinoza als avantgardistischen Denker und Stiltheoretiker wahrzunehmen (mit welcher Brisanz, wird erst deutlich, wenn man die Randständigkeit Spinozas in den Philosophiegeschichten und die Vormachtstellung Descartes’ kennt). Spinoza formuliert drei Stufen

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der Erkenntnis: sinnlich, intellektuell, intuitiv-anschauend. Dabei sind diese verschiedenen Stufen einander nicht feindlich. Die intuitiv-anschauende ist zwar die höchste, aber sie gelingt nur, wenn sie die gesamte Erarbeitung begrifflich-rationaler Verstandestätigkeit in sich aufgenommen hat. Nun ergibt sich für den Stilbegriff: Da Falschheit Unangemessenheit von Idee und Gegenstand ist, ist der Stil der Erscheinungswelt notwendig die Unangemessenheit, d. h. der negative Stil oder der Nicht-Stil. Aber allein diese Falschheit des Stils macht die Bedeutung der Stilisierung und unser Verständigungs­ bedürfnis anhand gestalteter Dinge einsehbar.

6 Spinoza wird – so betrachtet – zum Vorläufer nicht allein von Mondrian, De Stijl, den Konstruktivisten, sondern auch einer modernen Auffassung von rational geläutertem Design. Mit der Ausschaltung der Affekte wird er zum Kronzeugen einer Moderne, die den Eskapismus des Bösen, von William Beckfords Vathek (1787) über Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud bis hin zu den Symbolisten um Moreau, Redon und Nietzsche, immer zurückgedrängt, den Schrecken des Erhabenen bei Burke und die reine Lust am Bösen – u. a. auch bei Flaubert, Poe und Baudelaire – immer nur als pädagogische Einschulung in die absolute Reinheit des guten Scheins der Wahrheit hat gelten lassen, d. h. ihrer speziellen Pointe als der Verteidigung eines ästhetisch-absoluten Prinzips des Bösen beraubt hat. Betrachtet man Geschmack als einen Sonderfall formulierter Affekte, dann besteht von Spinoza bis zum Bauhaus, vor allem Gropius, eine ungebrochene Entwicklungslinie einer unnachgiebigen Verteidigung des Bewusstseins, das den Geschmack abschaffen und Gestaltungsansprüche einzig als Wahrheitsansprüche gelten lässt. Stil wird so zur Demonstration von Wahrheit und der persönlichen Fähigkeit, Zeichensysteme als wahrhaftig zu präsentieren und in einer Formensprache vorführen zu können, die einen idealen Partner zur Zustimmung durch Bewusstsein – und gerade nicht über Geschmack, Luxus und Prestige – zwingt. Gegen die Subkultur, die immer mit dem schlechten Geschmack kokettiert und sich huldvoll einer Figur wie dem Pan verschreibt, verliebt in den überfallartigen Schrecken des noch nicht Stilisierten und bewusst Stillosen, fordert Gropius 1935 das ‚Diktat konstruktiver Logik‘: „Wir haben genug von der willkürlichen Nachahmung historischer Stile.“ Die Unerbittlichkeit der Wahrheit verwirklicht sich in vereinfachten Formen, minimalisiert, reduziert, geglättet, geordnet. Geschmacksverirrung wird, nach der Ära, in der Geschmacksfragen dem persönlichen Belieben preisgegeben wurden – de gustibus non est disputandum –, zu einem Inbegriff von Stillosigkeit, Unbeherrschtheit: Zeuge einer Stilverweigerung. Stilistisch wurde das gesamte historistische Vokabular als eine solche Einheit der Geschmacksverirrung angesehen. Es ist heute, wo Postmodernismus sich als Historismus zweiten Grades legitimiert, vielleicht nicht unwichtig, daran zu erinnern, dass die Denunzierung des schlechten Geschmacks als Historismus bereits das Ziel verfolgte, eine ästhetische Einheitslinie zu formulieren.

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Die bürgerliche Rationalität hat denn auch gegen Pan das apollinische Ideal immer aufrechterhalten. Stilwollen als Kategorie ist gewissermaßen das Licht im Kopf des Apoll. Die stilisierten Dinge, ja der Stil überhaupt haben sich nur darin zu bewähren, dass sie die Fertigkeit des Verstandes fördern, das Gute, Wahre und Schöne zu erkennen und zu beurteilen. Bereits in Hegels Ästhetik verschwindet der Geschmack vollständig. An seine Stelle tritt das kategoriale Beurteilungsvermögen. Und das sei interesselos, also von Affekten und demnach Stilunreinheiten nicht durchsetzt. Die Absage an die Moderne, die wir heute erleben, ist eine Absage an den idealistischen Stil. Die weltgestaltende Einheitsform wird zerschlagen. Der Idealismus dagegen verweigert den epochalen Stilbegriff. Nicht jede Epoche müsse ihren eigenen Stil entwickeln oder ihre eigentliche Identität sichtbar machen. Es wird hier mit längeren Zeiträumen gerechnet. Erstaunlicherweise gibt es dafür einen viel früheren Beleg, der kategorial jedoch durchaus in diese Richtung einer von Materie nicht affizierten und verunstalteten abstrakten Begrifflichkeit zielt. An einer Stelle entwickelt der Kirchendenker und Philosoph Nicolaus von Cues (1401–1464) einen kritisch abwägenden Begriff des Kunstwollens:34 „Wenn man also sieht, dass der Wille das Nicht-Andere ist, dann wirst du auch sehen, dass er Verstand, Weisheit und Ordnung ist, denen gegenüber er kein anderes ist. Und so siehst du, dass durch den Willen alles bestimmt, begründet, geordnet, gefestigt, gestärkt und bewahrt wird und dass dieser Wille im Gesamt widerstrahlt; so wie der Wille des Trajan den Willen, in dem Weisheit und Macht ist, in seiner Säule widerstrahlen lässt. Denn da Trajan seinen Ruhm den späteren Geschlechtern zeigen wollte und die Gegenwart seines Glanzes sinnlichen Wesen vor Augen zu führen nur im sinnlichen Bild möglich war, tat er es durch die Säule, die nach ihm benannt ist; diese ist durch seinen Willen das, was sie ist. Und die Säule ist seinem Willen gegenüber kein anderes, auch wenn die Säule keineswegs Willen hat. Das, was die Säule ist, hat sie vielmehr von dem Willen, der sie bestimmt und begrenzt. Aber in diesem Willen erblickt man Weisheit und Ordnung.“ Die Pointe liegt natürlich darin, dass ‚Säule‘ auf Griechisch ‚Stylos‘ heißt und dass die Säulen die Gebilde waren, an denen eine Formordnung auf eine Typologie hingeführt werden konnte – Inbegriff von Stil. Das Stilwollen von Cusanus, hier individualistisch gefasst, enthält als modernes Element die Auffassung der Identität von Formensprache und Bedeutungsabsicht. Damit erweist die Macht der Gegenstände ausschließlich die Macht des Bewusstseins. Stil ist also Triumph über die entmachteten Affekte. Dann ist natürlich logisch, dass die Rache der Affekte in der Eroberung des Stillosen sich bildet. Und das ist das historische Terrain eines systematischen Stilkriegs. Die Alten und die Neuen; die Akademie und die Avantgarde; Klassik, Manierismus, Gegenreformation; Luxusgeschmack und gewöhnlicher Geschmack; hohe und niedrige Kultur; das Schöne und die Perversion; Elend der Volkskultur und Reform des Kunsthandwerks; Kitsch und gute Form; Historismus, Eklektizismus und geistige Wahrheit der reinen Formen – das sind Polaritäten, die das ideologische Kampfterrain der Stilrhetorik abgeben. Hermann Broch sprach davon, Kitsch sei der Versuch, an die Stelle der Wahrheit die Schönheit als oberste Norm des künstlerischen Schaffens zu setzen. Norbert Elias schlägt vor, Kitsch – analog den ursprünglich abwertenden Bezeichnungen ‚­Gotik‘,

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‚­Barock‘, ‚Rokoko‘ – als wertneutrale Kategorie der kulturellen Bedingungen des Gestaltens im Industriezeitalter zu verwenden.35 Kitsch sei notwendig in einer Gesellschaft, in der die Geschmackseliten sich verselbstständigen und in unüberbrückbaren Gegensatz zum Volksgeschmack geraten. Kitsch sei ein affektiv besetzter Objektzusammenhang, der einen „durchgehenden Charakterzug der kapitalistischen Formproduktion“ zum Ausdruck bringe. Der gesellschaftliche Träger des guten Geschmacks ändert sich im 19. Jahrhundert grundlegend, genauso die Stellung des Künstlers, die soziale Funktion der Kunst und das Verhältnis von Kunstwerk und Handwerk. Kitsch ist die Kategorie, mit der sich die notwendig Stilzersetzung provozierende Aufspaltung der Gesellschaft in die Geschmackselite und den unsicheren Massengeschmack rekonstruieren lässt. Inhalt und Darstellungsform t­ reten notwendig auseinander. Die soziale Spannung entsteht durch den Kampf um Aneignungsweisen von Gebrauchs- und Stilgütern. Die formsprengende Kraft der Avantgarden erweise sich als Rückeroberung sub­ stantieller Inhalte. Die Verteidigung des Formprinzips – vertraut aus der Verteidigung des Klassizismus – bezeuge die Distanzierungsleistung, die eine sich sichernde Elite gegen die sozialen Bedrohungen ihrer Verfügungen erbringe. Kitsch verweist auf Produktionsbedingungen und zeigt den gesellschaftlichen Wandel an. Insofern ist Brochs Behauptung, der Kitschmensch sei der ‚böse Mensch‘, historisch sehr scharfsichtig. Denn nicht allein von der Seite einer gedankenlosen Nostalgie, die Objekte erst industriell in brauchbare Stilobjekte verwandeln kann, wird das Böse gegen die formierte Kultur propagiert. Das Böse ist ja das dominierende Thema der sich in Isolation und sozialen Außenraum begebenden Symbolisten. Zwar geschieht das im Anspruch eines Hedonismus und einer Individualisierung, die nichts mehr hasst als das allgemeine Volksleben. Was dort unbewusst geschieht, wird hier aber bewusst gesetzt: Stilzerstörung, Kulturkampf, Krieg gegen die etablierten und entleerten Formeln, die mit dem ganzen Pathos des ­tugendsamen Historismus nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die vernünftige Darstellung der Historie als Traum der bürgerlichen Emanzipation längst auf der Schutthalde der städtischen Zivilisation verkommen ist. Genau dieser Hedonismus wird später in der Theorie des ‚Camp‘ mit ganz ähnlicher Stoßrichtung wieder aufbereitet. Nur dass in den 1950er- und 1960er-Jahren die Inszenierung des Übertriebenen, die grelle Rhetorik der Provokation, die Stilisierung des Zitats bis zur Entstellung erstmals auf der Basis der Reproduzierbarkeit künstlerischer Objekte vollzogen worden ist. Sonst aber hat ‚Camp‘ alle Anzeichen der dandyhaften Stilisierung von damals.36 Die Auffassung von der Gestaltungsnotwendigkeit des Bösen und der Faszination am Nicht-Stil und Gegen-Stil geht auf Edgar Allan Poes Der Alb der Perversheit (1845) zurück. Dort dramatisiert Poe eine primäre seelische Energie, die als typisch neu erscheint: eine Lust an der Selbstpreisgabe, die Lust und Schrecken unterschiedslos mischt. Diese primäre seelische Energie führt ins Verderben, weil sie unsere verbrecherischen Handlungen nicht mehr geheim halten kann, sondern sie als wesentlich öffentlich auszusprechenden Wesenszug darstellen muss. Die Sehnsucht nach Selbstauslöschung wird zur nachträglichen Befriedigung über eine völlig skrupellos begangene verbrecherische Tat. Aber der Handlungsvorgang selbst ist längst moralisch zersetzt.

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Das Subjekt beginnt seine Selbstbehauptung – auch wenn höllische Vernichtung droht – jenseits jeglichen Stils, als wertfreien Triumph des entgrenzten Selbstausdrucks. Joris Carl Huysmans hat in Gegen den Strich (À rebours, 1884) mit der Figur des Grafen des Esseintes eine an sich konventionelle, für diesen Zusammenhang aber geradezu paradigmatische Figur geschaffen. Angeekelt von allem, von Gesellschaft, Stadt, Verkehr, Frauen, Zivilisation, schafft diese Figur sich einen Raum ausschließlich eigener Gesetze. Das Besondere dabei ist die Ablehnung der Natur. Huysmans macht glaubhaft, das ästhetische Wesen des Menschen, das stilbildend sein könne, bestehe in der Behauptung der Perversion der Natur. Denn nur die absoluteste Künstlichkeit erzeuge Farben, Gerüche, Gebilde, die ästhetisch befriedigen. Die Natur ist unbefriedigend, das Stillose schlechthin. Der Mensch müsse sich gegen die Natur behaupten; das kann er vorzüglich mittels Perversion. Perversion ist bei Huysmans die eigentliche Leistung des Geistes, die Entdeckung seiner Natur und Wesensbestimmung durch ihn selbst. Perversion deformiert die Natur, überformt sie und ersetzt sie schließlich durch die Vollkommenheit künstlicher Schöpfungen. Der Geist triumphiert mittels konzentrierter Artefakte über das Unvollkommene. Graf des Esseintes glaubt, „dass die Phantasie leicht die vulgäre Wirklichkeit der Dinge ersetzen könne“.37 Die Befriedigung der Begierden schafft ihre eigene Realität durch eine Ausflucht, durch unmerkliche Verfälschung des ersehnten Gegenstandes. Graf des Esseintes „pflegte zu sagen, die Natur sei überholt; durch die abstoßende Einförmigkeit ihrer Landschaften und ihrer Himmel habe sie endgültig die aufmerksame Geduld der Raffinierten ermüdet“.38 Natur ist das Ungenaue, das verflacht Unpräzise. Deshalb fasziniert des Esseintes zum Beispiel das Wesen der Parfums. Der berauschende Duft entsteht aus einer einzig durch die Konzentration des Geistes bewirkten Synthese, deren Harmonie aus einer Summe in sich unerträglicher und unästhetischer Stoffe entsteht. Die geistige Behauptung des Ästhetischen ist die Übertreibung, die aus dem Akt reiner „künstlicher Genauigkeit“39 hervorgeht. Die Natur des Geistes zwingt sich der unmittelbaren Natur der Elemente auf – das ist das Programm der Behauptung des Perversen. Deshalb bezeichnet Huysmans den eigentlich artifiziellen Stilbegriff als Ablösung der Stoffe durch die Wirkung der Sprache. Denn das Sprachliche ist das eigentliche Terrain der geistig geformten künstlichen Zusammenhänge. Die suggestiven Werke lösen das unmittelbar Verfügbare ab.40 Nun wird deutlicher, weshalb die rationalistische Moderne das Böse als Kitsch behandelt: Die visionäre Suggestivkraft der reinen Künstlichkeit misstraut nämlich der physikalischen Welt, in der der rationale Geist der Konstruktivisten die elementaren Formen der reinen Ordnung gewinnen möchte. Das Prinzip der Moderne, das Huysmans und Baudelaire vertreten, ist eine Negation dieser positivistischen Hoffnung. Baudelaire sieht entsprechend den Wesenszug der ästhetischen Moderne im Flüchtigen. Das Flüchtige ist das Gegenbild zur geschichtlichen Dauer. Der Positivismus der Konstrukteure bis hin zum Bauhaus versteht sich ja als Ingenieurkunst im Bereich des Geschichtlichen überhaupt. In Der Maler des modernen Lebens hat Baudelaire 1863 ein kurzes Kapitel der ‚Modernität‘ gewidmet. Nicht zufällig erläutert er das Prinzip der Modernität an ihrem verwandten Wort ‚Mode‘: Herauslösung des Poetischen aus dem

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Geschichtlichen, des Flüchtigen aus dem Ewigen. Was Bedeutung hat, existiert im aktualisierten Moment einer flüchtigen Erscheinung. Die gesamte poetische Arbeit Baudelaires – konzentriert im Bild vom Fechter, der in jedem Moment an jeder Straßenecke gewappnet sein müsse, aus Angriffen das Poetische festzuhalten – besteht im Aufspüren des singulären, überraschenden poetischen Moments. „Die Modernität ist das Vor­ übergehende, das Entschwindende, das Zufällige.“41 Modernität wird geradezu gleichbedeutend mit der Tendenz einer wachsenden, sich absolut setzenden Künstlichkeit. Das Poetische ist jene geheimnisvolle Schönheit, die eine künstlerische Kraft der im Leben unwillkürlich gesetzten Schönheit abgewinnt durch besondere zusätzliche Darstellung. Deshalb negiert Baudelaire den klassizistischen Stilbegriff, der darin besteht, einer bereits wohlgeordneten Komposition noch etwas Zusätzliches hinzuzufügen, das ein Künstler ‚Stil‘ nennt, das aber in Wirklichkeit nichts anderes ist als der Verlust des poetischen Prinzips des singulären Moments. Die radikale Variante der Moderne negiert also im Prinzip der Flüchtigkeit die Bedeutsamkeit von Stil überhaupt. Und doch zählt sie hervorragend zur Moderne als der Epoche des ästhetischen Eigensinns und der Expressivität, der Vermittlung authentischer Erfahrungen, sodass eigentlich von einem einheitlichen Stilbegriff der Moderne und der modernen Avantgarden nicht gesprochen werden kann. Es gibt keine innere Verbindung von Baudelaire und Bauhaus, obwohl beides Exponenten dessen sind, was heute im Hinweis auf einen überzogenen ästhetischen Funktionsbegriff als gescheitert deklariert wird. Baudelaires Anti-Historismus, die Öffnung der ästhetischen Erfahrung auf die authentische Erfahrung des Bösen, das nicht mehr die Vorschule der Wahrnehmung des idealen Schönen ist, zeigt, dass ohne die ständige Reflexion auf den Zusammenhang von Geschichte und Moment, auf die Struktur der Öffentlichkeit über ‚Stil‘ nicht gesprochen werden kann.

7 Die Moderne hat den Primat des Designs durchgesetzt. Stil – das wird zum öffentlichen Stil, Design wird Public Design. In gewisser Weise sind Öffentlichkeit und Stil synonym. Stilisierung ist Darstellung, Darstellung ein zusätzlicher Akt des Selbstbezugs, eine Veränderung; dieser geänderte Selbstbezug verändert den Blick und dessen Richtung. Wer sich stilisiert, sieht sich selbst als er selbst mit den Augen eines anderen. Damit macht er sich vor sich selbst bereits öffentlich. Cora Stephan hat kürzlich42 eindrücklich gezeigt, wie nahe diese Stilisierung am Körper – Sexualität, Mode, Geschlechterbeziehungen – ansetzt und wie stark der Stilbegriff als kulturbildender Selbstbezug einzig in der Öffentlichkeit begründet werden kann. Stilisierung bedeutet ja nichts anderes als sich selbst als öffentliche Rolle zu konzipieren. Selbst die Einsamkeit des Narzissmus lebt, zumindest virtuell, von dieser Struktur: Narziss versammelt die möglichen Rezipienten aus der Öffentlichkeit im Konzentrat seines Positionen wechselnden Blicks auf sich selbst. Stilisierung, die an Unterscheidung und Differenz ansetzt, um mittels Polarität Einsicht in Wahrnehmungsprozesse und kulturelle Unterschiede zu gewinnen, ist nicht an Mono-

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kultur interessiert.43 Differenzen zu symbolisieren erfordert öffentliche Räume und Anlässe, Bühne und Ereignis. Im ‚globalen Wohnzimmer‘, in dem wir mittlerweile leben, verschmelzen Privatheit und Öffentlichkeit; die Spannung fällt ab, Differenz verschwindet in der Auflösung des Räumlichen. Nun gibt es zwar Gründe, das Soziale als eine Dimension anzusehen, die gerade im 19. Jahrhundert in Öffentlichkeit und Privatheit einbricht – Bürokratie, Verwaltung, Institutionalisierung, Schulzwang, Versicherungszwang usw. –, aber zweifellos hat die kulturelle Entwicklung seither einen Zerfall der Kultur bewirkt, welche sich in eine Vielzahl von Subkulturen aufspaltet, die alle keinen Allgemeinheitsanspruch mehr haben können. An die Stelle der Identität tritt ein Spiel mit stilisierten Identitätsvokabularien, ein Wechsel der Wahl, eine im Sinne Baudelaires flüchtige Verbindung mit Rhetoriken und Stilgütern, die Identität in eine viel abstraktere und distanziertere Hülle verwandelt. Ein neuer Hedonismus wird möglich, der nicht mehr die bedürftige Genusssucht enthüllt, sondern ein Spiel mit zitierbaren Genüssen. Authentisch wird das Zitat.44 Dieser Hedonismus entspringt der verstärkten Avantgarde gegen die rationalistische Moderne. Der Hedonismus ist die Antwort auf die Mechanisierung der Avantgarde, auf ihre sozialpolitische und erkenntnistheoretische Integration in die Ordnungsvorstellung kontrollierbarer Stilformen. Die Preisgabe der Identität kann zunächst mit dem historistischen Vokabular spielen, die entlegensten Stile zurückrufen, Vergeschichtlichung und Referenz betreiben. Aber zunehmend bearbeitet sie im Namen des poetischen Flüchtigkeitsmoments die lineare Chronik und die Ordnung des Historischen als eine reine Logik rationaler Formen. Sie kontrolliert überhandnehmende Formen mittels Formalisierungen. Das Referenzielle verschwindet immer mehr, und deshalb ist in letzter Konsequenz auch der Lifestyle keine Möglichkeit mehr, Objekte in Zeichensysteme zu verwandeln. Es bleibt der Akt einer Dialektik von Selbstverständlichkeit und Ausgrenzung, die keinem Muster festgefügter Identität oder ordnungsfähiger Bedeutungen mehr folgt.45 Authentizität steht hier als Korrektur, als eingelöstes Lebensversprechen personal verdichteter Existenz und Identität nicht mehr zur Verfügung. Authentizität ist historisch ein letzter Reflex auf den seit dem 18. Jahrhundert schrittweise entstandenen Zerfall der Öffentlichkeit. Richard Sennett zeigt den Zerfall der ‚öffentlichen Rollen‘ als Preisgabe des urbanen Lebens.46 Es verschwindet darin die Funktion der Bühne, auf der Rollen probehalber zur Diskussion gestellt werden. Damit verfällt die produktive Fremdheit, das Reich der Differenz, dem individuellen Zugriff. Eine Zeitlang noch gibt sich das Individuum der Illusion hin, seine Gefühle seien dicht, geordnet und wahr. Später löst sich der Begriff der Person auf. Die Überwindung der atomistischen Identität, der Angrenzung gegen ein Außen, das keiner authentischen Erfahrung mehr wert gehalten wird, zeigt, dass die historischen Rollenmöglichkeiten erschöpft sind. Wenn aber ­Zitat an die Stelle einer tiefer reichenden Verkörperung tritt, dann müssen öffentlich andere Rollen für die Entwicklung persönlicher Existenz gefunden werden. Die Zunahme an Zitat, die Ablösung der Avantgarde des Authentischen durch die Permanenz des Zitats und die Fülle des Zitierbaren legen nahe, die Epoche nach dem Zerfall der Öffentlichkeit auch als die Epoche der Stilindifferenz oder gar der Unmög-

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lichkeit an Stil zu bezeichnen. Denn Stil setzt die funktionierende öffentliche Bühne voraus. Das würde aber auch heißen, dass selbst der Stilkrieg nicht mehr stilbildend ist. Sich über Stil zu behaupten, wäre keine Integrationsleistung mehr, die beanspruchen kann, ‚Stil‘ zu sein. Wenn die Orientierung im Stilkampf zerfällt, dann wohl auch die im Kampfgebiet selbst. Eine erneuerte und stetig wachsende Beiläufigkeit würde die Akte der Stilisierung begleiten. Ein Indiz dafür ist, dass Designstile im Grunde immer schon aus dem Bereich der Jugendkultur geschöpft worden sind. Dies nicht allein im generationsmäßigen Sinne der Stilkämpfer und derer, die Stilwandel beanspruchen, als genuine Kampfrhetorik mithin, sondern auch mit den rhetorischen Techniken von Innovation und Abweichung, Kampf um Aneignung und Signalisierungen, welche die Quellen in eine horizontale Verfügung einordnen und an die Stelle der Sukzessionen das Prinzip der Gleichzeitigkeit und damit Beliebigkeit setzen. Das ist auch der Grund, weshalb der von der Kunstgeschichte etablierte Stilbegriff über den Einbezug von Alltagskultur und sozialen Bedeutungssystemen im Bereich der Historie der schönen Künste selber zurückgedrängt worden ist. Dafür hat Aby Warburg – von heute aus gesehen – den Durchbruch markiert, der lange Zeit noch nicht konsequent bedacht worden ist. Nicht zufällig hat Warburg damals in Hamburg den Begriff des expressiven Schaffens als Erster auf künstlerische Werke angewandt, nachdem der Begriff seit Jahrzehnten Streitobjekt in den Diskursen um die Reform des Kunsthandwerks im Spannungsfeld von Industrie, Mechanisierung, Typisierung und Rückkehr zum personalen, natürlichen Ornament gewesen ist. Vom kunstgeschichtlichen Stilbegriff zum Verständnis besonderer Realitäten – das bezeichnet den Vorgang der Diskussion von Stilwandel am Ende der seit 30 Jahren vehement geführten Stilkriege, die sichtlich im Desaster der restlos individualisierten Lifestyle-Fetische untergehen. Pierre Bourdieu hat mit seiner Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft47 die wohl abschließende Summe empirisch abgesicherter Wahrnehmungsbildung im Kontext der Zuteilungsmechanismen von Klassengeschmack geliefert. Konsequent rückt er die symbolischen Auseinandersetzungen ein in den Kampf um Klassifikationssysteme, die von der bürgerlichen Ästhetik unter Ausscheidung des ‚Ekels vor dem Leichten‘ geführt wird.48 Die Distinktion von Urteilskraft gilt als wesentliche Leistung im Geschmackskrieg, dessen bürgerliche Variante im affektiv besetzten Spannungsbogen von Verschwendung und Askese sich erfüllt. Stil wird zum Stil, etwas zu erwerben. Aneignung und Artikulation, die Kompetenz des Rezipienten und Konsumenten haben Bourdieu als Soziologen immer mehr interessiert als die Produktionsästhetik formal-bedeutsamer Objekte, die unberührt durch Nutzung ihre Geltung beanspruchen. Stil als Erwerbsstil gründet in letzter Instanz in Klassenstrukturen, deren Stil mittels Feldforschung und Nutzungs- wie Wertungstafeln in ökonomischen Einheiten gemessen werden kann.49 Die Gesamtbereiche der stilistischen Möglichkeiten sind durch die Gesamtökonomie der Lebensfunktionen und der Klassenstruktur des Bedarfs gegenüber sozial vorab gesetzten Tätigkeitsfunktionen bedingt. Stil wird zu einer funktional begründeten Zurechnungsleistung zu überdauernden, typischen und habituellen Handlungen. „Insofern unterschiedliche Existenzbedingungen unterschiedliche F ­ ormen des Habitus hervorbringen, d. h. Systeme von Erzeugungsmustern, die kraft einfacher Über-

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tragungen auf die unterschiedlichsten Bereiche der Praxis anwendbar sind, erweisen sich die von dem jeweiligen Habitus erzeugten Praxisformen als systematische Konfigurationen von Eigenschaften und Merkmalen und darin als Ausdruck der Unterschiede, die, den Existenzbedingungen in Form von Systemen differenzieller Abstände eingegraben und von den Akteuren mit den erforderlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata zum Erkennen, Interpretieren und Bewerten der relevanten Merkmale wahrgenommen, als Lebensstile fungieren.“50

8 Hier greifen die Jugendkulturen ein zweites Mal ein; sie haken sich nicht mehr über Designstile ein, sondern über militantere Strategien der Eroberung und Behauptung von Handlungs- und Verhaltensweisen. Das ist die historische Stunde der radikalen Jugendbewegungen der frühen Achtzigerjahre, eigentlich der Abschluss der Siebzigerjahre. Zwar haben diese Bewegungen ihre eigenen Zeichensysteme und Formensprachen entwickelt. Aber sie sind weder einfach Subkulturen noch gar Lifestyle-Bewegungen. Kulturell begründet – in Zürich unter dem Slogan „Wir sind die Kulturleichen der Stadt“ gegen etablierte Kunstinstitute und für radikale Autonomie angetreten –, setzen diese Bewegungen auf eine ‚Tiefe‘ von Lebensweise, die neben der bürgerlichen vor allem die traditionelle Gegenkultur der formierten Arbeiterklasse endgültig verabschiedet. Ein Destruktionsstil mit schwarzromantischem Einschlag würde die ästhetische Beobachtung dieser Bewegungen, die interessant und wichtig ist, den Status und die soziale Dimension dieses Aufbruchs völlig verkennen. Es ging ihr im Grunde um einen Traum: über das Versprechen der modernen Metropolen, sämtliche Lebensentwürfe zu ermöglichen, eine Kultur zu entwickeln, die nicht mehr über Authentizität, sondern ausschließlich über Autonomie funktioniert. Das ist eine Absage an Stil- und Jugendkultur überhaupt. Das unterscheidet ihre literarischen, philosophischen und visuellen Deklarationen auch von früheren Anti-Stilund Anti-Kultur-Bewegungen. Die visuellen Montagen propagieren weder das Hässliche noch das zivilisationskritische Rohe und Ungezügelte, noch eine weitere dadaistische Decollage, sondern ausschließlich die anderweitig nicht vertretbare Kontrolle der eigenen Lebensvisionen. Gegenöffentlichkeit, politische Strategie, Ökologie, Bürgerinitiativen, Authentizität sind demgegenüber historisch gleichzeitige Zurücknahmen dieses Ausschließlichkeitsanspruchs.51 Die Verdoppelung der Bedeutungen wird nochmals verdoppelt, die geografische Struktur der Clanbildung und ihr System von Aneignungs­ verhalten werden aufgelöst in ein Spiel mit Darstellungen und Ansprüchen, die alle, im Moment ihrer Artikulation, auch unterlassen werden könnten. Das ist eine hinter jegliche Argumentation zielende Absage an den Stil von sozialen wie ästhetischen Auseinandersetzungen unseres Kulturbereichs,52 entscheidend ist das Prinzip möglichst weitreichender, kompromissloser semantischer Unordnung.53 Nach dem Nullpunkt des Denkens und Schreibens nun also der Nullpunkt der sozialen Existenz. Was aber bleibt, ist die

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I­ ndienstnahme des Bedeutung schaffenden Ortes der subjektiven Aneignung und Wahrnehmung. Die Sichtbarkeit eines Stils ist demnach von einer komplexen Logik und einer Vielfalt von Relationsorten abhängig. Sichtbarkeit von Stil oder Wahrnehmung des Stillosen sind Arten, mit Geschichte umzugehen, sind in diesem Falle historische Produkte wie Produkte von Entscheidungen, Geschichte verflüchtige sich seit geraumer Zeit im Dunst des Ungeordneten. Der Zerfall des Stils, des Stilkriegs und des Stilbegriffs zwingt, Wirklichkeiten und ihre Wahrnehmung theoretisch an die Stelle der Stilisierungsrepertoires zu setzen: Der Anteil des Theoretischen am Zustandekommen kultureller Erzeugnisse wächst. Das erklärt auch die Affinität der neuen Jugendbewegungen zur Computertechnologie (wenn auch gewiss nicht zu ihrem Design) und stützt die These, dass die ökologische Variante des Hightech-Designs (zum Beispiel ‚frogdesign‘) sozial und strukturell in schärfstem Gegensatz steht zum Autonomismus der neuen militanten Bewegungen; dies natürlich, weil beide Richtungen aus demselben Fundus an Erfahrungen, geistigen und kulturellen Gütern und Zeichensystemen schöpfen.

9 Stilpluralismus geht aus dem Zerfall der Produktionsöffentlichkeit auf dem Niveau hoch industrialisierter Gesellschaften hervor. Eine Zeitlang, ein Zwischenreich, schien es, als wachse damit die kulturelle Differenzierung. Die dem normalen Bewusstsein völlig unverständlichen und explosionsartig herausbrechenden Bewegungen der letzten zehn Jahre zeigen, dass die lustvolle Neigung zum Chaotischen und Ungeordneten mit, zum Beispiel, dem radikal antikulturellen Programm eines Dubuffet und seiner Verehrung der vordualistischen Formen der rohen Materie – deren Zeigbarkeit im Grunde eine Höchstleistung abstrahierender moderner Kulturtechnik darstellt54 – absolut nichts mehr zu tun hat. Die Widerstandskultur, definiert gegen bürgerliche Kultur, behauptet als Gegenstrategie und damit als Kampftechnik im Bereich der Arbeitergegenöffentlichkeit, löst sich auf in der immer schnelleren und abstrahierteren Beliebigkeit der Verbindung von Zeichen, Signalen, Gütern, Bildern und Figuren eines kulturellen Umwertungsprozesses, der noch die Phase der Lifestyle-Kriege erklärt. Dort wurden nämlich auch die Widerstandskulturen umgeformt in Rituale der Erneuerung einer bereits beraubten populären Kultur, bevor sich aus diesem Konstrukt überhaupt die Frage nach einer neuen, radikalen Kultur des Widerstands herausschälen konnte. Aufgelöst wird das System der zeitlichen Ordnung neben dem System der vertikalen Anordnung von Bedeutungen und ästhetischen Wertigkeiten. „AUSWAHL, ich bin durch die kultur verdorben: wo ich empfinde gibt es formen, immer etwas bestimmtes, singular, auch das buch der bücher ist auslese.“55 Die ‚new culture‘ verliert in letzter Instanz gegen die ‚popular culture‘ und wird von ihr aufgesogen, entwertet, entmachtet, umgebaut, überwunden; ‚new culture‘ steht für authentische, ‚popular culture‘ für symbolische Handlungen, allerdings in einem gegenüber früheren Formulierungen veränderten Sinn. Karl Heinz Bohrer hat das scharfsichtig als „Aporie unserer Zivilisation“56

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bezeichnet und mit einem drastischen Beispiel das vollkommen neue Zusammenspiel von ästhetischer Selbstbehauptung und Umgang mit kulturellen Standards erläutert: „Der homosexuelle, obszöne englische Stückeschreiber, dieser Gassenjunge aus Leicester, hat in jedem seiner dramatischen Sätze mehr von dieser Gegenwart begriffen als jeder lebende deutsche Ästhetiker in seinem System.“57 Pier Paolo Pasolini ist gewiss der gewichtigste Autor, der unter dem Aspekt der Radikalisierung der sozialen wie der ästhetischen Aporie eine Vereinigung von ‚new culture‘ und ‚popular culture‘ versucht hat, die sich der Dialektik der Integration von Autonomie und Widerstand entziehen möchte, obwohl das absehbarerweise an der Verselbstständigung der Signifikanten zur ‚Semiotischen Katastrophe‘ scheitert.58 Bohrers zugespitzte Bemerkung hängt von einer Annahme über moderne Kultur ab: dass der Zerfall der kulturellen Pyramide nicht allein die Hochkultur und die bildungsbürgerlichen Institutionen in Trümmer legt, sondern auch das Verhältnis von etabliertem Diskurs und Gegenöffentlichkeit zersetzt. Der proletarische Kulturkampf ist nämlich noch vertikal ausgerichtet: Widerstandskultur will universal werden, sich an die Spitze setzen, normbildend wirken. Die Zersetzung dieser Vision ist die Leistung der neuen Autonomiebewegungen. Die universal angelegte Widerstandskultur zerfällt in revoltistische Subkulturen. Dagegen ist der Gedanke der Widerstandskultur semantisch noch vom Modell der einen Kultur besetzt. Hier haken die neuen und radikalen Stilverweigerungen nach. Hatte die Widerstandskultur ganz zentral noch einen orientierenden Stilbegriff – Erbe der humanistischen Tradition –, so weiß eine revoltistische Subkultur, dass ihre Intention alles andere als eine Stilfrage ist. Dutschke hat in einer Diskussion mit Mehnert – das muss 1978 gewesen sein, da die Medien im säkularen Verschnitt arbeiten – auf eine entsprechende Ausführung zu Lebensstil gesagt: „Revolution ist keine Stilfrage.“ Es bleibt das Spiel, das Immer-weiter-Drehen immer schnelleren Zeichengebrauchs. Die Objekte und Dinge verwandeln sich und werden zu Signifikaten (oder Referenten) ständig anderer Codierungen: Ihre Zeichenhaftigkeit beginnt am Ende ihres Daseins als Objekte. Das ist der Endpunkt des pyramidalen Wertzerfalls. Mit dem Modell der Hochkultur zerfällt – und wird von Subkulturen zu Fall gebracht – ein System, das dem ganzen kulturellen Prozess einen durchgängigen Interpretationshorizont gegeben hat. Die euphorische Rede von der Vitalität bleibt als kulturkritische Figur. Sie hat sich aber von der Widerstandskultur längst abgekoppelt. Deshalb kehren Subkulturen in Werbung und Marketing wieder.59 sie werden codierbar und darstellbar durch beliebige andere – ebenfalls horizontal angelegte – Diskurse, und zwar in dem Moment bereits, in dem sie scheinbar authentisch zur Darstellung kommen. Die Abwendung vom Stilbegriff, die Wahrnehmung von Wirklichkeiten, wendet sich ebenfalls ab von der Authentizität. Postmoderne Ästhetik kann man nennen die Bevorzugung der ironischen, spielerischen Ereignisse außerhalb der Identitätszwänge des modernen Subjekts: Preisgabe einer Konstruktionsfigur. Zwei Dinge sind deshalb möglich: Einmal werden die ästhetischen Codes von ihren Zeichenträgern befreit, was dazu führt, dass man auf dem Hintergrund irgendeiner symbolischen und kommunikativen Strategie die Verfügbarkeit von Zeichen vornimmt, sie reinigt, umformt, umbaut, ganz wie es passt.

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Bedeutung wird eine Möglichkeit, jenseits des Schöpfungsmythos umzugestalten. Zum anderen muss die Symbolik nicht mehr im Einklang mit einem Realismus geschaffen werden. Kulturkritische Zugänge zur Ästhetik denunzieren diesen Nominalismus als Verwirrung im Verhältnis von Kunst und Moral. Im unendlichen Wandel soll noch einmal die stilistische Komplexität der modernen Kunst gerettet werden, ohne dass auf den Stil als unausweichliche Notwendigkeit des Kunstwerks verzichtet werden soll. Am konsequentesten hat diese konservative Position Susan Sontag zum Ausdruck gebracht: „Die stilistische Komplexität der modernen Kunst zum Beispiel ist eindeutig eine Funktion der beispiellosen technischen Entwicklung des menschlichen Willens durch die Technologie und des ungeheuren Engagements dieses Willens für eine neue Form der sozialen und psychologischen Ordnung, einer Ordnung, die auf einem unendlichen Wandel beruht.“60 Stil sei deshalb das Prinzip der Entscheidung im Kunstwerk, die ­Signatur eines künstlerischen Willens. Sontag unterstreicht mehrmals diese Affinität des epistemologischen Entscheidungsprinzips Stil zum Begriff des Kunstwollens bei Wölfflin und Riegl. Stil wird zum Spiel: ein Set an Regeln, die man beherrschen muss. Stil als Repertoire – der Spielbegriff der Stiltheorie erzwingt notwendig, dass Spiele allein durch die Form ihrer Regelhaftigkeit, aber nicht mehr als positive Qualitäten definierbar sind. Das zeigt das Dilemma der Kunstgeschichte als einer Typologie des ästhetischen Denkens: Ihre Periodisierung und Klassifikation beabsichtigt das Einzelne des Werks. Aber gleichzeitig begründet sie den semantischen Gehalt der Wahrnehmung in der Ästhetik der Kunstwerke mit der Zerstörung dieses Prinzips der Nahsinne. Das ist der geschichtsphilosophische Ballast der Kunstgeschichte, ohne den eine Ästhetik als Theorie des Kunstschönen nicht zustande gekommen wäre.61 Dabei geht es nicht einmal so sehr um die epochale Linie, die Aneinanderreihung von formalen Systemen, die in einer bloßen Abfolge oder sogar im Sinne einer evolutionären Logik, eines Zuwachses an Fortschritt, verknüpft werden. Denn auch die Kunstgeschichte hat – obwohl der Klassifikationsstreit, wie anderswo auch, nichts anderes ist als die Münze zur Bezahlung der öffentlichen Institutionalisierung – beobachtet, dass es Gotik in der Renaissance gibt, dann im Klassizismus, vehement in der Romantik, irgendwie wieder bei Gauguin und den Nabis, Barock im Historismus, und nicht selten werden einfach Worte erfunden, die bis zum Individuellen hin (ein Idealfall) den Charakter des übergreifend Typologischen, den Winckelmann’schen Begriff von Stil also, retten sollen: Quattrocentogotik, Barockgotik, Zuckerbäckergotik (= Stalinstil), Rokokogotik, Protobarock, Jugendstil­ barock, barocke Romantik, Rokoko der Impressionisten und so weiter, bis hin zu ernst gemeinten Äußerungen über den Geist der Gotik im chinesischen Stil. Es geht viel eher darum, dass die Künste in einer Geschichtsphilosophie der Vernunft begründet und damit in ihrem ästhetischen Eigensinn – auch gegen den Begriff – enteignet werden. Es geht der Ästhetik der Wahrnehmung um die Bewegung des Fremdsinns zur nicht mehr ans Bild gebundenen Vernunft. Stil kann man die Durchsetzung und Behauptung dieses gereinigten wahren Bewusstseins nennen. Zugespitzt in der Kritik der Moderne an der Ontologie des Historischen: Die abstrakte Reinheit der geordneten Stilbegriffe tröstet uns ersatzhalber über den Verlust der geordneten Wirklichkeit hinweg.

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10 Die Stilbehauptung einer normativen Auffassung von ästhetisch gereinigten Formen ist ein Platonismus. Stil wird in den Köpfen der Designer deshalb oft als Formierung aufseiten der Produktion von Gestaltung verstanden, nicht aber als Bedeutungselement in einem Kreislauf der Kommunikation, in den auch wesentlich der Rezipient oder Konsument eingeschlossen ist. Die ideale Welt in sich ruhender, ewiger und reiner Formen ist eine Mystifikation. Allerdings eine Mystifikation, die bedeutsam ist für die Kultur der technischen Zivilisation. Denn die Struktur der Stilbildung – Selbstbehauptung und Abgrenzung – fordert die Einrückung der Triebpotenziale in den Dienst der Gesellschaft. Primärenergie gilt es, unter Kontrollinstanzen zu bringen, die nicht verletzend auf den Umwandlungsprozess der Triebenergie wirken, sondern Selbstkontrolle an bestimmte Erfüllungsversprechen binden, sie nicht als reine Last der Unterwerfung unter ein wesentlicheres Ganzes erscheinen lassen. Die Triebkontrolle im Dienst der Gesellschaft beschreibt nun offensichtlich den Stilbildungsvorgang, mit dem ein Geschmacksdiktat sich das ästhetische Rohmaterial unterwirft. Zuträglichkeit und Grenze von Stil werden dann zu einem wesentlichen Problem: Stil muss begrenzt werden, weil ‚Unerträglichkeit‘ auch die psychische Belastbarkeit sprengt. Genau hier springen die reinen, geordneten guten Formen ein. Sie zeichnen Fluchtlinien aus der schwer erträglichen Welt des noch Ungeordneten, der ständigen Erfahrung von Chaos und fehlender Kontrolle, der Subversionskraft der primären Materie. Stil, das wäre hier die Absage an die Permanenz des Scheiterns, Absage an Auseinandersetzung und die Erfahrung des Fragmentarischen. Und deshalb erzwingt der Stil seine Negation, das Kampfprinzip der Stilverweigerung oder des Stillosen. Stilkampf meint also das Festhalten am Bewusstsein von der Unreinheit, Vergänglichkeit der Welt und der Einsicht, dass diesem Vergänglichen sich nicht die reinen Formen des Sinnbildlichen unterlegen lassen, die eine Stilsicherung des selektiv Geordneten behauptet. Stil, das geht aus dem Prinzip dieses ‚ontologischen‘ Stilkampfs hervor, ist also weniger die übergreifende Gestalt, als vielmehr eine aktive Entscheidung, eine bewusste Setzung, eine konzeptionelle Zuspitzung hin auf eine Darstellung und Überhöhung im Einzelnen. Man kann das Kampfprinzip Stil so definieren: eine Form, sich der vorformulierten, der Verfügung entzogenen Bedingungen der eigenen Existenz so zu versichern, dass man sich von ihnen distanzieren kann. Die Distanzierung macht aus dem Stil eine strategische Stilisierung. Distanzierung mit den Regeln des Spiels und der Tendenz, möglichst viele der habituellen Vorgänge der Stilisierung im Unbewussten zu bewahren, denn nur so hat die Distanzierung eine stilbildende Qualität: Sie setzt einen Regelprozess in Gang, der sich in spielerischen Ausdrücken zunächst verbirgt. Die Distanzierung von Vorprägungen und vorgefundenen Formierungen der Existenz ist die wesentliche Bestimmung des Stilkampfs als Stilprinzip überhaupt. Stil versteht sich dann als Ordnung von Ereignissen, die auf noch nicht bewusst gemachte und formierte innere Dispositionen, Einstellungen, Neigungen und ästhetische Entscheidungen zielen. Stil, Stilbehauptung, Stilnegation, Stilkrieg fallen zusammen – was abweicht, sind einzig die Resultate und Produkte, nicht aber das Prinzip. Wie

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­wichtig es ist, nicht allein, nach einem Ausdruck von Susan Sontag, die ‚Epistemologie‘ des Stilwollens herauszustreichen, sondern das Prinzip der noch ungeordneten, zufälligen Entscheidung an den Anfang eines modernen Stilbegriffs zu setzen, der sich nach dem Zerfall des Klassizismus und des epochal übergreifenden Stilbegriffs durchzusetzen beginnt, zeigt eine Bemerkung von Charles Baudelaire: „On a souvent répété: Le style, c’est l’homme; mais ne pourrait-on pas dire avec une égale justesse: Le choix des sujets, c’est l’homme?“62 Also: Nicht die Existenz des Menschen als kulturelles Subjekt wird über das Pathos des Stilbegriffs und die Distanzierung von der rohen Natur begründet. Was den Menschen auszeichnet in seiner modernen, d. h. reflektiert ungezügelten Existenzform ist die Sphäre der Bedeutung. ‚Sujets‘ meint Objekte einer Thematik und zugleich Bedeutung eines Diskurses. An die Stelle von Stilen tritt die Wahl von Themen, Szenarien, Zeichensystemen. Damit begründet Baudelaire einen modernen Stilbegriff: Dialektik der Entscheidung an die Stelle der absoluten Identität. Stilkampf tritt an die Stelle von Stilontologie. Mit der sich erschöpfenden, repetierenden Wiederkehr des Stilkampfs in der Geschichte der Moderne, mit der Habitualisierung der Grenzverletzungen, mit dem ausgeleierten Versuch der Erneuerung durch Entgrenzung und Enttabuisierung, durch die Permanenz des immer stärker radikalisierten Stilkrieges wird aber der Stilkampf selber zu einer Möglichkeit, das Prinzip ‚Stil‘ abzuschaffen. Das markiert den Punkt, an dem das alte Konzept der Identität leerläuft und vom Vorgang der Des-Identität abgelöst wird: Personen als Apparate, in denen unzählige Programmierungen von Zeichensystemen angehäuft sind, die auf Realität außerhalb ihrer selbst nicht mehr verweisen müssen. Dennoch ist es sinnvoll, Stil als soziale Interpretationsform zu verstehen, als Ort und Konstruktion des kommunikativen Austausches, von Überlagerung und Negationen zwischen Stilproduzenten und Stilkonsumenten. Stile sind Organisationsformen des sozialen Austausches. Sie können auch Instrumente der Verhinderung einer bestimmten Form von Austausch sein. Man kann Kulturen, Länder, Kontinente mit stilistischen Mitteln erobern, unterwerfen, beherrschen. Was der Stilbegriff nicht abstrakt enthält, sind die konkreten Qualitäten innerhalb der Formen von Austausch. Betrachtet man Stile unter dem Gesichtspunkt, dass mittels sinnlicher Verkörperung ein Szenario in den sozialen Austausch transportiert wird, dann sind Stile synthetisierende, nicht-individuelle Verhaltensformen. Deshalb kann man sie – außerhalb des Aspekts eines nicht zeitlich formulierten Repertoires an Stilmitteln – sowohl unter der Hinsicht der Ordnung wie unter der Hinsicht der Verweigerung betrachten. Im Begriff des Stils ist eine Notwendigkeit mitgesetzt, nicht sich selbst, sondern andere zu organisieren. Stil ist die Strategie, das Verhalten anderer zu organisieren. Das heißt: Wenn, wie oben gesagt, Stil die Form der Distanzierung von nicht wählbaren Existenzbedingungen ist, dann hängt die Möglichkeit, andere zu organisieren, vom Akt der Selbstdistanzierung ab. Wir neigen dazu, das für etwas Modernes oder gar für den offensichtlichen Anhaltspunkt der Kulturkritik zu halten. Und ohne Zweifel ist eine solche Verhaltensbedingung mit der Moderne verbunden. Sie ist schon früh als Chance des modernen Subjekts und nicht als Zerfall von Identität angesprochen worden: in Sören Kierkegaards Doktorarbeit von 1841. In ‚Über den Begriff der Ironie‘ beschreibt er das Konzept des ironi-

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schen Subjekts als genau diese stilbildende Distanzierung. „Was das an der Ironie zum Vorschein Kommende ist, das ist die subjektive Freiheit, welche in jedem Augenblick die Möglichkeit zu neuem Anfang in der Gewalt hat und nicht durch vorhergehende Verhältnisse beengt wird.“63 „Die Ironie ist eine Stimmung der Subjektivität. In der Ironie ist das Subjekt negativ frei; denn die Wirklichkeit, welche ihm Inhalt geben soll, ist nicht vorhanden, das Subjekt ist frei von der Gebundenheit, in welcher die gegebene Wirklichkeit das Subjekt hält, aber es ist negativ frei und als solches in der Schwebe, weil nichts da ist, das es hielte.“64 „In allen diesen Fällen erweist sich die Ironie als diejenige, die da die Welt versteht, und die da die umgebende Welt zu mystifizieren sucht, nicht so sehr um sich zu verstecken als vielmehr um andere dahin zu bringen, sich zu offenbaren. Die Ironie kann sich aber auch zeigen, indem der Ironiker versucht, die Umgebung betreffs seiner eigenen Person auf falsche Fährte zu bringen.“65 Der Stil ist das Feld der Behauptung der subjektiv ironischen Strategien und deshalb ein Bruch mit den anthropologischen Strukturen einer vormodernen Stilbildung. Diesen anthropologischen Stilbegriff fasst Claude Levi-Strauss so: „Die Gesamtheit der Bräuche eines Volkes ist stets durch einen Stil gekennzeichnet; sie bilden Systeme. Ich bin davon überzeugt, dass die Anzahl dieser Systeme begrenzt ist und dass die menschlichen Gesellschaften genau wie die Individuen – in ihren Spielen, ihren Träumen, ihrem Wahn – niemals absolut Neues schaffen, sondern sich darauf beschränken, bestimmte Kombinationen aus einem idealen Repertoire auszuwählen, das sich rekonstruieren lässt.“66 Mit dieser Vorstellung bricht der Ironiker. Das soll nicht heißen, dass es nicht denkbar ist, Levi-Strauss habe nicht doch recht, falls er die Rekon­ s­truktion dieses idealen Systems leistet. Aber es soll heißen, dass in dieser Formulierung ein Erkenntnisinteresse abgesteckt wird, das den Ironiker nicht überzeugt. Ein Per­spektivenproblem, ein methodisches Problem: Von welchem Zeitpunkt aus ist es möglich, Systeme der Stilisierung als Sprachen (‚paroles‘ im Sinne von de Saussure) einer ideal abschließbaren Struktur zu interpretieren? Und bei welchem Punkt ist es noch geboten, gewissermaßen innerhalb der chaotischen Materie entstehender Stilisierungen und prozessierender Stilbehauptungen das perspektivische Auge der Bedeutungsnachfrage ins Werk zu setzen? Michael Baxandall hat gezeigt, dass die Frage des Stils – abgesehen davon, dass sie eine methodische ist, die sich der hermeneutischen Probleme der Aneignung, der Kollision von Bedeutungen zwischen Entstehungszeit und Rezeptionszeit bewusst ist – eine Frage der Verbindung der visuellen, ästhetischen und sozialen Ordnung ist. Der Stilbegriff – das demonstriert Baxandall in der Untersuchung der perspektivischen ­Einordnung religiöser Bildthematiken in der Renaissance – muss die Werke mit dem verbinden, was es bedeutet, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Person zu sein. Ästhetische und soziale Ordnung sind verbunden und bilden ein Stilganzes. ‚Aria‘, ‚Manier‘, ‚Stil‘ – sie pendeln zwischen der Demonstration kostbarer Malpigmente – dies im 14. und frühen 15. Jahrhundert – und der späteren, auf diese folgenden Verpflichtung der berühmt werdenden Künstler zur Eigenhändigkeit, gestuft je nachdem, ob der Hauptkünstler nur entwirft, Teile ausführt oder das Ganze selber ­fertigt. An die Stelle der verschiedenen Auswaschungsstufen des Ultramarins tritt

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die ­vertraglich formulierte Eigenhändigkeit verpflichteter Künstlerindividuen. Beides schlägt sich entsprechend im Preis nieder. Prestige kommt zu den sozusagen ‚natürlichen‘ Kosten hinzu und wird teuer. In beiden Fällen aber ist es unerlässlich, dass die Prestigeleistungen, mit denen ein Auftraggeber sich als Mäzen oder Besitzer inszeniert und mit denen ein Stilwandel im bildnerischen Denken und den Ausführungstechniken des Malens verbunden ist, von den Betrachtern erkannt werden können. Es ist nachweisbar, dass der alltägliche Stil des Sehens die vier Stufen der Auswaschung des Ultramarins exakt unterscheiden konnte, dass also die Kostbarkeit der e­ rsten Auswaschung auch sozial als Prestigeaufwand anerkannt worden ist. Genauso nach der Umwandlung: Die Bedeutung von Künstlernamen hängt davon ab, dass sie eine soziale Aura und eine publizistisch-öffentliche Verbreitung vorfinden, wenn sich vertraglich das Mäzenatentum immer mehr auf den Rangstreit unter der Verpflichtung von Künstlern konzentriert. Baxandall führt aber in seinem Buch Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts67 noch zahlreiche andere Thematiken und Belege an für die Verbindung von künstlerischem und alltäglichem Stil. So taucht der ‚festaiuolo‘, der in den zahlreichen Theateraufführungen die Aufgabe hatte, den Betrachter in das Spiel und die Szenen einzuführen und ihn zu begleiten, auf zahlreichen Bildern auf. Meist in anderer Gestalt, beispielsweise als Engel. Der kunsthistorisch traditionelle Stilbegriff hat wegen seiner einseitigen Ausrichtung auf in Bildern formulierte Ikonografie diese Bedeutung meist verkannt. Das hat sich erst durch eine schulbildende, spät erfolgende, aber dann umso deutlichere Rezeption der Schriften von Aby Warburg gewandelt, die einen hervorragenden Beleg darstellt für den Stilwandel einer Wissenschaft, der zu einem Stilwandel der Betrachtung und weiter zu einem Stilwandel des Betrachteten selber geführt hat. Ein Beispiel für die Überlegungen, die für Baxandall und dessen sozial-ästhetisches Stilprogramm typisch sind, ist die Frage, wie die Durchsetzung eines perspektivischen Sehens mit dem Umbruch in der alltäglichen Wahrnehmung verknüpft werden kann. Perspektivisches Sehen bedeutet, dass, wo vorher Raum eine Funktion der gezeigten Figuren und eine Konstruktion des Flächenaggregates war, nun Raum nach wesentlich abstrakteren Gesichtspunkten durchkonstruiert wird. Die perspektivische Körperlichkeit, wie sie auf einem flachen Bildträger gezeigt werden kann, entspricht nämlich keineswegs einem ‚natürlichen‘ Sehen, sondern einer bestimmten, entwickelten Kultur, einem visuellen Stil. Baxandall beobachtet, dass in einer bestimmten Epoche plötzlich Körperfiguren und -konstruktionen auftauchen, die komplex und vorher unbekannt sind und offenbar einem eigenständigen Erkenntnisinteresse folgen, das über die bloße Bezeichnung von Gegenständen hinausgeht. Die Erklärung, die Baxandall dafür liefert, ist, dass es sich hier nicht um einen Bildstil handelt, sondern um einen sozialen Vorgang. Durch zunehmenden Handel, durch kulturellen Zuwachs an Austausch und Wissen, durch die vielfältige Begegnung noch nicht vereinheitlichter Währungen und Gefäße für Waren auf den Märkten, war es für einen Durchschnittsmenschen notwendig, innerhalb kürzester Zeit abschätzen und umrechnen zu können, wie viel eines bestimmten Gutes in einem bestimmten, meist asymmetrischen Gefäß enthalten ist und was er dafür zu bezahlen bereit sein kann. Messen, Rechnen werden zu alltäglichen Vorgängen. „Es ist eine wichtige Tatsache für die Kunst-

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geschichte, dass Waren erst seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig in Behältnissen mit Standardmaßen gehandelt wurden; vorher war jeder Behälter – das Fass, der Sack oder der Ballen – einmalig, und es war eine Voraussetzung für den geschäftlichen Erfolg, sein Volumen schnell und genau auszurechnen.“68 Baxandall interessiert sich deshalb besonders für Piero della Francesca, der ein Mathematiklehrbuch verfasst und in seinen Bildern die ersten überkomplizierten Körper-Gefäß-Gebilde konstruiert hat.

11 Stil ist also die soziale Form eines Bezugs von alltäglichen und ästhetischen Wahrnehmungen. Ohne den Einbezug der konkreten Niveaus der gesellschaftlichen Kommunikation lässt sich kein Stilbegriff anhand von ästhetischen Gütern und Objekten erläutern. Dieser Stilbegriff der sozial-ästhetischen Lebensform – oder, mit Wittgenstein, der Sprachspiele – ist eigentlich nichts anderes als ein subtil und komplex gefasster FormFunktions-Begriff. Gerade heute scheint es sinnvoll, eine Revision der üblichen, aus einer Postmodernismus-Sicht propagierten Interpretation der These ‚form follows function‘ im Sinne eines Ausblicks auf einen fundierten Stilbegriff zu versuchen. Die These vom Apriori der Funktion hat bekanntlich über Sullivan Eingang in Designpostulate und schließlich Weltbildansprüche gefunden. Le Corbusier hat diese These durch den Hinweis auf die Funktionseleganz der Maschine ergänzt, Fernand Leger hat das Funk­ tionsideal der Maschine und die Brauchbarkeit ihrer Erzeugnisse für das Vorbild ästhetischen Schaffens überhaupt genommen und auf eine Theorie der künstlerischen Funktionen und Bildstrukturen umgesetzt. Die These vom Vorrang des Funktionalen ist zunehmend, aber eigentlich so eindeutig erst durch die Kritiker der Moderne redimensioniert und schließlich auf engste Instrumentalität eingeschränkt worden. Dabei gibt es positivistische Vorläufer, die zeigen, dass der in den Wissenschaften bereits durch Darwin vehement kritisierte enge Funktionalismusbegriff erst mit großer Verspätung und dann auch noch unkritisch in die Designtheorien Einzug gehalten hat. Zu nennen von diesen Vorläufern des Positivismus wären Lamarck, der durch Algarotti und Memmo überlieferte Carlo Lodoli und der neo-klassizistische amerikanische Bildhauer Horatio Greenough.69 Neben Lamarck hat auch Cuvier die These vertreten, wonach sich der tierische Apparat und die innere Struktur einen funktionalen Ausdruck schaffen, dessen Form oder Erscheinungsbild eng an die abschließend aufzählbaren Funktionserfordernisse angepasst seien. Der Stil – Erscheinungsbild der Form – ist also nichts anderes als die in physikalischen Gestalten umgesetzte Funktionalität einer Struktur. Carlo Lodoli hat gegen die Barockarchitektur auf das Prinzip einer strikten Funktion gesetzt: Jedes Detail müsse funktional begründet sein, nur so ließe sich Reinheit schaffen. Bereits Lodoli bekämpft jedes ‚unnütze Ornament‘. Alles muss aus strikter Notwendigkeit abgeleitet werden. Die Berufung auf reine Formen wird damit begründet, dass nicht vorstellbar ist, dass die Natur mit einem verschwenderischen, also falschen Aufwand arbeite. Der Rück-

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griff auf das, was als Logik der Natur behauptet wird, geschieht im Bewusstsein, dass gegen sogenannte entartete Formen der Gestaltung auf eine offensichtliche Autorität Bezug genommen werden müsse. Die offensichtlichste Autorität wird damals in der Logik des Anatomischen ausgemacht. Form ist, was dieser Funktion dient. Evolution ist das vereinigende Prinzip aller Lebensformen, die auf ihre Tauglichkeit der Selbsterhaltungsenergie bewertet werden. Man kann für den Begriff des Stils verschiedene Vorgänge innerhalb der natürlichen Ausdrucksformen benennen: Schönheit ist das Versprechen der Funktion; die gestaltende Handlung ist die Repräsentation oder Vergegenwärtigung der Funktion; die daraus hergestellte Charakteristik kann als Verwirklichung der Funktion gelten. Gestaltung wird zur durchgängigen Formulierung der instrumentell (Arterhaltung, Adaption an Umwelt, Ökologie) gesetzten Funktionserfordernisse. Stil ist die Strategie, wie diese Gestaltung als Prozess konzipiert werden kann. Der Funktionsbegriff ist nicht im Bereich des Design formuliert worden. Er ist entwickelt worden als Antwort auf den Zerfall des Renaissance-Kanons. H. W. Janson hat in überzeugender Weise70 nachgewiesen, dass sowohl der moderne Funktionsbegriff wie die kunsthistorische Ikonografie den eigentlichen Kern des Stilbegriffs verfehlt. Nicht Formen sind konstant, sondern Wechsel. Das heißt, dass nicht inhaltliche, thematische oder formale Eigenheiten rubriziert werden können, sondern dass die Bedeutungen von einem weit gespannten Feld sozialer Aufgaben bedingt werden. Janson führt als wesentlichen und überzeugenden Beleg zwei Statuen von Donatello an, die man immer völlig verschiedenen Schaffensperioden und weit auseinanderfallenden Zeiten zugeschrieben hat. Was sinnlich zunächst völlig abwegig erscheint, konnte durch neue Entdeckungen datiert und nachgewiesen werden: Zwei Statuen, deren Handschrift und Manier weit auseinanderliegen, konnten als Werke derselben Schaffensperiode nachgewiesen werden. Janson behandelt dieses Beispiel, um nahezulegen, dass die Funktion eines bestehenden Werkes nicht allein die Integration einer bestimmten Form bedeutet, sondern dass die Funktion der Formgebung ihrerseits hilft, Geschichte, Kunst und Kultur ineinander zu verknüpfen, sodass die Analyse eines Werkes immer von einer sozialen und nicht einer biologisch-gestalthaften Funktion und der entsprechenden, komplexen oder sogar widersprüchlichen Form auszugehen hat. Janson schließt, in der Nachfolge Jacob Burckhardts, mit einem Plädoyer, das für einen erweiterten Funktionsbegriff von ‚Stil‘ wichtig ist. Es bedarf einer gemeinsamen sozialen wie ästhetischen Perspektive, um Stil und Ikonografie als formulierte Aufgaben zu verstehen, die nicht in ausschließlich geistige oder ästhetisch vereinzelte Erscheinungsbilder aufgegliedert werden können. Es geht um Relationen. Nimmt man das ernst, dann kann die These ‚form follows function‘ nicht im in­ strumentellen Sinne einer ihrer Dialektik unbewussten Aufklärung verkürzt werden, die an die Stelle der bewussten Befreiung neue Unterdrückungsformen setzt. Funktion ist das Gesamt der Aufgabe, Stil die Art, in der auf diese Funktion geantwortet wird. Form aber liegt nicht in einer vorfindlichen Form, sondern in einer konstruktiven, ausformulierten, kommunikativ und kontrovers ausgehandelten Interpretation der Darstellung ästhetischer und sozialer Rezeption. ‚Aufgabe‘ ist gerade nicht instrumentell, sondern arbeitet mit Distanz: Entrückung der vermeintlich natürlichen Güter und Formen.

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Der Überschuss, den Stil bedeutet, zeigt, dass die kulturelle Bedeutung formulierter Gestaltung gerade nicht auf der Abbildung des Natürlichen, gerade nicht auf der Umsetzung der Funktion in Form beruht, sondern auf Überschuss, d. h. nicht auf Notwendigkeit, sondern auf Freiheit. Marcel Jouhandeau hat in seinen Pariser Bildern von 193471 dem Stilaspekt des auratischen Überschusses einer merkwürdigen Wirkung eine äußerst nostalgische Beobachtung gewidmet. Er spricht dort von der Entdeckung der Seele durch den Stil der Abweichung, die zwar spürbar, aber nicht eigentlich – semantisch, lexikalisch – beschreibbar ist. „Juste und Eudoxie haben sich zurechtgemacht, um auszugehen. Sie waren zufrieden in ihren vier Wänden, ehe sie aus dem Haus traten; kaum aber sind sie auf der Straße, bemerken sie, dass man sie anstarrt. Sie haben etwas ‚Zuviel‘ an sich, das sich nicht ausfindig machen lässt, und alle beide prüfen im Vorbeigehn ihr Spiegelbild in den Schaufensterscheiben, und sie beobachten einander: was das nur sein mag, wodurch sie sich von den anderen unterscheiden? Sie sind nicht schöner und nicht hässlicher, weder schlechter angezogen noch besser als jeder andere auch, aber es ist da etwas ‚Zuviel‘ an ihnen, das die anderen, ohne recht zu wissen, was das sein könnte, nicht ertragen können. Das spüren sie. Und das macht sie unsicher. Es gibt Familien, deren sämtliche Mitglieder mit diesem undefinierbaren ‚Zuviel‘ geboren werden, und niemandem, der mit ihnen zu tun hat, ist je ganz wohl in seiner Haut, und sie sind nur in der Einsamkeit glücklich. Dieses undefinierbare ‚Zuviel‘ ist die Seele.“72 Glückliche Zeiten der glücklichen Einsamkeit: Das Soziale tangiert noch nicht die Selbstsicherheit der Seele. Seele als Stil – das heißt, dass noch festgefügte Formen aus dem reinen Realen überhaupt beansprucht werden können. Aber das ‚Zuviel‘ der Seele in den Straßen ist mit der öffentlichen Bühne verschwunden. Was bleibt, ist die Negation der Differenz und des ‚Zuviel‘: der Seele selbst wie der Bühne, die sie als stilsicheren Überschuss behauptet. An ihre Stelle treten die Tarnung und der Verrat an der ontologischen Dichte. Das sind der historische Ort und der Zeitpunkt, an dem Stil unmöglich wird. Gesellschaftliche wie individuelle Visionen lassen sich nicht mehr bündeln. Das Kontinuum ist überwunden. Freiheit bricht ins Diskontinuierliche ein. Geschichte zersplittert sich. Die Evolutionslogik weicht einer differenzierten Funktion, Gestalt und Bedeutung zugleich. Reinheit weicht der Abweichung, Wahrheit wird Irrtum, Seele verflüchtigt sich, Identität tritt zurück gegenüber der Vermutung, Oberfläche wird durchlässig. Systeme weichen Fragmenten. Die Wahrheit des Stils ist sein Scheitern. Stil ist, was Gestaltungsrepertoires, Formwillen und Kunstwollen ihrer historischen Falschheit überführt. Triumph des Illusionären: letzte mögliche Bastion der Einsicht in die Bedingungen eines Selbst. Die Funktion des Stils wird zum harten Test für einen konsequent definierten ästhetischen Anspruch. Der Stil wird zertrümmert. Die Seele beraubt sich der Nostalgie ihrer Überflüssigkeit: Heiter stimmt sie ihrem Verschwinden im Namen eines erneuerten Spiels zu. Splitter und Notationen bleiben, entsprechend dem Taumel der unkon­ trollierbaren Vielfalt jener Formen, die man für die Zuträglichkeit des Menschen und zu ­einem ‚Menschlichen‘ meinte, auf die abschließend ausgewählten Repertoires von Stil reduzieren zu müssen.

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Geschrieben 19 f. 2. 1986; Erstpublikation einer leicht gekürzten Fassung unter identischem Titel in: Bazon Brock/Hans Ulrich Reck/IDZ Berlin (Hrsg.), Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder ­Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode, Köln: DuMont Verlag, 1986, S. 100–151.

1 Jean Genet, Tagebuch eines Diebes, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 34 f. 2 Ebda. S. 72. 3 Vgl. ebda. S. 178. 4 Ebda. S. 142. 5 Ebda. S. 100. 6 Ebda. 7 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus, Frankfurt 1974, S. 516. 8 Stanislaw Lem, Philosophie des Zufalls II, Frankfurt 1985, S. 35 9 Ebda. S. 40. 10 Gregory Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt 1981, S. 571. 11 Ebda. S. 572. 12 So wirklich ebda. S. 560. 13 Ebda. S. 558. 14 Ebda. S. 201. 15 Ebda. S. 192. 16 Ebda. 17 Vgl. ebda. S. 198. 18 Ebda. S. 184. 19 Vgl. Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1976; ders., Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a. M. 1979; ders., Wissenschaft und Tradition, Zürich 1983; ders., Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a. M. 1984; Grenzprobleme der Wissen­ schaften, Zürich 1985. 20 Vgl. Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt 1984, S. 71. 21 Vgl. ebda. S. 89. 22 Vgl. ebda. S. 72. 23 Vgl. ebda. S. 77. 24 Vgl. ebda. S. 35. 25 Vgl. ebda. S. 38. 26 Vgl. ebda. S. 64. 27 Vgl. Louis Aragon, Le paysan de Paris, deutsch „Pariser Landleben“, München 1969, bes. S. 7 ff., 149 ff., 241 ff. 28 Ebda. S. 13. 29 Vgl. Michael Thompson, Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart 1981. 30 Ebda. S. 322. 31 Vgl. dazu: Antonio Negri, Die wilde Anomalie, Berlin 1983. 32 Piet Mondrian, zit. nach Beat Wismer, Mondrians ästhetische Utopie, Baden 1985, S. 49. 33 Kaum ein Zufall also, dass Umberto Eco eine Studie darüber publiziert hat: Lo Specchio, Milano 1985. 34 Vgl. Nicolaus von Cues, Philosophisch-theologische Schriften, 3 Bde., Wien 1964–67; Bd. 2, S. 477 ff.: De non-aliud / Über das Nicht-Andere, Kap. 9. 35 Vgl. Norbert Elias, Kitschstil und Kitschzeitalter (1933) in: Der Alltag Nr. 1, 1985, Zürich. 36 Vgl. dazu Susan Sontag, Anmerkungen zu Camp, in: dies., Kunst und Antikunst, München 1980, S. 269 ff. 37 Joris Carl Huysmans, Gegen den Strich, Zürich 1981, S. 81. 38 Ebda. S. 83 f. 39 Ebda. S. 212. 40 Vgl. ebda. S. 126 f. 41 Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: ders., Gesammelte Schriften, Dreieich 1981, Bd. 4, S. 286. 42 Zur Erinnerung: Vorliegender Text wurde im Februar 1986 geschrieben.

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43 Vgl. dazu Cora Stephan, Ganz entspannt im Supermarkt – Liebe und Leben im ausgehenden 20. Jahr­ hundert, Berlin 1985, bes. S. 84 ff. 44 Vgl. dazu: P. A. Alt, Über den neuen Hedonismus, in: Kursbuch 79/1985, Reinbek bei Hamburg S. 66 ff. 45 Vgl. dazu: Diedrich Diederichsen, Sexbeat 1972 bis heute, Köln 1985. 46 Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt 1983. 47 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt 1982. 48 Vgl. ebda. S. 748 ff. 49 Vgl. ebda. S. 120 ff. 50 Ebda. S. 278 f. 51 Vgl. dazu zentral: Rudolf M. Lüscher, Einbruch in den gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse. Zürich 1984. 52 Vgl. dazu: Diederichsen / Hebdige / Marx, Schocker – Stile und Moden der Subkultur. Reinbek 1983. 53 Vgl. Hebdige, ebda. S. 82 ff., 92 ff.; die reichhaltigsten Überlegungen finden sich bei Claude Levi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt 1968, und in ders., Der Blick aus der Ferne, München 1985. 54 Vgl. dazu Dubuffet und Kaufmann über Dubuffet in „Konkursbuch“ Nr. 1, Tübingen 1978, S. 167–198. 55 Oswald Wiener, die verbesserung von mitteleuropa. roman, Reinbek bei Hamburg 1969, S. XV. 56 Karl Heinz Bohrer, Die drei Kulturen, in: Jürgen Habermas (Hrsg.), Die geistige Situation der Zeit, Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt 1979, S. 636 ff., hier S. 665. 57 Ebda. S. 663. 58 Pasolini hat – man hat das als bloß äußerliche oder gar eitle Pointe missverstanden – 1974 ein generel­ les Verbot des Fernsehens gefordert. 59 Dafür liefert Michael Schirner ein hervorragendes Szenario; vgl. Michael Schirner, Was Stil ist, bestimme ich, in: Bazon Brock / Hans Ulrich Reck / IDZ Berlin (Hrsg.), Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode, Köln 1986, S. 206–227; vgl. dazu: Hans Ulrich Reck, Alle Werbung ist schön oder der Triumph des Obszönen, in: ebda. S. 228 ff. 60 Susan Sontag, Über den Stil, in: dies., Kunst und Antikunst, München 1980, S. 23 ff., hier S. 42. 61 Eine Kritik daran liefert Beat Wyss, Trauer der Vollendung. Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik der Moderne, München 1985, bes. S. 225 ff. 62 Charles Baudelaire, La double vie par Charles Asselineau (1859), in: Œuvres complètes II. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris 1976, S. 91. 63 Sören Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, Frankfurt 1976, S. 249. 64 Ebda. S. 258. 65 Ebda. S. 247. 66 Claude Levi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt 1978, S. 168. 67 Vgl. Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahr­ hunderts, Frankfurt 1977. 68 Ebda. S. 105 f. 69 Vgl. dazu Edward De Zurko, Origins of functionalist theory, New Haven und London 1962. 70 Vgl. Horst W. Janson, Form follows function or does it? Modernist design theory and the history of art, Maarssen 1982. 71 Vgl. Marcel Jouhandeau, Pariser Bilder, Frankfurt 1969, S. 33. 72 Ebda.

STILNOTATE ZWISCHEN LEBENSFORM/­S UBVERSION UND FUNKTIONSBEGRIFF  163

ARM, ABER EHRLICH. NACHSICHTEN ZUM DDR-DESIGN „Arbeits-Umwelt-Design“ ist die Broschüre betitelt, erstellt durch die Sektion II ‚Produktund Umweltgestaltung‘ im Bereich der Produktion, Hochschule für industrielle Formgestaltung Halle-Burg Giebichenstein. Das Impressum vermerkt als Redaktionsschluss den 31. Januar 1990. Versammelt sind Studentenarbeiten in den klassischen Feldern: Industrie und Büro, Konferenzsaal und Reisewagen, Baustellenunterkunft und Laborcontainer, Großraum-Büros und automatisierte Fabrikationsanlagen. Hightech-Aspekte, beispielsweise die Probleme des ‚Interface‘, der Schnittstelle zwischen Mensch-Maschinen-Programmen, sind aus dem Industriedesign ausgeklammert. Traditionelle Aufgabenstellungen führen zu soliden Entwürfen, an die eine eigentümliche Aura sich heftet. Steif angeordnete Möblierungen, Belege eines auf Arbeit verpflichteten Ernstes. Als ob die Dinge sich dafür zu entschuldigen hätten, dass sie nicht ständig und ausschließlich genutzt, dass sie erst geschaffen, noch nicht verschlissen sind. Besonders die Empfangsund Sitzungszimmer zeigen eine geordnete Leere. Solide gearbeitete Stühle und Tische, auf regelmäßigen Abstand ausgerichtet, einer geistigen Tätigkeit bestenfalls nicht abträglich. Groß dimensionierte Blumenkisten sprechen lautstark davon, wie gemütvoll in ihrer Umgebung die Bedürftigkeit der Kultur sich mit der Zähmung der Natur verbindet. Spiegel der Theorie von der kulturbildenden Frucht der Arbeit, der Humanisierung einer Natur, für deren erfolgreiche Bändigung die Arrangements nicht nur sinnbildlich, sondern wissenschaftlich zeugen. Dass die Endformulierung, das Design, sich wieder weitgehend einem, wenn auch geformten Rohzustand der Materialien annähert, geht aus der wissenschaftlich-technischen Form der gesellschaftlichen Anstrengungen hervor, Natur als zu bewältigenden Stoffzusammenhang auf jederzeitige Bewährung der technischen Eingriffe zu reduzieren. Glatte Flächen, Monotonie ohne Schnörkel und Raffinessen, Wahl unauffälliger Materialien, Ableitung der Möbel aus der Idee eines kohärenten, elementaren Baukastens erzeugen eine in sich perfekte Zeichenhaftigkeit: Immunisierung Sinnlichkeit, Eliminierung einer möglichen abweichenden Aneignung, die schon mit dem Anschein einer durch die Dinge selber erzeugten Aufmerksamkeit beginnt. Lückenlos erscheint die auratische Bedeutung einer technisch verstandenen Gesellschaft als eine Bewährungsprobe des Designs, in dessen Form die umgewandelten, natürlichen Arbeitsstoffe verschwunden sind. Ein ‚als-ob‘ überwundener Rückschrittlichkeit: als ob Natur direkt der geformten Arbeit entspringt. Das ist im Kern immer schon das Versprechen der Design-Moderne ­gewesen.

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Der wissenschaftliche Sozialismus als Versprechen und als Schein Das aktuelle DDR-Design ist eine Medienkonstruktion geworden. Es besteht aus Relikten, Bildern, Metaphern. Aufmerksamkeit wird erzeugt für ein verschwindendes Phänomen, das seinen kulturellen Streitwert als Bild erhält. Die Abbildungen des Westens haben die Gerüche des Ostens überwunden. Keine olfaktorischen und taktilen Selbstdiffamierungszwänge gehen mehr von den Gegenständen dieser postumen Begierde aus. Ein gewaltiges Missverhältnis zwischen den wirklichen Dingen und ihren visuellen Reproduktionen belegt den üblichen gefräßigen Bildhunger der gegenwärtigen Kultur, verselbstständigt die Reizanmutungen zu reproduktiven Zeichen und entledigt sie so der Verunreinigung durch das Stoffliche, das ein Ungenügen der Produktion ohne Distanzierung belegte. Technisch geplante Bedürfnisbefriedigung verkörpert sich in den Dingen als Versprechen der Moderne in einer zugespitzten Form. Die angestrebte Physik der Bedürfnisse bleibt im Sozialismus nicht nur eine sozialästhetische Vision, sondern wird zur Materie geplanter Versorgung. Das Verhältnis von Gebrauchswert, Ressourcen, angehäuften Reserven und den Lebensformen ist kein Surrogat gesellschaftlich ohnmächtiger Gestalter mehr, sondern alltäglicher Planungsstoff der staatlichen, sozialistischen Bürokratie. So wie diese die gesellschaftliche Selbstorganisation, stellvertretend, ausdrückt, so verkörpern die Dinge als geformte prinzipiell keinen ästhetischen Eigenwert, sondern in erster Linie und grundsätzlich den erreichten Stand verwissenschaftlichter gesellschaftlicher Versorgung. Nun gilt aber, trivial, dass Bedürfnisse niemals befriedigt, sondern nur objektiviert werden können. Die Herstellung von Objekten, die solcher Darstellung dient, bezieht sich auf eine generelle Konzeption. Für das DDR-Design wurden zwei Dinge verbindlich: die Weiterführung einer fortschrittlichen, ideologisch ausgezeichneten Moderne in der ersten, das möglichst weitgehende Unsichtbarmachen der Unerreichbarkeit dieses Ziels durch die Defizite der Planwirtschaft in einer zweiten Phase. Es wäre irreführend, eine eigentliche Moderne gegen ihre kleinbürgerliche Profanierung in der DDR auszuspielen. Die Diffamierung des Bauhauses war eine ideologische Konstruktion des Kalten Krieges, keine Wirklichkeitsbeschreibung. Unabhängig von Stilbehauptungen und ästhetischem Dekor ist zu verstehen, weshalb die barbarische Normalität einer sozialistischen Kleinbürger-Ästhetik nicht die Negation, sondern die Vollendung der Versprechen der Moderne darstellt. Zwar redundant und schäbig, aber doch prinzipientreu. Was im Kapitalismus notwendig auf Konkurrenz trifft und deshalb schlichte Gleichförmigkeit nicht zulässt, das wird durch den sozialistischen Staat unweigerlich in eine alles erschlagende Monotypie gegossen. Es ist einzig das durch das kapitalistische Tauschsystem erzeugte Scheitern der Moderne, das Vielförmigkeit zugelassen hat. Wäre es nach den Absichten ihrer Propagandisten gegangen, dann wäre die Wirklichkeit auch diesseits sozialistischer Ziele durch das Gestaltungsmonopol der Modernen auf Monotonie verpflichtet worden: Beleg der gesetzten Wahrheit einmal gefundener absoluter Formen. Der ästhetische Traum der Moderne hat sich nur durch eine sich verweigernde, abweichende Wirklichkeit, im Scheitern, erhalten.

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Die Moderne stellt in ihren ästhetischen Argumenten einen hohen Anspruch an technologische Rationalität. Nicht-Funktionieren des Geplanten ist katastrophal. Der Zugriff auf eine formbare Welt versteht sich unproblematisch als Fortschritt der Zivilisation, als Perfektionierung der Instrumente wie der Mentalitäten. Rationalität wird an den geformten Resultaten überprüfbar. Das Maß des Funktionalen tendiert offenbar hinter dem Rücken der Protagonisten dazu, das Wirkliche zum Ausdruck von Ideen zu erklären. Die Moderne tut sich traditionell schwer mit Reibungen und Unordnungen, Chaos und Sprüngen, Irritationen und Komplexionen. Wo ihr solches in Gestalt von Tradition und Geschichte entgegentritt, greift sie eilig zum Plädoyer für Abbruch. Sie will Tradition kraft ihrer selbst werden. Ein Imperfektes Futurum: Geschichte soll dereinst das gewesen sein können, was sie vom Nullpunkt her anstrebte. Das Vorhaben, Gesellschaft in den Objekten als sozialästhetische Funktionsherrschaft über angeeignete und entschärfte Stoffe zu erweisen, ist nicht eine Erfindung sozialistischer Staatsrhetorik, sondern der Kern moderner Designtheorie. Er lässt sich beschreiben als eine Mischung von Erlösungspathos und Verzeitlichung der Vernunft in der Geschichte1, von Expressionismus und symbolistischer Sehnsucht, von Industrie und Symphonie, HandwerkerSozialismus und dem Künstler als einem konstruktiven Ingenieur, der die Welt durch perspektivische Konstruktion, nicht mehr durch Einfühlung erfasst. Das Bauhaus setzt ausdrücklich auf die Vereinigung der Kreativen im Geist einer sozialistischen Kathedrale, Corbusier geht völlig selbstverständlich von identisch berechenbaren arithmetischen Ordnungen aus, den Konstruktivisten erscheint Formgebung nicht nur technisch beliebig machbar, sondern als ästhetische Emanzipation. Designmoderne kann pauschal als verwirklichbare Utopie, als positive Ordnung und Letztbegründung durch sich selbst beschrieben werden. Es geht nicht um Stil oder Revolution, die ein Corbusier durch die moderne Ordnung des Bauens gerade verhindern will. Die besondere Mixtur expressiven Erlösungsstrebens und sozialästhetischer Intervention zielt darauf ab, in den Dingen noch des profansten Gebrauchs ein gesellschaftliches Bewusstsein durch universale, abstrakte Formen zur Geltung zu bringen. Die Einheits-Konzeption eines beschworenen modernen Lebensgefühls soll durch die scheinhafte Pluralität der Erscheinungen gewährt werden: Variationen einer Typologie, aber nicht auseinandertreibende Wirklichkeitsmodelle. Alles wird auf den Geist von Sonne, Licht und Hygiene verpflichtet. Da der Sozialismus sich seit Marx wissenschaftlich versteht, als szientistisch geläuterter Kapitalismus wie als meta-technische Befreiung der bürgerlich beschränkten industriellen Formvernunft, kann es nicht wundern, dass im Design die wesentliche Bewährungsprobe der Anschein eines ungehinderten, unverstellten Gebrauchswertes darstellt. Eine trickreiche Eliminierung des Ästhetischen gerade wegen seiner technologischen Vollkommenheit. Das bedeutet aber, dass das Einheits-Design einer DDR grundsätzlich die Vision der Moderne teilt, auch wenn es deren ästhetischen Anspruch unbeschreiblich unterbietet. Ließe sich die Vision von einer einheitlich geformten Welt mit allen verfügbaren Instrumenten durchsetzen, dann wäre darin die Aufhebung der Warenästhetik einprogrammiert. Ob eine Partei-Bürokratie oder ein ideeller Gestalterclub die Einheit durchsetzt, mag sich aufs ästhetische Niveau auswirken, Monotonie einer geschlossenen Gebrauchs-

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güterkultur ist in beiden Fällen unvermeidlich. Über Stilunterschiede hinaus teilen alle Auffassungen von einer technisch befreiten Moderne, dass kein Winkel des Wirklichen von der Gestaltung ausgenommen bleiben solle. Das Design der Dinge demonstriert in jedem Fall die perfekte, reine Form. Der Gebrauch spiegelt die Vernunft der Gesellschaft und soll möglichst keinen ästhetischen Irritationen ausgesetzt werden. Da in der wissenschaftlichen Gesellschaft des Sozialismus alle Bedürfnisse in den reinen Gebrauchswerten des sittlich-solidarischen Kollektivs befriedigt sind, erscheint die stoffliche Seite als überflüssig und regressiv. Design wird zum Spiegel für das Niveau der Produktivkräfte. Das erzeugt, da die Bedürfnisse prinzipiell befriedigt sind, eine Aura, die noch an den erbärmlichsten Leistungen den unübertrefflichen Stand des technischen Komplexes beschwört. Die Enthobenheit von psychologischen Begründungen gilt für das Selbstverständnis des sozialistischen wie des klassisch modernen Designs. Die perfekte Form anästhetisiert das von der Spiegelung der Idee Wegführende. Darunter wandern die Wünsche in die Versprechen der alltäglichen Massenkultur ab. Hüben wie drüben mochte man nicht unentwegt die Formanstrengungen der absoluten Idee loben und zog es vor, sich dem Glanz der Dinge noch dort hinzugeben, wo kritische Theorie manipulierte Entfremdung und falschen Schein diagnostizierte. Es blieb, immerhin, Schein und damit veränderlich, wohingegen die ästhetische Kirche der Moderne und die politische Transzendierung der Geschichte im Sozialismus Veränderungslosigkeit – mit positivem Pathos – anstrebte. Die kapitalistische Medienästhetik modelliert die von der Moderne abgedrängten Wünsche, die Psycho-Motorik der Libido. Kein Leben offenbar langweiliger als das einer funktionalen Moderne oder einer wissenschaftlichen Politik mit ihrer penetranten Beschwörung der unzerbrechlichen Einheit von befreitem Leben und der Emanzipiertheit des Gebrauchswerte-Subjekts. Solche Systemstrategie spielt sich diesseits einer möglichen Emanzipation der alltäglichen Wünsche ab. Die Gestaltung des Alltags wird dementsprechend auf die Selbstbehauptung reiner Formen ausgerichtet. Klagte nicht das Bauhaus eine sozialistische Planungsvernunft in der angestrebten Synthese mit der Industrie ein? Beinhaltete das nicht die Transformation des Kapitalismus, sei’s in eine wissenschaftliche Politik, sei’s direkt in eine Diktatur der Wahrheits-Inhaber? Ergibt sich daraus, auf dem Hintergrund der historischen Ereignisse, nicht notwendig eine sozialistische Einheitsmoderne? Da die Vernunft automatisch auf die Bürokratie überging – Lenins ‚demokratischer Zentralismus‘ –, dienten der Technikfortschritt und die Indus­ trie nicht der Einlösung von Bedürfnisversprechen, sondern der Selbstbeschwörung des Gesellschaftskonzepts. Das Produktedesign war bestenfalls ein Hebel der ästhetischen Exekution entsprechender Kommitee-Beschlüsse. Die Auslöschung des Unterschieds zwischen Tausch- und Gebrauchswert gibt einen Standard bewährter Rationalitätsvorstellung ab, der für die Befreiungstheologie des Marxismus ebenso gilt wie für die sozial­ ästhetische Modernisierung. Gewiss: Corbusier hätte sich mit dem ästhetischen Niveau niemals anfreunden können, das seine Söhne und Enkel vorgelegt haben. Aber die Demonstration reinen Gebrauchswertes unter Ausschluss aller Abweichungen, die ideelle Anästhetisierung einer stofflichen Welt zu Zwecken der Demonstration von Evolutions­

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spekulation und Geschichtsphilosophie, die Ästhetisierung der reinen Form, die das Allgemeine der Natur den Niederungen des Sensuellen entreißt – dies alles begründet, weshalb die Einheitskonzeption der Moderne zum Einheitsdesign des SED-Staates, zur Bürokratie der gelenkten Folgsamkeit hat werden können. Dass diese Kontinuität den alltäglichen Wünschen ebenso Hohn spricht wie den verwirklichten Leistungen, ist deshalb zu erinnern, weil die Hinweise auf Technologieprobleme allzu leicht die Identität einer unerbittlichen Vernunft als leitendes Prinzip vergessen machen.

Kontinuität der Moderne und Formalismusdebatte Unvermeidlich steht einer der Helden der klassischen Moderne, Mart Stam, am Anfang der DDR-Designpolitik. 1948 wird er Rektor der Akademie der Künste und der Hochschule für Werkkunst in Dresden. Seine Antrittsrede belegt, dass er die Fortsetzung der durch die Moderne ethisch-ästhetisch begründeten Volkserziehung auch in neuer staatlicher Ordnung verfolgt. Das kulturelle Niveau solle gehoben, das Empfinden für das Wohltuende geschärft werden. Die Bildung des Geschmacks versteht Stam als Veränderung des Bewusstseins bei Werktätigen, Bauern und Arbeitern. Seine Argumentation reagiert keineswegs auf eine gesellschaftliche Umwälzung, sondern hat deren Form schon strategisch für die Zwecke einer eigenen Ästhetik vorweggenommen. Wer die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – in offizieller Sprache: fortschrittliche Kräfte für ein fortschrittliches Land – in den Dienst solcher Ästhetik nimmt, bewegt sich in der Falllinie der klassischen Moderne. Stam führt weiter aus, dass geistige Klarheit zum besseren Produkt führe, die verbesserte Technologie zur Endform, das abschließende Resultat zu einer letzten, einer industriellen Form. Die ultimativ geläuterten Zustände des Bewusstseins erzwingen zumindest die Behauptung einer allen Überflusses entkleideten reinen Form der Dinge. Insofern ist die Wissenschaftstechnik der Feind des Ästhetischen: Sie zielt auf perfekte technische Versorgung der Menschen mit Energie. Ein ästhetischer Eigensinn steht einzig für das noch nicht Durschaute und zeigt das Feld an, wo Fortschritt dergleichen Unbegriffenes anzugehen hat. Die sozialistische Bürokratie wird zu einem nachträglichen Spiegel für die moderne Designtheorie. Dass die technische Verwirklichung Mangel produziert hat, macht die Zynik eines ausgezehrten Alltags aus, in dem Mangel zur Tugend verklärt, dysfunktionale Notstände zum Beweis des Letztgültigen umgebogen werden: Am Prinzip ändert das nicht. Nachdem Mart Stam 1950 Rektor der Hochschule für angewandte Kunst in Ostberlin geworden ist und das Institut für industrielle Gestaltung (IFIG) auf, Hochschulniveau gründete, blies der III. Parteitag der SED allerdings zum „Kampf gegen den Formalismus“. Als Stam 1953 die DDR Richtung Amsterdam verlässt, scheint die Front gegen den Funktionalismus geeint. Der Kalte Krieg erzwingt eine Konzeption, in der Gropius und Mies van der Rohe, beide ehemalige Direktoren des Bauhaus, als Handlanger der imperialistischen USA diffamiert werden können. Das aber lässt sich ohne Denunzierung

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des Funktionalismus schwerlich bewerkstelligen. Neu entdeckt wird das Ornament, die Heimat. Der geförderte Kult und die Rückbesinnung auf sogenannte ‚nationale‘ Werte belegen eine Synthese des Form-Sozialismus mit dem Kleinbürgermief einer Verklärung des Hässlichen zum Schönen. Paradoxerweise beginnt mit dieser erzwungenen Umwandlung eine alltägliche Differenzierung der Wahrnehmung, deren Abwandern in die Waren- und vor allem Medienästhetik des Westens die Bewusstseinspotenziale bindet, an denen die DDR-Bürokratie scheitern wird. Die Kultivierung des Hässlichen, geboten durch das Fehlen von Alternativen, schärft das Bewusstsein, das sich an der sichtbar werdenden Korruption der Parteibonzen radikalisiert. Die Wahrer der reinen Form, die intellektuellen Propagandisten der sozialistischen Egalität fahren nämlich längst ‚Volvo‘, nicht ‚Wartburg‘, benutzen weder ‚Granat‘ noch ‚Debüt‘ oder ‚akkord‘, sondern ‚Philips‘ und ‚Telefunken‘. Die Moderne des Westens musste ihren Siegeszug an einem vergleichbaren Punkt abbrechen. Die Menschen mögen sich ästhetische Differenzierung und die Identifikation mit Umgebungseinrichtungen auf Dauer nicht von Designkünstlern abnehmen lassen und finden die Banal-Serien der Television interessanter als die angemahnte Langzeitausbildung zum kulturfähigen Mitglied einer hochstufigen, selektiven Moderne. Das ist der Kern der Formalismusdebatte. Als die Heimatwelt des US-amerikanischen Glamours in den 1950er-Jahren den Schwung der Produkte bestimmte und in Ornamenten heimisch wurde, stellte die SED bündig fest: „Ein Besteck ohne Ornament ist Formalismus.“ Und Formalismus ist volksfeindlich, eine Waffe des US-Imperialismus. Ökonomischen Zwängen und politischen Strategien kam die ornamentale Abfederung der FunktionsNotstände mehr als nur gelegen. Nun wurde den Helden des Bauhaus Maschinenkälte und Degradierung des Menschlichen, Entfremdung und Verachtung einer wohlverdienten Ruhe vorgehalten und die Rückerinnerung der Werte der Heimatkunst gefordert. Nicht mehr die Fabrik, sondern Wohnen und Privatheit seien die Gelenkstellen der sozialistischen Bewusstseinsbildung. Über die Eingliederung des Menschen in das sozialistische Fabrikkollektiv hinaus gelte es, den emotiven Ausdruck und die intim-individuelle Identifikation zu pflegen. Auch hier konnte, wie vordem, der kulturelle Erwartungshorizont direkt aus einem verordneten ästhetischen Konsens abgeleitet werden. Der ergab sich, wie noch bei Hein Köster im Katalog Design in der DDR (1968) ausgeführt, aus den Zielvorgaben einer ‚menschenwürdigen, materiellen Kultur‘. Eine perfekte Konstruktion: was immer als menschenwürdige Kultur verschrieben wurde, konnte sich automatisch auf den ästhetischen Konsens berufen, dessen Interpretation sie durch die Effekte ihrer Verordnungen bewirken konnte. Je nach Beschluss über die Tücken des Klassenfeindes konnte das Pendel des bürokratisch definierten Arbeiterbewusstseins auf die Seite eines biologisch verengten Funktionalismus oder, gerade entgegengesetzt, auf die eines sozialistisch ornamentierenden Heimatsstils ausschlagen. Haltlos ist das immer schon wegen der Korruption gewesen. Die Produktion war längst aufgespalten in Export und innere Versorgung. Letztere konnte getrost im Maße des Technologiedefizits zum Ausdruck sozialistischer Wohnlichkeit verklärt werden. Erstere zog zwar wegen extern gesetzter Funktionsforderungen Kapazitäten aus der Selbstversorgung ab, konnte aber den inneren Leistungsausweis eines modernen

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­Standards auch dann preisen, wenn dieser, zu Beginn der 1960er-Jahre, an den Pranger des Formalismusvorwurfs gestellt wurde. Diese doppelte Öffentlichkeit lässt den Schluss zu, dass die Verarmung der Bevölkerung eine bewusst verfolgte Strategie gewesen ist. Damals operierte man mit der Maxime „sozialistisch im Inhalt, national in der Form“ und erklärte Ornament, Dekor und Webmuster zu Ausdrücken einer nationalen Differenzierung, zum Instrument einer ästhetisch aktualisierten Integration von Kunst in Gesellschaft, von Design in Technologie, von Kunst wie Design in den Plan berechneter und regulierter Bedürfnisse. Die Konkretisierung der Revolutionstheorie versprach nicht länger eine dereinst zufallende Überfülle von Nahrung und Genuss, sondern erzwang die Selbstdif­famierung einer Bedürftigkeit, die über den Spiegel der gesellschaftlich definierten und zugänglichen Güter hinausging. In dieser Übergangsphase diktierte vergeblich der Klassen­feind den Grad der Askese. Das erbärmliche Elend, die brachiale Hässlichkeit des DDR-Designs belegen aus interner Sicht keine gestörte Beziehung zwischen Kultur und Natur, sondern verwirklichen das konkret mögliche Maß eines geformten Lebens, dessen Prinzip sich noch dort bewährt, wo die Untauglichkeit der Alltagsgüter ins Auge springt. Der Gesellschaftskörper wird nach Vorgaben dieser Vernunft manipuliert, Bedürftigkeit ­gerät in die Grauzone des Verdachts, bourgeois entfremdeter Künstlichkeiten dort zu bedürfen, wo doch endlich die Naturgeschichte durch den gesellschaftlichen Plan überwunden worden sei. Die Ausgrenzung des Alltäglichen – als konkretes, gemeines, nicht als regressiver Arbeitsgegenstand – ist der Angelpunkt aller Modernitätskonzepte. Der Funktionalismus blendet seit dem Bauhaus zunehmend andere Bedingungen aus, beispielsweise solche der Gestaltqualität. So ist Dysfunktionalität immer schon unzureichend nicht allein gegenüber den Funktionszielen. In die Schere zwischen dem Funktionsversprechen einer anderen Gesellschaft und ihrer ästhetisch katastrophalen Ausdrucksweise bricht nun, nach dem Ende des realen DDR-Sozialismus, das altlinke Kulturerbe ein. Das zeichnet sich seit je durch den Hass auf ‚abgehoben‘ Ästhetisches aus. Die Sehnsucht nach einer ‚anderen Kultur‘, deren materielles Elend nie hat erfahren werden müssen, erzeugt die neue Idylle. Plötzlich ist, was vorher als Elend gescholten oder als noch nicht ganz gelungene Technologie entschuldigt wurde, eine eigene, in sich gefügte Kultur. Die Versorgungsprobleme verwandeln unterm postumen Blick linker Idylle sich in Metaphern einer einzigartigen ‚Kultur der Armut‘. Das mindestens wollen uns diejenigen einreden, die, mit uns, vor dem Reichtumsschwindel und den Ressourcenzerstörungen des Westens stehen und verzweifelt dort Qualitäten entdecken, wo Differenzierungen durch reduzierte Angebote auf überleben und kleine Nischen verpflichtet worden sind. Ein bloßes Problem des ‚Standpunkts‘ der zu wählenden Optik: Die Selbstdenunzierung sozialistischer Tiefwertigkeitsproduktion und die Denunzierung des politischen Systems weichen den Lobpreisungen einer Pauperisierung, die nicht mehr vom System geplant und durchgeführt, sondern als genuine Fähigkeit des Widerstehens in den Eigensinn vorgeblich ganz anderer Dinge eingegangen sein soll.

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Nulldesign? Totalbetrug! Schenken wir uns die Hinweise auf Marken und Produkte, Verpackungen und Signete, Logos und Tüten, Dinge und Arrangements, verzichten wir auf die Nachzeichnung der Chemie der Schönheit, die im Plastik-‚Plast‘ einen identitätslosen Ausdruck der Gesellschaft findet, erwähnen wir nur kursorisch den großen Einfluss der Hochschule für Gestaltung in Ulm, dieser letzten universalen Bastion einer Weltgrammatik ‚Design‘, einer Universalsprache Geometrie, der bildnerischen Elementarsyntax des Vollkommenen, der Konstruktion des reinen menschlichen Geistes in den perfekten, reinen, problemlösenden Dingen, welche Rhetorik für die DDR-Selbstdarstellung, wenn auch nicht für die Produkte, eine große Rolle spielte, lassen wir auch die wesentliche Frage beiseite, wie ein Sozio-Design des sozialistischen Alltags im Blick auf die Befreiung von der Geschlechtergeißel und eine Perfektion der Apparate für alle Fragen der gesellschaftlichen Verkehrsformen aussehen müsste, verlassen wir also das DDR-Design und wenden uns seiner Mythologisierung zu. „Die Waren, die im einstigen ‚Drüben‘ anstanden sind, haben eine Identität des Banalen, des Unausgegorenen, des Improvisierten, jedoch des Menschlichen, weil Fehlerhaften.“2 Obzwar an Fetisch-Mangel leidend, überzeuge die so ‚ganz andere Sprache‘. Die eigene Warenidentität, welche die DDR ausformen konnte, lebe von der so wertvollen, kapitalistisch so längst zerrütteten Moral der Schlichtheit. „Die während bzw. trotz einer dogmatischen Diskussion über Jahrzehnte entwickelten Produkte könnten sich als Keim einer neuen Moral der Schlichtheit erweisen, mit der das Land eine eigene Warenidentität ausformen kann. Aber auch wesentliche Teile der Diskussion, wenn sie losgelöst vom Heilsversprechen des Sozialismus verstanden werden, können eine Orientierungshilfe im nächsten Jahrtausend werden; besonders das unermüdliche Insistieren auf den ethisch negativen Eigenschaften der Wegwerfgesellschaft. Damit könnte die Deutsche Demokratische Republik gerade im Bereich des Designs gegenüber der BRD eine positive Eigenständigkeit gewinnen. Die asketische Entwurfshaltung des Bauhauses, das heute mehr denn je als Teil der DDR-Identität verstanden wird, kann dabei behilflich sein.“3 Als ob das Bauhaus nicht in der Formalismusdebatte gegen solche Heimat stand. Als ob das Heilsversprechen des Konsumismus nur ein ethisches und nicht auch ein ästhetisch lockendes, verführendes, ausschweifendes Phänomen ist. Als ob die Menschen der ehemaligen DDR nun nicht gerade die Wegwerfgesellschaft wollen, die ihnen verspricht, was die alte Schlichtheit unmoralisch durch Schlamperei und Betrug verhindert hatte. Als ob das Insistieren auf den Problemen der Wegwerfgesellschaft auch nur einen einzelnen Menschen an der Verschmelzung mit der Warenästhetik gehindert hätte. Als ob so der Technologieengpass in positive Qualität umgelogen werden könnte. Eine wunderbare Konstruktion: Drüben haben wir die wahren Dinge für das nächste Jahrtausend, während die Menschen ins Letzte des Konsumkapitalismus mit aller Kraft und nicht nur schlechten Gründen zurückstürmen möchten. Hier haben wir die gutgläubigen Menschen fürs nächste Jahrtausend, während die Dinge uns drastisch zeigen, dass wir Zukunft längst verspeist haben.

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Moralappelle gehören zum Repertoire der Moderne wie der linken Opposition. Wie umstandslos aber die frühere Rückständigkeit unterm Zugriff der Bescheidenheitsforderung an andere zum Ausdruck einer heimlichen Widerstandskultur umgebogen wird, verblüfft doch. Die postume Ehrung speist sich nicht aus der schlagartigen Verdrängung des Elends allein, sondern der durch Moderne und Marxismus gesteigerten Idealität reiner Formen, in denen die Gesellschaft sich dem Bestehenden einschreibt. Diese Behauptung war gerade nicht einzulösen. Am Auseinanderdriften der hierarchisierten Kooperationsformen der Arbeit von den die Produktion aneignenden Verfeinerungen der alltäglichen Wünsche war die Krise des Systems auf Dauer gesetzt. Rhetorik versucht, von der anderen Seite her und im Nachhinein, ein vorgeblich bedürfnisloses Funktionsdesign in die Selbstbestätigung des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts umzumünzen. Diese Mythologisierung wird stellvertretend von den Entdeckern eines postumen Charmes des Menschlichen weitergepflegt, obwohl feststeht, dass die von ihnen beschworene Differenziertheit und Autonomie der Bedürfnisse längst nach bürokratischen Normen ausgerichtet und in eine sozialistische Produkte-Ästhetik eingepresst worden war. Die Abspaltung von Technik und Alltag, Produktionsplan und Selbstversorgung spiegelt sich in der Organisation des Designs. Funktionalismusansprüchen könnte letztlich ohnehin nur die Verwissenschaftlichung aller Design-Komponenten in einem strikten Sinne genügen: Design als mathematische Formel.4 Nur in den formalen Sprachen lassen sich Ideale identisch abbilden. Das Design einer HightechGesellschaft kommt dem am nächsten. Im klassischen Industriedesign mag sich der ­Ingenieur-Positivismus noch vorstellen, dass die Technik ‚sich selber ausdrückt‘. Für solches Technikdesign ist in der DDR die Debatte um Heimat, klassengerechtes Ornament und das Nationale nie geführt worden. Umgekehrt würde der Zwang der telematischen Kultur, die räumliche Leere der Funktionsumgebung mit Attitüden und Styling aufzufüllen, die industrielle Lebens-Ausstattung sprengen und verunsicherte die beschworene Koppelung von Askese und reiner Gebrauchsform. Das DDR-Design stellt ohne Zweifel eine ästhetische Schwundstufe der Moderne dar. Technologisch gibt es im Prinzip an der genuinen Fortsetzung der klassischen Moderne nichts zu rütteln. Die Organisation der Form reduziert Ästhetik auf Beiwerk gerade in der Anstrengung einer Vereinheitlichung der Stile. Produktion und Konsumtion, Erzeugung und Darstellung, Herstellung und Aneignung sollen nicht mehr getrennt werden. Alles erscheint als produktiv. Ist nicht das die Verwirklichung des modernistischen Konzepts diesseits aller Gestaltungsträume? Denn wenn immer Formen in die Idee eines bloßen Funktionierens gepresst werden, stellt sich Verarmung, unabhängig vom ästhetischen Ausgangsniveau, zwangsläufig ein. Das ZK einer kommunistischen Parteibürokratie hat dieselbe elitäre Bewusstseinsstruktur wie der verschworene Gestalterclub der Moderne seit den C. I. A. M-Kongressen. Was bewirkt, dass die kontrollierte Selbstdarstellung der historischen Mission vergleichbar dogmatische Textsorten produziert. Die Rede von der Funktionsvollkommenheit der Maschine zeigt eine Vereinigung entfesselter Technik mit avancierter Kunst unter Anleitung der Baustrategen an. So hat das Bauhaus alle beteiligten Sonderberufe und Teilkulturen im Bauplatz einer umzuwälzenden Gesellschaft zusam-

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menführen wollen. Experten der Designprogramme hatten dafür zu sorgen, dass die Differenzen zwischen freien und angewandten Künsten, Industrie und Ästhetik, Technologie und Alltag entweder aufgehoben oder mindestens nicht wahrgenommen werden konnten. Technische Planung liquidiert die Unwägbarkeiten. Ein neurotischer Ordnungsbürokrat steht der Entwicklung eines Hannes Meyer nahe, der, Bauhaus-Direktor und mit Mart Stam in den 1920er-Jahren Redaktor von ‚ABC‘, eine konsequente Laufbahn vom Gestalter heimatlicher Gartenstädte zum urbanistisch perfektionierten Industriekommunismus ohne ästhetische Irritation durchlaufen hat. Das Verschwinden des Alltags in der Politik entspricht dem von Hannes Meyer, Mart Stam und auch vom De Stijl geträumten Traum vom Verschwinden der Kunst im Leben.

Behauptete Unschuld, die Rache der unverarbeiteten Gefühle Dass die Qualitäten des DDR-Designs erst nach dem Zusammenbruch des Systemsozialismus entdeckt werden, hat mit den DDR-Produkten wenig, dem Mythenbedarf westlicher Systemkritik viel zu tun. Was an kargem Charme der Autonomie des Besonderen, einer Unverwechselbarkeit der Kultur bis hin zu einer krypto-ökologischen Konsumverweigerung entdeckt wird, folgt dem Mechanismus, in dem Designhistoriker und Kulturstrategen stellvertretend für andere, wenn auch selbst ernannt, Abbitte leisten für die anti-ökologische Konsumlawine, die man den Leuten von ‚drüben‘ schon deshalb nicht wird vorenthalten können, weil nur durch Prestige-Differenzierung das warenästhetische Versprechen dem Schein nach eingelöst werden kann. Eine Art mentaler Ablasshandel, der Mangel in Überzeugung verwandelt. Einer der Vorreiter dieses mentalen Kompensationsrituals ist Gert Selle, prominenter Designtheoretiker, der in den letzten Jahren durch eine Reihe wahrnehmungspsychologischer Beschreibungen vom Umgang mit Dingen hervorgetreten ist. Im Katalog Vom Bauhaus bis Bitterfeld. 41 Jahre DDR-Design schreibt er unter dem Titel „Die verlorene Unschuld der Armut – Über das Verschwinden einer Kulturdifferenz“ das bisherige Glanzstück linker Kulturlegitimation. Selles Position wird deutlich im Kontrast zu früheren Arbeiten. In seiner „Geschichte des Design in Deutschland von 1870 bis heute“ (erstmals publiziert 1978) schreibt er: „Es scheint nicht im Interesse der politischen Führung der DDR gelegen zu haben, eine kulturpolitisch offensive, emanzipatorische Entwicklung einzuleiten, die zu einer erkennbar sozialistisch geprägten Alltagskultur hätte führen können.“5 Der kulturelle Ausdruck des Arbeiter- und Bauernstaates sei verdinglicht und folge denselben Konsumleitbildern wie der Westen6, man orientiere sich an der Propaganda für die ‚gute Form‘,7 Konsum­bedarf und designpolitische Norm würden auseinanderdriften. DDR wie BRD hätten Design von oben verordnet, was den Kleinbürger erfreut habe. Eine sozialistische Formkultur sei nirgends auszumachen, zu stark glichen sich die Mechanismen. Selle vertritt durchgängig eine sozialästhetische Design-Konvergenztheorie. Die BRD habe leider auf eine ‚volkspädagogische Geschmacksumorientierung‘

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verzichtet. Dazu hätten in der DDR immerhin Chancen bestanden, „wenn nicht auch hier die Gesetze der Warenproduktion allmählich zur Geltung gekommen wären“.8 Die funktionelle Rationalisierung erschien dem linken Kritiker damals als Ausdruck der jede revolutionäre Aneignung verunmöglichenden Systeme in beiden deutschen Staaten. Die heutige melancholische Beschwörung der Unschuld einer Armutskultur folgt demselben Schema, wobei Inhalte ausgewechselt werden: So wie der radikale Kritiker damals einen reinen Kommunismus ohne pragmatische Widerstände durch politische und ökonomische Folgen der Kriegsverelendung hüben wie drüben gleichermaßen haben wollte, so möchte der linke Sentimentalist heute mindestens einen treuen Zeugen für die mögliche Selbstbescheidung zum vor-konsumistischen ‚menschlichen‘ Leben. So konnte der funktionelle Rationalismus als Verrat an den Lebensformen beschrieben werden,9 im Übrigen habe sich die übliche Warenproduktion auch im realen Sozialismus längst durchgesetzt. Was kann da noch untergehen? Gewiss soll ein Historiker dazulernen, wenn man auch wissen möchte, weshalb sich die lebensgeschichtlichen Erfahrungen von der Theoriebildung so drastisch abspalten, dass die Wiederentdeckung der Ersteren unvermittelt zur Umwälzung der Letzteren zwingen. Was Selle im erwähnten Aufsatz schreibt, ist keine individuelle Fehlleistung, sondern Ausdruck einer kollektiven Verzerrung. Für diese wird der reale Sozialismus erst dann zu einem möglichen Ausdruck von Selbstorganisation, wenn er gescheitert ist. Und auch das nur unter der Voraussetzung, dass sein Zerfall kapitalistisch, also kolonialistisch mitbefördert wurde. Mit dem vordem Denunzierten lassen sich neue Bündnisse im gespenstischen Traum schließen, der an die Stelle einer verlorenen Einheit der Linken die Sprache des Sentiments setzt. Die scheinbare Veränderung der Argumentation an der Oberfläche bestätigt die gängige modernistische Konzeption in ihrer populistischen Variante. Die Trauer um den Charme des Eigenen ist eine rhetorische Verzierung im gewohnten Lied, das ein weiteres Mal eine vom Kapitalismus abweichende Kultur untergehen sieht. Wenn aber diese Kultur nur Spiegelbild kolonialistischer Warenproduktion gewesen ist: Was ist dann der liquidierbare Überschuss? Offenbar nur die überalterte Gestalt des eigenen Dogmatismus. So macht Selle vom hegemonialen Kapitalismus bedrohte Nischen dort aus, wo vorher Warenästhetik vorherrschte. Begierden seien stillgehalten, nicht aufgehoben worden. Das Kleinbürgertum entpuppe sich zu einer subversiven Kraft. Der Kulturraum der DDR wirke zwar armselig, aber keineswegs asketisch.10 Eigenproduzierte Güter hätten immerhin einen gewissen Reichtum bedeutet. Der technologische Funktionsstandard sei beachtlich. Aus heutiger Sicht Kultur, die einer exogen erzeugten Agonie anheimfalle, aber „einst funktionsfähige, identitätsstiftende, kulturelle Reproduktion“11 gewesen sei. Selles Vorliebe für die der BRD überlegene Designtheorie hilft ihm über die Wahrnehmung devianter Phänomene hinweg. Nach dem Verschwinden des Realen kann er darin symbolisch lesen, was er erkennen will: kategorial bewährte Verbindungen von Technologie und Ökonomie, Lebensform und Indus­ trie. Die Theorie sei, da gesellschaftsorientiert, überzeugend. „Aus der Sicht des ehemaligen ‚Westbesuchers‘ möchte ich behaupten, dass es einen DDR-typischen Begriff der Schicklichkeit, eine Übereinkunft in der materiellen Kultur gab, die sich zwischen alt-

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und neo-kleinbürgerlichen Allerweltsdekorationen und der Angestrengtheit eines ‚good design‘ zuverlässig reproduzierte.“12 Als ob Selle jemals mehr ‚Westbesucher‘ gewesen wäre als heute, da sein Wunsch-Orient der Bescheidenheit nicht mehr existiert. Die Dekretierung der unschuldigen Armut bedarf einer Denunzierung des schuldigen Luxus. Die folgt der obigen Idylle auf den Fuß. „Wer hat nicht schon seinen Trabbi verflucht und sich in den 320er BMW geträumt, der eben vorbeizischte? Dabei ist das schwarze Ding auch bloß armseliger Yuppie-Traum einer anderen kleinbürgerlichen Klasse von Möchtegern-Aufsteigern, die aus der Uniformität ihrer Abhängigkeit von Life-Style-Symbolen nicht herauskommt.“13 Die soziologische Falschheit dieser Gefühlssteigerung ­belegt, dass Design weiterhin ein Deckmantel für unverhohlenen, unausgelebten Erziehungsterror sein kann. Die Feier der armen, aber ehrlichen, der „ehrwürdigen Mangelkultur der DDR“14 hat zum Realen die Geschichte der Eigentums- und Besitzverachtung, die im intellektuellen Zynismus der spätmarxistischen Mangelprediger eine drastische Ausdruckssteigerung erfährt. Das Lob der Askese führt zwangsläufig zur Diffamierung von Souveränität im Sinne von Georges Bataille und Herbert Marcuse. Es zieht den Bedürfnisbestimmungen die Organisation des Mangels als Gleichschaltungsinstrument kapitalistischer wie realsozialistischer Entmündigung vor. Die Reduktion des Lebens auf Arbeit und Mangel, die Selbstüberwindung von Eros und Libido, die der Gefolgschaft der ungeständigen Mitleidenden bedarf, eliminiert jede ästhetische Differenzierung, die nicht die Gebetsmühle der Reproduktionsnotwendigkeit leiert. Es kann nicht wundern, dass Selle den Sinn des anderen Lebens vorwiegend als Alternative zu den „postmodernen Zynismen meiner Herkunftswelt“ 15 sieht. Bleibt ein Idealismus, den der Westen nicht kenne. Wie auch immer die Abgrenzung vom „ideologischen Gestrüpp, schwer verständlich bis in die Sprache hinein“16 erfolgen kann, sie meint ein Unbedingtheitsideal. Der Jargon der Eigentlichkeit kehrt zur Feier eines Funktionalismus zurück, der den Designer immer als Ingenieur der Gesellschaft, den Politiker als Designer der Lebensformen, beide als Legitimationsfiguren der Avantgarde versteht. „Wenn ich von Unschuld der Armut spreche, meine ich die relative Direktheit der Bedürfnisse, die Unmittelbarkeit des kollektiven Anspruchs auch an die Verpflichtung der Designer.“17 Der Designer setzt Bedürfnisse nach Heilsplankenntnissen frei. Direktheit und Unmittelbarkeit gibt es nur in der theologischen Denkfigur einer geschichtlichen Verfallszeiten enthobenen Gemeinschaft der Wahren und Erlösten. Was bleibt dagegenzusetzen? Alltagskultur hat ihre Resistenz darin, dass sie sich allen von oben geltend gemachten Modellierungsbestrebungen zu widersetzen trachtet. Auch denen der wohlwollenden Designtheoretiker, die den Populismus entdecken, wenn ihr Einfluss auf den Nullpunkt abgesunken ist. Die herausragende Bedeutung des „gewöhnlichen Designs“18 besteht darin, dass dieses schon die andere, die nichtzynische Postmoderne ist, wie das Selle 1983 in der Ausstellung Das geniale Design der 80er-Jahre im IDZ Berlin gezeigt hat. Seine Gegenstände sind kein Beleg des Nicht- oder Null-Designs, das Autonomie als Mangel an Besonderem versteht. Sie stehen für eine flexible Darstellung sich schnell wandelnder ästhetischer Bedürfnisse. Massenkulturelle Designleistungen lassen sich nicht über die Machtfantasien der Moderne verrechnen.

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­ erade weil Objekte Gebrauchswerte sein müssen, gelingt ihre Aneignung nur, wenn sie G als Bedeutungen vergegenständlicht werden. 19 „Arm, aber ehrlich“: das ist ein mit populistischer Anthropologie und schlimmen Absichten versuchter Totalbetrug.

Geschrieben 8 ff. 9. 1991; Erstpublikation unter demselben Titel in: Alles Design, Kursbuch N° 106, Berlin: Rowohlt Verlag, 1991.

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Vgl. Colin Rowe / Fred Koetter, Collage City, Basel/Boston/Berlin 1984, u. a. S. 19 f., 42 f., 46, 82 f. Georg C. Bertsch / Ernst Hedler, SED. Schönes Einheits Design, Köln 1990, S. 12. Ebda. S. 39. vgl. Oswald Wiener, Design für Unbewusste, in: IDZ Berlin/Hans Ulrich Reck (Hrsg.), Design im Wandel, Berlin: IDZ 1984, S. 21 ff., hier bes. S. 28, außerdem ebda. S. 57 ff. 5 Gert Selle, Die Geschichte des Design in Deutschland von 1870 bis heute, Entwicklung der industriellen Produktkultur, Köln: DuMont, 3. Aufl. 1981, S. 164. 6 Vgl. ebda. S. 172. 7 Vgl. ebda. S. 178. 8 Ebda. S. 181. 9 Vgl. ebda. S. 190, 197 ff. 10 Gert Selle, Die verlorene Unschuld der Armut – Über das Verschwinden einer Kulturdifferenz, in: Regine Halter (Hrsg.), Vom Bauhaus bis Bitterfeld. 41 Jahre DDR-Design, Glessen 1991, S. 54 ff., hier S. 54. 11 Ebda. S. 55. 12 Ebda. S. 56. 13 Ebda. 14 Ebda. S. 57. 15 Ebda. S. 60. 16 Ebda. S. 61. 17 Ebda. S. 65. 18 Vgl. Friedrich Friedl / Gerd Ohlhauser (Hrsg.), Das gewöhnliche Design. Dokumentation einer Ausstellung des Fachbereichs Gestaltung der Fachhochschule Darmstadt 1976, Köln 1979. 19 Vgl. Bazon Brock, Zur Archäologie des Alltags, in: ebda. S. 22 ff., hier S. 33.

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VORAUSSETZUNGEN VON DESIGNTHEORIEN – THESEN „Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht ­entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben.“ Franz Kafka, zit. nach Alexander Kluge, ‚Macht Der Gefühle‘

1.  Die Situation des Gestalters heute sieht aus, als habe sich sein gesellschaftliches Bewusstsein in die Luxusnischen zurückgezogen. Das ist die Regel. Mit ihr kann sich der Gestalter trösten, dass es ihn und die anderen Designer immer brauchen wird. Als Leute, die ein Styling liefern können. Die bildende Kunst dagegen, die ja seit Ende des letzten Jahrhunderts (mit der ‚Art nouveau‘) das Vokabular der Designtheorie mit evidenten Bildlösungen beliefert, bewahrt auch heute dagegen eher den Sinnzusammenhang und formuliert die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz, die technologisch und über die Taylorisierung der Arbeit dem guten Design im Grunde immer verwehrt geblieben ist. Das Design kompensiert – zumindest in den Bereichen, in denen es Güterproduktionsdesign ist – den Verlust der gesellschaftlichen Bedeutung mit einer ästhetischen Regression auf das vorbildliche Modell der Maschine der ersten Industrialisierungsphase. 2.  Das Design befördert eine Produktion von Gütern, die so tut, als sei der Lebenszusammenhang unbeeinflusst von der gesellschaftlich unter gegenwärtigen Bedingungen immer notwendiger werdenden industriellen Fabrikation von Bildern. Die Theorie der Gestaltung ist im Wesentlichen immer noch platonisch ausgerichtet. Sie etabliert Dinge als ideale und gleichartige Abbilder der Wesensgestalten. Gegen die Verdinglichung, wie sie für den warenintensiven und kapitalisierten Lebenszusammenhang typisch ist, ist es notwendig, gerade auf dem Unterschied von Bildbedeutung, Ästhetik und Leben zu bestehen. Die Verfügung über Lebenszusammenhänge hat noch immer eine stark dingliche Form. Im Unterschied dazu bedeutet das Bewusstsein von den Einflüssen der Gestaltung, die Dinge nicht für wichtig zu nehmen, wie sie scheinen. Und im Besonderen, den Begriff der Dinge von dem der Bedürfnisse und der Wertorientierungen zu trennen. 3.  Formulieren wir die Dinge versuchsweise in Bildqualitäten, dann sehen wir: Es gibt keinen bedeutsamen Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung. Es scheint, als ob wir irgendwie damit zurechtkommen müssten, dass die Erfahrungsversprechen der Dinge sich unter dem Zugriff verschiedener Reproduktionstechniken (z. B. der Fotografie) in Informationen verwandelt haben. Dadurch wird, sozusagen, die Substanz der Dinge aufgeweicht. Der Status des Umgangs mit Dingen, nicht ihre Materialität, ermöglicht oder verhindert ihre Bedeutung. Schönheit ist, theoretisch und praktisch, nicht eine Frage der Produktion, sondern der Aneignung.

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4.  Wir müssen nach einer Art von Dingen, Bildern und Erfahrungen fragen, die weder einfach Informationen sind noch einem Typ von Objekten nachgebildet, die prinzipielle Widersprüche und Unerlöstheiten – z. B. das Programm einer Weltkultur als einer autonomen Befreiung der Menschen – als dinglich fassbare Befriedigungen anbieten. 5.  Die gute Form – das könnte nur die Form eines guten, freien Lebens sein. Aber wie finden wir zu einer solchen Gewissheit? Wie lernen wir, mit Selbsttäuschungen und verdrängten Affekten, mit verborgenen Dispositionen umzugehen? Woher nehmen wir die Sicherheit zur Identifikation von Werten, die wir im Umgang mit der Umgebungswelt offenbar brauchen und die wir auf Befindlichkeiten ganz anderer Art übertragen? Jede ästhetisch erläuterte Theorie der Gestaltung ist von – offenen oder verborgenen – normativen Überzeugungen getragen. Es wird zu einer Voraussetzung des Geltungsanspruchs und Sinns von Theorien, diese Inhalte zu reflektieren. Das bedeutet, dass jede Theorie der Gestaltung den Bereich der Produktion der Dinge übergreifen und ihren Referenzund Repräsentationszusammenhang mitbedenken muss. Sie versteht sich dann als ein Strang der Traditionen, die eine Lebensweise im Ganzen ausmachen. 6.  Die Ästhetik der Gestaltung hängt nicht vom Erringen der wahren, richtigen und guten Formen und Dinge ab, sondern von der Demokratisierung der Produktions- und Aneignungsmittel, dem Durchbrechen der instrumentell verformenden Verfügung über Autonomie, Solidarität und der gemeinschaftlichen Versorgung des Lebens mit kulturellen Gütern im weitesten Sinne. 7.  Jede Gestaltung ist die Realisierung einer Möglichkeit unter Ausschluss aller denkbaren alternativen Möglichkeiten. Wenn jede Realisierung auf der Verengung der Möglichkeiten beruht, dann kann Gestaltung für sich keinen Stil beanspruchen, der aus sich selber heraus einen definitiven Problemlösungs- und -darstellungsanspruch liefert. Verstärkt gesagt: Der Problemlösungsbezug von Gestaltung ist der unwesentliche Teil der Gestaltung oder auch: Gestaltung des Unwesentlichen. 8.  Die geschichtlichen und geistigen Hintergrundannahmen der Gestaltungstheorien, wie sie im Deutschen Werkbund entwickelt worden sind, beziehen sich auf eine handwerkliche Ästhetik oder zumindest auf ein Konzept von Industrialisierung, das Wertbeständigkeit und Funktionalität, Dauerhaftigkeit und Schönheit der Dinge gegen die Kommerzialisierung und Ökonomisierung ihrer Funktionen sichert. 9. Diese Hintergrundannahmen sind aus mehreren Gründen und in mehrere Richtungen gescheitert. Von heute, von der Schwelle zur ästhetischen Regulierung des Lebens durch Bilder und privilegierte technologische Nutzungen aus betrachtet, geht es nicht mehr um eine Theorie der Funktionsbegrenzung und der ohnehin illusionären Beschränkung der Ökonomisierung. Es geht vielmehr um eine theoretisch angeleitete Einsicht in die politische und soziokulturelle Verteilung von Lebenschancen und Aneignungsrechten.

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10.  Es gibt keine ‚ganzheitliche‘ Gestaltungstheorie, die den Formen gegenwärtiger Vergesellschaftung angemessen wäre. Und es gibt auf der anderen Seite keine Theorie der Gestaltung, die sich als einfache Begründung von Fall zu Fall konkretisierte. Das bliebe bloße Rechtfertigung jeder Praxis, die sich zunächst an allem ausrichtet, nur nicht an den von der Wunschtheorie zitierten Kriterien. 11.  Eine Theorie der Gestaltung muss, wie jede andere Theorie, sich auf ihren so arg und viel strapazierten ‚humanen‘ Gehalt hin befragen lassen. Was wären Letztmaximen einer so nuancierten ‚humanen‘ Gestaltung? Vielleicht die: Versuche, in einem Kontext und einer Richtung zu arbeiten, die einem emanzipatorischen Begriff des Menschen und der Pflege der natürlichen Bedingungen seines Lebens zudienen. Gegen quantitatives Wachstum, gegen linear-homologen Fortschrittsbegriff, gegen ideologische und geschichtsphilosophische Gehalte der verfestigten Kultur muss eine Theorie der Gestaltung heute erlauben, jede Einheit des Stils und einer als Produktion gelingenden Ästhetik ihrer Falschheit zu überführen. Der Begründungsmodus der Theorie liegt nicht mehr in der Einheit, sondern in der Differenz, nicht mehr in der Totalität, sondern im Fragment, nicht mehr in der Selbstsicherheit des definierenden Verstandes, sondern in der Artikulation im Bereich des Unterdefinierbaren. Was sich selbst in positivistischen Kreisen der Wissenschaft herumgesprochen hat, ist für die avancierte Designtheorie immer noch nachzuholen: die Einsicht, dass Kriterium der Theorie prinzipiell nicht Bewahrheitung sein kann, sondern allein Falsifikation. Die demokratischen Qualitäten einer gesellschaftlich relevanten Theorie der Gestaltung wären auch ihre ästhetischen Qualitäten. Begriffe eines Zusammenhangs der praktischen und der theoretischen Vernunft: Gestaltung kann man verstehen als praktisch nutzbare Einsicht in die Verbundenheit von Lebensbereichen, als Synthese der in Richtung der humanen Maxime formulierbaren künstlerischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, ästhetischen, theoretischen und praktischen Einsichten.

Geschrieben am 17. Dezember 1984 als zusammenfassendes Thesenpapier nach einem mündlichen Beitrag zur ­Tagung des Schweizerischen Werkbundes zum Thema „Gestaltung im Kreuzverhör“ in Aarau im Novem­ ber 1984; gedruckt unter dem Titel „Voraussetzungen von Designtheorien – Thesen“, in: SWB-Information. ­Mitteilungen des Schweizerischen Werkbundes SWB, Zürich, April 1985, S. 5–6.

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IMMER WIEDER DEM LEBEN ­HINTERHER – ­UNERLÖSTHEITEN DER GESTALTUNG IM ­AUSBLICK AUF THEORIEN DES DESIGNS 0 Das Problem des Fortschritts liegt vermutlich im Detail. Die Chancen, mittels Überlegung Technologien in den Griff zu bekommen, unterstellt zunächst, dass Technologien als Gegensätze zu Sprachmodellen beschrieben werden können. Das ist eine Vermutung. Ihre Moral, ihr Zweck ist einsichtig. Die Frage ist allerdings, ob die Absetzung des Menschen von den Technologien diesen die Verankerung in der Natur, jenen die Erhaltung ihrer Subjektivität sichert. Geht man von einem Sprachmodell aus, das die Parameter von Handlungen zwischen Menschen und Maschinen stellt, d. h. formuliert man Systemeingaben, die Handlungen rationalen Steuerungsansprüchen unterwerfen (in dem Sinne, dass die beabsichtigen Zwecke einer rationalen, reflexiven Diskussion zugänglich sind), dann würden nicht allein die ‚inputs‘ für Produktion und produktives Handeln als die objektiven Parameter selber einsichtig und zu Modellen für subjektorientiertes Handeln. Es würde außerdem klar werden, dass dieses gemeinsame, intermediäre System die Variation von Nutzungen ins System der Gestaltungsvorgaben einführt, weil die Nutzung logisch vor der Produktion liegt. Der intermediäre Status dieser Eingaben bedeutet nichts anderes als die Errichtung innovativer Freiräume, von Strukturen auf einer mittleren Ebene der Produktion, sowohl ästhetisch als auch ökonomisch. Kaum eine andere praktische Disziplin ist so stark wie die Sparte der Designtätigkeiten auf Theorie angewiesen, kaum eine Tätigkeit ist in sich theoretisch so stark begreifbar wie die Arbeit des Designs. Denn ohne Weiteres lassen sich geformte Objekte als theoretische Modelle, als ästhetische Wert- und diskursive Sprachkörper verstehen. Und das umso mehr, je unbewusster das praktische Design und je theoriefeindlicher seine Theorie sind. Es bedürfte zu ihrer Orientierung einer nicht-beschränkten Invention, eines praktischen, sozialen, ökonomischen, kommunikativen Rahmens, der nicht auf die nächstmögliche, sondern auf die weitestmögliche Verwertung abzielt. Die kulturellen Aspekte jeder Art von Handeln beschreiben theoretische Konstruktionen, nämlich mögliche Konstellationen von Sinn. Die Anstrengungen von Design – im Bogen von Theorie und Praxis als eines theoretischen Vorgangs artikulierter Verständigung, wie wir uns praktisch verständigen, das ist in gewisser Weise jener praktische Vorgang, den wir geneigt sind, als Beschreibung einer Theorie für ein Handeln erst zur Überprüfung freizugeben – hätten erst noch eine Verbindung von Ökonomie, Technologie und Kultur in einer Weise zu erbringen, die Überlegungen zu Sinn und Normen eines menschengerechten Lebens möglich macht. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist im reflexiven Medium der Sprache kein praktisches, zugleich aber eines, das technisch interpretiert werden kann. Kommunikation und interdisziplinäre Verständigungen haben ihre eigene Ökonomie, einen gesellschaftlichen Ort, der sich definieren lässt als Rhythmus dieser Ver-

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ständigung. Es wäre ein Raum der Innovation, aber es wäre nicht das, was man gemeinhin mit dem ‚poetischen Raum‘ meint. Es wäre ein Ort, dessen Rationalität im Modell maschineller Vorgänge strukturiert werden kann. Maschine wäre verstanden als eine Apparatur, die nicht instrumentellen, sondern Instrumentencharakter hat. In diesem evolutionsgeschichtlichen Sinne ist auch die Sprache eine Apparatur. An diesem innovativen Raum fehlt es. Das ist auch ein theoretisches Problem. Im Anschluss an die aktuelle Diskussion um kulturelle Tendenzen und Voraussetzungen von Design und Designtheorien möchte ich ein Argument entwickeln, das die eindimensionale, nämlich bloß zweistellige Konzeption der Maschine ebenso überwinden soll wie die vermeintlich kulturkritische Entgegensetzung von technischer Maschine und reflexiver humanisierender Verständigung durch Sprache, Bewusstsein und Geschichte. Ich referiere demnach (1.) einige Probleme von ‚Gestaltungstheorien‘, erläutere den aktualisierten Platonismus des vorherrschenden Stilbegriffs in seinen Auswirkungen auf eine universalistische Verdinglichung (2.), untersuche das Design als Ontologie, d. h. die Vorstellung von der Stilreinheit als Maxime jeder Stilordnung (3.) beschreibe einige Probleme im Umgang mit Signifikation (4.), leite das Konzept einer mehrwertigen Logik und seiner praktischen Auswirkungen aus dem Begriff der Information ab (5.) und untersuche schließlich (6.) das Apriori der Funktion für die Ideologie vom Subjekt der Gestaltung. Diese hält man üblicherweise für modern oder gar für ein ‚Paradigma‘, zumindest beispielhaft für die Moderne. Das ist allerdings die Diagnose eines bloß groben und etwas schnellen Blicks. Wer sich dem Selbstverständnis jenes berühmten modernen Subjekts zuwendet, wie es in Zeugnissen, Appellen, Manifesten großer Gestalter dieses Jahrhunderts geäußert worden ist, der stellt fest, dass im Unterschied zur Entwicklung des Diskurses der Moderne1 jenes erwähnte modern-funktionale Subjekt sich selber vorkritisch und nicht selten geradezu religiös versteht. Aber die Widerlegung der lautstarken Ideologie des Postmodernen, sofern sie mehr sein will als eine Selbstkritik des modernen Bewusstseins, nämlich eine neue Moral, ein neuer Stil, ein neues Empfinden, ein neues Denken, kurz all das, was sich so schlecht herbeikommandieren lässt, bedarf einer theoretischen Erörterung eines Denksystems, das in der Geschichte seiner Durchsetzung begründet liegt und nicht im Selbstverständnis von Vertretern einer Ideologie, die zwar Technik und Zeichensystem einer bestimmten Epoche benutzen, aber dies mit Argumenten tun, die in der Geschichte der Argumentation lange vor der Eroberung jener Techniken grundsätzlich kritisiert worden sind; als noch nicht kritikfähiges Subjekt einer Ontologie, die einen naiven Realismus gegenüber der Natur und einen moralischen Sensualismus gegenüber den undurchschauten Mächten der Gesellschaft postuliert, weil sie nicht Schritt gehalten hat mit der Entwicklung der modernen Herrschaftsmittel.

1 Was lässt sich über theoretische Voraussetzungen der Gestaltung oder über Voraus­ setzungen von Gestaltungstheorien sagen? Gibt es, streng genommen, nicht bloß eine

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einzige Theorie, wenn wir darunter den Orientierungszusammenhang der Menschen in der Welt verstehen? Gibt es außer dieser einen Theorie noch besondere Theorien, jene der Gestaltung – nicht eine, sondern mehrere, jeweils für einen Einzelfall zurechtgestutzte und zurechtimprovisierte? Gibt es die Theorie im Kopf des Gestalters, Theorie in den Köpfen der Gestalter, gibt es Theorien in den Köpfen der Benutzer? Decken sie sich? Sind die Codes identisch? Liegen die Dinge als mit sich selber identische, demnach unberührt, irgendwo in der Mitte? Eine Theorie muss mehr sein als eine Rechtfertigung dessen, was man – aus welchen Gründen auch immer – tut; mehr sein als eine Technik zur Absicherung technischer Prozesse. Die Theorie könne, so ist immer öfter zu hören, keine mehr sein, in der alles, was theoretisch bedeutsam ist, also nicht sinnlich, sondern nur abstrakt fassbar, vereint werden kann mit dem, was uns an Inhalten von Dingen und Handlungen eben gerade sinnlich, wenn nicht greifbar, dann immerhin erfahrbar geworden ist. Worin bestehen die konstruktiven Leistungen der Sinndeutung? Was geschieht, wenn wir doch Grund genug haben zu sagen, die Vernunft unserer Begriffe raube unseren Sinnen ihre eigene Welt und werde blind, wenn sie nicht instinktiv mit den praktischen Leistungen des praktischen Verstandes gekoppelt sei.2 Der Konflikt zwischen der sinnbezweifelnden Theorie und dem Sinnfälligen ist der Streit um die Sinnzuschreibungsbedingungen gegenüber einer Mitte, in der sich jene Quellen anthropologischer Gewissheit schneiden. Diese Mitte ist traditionell das Modell der Vermittlung, und die gesamte Geschichte der Philosophie lässt sich als solches Modell einer anthropologischen Vermittlung lesen, die ihren Erkenntniszuwachs als Zuwachs an Krisenbewusstsein definiert. In dieser Mitte sind unsere ästhetischen, technologischen und politischen Vorstellungen immer noch geprägt von der antiken Konzeption einer Harmonie des Ausgleichs. Dazu eine kleine Geschichte, die als mythologische Erzählung über den legendären Wettstreit zwischen dem Gott der Künste, dem strahlenden Apoll, und dem hässlichen, haarigen Satyrn Marsyas überliefert ist. Der ahnungslose Marsyas hebt einmal eine Flöte auf, die er als offenbar verlorene liegen sieht. Es ist die von Athene erfundene und mit einer Verfluchung weggeworfene Flöte. Marsyas lernt darauf spielen und wird wegen seiner Kunstfertigkeit berühmt. Apoll fordert ihn zu einem Wettstreit. Es sieht so aus, als würde Apoll den Streit verlieren. Da greift er zu einer List. So wie er, Apoll, sein Instrument von der anderen Seite her spielen wolle, so solle auch Marsyas seine Flöte von der anderen Seite her bedienen. Natürlich verliert Marsyas den Streit wegen dieser Wendung und erleidet als Strafe eine Folter, die mit seinem Tod endet. Damit ist die Ordnung wieder hergestellt: Die mit aufgefundenen Sachen arbeitende niedere Kunst (anders: die auffindende Kunst) unterliegt der Oberherrschaft der klassischen Kunst. Die Hochsprache der Kunst triumphiert – sie hat sich gelöst von den niederen und zufälligen Verunreinigungen. Auf der anderen Seite versinken die Fundstücke wieder im Schweigen. In den Metamorphosen des Ovid wird uns berichtet, wie aus den Tränen von trauernden Bauern und Satyrn ein Strom wächst, der Schicksal und Lied des Marsyas in alle Welt trägt. Nicht so sehr als Melodie um den geheimen Namen des leidenden Marsyas, sondern als Trauerklage und flüchtige Erzählung über den Verlust der

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einmal gefundenen wahren, schönsten Kunst – der Wendung nämlich des Lebens als Ordnung, die für den Menschen die Form des Zufalls annimmt. Eine Stelle aus Epikurs (341–270 v. Chr.) ‚Anweisungen zum glücklichen Leben‘ liest sich wie ein Fazit des Verlustes, den die Konfrontation zwischen den Fundstücken und den Kunststücken erzwingt. „Es ist besser, den Fabeln der Göttergeschichte zu glauben als sich unter die Schicksalsidee des Gelehrten zu beugen, denn die ersteren lassen Hoffnung und Gnade durchblicken, die letztere aber besteht in eherner Notwendigkeit.“ Wenn ich recht sehe, dann erläutert Epikur hier eine Grunderfahrung unserer Zeit: den Konflikt zwischen Aufklärung und Autorität, das Umschwenken der Theorie der Aufklärung in eine Theorie vom Lustgewinn durch den Verlust der Notwendigkeiten, der Ordnungen, den Wechsel vom Notwendigkeitsgedanken der Freiheit zur Ästhetisierung eines zitierbaren Spiels freier Formen und Formeln, den Wechsel vom ehernen Netz der Freiheitsordnungen zum gottähnlichen Fabulieren eines der Ordnung sich entwindenden Scheins. Wenn wir unter Theorie eine unersetzliche Fähigkeit des Menschen verstehen, Zugang zur Welt zu finden und im gleichen Akt sich selber zu begreifen, d. h. Erfahrungen so zu ordnen, dass ein Subjekt sich Rechenschaft ablegen kann über Inhalte und Formen der Bildung von Erfahrungen, dann verstehen wir unter Theorie eine anthropologisch wirksame Vereinheitlichung von allem, was die Menschen kulturell erworben haben (u. a. den Blick auf ‚Natur‘) – sei’s der Herstellung, sei’s des verarbeitenden Wissens. Die anthropologische Auffassung vom Nutzen des theoriefähigen wie auch des epistemischen Bewusstseins3 ist eine, die Theorie als Relation zwischen allen Akten von Bewusstsein und Handlungen definiert und nicht als Gegenpol zu instinktiven Abläufen. Unter Theorie lässt sich auch nicht das spätere Problem der Steuerung abstrakt gewordener gesellschaftlicher Zusammenhänge verstehen, in denen Theorie meist unter dem Verdacht steht, über Privilegien der abstrakten intellektuellen Verfügung sich handfestere weltliche Privilegien anzueignen. In der Formulierung eines Themas wie dem von ‚Gestaltungstheorien‘ steckt bereits eine theoretische Auffassung: dass nämlich Dinge und Güter, in die sinnliche und konkrete Arbeit mit ihrem sinnlichen Erfahrungszusammenhang eingegangen sind, sich gegen abstrakte Theorie sperren. Und dass sie gerade deshalb für eine Theorie wichtig sind. Also: Wofür steht ‚Theorie‘? Wer fragt nach Theorie? Vorab, so subjektiv, wie nötig: Auch ich habe meine Meinungen zum Problem von Theorien im Allgemeinen. Ich habe keinen Auftrag, als Theoretiker für praktische Gestalter so zu sprechen, wie das Theorie für Praxis auch tut. Aber ich verbinde mit einer solchen Vorsicht gegenüber Theorien mehr als jene subjektiven Versatzstücke, mit denen ich als Konsument und Betrachter mich durch die Güterberge und Bildwelten, durch Wohlstandsmüll und Formenkitsch der letzten 200 Jahre gegenständlicher Praxis durchzufinden trachte. Und zwar so, dass ich meinen Alltag unaufhörlich von einem jeweils definierten ästhetischen Vokabular reinigen kann, das mir Lebensnutzungen meistens in dem Maße nahelegt, wie es sie verhindert. Diesen binären Vorgang der Reinigung nennt man zwar nicht Stil, aber es gibt gute Gründe, das zu tun.

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2 Was ist Stil? Gewiss ist allein, dass er nicht von Produzenten gemacht wird, auch wenn die ökonomischen Bilanzierungen uns das weismachen wollen. Der Stil liegt nicht in den Dingen, sondern in den Köpfen 4. Die Produzenten möchten nicht Dinge allein herstellen, sondern Bedürfnisse wecken, ästhetisches Empfinden, Interesse vielleicht. Die Gestalter möchten dagegen Stil machen. Aber da nun einmal ein Code erst in der Decodierung ‚gemacht‘ wird, wird das konstitutive Verhältnis zwischen Produktion und Gestaltung umgedreht: Produzenten wie Gestalter sind logisch, was sie nicht sein können: Medien und Organe der Aneignung. Und exakt das für eine Aneignung Produzieren macht den Gestaltern Mühe. Denn sie möchten eine Theorie, die handlich ist: eine Leitlinie durchs Gestrüpp der sogenannten Falschheiten, nicht selten auch eine Autobahn, die gradlinig zur Wahrheit führt. Und die Produzenten möchten nicht nur ‚Stil‘ machen. Sie möchten nicht selten auch noch den ‚richtigen Stil‘ machen. Doch: Was ist der ‚richtige Stil‘? Offenbar in jedem Falle einer, der an der Erscheinungsweise der Güter dingfest gemacht werden kann. Nun sind aber wie in den anderen auch in diesem Falle des Lebens die Erscheinungen ein brüchiges Fundament. Die tragenden Faktoren liegen gerade in der modernen Zeit, in der sich bekanntlich das Bewusstsein verändert haben soll in Richtung einer Identität, die sich nur noch als Konstante in verschiedenen NichtIdentitäten, als Sicherheit des Unzureichenden definieren lässt, in abstrakten, nicht-unmittelbar greifbaren Zusammenhängen, Motivketten, Befindlichkeiten, Wahrnehmungen und Täuschungen. Dem tritt eine Gestaltung gegenüber und oft auch entgegen, die von der vollumfänglichen universalen Verwirklichung des Wesentlichen in den Erscheinungen ausgeht. Und außerdem davon, dass das Wesentliche der gesamten in Dinge konzentrierten Qualitätsaspekte als dieses Dingliche selber hergestellt werden kann. Für den wesentlichen Zug aller Designtheorien, nämlich den Anspruch, den Planungsvorgang der Objektgestaltung als ästhetisch, und zwar normativ-ästhetisch diskutierbare Geschmacksgestaltung – sozusagen als Leihgabe für den sich verspätenden Konsumenten – vor der Produktion ausweisen zu können, für diesen Charakterzug ist entscheidend: Wenn wir die Auffassungen von Gestaltern über Notwendigkeiten der guten Form, über eine internationale, gelingende, endgültige und verbindliche Stilfindung als Theorie bezeichnen wollen – was nicht unbedingt nahegelegt werden soll: Verfahrensbegründungen haben zwar einen theoretischen Gehalt, aber meistens müssen sie von den Verfahren getrennt werden –, dann ist diese Theorie universalistisch an einen Platonismus gebunden. Sie verbleibt, welche Unterschiede auch sonst noch bestehen, wesentlich innerhalb der platonischen Auffassung, es gebe eine ideale Welt in sich ruhender, ewiger und reiner Formen. Das ewige Reich unveränderlicher Gestalten – das ist, was Platon unter der vorbildenden und verbindlichen Kraft des ewigen Reichs der Ideen versteht; jene Prototypen und Urbilder, die Realität bestimmen als schattigen Bereich mehr oder weniger verzerrter Spiegelungen. Im Unterschied aber selbst zu Platon glauben Gestalter in der Regel daran, jene Spiegelung in einem Maßstab vollumfänglicher Abbildung erreichen, also einfach auf

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eine planimetrische Welt von Ereignissen abbilden zu können, was notwendig eine Metapher für die Realität des Unwirklichen gebildet hat, nämlich der Tatsache, dass die innere Struktur des Wesens der Dinge gerade nicht als Oberfläche der Erscheinung des Ideellen gefasst werden kann. Die Gestalter glauben an die Realität der reinen Formen, an die umfassende und verlustlose Realisierung der Abbildung des Realen, an die eindimensionale Überführung des Idealen ins Reale und auch an die bis in die letzten Verbürgungen hineinreichende Erzeugung des Idealen als Realität. Anders gesagt: Sichtbar wird in den Theorien der modernen Gestaltung weniger ein ungebrochener Glaube an die Planimetrie abbildbarer Funktionen als vielmehr die Möglichkeit der für Erziehung nutzbaren Gestaltung als der Auffassung einer Nivellierung des Bruchs zwischen Plan und Ausführung, Konzept und Produkt, Idee und Handhabbarkeit, Sinngehalt und Konsumtechnik. Das unterscheidet die Gestalter vom an der Wirklichkeit zweifelnden Platon, für den immer noch die Skepsis grundlegend war, dass die eigentliche und jenseitige Welt hinter der diesseitigen Welt liegt und dass diese Realität zwar falsch, aber doch die einzige ist, in der wir leben. Die modernen Gestalter sind eher Neuplatoniker als Platoniker. Sie korrigieren die platonische Skepsis mittels einer Korrektur Platons durch Plotin. Nach Plotin gibt es nicht mehr einen Bruch zwischen den beiden Welten, sondern eine Stufenleiter der zunehmenden Vergöttlichung der Erscheinungen als Realität und der zunehmenden Prinzipiennähe der Materialisierung von Ideen in den Erscheinungen. Das ist die Theorie von der ‚Emanation‘: Die Welt ist durchflutet vom göttlichen Licht, es gibt keinen Bruch, schon gar keinen prinzipiellen, es gibt nur verschiedene Grade an Vollkommenheit. Wie Plotin verleugnen die an reinen sichtbaren Formen interessierten Gestalter die grundlegende Skepsis, unsere reale Welt reiche nicht aus zur Visualisierung der idealen Formen, und münzen sie um in eine theologische Heilslehre, mit der das Vermögen der Visualisierung als reines Vermögen der Dinge und entsprechend die reinen Dinge als Subjekte ihrer selbst gesetzt werden. Aber es gibt selbst zum harmonistischen Plotin bei den Gestaltern noch einen defizitären Unterschied. Wenn nämlich die Welt vom göttlichen Licht durchflutet wird, dann birgt jedes Stück Materie einen qualitativ identischen Kern des Heilsgeschehens in sich, der unabhängig ist von der Konsistenz des Materiellen. Auch Dreck und Abfall, Müll und Schmutz, Dunkel und Chaos enthalten jene bloß noch nicht entborgene Qualität des göttlichen Lichts. Diese Auffassung aber teilen die Vertreter der reinen Form nicht. Sie teilen zwar normative Auffassungen einer idealistischen Ästhetik, aber nicht als Affektivität der Materie selbst, sondern als durch einen Zuschuss an Übermenschentum bewirkte Freisetzung des impliziert Materiellen: es sei eben gerade das ästhetisch-kreative Subjekt, welches der Autor als Vermittler der reinen Formen (und als Urheber ihrer Erkennbarkeit) produziere, weil es seinen Geist an die Materie entäußere und stellvertretend zur Materie des sich realisierenden Geistes würde. Und der verwirkliche sich ja gerade nicht als subjektiven Prozess. Die produzierte Realität wird zum absoluten Zustand des sich bestätigenden Subjekts, indem die Spuren des Subjektiven getilgt und der ästhetische Prozess als Selbstobjektivation eines absoluten Wesens konzipiert würden. Das ist der Kernbestand aller idealistisch-ontologischen Ästhetik, wie Schiller und Hegel sie auf die Spitze getrieben haben. Aus dieser Ontologie aber folgt die Umkehrung zur pointiert negativen Geschichte. Denn

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die Vision eines reinen Stils, einer guten Form, einer universal richtigen Gestaltung setzt sämtliche Ärgernisse voraus, die die Ontologie des abendländischen Denkens als Schattengeschichte ihres Scheiterns begleiten. Die Theorie der Gestaltung als Plädoyer für einen machbaren Stil handelt gegen den Fortgang der Geschichte, die als visionärer Abfall von den Idealen definiert wird (theologisch und massenästhetisch). Sie etabliert sich im Stadium geschichtlicher Verschiebung, sie ist reaktionär. Der Begriff eines solchen Stils hat mit Erlösungserwartungen zu tun. Es handelt sich hier nicht um einfache Verweltlichungen, es handelt sich darum, dass eine Vorstellung von Erlösung, die durch einen Anklang von außen erreicht werden kann, zu einem Organisationsmoment produzierenden Handelns und damit zu einem Beispiel für ästhetische Vorgänge gemacht wird. Heilsgeschichte auf der einen, individuelle Mythologie (in der Erinnerung auf diesen Anklang von außen) auf der anderen Seite ergänzen sich zu dem, was die Psychologie eine Regressionsfantasie nennt: Fluchtlinien aus der schwer erträglichen Welt, Absage an die Auseinandersetzung mit ihr, Errichten eines Ideals an Reinheit für das Bedürfnis nach Reinlichkeit, die vor Befleckung und vor Sinnbildern des Vergänglichen abschirmen soll. Das Bedürfnis nach Reinlichkeit bezeugt zunächst den Umgang mit einer bildlichen Ausdrucksweise, einem psychologischen Behelf für das Zustandekommen von ‚Stil‘ als einer Ordnung von Ereignissen, die in Einklang stehen können mit noch nicht bewusst gemachten inneren Dispositionen. Was ‚Identität‘ genannt wird, kann man also verstehen durch die Vorstellung von einer Ordnung nicht begriffener innerer Mechanismen. Eine solche innere Disposition für Stil ist die heilsgeschichtliche Auffassung vom gestaltbaren Stil. Es gibt zwei Varianten, die mit dem verdeckten Elend dieser heilsgeschichtlichen Erwartung arbeiten. Einmal die Vorstellung von einer Welt, in der alle Menschen dieselben, richtigen, universalen Dinge benützen. Denn warum sollten sie falsche Dinge wollen, warum das Unfertige dem Perfekten vorziehen? Es gäbe nur einen, allerdings philosophischen und damit stilimmunen Grund: weil sie wüssten, dass ihr Leben im Wesentlichen nicht mit der Lösung von Problemen, sondern mit dem Gelebten des Nicht-Lösbaren verbunden ist. Ihr Bewusstsein wäre nicht gespiesen von der Triebkraft einer stilvollen Identität, sondern vom Bewusstsein von der Lebensnotwendigkeit, dass Probleme vom Typus des Unlösbaren existieren. Die moralische, technologische, strukturelle und ideologische Verkehrtheit unserer Lebenswelt – ihrer Gesellschaft und des Anteils, den die sauberen, universalistischen Konzepte von Gestaltung daran geliefert haben – kann man dadurch beschreiben, dass die Probleme, die lösbar sind, die elementaren Sicherungen nämlich (Hunger, Unfreiheit, Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit) nicht gelöst werden und an ihre Stelle die Vorstellung von der Lösbarkeit nicht-elementarer Gestaltungsbereiche (Glück, Ort etc.) tritt. Aber diese Probleme existieren ihrer Substanz nach in Unlösbarkeit, als ‚ganzes Leben‘ zum Beispiel, das in der Unauflöslichkeit des Todes endet und dort auch zu einem nicht-reduzierbaren Stück Wirklichkeit wird. Paradiesvorstellungen von Unsterblichkeit und Mühelosigkeit beinhalten, dass einem die Dinge zufallen und dass sie zufallen, weil sie universal, also wahr sind. ‚Wahr‘ würde hier eine Selbstbezüglichkeit ausdrücken, nicht eine Relation, in die sich Inter-

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medien einschieben könnten (Zweifel, Zweifel anderer, Geltungsansprüche, Behauptungen und Behauptbarkeiten). Die Heilserwartungen haben sich – parallel zur Geschichte der technischen Bemächtigung der Natur durch den Menschen – vom Religiösen herausgelöst, später vom Sozialen und Politischen, und sind offenbar heute eingegangen in das Feld des Pädagogischen und die Sphäre der Gestaltungen. Die andere Variante, die perfekte Verdinglichung der Welt ergänzend, ist die behagliche, sich abschließende Einrichtung der Innenwelt, die ins Kleinste schrumpfende Wohnwelt, in der das Glück, das die Welt bietet, zusammengezogen werden kann, bis es in den weitum bekannten Kästchen mit den winzigen Fächlein an der Wand Platz hat. Saturiertes Bürgertum, Gründerzeit mit historistischem Ehrgeiz, zugleich Beweiszwang des asketischen Fleißes. Aber die Geschichte dieses von Walter Benjamin negativ – gegen den im Wegräumen schöpferischen ‚destruktiven Charakter‘ – gekennzeichneten ‚EtuiMenschen‘ ist nicht mehr nur eine bürgerliche. Der alternative Narzissmus, die Suche nach dem Authentischen der eigenen Person, die Auffassung der Person als eines verborgenen, inneren, aber zweifellos festen und eindeutig definierbaren Kerns eines Organismus – sie schreiben diese biedermeierliche Auffassung fort. Der Triumph des positiven Charakters vereint heute kontroverse Formen biedermeierlicher Kultur und Politik. Das plüschene Futteral der neuen Gemütlichkeit und Wohlbefindlichkeit ist der stilsuchende Rückzug in das Wiedererwecken persönlicher Vertrauenswerte in einer gerade depersonalisierten, bürokratisierten, unkontrollierbaren Welt. Ein Gestaltungsproblem ist das deshalb, weil die Ökonomie der Dinge auf dem Markt mit den Spuren dieser Rückgewinnung von Persönlichkeitswerten auf den verschiedensten Seiten der gesellschaftlichen Verunsicherung ausgestattet wird. Es gibt aber – was an solchen Einzelfällen nur einfacher gezeigt werden kann – allgemeine, erkenntnistheoretische Widerhaken in den Gedanken darüber, was Stil sei. Der Kontext der Stildefinitionen ist nämlich – und das erlaubt uns, einige wissenschaftstheoretisch gewohnte und gewöhnliche Aspekte auch hier in Betracht zu ziehen – ein Vorgehen, mit dem die Aspekte des messbaren Stils zugleich in Bezug auf das ideelle System der Anerkennung eines Stils als Beurteilungskriterien (im Sinne der formierten Kriterientafeln also) festgelegt werden. D. h. die Stilkennzeichnung wird im gleichen Schritt zu einem normativen System über Stilqualität der im System ‚Stil‘ definierten Elemente ausgebaut. Der Stil, der in Gestaltungsüberlegungen – ausdrücklich oder unausgesprochen – anvisiert wird, ist immer der gelingende Stil. Aber eigentlich reden wir über Stil meist nur in Fällen eines Missbrauchs von Stil, einer Preisgabe, einer Dekadenz, nicht selten auch eines Verrats5. Der Verrat hat ebenfalls das Element einer erkenntnistheoretisch nutzbaren Versicherung über die prinzipiellen Negationen einer Theorie. Sozialwissenschaftliche Theorien, gerade wenn sie angewandt werden auf die konkreten und scheinbar ephemeren Ereignisse, müssen die jeweiligen Ausschließungsmodelle einer Theorie in die Erörterung der Theorie hineinnehmen. Das bedeutet auch, die Katastrophe eines Systems als seine Konstitutionsbedingung zu verstehen6. Wo wird ein Stil noch gebraucht, von wo an wird er missbraucht und verstümmelt? Ist der Stil der internationalen Architektur in der Epoche einer rationalen Maschinen­

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verehrung (nach dem Ersten Weltkrieg) als Stil ein Element des Planungsverständnisses? Le Corbusiers Charta von Athen von 1943 bringt im dritten Teil, den ‚Schlussfolgerungen‘, ab Nr. 71 in Form von Lehrsätzen nichts anderes als diesen impliziten Planungsrationalismus als Stiltheorie zum Ausdruck7. Oder ist er definiert als Resultat einer Konstruktion? Existiert er im Kopf der Konstrukteure und ihrem Weltverbesserungsanspruch? Gehören die heute verödeten, bald allerdings wieder renovierten Unités d’habitation von Corbusier zu seinem Stilverständnis oder bezeugen sie den Missbrauch eines Stils? Und wäre dieser Missbrauch als Geschichte oder als einer durch Geschichte bewirkten definierbar? Was wird kenntlich, wenn etwas der Rede nach zur Unkenntlichkeit entstellt worden ist? Wenn der reine Stil der richtige ist, was machen wir dann mit den Abweichungen? Und zwar gerade wenn wir wissen, dass Formen Resultate eines mit binären Ausschlüssen arbeitenden Auswahlprozesses sind? Das Binäre dieses Vorgangs, mit dem Gestaltungsformen als Planungsfaktoren im ganzen System herausgebildet werden, unterscheidet ja nur in simpler Weise den gestalterischen vom sogenannten ‚freien‘ künstlerischen Vorgang. Kehren wir zurück zur einfacheren heilsgeschichtlichen Vorstellung vom Stil. Es ist dies ein universeller Begriff, der Formen von Mannigfaltigkeit unter sich befasst. Sein Gehalt hängt von der Vorstellung eines Kontinuums ab, von einer seriellen Ordnung, die durch Konstanten einer linearen Logik bewerkstelligt wird, d. h. durch eine Anordnung innerhalb eines Kontinuum, das für Elemente noch dann zutrifft, wenn diese Elemente von außen als neue Elemente dazutreten. Die heilsgeschichtliche Komponente der Stilerwartung besteht nun darin, dass die Identifikation von ‚Stil‘ als Vervollkommnung des Lebens und als Logifizierung des Lebenszusammenhangs verstanden wird im Sinne einer Summierung von Kulturgütern. ‚Logifizierung‘ unterstellt nicht, dass der Lebenszusammenhang nicht im Wesentlichen von logischen Konstanten bestimmt sein könnte; ‚Logifizierung‘ meint vielmehr die Etablierung eines Lebenszusammenhangs als Chaos durch ein modernes Rationalitätsmodell, das im Gegenzug zu dieser Unordnung erst den heilbringenden Zugriff auf rationale Gestaltung begründet. Es gibt natürlich in der Einheit des Stils, seiner Auffassung von der Konsistenz der Dinge als ästhetische Substanzen, im Hintergrund oder subkutan wirkende geschichtsphilosophische Vorstellungen. Für deren geschichtlichen Entstehungszusammenhang bürgen industrielle Tätigkeit, Technologiezuwachs, empirische Naturforschung, experimentelle Nachprüfungsapparaturen, Zivilisierung der Affekte, protestantische Arbeitsmoral und die darin verwirkte Aufklärungsideologie von der Entbergung der Letztverbürgungen durch das subjektive Bewusstsein der Menschen, die sich als Subjekt der Krise konzipieren, weil sie denken, ihr Denken entstehe genau dort, wo mit Bewusstsein aus Erkenntnisgründen auf jene Letztverbürgungen verzichtet werden müsse. Das Resultat ist bekannt: Vom Subjekt der Krise verwandelt das aufgeklärte Bewusstsein sich zur Krise des Subjekts. Nicht zuletzt deshalb treten an die Stelle jener Entbergungsvorgänge die Stiltheorien moderner Gestalter8. Gerade der ästhetische Stil als Einheit und Idealität sieht so aus, als bewirke er eine simple Säkularisierung der Heilsgeschichte. Eschatologische Züge sind denn auch in der Tat nicht zu übersehen. Und doch handelt es sich im Praxisanspruch des modernen Bewusstseins als Formation von Stil-

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ereignissen nicht um jenen ‚illegitimen‘ Vorgang der Säkularisation, bei dem die vor­ mals religiösen Figuren einfach eine weltliche Gestalt annehmen würden.9 Das Pro­ blem liegt tiefer: in der Überzeugung eines erkenntnistheoretischen Realismus, der eine duale Struktur aufgebaut hat zwischen dem Bewusstsein und der Realität, die ko­ ordiniert wird in einem Modell von Strukturgleichheit. Die abendländische Ontologie hat die gültige Formulierung erhalten, dass ein wahres Denken sich dem Wirklichen ‚angleiche‘. Die Spannkraft der geschichtlichen Entwicklung eines säkularen, also ei­ nes areligiösen Machtbewusstseins,10 liegt woanders begründet: in der Tatsache, dass der vermeintliche Siegeszug des – mit einem epochalen Ausdruck Jacob Burckhardts gegenüber der Renaissance: – ‚welthistorischen Individuums‘, das geschichtsphiloso­ phische Bewusstsein der Person und überhaupt der Eintritt des geschichtsphilosophi­ schen Denkens in die Bewusstseinsorientierung des abendländischen Menschen nicht nur ein Krisenbewusstsein sind, sondern auch das Bewusstsein schlechthin als Krise etablierten. Die vermeintliche geschichtliche Macht durch geschichtsphilosophisches Denken steht immer am Abgrund einer existenzvernichtenden Drohung: dass nämlich das Bewusstsein der Macht am Modus seiner Machtentfaltung, der Krise des Wirkli­ chen zerbricht und von den Widersprüchen aufgerieben, über Verunsicherung in Angst und von dort in Selbstauflösung weitergetrieben werde11. Mit dem geschichtsphiloso­ phischen Bewusstsein entsteht ein grundsätzlicher Zweifel an der Kraft der Realität, der durch keine innerweltliche Hoffnung einfach übersprungen werden kann. Was frü­ her vorgeordnete Sicherheit war, weil es über Begründungen in einem Letzten und Ers­ ten zugleich seine Identität bezog, das wird nun zwar einer Heilsgeschichte überschrie­ ben, aber eben einer, die nicht verbergen kann, dass ihre säkulare Bedeutung allein aus dem Zerbrechen der primordialen Sicherungen herrührt. Die Sicherheit des Bewusst­ seins wird zum Modell des systematisierten Zweifels. Mit ihm lässt man in der Regel das moderne Paradigma von Subjektivität beginnen, als dessen Kronzeuge René Des­ cartes genannt wird. Die Krise der Geschichte als Bewusstsein wird umgemünzt in eine heilsgeschichtlich korrigierte Vorstellung von einer machbaren oder zumindest be­ einflussbaren Geschichte. Aber man übersieht leicht, dass es gerade nicht die Identi­ tät, sondern eine fundamentale Gebrochenheit ist, die das Bewusstsein zur machtvol­ len Überidentifikation seiner Formgebungen mit den Strukturen des Wirklichen zwingt. Was aus dieser Strukturangleichung entsteht, ist die Geschichte der Technik. Die Macht wird zur Krise, die Krise zur Chance der Selbstreflexion. Hebt der Stil diesen Ontolo­ gieverlust auf? Zumindest scheint das ein unreflektierter Anspruch gerade der moder­ nen Gestalter zu sein, die sich in einem so weitreichenden wie merkwürdigen Gegensatz zum modernen kritischen Bewusstsein befinden, wenn sie ihren Visionen vom gestalte­ ten modernen Leben nachhängen. Es scheint, dass in dieser Divergenz eine wesentliche Tatsache der Ungleichzei­ tigkeit des modernen Lebens ausgesprochen ist. Das lässt sich formal und chronolo­ gisch überprüfen: Die Avantgarde verwandelt sich in Kitsch und geschichtliche Unwahr­ heit. Gleichzeitig wird sie einem späteren historischen Bewusstsein zitierbar – ich habe meine Zweifel, ob der sogenannte Postmodernismus bis heute mehr gezeigt hat als die von ihm selber nicht explizit bemerkte Ungleichzeitigkeit im modernen Leben selbst.

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Auf seine Weise hat Ernst Bloch in ‚Erbschaft dieser Zeit‘ die Struktur des Achronismus und Anachronismus der Moderne untersucht. Seine Untersuchung, bereits 1934 publiziert, wurde, vielleicht weil im Zürcher Exil erschienen, nicht in der ganzen Tragweite aufgenommen, blieb gewissermaßen zeitgeschichtlich als Dokument einer frühen, überaus klarsichtigen und substanziellen Faschismusanalyse verdeckt. Offensichtlich ist die Krise des geschichtlichen Bewusstseins als Krise der Macht auch eine Krise der Funktionen, mit denen das Bewusstsein als handelndes sich der Umwelt einprägt. Und das Elend des Funktionalismus – primär seiner Ideologie, sekundär seiner Sachlichkeit – besteht in der Fundierung durch eine verborgene Geschichtsphilosophie, die der Realität der Krise, die ja einzig Sinn ermöglicht, nicht gerecht wird. Der Mythos des neuzeitlichen Produzierens besteht nicht in einer äußerlichen Form, sondern in der Missachtung des kritischen Wertes geschichtlichen Bewusstseins. Der heimliche Positivismus der funktionalen Theorie ordnet sich einen Stilbegriff, der eine leere, homogene Zeitstruktur setzt und Freiheit als formale Erfüllung einer seriellen, kontinuierlichen Ordnung versteht. An diesem Punkt wird Gestaltung normativ. Die Grenzüberschreitung des heimlichen zum anspruchsvollen Positivismus ist nun eben als ‚Stil‘ definiert. Der funktional messbare Zusammenhang wird zur Ein-Richtung am Leben. Und im gleichen Maße wird Fantasie zu einer Tätigkeit des Wegräumens. Ihr Begriff müsste vom Produzieren sich lösen und eine Tätigkeit meinen, deren Typus nichts mit dem Wahn des Produktiven zu tun hat. Aber das kann keine nominalistische Bestimmung sein. Der Weg über das Abstrakte führt hier zu einem anderen Begriff von Stil. Gehen wir einfach von einem anderen Verständnis aus: Stil, in dem Dinge vom Produktionsverstand mit der individuellen Fantasie der modernen Schöpfungsvision zusammengebündelt werden, ist unmöglich. Unter Stil würde ich einen Begriff für die Unmöglichkeit der Realisierung von Stil verstehen. Der richtige Stil wird zum falschen Stil. Stil ist, was am Stil nicht gelingt, sondern scheitert. Die Objektivierung von Stil liegt demnach im Missbrauch des Stils, nicht in den Medien seiner Verwirklichung als mit sich selber identische Form. Stil wäre nicht nur missbrauchbar, sondern, vorrangig und in erster Linie, das Missbrauchbare an ihm selbst. Unter Freiheit könnte dann nicht mehr die Logifizierung der formalen Zeit verstanden werden. Freiheit wäre Diskontinuität, nicht mehr als Kontinuum, evolutionslogisch, geordnete Geschichte. Die Reinheit des Stils weicht den Abweichungen, seine Wahrheit etabliert sich im Medium der Differenz, Identität verflüchtigt sich. Es lässt sich vermuten, dass im Schatten des richtigen, internationalistischen Stils die Stile gedeihen, durch die Gestaltung zu einem offenen Prozess der Selbstversorgung werden, der autonomen als der peripheren, d. h. der genuinen als der nicht-theoretisierbaren Kulturen, der Kulturen auch der Flüchtigkeit. Das wäre das stärkste Argument gegen den Stil: dass er nicht den Modus der Vergeblichkeit und Hinfälligkeit einer Kultur als deren besondere, auf symbolische Verdichtungen hin angelegten Qualität versteht. Ein Stil hat seine Wahrheit im Scheitern. Freiheit könnte heißen: Man entledigt sich eines Stils. Er hätte dann immer noch eine Funktion: an ihm dinglich zu lernen, was man vermeiden will. Gestaltungen, die sich auf einen dauernden Stil einrichten, wirken auf ihre Produzenten, Theorien und Nutzer im Modus der Überlebtheit. Einen Stil seines ge-

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schichtlichen Scheiterns zu überführen, das wäre eine Funktion einer konsequent definierten ästhetischen Kompetenz. Man müsste also – ob das seinem Bewusstsein entspricht oder nicht – den Produzenten definieren als jemanden, der ausschließlich für einen Aneignungszusammenhang gestaltet. Die Zertrümmerung eines Stils als Offenlegung seiner geschichtlich bedeutsamen Gehalte durch ein Subjekt, das an dieser Öffnung gewissermaßen die Semantik des Stils erst gleichwertig erprobt. Damit wäre die Konstitution eines Stils das Resultat eines Verhaltens, wie es in der Geschichte der Bilderstürme in aggressiver Weise beschrieben worden ist. Aber eine Revolution ist keine Stilfrage. Revolutionen scheitern daran, dass sie jene Ausbrüche an Vollkommenheit propagieren, die erst durch langwierige Vorgänge eröffnet werden können. Revolutionen wären Lernprozesse, die so angelegt sind, dass in ihrem Verlauf die Voraussetzungen, die sie möglich machen, eingeholt werden. Ein Stil eröffnet, was ihn dereinst zu einem begriffenen Stil machen kann. Die in verschiedenen Reinheitsidealen des Stils aufbewahrten Erlösungsgehalte stehen in striktem Gegensatz zu einem Verständnis von Freiheit, das nicht dem Modell geschlossener Ordnungen folgt. Die Produktion von Dingen müsste die Beseitigung der Dinge zumindest ermöglichen.

3 Es ist verführerisch, die immanente Ordnung von Stilen so zu betrachten, dass sie idealtypische Maximen des reinen Stils erfüllen. Es lässt sich aber ein anderer Blick versuchen, ein Blick auf das Verhältnis von Stilen zu gesamtgesellschaftlichen Vorgängen, die Stile erst lesbar machen – und zwar gilt das für den ästhetischen Code genauso wie für den Code der Definition der ästhetischen Ereignisse in der Geografie der gesellschaftlichen Tätigkeiten überhaupt. Zeitlich, parallel zu den konstitutiven Designphasen ließe sich als Parallele gegen den gelingenden Stil an Zusammenhänge folgender Art erinnern: • Der internationale Historismus entwickelt sich in der Zeit der nationalstaatlichen Souveränität gegen außen, d. h. im Gefolge der ersten Phase einer weltumspannenden Kolonialisierung. • ‚Art Nouveau‘ wird ein internationaler Stil in einer Zeit, in der die avancierte Wissenschaft und Philosophie – es sei hier nur die bis heute folgenreichste Wendung des Skeptizismus, die ­Erkenntniskritik Nietzsches genannt – mit dem ontologischen Weltbild brechen, das sich auf eine kohärente Thematisierung aller Erfahrungen unter einheitlichen Gesichtspunkten stützt. • Der Internationalismus der Architektur – sehr widersprüchlich festgemacht an einer Ästhetik, die eigentlich die Planbarkeit der modernen Großstadt erstmals diskutieren will, an den Architekten im Bauhaus-Umkreis – wird ästhetisch virulent in ­einer Zeit,

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in der Faschismus und Nationalsozialismus die politische ­Öffentlichkeit der Neuzeit und die Substanz des Politischen ­zertrümmern mit einer, wie ich meine, bis heute anhaltenden Wirksamkeit. • Der sogenannte ‚Postmodernismus‘ – eine abkürzende Bezeichnung für das gestalterische Konglomerat einer anti-modernistischen Gesellschaftsideologie – schließlich entsteht in einer Zeit, in der über technologische Szenarien nichts weniger als die Sphäre der Sozietät als der sinnstiftenden Basis für alle kulturellen Zeichensysteme transformiert werden soll in individuelle Dispositionen einer abrufbaren Szenerie für flüssig gewordene Subjektivität; unausgemacht bleibe hier, ob es sich um die ­Bewusstwerdung des modernen Bewusstseins in dieser Form handelt oder den Abbruch der Selbstreflexion im Modus der Moderne. Diese Verhältnisse sind keine kausalen. Mir scheint aber, es seien auch nicht bloße Gleichzeitigkeiten eines leeren Nebeneinanders. Eine Vermutung sei riskiert: Jeder internationalistische Erfolg eines Stils hat Gründe, die sich konträr zu seiner ästhetischen Wertigkeit auswirken. Es wären Gründe des Scheiterns. Der Triumph einer internationalen Ästhetik berechtigt die universalen Formen mit der seriellen Belieferung einer Welt, in der – nach einem Wort Walter Benjamins – alle Erzeugnisse der Kultur auch Zeugen der Barbarei sind. Wenn die Vision vom richtigen Stil uns die Unerlöstheit an den Dingen nimmt, dann nimmt sie mit sich auch die Unerlöstheit des Lebens selbst. Und es gibt eine inhaltliche Verbindung zwischen der gelingenden Formierung ästhetischer Erscheinungsweisen und der scheiternden Formierung gesellschaftlich verdeckter Strukturbedingungen der Lebenswelt. Der Historismus arbeitet mit der Negation dessen, was seine gesellschaftliche Basis betreibt, dem inszenierten Verlust der Geschichte. Er tut dies in einer Form, die auf die ästhetische Verfestigung von Geschichtsblindheit hinausläuft. Der Jugendstil lässt sich lesen als jene ontologische Auffassung von Kunst, die im Erkenntnisvorgang des modernen Bewusstseins, das sich seiner Existenz als einer Krise versichert, keinen Ort mehr hat. Die Form einer abstrakten Linie, die sich im Endeffekt selber verschlingt, erfasst die Ahnung vom Preis, den der ontologische Verlust an Identität mit sich bringt. Aber der Ausdruck der Verflüchtigung wird an dieser Linie selber zur Ontologie. Der Internationalismus der Architektur ab 1919, der mittels einer bis heute unersetzlich gebliebenen kulturpädagogischen Zielsetzung die Geschichte des Rationalitätsverlustes durch eine blinde Industrialisierung korrigieren will, arbeitet mit exakt jenen konstruktivistischen Funktionen, mit denen Faschismus und Nationalsozialismus den konsensuellen Grund des politischen Diskurses zertrümmern: mit Massen­ bearbeitung und serieller Minimalisierung des äußeren Dekors zugunsten der Intensivierung der Ideologie. Der ‚Postmodernismus‘ schließlich zitiert als Gütezeichen seiner selbst jene Tendenzen, mit denen die soziale Öffentlichkeit nicht allein in ihrem aktuellen Bestand,

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sondern in ihrer Geschichte als des modernen Lebenszusammenhangs schlechthin aufgelöst wird. Mittels der verfügbaren Ironisierung am abstrakt Ironischen selbst, mit dem Selbstgenügen des durchaus auch regressiven Spiels als eines Spielerischen an sich, mit der Auflösung des semiotischen Bewusstseins in die Signale, mit dem Rückzug des Symbolischen in den Appell, mit der Auflösung der Kommunikation in die Ereignisse, die für sich selber stehen und deshalb auch nicht mehr widerspruchserzeugende Kommunikation bedeuten können. Wir haben – die Verkürzungen dieser Darstellung eingerechnet – Grund, über Stil und Form anders nachzudenken als die Form jener Szenarien uns nahelegt, in der die geltenden Überzeugungen von der Notwendigkeit des Designs nichts sind als Reflexe einer kaum begriffenen Geschichtsphilosophie, die Freiheit simpel mit der Umkehrung der Richtung verwechselt, die die Vertreibung aus dem Paradies zum Paradigma der modernen Psychologie gemacht hat. Es scheint, als würde das Design mit seiner Vision jenen Platz einnehmen, den das an der Vision von der universalen Eindeutigkeit scheiternde theoretische Bewusstsein preisgegeben hat. Das zwingt uns, die Geschichte des Designs als Plädoyer für Designideologien wiederum als Sonderfall der abendländischen Denktraditionen zu behandeln. Ich referiere dazu wiederum etwas grob typisierend einige Brüche dieser Denkgeschichte, die der Planifizierung eines geschlossenen Bedeutungssystems widersprechen und verdeutlichen, dass eine Theorie wirksam werden kann nur, wenn sie die sie konstituierenden externen (‚monströsen‘) Faktoren zu theoretisierbaren Bezügen ihres eigenen Diskurses machen kann. Eine Theorie, die alles, was existiert, unter einem einheitlichen Gesichtspunkt thematisiert, eine solche Theorie nennt man mit guten Gründen einen Mythos. Der Mythos unterscheidet noch nicht zwischen Sprache und Natur, Kultur und Natur, Individuum und Gesellschaft, Politik und Organisation des Gedächtnisses, Ästhetik und Erkenntnis. Der Übergang vom Mythos zum Logos findet mit der Ablösung von der Idee nicht in Erscheinungen auffindbarer Urprägungen bei Aristoteles statt.12 Aristoteles unterscheidet verschiedene Wissensbereiche, die beobachtend erforscht und denen verschiedene ­Typen methodischer Organisation zugeordnet werden können. An die Stelle der transzendenten Ontologie idealer und nicht wahrnehmbarer Urformen tritt die Potenzialität der Realisierung von Formprinzipien, die jene möglichen Umgestalten allein im Modus der Variation und der sinnlichen Darstellung erschließen. Das Wesen der Dinge sind nicht die Dinge selber, sondern besteht in ihrem verborgenen, noch nicht ausgestalteten Teil. Dinge sind Gebilde der Möglichkeit nach und sie sind in Möglichkeit befindliche. Aber sie sind nicht mehr unvollkommene und prinzipiell scheiternde Abbilder von Idealitäten. Das Potenzielle, das die Dinge real macht für ein Verständnis der Dinge, überwindet den Bruch des Realen hin zu einer idealen im Gegenzug einer wirklichen Welt. Die Realität streift ihren Abbildcharakter ab und wird zur Aktualisierung von Möglichem. Sie gilt nicht mehr bloß als Medium einer transzendierenden Erinnerung an das unfassliche Vorbild und ist auch nicht mehr Verwirklichung der transzendenten Idealität des Realen, dessen scheinbare Realität allein die Folge des trügerischen Bewusstseins der Menschen sei.

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Mit der Neuzeit behauptet die Subjektivität ihren Begriff als Substitution des Ontologischen durch das Säkulare – Zugriff zwar auf die Welt, aber nicht auf eine, die im Verlust des Transzendenten gefährdet wäre. Aber weil das Ontologische keine Evidenz im Transzendenten mehr hat, wird der Erkenntnisapparat zur Maschinerie der Hervorbringung jener Bedingungen, die seine Resultate bewahrheiten. Das neuzeitliche Prinzip des cartesianischen Zweifels tritt denn auch in dem Moment auf, in dem der Zweifel sich zum idealen und ideellen Mechanismus, zur Maschine der Bekräftigung der allein bedeutsamen reflexiven Struktur erhebt und demnach in Wirklichkeit gar nicht mehr das Prinzip ‚Zweifel‘, sondern die Dogmatisierung der beweistechnischen Verwendung der Methode des Zweifelns darstellt.13 Denken ist eine ausgedehnte Substanz, die regulierbar wird wie ein Mechanismus. Die bloß mechanische Realität ist eine äußere Ausdehnung. Hobbes folgt diesem Gedanken mit einer Sozialphilosophie, welche die Interaktion des gesellschaftlichen Menschen nach dem Vorgang einer Kollision zwischen mechanisch bewegten Dingen konzipiert. Erst Kant kritisiert eine solche dualistisch gewonnene Selbstgewissheit des Subjekts, indem er an die Stelle der Transzendenz die transzendentale Konstitution des Verstandes setzt und damit das Subjekt aus seiner Isolation befreit. Er zeigt dessen Grenzen auf: Der Verstand muss Fragen stellen, die er selber nicht beantworten kann, weder durch eine Metaphysik noch durch einen Mechanismus. Damit eröffnet Kant einen bis heute wichtigen Weg in ein Verständnis von Theorie, das die kommunikativen, regulativen und aktuellen Bedingungen der Identifikation von Formen des Wissensgewinns in die Klärung der Geltung von Aussagen miteinbezieht. Was man nicht wissen kann, ist genau das, worüber man sich mit anderen einigen könnte. Die Mechanik des Objektivismus, die ontologische Produktion zerbricht an der Anomalie des Selbstbewusstseins, das sich in einer mit seinen Anerkennungsbedingungen unerträglichen Gemeinschaft mit anderen vorfindet. Der privilegierte Zugang des Subjekts zu sich selber bröckelt von den Antagonismen konkurrenzierender Sozialbeziehungen ab. Die Menschen beginnen – wenn überhaupt – allein aus Einsicht in den Verlust der eindeutigen Wahrheit, und zwar hypothetisch oder, wie Kant sagt, ‚regulativ‘, praktikable Wahrheiten zu entwerfen, um zu sehen, was sich damit machen lässt. Das ist aber keine Ad-hoc-Theorie von Fall zu Fall, und es handelt sich auch nicht um die positivistische Stückwerktechnologie. Gemeint ist die gesellschaftliche Grundlage des natürlichen Bewusstseins, das die Form seiner Erkenntnis zwangsweise auf die Anerkennungsbedingungen durch andere abstimmt. Seit Kants Zersetzung der absoluten Einheit des Subjekts ist der Weg im Prinzip eröffnet für ein Verständnis von Sinn, das nicht mehr ontologisch ist. Dieses Verständnis verlegt den Sinn weder in die dingliche Erlösungskraft von Objekten noch in die Konstante eines nicht-subjektiven Systems realer Erzeugung. Von dort schreitet – ich gehe hier nicht auf die gewiss gewichtige Frage nach den Kosten dieses Vorgangs ein – die Fragmentierung und Problematisierung des Einheitsgedankens weiter. Feuerbachs Plädoyer für die weltliche Sinnentätigkeit und die Konkretheit der individuellen Existenz ist zwar noch ein allgemeines Plädoyer. Aber er spielt weiteren Etappen einer gesellschaftlich orientierten Selbstkritik des modernen philosophischen Bewusstseins vor: Karl Marx’ Kritik des deutschen Idealismus, Kierkegaards Existenzphilosophie und schließlich

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Nietzsches ­radikale Ontologiekritik, die aus anthropologischen Gründen der Vernunft misstraut und an ihre Stelle die zynische Selbstentdeckung des Willens zur Macht, und damit vor allem die ästhetische Entfesselung in der Lust am unbegrenzt agierenden eigenen Selbst, setzt – allerdings unter Voraussetzung einer Zurücknahme der individuellen Erkenntnis. Mit Nietzsche verschwindet der Wille zur Macht zunächst wieder aus der Geschichte der Philosophie. Aber er verschwindet nicht aus der Gesellschaft und auch nicht aus jener der philosophisch versetzten Ideologien. Im Gegenteil: Er wird ontologisch an ganz anderer Stelle kanonisiert – in der Rede vom Kunst- und Gestaltungswollen von Wölfflin über die modernen Designideologen bis zur Kanonisierung der kunstgeschichtlichen Spurensicherungen durch Erwin Panofsky.14 Und das in einer Zeit, in der die Beobachtungen der klassischen mechanischen, protokollierenden (der ‚naiv realistischen‘) Disziplin der Physik das ontologische Weltbild naturwissenschaftlich verwerfbar macht. Bekannt ist das in der Quantentheorie formulierte Untersuchungsproblem: Es gibt keine Ontologie, weil das erkennenden Subjekt in einem akzidenziellen Sinne in die Tatbestände eingreift, die es untersucht. Die wissenschaftstheoretischen Forschungen des Wiener Kreises – aus guten Gründen kulturell gleichzeitig mit der Entdeckung der Psychoanalyse durch Freud, der Ornamentkritik Adolf Loos’ und der Sprachkritik von Karl Kraus – ziehen die Konsequenz für die philosophische Theorie des Wissens, was dem späteren Blick leicht verloren geht, der jene Erörterungen unter dem Titel des ‚kritischen Rationalismus‘ auf eine Art von Empirismus verkürzt: Es gibt kein Beobachtungsdatum, das nicht im Lichte einer bestimmbaren Theorie erst zugänglich (gemacht) wird. Das gilt auch für Kunst, Ästhetik und Lebenswelt. Mit dem naturwissenschaftlich gezeigten Zerfall der objektiven Ontologie beginnt der Siegeszug der hermeneutischen Rekonstruktion von Bedeutungszusammenhängen auch außerhalb der alten hermeneutischen Text-Auslegung. Dagegen erweist sich der Glaube an den Realismus der Dinge als hartnäckig rückständig gegenüber der Selbstreflexion, die aus den geschlossenen Systemen des Wissens ausgeschert sind. Die objektive Sprache der Dinge verstummt, und die Sprache behandelt nicht mehr die Schrift, sondern das Wirkliche als Textur einer beredten Bedeutung. Das ontologische Fundament des Denkens – die Auffassung, dass die Struktur der Begriffe gleichursprünglich und homolog ist mit dem Wirklichen, d. h. dass es eine feststellbare Identität gibt zwischen einer Innen- und einer Außenwelt, zwischen Formen der Ordnung und Sinnenwelt von Erscheinungen – geht mit dem 19. Jahrhundert unter. Die Ontologie der als objektiv und subjektfrei vorgestellten Dinge prägt immer noch unsere Realität. Die Selbstkritik des neuzeitlichen Bewusstseins hat zwar zu einer Auffassung von Erkenntnismodellen geführt, die sich nicht mehr auf die Frage nach der Herleitung eines einzigen verbindlichen Modells beschränkt. Aber das praktische Pendant zum Philosophen, der praktische Erfinder und Ingenieur, hat sich seit der ontologischen Bemächtigung des keiner höheren Instanz verpflichteten subjektiven Planungsverstandes in der Renaissance nahezu bruchlos bis heute als Leitbild erhalten. Schiller zieht die Konsequenz, den Künstler zum neuen Priester zu erheben: Der Künstler wird zum Genie, zum Affektionsmodell der einen Einklang suchenden Inspiriertheit. Damit wird der Künstler zum produzierenden Individuum schlechthin. Er wird

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Sachwalter dessen, was er als Neues in die Welt setzt. Erkenntnis als Macht geht einher mit der Ontologie der ästhetische Schöpfung – die Struktur der theoretischen Neugierde verbindet sich mit der Struktur der praktischen Schöpfung. Der praktische Ingenieur der Renaissance in der Kombination von Invention, Wissenschaft und Kunst – begründet den Vorrang der Erfindung vor dem Auffinden und besiegelt das Schicksal des bloß Aufgefundenen, Umgeformten und Anverwandelten. Das Paradigma des Produzierens wird von einer Generation von modernen Gestaltern an die Stelle der Kunst des ZumVerschwinden-Bringens gesetzt, die als eigentliche Avantgardekünstler sich dem traditionellen Bereich der Kunst entziehen und Handwerker und Ingenieure werden und damit auf ihre Weise den sozialen Verfallsprozess des künstlerischen Individuums spiegeln, das seine Gemeinde und sich selber im Sumpf der mechanisierten Großstädte des 19. Jahrhunderts verloren hat. Dinge sind nunmehr Einrichtungen, und als solche bezeugen sie neben ihrer Existenz und Funktion auch den Vorgang ihrer Produktion als Abbild eines Schöpfungsmythos, was sich in der Benennbarkeit des ‚good design‘ sowie zahlreichen Mischformen zwischen Kunst und Design spiegelt. Es ist das Kennzeichen der westlichen Welt, dass in ihr die Menschen sich zu einer Gesellschaftsform vermitteln, in der die Weisen der Bezüge ständig mit verändert werden. Genau das hat den Reiz der dinglichen Materie, des objekthaften Andauerns als des beständigen Werts des Dinglichen verstärkt. Die Dinge, die dem Schöpfungsmythos entsprungen sind, werden für die Nutzer gerade nicht Entwürfe sinnbildender Verständigung, sondern zu Fluchtlinien der individuell verfügbaren, festen und konsistenten, beherrschbaren Materie. Das Individuum hat vorrangig vermittels der Gegenstände mit seiner gesellschaftlichen Umgebung Kontakt. Die Anwesenheit der Gesellschaft im individuellen Lebensfeld bestimmt sich dadurch, dass natürliche Objekte durch künstliche Produkte ersetzt werden. Oder umgekehrt: dass die Erzeugung künstlicher Produkte die Darstellung der natürlichen Objekte zu einem Resultat eines synthetischen Arrangements macht. Dinge als gesellschaftliche Produkte zu lesen, entzieht sich in der Regel dem individuellen Blick. Es tritt das ein, was man die ‚Fetischisierung der Dinge‘ nennt. Die Individuen treten gegenüber einer aus Waren und abstrakten Leistungen bestehenden mechanischen Kultur in den Hintergrund. Das kann man aber auch so lesen, dass die Individuen sich der Illusion einer festen Identität entledigen und in dem Maße an die Nutzbarkeit kultureller Ereignisse sich anschließen, wie sie selber sich nicht mehr als Individualität begreifen können. Der Anteil des Mechanischen würde dann beitragen zu einer gesellschaftlichen Einrichtung von Betätigungen, in denen die Menschen sich gewissermaßen auf dem Niveau ihrer ihnen unbewusst eingelagerten Automatismen bewegen könnten. Aber noch immer haben die Menschen im abendländischen Kulturkreis (mit guten Gründen) sich nicht freimachen können von der Haltung, die Kategorien ihrer Umwelt so zu denken als seien diese natürlichen Ursprungs. Aber die Natur verschwindet im künstlichen Dekor. Sie wird zum Kunstprodukt. Natur wird durch Vorstellung zur Un-Natur, und zwar gerade für Gestalter, für die Natur das formlos Ungestaltete ist. Ihnen erscheint die Natur als ein von der Geschichte überwundener Irrtum.

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4 Es gibt heute soziale Konstanz allein im Maße der Erschütterung. Anzeichen eines grundsätzlichen Wandels werden vom Wandel selber überholt, und der Wandel wieder­ ­um ist den Anzeichen seiner erschütternden Überwindung durch den nächsten Bruch immer dicht auf den Fersen. Der Soziologe Henri Lefebvre deutet das – auf dem Hintergrund der ehrenwerten idealistischen Moraltheorie – mittels einer Diagnose, dass wir auf allen Ebenen der Gesellschaft zunehmend tautologisch leben. Die Gesellschaft münde heute in bedeutungslose Signifikanten und in losgelöste Signifikate, sodass in den Bereichen der Zeichen und Dinge, Institutionen und Menschen Symptome einer übersteigerten Redundanz, einer völligen Informationslosigkeit sichtbar würden. Lassen wir das Problem weg, dass eine solche These zwischen dem materialen Informationswert der dargestellten Botschaften und dem (übrigens wesentlich höheren und wichtigeren) informellen Informationswert des Darstellungsmediums nicht unterscheidet. Gemeint ist mit der These vom Informationsschwund jenes Stück Post-Modernismus, das eigentlich zunächst beobachtet, dass die Industrialisierung des gesellschaftlichen Subjekts an eine Grenze stößt (was ja mit der Rede von den ‚postindustriellen Gesellschaften‘ früher, aber weniger breit angegangen worden ist). Dinge werden an dieser Schwelle zu Bildern und umgekehrt: Die Bilder werden als dingliche Versprechen dort eingesetzt, wo die industrielle Vergesellschaftung des Menschen sich an den Grenzen des Abstrakten nachhaltig stößt, dort also, wo mit multiplizierbaren Entwürfen über die Einbindung des Individuellen und Lebendigen die industriell ausgezehrte Identität des Menschen vom symbolisch-sperrigen Umgang mit anderen (und im weitesten Sinne dem politischen Diskurs) abgelöst und der signalorientierten Inszenierung einer Identität auf Abruf (oder im Aufschub) übergeben werden kann. Die sogenannte Kulturindustrie, die heute als bildsimulierende Illusionsmedien immer näher an die neuralen Reize heranrücken, bauen auf dem Problem der Abstraktion der industriellen Mechanisierung des Lebens auf. Allein aus diesem Grunde ist die Rede von der ‚Post-Modernität‘ mehr als nur widersprüchlich: Denn die äußerlichen, stilistischen und formalen Errungenschaften dieser anti-klassischen Ideologie sind in einer Linie kontinuierlicher Entwicklung der industrialisierten Identität der Menschen entstanden und nicht als Gegenbilder. Es gibt dazu eine skeptische und eine euphorische Einschätzung. Die skeptische bezieht sich auf die mögliche Technokratisierung der Wahrnehmung selber (ihres Vermögens, nicht ihrer wechselnden Gehalte). Die euphorische feiert das Verschwinden der Information, redet von der Katastrophe der Zeichen und erblickt in der Überwindung der semiotisch differenzierten Orientierung erstmals eine vollständig individualisierte Freiheit, die durch eine Serie verfügbarer und direkt abrufbarer Signale konstruiert werden könne – eine Auffassung übrigens, die sich von den heutigen Exponenten Baudrillard u. a. über Lacan direkt zu Klages und Oswald Spengler zurückverfolgen lässt. Diese technokratische Entwicklung könnte das Wissen vom Konsens ablösen und sich vom Legitimationsdiskurs unabhängig machen. Die Veräußerlichung des Wissens durch Informatik und neue Medien würde auf die Auflösung der Einheit des Wissenserwerbs, des Geistes und der Person hinauslaufen (die

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­euphorische Einschätzung würde hier einwenden, das sei im Grund immer schon so gewesen, nur sei es heute zwingend einsehbar gerade über die Technokratisierung der Bezeichnungsvorgänge). Aber beide Varianten weisen die grundlegende abendländische Ontologie zurück – gestritten wird allein noch darüber, was mit den Trümmern anzustellen sei, die der Bruch mit der Ontologie zurückgelassen habe. Die abendländische Ontologie zielt auf allseitige Objektivierung. Das holografische Weltbild, das von Physikern und Gehirnforschern in den letzten Jahren entworfen worden ist, legt nahe, dass wir uns mit der Pluralität von Erkenntnissen, mit Wirklichkeiten grundsätzlich verschiedener Art und Herkunft, mit Vielheiten statt Einheit vertraut machen.15 Wir müssen den cartesianischen Standpunkt einer unangreifbaren Denksubstanz (‚res cogitans‘) aufgeben und der Imagination einen gewichtigeren Platz einräumen. Gestaltung müsste ein Modell entwickeln, das den Gegensatz von Kultur und Natur überwindet und das nicht mehr dem alten Dualismus von Materie und Geist, Urbild und Abbild, Objektdichte und Subjekteinheit folgt. Einige Überlegungen dazu erbringen, dass der abendländische Dualismus nicht immer eine glückliche Interpretation von Problemen geliefert hat – und das lange bevor man meinte, diesem Ungenügen den Titel des Post-Modernen aufsetzen zu müssen. Dinge und Bilder wirken auf den Augensinn. Ein Gegenstand reflektiert ein Muster auf der Netzhaut. Es gibt eine Gemeinsamkeit der menschlichen Apparatur für visuelle Wahrnehmung. Aber die Daten, die über die Netzhaut vermittelt werden, müssen im Gehirn entschlüsselt und das heißt eben: interpretiert werden. Der Sinnzusammenhang ist eine Interpretationsleistung, ob es sich um Bilder oder ob es sich um Dinge handelt. Und es ist gar nicht gesagt, dass die Interpretation immer den Weg des Ab­ strakten zu ­gehen habe. Interpretationen werden strukturiert mittels angeborener und in Erfahrungen gebildeter Fähigkeiten. Aus einem Grundstock an Mustern, Kategorien, Gewohnheiten, Analogiebildungen sucht und erprobt das Gehirn passende Signale, die den komplexen visuellen Gegebenheiten eine Struktur und damit eine Bedeutung geben. Diese Struktur wird, bei gestalteten wie bei ungestalteten Findungen, im Kopf produziert. Es entstehen Vereinfachungen und Verzerrungen – und diesen Vereinfachungen und Verzerrungen, und nicht einem durch sie gefährdeten oder negierten ursprünglichen Ganzen, sagen wir ‚Stil‘, eine kognitive Besonderheit, die mittels bestimmter kultureller Muster einen visuellen Stil verändern, nämlich jenen Stil, der für die elementare Orientierung im Alltag unerlässlich ist.16 Dieser Stil ist ein Faktor der Formen des gesellschaftlichen Umgangs, der Zivilisiertheit von Eigenbezügen (psychischer Apparat), der Organisation von Fremdbezügen (Ökonomie, Institutionen). Zu ihm gehören drei Elemente, die ebenso konstitutiv wie kulturell sind, und zwar noch dort, wo es sich scheinbar um rein physiologische Phänomene handelt, z. B. um die Speicherung von Lichtreizen im Gehirn: 1. der Grundstock an Mustern, Kategorien, Analogien und Schlussformen; 2. eine Reihe von Konventionen der Darstellung, die durch ­kulturelles Lernen erworben werden;

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3. plausible Weisen der Verständigung darüber, was ‚­Information‘ ist, nämlich die Unvollständigkeit der ­Bezeichnung durch ­Ab­bildungen. Das bedeutet: Dinge und Objekte sind wie Bilder und abstrakte Formeln abhängig von soziokulturellen, geschichtlich erworbenen und gesellschaftlich differenzierten Wahrnehmungsweisen.17 Und erst in zweiter Linie sind sie abhängig von einem Bezug zur Natur. Genauer: Dieser natürliche Bezug ist selber ein Faktor im kulturellen Orientierungsmuster. Einfacher wird es, wenn wir sagen, dass es eine Unzahl von Bedürfnissen gibt, die sich nicht durch Gegenstände darstellen oder entäußern, verzehren oder zurückgewinnen lassen. Es gibt Bedürfnisse, die von Ausdrücken und nicht von Gegenständen geleitet sind und die nicht in Faktoren gegenständlicher Arrangements überführt werden können, auch dann nicht – und das ist hier der springende Punkt –, wenn man die Einheit der bedürfnisgarantierenden Dinge als direkte und nicht über interpretationsbedürftige Zeichen vermittelte Äußerungen der konsistenten und persönlichkeitsbil­ denden Identität eines Subjekts betrachtet (wobei unter Konsistenz die Geschlossenheit eines Systems verstanden werden soll, für dessen Bedeutungskohärenz es keinen Unterschied macht, ob es sich um bewusste oder unbewusste oder halbbewusste Motive handelt). Aber das Problem würde sich selbst dann nicht ändern, wenn wir für jene Ausdrücke umstandslos Gegenstände einsetzen würden. Es gibt immer noch eine Reihe von Fragen, die auf ganz andere Art das grundlegende Problem ausdrücken (dass nämlich Gestaltung ein Erkenntnismodell ist und nicht eine ‚Haltung‘): Gibt es ein Sein, dessen Objektivität nicht den Gesetzen menschlicher Vernunft folgt? Kann ein Selbst von einem anderen angeeignet werden (was auf viel eingängigere Weise die Manipulationsthese besagt – nämlich als Figur des verformenden Eingriffs, der ja eigentlich nichts anderes besagt, als dass es dafür eine rationale Grundlage in der Figur der Aneignung eines solchen Vorgangs geben müsse)? Gibt es eine Subjektivität, die vollkommene Anschauung ist, aber von keinem Willen begleitet wird? Das sind Fragen, die zum Teil aus der Lektüre von SF-Literatur18 stammen, zum Teil aus erkenntnistheoretischen Aporien der abendländischen Ontologie.

5 Die als ‚Kybernetik‘ etikettierte Betrachtung des abendländischen Dualismus soll hier als Faden der Erörterung dienen, und zwar nicht in der Ausprägung der Regelkreistechnologie19 und auch nicht unter den theoretisch entscheidenden Fragstellungen einer künstlichen Intelligenz, respektive der Anwendung erkenntnistheoretischer Paradoxa aus der Geschichte der Philosophie auf eine allgemeine Theorie denkender Maschinen oder von Automaten.20 Norbert Wiener umschreibt den grundlegenden Sachverhalt so: Kybernetik hat mit Information zu tun und zielt auf sich selber organisierende Systeme. Das besagt

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nicht sehr viel, denn ein Selbstmord ist auch ein kybernetischer Vorgang. Entscheidend ist die theoretische Einführung einer dritten Qualität, nämlich der Information, neben Materie und Energie. Information lässt sich nicht als Aggregat oder Erscheinungsweise der anderen Qualitäten verstehen, sondern nur im Rekurs auf sich selbst, als Information eben. Damit wird nicht mehr der Unterschied zwischen Natur und Geist wichtig, sondern der zwischen der reversiblen Zeit des toten Objekts und der irreversiblen Zeit des Lebendigen. Die Kybernetik begreift, anders als das klassische Denken, Subjektivität nicht als übernatürliche Entität, sondern als diesseitiges Element, als Faktor von Immanenz und Vergänglichkeit. Und zugleich macht sie einsichtig, dass das Konzept der supranaturalen Subjektivität (die im Ernst um die Vergänglichkeit der physischen Welt weiß und im Ernst Subjektivität als unvergänglich denkt, und zwar nicht, weil diese in Begriffen von Zeit definiert würde – gerade das geschieht nicht –, sondern weil diese als Form und manchmal, wechselnd, als Inhalt von Identität gedacht wird) nur möglich ist durch eine Entgegensetzung, die auf der anderen Seite Objektivität als ontologische Form des Universalen denkt, die in sich konsistent sei. Das ist der logische Kern der metaphysischen Konzeption, die die Geschichte unserer Kultur als Denktypologie formiert hat. Getragen wird diese duale Metaphysik von einer zweiwertigen Logik21. Diese zweiwertige Logik – Prädikation durch Schlussformen – versagt gegenüber Pseudo-Objekten (damit können Introspektionen ebenso gemeint sein wie gestaltete Bedürfniskörper). Die Geltung dieser Logik führt immer wieder auf das Problem der semantischen Einheit des Subjekts zurück. Denn die Prädikation als Fiktion einer mit sich selber identischen Semantik des Subjekts ist von einem vorrationalen Wissenszusammenhang abhängig, davon nämlich, dass so etwas wie ein Bedeutungszusammenhang ‚Welt‘ bereits kulturell geordnet ist und durch die Organisation unmittelbarer Lebenstätigkeiten die Unterscheidung von möglichen und unsinnigen Prädikationen fixiert. Logische Eigenschaften, die mehrwertig sind, sind von der klassischen Logik nicht erfassbar. Die Denkformer der Zweiwertigkeit versagen vor bestimmten, in der Lebenswelt mehrheitlich auftretenden Objekten. Für die klassische Logik gibt es im Bereich der phänomenalen Wirklichkeit nur zwei Komponenten: Materie und Geist, Handlung und Begriff. Die kybernetische Auffassung, wie sie durch die Frage nach der Formbarkeit des Subjekts, und nicht durch die Suche nach Selbststeuerungsmechanismen implizierter Systeme vorgegeben ist, rechnet dagegen mit drei Komponenten (sogenannte protometaphysische Variablen): 1. mit dem gegenständlich transzendenten Objekt (seine Gegenständlichkeit ist seine Transzendenz), 2. mit dem subjektiven introszendenten Selbstbewusstsein und neu: 3. mit der Komponente der Information. In der Auffassung der Kybernetik ist Information eine bestimmte Qualität, und nicht der Name für einen medial vermittelten Inhalt. Information ist weder Materie noch Energie. Materie existiert aber nicht als Materie, sondern allein in Qualitätsunterschieden. Der

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zweiwertige Rationalismus erfasst das Problem der Qualitäten nicht zureichend. In ihm hängen Identitätsmetaphysik und klassische Logik so zusammen, dass die Strukturen des Bezugs von Subjekt und Objekt eindeutige Prädikationen erlauben. Die Prädikation schreibt dabei dem Subjekt notwendig eine bestimmte Substanz zu. Diese drei Komponenten bilden Begriffskomplexe, die nicht aufeinander reduziert werden können. Damit wird das klassische duale Denken erschüttert. Wirklichkeit kann nur ‚poly-kontextural‘ (nach einem Ausdruck Gotthard Günthers) begriffen werden. Die Kontexte können ändern. Kybernetisch wird einsehbar, dass die Unzulänglichkeit nicht eine Erfahrung dieser gegenüber einer jenseitigen Welt ist, sondern eine Erfahrung in der diesseitigen Welt. Der Begriff des Lebens wird gebildet durch den Wechsel, durch Brüche zwischen verschiedenen Texturen und Kon-Texturen des Wirklichen. Es gibt nicht mehr nur die eine, mehr oder weniger gut erkennbare Wirklichkeit. Im klassischen abendländischen Rationalismus ist das ‚absolute Sein‘ der Ursprung zweier metaphysischer Seinskomponenten: von objekthaft Seiendem und subjekthafter Reflexion. Im Absoluten fallen diese Komponenten zusammen: coincidentia oppositorum (Cusanus). Nach dieser identitätstheoretischen Auffassung hat alle uns umgebende Realität eine sachhaft objektive und eine sinnhaft subjektive Seite. Die klassische Axiomatik bildet ein in sich geschlossenes Denksystem. Es setzt eine Zweiteilung unserer theoretischen Begriffe voraus: Sein und Nichts, Seele und Ding, Sinn und Sein, Zeit und Ewigkeit, Intensität und Extensität. Aber jeder fiese Begriff zielt auf eine trans­ zendentale Einheit, welche die Polykontexturalität des Wirklichen nicht mehr zulässt. Und damit auch keine Übergänge mehr. Das bedeutet: Zwischen Sein und Nicht-Sein liegt nicht der Ursprung als Übergang der Benennung, sondern die prinzipielle Struktur des Unvereinbaren, der Wahlalternative, der Zweiwertigkeit.22 Der Satz der Identität als oberstes Prinzip der klassischen Axiomatik enthält die Überzeugung, dass alle kog­ nitiven Motive unserer Gedankentätigkeit daraufhin identifiziert werden können, ob sie objektiv gegenständliches Sein abbilden oder als bloße Repräsentation des subjektiven Gedankengangs eines beliebigen Ichs angesprochen werden können. Die transklassische Logik zielt auf ein anderes Verständnis von Realität. Sie postuliert Mehrwertigkeiten. Das heißt auch, dass sie an die Stelle hierarchischer Verhältnisse horizontale Verknüpfungen setzt. Das ist im Wesentlichen die seit ca. 15 Jahren beginnende Selbstkritik der kybernetischen Theorie, die an die Stelle der instrumentellen Behebung von Störungen die Einrichtung ‚auto-poetischer‘ Systeme setzen möchte. Die Zeitstruktur eines Kommunikations- oder Informationsflusses bleibt organisch, auch wenn er in einem mechanischen, maschinellen Kreislauf dargestellt wird. Wenn wir nach den letzten Gründen des Daseins fragen, dann gibt es im transklassischen Modell kein vorgeordnetes Rangverhältnis, sondern, mit einem Ausdruck von Gotthard Günther allein ‚urphänomenale Umtauschverhältnisse‘. Die Qualitäten können abgebrochen und vertauscht werden. Das kann nicht arithmetisch dargestellt werden. Wenn es in den letzten Gründen des Daseins keine Rangordnungen gibt, dann kann man ihren Bereich nur als Freiheitsraum definieren. Wir würden dort nicht auf ­Hierarchien, sondern auf Entscheidungssituationen treffen. ‚Objektivität‘ ist nichts weiter als ein Name für vollzogene Entscheidungen. Aber diese Entscheidungen sind nicht

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Resultate eines tätigen Subjekts. Die Preisgabe der transzendentalen Auffassung von der Objektivität setzt mit der Zweiwertigkeit der Logik auch das Modell des universalen schöpferischen Subjekts als der Evidenz der Selbstbezüglichkeit außer Kraft, durch welche sich der ontologische Status des Wirklichen homolog abbilde. Es gibt keine Objektivität der Welt außer der, in der die Abbildbarkeit der Welt zu einem Entscheidungsakt dessen würde, was als Ausdruck für das Konzept der bruchlosen Universalkontextur beitragen könnte. Die Kybernetik behandelt Kategorien wie ‚Erinnerung‘, ‚Vergessen‘, ‚Meinen‘ und ‚Täuschen‘ nicht unbedingt als Kategorien einer Subjektivität. Sie behandelt sie als Kategorien der Information. Aber der kybernetische Begriff der Information meint nicht Datenfülle. Information beschreibt vielmehr den Grad der Freiheit, der im Prozess der Kommunikation bei Auswahl einer Mitteilung zur Verfügung steht. Das Maß an Information, das sich produzieren lässt, ist nichts anderes als das Maß der Freiheit, das sich im Gebrauch der Symbole betätigen kann. Für uns sind solche Überlegungen auch deshalb interessant, weil sie aus dem visionären Arsenal der 1950er-Jahre stammen und nicht aus den moralisierenden Horrorvisionen einer Technikkritik, die unter Technik immer die Perversion eines anderweitig nicht verständlichen ‚Menschlichen‘ überhaupt propagiert. Es sind erkenntnistheoretische Daten der technologischen Revolution, die uns heute beschäftigen. Die Aufhebung der Zweiwertigkeit, die Überwindung des Dualismus, insbesondere die Ablösung der Subjektivität vom Modell idealistischer Weltenthobenheit – das alles bedeutet, den technischen Zugriff nach außen nun einem auf gleicher Ebene angesiedelten technischen Zugriff nach innen zur Seite zu stellen. Subjektivität ist nicht mehr etwas, was dem technischen Zugriff entrückt ist. Erst recht begründet Subjektivität sich nicht mehr als jenen privilegierten Bereich von Eigentlichkeit, in dem sich die Konstruktionsprinzipien des Subjektiven als Nicht-Berührbarkeit durch apparative Einwirkungen wähnt. Solange die Idee eines Rangverhältnisses zwischen Geist und Materie das philosophische Denken beherrschte, solange war die Idee der technischen Machbarkeit, der Simulation und synthetischen Erzeugung subjektiver Ereignisse absurd. Wenn nun aber das kybernetische Bewusstsein feststellt, dass Subjekt und Objekt gleichwertige Momente eines polykontexturellen Wirklichen sind, dann wird klar, dass technische Zugänge zur Subjektivität möglich sind. Verfügung über Sinn ist ein Element des Prozesses, das den ganzen Zusammenhang des Modells trägt. Es fordert zunächst einfach das theoretische Bewusstsein, unter Objektivität etwas zu verstehen, was in genau dem Maße informativ ist, wie es Bilder im Inneren bearbeitbar macht, wie also nicht die Existenzbehauptung des Wirklichen, sondern die Evidenzbehauptung der Bestimmung des Wirklichen durch Wahrnehmung das ausmacht, was man alltäglich Orientierung im Wirklichen nennt. Die technischen Zugriffe auf subjektives Erleben, anders gesagt: die Technik des subjektiven Lebens, werden heute nicht, wie Kulturkritik es nahelegt, neue Dimensionen der menschlichen Verlorenheit in der übergroßen Welt, sondern werden einzig in Apparaturen gefasst, als Auswirkungen der transklassischen Logik, die erstmals den Boden bereitet hat für ein objektives Verständnis von Subjektivität, und das heißt: für ein Verständnis von Subjektivität, als einer be­

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arbeitbaren Materie. Die Erörterung der transklassischen Logik hat Auswirkungen für die aktuelle Theorie der Gestaltung. Denn die Fragen nach der Reinheit und Konsistenz eines Stils sind noch Ausdrücke, die vom Dualismus und der Zweiwertigkeit getragen werden: entweder Materie oder Geist, Dinglichkeit oder Wertigkeit. Die Gestalter nehmen in der Regel an, dass sie ein autoritäres Verhältnis zu ihren Schöpfungen haben können. Sie schreiben eine Evidenz der Bedeutung ontologisch den Dingen zu, in denen sich die Form ihrer Handlungen repräsentiert23. Sie konzipieren das Material der Dinge als roh, um ihre Gestaltungsformen als ontologische Bestimmungen an den Dingst selber definieren zu können. Das ästhetisch vorherrschende Selbstverständnis der an Reinheit des Stils orientierten Gestalter geht über die Umwälzungen und Brüche hinweg, die sich in der Geschichte der modernen Erkenntnis ergeben haben: über die Auflösung der Ontologie durch die Entdeckung der ontologischen Struktur unserer Sprache, über die Unschärferelation der modernen Naturforschung, die Vernunftkritik der Philosophie, das Scheitern des Entwurfs von Idealsprachen im Umkreis der Wiener Schule, den Weg vom Impressionismus in die Abstraktion. Letzterer Vorgang ist besonders deshalb interessant, weil er deutlich macht, dass die sich modern und innovativ wähnende moderne Gestaltung die radikale Zeichenkritik der avantgardistischen ‚freien‘ Kunst nicht mitgemacht hat. Im Diskurs der modernen Kunst sind die Konsequenzen der Stilkritik des Historismus aufgehoben und nicht im funktional-konstruktiven Materialbewusstsein der modernen Transparenz. Denn der Weg von Cézanne über den Symbolismus, die ‚Nabis‘, die ‚Fauves‘, den Expressionismus und Kubismus hin zu den Improvisationen Kandinskys und den Versuchen der Pariser Schule gehen zunehmend nicht mehr von Bezeichnungsqualitäten aus, sondern von Bild-Prinzipien. Dieser unter dem Titel ‚Abstraktion‘ berühmt gewordene Vorgang der internen semiotischen Untersuchung des Bildbewusstseins überwindet die Relation der Zeichen, wie sie für die Gestaltung immer ein Argument geblieben war: als Relation zu einer Wirklichkeit, an der die Gestaltung sich misst, wogegen die Abstraktion ihre Prinzipien als Wirklichkeit des Bildes in Relation setzt zum Bewusstsein vom endlich entdeckten Eigenwert der ästhetischen Strukturen. Hier setzt die auf Design anwendbare Kritik durch die transklassische Logik ein. Mit Wittgensteins Philosophische Untersuchungen gesprochen: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Eine Produktion von Zeichen ist nicht ontologisch, sondern habituell und kompositionell bedeutsam. Produktion wird zu einem sinnstiftenden Vorgang der Rezeption. Die Gründe des Vergangenen werden erhellt allein durch den Vorgriff des Künftigen auf die Gegenwart. Designprobleme berücksichtigen dies meist in der schwachen Form einer innovativen Abklärungsstrategie. Empirische Befunde haben nach dieser Vorstellung die Formen des künftigen Geschmacks in den bereits erfassbaren Spurenelementen ausfindig zu machen. Bedeutungen werden durch Benutzung möglich. Das ist kein genetisches, sondern ein logisches Argument. Es geht um die Relation: Bedeutungen für ein Subjekt existieren nicht ohne Vollzug der Bedeutungen durch dieses Subjekt, sind also immer Aktualisierungen. Umgekehrt kann ­ edeutungen entwickeln, wenn sie auf die Sprache und die Formen der die Produktion B

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Aneignung sich einrichtet. Das klingt banal. Ist es aber nicht. Denn die antizipierende Leistung des Designs versteht sich im Bewusstsein der eingerichteten ökonomischen Apparatur selten bis nie als Vorgabe für Formen der Aneignung, sondern meistens bis immer als Inszenierungen von Darstellungsinhalten, in denen ein Bewusstsein den dinglichen Körper der Erkennbarkeit seines Formbedürfnisses für sich erschließt. Aneignungsform und Darstellungsinhalt aber gehören nicht auf die gleiche Weise und in derselben Hinsicht dem gleichen Subjekt zu. Gegenüber den einen kann es nämlich erproben, was es durch die anderen global sich einkauft. Erst das Sitzen macht den Stuhl möglich, nicht der Stuhl selber.

6 Wenn man sich in den Dokumenten der Moderne umsieht, in Bezeugungen und Selbstverständnissen von modernen Künstlern und Gestaltern – vom Manifest des Symbolismus über den Werkbund zu Kandinskys Schriften, Klees Positionen, den Manifesten des Bauhauses und parallel dazu den Thesen des Futurismus, des Dadaismus24 –, die angestrengten Versuche einer Vereinheitlichung von künstlerischen und technologischen Errungenschaften an der Schwelle zur Massenproduktion durch eine Gestaltungselite nachvollzieht –, dann stellt sich die Frage deutlich, ob die im Bereich der modernen Kunst ausdrücklich entwickelten Überlegungen zur Ganzheitlichkeit des kritisch-ästhetischen Bewusstseins – nicht selten in mystisch heilsgeschichtlicher Ausprägung wie z. B. bei Kandinsky oder in sozialkritisch-revolutionärer Ausprägung wie bei Malewitsch, Eisensteijn und Tretjakow, um nur diese zu nennen – überhaupt die kunstgewerblichen Gestalter beeinflusst haben. Für nicht wenige der Architekten lässt sich das zwar nachweisen, aber man weiß nicht so recht, wie sich diese Inspiration im Bauprogramm niedergeschlagen hat und inwiefern sich diese ideologischen Einflüsse auf das kulturelle Selbstverständnis und den politischen Habitus der Produzenten auswirken oder in dessen bloß privater Gestalt wieder absorbiert werden. Es scheint eigentlich so, als wenn die wichtigen Theorien der Gestaltung vom Werkbund bis zum Bauhaus doktrinär, ontologisch und vorkritisch bleiben. Sie blenden ästhetische Vermittlungsstrukturen auf eine Art aus, die man sich wohl allein aus der programmatischen Herkunft einer erneuerten Gotik als der Baukunde und dem Persönlichkeitsbild eines kompetenten Gestalters erklären kann – als Versuch der Überwindung und Erneuerung der Maschinenkultur zugleich. Zwischen so konträren Denkern wie Muthesius und van de Velde ist die Verbindlichkeit der Maschine auch als ästhetisches Idealmodell wohl das einzig Gemeinsame. Die Verteidigung der Maschine markiert den entscheidenden programmatischen Schritt in eine moderne Auffassung von Gestaltung. Design wird hier notwendig zur Kritik am Luxus und der Herrschaftsstruktur der kapitalistischen Gesellschaft. Allein aus dem Gedanken der Maschine – ihrer Präzision und Leistungskraft, ihrer Programmierbarkeit, die auch zu ästhetischen Idealen werden – lässt sich eine Konsumgüterkultur denken, die nicht Abfall vom oder Imitation des

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gründerlichen und historizistischen Luxus ist. Der Gedanke einer demokratischen Ästhetik, die sämtliche Kenntnisse und Fähigkeiten der technisierten Produktion, organisiert durch die Elite der programmierenden Gestalter, miteinbezieht und nutzbar macht, gibt den Brennpunkt ab für gesellschaftspolitische Überlegungen und Vorstellungen. Die Zuwendung zur Maschine, die in den ersten Generationen der Designer die Form der Überwindung des Maschinenhasses annimmt, vollzieht sich aus der Einsicht, dass die gute Gestaltung vertretbar nur als Massenproduktion ist. Interessant ist der Streit auf der Werkbundversammlung von 1914. Muthesius und van den Velde formulieren Thesen und Gegenthesen über das Verhältnis von künstlerischer Gestaltung und maschineller Typisierung, über das Problem der Programmierung einer Apparatur also und die Ortschaften der künstlerischen Ausrichtung der Befehlsformen. Muthesisus vertritt die Position der Volkserziehung, konzipiert den Begriff des Stils als durch serielle Anordnungen ausführbare Einheit. Van de Velde erinnert an das künstlerische Pathos des offenen Prozesses, spricht vom Probehandeln und ewig Unsicheren der Kunst. Aber beide haben, verdeckt, mit dem Problem zu ringen, dass die Errungenschaften einer zeitgemäßen modernen Ästhetik gerade nicht auf dem Feld des Dinglich-Konkreten, sondern des Abstrakten erstritten worden sind. Die sogenannte ‚ungegenständliche Kunst‘ bezeichnet nur den konzeptuellen Endpunkt eines Prozesses, der die Dialektik von Wirklichkeit und Ansicht zum unauflösbaren Gegensatz von Natur und Abbild verkehrt und schließlich daran scheitern lässt, dass das Dingliche im Bild in einer Form erscheint, welche die Dinglichkeit selber schon zertrümmert hat. Der Kubismus markiert den Übergang, an dem die konzeptuellen Relationen dieser Umschichtung der Zeichen gegenüber einem nunmehr durch die Zeichen selber, und nicht mehr durch Relata, definierbaren Wirklichkeitsbereich sichtbar werden. Die Erfahrungsgehalte der modernen Kunst gründen darin, dass die Bedeutungen von ihren dinglich identifizierbaren Objektträgern abgelöst worden sind. Der Stellenwert der Bilder spiegelt die Veränderung im visuellen, ästhetischen Prozess. Die visuelle Ästhetik der Dinge – hier grob genommen als Beschreibung der Resultate von ‚Design‘ – spielt sich heute in einer stetig wachsenden Ungleichzeitigkeit gegenüber der Ästhetik des Visuellen ab. Und auch auf dem Hintergrund großflächig veränderter visueller Lebenswelten, der Großstadt z. B. Gewiss gibt es hier auch noch Dinge. Aber eben nur Dinge ‚irgendwo‘. Die Ästhetik des Visuellen dominiert deshalb, weil sie mit selbstreferenziellen Bildern arbeitet, d. h. mit formalen Abstraktionen (die einfach mehr Inhalte zulassen), durch die Bedeutungen immer tiefer und direkter in den Kopf des Rezipienten hineinverlegt werden. Gerade die Tradition des Werkdesigns macht heute schmerzlich deutlich, dass Bilder ästhetisch bedeutsam sind allein um den Preis ihrer Un-Dinglichkeit. Das moderne Paradigma des Ästhetischen – wenn es denn überhaupt eines gibt – bedeutet, dass die Zeichen vom Natursubstrat ihrer Darstellbarkeit getrennt werden und dass keine ontologische Beziehung zu einer äußeren Realität ihnen die Konstitution von Sinn liefert (auf verschiedene Weise ist das selber zum Thema des ästhetischen Prozesses, als einer Art ‚Metasprache‘ gegenüber den ästhetischen Werken, geworden in der Generation der Hoelzels, Kandinskys, Kupkas, Endells, Obrists).

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Bereits 1908 weist Wilhelm Worringer in Abstraktion und Einfühlung darauf hin, dass die autonome Gestaltung auf die abstrakten Qualitäten des Lebens gewissermaßen ‚zeigt‘ und dass durch sie endlich die überalterten platonischen Nachahmungstheorien und ein allein beliebig gewordener aristotelischer Subjektivismus überwunden werden können. Aristoteles hat mit dem Gedanken der poetischen Künste das Konzept der subjektiven Produktion, der Schöpfung eigener Art, der subjektiven Bedingungen der Ästhetik entwickelt. Vitruv nimmt sie z. B. als Ergänzungen zum Konzept der ‚Harmonie‘ auf und versteht unter der subjektiven ‚Eurhythmie‘ gerade nicht bloße Modifikation des Harmonischen.25 Es tritt der psychische Wert der Kunst selber ins Zentrum, die Metaphysik des Schönen als des Nicht-Klassischen. Etwas altertümlich formuliert Worringer den Hinweis auf den Ahnungsgehalt einer ‚neuen Zeit‘: „Alle künstlerischen Produktionen sind nichts anderes als eine fortlaufende Registrierung des großen Auseinandersetzungsprozesses, in dem sich Mensch und Außenwelt seit Anbeginn der Schöpfung und in aller Zukunft befinden.“ Kunst ist eine Äußerungsform, die verschiedene Weisen, sich zu der Welt zu verhalten, schneiden und verbinden. Die sogenannte und vielgepriesene Einfühlung ist eine regressive Figur, die längst am Verlust des Ontologischen gescheitert ist. Und zwar genau an jener Selbstgewissheit, die mit dem Auftreten geschichtsphilosophischen Bewusstseins sich als Form mühsam kanalisierter Angst und verschobener Gewalt der Erinnerung an die Anfänge des gegen Außenwelt errungenen Bewusstseins darstellt. Das dürfte der Grund für eine eigentümliche Symmetrie in den Selbsttäuschungen des Künstlers und des Gestalters sein. Der Künstler hält sich für ein affiziert-einfühlsames Wesen, der Gestalter für einen rationalen Organisator eines ästhetischen Effekts; die Täuschung liegt im Absehen von den Organisationsbedingungen der Arbeit, die in der Geschichte definiert liegen und nicht im ‚Wollen‘. Abstraktion entsteht aus dem Affekt der Angst, um die Angstbearbeitung aufrechtzuerhalten, den Aufwand zu stabilisieren.26 Eine integrative Auffassung von den synthetischen und synästhetischen Bedingungen von Formgebung und Wahrnehmung ist, wenn ich recht sehe, im Bereich der Anwendungskünste erst mit den sechs Bänden sehen und werten zum Durchbruch gekommen – also mit ca. 50 Jahren Verspätung gegenüber dem modernen ästhetischen Bewusstsein, wie es sich in Erfahrungsformen der Kunst geäußert hat –, die Gyorgy Kepes 1965 in der Tradition des Bauhauses versammelt hat, u. a. zu den Themen ‚Wesen und Kunst der Bewegung‘, ‚Modul, Proportion, Symmetrie, Rhythmus‘; ‚Visuelle Erziehung‘, ‚Struktur in Wissenschaft und Kunst‘, ‚Der Mensch und seine Dinge‘, ‚ Zeichen, Bild, Symbol‘27. Tretjakov stellte bereits 1923, in Die Kunst der Revolution und die Revolution in der Kunst, fest, dass die künstlerische Arbeit nicht einfach umbenannt werden könne, sondern dass gerade aus dem ästhetischen Gehalt die Kunst Zusammenhänge aufbewahre, die auf das ganze Leben zielen und nicht mehr aufs Werk. Ähnlich El Lissitzkys Theorie vom ‚Proun‘: Die ästhetische Flächendimension der Kunst und ihr Darstellungsraum müssen durchbrochen und durch den ästhetischen Bezeichnungsvorgang zum Reflexionsprozess gesellschaftlicher Wahrnehmungsbedingungen erhoben werden. Mir scheint es sinnvoll oder mindestens möglich, an dieser Stelle nicht den Begriff des Erfahrungszusammenhangs zu erörtern, sondern auf eine Rezeption des Funktio-

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nalismus durch eine Selbstkritik des modernen Bewusstseins hinzuweisen, in der ein von den Propagandisten der Gegenaufklärung mit verschämter Vorliebe verschwiegenes Motiv der Moderne zum Zuge kommt: den Geltungsanspruch von Funktionen nämlich zugleich als Strukturen der Erfahrung des Geltungsansprüche bildenden Bewusstseins zu lesen. Damit würde man den Beginn der Moderne, was ohnehin richtiger wäre, mit z. B. der Phänomenologie des Geistes von G. W. F. Hegel 1807 ansetzen und nicht mit der absoluten Poesie Mallarmés oder gar erst mit der Generation der Künstleringenieure ab 1919. Der Funktionalismus besteht auch in einer Selbstkritik des funktionalen Bewusstseins. Das hat in der Tradition der Frankfurter Schule von Adorno bis Habermas zur Unterscheidung von funktionalem Bewusstsein, instrumentellem Handeln und funktionalistischer Rationalisierung von Kommunikation durch institutionelle Verwaltung, Verrechtlichung und formale Rationalisierung geführt. Funktionalismus, für einmal nicht als Feindbild etabliert, sondern selber als Kritik und kritisches Potenzial verstanden, meint eine Reflexion auf den Lebenszusammenhang und die Grenzen der dinglichen Verfassung von Werten und im Besonderen auf die heimliche Ontologie der funktionalen Vernichtung ästhetischer Wertsetzungen. Man verkennt leicht, dass heute gerade der Funktionalismus die Struktur der Darstellung und die Aufladung mit Werten einer Darstellung, die das Subjekt den Strukturen aufzwingt, unterscheidbar macht. Das scheint dann so, als würde die funktionale Vernunft die Dekorierung und Ornamentierung von Selbstdarstellungsritualen geradezu verbieten. Aber das stimmt gar nicht. Die These vom Funktionalismus befragt den Gestalter einfach über seinen Umgang mit dem Anspruch auf Rationalität. Man kann dem Funktionalismus nicht vorwerfen, wenn ein Konsens von Gestaltern, der in irgendetwas bestehen mag, einfach von ihm abrückt. Er hat Argumente nur auf der Ebene der Konzepte. Denn da der Kitsch ohnehin produziert wird, kann es ihm nicht um die Purifikation der öffentlichen Moral gehen. Das wird ihm immer wieder unterstellt – dabei versteht er sich einfach als gesellschaftspolitisches Modell für die ästhetisch vertretbare Nutzung der Massentechnologien. Etwas Neues ist dagegen, dass Gestalter an die Stelle einer Selbstkritik des Funktionalismus, der ja nicht zu einem ästhetischen Kanon geführt hat, den Anspruch setzen, es sei gerade die höchste Erfüllung, wenn der hochkulturell-elitäre Gestalter nun auch in der Lage sei, Kitsch herzustellen und zu fördern. Es ließe sich hier zumindest einwenden, dass eine Funktionalismuskritik nicht geleistet ist, wenn man die Gestaltungsniveaus in Bereiche verschiebt, für die es vernünftigerweise gar keines Funktionalismus bedarf. Hier scheint es dann wirklich so zu sein, dass die Gestalter sich eine Legitimation in Bereichen suchen, deren Reiz gerade in der anonymen Massenproduktion und einer schweigend-regressiven Ästhetik von unten besteht.28 In einer Rede vor dem deutschen Werkbund hat 1965 Theodor W. Adorno resümiert, woran es dem ontologischen Verständnis der ästhetischen Werte wie Punktion, Dauerhaftigkeit, Materialgerechtheit und der Konzeption des pädagogischen Wertes der Werktreuen Gestaltung gebricht: am Bewusstsein, dass unsere moderne Gesellschaft einen überfunktionalen Komplex repräsentiert, der die Menschen maschinell verformt. Und am ­ andlungen Bewusstsein, dass im gesamten Bereich gesellschaftlicher Vermittlung von H

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auch sogenannte rein pragmatische und funktionale, die überzeugend zurückhaltenden Lösungen bestimmten ästhetischen Mustern folgen, deren Geltung vom Bestand der gesellschaftlichen Unterdrückung bestimmter Erfahrungen abhängen. Der Funktionalismus erschöpfe sich nicht in der Einrichtung praktischer Funktionen. Adorno hält daran fest, dass ‚Verkunstung‘ immer eine ästhetische Lüge sei und dass umgekehrt die Haltung einer zweckfreien Kunst in der Gestaltungspraxis sich über die gesellschaftlichen Mechanismen einer notwendig erzeugten Ungerechtigkeit hinwegsetze. Die Zweckmäßigkeit in der spätkapitalistischen Gesellschaft durchbricht die Vernunft der Mittelbeziehungen, weil die Gesellschaft als ganze irrational, ungeplant und ungerecht sich auswirkt. Es gibt keine praktische Form, deren Gebrauch nicht zugleich ein Symbol wäre. Die Angemessenheit von Mitteln als Selbstzweck ist ein Fetisch, welcher die im Prinzip ehrenwerte Gesinnung des Handwerklichen pervertiere. Formen und Materialien lassen sich nicht als Naturgegebenheiten, sondern allein als historische Phänomene betrachten. Lob des Funktionalismus: Funktionelle Architektur vertritt einsehbar die Möglichkeit des menschlichen Fortschritts, der auch dargestellt werden kann als wachsende Trennung von Zeichen und Benutzbarkeit. Grenze des Funktionalismus: Über die sozialen Widersprüche hat die Architektur keine Macht, erst recht nicht über jene, welche die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte in eine gesellschaftliche Form fesseln, in der die eigentlichen Produktivkräfte, die Menschen, deformiert werden. Kritik des Funktionalismus: Noch die ‚zurückgebliebensten, konventionellsten‘ Menschen, so Adorno, hätten ein Recht auf die Erfüllung ihrer regressiven Bedürfnisse. Pathos des Funktionalismus: Menschenwürdige Gestaltung denkt besser von den Menschen als sie sind. Adorno folgert: Jeder Gestalter müsse sich Rechenschaft ablegen über den gesellschaftlichen Standort und die Schranken seiner Arbeit. Die ästhetische Überlegung müsse den verfestigten Gegensatz des Zweckvollen zum Zweckfreien überwinden, deren Trennung die Leidensgeschichte der Gestaltung in der Moderne darstellt – aufseiten des Produzenten wie des Nutzers. Damit wäre der Gestalter wieder bei dem angelangt, was er nur indirekt, vermittels der Resultate einer nach außen vermittelten, produzierten Arbeit thematisiert: den Grad der Vernunft seines eigenen Bewusstseins. Versteht man unter Vernunft eine kulturelle Tradition, unter Bewusstsein eine Apparatur der Identifikation von Erfahrungen und unter Arbeit einen Versuch, den unbemerkten Mechanismen eine überprüfbare Form zu geben, dann stellt die Rationalität des Gestalters nicht so sehr einen Schatz für andere dar als vielmehr eine Arbeitsthematik, einen Rohstoff für ihn selber. Aus diesem Rohstoff ließen sich Formen gewinnen. Die Funktion des Rohstoffgewinns durch die Einprägung von Formen wäre ein Zuwachs genau dann, wenn der Gestalter an seiner und nicht primär an einer nach außen delegierten Rationalität arbeiten würde. Funktionales Bewusstsein heißt nichts anderes, als dass es hinter einer Formindifferenz Fragen der Einrichtung gibt, die sich definieren lassen und die sinnvollerweise durch die Arbeit von Gestaltern definiert werden. An dieser Voraussetzung hängt ein Wertesystem, das der Gestalter heute immer noch eher verdeckt als eröffnet: dass die dinglichen Einrichtungen der Lebensversorgung nicht schon Funktionen des erfüllten Lebens sind. Die Kunst des notwendig ­Nebensächlichen gälte es zu entdecken. Der Gestalter muss sich hier durch die von ihm

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benannte Welt erst wieder so durchfinden, dass er überhaupt wahrnehmen kann, was er tut. Mit der Erfassung der Worte, die er aus seinem Kopf verbannt, würden ihm auch die Dinge abhandenkommen. Dazu gibt es eine Erzählung von Carmelo Samonà.29 ‚Der Aufseher‘ schildert in einem vernachlässigbaren Dekor, das von einigen Zufälligkeiten des heutigen Lebens, demnach als mögliches Dekor diktiert wird, die Geschichte der Entleerung des menschlichen Kopfes von den Namen und Benennungen, die sich über die Anwesenheit von Dingen so in den Kopf einschleichen, dass sie gewissermaßen den Blick des Menschen auf das Wesentliche verstellen. Man könnte vorschlagen, unter Design genau den Vorgang der Inszenierung dieser Verstellung zu verstehen. Dann würde es darum gehen, die Dinge so lange wahrzunehmen, bis ihr Name verschwindet und umgekehrt, die Namen so lange zu erinnern, bis sie von den Dingen sich lösen. Dinge und Namen würden an diesem Punkt irrelevant und austauschbar. Von dort ließe sich wieder ein Diskurs über Gestaltung eröffnen. Der Rest bliebe eine Herstellung von Dingen, die im Ernst unersetzlich sind und sich deshalb für den anspruchsvollen Diskurs eines möglichen freien Umgangs mit Dingen nicht eignen. Diese Erörterungen seien mit einigen verstreuten, hier frei ­zusammengesetzten Passagen aus dem Text von Carmelo Samonà beschlossen, der 1983 auf Italienisch, Deutsch 1984, erschienen ist: „Meine Suche fängt an bei dem Sichtbaren um mich her­ ­um. Was umgibt mich? Nichts als nackte Wände, dürftiges Mobiliar, ein Fenster, eine Tür. Sandkörnchen, sicherlich, im Vergleich mit der grenzenlosen Welt, von der ich ausgeschlossen bin. Es genügt aber, um bei mir ein minutiöses, anhaltendes Kontrollbedürfnis und eine außergewöhnliche Besitzeslust gegenüber diesen paar Dingen zu erwecken. Das Zimmer ist klein und kahl, die Zeit, um es auszuloten, unbegrenzt; infolgedessen ist mein Blick zum scharfen Beobachter ganz weniger Gegenstände geworden. Lange Pausen des Nachdenkens spannen sich über ein enges Gesichtsfeld, dringen ein in den winzigen Raum zwischen Feldbett, Tisch und Strohstuhl. Aus der Form dieser Gegenstände versuche ich, die Absichten meiner Aufseher zu eschließen. Offensichtlich haben sie aus dem Raum, der mich einschließt, jegliche Spur häuslichen Lebens getilgt. Es besteht kein Zweifel: die mich hier eingesperrt haben, wollen, dass ich nur erinnerungslose Gegenstände sehe, bar jeder Eigenschaft, die vielleicht früher einmal eine Geschichte um sie spann, reduziert allein auf ihren Gebrauchswert und eine Nummer der Serie, zu der sie gehören. Die Form des Stuhls soll nur auf sich selbst verweisen: eine Form also, die das Dasein des Gegenstandes und dessen Namen anzeigt, aber keine Nachricht darüber gibt, was in der Vergangenheit mit ihm und auf ihm geschah. Ich habe Angst, aufs Neue, ich weiß nicht wann und nicht wie, von den Auswüchsen meiner selbst überfallen zu werden, die noch geraume Zeit im Zimmer auf und nieder wogen, auch nachdem ihr Bild schon vorbei ist oder sich lediglich meinem Blick entzogen hat. Mag sein, dass jedes Verschwinden unglaublicher Dinge ein Aufzucken aus der Mitte meines Denkens ist und nicht ein Erwachen aus dem Schlaf: eine brüske Zäsur, die mein Denken immer dann abbrechen lässt, wenn es einen für mich unerträglichen Grad an Intensität erreicht hat und mir so mit einem Schlag die Energie für das Warten an der Tür und den Kontakt mit den Dingen wiedergibt, die wirklich und ­unwiderruflich

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da sind. Ich hatte den Eindruck, als würde ich durch einen gewaltigen Schlag wieder mit den Gegenständen verbunden, als würden mir Licht und Wärme wiedergegeben. Vielleicht war ich auf dem tiefsten Punkt der Verworfenheit angekommen. Seither hat mein Körper keinen Frieden mehr. Ich sage immer noch mein Körper. Schildere die Phänomene im Zimmer als wäre ich, der ich zusehe und zuhöre, auf der einen Seite und auf der anderen die in Aufruhr geratene Materie. Aber das ist ungenau. In Wirklichkeit befinde ich mich selbst mitten in dem bunt zusammengewürfelten Haufen und dem Zusammenfließen der Dinge, ich bin ihrem Kampf einverleibt. Seit einiger Zeit bin ich in den Dingen, die ich beobachte. Anstatt mich auf jenen einzigen Punkt zu konzentrieren, der keinen Namen hat, schweife ich ab. Trotzdem spüre ich, dass diese Annäherung nicht zufällig ist. Indem ich die Dinge beschreibe, kann ich sie noch eindämmen, ihrem Chaos und ihrer Herrschaft eine Grenze setzen; indem ich sage, dass mein Aufseher oder das Armband wie Regen auf mich niedertropfen, dass das Fenster oder der Tisch in Stücke gehen, habe ich den Beweis, dass mich diese Geschehnisse noch nicht überwuchert haben.“

Geschrieben im Januar 1985 als erste Fassung für das Nachwort, das unter dem Titel „Immer wieder dem ­Leben hinterher – mit Gestaltungstheorien?“ publiziert worden ist in der Broschüre Design im Wandel. Chance für neue Produktionsweisen?, hgg. v. Hans Ulrich Reck und IDZ Berlin, Internationales Design ­Zentrum ­Berlin, 1985, S. 78–99.

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Z. B. seiner philosophischen Form. Vgl. dazu Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt, 1985. 2 Vgl. z. B. Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stich­ wort ‚Abstraktion‘. 3 Vgl. dazu: J. Piaget, Biologie et connaissance, Paris 1967; W. R. Ashby, Design for a brain. The Origin of adaptive bahaviour, London, 1960, 2. Aufl.; K. Goldstein, Der Aufbau des Organismus, Haag, 1934; J. Hux­ ley, Evolution. The modern synthesis, London, 1942; N. Tinbergen, Instinktlehre, Berlin und Hamburg, 1952; E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III. Phänomenologie der Erkenntnis. Berlin, 1929. 4 Vgl. dazu Lucius Burckhardt, Die Kinder fressen ihre Revolution. Köln, 1985. 5 Zur Figur des Verrats als eines erkenntnisstiftenden Motivs: G. Deleuze / C. Parnet, Frankfurt, 1980; A. Gorz, Der Verräter. Frankfurt, 1980. 6 Zur theoretischen Arbeit an der Erhaltung der ‚Monster‘ einer Theorie: Michael Thompson, Die Theorie des Abfalls, Stuttgart, 1981, Kap. 7. 7 Vgl. auch die Einleitung von T. Hilpert zur kritischen Neuausgabe des Textes: T. Hilpert (Hrsg.), Le Corbu­ siers ‚Charta von Athen‘ – Texte und Dokumente, Bauwelt Fundamente, Braunschweig, 1984. 8 Datieren lässt sich die prototypische Auffassung vom modernen Subjekt als Krise seiner selbst immer noch am besten mit Karl Philipp Moritz’ ‚Anton Reiser. Ein psychologischer Roman‘ von 1785. 9 Vgl. dazu Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Teil I: ‚Säkularisation und Selbstbehauptung‘. Frankfurt, 1966. 10 Michael Theunissens Kommentierung von Hegels Logik, ‚Sein und Schein‘, beschreibt das Konzept der säkularen Identität als Krise der Macht; vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegel’schen Logik, Frankfurt, 1978.

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11 Diese Lesart des grundsätzlichen Problems des Funktionswandels des Bewusstseins durch die ­geschichtsphilosophische Orientierung entfaltet Hans Georg Gadamer in ‚Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik‘, Tübingen 1960 12 Vgl. Aristoteles, analyt. post. I 33. 88 b 30; ebda. 18. 81 b 5 etc. 13 Vgl. die ‚Meditationen‘ des René Descartes von 1685, v. a. die sechste Meditation; methodisch analog: Thomas Hobbes, Vom Körper, 1655, Kapitel 6; desgleichen: Spinoza, Kurze Abhandlung von dem Men­ schen und seinem Glück, Kap. 8 und 9; dazu weiterführend: Antonio Negri, Die wilde Anomalie, 1982, Kap. 7 und 8. 14 Vgl. Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, z. B. S. 68 ff. 15 An der technologischen Entwicklung der Mikroprozessoren erläutern das z. B. G. Friedrichs / A. Schaff (Hrsg.), Auf Gedeih und Verderb, Mikroelektronik und Gesellschaft. Bericht an den Club of Rome, Reinbek bei Hamburg, 1984. 16 Vgl. dazu Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder – Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahr­ hunderts, Frankfurt, 1977. 17 Vgl. dazu auch: N. Elias, Aufsätze I: Engagement und Distanzierung, Frankfurt, 1983. 18 Vgl. vgl. dazu S. Lem, Phantastik, und Futurologie, 2 Bde., Frankfurt, 1984. 19 Vgl. N. Wiener, Cybernetics or control and communication in the animal and the machine, Paris / ­Cambridge Mass., 1948. 20 Vgl. dazu E. P. Vorndran, Entwicklungsgeschichte des Computers, 1982; Alan M. Turing, „Kann eine Ma­ schine denken?“ In: Kursbuch 8, 1967; dazu: O. Wiener, „Turings Test – vom dialektischen zum binären Denken.“ In: Kursbuch 75, 1984; P. J. Courtois, Decomposability: Queuing and Computer System Applica­ tions, 1977; John v. Neumann, „Allgemeine und logische Theorie der Automaten.“ In: Kursbuch 8 / 1967; ders. The General and Logical Theory of Automata, 1951; außerdem Neumanns Aufsätze in: B. Randall (Hrsg.), The Origins of Digital Computers, 1973; S. J. Heims, J. von Neumann und N. Wiener. From Mathe­ matics to the Technologies of Life and Death, MIT-Press 1980. 21 Vgl. dazu und für das Folgende: G. Günther, Das Bewusstsein der Maschinen, 1963; W. R. Ashby, Design for a Brain, a .a. O. (Anm. 3), Kap. 3, 9,13; G. Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 3 ‚Philosophie der Geschichte und der Technik‘, 1980; G. Günther in Selbstdarstellung, in: Philosophie in Selbstdarstellungen II, 1975, S. 1 ff. R. Rorty, Der Spiegel der Natur, 1982; H. T. Lehmann, Rhizom und Maschine, in Merkur 427/1984. 22 Vgl. dazu Ernst Tugendhat „Das Sein und das Nichts.“ In: V. Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Festschrift für Martin Heidegger, Frankfurt 1970, S. 132–161. 23 Über die Schwierigkeiten der Begründung von Repräsentation durch Denotation: Nelson Goodman, Die Sprachen der Kunst, Frankfurt, 1967. 24 Materialien, wie sie in abgekürzter Form der Katalog zur großen Ausstellung ‚Tendenzen der 1920erJahre‘ versammelt: Tendenzen der 20er-Jahre. Kat. der 15. Europäische Kunstausstellungen in Berlin, Berlin, 1977. 25 Vgl. zum ganzen Komplex: P. von Naredi-Rainer, Zahl und Harmonie, Köln 1982. 26 Vgl. N. Elias, Engagement und Distanzierung, a. a. O. (Anm. 17). 27 Vgl. G. Kepes (Hrsg.), sehen + werten. Untersuchungen über heutige wissenschaftliche und künstleri­ sche Leistungen und deren Integration in der modernen Welt, 6 Bde., Brüssel: La Connaissance 1967 und ff . 28 Das hat Gerd Seiles Aufsatz über die Genialität des anonymen Designs in ‚Kunstforum‘ N° 66/1983 klar herausgearbeitet. 29 Vgl. C. Samonà, Der Aufseher. Roman, Berlin 1984.

IMMER WIEDER DEM LEBEN H ­ INTERHER  211

FORDERUNGEN AN DESIGNTHEORIEN – THESEN FÜR DEN SCHWEIZERISCHEN ­WERKBUND 1.  Die geschichtlichen und geistigen Hintergrundannahmen der Gestaltungstheorien, wie sie im Deutschen Werkbund entwickelt wurden, sind fundiert in einer Tradition des Handwerks oder zumindest einem Konzept von schwacher, kontrollierter Industrialisierung, das die Wertbeständigkeit funktionierender, gut gestalteter Dinge gegen die Kommerzialisierung und Ökonomisierung der in ihnen objektivierten Funktionen sichert. 2.  Diese Hintergrundannahmen sind aus mehreren Gründen und in mehrere Richtungen nicht mehr tragfähig, die aus ihnen abgeleiteten Maximen und Doktrinen gescheitert. Entscheidend ist nicht die Theorie der Funktionsbegrenzung und der Beschränkung der Ökonomisierung, sondern die theoretisch angeleitete Einsicht in die politische und gesellschaftliche Verteilung von Lebenszusammenhängen und Verbrauchskompetenzen. 3.  Die Theorie des Designs kann nicht mehr ungebrochen an die hauptsächliche, dominante Tradition der bisherigen Designtheorien anknüpfen. Ihre wesentlichen Impulse und Forderungen sind tendenziell besser im Bereich der künstlerischen Avantgarden und einer ebenso ausgreifend verstandenen, medial und techno-imaginär zugespitzten Moderne aufgehoben, also im Feld der bildenden Kunst eher denn im Feld der angewandten. Das Problem der Radikalisierung der Ästhetik läuft als Epiphänomen in dieser Bewegung ständig mit. 4.  Es gibt keine ganzheitliche Gestaltungstheorie, die dem Grad der Vergesellschaftung heute angemessen ist. Und es gibt keine bloß von Fall zu Fall sich konkretisierende Gestaltungstheorie, weil das bloße Rechtfertigung einer Praxis bliebe, die sich an anderen Bedingungen ausrichtet. In einem Kontext und einer Richtung zu arbeiten, die einem emanzipatorischen Begriff des Menschen und des menschlichen Lebens angemessen sind, setzt auf Begriffe von Differenz, Fragment, Unterdefinierbarkeit. Eine Gestaltung muss demokratisierende Qualitäten haben für diejenigen, die sich im Sinne der freien Assoziation der Bürger um ihre Lebenswelt, ihren Gemeinsinn, ihre ‚Allmende‘ kümmern und stets wissen, dass solches nicht nach oben delegiert werden kann. Es gibt keine Ästhetik, die sich davon trennen ließe. ‚Demokratisch‘ meint nicht: Anpassung an den kollektiven Trieb- und Bedürfnishaushalt des verfügbaren, statistisch bestimm- und abrufbaren Durchschnittsprofils, sondern meint die Einrichtung ästhetischer Fähigkeiten zur Erreichung eines sittlich-solidarischen Lebenszusammenhangs, wie er die Utopie der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht und wie er im System der Verrechtlichung und systemischen Formalisierung der Regulierung von Gesellschaft verloren gegangen ist.

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5.  Eine formal und ästhetisch verfahrende Theorie der Gestaltung beinhaltet normative Überzeugungen. Wenn man diese reflektiert, dann bedeutet die Theorie der Gestaltung keine Argumentation mehr im Reich der Dinge, sondern nur in ihrem Referenz- und Repräsentationsgeflecht. Die Ästhetik der Gestaltung hängt wesentlich nicht von der Präsentation der wahren, richtigen, guten Formen und Dinge ab, sondern von der Demokratisierung der Produktion, der Verfügbarkeit der Organisation der produktiven und kulturellen Versorgung des Lebens. Die gute Form kann nur die Form des guten, eines freien Lebens sein. Man muss die Zugangsbedingungen zu diesem so einrichten, dass man überhaupt haben kann, was man haben möchte. Autonomie und Kontrolle, Gestaltung als Einrichtung von Selbstbefähigung und lernender Identitätsbildung in Richtung der Einheit von Freiheit und Ästhetik.

Einleitungsreferat unter dem Titel „Utopie als Erkenntniskritik“ zu einer Tagung des Schweizerischen ­Werkbundes SWB Basel zum Thema ‚Utopie‘ im November 1983.

FORDERUNGEN AN DESIGNTHEORIEN  213

2  Aporien der Moderne – vom Produkt zum Diskurs

2  Aporien der Moderne – vom Produkt zum Diskurs Vorab: Die Moderne selber hat ihre Zuspitzung von Designtheorie auf Lösung, Funktionsoptimierung und ästhetischen Fortschritt unterlaufen. Technische und ästhetische Entwicklung driften auseinander. Die Kluft bestimmt die anschließenden Auseinandersetzungen mit der Kernfrage: Ausbruch aus der Moderne oder Selbstdifferenzierung derselben? Jedenfalls tritt neben den Problemlösungsanspruch derjenige einer Differenzierung der Thematisierung von Problemzusammenhängen anstelle der Lösungsbehauptung. Nachsorgende Verschiebung des Unlösbaren trifft allerdings immer wieder auf die wiederholende Selbstbehauptung einer Moderne, die ihre doktrinären Konstruktionsbedingungen ausgeblendet hat. Das gilt besonders für eine verdeckte oder ‚heimliche‘ Geschichtsphilosophie, die Zwecksetzungen in einem objektiven Fortschrittsprozess als unvermeidlichen Automatismus verankert hat.

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DESIGN TOTAL? Wenn wir den Trendsettern und Propagandisten des totalen Simulationszeitalters glauben wollen, dann stehen dem Design die goldensten Jahre erst noch bevor. Mit einer Mischung von routiniert geglättetem Zynismus und trotzig-unschuldiger Lebenslust verheißen uns die Design-Propheten, dass wir die Zeit bis zum Eintreffen des leider unvermeidlichen Weltuntergangs möglichst genussvoll hinter uns bringen sollen. In dem Maße, wie die durch die Gesellschaft verursachten Existenzprobleme wachsen, wächst auch der Bedarf an Design. Da man nicht auf das Bearbeiten von Problemen setzt, weil dadurch Privilegienverteilung und Besitzstandsicherung aufs Spiel gesetzt würden, sind das Umschminken der Problemdarstellung und die Regulierung der Problem­ beschreibung angesagt. Die neue Schminke ist denn auch der aufdringlichste Zug des sogenannten Zeitgeistes. In ihm vereinigen sich fanatische Religionssekten und Gralssucher, Sexualbefreiungs- und Sexualenthaltungsgemeinschaften mit den neuen Luxuseliten und jener Politikerkaste, in der Gewissensfreiheit zunehmend als Freipass für dreistes Lügen und Betrug an der Bevölkerung missbraucht wird. Statt Katastrophenbearbeitung: Sprachregelung; statt politische Vision: Beschwichtigungsrituale; statt Utopien: Revanchismus am Stammtisch; statt Kulturpolitik: immer wieder das beliebte Einweihungsritual des köstlichsten unserer Güter, des nächsten Autobahnkilometers. In dem Maße wie die Menschen sich zu Recht von den lamentablen Irreführungsspielen der offiziellen Politik zurückziehen; in dem Maße wie die Mittelmäßigkeit für den normalen, aber durchaus geordneten Fortgang der berechenbaren Apokalypse sorgt: in dem Maße kann nicht wundern, dass Ästhetisierung des Lebens, dass Schein, Illusion, Simulation und Künstlichkeit, Irrealisierung und Unterhaltungsöde, Moden und Tarnungen, Sinnentaumel und Verzierungswut triumphieren. Wenn schon nichts getan werden kann, dann soll immerhin das Nichtstun-Können unter Mithilfe sämtlicher Einrichtungs-, Styling-, Ausstattungs- und Lebensmodellierungstechniken zum prallen Leben emporgejubelt ­werden. Es fehlt an Orientierungsgrößen: Die Wissenschaften gelten nicht mehr als ungebrochene Autoritäten. Bürgerinitiativen unterlaufen Wissenschaften und institutionelle Politik, Religionen sind zu Minderheitsandachten degeneriert. Die großen Organisationssysteme sind zerfallen. Daraus folgt eine Individuierung und Subjektivierung von Weltdeutung und Weltausstattung. Die Lifestyling-Kampagnen, die jedem in jedem Moment alles und im nächsten Alles als das ganz Andere und Neue geben, Vervielfachungen des Persönlichen, Inszenierung der Lust am Zerfall der Identität – all dies drückt, vorerst noch harmlos aus, was auf uns zukommt, wenn die Existenzgrundlagen angegriffen sind. In einer solchen Situation und unter einer solchen Perspektive mag ein funktionsorientiertes Design, eine ehrliche Gestaltung nicht nur als Hoffnung, sondern sogar als Erlösungsstrategie erscheinen. Der Erwartungsdruck dürfte sich in Zukunft noch­

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e­ rhöhen, dass mit Design alle Probleme im großen Zusammenhang zu lösen sind. Design soll leisten, was alle anderen Disziplinen bis jetzt nicht nur nicht gelöst, sondern nicht verhindert haben. Diese Erwartung ist gefährlich, weil sie dem Design abverlangt, was es nicht leisten kann. Design als universale Problemlösungskraft, als realisierte Utopie des ökologisch befreiten Gesamt­demokratie-Zeitalters, das wäre nichts anderes als die Provokation der nächsten Totalkatastrophe. Historisch ist das moderne Design – wie immer wieder herauszustellen ist – ursprünglich als Ästhetik der Macht konzipiert worden: Im 16. Jahrhundert geht das ‚­Disegno‘ aus der Krise der Reformation hervor und findet seine Begründung in der Life­ styling-Simulationsstrategie des Barock. Als Konzept hat sich allerdings das Design praktisch der Indienstnahme für Strategien der Macht immer wieder entzogen: Es ist Krise der Macht. Das aber nur durch die Selbstkritik des Hangs zu Utopismen. Die Selbstbegründung der Interdisziplin ‚Gestaltung‘ bedarf also der Permanenz der Krise der Macht durch Selbstkritik und das Eintreten für radikalen Relativismus gegen alles ‚Totale‘.

Erstveröffentlichung unter dem identischen Titel „Design total?“ In: Basler Magazin – Politisch-­kulturelle Wochenend-Beilage der Basler Zeitung, 12. September 1987 als Einleitungstext zu den Beiträgen „100 Jahre Schule für Gestaltung“ (Basler Magazin – Politisch-kulturelle Wochenend-Beilage der Basler Z ­ eitung, 12. September 1987; Konzeption/Redaktion: Hans Ulrich Reck).

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THEOLOGIE DES GESCHMACKS. EIN KOMMENTAR Es mag schmerzlich wirken, aber die Feststellung ist unvermeidlich, dass wir nicht über den Problemstand des 19. Jahrhunderts hinausgekommen sind. Das irritiert uns, weil wir uns diese Zeit als zunehmend fremde vorstellen möchten. Positivismus und lineare Vernunft schlugen auf schreckliche Weise in ihr Gegenteil um. Die Kippfigur von Utopie und Wahnsinn gehört längst zum etablierten Repertoire unseres kulturellen Meinungsaustausches. Als Strandgut jüngeren Datums finden wir im Ausgang aus einem unsittlich gewordenen Prinzip Fortschritt auch die Konfiguration der guten oder schönen gegen die schlechte/böse oder hässliche Form vor. Die grundsätzliche Entdeckung des Hässlichen als ästhetisches Prinzip gehört jedoch bereits zu den zentralen Denkfiguren des letzten Jahrhunderts. Karl Rosenkranz unternahm mit seiner Ästhetik des Hässlichen 1853 den Versuch, die empirische Eigenständigkeit des Gemeinen und Widrigen, Unheimlichen und Obszönen der Kategorie des Schönen und Guten prinzipiell und unbedingt unterzuordnen. Wenige Jahre, nachdem – bei Chateaubriand gegen Ende der 1840er-Jahre – zum ersten Mal in der Geschichte des Begriffes ‚modern‘ von Modernität als einer reinen Selbstbezogenheit ohne Rekurs auf eine ‚Antike‘ die Rede war, und wenige Jahre, bevor – bei Baudelaire – das Hässliche, Böse und Kriminelle als gleichberechtigte Wege poetischer Ausdrucks­ findung neben das Schöne treten sollte, das damit seinen unbedingten Vorrang verlieren wird, in jener intensiv artikulierten Zeitenwende also versuchte Rosenkranz, das Hässliche als Heteronomes, als bloße Abirrung zu denken. Das wäre weiter nicht bemerkenswert, würde Rosenkranz’ Unternehmen nicht von der sichtlichen Lust und Faszination an Phänomenen des Hässlichen getragen. Zwar spricht er dem Hässlichen jede Autonomie, erst recht den Status des Absoluten ab. Es sei bloß relativ, eine ‚Negativform des Schönen‘, habe keine Kraft positiver Setzung. Im Übrigen regeneriere das Schöne sich auf dem Umweg über das Hässliche, weil dieses nur eine empirische, keine ideelle Kraft habe. Das Schöne bleibt auch bei Rosenkranz das Primäre, absolut Vorrangige. An der Moralisierung des Bösen scheiden sich die Geister seit Langem. Ob allerdings die Beschwörung des Bösen als einer absoluten und autonomen Instanz mehr ist als eine vom Schrecken des Handelns entlastende Diffamierung einer ‚didaktischen Ästhetik‘, scheint doch äußerst fraglich zu sein: Die Beschwörung des Bösen ist keine Tat, sondern eine Metapher. Allzu viele haben nicht der Obsession des Realen, sondern bloß dem metaphorischen Charme des Dekadenten gehuldigt. Aufseiten der Gestalter jedenfalls ist es längst nicht nur opportun, sondern geradezu geboten, mit dem Verweis auf den Platonismus der ‚guten Form‘ entweder den Stil der Moderne oder umgekehrt gerade deren Scheitern zu identifizieren. Ein leichtes also, den mittlerweile klar aufgelisteten Ausweglosigkeiten der ‚guten Form‘ die Hoffnung auf deren Negativfigur entgegenzusetzen.

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In der Tat macht die ‚gute Form‘ ja nicht bloß den Konsumkapitalismus der 1950er-Jahre als utopistisch verbrämte Wissenschaftsgläubigkeit sichtbar, sondern auch die Vorgeschichte moderner Gestaltungsgeschichte als eine Art ‚Naturgeschichte der Naivität‘ kenntlich. Wer die einschlägigen Traktate der Modernisten liest, kann sich vorstellen, dass aus dogmatisierter Sicht solche ‚Haltlosigkeiten‘, die Kant’scher Vernunftkritik nicht zu genügen vermochten, eher im Bereich einer Neurosenlehre der Zwangsmoral als dem der Ästhetik diskutiert worden sind. Vorbei die Zeiten der gepflegten Naivität – wer heute gegen die ‚gute Form‘ das Lob der schlechten anstimmt, der bewegt sich auf demselben Bewusstseinsniveau wie die ästhetischen Positivisten der totalitären Lebensplanung im Namen des Guten und Wahren. Denn er glaubt immer noch an eine konsistente Methodologie. Perspektivenreich aber sind nicht mehr Dekrete wie das in den 1980er-Jahren noch mögliche Plädoyer für Banal-Design und den Kult des Hässlichen (Alessandro Mendini), das sich nicht mehr als Negativform des Schönen, sondern als autarke Größe sieht. Das Problem ist nicht mehr die Selektion von ‚gut‘ versus ‚schlecht‘, ‚schön‘ und ‚hässlich‘, sondern die Unvermeidlichkeit des Herstellens und seiner Produkte. Ob gut oder schlecht, methodologisch abgestützt oder nicht: dass schöne und hässliche Dinge, Häuser, Tassen und Stühle geschaffen werden, ist eine Apriori-Wirklichkeit und eben folglich unvermeidlich. Das besagt, dass, unabhängig von den Bemühungen um das Niveau, die Herstellung der Dinge und Bedeutungen grundsätzlich nicht mehr an Unterscheidungen wie ‚gut‘ und ‚böse‘, sondern einzig in einer meta-theoretischen Reflexion festgemacht werden kann. Zu dieser gehört nicht die Zurückweisung der guten im Namen der schlechten Form, sondern die Einsicht in die unvermeidliche Kontingenz und Komplexität. Kontingent ist, was weder notwendig noch unmöglich ist. ‚Kontingenz‘ bedeutet nicht den Gegensatz von ‚notwendig‘ oder ‚zufällig‘, sondern die Alternative zwischen ‚notwendig‘ und ‚möglich‘. Kontingenz verweist nicht auf binäre Codes, sondern auf differente Kontexte. ‚Gut‘ ist ein Verweis auf Kontexte. Was Kontingenz leistet, ist leicht zu verstehen: ­ ontextes. die Formulierung des jeweils höherstufigen, eines komplexitätssteigernden K Die Inversion der guten zur schlechten Form hat gewiss den Vorteil, Gestaltungspraktiken beliebig – meist zu Recht – diffamieren zu können, wenn auch nicht immer ganz klar ist, was Gestaltungspraktiken überhaupt noch leisten können, wenn schon die Schöpfungsgeschichte nichts anderes ist als eine kontingenzabweisende und eher mühsame Selbstbeschwörung der guten Form. Aber diese Inversion tut so, als ob überhaupt eine Wahlmöglichkeit bestünde, als ob wir die Option hätten, zwischen der guten und der schlechten Form zu wählen. Das ist gerade nicht der Fall. Es könnte ja durchaus sein, dass auf der Ebene der Meta-­Reflexion Gestaltung gar nichts Autonomes ist – weder für die positive noch für die negative Theologie des Geschmacks. Immerhin steht die Aufgabe an, die Theodizee-Problematik der Gestaltung grundsätzlich zu überwinden. Wenn klar ist, dass die frühere Gutgläubigkeit positiven Gestaltungsdenkens heute im Lager der Schlechten-Form-Apologeten Unterschlupf gefunden hat, weil die so oft erzählte Geschichte von der Selbstblamage des Wissenschafts-Designs der guten Form nicht einmal mehr als Witz funktioniert, dann verschärft sich das Problem ­einer

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moralischen Gängelung des Ästhetischen ein weiteres Mal. Auch die Apologeten der schlechten Form – also diejenigen, die wissen, wie die Säuberung von Aufgaben wirklich aussieht, weil sie den blinden Fleck der ‚guten Form‘ kennen – haben ihren, mittlerweile ebenso prominent wie obsolet gewordenen Platz in der Geschichte der Ästhetik­ abwertung gefunden.

Erstveröffentlichung unter dem identischen Titel als zweite Folge der Kommentare zu „Die schlechte Form.“ In: form. Zeitschrift für Gestaltung, Heft N° 146, 1994.

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STADTPLANUNG ALS STADTZERSTÖRUNG – EIN PLÄDOYER FÜR UNPLANBARKEIT Einige Thesen vorab: 1.  Die urbane Lebensweise unterscheidet sich von der Stadt wie die Wünsche von den Dingen, durch die sie in Erfüllung gehen. Urbanität ist ein Zusammenhang von Einfachem und Komplexem, Dinglichem und Fließendem. Ein komplexer Zusammenhang von Gefühlsintensität, Wahrnehmung, einer Ästhetik der Ereignisse, einem Chaos sich verbindender und lösender Geschichten, einer Kette von Geschehnissen, deren Bedeutung sich ständig umschichten lässt. Die Stadt als realer Lebenszusammenhang greift auf das Imaginäre, auf eine Geografie nicht-codierbarer Lebensentwürfe. 2.  Der städtische Lebensausdruck findet nie einen entsprechend komplexen Ausdruck in einem Ensemble von bebautem und bebaubarem Raum. Was die Bauweise, die Bauten und die Methodik ihrer Planung und Realisierung leisten können, das ist eine Regulierung von Entscheidungen und von Lebensgestaltungen. Die Kritik an der Stadt, die Behauptung vom Elend der Städte kommt heute vonseiten der stadtplanerischen Experten. Sie meinen nicht Bauten und nicht einzelnes, sondern eine Lebensweise, ein Prinzip von Unruhe und Öffnung, einen Vorgang der Instabilität. Die Kritik am Städtischen meint es ernst: Sie will Ordnung schaffen. Ordnung schaffen bedeutet: Unordnung bekämpfen. Die schöne Stadt ist die Stadt, in der es keine Unordnung mehr gibt. 3.  Die Kritik an der Stadt, was immer sie will, sie zweifelt nicht daran, dass Bauen heißt: ‚Probleme‘ lösen. Zweifelt nicht daran, dass Planung nicht nur sinnvoll, sondern möglich ist. Die Planung produziert die Vision ihrer selbst als einer Wirklichkeit. Das gelingt, wenn sie an die Stelle der Geschichte sich selber setzt. Aktuelle Stadtplanung ist hergestellte Geschichtslosigkeit, Organisation des Verlusts an Bedeutungen und Lebenszusammenhängen. Planungskritik fordert das Vorrecht an Unordnung und U ­ nplanbarkeit. Die wesentlichen Gestaltungsprinzipien des städtischen Lebens wirken unsichtbar. Für die Wahrnehmung des Unsichtbaren und des unsichtbar Gemachten reichen ‚Freiräume‘ nicht. Der gegenwärtige Vorrang der schönen Fassade, die Reduktion der Stadt auf ein Erscheinungsbild – sie sprechen von der notwendigen Eroberung der Unplanbarkeit. 4.  Projekte, die auf Dinge greifen, die dem nicht antworten können, gehen gewalttätig vor (A. Kluge). Wenn sie nicht greifen können, scheitern sie. Aber in der Zwischenzeit haben sie etwas verwüstet. Die Planungsvision produziert solche Verwüstungen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Die Vision einer endlich geordneten und zu Ende gebauten Stadt geht von der diagnostischen Unterstellung aus: Die Städte sind krank. Heilmittel: Stadtreparatur, Revitalisierung der Stadt, Trendumkehrprozess, Wohnstraßen, kleine Netze, Partizipation hier, Verordnung dort, behutsame Bewahrung und Erneue-

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rung, Zugewinn an Wohnlichkeit und städtischer Heimatidentität durch bauliche Maßnahmen. Die Utopie der Stadt sei heute die wünschbare und behutsame Erhaltung des Lebenswerten und die Neuschaffung von Lebendigkeit. Was ist Lebendigkeit?

Ein Beispiel vorab: Straßenkreuzung als Planungswiderstand Eine Straßenkreuzung. Für Planer, Gestalter und Designer besteht sie aus Häusern, Straßen, einer Bushaltestelle, vielleicht einem Abgang in eine Metro- oder U-Bahn, Verkehrsampel, Fußgängerstreifen, Kiosk. Ein sichtbares Arrangement für eine spezifisch, d. h. bestimmbar ausgeführte Gestaltung. Der Unterstand der Bushaltestelle hat eine bestimmte Form. Materialien, denen die Auswahl noch anhaftet. Dasselbe beim Fahrkartenautomaten, der einen Körperablauf auf einen Funktionsablauf bezieht und beides auf eine Gestaltung, die einen technischen Vorgang zum Erfolg führt und die Erfolgschance visuell inszeniert. Der Bus bringt mich zur Arbeit oder ins Kino. Ich überbrücke das Warten mithilfe einer Zeitung, die ich am Kiosk gekauft habe, oder ich blättere in Illustrierten. Vielleicht möchte ich aber noch schnell in den Laden gehen auf der anderen Seite der Straße, bevor der Bus kommt. Oder ich kann, weil ich in Eile bin und der Bus gerade kommt, keine Zeitung mehr kaufen, und so ärgere ich mich und langweile mich später, vielleicht ist es feucht und kalt, und die Scheiben sind beschlagen und ich sehe nichts. Vielleicht nehme ich mir Zeit, die Menschen anzusehen, die Landschaft des Gesichts, statt die Landschaft der Ereignisse, die wie im Film sonst draußen vorbeizieht. Oder ich fange ein Gespräch an, halte eine Rede. Nein, das tue ich sicher nicht, weil das nicht im Bereich meiner Möglichkeiten, meiner Erziehung und meinen Gewohnheiten liegt. Aber das alles hat einen Schnittpunkt, der als Konzeption einer Straßenkreuzung sichtbar wird und wiederum Element anderer Schnittordnungen, bis ins Unendliche gar irgendwann, sein kann. Menschen, die aneinander vorbeigehen, Menschen, die in Autos andere Menschen überfahren z. B. Es kann weniger dramatisch zugehen, dramatisch ist aber in gewisser Hinsicht die Konzeption eines solchen Ortes immer. All dies kann geschehen, alles das soll gestaltet werden können? Aber eben, das stimmt nicht: Die sichtbare Gestaltung der Funktionsabläufe zeigt nicht das, was sie bedingt. Das sichtbare Endprodukt ist von einem unsichtbaren Gestaltungsprozess gesteuert, von Vorgängen und verschiedenen Systemen, die sich teilweise auch ausschließen und die, folgte man ihnen in den gesamten Bereich der Gesellschaft zurück, bald das ganze Netz menschlicher Tätigkeiten in einer Stadt miteinbeziehen würde. Ampelphasen, Fahrpläne, Zeitschriftenverteilung, die Bewegungsgeschwindigkeit der Leute, die Einrichtung des Fahrkartenzwangs, all das sind menschengemachte Systeme, die die Gestaltung beeinflussen. Das Unsichtbare formt unser Leben mindestens in dem Maße, wie das die gebaute Einrichtung einer Bushaltestelle tut.

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Und damit ist noch nichts zu einem möglichen zivilisatorischen Befund über gesellschaftliche und individuelle Strukturen ausgesagt, nichts über die Geschichte, welche die Straßenkreuzung erst möglich gemacht hat. Solche Gestaltungsbedingungen untersucht Christopher Alexander mit seinem Team (‚Publicy and Privacy‘, ‚A Pattern Language‘). Der bisher letzte Schweizer Städtebau- und Architekturtheoretiker von Rang, Lucius Burckhardt, zitiert Alexanders Überlegungen als Beispiele eines ‚unsichtbaren Designs‘. Ihm zufolge sind Einrichtungen Resultate eines Entscheidungsvorgangs, der irgendwann einmal gesellschaftlich eingerichtet worden ist als Reglementierung von Handlungen und Abläufen. Gestaltung ist – entgegen dem Bewusstsein der Planer – etwas, das mit Einrichtung oder Verhinderung von Lebensweisen zu tun hat, nicht mit Geräten und Gebäuden.

Kurze Hinleitung/Übersicht Nicht mehr die Nutzer und Bewohner, sondern die Experten – Architekten und Planer – beschwören das Elend der Städte. Ihre Vision von Problemlösungen, von Einrichtungen und Gestaltungen hat deutlich Züge einer groß angelegten Bereinigung der chaotischen Urbanität angenommen. Die an Selbstbestimmung oder zumindest an Partizipation orientierte Kritik an der Stadt war bis vor Kurzem vorrangig eine Kritik an der Ökonomie des Bauens und an der Politik der Verteilung von Nutzungsrechten und Nutzungsabgeltungen. Die heute von Experten geübte Mängelbeschreibung ist geleitet von einer Kulturkritik, die deutlich Züge einer gegenaufklärerischen Moral hat. Das Programm der Experten: Lücken schließen, Abläufe harmonisieren, Erfahrungen am Schönen einrichten. Ihr Wunsch: die Städte endlich zu Ende zu bauen. Ihre Kultur: eine Ordnung, die in alle Lücken vorgetrieben, universal gestreut und formiert werden kann. Das alles unter Beanspruchung von Planung. Ihre gegenwärtigen Versuche sind Architekturen am ­Urbanen selbst. Hinter und neben den Besitzverhältnissen wird heute die städtische ­Lebensweise kanalisiert, verplant und umgebaut in Richtung auf eine leere Ereignisästhetik der Sozialkultur. Man kann hier auch von Gewaltzusammenhang sprechen. Planung als geordnete Verwüstung: Die Städte werden geschichtslos gemacht.

Situierung/Entfaltung/Ausführung Die Großstadt, das Phänomen der Kraft in der Bewegung, ist heute eine drohende K ­ atastrophe, weil sie nicht mehr beseelt ist vom Geist der Geometrie. (Le Corbusier) Corbusiers ‚Ville contemporaine‘ ist schon wieder eine Siedlung an der Landstraße. Nur hat sich damit, dass sie jetzt von Autos befahren wird und dass inmitten dieser Siedlung Aeroplane sich niederlassen, alles geändert. (Walter Benjamin)

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Le Corbusier – das Motto stammt aus dem Jahr 1926 – hätte an der Gegenwart seine Freude gehabt. Der „Geist der Geometrie“, der die Geschichte der Selbstdisziplinierung des modernen Menschen begleitet wie die doppelte Buchhaltung seine Arbeit, triumphiert wieder. Nur zum Schein dekoriert mit dem Materialienfetisch eines modernistischen Zaubers, vollzieht sich hinter den Fassaden, denen entlang die Verkehrswege der Stadt gesäubert werden, eine nahezu religiöse Läuterung des architektonischen Dilettantismus. Es scheint, als ließe der alte Widerstreit zwischen Funktion und Form sich dahin auflösen, dass die Einrichtung der Form als Fassade erlaubt, der Funktion zu entziehen, worin sie besteht: dem öffentlichen Streit um Nutzungszusammenhänge. Große Teil der Architekturtheorie schließen sich dem an; eine Architekturkritik hat hierzulande ohnehin kaum je existiert. Le Corbusier und mit ihm der ganze Congrès International d’Architecture Moderne‚ CIAM von 1928 in La Sarraz, hatten es noch einfach: „An erster Stelle steht im Stadtbau das Ordnen der Funktionen: a) Wohnen, b) Arbeiten, c) Erholung.“ Bodenaufteilung, Verkehrsregelung, Gesetzgebung sollen dafür eingesetzt werden. Diese Ordnung ist heute ziemlich gelungen. Aber sie ist weder eine vollständige Ordnung noch hat diese Funktionalisierung eine Form gefunden, die auch nur annähernd die Planungsutopien von einer totalen Stadt einlösen würde. Es bedarf einer zweiten Welle von Einrichtung, einer Klärung und Verklärung der architektonischen Gestaltung. Diese Welle rollt an und wird in einer unheilvollen Allianz von modernisierenden Stadtplanern und regredierenden kleinen Netzen mitgetragen. Nicht nur ihren Ansprüchen nach sind die Städte längst gestorben, der städtische Charakter ist verloren gegangen, Qualität und Lebenswerte sind verraten worden. Man wundert sich, dass es überhaupt noch Städte gibt. Sollte die neue Planung Erfolg haben, dann gibt es allerdings die Städte nicht mehr lange. Was dann noch bleibt, sind räumlich definierte Ausdehnungsfaktoren, bebauter Raum, besetzte Geografie, kalkulierbare Abfolgen von Bewegungen, kurzum: Rationalisierung von Einrichtungen und Nutzungen zugleich.

Stadt, regressiv Die Kritik an der modernen Großstadt hat, quer durch die politischen Gehalte dieser ­Kritik, quer durch ihre Widersprüche, nichts anderes zum Gegenstand als Prozesse der modernen Großstadt selber. Sie richtet sich gegen die Zerstörungen und gegen ein Chaos, die in Wirklichkeit nichts anderes als ein Kernstück modernen städtischen Lebens selber sind. Noch Alexander Mitscherlich wendet gegen den plebejischen Untergrund der modernen Großstadt sich zurück auf eine mittelalterlich-zünftische Stadt, auf einen städtischen Charakter, der in der Moderne nie existiert hat. Die gehäufte gegenmoderne Stadtkritik heute, besonders von den Chefplaneretagen herunter, bedient sich einer entlarvenden Sprache. Die Rede ist von der Stadtreparatur, von einer ‚Revitalisierung‘ der Städte, von der Rückgewinnung von Lebensqualität und Wohnlichkeit, vom Sich-wieder-Wohlfühlen, von ‚Trendumkehrungsprozessen‘,

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was immer das konkret heißen soll, von der Erneuerung oder Wiederherstellung der Stadt. Was aber ist denn das, was wir bis jetzt Städte genannt haben? Offensichtlich: Planungsdefizit, Resultat eines falschen Konzepts, einer falschen Methode. Die ‚Revitalisierung‘ der Städte behandelt die Städte als bedeutungsleere, manipulierbare Gegenstände. Defizitär, irgendwie nicht gelungen, nicht ‚attraktiv‘ genug, nicht verkaufsfördernd und ungünstig für die Nischen an Betulichkeit und die Freiräume biedermeierlicher und eben vormoderner Gänge durch die Stadt. Die Kritik, die in solchen Parolen sich verkleidet, leugnet mit der Stadtgeschichte auch die historische Komplexität von Planung. Es bedürfte dagegen eines Ansatzes, der das dichte, lebendige Geflecht und die großflächige Zerstörung, das Städtische eben, immer als Vorgabe eines Gewaltzusammenhangs betrachtet, der als Stadt seinen Ort gefunden hat. Die aktuelle Kritik von oben sammelt alle denkbaren, nur nicht die realen Konflikte auf einer Gegenwartsebene ohne historische Bezüge. Warum das so ist, lässt sich leicht sehen: Durch diese systematische Illusionserzeugung tut Planung so, als sei das Organisationsproblem ein ganz einfaches der Sektorierung, der Arbeits- und Funktionsteilung. Das Planen vereinheitlicht, indem es die real dispersen und sukzessiv sich einstellenden Probleme zu gleichzeitigen umdefiniert; es strukturiert sich einen Zeitablauf, der nichts mit dem realen Geschehen zu tun hat. Genau darum wird die Planung als Regulierung der bloßen Erscheinungsweise dessen, was man mittels Planung durchsetzen möchte, auch zu einem Politikum. Der Planungsprozess bringt die wirklichen Prozesse zum Verschwinden.

Fassadendenken Leider ist es unmöglich, auch nur für ein Mal den Vorgang einer Architektur-Jurierung von innen her zu rekonstruieren. Nicht einmal die äußerlichen Faktoren in der Herausbildung eines Common Sense kann man wirklich angeben. Die Juryberichte im Bereich Architektur sind durch eine Art wissenschaftlichen Jargon gefiltert. Die Entscheidung selbst findet immer noch in einer mittelalterlichen Geheimöffentlichkeit statt. Entsprechend verhält es sich auch mit den nächsten Großprojekten in unseren Städten. Die Zürcher Sihlquai-Überbauung in Bahnhofnähe und Basels Masterplan zur Überbauung der noch freien Bahnhofzonen sind solche Beispiele. Man redet von neuartiger Planung, von Gestaltung, Bedürfnisvermittlung etc. Die Projekte sind aber längst nicht mehr offen und bedürfen gar nicht der öffentlichen Diskussion. Sie werden nämlich als Fassade präsentiert. Dahinter biedern sich an: neue Attraktivität der Städte, sprich: Verkauf, Konsum wie gehabt. Die neue Planung meint demnach: die vorgängige Vereinigung der Experten, die von einem oberflächlichen Stadtbild her eine Erscheinung denken, hinter der schon längst die Nutzungsziffer ausgehandelt, die Preise zur Finanzierung errechnet, die Verteilung skizziert, hinter der also schon längst Einigung darüber erzielt ist, was nach Mei-

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nung der Experten die Nutzer an möglichen Nutzungszusammenhängen zu wünschen haben. Und weil es urbane Räume sind, verwandelt sich die immer instrumentell und funktional gebliebene Architektur in eine mit analogen Methoden arbeitende Stadtplanung im großen Stil. Die Akzeptanz der Erscheinung lässt sich manipulativ herbeiführen, der Rest fällt aus dem öffentlichen Raster heraus. Es geht um die Vision einer endgültigen Regulierung der öffentlichen Angelegenheiten durch eine endgültige Erstellung öffentlichen Raumes, und das heißt auch: um die Planierung und Auffüllung aller noch nicht mit Ordnungen, Planungen- und Architekturen belegten und verformten Lebenszonen. Diese Verbindung von hergestellter Geschichtslosigkeit mit der Planungseuphorie des restlos determinierten Systems hat kürzlich der Berliner Wettbewerb zur Gestaltung des Geländes zwischen Martin-Gropius-Bau, Anhalter Bahnhof und Mauer deutlich gemacht. Es wurden sämtliche Projekte ausgeschieden, welche die Geschichte Deutschlands, die Geschichte Berlins und besonders die Terrorgeschichte des NS inszenatorisch bewahrten und zugleich Räume freiließen für ungeordnete Nutzungen – zum Beispiel liegen das Reichssicherheitsministerium, d. h. die Folteranlagen gegen politische Regimegegner, noch auf dem Areal, zwar unterirdisch und kaserniert, aber immerhin nicht restlos liquidiert und demnach imaginativ greifbar. Aber solche Entwürfe scheinen ­derzeit unbeliebt. Am 8. Mai 1983 öffentlich prämiert wurde, mit tatkräftiger Hilfe der Berliner Jüdischen Gemeinde, ein Projekt, das vorsieht: einige Quadrate mit scharf symmetrisch ausgerichteten Baumalleen, der ganze Raum dazwischen soll mit Metallplatten zugedeckt werden. ‚Versiegelung‘ nennt sich dieses Projekt. Weg mit der Geschichte, weg mit Erkennbarkeit, weg mit einer Architektur der geschichtlichen, politischen und sozialen Bedeutungen. Die gesamte ‚Berliner Ideologie‘ im Vorfeld der ‚Internationalen Bau- Ausstellung‘ (IBA, 1987) bündelt die neuen Auffassungen nicht allein vom Städtebau, sondern vom Planungsverständnis und von der Methodik des Bauens. ‚Die Stadtbrachen wieder zum Leben erwecken‘, dem Leben ‚durch Architektur und Städtebau Sinn geben‘, ‚bauliche und soziale Revitalisierung einer verletzten Stadt‘ durch Neuordnung und Stadtreparatur, die philosophisch und moralisch motiviert ist – aber wie kommen eigentlich solche moralischen Urteile zustande? Es enthüllt sich Stadtpolitik als handfeste Verwaltungsarbeit, im unterstellten Konsens mit der Durchschnittsästhetik des Stadtneurotikers. Maxime scheint zu sein, mittels Architektur eine Durchsetzung der Verwaltungsherrschaft jener Experteneliten zu betreiben, die unter Behauptung von Methoden die Vision der totalen Planbarkeit zunächst für sich selber möglich machen. Und die erst noch zur Bescheidenheit aufrufen. „Die Utopie der Stadt liegt heute im Bewahren ihrer Werte, im vorsichtigen Umbau des Vorhandenen, in der kleinteiligen Reparatur und Ergänzung zu einer lebendigen Gesamtheit“ – so die offizielle ‚Berliner Bauideologie‘ für das nächste Jahrzehnt. Verordnete Bescheidenheit als Appell zur Tilgung von Geschichtsbewusstsein, und das alles unter dem Titel der Stadtplanung und der Rückgewinnung von Lebendigkeit – wer definiert hier eigentlich was womit und was heißt ‚Lebendigkeit‘? Vielleicht das, was unser Raumplanungsgesetz im Artikel 1 nennt, „eine auf die erwünschte

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­ ntwicklung des Landes ausgerichtete Ordnung der Besiedlung“? Aber ein Wunsch ist E kein Bau und seine Architektur eine andere als die der Sozialtechnologie. Was ist wünschenswert: die Ordnung oder die Utopie oder die Restauration des Utopischen als der kleinflächigen, vollständig ausgefüllten, überdeterminierten Ordnung?

Die Stadt zum Verschwinden bringen Unabhängig von allen Akzentuierungen im Detail – und es wird ohnehin nur noch über Details verhandelt, die Rasterpläne Einzonungen und Finanzkanäle sind definiert – belegt die planerische Wahrnehmung des Urbanen heute die Meinung, mit Bauen ließen sich städtische Probleme lösen. Die Stadt ist hier nichts weiter als eine Ansammlung von Gebautem, ein Problem der Modulierung und Rhythmisierung der Raumabläufe, der Fassadenvernetzung, der stimmigen Abfolge von Kulissen. Es geht nicht mehr um Nutzungen und Inhalte, sondern um die Inszenierung des Gebauten, und zwar von einem spezifischen Blickwinkel her: von dem, der vor Fassaden passiert und Eingänge sucht in jene abrufbaren Infrastrukturen, die ihn der Befriedigung von Bedürfnissen und deren Objekten und Szenarien zuführen. Die Verkehrsvereine und touristischen Büros beispielsweise haben die Chance einer aggressiven Verkaufspolitik – nicht von Dingen, sondern von Lebensweisen, Geschichten, menschlichen Zusammenhängen – erkannt und greifen in die Debatte ein, fordern Geld, Stellen, ein Zeichensystem für die Stadt, Wegweiser, Nutzung der Substanzen etc. Das alles kann im Einzelnen geplant werden, im großen Stil geht es aber um anderes und geht auch anders vor sich. Der Trick ist einfach. Am Beispiel Basels: Es gibt Messen, es gibt Verkehrswege, Ankunftszeiten, es gibt Kapazitäten, die der Ankunftsfülle beispielsweise oder die der Verteilerfülle, der Darbietungsdichte und Selbstpräsentations-Macht einer Stadt. Die Abstimmung von Hotelbetten, Nachtöffnungszeiten, Verkehrsfülle, Messebesuch, Auslastung der Museen, Einrichtung der Fußgängerzonen und anderem definiert einen optimalen Wert im Verhältnis von Arbeitsaufwand und Wertzuwachs von Immobilien. Und wenn nötig eben auch: eine Legitimation zur Beschaffung von Infrastruktur und Immobilien. Unter Effizienzgesichtspunkten ist das natürlich wünschenswert. Das Problem ist nur, dass hier etwas mit dem Leben geschieht und dass Projekte gewalttätig auf Dinge greifen, die keine Dinge sind, aber auch nicht als Dinge des öffentlichen Lebens behandelt werden. Vorgestellt wird eine solche Auslastung als Stellenbedarf bei den touristischen Zentralen und als regionalisierbare Struktureinnahmen für eigenartige ökonometrische Rechnungen im Stile von ‚Was-ist-denn-Basel-zum-Beispiel-für-ein-wirtschaftliches-Zentrum-der-Nordwestschweiz-in-Bezug-auf-…‘? Was geschieht auf diesem Hintergrund? Die Umstrukturierung einer ganzen Urbanität durch die Auffüllprobleme zwischen sogenannten touristischen Spitzenzeiten und -werten. Wenn aber ständig Realität ist, was bis jetzt in solchen Spitzenzeiten der Fall war, dann gibt es nichts mehr in einer Stadt, das so ist wie vorher. Die Infrastruktur wird für Spitzenwerte eingerich-

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tet, rentiert sich aber nur, wenn sie stetig und ganzjährlich, also alltäglich regulär und durchschnittlich ausgelastet wird. Die flankierenden Maßnahmen der Stadtreparatur, der Lückenfüllung, der Altstadtergänzungen, der Wohnstraßen, der partizipatorischen Rettung erhaltenswerten und renovationsfähigen Wohnraums – sie alle geben die Stadt preis. Und sie räumen das Feld für eine Planung, die sich weder rechtfertigt noch Nutzungskriterien entwickeln muss, sondern ganz einfach auf Schönheit abzielt. Die Stadt wird auf ihr Äußeres reduziert; Neubauten mit den alten Fassaden, Auskernungen – schön ist, was nicht sichtbar wird als Eingriff, schön ist also, was nicht wahrgenommen wird, schön ist, was aussieht als sei es nie geschaffen worden, schön ist, was kein Interesse zulässt und kein Widersprechen und keine Nachfrage nach Nutzbarkeit, Brauchbarkeit und Wert. Das ist die neue Ordnung im neuen Planercredo vom endlich notwendigen Zu-Ende-Bauen der Städte. Spuren und Zusammenhänge, Lebensvermittlungen und -vernetzungen werden ausgeräumt, Geschichte ist einzig noch ‚Nicht-Ruine‘. Die Ordnung wird, noch wo sie malerischen Ausdruck findet, mit dem Versuch durchgesetzt, Unsichtbarkeit zu schaffen. Und was hieran hindert, wird ‚möbliert‘, bis es schön ist. Wo in den Wohnstraßen die Autos fehlen, dort tauchen wenig später die Blumenkübel aus Beton auf.

Wie ist das doch mit der Utopie gewesen? Notwendig sind Utopie und Moderne ein intimes Verhältnis miteinander eingegangen. Beide ermöglichen und begleiten eine Lebensweise, die grundsätzlich nicht restlos determinierbar ist. Eine uncodierbare Lebensweise also, ein Bewusstsein von der Unerfüllbarkeit der Wünsche. Die heute im Fassadenschein gipfelnden Planungsmethoden dagegen möchten Utopismen verbal handhaben, zerkleinern zur Bescheidenheit nichtsperriger Wünsche. In genau diesem Sinne wird die Utopie beansprucht als technologisch machbar. Das aber ist ein prinzipieller Zugriff, der – weil er nicht die Architektur, sondern auch die Bauweise der Wünsche antastet – wesentlich weiter geht als die ohnehin stadtzerstörende Handhabung des Privateigentums an Grund und Boden. Der Zerfall der Moderne durch die kleinräumigen Utopien der Bauexperten markiert einen Ordnungswandel von Lebensweisen. Die bescheidene und sanfte Renovation des Erscheinungsbildes Stadt stellt nichts anderes zur Disposition als die urbane Freiheit der modernen Gesellschaft. Die Ordnung der Bewahrungsutopie, die Totalität der Planung, die Verlängerung der methodischen Stückwerktechnologie in die letzten Lücken hinein – sie alle wenden sich gegen unordentliche Lebensweisen. In den Städten wird gegen die Stadt, gegen die Versprechen des Urbanen der Verzicht auf Eigenleben geübt. Die städtischen Nutzungen – alle definiert, sei’s polizeilich, sei’s per Delegation von Kompetenzen, sei’s als partizipatorische Eigendisziplinierung – sind sämtliche übercodiert und -registriert. Die Durchsetzung der neuen planerischen Ordnungen rollt die Moderne gegen hinten auf und mit ihr einen langen Kampf um fundamentale Einsichten: dass nicht allein für die Freiheit, sondern für ein relevantes

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­ rinzip der Steuerung von Leben eben nicht die Ordnung, sondern Unordnung ein staP biles Maß ist. Architektur und Planung, wenn sie nicht Sozialtechnologie und organisierte Gewalt sind, haben nur eine Chance, wenn sie von den Reglementierungen abgelöst und für wilde Nutzungen freigegeben werden. Nicht zuletzt die bessere Tradition der Architektur zeigt, dass Nutzungs- und Gestaltungsvorgänge Vorgänge einer Lebendigkeit, sind, die prinzipiell nicht delegiert werden kann. Gegen die Planung, erst recht gegen die architektonischen Anmaßungen der stadtplanerischen Experten lässt sich nur auf Unplanbarkeit setzen, lässt sich einzig darauf hoffen, dass die Unordnungen stärker sein werden als die Bauten. Darauf, dass die Strukturen der Wünsche und des Lebens die Bauten verflüssigen können, die durch ihre Trägheit immer an fortführbaren Nutzungen hindern. Dazu bedarf es aber einer Abschaffung der Planung. Sonst schafft die rationalistische Planung und die Dekoration des Funktionalismus hinter den ‚schönen Fassaden‘ die Städte ab. Sie hat Gründe dazu, denn die rationalistische Planung hat dieselbe Logik wie die puritanische Moral, die sich gegen die Moderne wendet, weil sie die urbane Substanz jener Freiheit nicht erträgt, zu der die Schattenseiten der Vernunft notwendig gehören. Diese puritanische Planung träumt von einer Stadt, in der es keine Nacht gibt. Und in der Tat hat ja die Zähmung der modernen Großstadt mit der Einführung der nächtlichen Beleuchtung, der Kasernierung der Stadtstreicher, dem Verbot der Prostitution und der Einführung geregelter Schließungszeiten begonnen. Polizeistunde nennt sich das. Sie soll nun immer mehr vorverlegt werden. Dagegen muss man sich die sichtbaren, wie die unsichtbaren Gestaltungen und Bauten erst wieder dienstbar machen. Brauchbar sind sie allenfalls als Gliederung von Lebenszeit. Aber dann wären sie auch übersehbar. Und dann ließen sie sich auch übersehen, weil brauchbar nur ist, wessen Brauchbarkeit sich verweigern lässt. Und Planung wäre nur etwas, worauf man auch verzichten kann, etwas, das eine reale Alternative hat: Unplanbarkeit.

Erstveröffentlichung unter dem Titel „Stadtplanung als Stadtzerstörung – Ein Plädoyer für Unplanbarkeit“ am 30. Mai 1984 in der Wochenzeitung, Zürich auf S. 4 und 5. Dem Text liegt der mittlere Teil eines Vortrags zugrunde, der am 19. Januar 1984 an der Architekturabteilung der ETH Zürich unter dem Titel „Ge­staltungs­ trauma zwischen Utopie und Moderne“ gehalten worden ist.

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ARCHITEKTUR ALS GESTALTUNGSTRAUMA ­ZWISCHEN UTOPIE UND MODERNE Ernst Bloch notiert in der Einleitung zum Kapitel der geografischen Utopien in Das Prinzip Hoffnung unter dem Titel ‚Die ersten Lichter‘: „Leicht, sich von einem schlechten Ort weit weg zu wünschen. Aber die Straße aus ihm hinaus ist weniger selbstverständlich, sie muss erst gelegt werden.“1 Max Frisch hat seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1976 unter das Motto ‚Wir hoffen‘ gestellt und zum Thema des Utopischen heute vermerkt: „Die parlamentarisch-demokratische Apparatur, eingespielt auf Kompromiss in Permanenz, erzieht nicht nur zur Toleranz, was ja eine humane Qualität wäre über den staatsbürgerlichen Bezirk hinaus, mehr noch erzieht sie zur Resignation, zur Preisgabe jeder Utopie.“2 Und zur Frage „Wozu Utopie?“: „Eine Utopie ist nicht dadurch entwertet, dass wir vor ihr nicht bestehen. Sie ist es, was uns im Scheitern noch Wert gibt. Ohne Utopie wären wir Lebewesen ohne Trans­zendenz.“3 Mich hat an der Bearbeitung meines Themas, der Themenstellung ‚­Architektur als Gestaltungstrauma zwischen Utopie und Moderne‘ die gegenseitige Korrektur der utopischen Wünsche und der modernen Lebensweisen gereizt. Ich dachte an jene Bloch’sche ‚Straße heraus‘ und daran, dass gerade über die Architektur der Ausgang aus dem schlechten Ort zu kennzeichnen sei noch dort, wo die Architektur den schlechten Ort gebaut hat. Meine Frage zielt auf die architektonische Verwirklichung utopischer Wünsche auf dem Hintergrund des modernen Lebens, und das heißt: des urbanen Lebens. Was anstand, war die Verbindung zwischen der Architektur der Wünsche und der Architektur des bebauten Raumes. Nicht zufällig brauchen wir den Begriff der Architektur für vieles und verschiedenes: für die Architekturen des Denkens, der Häuser, der Landschaften und eben der Wünsche, durch die alles zusammenkommen und ein Ort werden soll. Es lag also nahe und schien mir ausgemacht, dass gerade die Architektur die Brücke schlägt zwischen der Landschaft des Utopischen und den Wunscharchitekturen des modernen Lebens. Mit zunehmender Beschäftigung mit dem Thema haben sich Schwierigkeiten ergeben. Denn gerade die modernen Ansprüche an eine utopische Qualität von Architektur führen dazu, dass Utopien Konstruktionen werden, für die man sich immer weniger wirkliche Räume vorstellen kann. Utopien werden immer mehr zu begrifflichen Konstruktionen. Entsprechend der immer mehr durch begriffliche Vorgänge strukturierten modernen und postmodernen Gesellschaft im Ganzen. Dass sie immer stärker begrifflich organisiert ist, meint nicht erst Verkabelung und Datenverarbeitung als Steuerungsmittel für Handlungsabläufe (und anderes), sondern einen Typ von gesellschaftlichen Vorgängen, durch die man über abstrakte Zusammenhänge verfügen kann. Und wenn man irgendetwas machen will, dann muss man zunehmend über solche Raster flüssiger Daten und Informationen verfügen können. Und in dem Ausmaße, wie man seine Tätigkeiten über begriffliche Raster definiert, werden weite ­Bereiche des modernen Lebens vergleichsweise selber abstrakt. Für die Konstruktion

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utopischer Zusammenhänge bedeutete das: Das gesamte System abstrakter Regulierungen reibt sich an der Lebenswelt. Die lebensweltlichen Traditionen trocknen immer mehr aus, werden verformt durch Systeme wie Bürokratie, Verwaltung, Recht, Geld, Macht. Das Abstrakte, nicht das Utopische konstruiert die Architektur vieler Lebensweisen. Das ist nicht verwerflich, viele der von den Utopien angesprochenen Vorstellungen ließen sich technisch gerade durch solche Systeme verwirklichen. Und doch ist der Hang zur Abstraktion in diesem Bereich gegen-utopisch. Er macht eine Selbstversorgung menschlicher und menschengerechter Wünsche nicht möglich. Die bloß technische und instrumentelle Einrichtung vernichtet utopische Qualitäten an Lebensweisen, wenn sie auf Reibungslosigkeit der Abläufe getrimmt werden. Das Abstrakte dabei lässt weder eine Landschaft noch einen Ort, kein Bild und damit auch keine Heimat zu. Es geht also nicht mehr um einen Durchgang durch gebaute Architekturen und durch die Architektur des Utopischen, um dar­aus Folgerungen für das moderne Leben abzuleiten. Für mein Thema ist das Dazwischen wichtig geworden, die Gestaltung – als Traum und als Trauma – zwischen Utopie und Moderne, zwischen dem Versprechen der Heimat und den abstrakten Zusammenhängen des modernen, städtischen Lebens. Und natürlich beschäftigt man sich nicht mit einem Sachthema allein, sondern arbeitet anhand eines Themas auch ein eigenes Deutungsmuster von Wirklichkeit ab, redet also über sich, seine Zeit, den Blickwinkel und die Perspektive, aus der heraus man sich für etwas interessiert auf eine bestimmte Weise. Dazu einige Bemerkungen: Ich bin nicht Architekt und ich bin nicht Architekturtheoretiker. Ich leite aus gewissen Beschäftigungen keinen Anspruch an Ableitungen her. Was mich interessiert, ist eine Diskussion, ein Diskurs über Strukturen und über das Exemplarische an der Architektur. Im Sinne des Philosophen Kant betrachte ich mich als jemanden, der – dreifach gegliedert – über die Welt, in der Welt und auf weltliche, mundane Weise räsoniert. Das bedeutet: Ich bin Betroffener und vielleicht werde ich als Bürger Sachverständiger meiner eigenen Lebensgestaltung. Ich bin kein Experte und ich habe etwas gegen die Expertenkulturen, gegen unsere Verwaltungsspezialisten und die beanspruchte Autorität von Experten, die nicht begründet wird, sondern sich per se aus ihrem Status als Experten herleiten will. Ich bin entsprechend betroffen von den architektonischen Experten und versuche, über das, was sie anrichten, zu räsonieren. Aus der Kompetenz der Sachfragen, die einen Bürger betreffen. Ich habe zudem etwas gegen die Experteneliten der Architekten. Nicht, weil sie Architekten sind, sondern weil auch die Städteplaner und Juroren, die Verwaltungskonzipienten und Ein- und Auszoner meist auch Architekten sind. Einige Überlegungen, die sich aus Zeitbeobachtungen herleiten, geben also den Standort an, an dem ich einen Diskurs aufnehmen möchte bezüglich der Probleme der utopischen Qualitäten von Architektur, einen Diskurs über Themen, im besten Fall ­einen kritischen Diskurs mit den Gestaltern. Die Frage zielt aus diesem Grund auf die menschengerechten, und das heißt: utopischen Möglichkeiten der Gestaltung am ­Beispiel möglicher Planungs- und Einrichtungsformen von Architektur. Ich werde über Folgendes reden:

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1. über Begriffe und Wandlungen des Utopiethemas, 2. über den Begriff der Moderne und des Lebensraums der modernen Urbanität, 3. über eine Ethik der Architektur, d. h. über eine Frage­stellung, und dann länger 4. über Architektur und Planung, mit 5. einer Vorstellung einiger gestalterischer Modelle, die eine konkrete Möglichkeit des Ausgangs aus dem Trauma der Gestaltung anzeigen sollen, Möglichkeiten einer konstruktiven Vermittlung von utopisch-kritischer Architektur und moderner Skepsis, d. h. der rationalen Korrektur an der ­Faszination der Träume.

1  Utopisches Denken und das Problem der Technik Wege ins Paradies – das ist der Titel des letzten Buches des Soziologen, Philosophen und politischen Ökonomen André Gorz. Das Paradiesthema ist eines der zentralen des utopischen Denkens. Ich behandle es hier nicht. Aber es verweist auf ein anderes Thema und das gängige Verständnis von Utopie als dem Schlaraffenland, in dem es nie Pro­bleme gegeben hat, weil immer schon alles zum Besten bestellt war. Das Schlaraffenland ist zwar ein utopischer Ort, ein Angriffspunkt utopischen Denkens, aber es steht, erstmals einen Topos begründend, nicht in den sogenannten ‚seriösen‘ Utopien, sondern in einer Satire: in Sebastian Brants Das Narrenschiff von 1494. ‚Utopia‘ – das ist ursprünglich der ‚Nirgendort‘, ein Ort, der anderswo liegt, im Unbekannten, ein Ort aber, der immer aktuell ist. Platons Geschichte vom Untergang des Kontinents Atlantis ist eine der ersten Beschreibung eines solchen utopischen Orts. Utopia ist eine Raumkategorie, keine zeitliche Kategorie. Platon fragt in seiner Erörterung des utopischen Themas wie auch sonst nach der Einrichtung gerechter Regierungsformen. Das sachliche Thema der Utopie hat seinen Gattungsnamen gefunden durch Anlehnung an Thomas Morus’ Buch Utopia, erschienen 1516. Die Art der Einrichtung ­dieser sagenreichen Insel bezeichnet klar die Strukturen des utopischen Denkens wie es bis heute überliefert worden ist. Utopia ist eine Insel und liegt vor der südamerikanischen Küste. Ihr Name geht auf ‚Utopos‘ zurück, ihren ersten bezeugten Helden. Und ‚Utopos‘ war ein integraler Gestalter, der Städte- und Gesellschaftsbauer dieser ­Insel. Nach der Landung lässt er Land von einer Halbinsel abtrennen, sodass Utopia vom Meer umgeben ist. Das ergibt also ein erstes Motiv: Utopie als Isolation, Utopie auch als ein Ort erschwerter Zugänglichkeit, d. h. die Kenntnis von Utopia gehört zur Intimität des Utopikers. Dem entspricht, dass allein mit Lotsen, die die sicheren Fahrrinnen kennen, Utopie erreicht werden kann. Ein zweites Motiv: Man muss in Utopia aufgenommen werden und die Verwaltung von Utopia hat die technischen Mittel der Auswahl. Die 54 Städte des Inselstaates sind alle nach dem gleichen Plan erbaut.

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Ein drittes Motiv: die Organisation der utopischen Freiheit als rationale Ordnung. Die Hauptstadt Amaurotum liegt in der Mitte. Ein viertes Motiv: die Zentralsymmetrie, d. h. eigentlich die Modellbildung nach einem ganz anderen Vorbild: entweder nach Schlossanlage oder nach Sternkreisbildern. Späteren Diagnosen und Wahrnehmungen erscheint der Idealplan des Sonnenstaates modellhaft als ein Gefängnis, das für einen totalen Überwachungsblick eingerichtet worden ist. Michel Foucault hat sie in seiner Analyse „Überwachen und Strafen“ auf ihre gewalttätigen Strukturen hin untersucht und festgestellt, dass diese Gewalt nicht zuletzt mit der extremen Zentralisierung zu tun hat. Und fünftens sowie als Fazit: Die Gattung ‚Utopia‘ hat als solche eine enge Beziehung zu Fragen, wie sie eine Gestaltungsplanung für großdimensionierte Lebensräume stellen muss. Eine gewisse Intimität der Architektur zu den Bauplänen der idealen Gesellschaft ergibt sich aus der Konstruktion des Utopiethemas. Bis in die Zeit der Renaissance aber wäre es niemandem eingefallen, dass Utopien dazu da sind, um verwirklicht zu werden. Was für eine Funktion sie für die Einbildungskraft einer Gesellschaft haben, darüber lässt sich spekulieren. Sicher ist nur, dass sie in gewisser Weise direkt den Fantasien entspringen und ihre Funktion darin haben, Zeugnisse für diese Einbildung zu sein, möglicherweise über das Thema des ‚anderswo‘ eine mahnende Funktion für die bestehende Gesellschaft. Utopien haben bis zur Renaissance kaum eine handlungsorientierende Funktion. Sie sind keine Drehbücher für Wirklichkeitsgestalter. Die Funktion dieser Utopien könnte gewesen sein, dass sie gerade nicht funktionalisierbar sind, sondern allein Bilder der Fantasietätigkeit, nichts außer den Spuren, die eine Imagination durch die Geografie der imaginären Landschaften und durch die Einbildungskraft legt. Mit der Renaissance – zu der Morus’ Utopia gehört – ändert sich das. Seit da dominiert vermehrt eine andere Tendenz des utopischen Denkens: eine Zuordnung von Architekturutopien und Sozialutopien, d. h. von zwei Wunschvorstellungsgebilden, die sich der Frage widmen, mit welchen Modellen ideale Formen des Zusammen­lebens geschaffen werden können. Glück, Freiheit und Gerechtigkeit sind das Ziel. Der von Ernst Bloch als Grundzug menschlichen Denkens beschriebene ‚Traum nach vorwärts‘, die Antizipation, verbindet sich mit dem Traum des praktischen ­Machens. Es geht um konkrete Utopien, um wirkliche Versuche, den – wie Bloch sagt – „natürlichen Gang der Ereignisse zu überholen“. Es geht um Entwürfe, und es geht um Realisierung der Entwürfe. In der Renaissance findet ein Funktionswandel des utopischen Denkens statt. Eine geschichtsphilosophische Wendung, die zu tun hat mit: • der Entwicklung der Subjektivität und Individualität als dem philosophisch sicheren Lebensgrund, • der Selbstbehauptung und Selbstermächtigung der empirischen, beschreibend verfahrenden, hypothetischen Natur­ wissenschaften und dem an ihrer Begründung orientierten Ideal von Wissenschaftlichkeit überhaupt,

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• der zunehmenden Einrichtung der Technologien für die ideellen Konzept und damit mit der Orientierung auf das Kriterium nicht einer theoretischen, sondern einer praktischen ­Orientierung, einer Allmachbarkeit. Nun wird die Utopie, ein Ort also, dem Raum entrissen und wissenschaftlich der Prüfung der Zeit eingegliedert. Das Paradies wird zu einer Frage der Machbarkeit im technologischen Fortschritt. Die Imagination reicht als Korrektur nicht mehr. Die Individuierung bedeutet zugleich eine Hilflosigkeit. Die utopische Funktion wird auf eine gemeinsame Praxis übertragen. Dieser seit der Renaissance vorgedachte Prozess der zunehmenden Realisierung von bildlichen und denkerischen Funktionen wird natürlich erst mit der Industrialisierung wirklich relevant. Mit der Industrialisierung aber werden Utopien einer Legitimation unterworfen, die sich Realisierbarkeit nennt. Utopisten werden zu Sozialplanern und Revolutionäre zu Aussiedlern (Robert Owen, Charles Fourier). Es geht nicht mehr um die Distanz und das Motiv einer Reise für Kenntnisreiche, sondern um den architektonischen Plan der Einrichtung einer besseren Gesellschaft. Die Utopien haben sich davon befreit, nur dort zu entstehen, wo Handlungshemmungen gesellschaftlich produziert und institutionell verfestigt werden.4 Utopien verlieren ihre kritische zugunsten ihrer praktischen Funktion. Dass die Wirklichkeit sich zu einem utopisch kalkulierbaren Lebensraum befreien oder auch fortentwickeln könnte, belegt aber nicht eine allgemeine Bereitschaft zur Verwirklichung utopischer Ziele, sondern eher die Selbstermächtigung der gesellschaftlichen Apparaturen, die eine Lebensweise auch einrichten können, also der Apparaturen der Technik und der Produktion. Die Industrialisierung hat – in Zusammenhang mit der abstrakten Tauschgesellschaft, dem Besitzindividualismus – zur Verweltlichung der praktisch herstellbaren Utopien geführt und damit zu einem Funktionswandel in den Auffassungen über die Funktionen utopischen Denkens: Die Utopien werden innerweltliche und nicht mehr bloß transzendente Bilder einer anderen besseren Gesellschaft. So eingerichtete Utopien leben nicht mehr allein vom Geist des Utopischen, sondern viel mehr von den objektiven oder auch ‚objektiv-realen‘ Möglichkeiten. Und die werden definiert und abgesteckt durch die Wirkkräfte technischer Einrichtung und später von dem, was man Sachzwang nennt. Die Wunschökonomie, Fantasie und Wollen müssen sich also den objektiven Strukturen gesellschaftlicher Verhältnisse und den Produktionsweisen einpassen. Die Utopien leben nicht von einer kompliziert überbrückbaren Distanz, sondern im Gegenteil von einer Organisation einer Macht der Annäherung. Utopien werden zum Spiegel der Technik. Sie sind nicht mehr Utopien allein, sondern Utopien als Chancen auf Realisierbarkeiten. Diese Entwicklung äußern die verschiedenen Konzeptionen des Utopiebegriffs bei Ernst Bloch und Herbert Marcuse. Der Realitätsgrad einer Utopie wird nun selber vom Wunsch- zum Arbeitsmaterial von Techniken, Techniken der Apparate und des Vorgehens. Überspitzt: Der Möglichkeitsgrad des Utopischen wird zu einem Resultat des technisch Machbaren. Das ­verdeckt nicht unbedingt Brüche, die weiterhin zwischen den Sphären liegen. Die ­Utopien treten

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selber ein in einen Diskurs des Wirklichen. Sie unterliegen dem empirischen Zugriff. Sie werden Bestandteile der Wissenschaften und der Technologien. Die ausgemalten totalen Lebensentwürfe werden überlagert von den technischen Bedingungen des machbaren Neuen. Und das heißt: Sie leben von einer sich selber zügelnden Einbildungskraft, denn die technischen Erfindungen sind immer Einschränkungen an den Erfindungen der ästhetischen Lebensformen. Die Utopien verschmelzen sich also zunehmend mit den Maschinen. Der Übergang der Utopien in die literarische Science-Fiction drückt einen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel aus. Man kann eine Kritik der Utopie maximal formulieren und sich dann mit dem Totalitätszwang geschlossener Systeme und der Verführung durch Bilder beschäftigen. Das ist ein gewohnter Typus konservativer Utopiekritik. Es gibt aber weniger weitgreifende Überlegungen, die sich mit dem Problem der utopischen Verwandlung des Utopiethemas beschäftigen. Zentral ist hier die Feststellung, dass der Nirgendort sich vom Raum abgelöst hat und das Paradies zu einer Frage des Fortschritts in der Zeit geworden ist. Utopisch orientierte Kritik wird zu einer Kritik der geschichtlichen Zeit, des Fortschritts. Der Raum des Utopischen war diskontinuierlich. Die Utopie als Frage nach der Zeit, d. h. die konkrete Utopie, orientiert sich an der Kontinuität, am Kontinuum der geschichtlich linearen Zeit, der stetigen Vervollkommnung der Geschichte in der Historie, gar der Chronokratie. Das Verständnis eines solchen Kontinuums spiegelt die Epoche, die ein solches Verständnis projiziert, und spricht dann von der Zerrissenheit, dem Aufbrechen eines organischen Lebenszusammenhangs in unzusammenhängende, voneinander getrennte Bereiche: • • • •

authentische Kultur, strategische Produktion, elementarisierte Handlungsweisen (Arbeitsmaschine), verallgemeinerte Kompensation des Leidens an der Arbeit durch Kompensation an Lebenszeit durch Geld und Lohn.

Den modernen Gesellschaften ist es gelungen, das utopische Potenzial an das Soziale zu binden, und zwar durch eine Privilegierung des Sozialen in Gestalt des Wohlfahrtstaates. Wo das Soziale alle Rationalität aufgesogen hat, dort können Utopien keine Befreiung von der Vorherrschaft des Sozialen ansteuern. Es sei denn, sie würden bloß Fantastereien ohne Stachel. Das utopische Denken schrumpfte dann gegen den Nullpunkt hin. Das ist ein bis jetzt letzter, aktueller Funktionswandel im utopischen Denken, gewisser­ maßen die postmoderne Funktionalisierung des Widerspruchs zu einem nicht mehr utopischen, sondern ‚negativen‘ Denken. Was einmal utopisches Denken als planerischer Zukunftsentwurf hieß, kann sich nur noch in der eingeschränkten Form der Negation bewegen.5 Die vorherrschende Rede ist dann die vom ‚Aussteigen‘. Das utopische Potenzial scheint von einem administrativen Bereich aufgesogen worden zu sein. Die Utopien haben gewissermaßen ihren Träger gewechselt. Je mehr der Bestand der sozialen Sphäre an die Technisierung der Welt angeschlossen wird, desto mehr wird der sozialtechnische Bereich planerisch erfasst und ausgewertet.

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In diesem Bereich werden – und die Architektur gehört hier zumindest als Stadtplanung zentral dazu – Utopien heute entworfen. Sie haben jedoch kein eigentliches Subjekt mehr. Das utopische Potenzial verschwindet in den Innovationsplänen des sozialtechnischen Bereichs. Das utopische Potenzial löst sich von jedem revolutionär noch denkbaren Subjekt ab. Aber die Utopien verschwinden nicht: Sie bleiben erhalten, aber nur noch als Drohung. Hans Magnus Enzensberger im Gedicht „Die Frösche von Bikini“: „Was, Lichtblicke? Oh, / Lichtblicke gibt es genug. Nur da nicht, / wo ihr sie sucht oder ich. / Utopien? Gewiss, aber wo? / Wir sehen sie nicht. Wir fühlen sie nur / wie das Messer im Rücken.“ Es gibt weniger traumatische Figurationen oder Imaginationen als diese. Aber auch sie kommen um den Befund der versperrten oder bereits ausverkauften Zukunft nicht herum. Der utopische Traum der Neuzeit fragt immer nach Konzepten der Verfügbarkeit. Dagegen können sich Utopien nur dort entfalten, wo sie auf Nichtverfügbarkeit bestehen und diese als Struktur ermöglichen. Utopien sind nur wirklich, wenn sie realisierbar sind, das ist der Glaube der Neuzeit. Technisch realisierbar sind aber über kurz oder lang alle Utopien. Alle bis jetzt realisierten Utopien sind noch nicht human wirklich. Wenn die Wirklichkeit das Utopische als Realisierung definiert, dann liquidiert sie nicht allein den Möglichkeitscharakter. Der Verlust am sperrigen Utopischen bedeutet auch, dass die Wirklichkeit ihren eigenen, also den ihr angemessenen oder konzeptuell adäquaten Begriff verliert. Logisch gesehen: Wo es keine Möglichkeit mehr geben kann, dort gibt es auch keine Wirklichkeit mehr. Tatsachen sind nur Tatsachen, wenn sie durch alternative Auswahl und das ­Verfahren der Artikulation wie auch einer mindestens partiellen Berücksichtigung der Gegentatsachen beschrieben und gekennzeichnet werden können.

2  Der Begriff der Moderne und die moderne Urbanität Einige nicht weiter ausgeführte Stichworte seien vorab verkürzt genannt, als eine Art Netz, das noch nicht wirklich leistungsfähig ist, dessen Referenzen aber so sattsam oder gut bekannt sind, dass sie hier nicht als Stereotypien ausgeführt werden müssen oder sollen: • • • • •

Rationalisierung, Hinweise auf Max Weber und Jürgen Habermas, instrumentelles Handeln: Arbeit und Produktion, Normen der Richtigkeit und Gerechtigkeit: Recht und Staat, Normen der Authentizität und der Expression: Kunst und ­Kultur, streng unterschiedene, nach eigenen Normen funk­ tionierende Sphären, • Systeme und Subsysteme, Reibungen zwischen System und ­Lebenswelt,

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• Funktionalisierung von Tradition und lebensweltlicher ­Kommunikation, • Expertenkulturen, Rationalität und Irrationalität, Planung und Planung der unplanbaren Nebenfolgen, • Engagement und Distanzierung als eine Dialektik im ­modernen Wissen,6 • moderne Urbanität: Architektur, Traum, Ereignis. Unordnung und Erfahrungsqualität der modernen Stadt.7 Statt einer kommentierenden Ausführung füge ich hier, der Montage der Zitate und Texte des Vorlesungskonvolutes vom Januar 1984 folgend, Abbildungen bzw. Scans der zur Erläuterung versammelten Texte Dritter an, also eigentlichen Zeugnisse, zugleich Referenzen von Kronzeugen. Schreiben – insbesondere als Vorbereiten von Reden – besteht zuweilen auch im Annotieren von Xeroxiertem und Montiertem.8 Nach der Versenkung in die montierten Referenzen eines physischen wie mentalen Zettelkastens, durch welchen das Fotokopiergerät, also das Xeroxieren, in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren, also vor der Entwicklung von PCs, Bilder in Textelemente verwandelt, ohne die Bilder aufzuheben, wenden wir uns wieder dem metatheoretischen Diskurs zu und setzen ihn fort.

3  Eine Ethik der Architektur? Die utopiefähige Einrichtung einer menschengerechten Gesellschaft ist ein vorrangiges Thema architektonischer Gestaltung, natürlich auf dem Hintergrund gesellschaftspolitischer und sozialpsychologischer Gedanken. D. h. die Architektur ist nicht allein ein Medium ideologischer Konstruktion, sondern selber ein ideologischer Faktor. Die gesellschaftliche Utopie weist der Architektur die Aufgaben einer veritablen sozialen und ethischen Institution zu und damit dem Architekten auch moralische Verpflichtungen. Ein systematischer Bestandteil für die Berufsbildung von Architekten ist das meines Wissens aber nicht, auch wenn in der öffentlichen Diskussion die ethische Frage der Gestaltung immer mehr in den Vordergrund gerückt wird. Es gibt bis heute als umfassendste Erörterung dessen, was zur Architektur gehört, immer noch in erster Linie die Zehn Bücher über Architektur des Vitruv aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert. Das wird nahezu gedankenlos und in Permanenz beteuert und wiederholt, auch von all den Architekten, die nur noch eine abgehobene und halbierte Schönheit im Kopf haben, sich jedoch in den Bedingungen der Festigkeit, Materialgerechtheit, der Stabilität und Dauerhaftigkeit des Bauens nicht mehr auskennen. Dazu einige kursorische Erinnerungen. Vitruv zum Bau: „Ein Bau muss Nutzen, Dauer und Schönheit zugleich enthalten.“ Vitruv beginnt sein erstes Buch mit der Erörterung der ‚Ausbildung des Baumeisters‘. Zentrales Anliegen ist bereits ihm eine wissenschaftliche Bildung, die über die ‚Übung

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der Hände‘ hinausgeht. Der Architekt muss nach Vitruv schreibkundig sein, den Zeichenstift führen können, in Heilkunde, juristischen Entscheidungen bewandert sein, Kenntnisse in Sternkunde haben, kurz: er muss Philosoph, und das heißt für jene Zeit: Wissenschaftler sein. Das beinhaltet auch Kenntnisse der Physiologie, der Musik, der Mathematik, der Harmonik. Deshalb fordert Vitruv auch eine lange Ausbildung. Und doch ist der Architekt nur scheinbar ein universaler Mensch. Der Mathematiker steht z. B. höher als er, der Philosoph am höchsten. Philosoph ist der antiken Tradition und Überzeugung nach, wer es sich leisten kann, nichts zu tun. Irgendwer muss aber bauen, und unter diesem Gesichtspunkt kann der Architekt ein hohes Prestige verlangen: Er ist nahe genug an den intimen Kenntnissen der Weisen, aber wesentlich näher an den gesellschaftlichen Notwendigkeiten und Bedürfnissen als diese. Ziel ist, dass der Bau die Bedingungen des ‚Decor‘ oder ‚Decorum‘ erfüllt: „Decor ist das fehlerfreie Aussehen eines Bauwerks, das aus anerkannten Teilen mit Geschmack geformt ist.“9 Geschmack ist ein kultureller Indikator des gesellschaftlichen Lebens und keine konstante Größe. Der Architekt ist der Aufgabe seiner gestalterischen und erzieherischen, d. h. geschmacksbildenden Aufgaben nur gewachsen, wenn er von der Philosophie erzogen wird. Der zentrale Anspruch lautet so: „Die Philosophie aber bringt den vollendeten Architekten mit hoher Gesinnung hervor und lässt ihn nicht anmaßend, sondern eher umgänglich, billig denkend und zuverlässig, und, was das Wichtigste ist, ohne Habgier sein. Kein Werk kann nämlich in der Tat ohne Zuverlässigkeit und Lauterkeit der Gesinnung geschaffen werden.“10 Offensichtlich gab es bereits zu Vitruvs Zeiten eine Architektur, die als Korruption funktionierte und sich dabei beschied. Vitruv versteht das architektonische Werk als eine ästhetische wie auch als eine sittliche Angelegenheit. Nun ist die Beziehung zwischen Fachleuten und Laien, zwischen Architekten und Betroffenen in der Baugeschichte lange Zeit kein Gegenstand von Auseinandersetzungen gewesen. Vitruvs sittlicher Anspruch ist individualistisch, bezieht sich auf die Selbstverantwortung des Architekten und nicht auf eine dialogische Ethik möglicher Rechtfertigung von Gestaltungsansprüchen. In der Antike, im Mittelalter, in der Renaissance bis hin zum Klassizismus gab es aufgrund evidenter, festgefügter und allgemein anerkannter sozialer Normen, aufgrund von künstlerischen Traditionen und ästhetischen Konventionen ein funktionierendes System Architektur. Dazu gehörte auf der einen Seite die hohe, einheitliche und repräsentative Baukunst, die von qualifizierten Experten, den Architektenkünstlern geschaffen wurde. ­Daneben existierte, immer schon und immer noch, die anonyme Architektur, die im ­Eigenbau, von Handwerkern etc. realisiert wurde, gewissermaßen die Alltagskultur des Wohnens und die Gebrauchswertästhetik verkörpernd und diese weiter entwickelnd. Nicht wenige der überzeugenden Lösungen und des funktionierenden Einsatzes von Baumaterial und Materialqualitäten stammt – wie ein kurzer Blick in die Städte zeigt – von der Seite dieser anonymen Architektur. Das ist heute auch eine Antwort geworden auf die Frage: Was ist gute Architektur? Der Architekt als Vertreter der Hochkultur legitimiert sich als Künstler, und daraus leitet er den Anspruch an autonomes Entwerfen, Planen und Durchführen, von ihm kontrollierte Architektur ab. Seine Autonomie macht Bauen und Architektur heteronom. Sie sind ihm anhängig, zugleich abhängig

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und fremdbestimmt. Dieses Selbstverständnis prägt das ganze 19. Jahrhundert und überdauert trotz des Anspruchs des sozialen Bewusstseins, trotz Revolution, Aufklärung, Souveränität, Demokratie und Partizipation auch die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Noch die Charta von Athen, 1933 geschrieben, 1941 überarbeitet, 1943 erst publiziert, geht davon aus, dass der Architekt „die vollkommenste Kenntnis vom Menschen besitzt“ und das heißt: nicht allein weiß, wie man technisch ein Problem löst, sondern auch Kenntnisse über das Leben hat, weiß, was sein soll und wie es sein soll. Nun hat sich heute ein zentraler Streit methodischer Art darüber gebildet, woraus ein Experte, dessen technische Kompetenz nicht zu bezweifeln ist, seine Kompetenz wirklich schöpft, wozu er legitimiert ist und in welchem Rahmen er seine Kompetenz beanspruchen kann. Paul Feyerabend hat hier einen wichtigen Durchbruch geschaffen und gezeigt, dass jemand für das allgemeine Leben nicht kompetent ist, weil er technisch kompetent wäre, sondern allein, weil er selber in diesem Leben einbezogen ist, daran teilnimmt, betroffen ist, sich zu artikulieren und kontrovers zu debattieren, also auch seinen Standpunkt zu verändern und zu kritisieren weiß. Kompetenz leitet sich nicht mehr aus dem Standpunkt des Beobachters her, sondern allein aus dem Standpunkt des Teilnehmers.11 Kompetenz ist ein Faktor der Traditionen, aus denen man lebt. Es gibt andere Faktoren. Wissenschaft ist einer davon, aber nicht der Maßstab aller anderen Traditionen. Es gibt viele Formen rationalen Verhaltens, aber es gibt keinen methodischen Zugang zu einem absoluten Maßstab von Rationalität. Und erst recht keine Legitimation aus der deduktiven Vorsetzung und Behauptung einer Prämisse, welcher alles zu gehorchen und aus welcher alles sich abzuleiten hat. Kompetenz hat man im Leben durch die das wohlverstehende Durchdringen der eigenen Lebensweise, durch den Sachverstand und die Lebensführung, aber nicht durch die aus Techniken von spezialisierten Expertenzuständigkeiten abgeleitete Entscheidungsdominanz. Die Charta von Athen verwischt hier einiges, was man heute leicht als Wiedererkennen bestimmter Fehlkonstruktionen ansprechen kann. Für die ethische Fragestellung zentral ist, dass aus der technischen Vollkommenheit des Architekten sich kein Entscheidungs- oder Zuständigkeitsanspruch übergeordneter Natur ableiten lässt. Begründungen dazu folgen anderen Formen und bedürfen anderer Diskurse. Das soll nicht als Begrenzung aus Machtverteilung verstanden werden. Die Pointe ist eine andere: wenn ethische Entscheidungen nicht beliebig delegiert werden können, dann muss auch der Gestalter seinen Beobachtungsposten verlassen und seine Lebensfähigkeit als Teilnehmer investieren, auf gleichem Niveau, mit Versuchen zur Begründung, Erläuterung und Überzeugung. In dem Maße, wie die Gestaltung zu einem ethisch angezweifelten, kontroversen und damit überhaupt erst begründbaren Vorgang geworden ist, und in dem Maße, wie eine Gesellschaft nicht mehr über verbindliche, allgemeine und offensichtliche Symbolsysteme verfügt, löst sich die Gestaltung auch von der technisch arrangierten Ästhetik ab und wird eine diskursive Angelegenheit der ethisch begründbaren Willensbildung. Das mag Probleme für eine so entwertete Ästhetik nach sich ziehen. Überlegt man aber einen möglichen ethischen Grundsatz für den Architekten, so wird man leicht ästhetische Qualitäten aus einer solchen Ethik hervorgehen sehen. Nehmen wir die Definition Kants: Handle immer so, dass die Maxime

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deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden könnte. Für den Architekten lässt sich ein solcher Gedanke so formulieren: Baue die Häuser so, dass alle darin leben könnten, die darauf angewiesen sind. Baue die Häuser so, dass sie allgemein brauchbar sind und nicht nach den meist eigenartigen, egoistischen, idiosynkratischen Zwecken der Bauherren. Es lässt sich noch einfacher sagen: Baue nur Häuser, in denen du dir zutrauen möchtest, wohnen und dein Leben gestalten zu können. Würde eine solche ethische Maxime funktionieren, dann wären einige urbane gesellschaftliche, psychische, seelische und politische Probleme nicht entstanden. Korruption statt der Gesinnung des Vitruv bleibt auch dort offensichtlich praktisch untauglich für die Einrichtung einer brauchbaren Bauwelt, wo man sich zu Recht mit Bertolt Brecht sagen kann, dass die Korruption der letzte Schlupfwinkel der Menschlichkeit in diesem Jahrhundert von Gewalt und Grausamkeiten ist. „Ethik ist dann und nur dann notwendig, wenn der Mensch mehr kann als er darf“ – dies eine Formulierung Hans Saners.12 Heute sind Wissenschaft und Technik miteinander so eng verbunden, dass sie kaum mehr trennbar sind. Das ist auch der Problemgrund ethischer Fragen an die Architektur. Denn die Gestaltungsaufgaben und entsprechend das Selbstverständnis des Architekten haben sich zunehmend verwissenschaftlicht. Und zwar in zwei Momenten: der notwendigen technischen Kenntnisse von Konstruktion, wobei man sich hier durchaus an das intime Wissen der Handwerker erinnern kann, an die ebenfalls durch serielle Fabrikate immer mehr zerstörte Handwerkerkultur, und an die höchst gefährliche der Verwissenschaftlichung von Planungsvorgängen in einem Bereich der Lebenseinrichtungen, der Zurichtung der Infrastrukturen durch die architektonisch konzipierten Bauund Lebensweisen. Das Prinzip des Handelns und der Gestaltungshandlungen kann nicht in einem privaten Weltbild beziehungsweise der Opportunität oder Loyalität gegenüber Vorschriften begründet liegen. Ein ethisches Prinzip hätte auf die Installation einer gerechten und menschengerechten Einrichtung der baulichen Körper für Lebensgestaltungen zu zielen. Ethisch qualifiziert ist nicht das Bereitstellen von bloßen Instrumenten für irgendeine Art gesteigerter Effizienz. Geschmack mag Privatsache sein, Gestaltung ist es nicht. Dass allein private Gründe ausreichen würden, um ethische Probleme zu lösen, würde nichts anderes heißen, als dass irgendjemand, wahrscheinlich der liebe Gott, das große Ganze bereits so geordnet hat, dass eben allein die private Seite der Beziehungen zu dieser Ordnung wiederum in Ordnung gehalten werden müsse. Eine Ethik der den Naturwissenschaften angeglichenen Verständigungen von Wissenschaftlichkeit existiert erst seit dem Wechsel zum 20. Jahrhundert. Vorher war die Ansicht, dass es eine allgemeine Moral gibt, die keiner besonderen Ethiken – für den Architekten, den Naturforscher, den Politiker etc. – bedurfte. Und auf der anderen Seite die wertfreie Wissenschaft, für die die selbstverständliche Suche nach der Wahrheit sämtliche ethischen Folgeereignisse abdeckt und mit enthält. Es ist hier nicht der Ort, das Zerbrechen dieser korrespondierenden Auffassungen – durch die naturwissenschaftlich und technisch korrekte Herstellung von Vernichtungsmitteln beispielsweise – nachzuzeichnen. Immerhin lässt sich daran erkennen, dass unsere ethische Frage eine späte zivilisatorische Errungenschaft ist und mithin ein Spiegel gerade für eine Unzahl summierter ungelöster Probleme.

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Nur so viel dazu: Die Freiheit der Gesinnungsethik und die Freiheit des alten wissenschaftlichen Ethos kann man heute verstehen als Verinnerlichung von Herrschaftsstrukturen. Diese Herrschaftsstruktur hat den Raum des schwer kontrollierbaren individuellen Handelns durch gewisse Normen objektiv fixiert und damit den Handelnden den Anschein subjektiver Freiheit und Gewissheit irrtümlich gelassen. Die Vor­aussetzungen für eine spezifische und zugleich allgemeine Ethik sind noch nicht erarbeitet. Aber sicher muss man einen öffentlichen Diskurs, ein öffentliches Verfahren (idealisierter) herrschaftsfreier und ungebundener Willensbildung darüber einrichten, wenn man zu substanziellen Lösungen kommen will. Die Einrichtung solcher Vorgänge kann man als Planung verstehen. Entsprechenden, solchen wie anderen Planungskonzepten wende ich mich jetzt zu.

4  Architektur und Planung Architektur ist auch eine Funktion. Ihr Resultat besteht in einer Einrichtung, einem Haus, der Ermöglichung eines bestimmten Zweckes. Darüber hinaus in Erfüllungen für diese bestimmte Funktion, d. h. in der urbanen, ästhetischen, taktilen, optischen, sensuellen Qualität eines Arrangements und eines Environments. Ein Gebäude ist etwas Sichtbares, und darin wird eine bestimmte Funktion materialisiert. Aber werden die ­relevanten Funktionen überhaupt sichtbar, werden alle sichtbar oder nur ein Teil? Die Architekturplanung ist wissenschaftlich orientiert. Und sie ist am sichtbaren orientiert. Beides gibt Probleme auf. Nehmen wir ein Beispiel für Vorgehensweisen, an denen sich die verschiedenen Möglichkeiten von Planung erläutern lassen. Ein Haus ist zu erstellen. Ein Architekt wird beauftragt, lernt Auftraggeber kennen und bringt sein ästhetisches und technologisches Wissen mit, Kenntnisse über Fertigungen, Teile, Materialien, Statik etc. Ein Haus mit einem Raumprogramm. Das wird abgeklärt. Der Architekt hat irgendwann eine Idee oder eine künstlerische Intuition, einen Einfall. Aber natürlich sagt er das nicht so, sondern muss es wissenschaftlich, mindestens theoretisch oder auch nur konzeptuell begründen. Daraus entsteht irgendwann eine Klarheit, mit der sich ein Zusammenhang von unterteiltem Raum und von Abläufen herstellen lässt. Also z. B. eine Familie, zwei Kinder, ein Lehrer von Beruf. Der arbeitet gerne im Garten oder hat ein Hobby, fotografiert z. B. oder bastelt. Braucht also einen Keller, einen Garten, der dafür eingerichtet ist. Das intuitiv Gehörte oder das bloß Erahnte, vielleicht eine klarere Selbstdarstellung: Sie dienen dem Architekten als Material, als Physiognomie von Personen, als Hinweise auf ein Niveau eines bestimmten Zusammenlebens, vielleicht auch als eine Vorliebe für bestimmte Inszenierungswerte und Interieurs. Der Architekt entwickelt vielleicht ein besonderes Gespür für solche Wünsche, vielleicht arrangiert er für klar artikulierte Bedürfnisse ein Programm, eine innere und äußere Gestalt, gibt den vielen Wünschen eine Form und den Teilen die Gestalt eines Zusammenhangs, eines vorläufigen Ganzen. Vielleicht arbeitet er auf einer anderen Grundlage: einer Arbeitsteilung zwischen dem kompetenten Architekten und einem bloß funktional m ­ itteilsamen

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Auftraggeber. In diesem Falle beansprucht er eine ästhetische Autonomie der Gestaltung. Das ist ja in jedem Fall eine Quelle architektonischen Gestaltens und eine Funktion neben anderen, mehr technischen Funktionen. In einem solchen Fall würde aber der ästhetische Anspruch zu einer Planungsgrundlage und zu einem bestimmten Konzept von Planung. Ein weiterer Fall ist möglich; der Architekt versteht sich als Umsetzer eines Auftraggebers, der genau weiß, was er will und einen Architekten nur braucht, weil ihm selber die technischen Kenntnisse fehlen. In jedem dieser Fälle aber, und das ist das Entscheidende, erscheint die Planung als etwas, das sie nicht ist: als ein Prozess, in dem die Vernetzung von Einflussbereichen unter eine kontinuierliche Abklärung empirischer Daten, Erhebungen und Einflussfaktoren gestellt wird, z. B. Baugesetze, Vorschriften, Zonenpläne, Abklärung der Finanzen und Finanzierungen, Bedürfnisabklärung der Nutzer und Gestaltungsansprüche des Architekten. Ein Bau ist die geronnene Gestalt eines Netzes fließender Planungen von nicht in Systeme integrierbaren Lebensweisen. Ein Ort, an dem sich Bedürfnisse und Bilder, Veränderungen und Immobilitäten schneiden. Und ein Ort, der von außen sich anders darbietet als von innen. Von außen als Versprechen, von innen als Determination. Im strengen Sinne ist ein solches Resultat nicht planbar. Denn worauf es sich bezieht, ist ein kompliziertes System, das Leben selber. Hier ist intuitive Planung nicht das Falscheste. Aber sie muss um ihren Status wissen und darum, dass sie ihre Inhalte stetig selber überprüfbar machen muss, was nicht von alleine geschieht. Aufgeklärte Intuition ist dem Ort einer ‚Heimat‘ angemessener als wissenschaftliche Planung, die ihren Status verkennt. Architektur hat mit Sachverstand zu tun, erschöpft sich aber nicht darin. Der Planungsprozess der Architektur weiß um die Unmöglichkeit der Planung. Der Bau ist das geronnene Endprodukt. Nun gibt es gewiss gute und schlechte, richtige und falsche Lösungen sowie ganz gewiss Kriterien für eine präzise Unterscheidung. Aber gibt es wahre und unwahre Architektur? Das wäre, anders gefragt, die Frage nach der Verflüssigbarkeit des Baus, die Rückwendung der Gestalt in den Fluss des Lebens und des Planungsprozesses, der ja ein Veränderungsprozess ist, auch ein Entdeckungsprozess. Planungsprozesse ergeben nur dort Sinn, wo Resultate nicht schon vorab feststehen. Darauf sollte man den Begriff der Planung beschränken. Nun unterstellt der (idealtypisch angenommen) normale Architekturvorgang aber einen Planungsschein, der die Unmöglichkeit zur Planung ebenso verbirgt wie die Tatsache, dass Planung dann eben Nichtplanung, sondern technologische Umsetzung von Befehlszwängen ist. Das zeigt die Vorliebe der Architekten, v. a. im Sektor des Städtebaus für Statistiken. Als ob, wie wenn aus dem statischen Befund die Umsetzung einer Gestaltung sozusagen ‚mystisch‘ entspringen könnte. Der Planungsvorgang der Architektur hat viele solche ‚mystischen‘ Züge, und zwar je mehr, desto größer das geplante Volumen, desto stärker die Eingriffe ins Bestehende und desto länger der künftige Zeitraum sind, in dem die neuen Einrichtungen sich erst zu bewähren haben, umso mehr sie also gerade kein verfügbares Nutzerpublikum und gerader kein Bedürfnisprofil haben. Im Städtebau aber wird umgekehrt verfahren: Je weniger solche Aspekte klar sind, desto technologischer das Produkt und desto naturwissenschaftlich verbrämter die Präsentation der Planungsweise. Der Städtebau

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wird konzipiert nach dem Ideal des biologisch rekonstruierbaren Termitenstaates. Das erklärt auch die eigentümliche Verkehrung von Gigantomanie und Miniaturisierung. Das meiste der urbanen Großbauten der letzten Jahre lässt sich vom semiotischen Ausdruck her eigentlich nur als bedeutsam optisch erfassen, wenn man es in das Niveau einer ‚Suisse miniature‘ hineinverpflanzt. Es ist banal zu sagen, dass Architektur ein Spiegel der Gesellschaft ist. Interessanter ist die Frage, wie sie diese Spiegelfunktion ausübt und wie sie den Spiegel wo einrichtet. Die urbane Situation, die Ballungsgebiete und ihre Krisen,13 die Versuche zu einer komplexen Vernetzung – sie alle funktionieren nicht nach architektonischen Gesichtspunkten, sondern integrieren umgekehrt die Architektur in ein sozialtechnologisches Planspiel. Nicht zufällig begründet die Architektur im urbanen Raum sich als kybernetisch eingebundene Überlegung, in welchen Systemkreisläufen welche bestimmten Funktionen einen Ort finden könnten. Die Gestaltung findet meist nur auf der Ebene des auf Dekor reduzierten Erscheinungsbildes, der Fassaden und des sogenannten Stils statt. Die immer wieder angesprochene und angeblich so oft angestrebte Komplexität des urbanen, technischen, industriell, zivilisatorischen Gebildes mit den Zivilisationstechniken und ihrer Diffusion in Subsystemen stehen Pate für die Gradlinigkeit der Horizontunterteilung und der Überlagerung von Raum- und Zeitfunktionen, die räumlich nach der Methode der Selbstrationalisierung von Sachzwängen, nach systemtheoretischen Selbsterhaltungsgesichtspunkten funktionieren. Der Soziologe Niklas Luhmann definiert die Selbsterhaltungsfähigkeit eines Systems nach Differenzierungsleistungen und die Sichtbarmachung von Differenzierungen als Reduktion von Komplexität. Zweifellos sind viele der städtebaulichen Einrichtungen der letzten 20 Jahre prädestiniert als Leistungsausweis solcher systemtheoretischen Planung. Und sie ist eine Planung, welche die Systemtheorie im Ganzen zur Anwendung zu bringen sucht, ihr ­einen starken Nutzen verschaffen wollend. Das lässt sich vielleicht an einem zweiten Beispiel von Planungsvorgaben illustrieren und erläutern, an der Morphologie einer Straßenkreuzung. Straßenkreuzung: Für Planer, Gestalter und Designer besteht sie aus Häusern, Straßen, einer Bushaltestelle, vielleicht einem Abgang in eine Metro, Verkehrsampel, Fußgängerstreifen, Kiosk. Das ergibt ein sichtbares Arrangement für eine bestimmte ausgeführte Gestaltung, der Unterstand der Bushaltestelle hat ein bestimmtes Gehäuse, eine Form. Materialien sind ausgewählt worden. Der Fahrkartenautomat desgleichen, er bezieht einen Funktionsablauf auf einen Körperablauf und beides auf eine Gestaltung, die einen technischen Vorgang zum Erfolg führt und dies als Erfolgschance visuell inszeniert. Der Bus bringt mich zur Arbeit oder ins Kino, ich überbrücke meine Zeit mit einer Zeitung, die ich am Kiosk gekauft habe, oder ich blättere durch diverse Illustrierte, solange ich auf den Bus warten muss. Vielleicht aber möchte ich den Laden auf der anderen Seite noch schnell betreten bevor der Bus kommt, aber das dauert zulange. Oder ich kann, weil ich in Eile bin, keine Zeitung mehr kaufen, weil der Bus gerade kommt und so ärgere ich mich und langweile mich, vielleicht ist es Winter und die Scheiben sind beschlagen und ich sehe nichts. Vielleicht nehme ich mir deshalb Zeit, die Leute anzusehen, die Landschaft des Gesichts, statt die Landschaft der Ereignisse, die wie im Film

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draußen vorbeiziehen. Oder ich fange ein Gespräch an, ich halte eine Rede. Nein, das tue ich sicher nicht, weil das nicht im Bereich meiner Möglichkeiten, meiner Erziehung und Gewohnheiten liegt. Kurzum: das alles hat einen Schnittpunkt, der als Konzeption einer Straßenkreuzung sichtbar geworden ist und wiederum einen ins nahezu Unendliche zielenden Schnittpunkt ergibt. Menschen, die aneinander vorbeigehen, Menschen, die in Autos andere Menschen überfahren z. B. Es kann auch wesentlich weniger dramatisch sein. Aber die sichtbare Gestaltung der Funktionsabläufe zeigt nicht das, was sie bedingt. Die Erscheinung, das Endprodukt einer Konzeption, das Gestaltete an einem Gestaltungsprozess sind Nebeneffekte und erstarrte Figuren des Bedingungsvorgangs. Das Sichtbare zeigt bei näherem Zusehen schnell, dass es von Unsichtbarem gesteuert ist, von verschiedenen Systemen, die sich zum Teil gegenseitig ausschließen und die, verfolgte man sie in den gesamten Bereich der Gesellschaft zurück, sehr bald das gesamte Netz urbaner menschlicher Tätigkeiten miteinbeziehen würde. Ampelphasen, Fahrpläne, Zeitschriftenverteilung, die Bewegungsgeschwindigkeit der Leute, ihr Sichzueinander-Verhalten, all dies sind menschengemachte Systeme und Vorgänge, die die Gestaltung beeinflussen. All das formt unser Leben mindestens in dem Maße, wie das eine gebaute Einrichtung der Bushaltestelle tut. Und dabei haben wir damit noch nichts über einen möglichen zivilisatorischen Befund einer gesellschaftlichen oder individuellen Struktur gesagt, nichts über die Geschichte, die die Straßenkreuzung erst möglich gemacht hat. Das sichtbare Objekt ist nur das Resultat eines komplizierten und langwierigen Teilungsvorgangs oder eines Schwundprozesses. Das Beispiel für diese Gestaltung im Unsichtbaren stammt von Christopher Alexander, der mit seinem Team Architektur und Design als Faktoren einer Systemsteuerung in Publicy and Privacy und vor allem in Pattern Language untersucht hat.14 Im ersten Buch beschränkt er sich noch auf die physisch zugängliche Welt. In Pattern Language geht er weiter und zeigt, dass jede Gestaltung nicht allein andere Gestaltungen ausschließt, zuweilen auch aktiv vernichtet, sondern oft als pragmatische Konzeption genau das durch Einschnitte zerstört, was ein Lebensgebilde brauchbar und annehmbar macht. Lucius Burckhardt zitiert Alexanders Beispiel mit Vorliebe für seine Charakterisierung des ‚Unsichtbaren Design‘.15 Das unsichtbare Design zeigt, dass jede Handlung einer Entscheidungsstruktur folgt, die irgendwann irgendwie gesellschaftlich eingerichtet worden ist, als Reglementierungsvorgang in Abläufen. Das Problem dabei ist nicht die Einrichtung von Bauten u. d. M., sondern die Verkürzung im Bau und Planungsbewusstsein der Erbauer, dass es gar nicht um Gebautes geht, sondern um die Einrichtung oder Verhinderung von Lebensweisen, also von dynamischen, vitalen, unscharfen Abläufen. Dabei lässt sich das große System der Gesellschaft in unzählige Untersysteme, in Subsysteme zerlegen. Aber das führt nicht so recht weiter, weil das Grundproblem der Gestaltung und des Einschnittes dadurch nicht gelöst wird. Zu fragen bleibt nach möglichen integrativen Systemen, nach integrierbaren Systemen – Burckhardts Beispiel: sich am Kiosk auf eine Zeitung abonnieren können, auf der der Fahrschein des Busses aufgedruckt ist – und nach den Regeln, wie unser Alltagsleben in einer Unzahl vernetzter Systeme funktioniert. Was hier bindet und knüpft, ist leider klar: Es sind die Medien Macht und Geld sowie die ­zivilisierenden Einrichtungen der individuellen Lebensversorgungsleistungen und des

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Zwangs zur Arbeit. Nun bildet die Planung ein besonderes Subsystem. E ­ ines, das – sei’s als Aufgabe, sei’s als Nebenprodukt – auf die Erhellung der unbewussten Alltäglichkeiten, die Gewohnheiten, Prägungen etc. abzielt. Und zwar darum, weil hier Anteile des Formierten und Deformierten kalkuliert werden und sich unweigerlich die Frage stellt, woraus eine bestimmte Vorstellung, ein bestimmtes Bedürfnis, eine Überzeugung, Meinung, ein Postulat, ein Argument sich herleiten. Die Transparenz bezieht sich eben nicht nur auf die Transparenz des Planungsvorgangs, sondern auf die Selbsterhellung des in der Planung Bearbeiteten und Darstellbaren. Hier wird allzu schnell nach einem intuitiven Common Sense, und das heißt auf der Ebene verantwortlicher Beamter und Verwaltungsplaner: einer ziemlich hemdsärmligen Ideologie und allgemeinen Lebensauffassung entschieden. Dabei hat die Planung zwei Pole: das sichtbare und das unsichtbare Design. Und auch hier steht Architektur ­exakt dazwischen, zwischen Gesellschaft und Staat nämlich. Definiert Architektur ihre Regeln wissenschaftlich oder programmatisch, so läuft sie auf die oberste Instanz staatlich regulierter Verordnungsplanung, auf die bloße Umsetzungstechnik unsichtbarer Regelungen hinaus. Eine solche Architektur unabhängig davon, wie sie sich verkleidet, würde ich als unwahr ansehen. Ob es dazu eine Alternative gibt, ist eine andere Frage. Auf jeden Fall provoziert die unsichtbare Seite, die Seite der gesellschaftlichen Tätigkeit der architektonischen Einrichtung einen Konflikt mit der staatlichen. Zielt sie nämlich auf die Einrichtung von Lebensweisen, die flexibel und reversibel, veränderbar und identitätsfähig ist, dann bedeutet Architektur ein Planungsmodell, dessen Medium die Erfahrung und Diskussion von Bedürfnissen und ihren Bedingungen ist. D. h. sie wäre ein Modell praktischer Auseinandersetzung über das, was man den Sinnhorizont einer Gesellschaft nennt. Das ist sozusagen der utopische Anspruch der Architektur und ist es immer gewesen: nicht allein möglichst perfekte Lebensweisen einzurichten, sondern über die gebaute Ablagerung eines bestimmten Niveaus menschlicher Lebens­weisen und Selbstdarstellungen auch so etwas wie die substanziellen Bedeutungen des Lebens und eines möglichen Glücks sichtbar zu machen. Damit würde sie aber die Gesellschaft gegen den Staat als Organisationsweise zweier abstrakter Regulierungen bestimmter geschichtlicher Abläufe absetzen. Der Staat reguliert die Gesellschaft, macht ein Leben konsensuell und für alle akzeptiert durch Freiheit und Selbstbeschränkungsvorgaben menschenmöglich. Die Gesellschaft artikuliert eine Lebenswelt, der Staat ein Legitimationsverfahren, d. h. einen Regelprozess zur Abklärung von Berechtigungen, ‚Kompetenz‘. Die Gesellschaft wie der Staat sind beide abstrakt, sind als solche nicht greifbar. Die Gesellschaft ist nicht der Staat, ist nicht eine Gruppe, keine Gemeinschaft, erst recht kein Individuum, sie ist ein System von Systemen, die irgendwo vernetzt werden, vermutlich nicht immer am selben Ort und auch nicht auf dieselbe Weise. Der Staat ist auch gewiss nicht das Individuum, er ist nicht berührbar. Und dies noch dort, wo einzelne seiner Teile die Menschenwürde antastbar machen. Der Staat regelt Abläufe, die Gesellschaft richtet sich dazwischen ein. Wo eine Gesellschaft identifizierbar ist, dort ist ‚Heimat‘ eine Sphäre und Option, allerdings auch keine, die nicht immer auch abstrakt wäre. Zur Gesellschaft gehören auch Boden und Sichtnähe, der Staat vermisst die Sichtnähe als Lärmschutz per Gesetz und die

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Heimat per Grundbuchamt. Heimat aber ist kein Katasterplan, und Arbeit verschwindet hinter den Aktien, eine Heimat lässt sich berühren. Architektur steht als Sinnproduzent und -disputant auf der Seite der unabschließbaren Herausbildung von Bedürfnissen, ist eine gesellschaftliche Kraft, eingebunden in Subsysteme staatlicher Regulierung, d. h. einer weiteren oder zusätzlichen Abstraktion und ein Teil des schmerzlichen und widersprüchlichen Reibungsprozesses zwischen Systemen und Lebenswelt. Der Staat hat mit Sinn nichts zu tun, er ist per se auf das Sinnlose fixiert, auf die Vermittlung formaler Berechtigungen mit dem Lastenausgleich der zu Schützenden. Der Unsinn der Architektur besteht in ihrer Einbindung in staatliche Ordnungsbedürfnisse, in ein abstraktes Raster von Prozessen, die einzig am Kriterium der Erfüllbarkeit vorliegender, konventioneller, etablierter Bestimmungen ausgerichtet werden. Wer je genauer einen Entscheid städteplanerischer Jurys mitverfolgt hat, wird zugeben – auch wenn sie nicht immer falsch entscheiden –, dass hier Unvereinbares zur Deckung kommen soll. Die Qualität des Architekten kann sich hier präzise daran definieren, wie viel an transparenter Sinnarbeit er in den abgezirkelten Bereich des zugestandenen Lebens hinüberretten kann. D. h. die gestalterische Qualität des Architekten ist eine List, aber keine Wissenschaft. Die List gehört zur Gesellschaft und ist neben der zähen Normalität nicht die schlechteste der geschichtsbildenden Kräfte. Die List gehört nicht zum Staat, zum Staat gehört die Überflüssigkeit der List, weil immer schon alles so eingerichtet ist, dass keinerlei Subversion, d. h. keinerlei Umstülpung des Vorgeschriebenen nötig ist, weil sie keinen, ja eben nicht nur: Sinn, sondern vor allem keinen Rechtsvorgang erzeugt und keine Zahl abgibt, keinen Eintrag ins Grundbuch. Die Planung verläuft intuitiv. Was wäre an Planung eigentlich sonst möglich? Es gibt hier berechtigte Einwände gegen die Forderungen nach Utopischem. Und zwar darum, weil das Utopische als ein Maximum nur um einen Preis planbar ist: ein geschlossenes System, ein geschlossenes Weltbild, eine etablierte Lebensform, totalitäre Reduktionen und Verhinderungen von Alternativen. Eine als Planungsprozess eingerichtete Utopie, die ungebrochen die Erreichung eines Ganzen verspricht, missachtet, dass Utopie und Planbarkeit nicht zufällig und geschichtlich, sondern substanziell und notwendig auseinanderklaffen. Ließe das Utopische sich über einen Plan erreichen, dann bedeutete das, dass menschliches Handeln über alle Bedingungen der Existenz, unabhängig vom Kontext von Interaktion, Geschichte und Natur, verfügen könnte. Utopien auf Planungen ungebrochen, nicht modifiziert, unverändert umzusetzen, verkennt, dass Planungen nur durch Begründung und Problematisierung anhand von Alternativen zustande kommen können. Wohlgemerkt: Wir reden hier nicht von einem vagen utopischen Geist oder vom Plädoyer für dynamisches Denken, für Fantasie und dergleichen mehr. Wir reden hier von einer logischen Ausweglosigkeit, dass Utopien maximal allein sich begründen können und genau dann in keinem konkreten Planungsprozess mehr zu fassen und umzusetzen sind. Umgekehrt taugt kein Planungsprozess, der nicht auch die utopische ­Lösungsvariante ermöglichen würde. Nochmals: Planung ist nicht das Umsetzen von Befehlszwängen. Von Planung wirklich zu reden müsste bedeuten, auch wirklich andere Lösungen durchsetzen zu können, neue Kriterien ins Spiel zu bringen. Es gibt

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also ein wechselseitig reduktives Verhältnis von sogenanntem pragmatischen und sogenanntem utopistischen Planen, ein Feindbildpaar politischer Ideologie, die beide den Grundcharakter teilen, Sachzwänge – sei’s als Ziel, sei’s als Voraussetzung – zu bearbeiten und herzustellen. Von beiden unterscheidet sich eine offene Planung. Architektur spielt dabei – im weitesten Sinne verstanden als ein gesellschaftlicher Entwurfsprozess und als bebaute Besetzung bestimmter Stellen im Raum-Zeit-Kontinuum – eine herausragende Rolle als Beispiel des Resultats einer solchen Planung. Zu fragen wäre also nach einer ­offenen Architektur. Es gibt inzwischen diverse hoch entwickelte Methoden und Konzeptionen sowie auch diverse Methodenkonflikte und -debatten. Sie sind wissenschaftstheoretisch konzipiert und ausgeführt worden, als Grundlagendisziplin für die Konstitution überprüfbarer wissenschaftlicher Vorgänge und auch für den Wahrheitsgehalt von Wissenschaftssystemen. Für die Methoden der architektonischen Planung ist das ebenfalls anwendbar. Hier werden die Voraussetzungen der Gestaltung und die Qualität der Planung noch sichtbarer und messbarer. Architektur ist eine relativ dichte oder kompakte Dimension von Gestaltung. Eine der Methoden, und zwar die, die sich am stärksten gegen die utopistische Geschlossenheit bloß herbeigewünschter totaler Lebensformen stark gemacht hat, wird ‚kritischer Rationalismus‘ genannt. Deren prominenter Vertreter Karl R. Popper hat sich in seiner Logik der Forschung für eine Stückwerktechnologie stark gemacht. Die gesunde Skepsis gegen totale und geschlossene Konzeptionen läuft allerdings Gefahr, dem bloßen und kruden Praktizismus ein Mäntelchen umzuhängen. Das hat denn auch prompt der Vorwurf des Positivismus getan. Dagegen gesetzt worden ist eine als ‚dialektisch‘ behauptete Vernunft. Poppers Logik der Forschung behandelt Gesetze als etwas, das immer nur falsifiziert werden kann. Nun kann man allerdings keine falsifizierbaren Häuser bauen, ein Haus zeugt geradezu von einer Bewahrheitung eines Prozesses in dogmatisch-positivistischer Manier. Die Rationalität der Forschung hängt von der Überprüfbarkeit und Veränderbarkeit, von der Beeinflussbarkeit und Innovation ab. Gesetze sind Konstruktionen, die so lange taugen, wie ihre Ereignisse objektiv beschrieben werden können, die in sogenannten ‚Protokollsätzen‘ festgehalten werden. Nun ist es natürlich kein Problem zu zeigen, dass die Beschreibung grundlegender Ereignisse immer auch von der Wahl der Theorie abhängt, von einer für eine Gesellschaft typischen Projektionsweise des wissenschaftlichen Geistes auf die Tatsachen. Eine andere Kritik am Positivismus macht plausibel, dass man sinnvollerweise nur dort entscheiden kann, wo man über Sinn reden und Sinn beanspruchen kann. Das braucht aber ein offenes revisionsfähiges Verfahren. Und genau das ist etwas anderes als die Registratur von Tatsachen, denn ein Argumentationsverfahren hängt von der möglichen Prüfung der sinngebenden oder mindestens Sinn behauptenden Voraussetzungen, der verborgenen Wahrheitskraft der Geltungsansprüche, und auch von den im Sprechen mitgesetzten Verzerrungen ab. Der Sinn bedarf also einer hermeneutischen Diskussion und erst der vorsichtig etablierte Horizont sinnvoller Planung bettet Ereignisse in eine Topografie konkreter Handlungen ein. Und doch: Das Plädoyer für die Stückwerktechnologie ist nicht falsch, wenn man den Geltungsrahmen so definiert, dass jede Planung sich auf noch nicht Vorhande-

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nes bezieht, weil sonst nämlich gar nicht von Planung zu reden wäre, sondern allein von einer ideologischen Verdoppelung zufällig gerade vorliegender Tatbestände. Ob Popper das zugeben oder bestreiten würde, ist hier nicht weiter von Belang. Im Kapitel „Stückwerktechnik statt utopischer Technik“ des Buches Das Elend des Historizismus, zuerst publiziert 1960, schreibt Popper (S. 52): „Der Spezialist der Stückwerk-Technologie und Stückwerk-Technik weiß, dass nur eine Minderheit sozialer Institutionen bewusst geplant wird, während die große Mehrheit als ungeplantes Ergebnis menschlichen Handelns einfach ‚gewachsen‘ ist.“16 Nun kann man sich mit Recht fragen, was denn das heißen soll, dass ein Handeln einfach ‚wächst‘. Die Beispiele, die Popper an dieser Stelle gibt, hängen alle von der Anerkennung eines individuellen Spezialisten ab. Der ganze Delegationsmechanismus, mit dem eine Gemeinschaft ihre Vernunft und Entscheidung an einen Experten abgibt, ist für Popper irrelevant und an dieser Stelle gar nicht mehr fassbar, was Paul Feyerabend einer entschiedenen Kritik unterziehen wird. Poppers Konsequenzen sind eigentümlich, im Grunde verzichtet er überhaupt auf ­Planung und meint mit Stückwerktechnik etwas ganz Primitives: nämlich, dass die bestehende Planungsweise des ständigen Sich-irgendwie-Durchwurstelns nicht allein – leider – unumgänglich, sondern unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten auch zulässig und richtig sei. Und das geht zu weit. Poppers Argumentation ist nur dann stichhaltig, wenn man seinen ganz unplausiblen Begriff von Utopie als einer notwendigen totalen Antizipation eines notwendig geschlossenen und bis ins Letzte definierten ­Sys­tems teilt. Nun gibt es gewiss nachvollziehbare politische und lebensgeschichtliche Gründe, warum Popper die Utopie so definiert, aber als Argument greift seine Stückwerktechnik gegen die Utopie nicht, weil sie als offene Planung nämlich ihrerseits mindestens in wichtigen Elementen durchaus utopische Qualitäten hätte. Denn der architektonische Planungsvorgang ist nahezu vollständig determiniert und so weit in allen Einzelheiten reglementiert, dass man sich im freudigen Sinne durchaus noch über die gestalterische Vielfalt wundert am Schluss. Die Stückwerkplanung wäre dann utopisch, wenn die ungeplanten und unbewussten Voraussetzungen der vorliegenden Resultate im Sinne einer stetigen Selbstaufklärung aufgedeckt werden und damit sich selber kritisch orientieren könnten. Wichtig sind zwei Dinge: eine Planung, die vorwärts treibt und aufs Offene hin angelegt ist, auf das, was zu Recht niemals determiniert werden kann. Und eine Planung, die selbstkritisch verfährt, d. h. nicht nach dem Schema der instrumentellen ­Anwendung von Mitteln zu bestimmten, restlos definierten Zwecken, sondern als ständige Arbeit an einer flexiblen Veränderung der jeweiligen Beziehungen zwischen Mitteln und Zwecken. Es geht um eine Architektur und einen Prozess, die nicht Anwendung sind und bezwecken, sondern einen produktiven Dialog ermöglichen in einem Hinwirken auf die Einrichtung eines menschenwürdigen Lebens als Bewährung der Versorgungstätigkeiten von auf Bedürfniserfüllung angewiesenen Menschen, unter denen der eine Architekt und der andere Bewohner und der dritte bewilligungskompetenter Beamter ist. So würde das Utopische zu einem Medium kritischer Selbstbearbeitung lebensgeschichtlicher Defizite und das Gebaute wäre nur ein Ausdruck dieser produktiven und

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reflektierbaren gesellschaftlichen Tätigkeit, die sich als wiederum produktive Bearbeitung der Natur artikuliert und damit die Art und Weise dieser Bearbeitung als Kultur setzt. Stückwerkbewusstsein und utopische Qualität einer kritischen Planung brauchen sich nicht auszuschließen. Es kommt einzig darauf an, ob man die Voraussetzungen in den Gang einer kritischen Selbstaufklärung miteinbezieht oder nicht. Entscheidend ist, dass der Grundcharakter des Offenen und Unausgestalteten so weit bewusst ist, dass man nie auf die Idee käme, irgendetwas sei als ein Überhaupt und zur Gänze realisierbar. Dazu hat Ernst Bloch das Nötige in wünschenswerter Deutlichkeit ausgeführt. Und zwar gerade im Dienste eines Utopieverständnisses, das erlauben soll, den totalitären Zwang der geschlossenen Lebensform zu überwinden und die Utopie als einen permanenten Rückstand zu definieren, der nicht das Gelingen und die Erstarrung, sondern die geschichtsphilosophische Trauer, die Melancholie, und zwar durchaus die Melancholie des Gelingens als Verständigungsweise in das Zentrum stellt. Der Totalitarismusvorwurf des kritischen Rationalismus greift nur, wenn man die Utopie als Figur des Gelingens abgrenzbarer und selbstregulierender, unerschöpflicher Systeme setzt. Er misslingt, wenn man die Utopie als melancholisches Bewusstsein um das Unzulängliche noch am Gelungensten ansieht. Wo es dem kritischen Rationalismus um die Behauptung des Spezialistentums geht, d. h. um eine zu einem System gefügten Addition von einzelnen Stücken, die als Teile rational überprüfbar sind, dort zweifelt das utopische Verständnis diese Systemkonstruktion als Ganze an und damit auch die Verfügbarkeit und Selbstsicherheit eines Produkts. Ernst Bloch beginnt im zweiten Band des Prinzip Hoffnung seine Untersuchung über die Architekturutopien unter dem Titel „Blick durchs Fenster“ so: „Nicht überall muss gleich der Fuß hingesetzt werden. Wie schön sieht eine entworfene Treppe aus, klein eingezeichnet. Immer schon wurde ein eigener Reiz der Pläne und Aufrisse bemerkt. Das meiste davon geht ins fertige Haus ein, und doch war das Geschöpf auf dem Papier, das zart ausgezogene, ein anderes. Ähnlich frisch, zuweilen auch trügend wirken gezeichnete Innenräume, selbst wirkliche Zimmer, sofern sie durch Schaufenster gesehen werden oder durch eine Schranke abgetrennt sind. Wer wollte nicht in diesen edel schwellenden Sessel ruhen, unter der freundlich gestellten Lampe, im abendlichen Zimmer. Möchte uns sein Friede eigen sein, der ganze Raum erzählt von Glück. Aber das Glück liegt im bloßen Blick von außen, Bewohner könnten es nur stören. Auch hier also lebt der reizvolle Plan fort, wenngleich als körperlich gewordener; eine täuschende Frische des Entwurfs lebt im unbetretenen Raum noch fort. Die Frische wird völlig lockend im Traumhaus des jungen Paars, das es, versunken in mögliches Glück, auf der Zeichnung genießt. Ein Ähnliches gibt das Modell, der im verkleinerten Maßstab nun völlig versinnlichte Entwurf. Denn auch das Modell, das Haus als Kind, verspricht eine Schönheit, die nachher, im wirklichen Bau, nicht immer so vorkommt. Hier ist überall ein Vonvornherein, schöner scheinend als manches nachher Erwachsene und sein Zweck, der Entwurf behält den Traum vom Haus; der Blick durchs Fenster rahmt ihn, auch das Modell steht wie im Fernbild da. Eine Schutzschicht wirkt, die zwar durchsichtig ist, doch noch nicht zugreifen oder eintreten lässt. Darum sieht alles hinter Glas so viel besser aus, leichter beieinander wohnend.“17 Das ist eine prinzipielle Feststellung

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zum Thema Wahrheit und Lüge in der Architektur. Eingeschränktere Beobachtungen lassen sich leicht anhand konkreter Beispiele machen, wenn man nach der Architektur als einem Kommunikationsmodell, d. h. nach der ‚Semiotik‘, der Bedeutungslehre der gebauten Formen fragt. Renato de Fusco unterzieht in seinem Buch Die Architektur als Massenmedium18 die Architektur als Form einer Kritik, die sich mit Blochs Befund des uneinholbaren Modells deckt. Die heutige architektonische Produktion erfülle zwar einige Funktionen, drücke aber fast nichts mehr aus. Es fehle ihr an semantischen Gehalten und das nicht zuletzt, weil das heutige Design das Vorrecht des ‚disegno‘, des in der Renaissance und v. a. von Leonardo perfekt und erstmalig behaupteten Entwurfs, der Skizze und der tastenden Linie gegen den als System oder als Bau enggeschlossenen Raum und das heißt auch: die verplante und vermessene Landschaft der Lebensweise wie der Fantasie vollständig missachtet habe und nur noch technisch, als Vorgabe für ein herzustellendes geschlossenes und perfektes Endprodukt, gelten lassen wolle. Die Formen werden bedeutungsloser, das hat zunehmend verstellte Gründe. Man kann mit dem französischen Soziologen Henri Lefebvre durch eine Kritik der Alltagslebens und eine Kritik der Moderne zeigen, dass wir auf allen Ebenen in einer tautologischen Gesellschaft leben, d. h. in einer Gesellschaft, in der alles doppelt und bedeutungslos existiert und die Tauschvorgänge keine wirklichen Qualitäten mehr beinhalten, sondern vorrangig übersteigerte Rituale. Der Befund besagt theoretisch, dass es immer bedeutungslosere Signifikanten (d. h. Zeichen und Bezeichnungen, z. B. auch der architektonischen Formen) gibt und immer losgelöstere Signifikate (als Bezeichnetes, Bedeutetes, Gebautes). Resultat: Es stellt sich eine zunehmende Redundanz ein, eine Bedeutungsentleerung, und zwar im Bereich der Dinge und der Zeichen, der Institutionen und selbst der Menschen. Und das Modell der wachsenden Bedeutungsleere ist die Zentralisierung der Abläufe in einem geschlossenen Modell. Was Bloch indiziert und was Lefebvre und de Fusco einklagen möchten, muss sich selber gegen eine lange Tradition konkreter Utopien wenden, und zwar, um sich zu schärfen gegen den Pragmatismus, der die möglichen geschlossenen Modelle von Planungen dem einfachen Fortgang der permanent unberührten Sachzwänge überlassen möchte. 1552 publizierte Antonio Francesco Doni in Florenz sein Werk Il mondi, die Welten. Darin wird die utopische, die neue Welt beschrieben als ein schwer zugängliches Land irgendwo im mitteleuropäischen Tiefland. Im Jahre 1552 wird es erstmals bereist, und zwar von einem Mitglied einer Florentiner Akademie. Jede Provinz der neuen Welt hat nur eine Stadt. Alle Städte sind nach demselben Plan aufgebaut: sternförmig und von hohen Mauern beschützt. Im Zentrum jeder Stadt befindet sich ein Tempel, dessen Kuppel sechs Mal größer ist als die des Domes von Florenz. Das sternenförmige Modell findet sich auch in den Utopien von Thomas Morus und Charles Fourier. Von da ausgehend, findet sich zunehmend die Überzeugung in konkreten Utopien, dass das utopische als eine spezifisch moderne Errungenschaft von Handlungsermächtigung gegen das Ideologische sich richtet. Nun gibt es aber, wie de Fusco für die Architektur behauptet, keine eindeutigen Modelle einer Unterscheidung zwischen Ideologie und Wissenschaft. Und zwar, weil es keine eindeutige Beurteilung der Wirklichkeit anhand eines

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idealen ­Modells gibt, weil ein solches Modell im Vorgang dieser Beurteilung seine eigene Struktur nicht mehr zeigen kann. Bloch insistiert anhand der Theorien von G. Semper darauf, dass Rohstoff, Zweck und Technik nicht reichen, auch dann nicht, wenn durch die Ornamentierwut des späten 19. Jahrhunderts der Verzicht auf die Ornamentik die Lüge des Gebauten bezeichnen kann. Was darin fehle, ist nicht ein allgemeines Kunstwollen, wohl aber sein Vorgang als eine Tätigkeit menschlicher Fantasie,19 die nicht auf Heimat zielt, sondern Heimat baut, das aber nur kann, wenn sie nicht auf den Bau der Heimat aus ist, sondern auf die Konstruktion von Freiheit. Am Schluss seiner Behandlung der Architekturutopien steht bei Bloch: „Wenn die Bedingungen zur Ordnung der Freiheit nicht mehr partial sind, wird der Weg endlich wieder offen zur Einheit von physischer Konstruktion und organischem Ornament.“20 Als Fazit formuliert Bloch das Problem jedes Fazits: „Wie kann menschliche Fülle in Klarheit wieder gebaut werden? Wie lässt sich die Ordnung eines architektonischen Kristalls mit wahrem Baum des Lebens, mit humanem Ornament durchdringen?“21 Menschliche Fülle in Klarheit – das fordert eine Gestaltung, von der unklar ist, ob sie sinnvollerweise überhaupt planbar ist und ob das, was sie behindert, als Problem sinnvollerweise lösbar sein soll. Nun gibt es einige Überlegungen zum Befund, was denn hindert an Planungsbedingungen, und es gibt einige Antworten darauf. Zunächst zum Befund. Am Schluss seiner Geschichte der Stadt schreibt Leonardo Benevolo über die Frage, inwieweit die neuen städteplanerischen und architektonischen Projekte tatsächlich den realen Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen, oder ob damit die Ansprüche der Bewohner nicht nur künstlich hochgeschraubt würden, um eine ständige Expansion der industriellen Maschinerie zu gewährleisten.22 Erinnern wir uns an die Divergenz in den Analysen zwischen Bloch und Marcuse. Marcuse sagt, dass das utopische Potenzial solcher Bedürfnisbildung geradezu abgesogen wird vom Potenzial einer instrumentellen Technik, die die fantastische und fantasievolle Machbarkeit von Utopien bei Weitem übertrifft. Nicht zufällig vergleichen die französischen Philosophen und Ethnologen menschlicher Denksysteme wie Foucault und Deleuze/Guattari die Bildung bestimmter psychischer Strukturen in der Aneignung von Dingen, der Realisierung des sichtbaren wie des unsichtbaren Designs mit der zugleich unterdrückten wie souveränen Handhabung einer Maschine.23 Die Konsumenten haben theoretisch längst die Stelle des souveränen und vernünftigen Weltbürgers übernommen. Der gesamte kapitalistische Produktionsprozess erhält seine Weihe höherer Vernunft erst über das Modell eines Marktes, in dem der bedürftige Mensch sich als vernünftiger Mensch durchsetzt, als einer, der per Kauf oder Nichtkauf auch über die Qualität der Dinge und damit über die Vernunft von Strukturen entscheidet. Ein Sachverhalt, der Hegel dazu verführte, die bürgerliche Gesellschaft als ‚System der Bedürfnisse‘ zu bezeichnen. Die Wahl zwischen Gegenständen ist zur Möglichkeit der Entscheidungskraft von Konsumenten geworden und auch zum Modell der Wohnbaubenützer, der Mieter, der Beleiher eines Gegenstandes, dessen Gestaltung sie nur direkt, d. h. nicht über die Nutzung vermittelt, bestimmen können, wenn sie über das abstrakte Recht verfügen, Eigentümer der Dinge zu sein, die sie benutzen möchten oder genauer: benutzen müssen.

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Die Rede vom Wohnungsmarkt ist objektiv eine Lüge und nicht zum Geringsten auch eine der Architektur. Denn diese Art Dinge sind nicht eingerichtet auf einen zeitlichen Rhythmus, in dem sich die Vernunft der Benutzer als Prinzip der Planung, d. h. der Entscheidung über Gestaltung durchsetzen könnte. Ein Objekt kann einen Geschmack repräsentieren, so sagt de Fusco24, aber nur, wenn der Geschmack gebildet und ein Bedürfnis einlösbar ist, hat ein Objekt für den Konsum oder die Benutzung auch eine Bedeutung. Es gibt im Wohnbereich keine Konsumentenmacht, keine Entscheidungsmöglichkeit, die eine Stärke der Konsumenten ausdrücken würde. Denn die Konsumenten sind gerade nicht Besitzer. Da nun aber ein Benutzer nicht auf die repräsentative Bedeutung seines Nutzungsobjekts verzichten kann, verlagert er sie vom Bereich seiner Ohnmacht weg und verlegt sie in einen neuen Bereich souveräner Bedürftigkeit. Ins Interieur, in den Binnenraum der Wohnung, der Inszenierung des Innen und damit der Entbindung der Bedeutung von der sichtbaren Gestaltung und damit der Entleerung der Bedeutung der Architektur. Man mag das als Planungsproblem ansehen. Klar ist in jedem Falle, dass dieser Art Planung die Frage nach der architektonischen Konstruktion in die Frage nach der Legitimation von Besitzgewalt hineinverlegt. Es gibt im Wohnen keine Korrektur. Der Nutzer, selbst wenn er wählen könnte, scheitert an der Trägheit der architektonischen Materie. Er ist vollständig bereits von einer anderen Gruppe getroffener Entscheidungen abhängig. De Fusco: „Eine falsche Mythologie, etwas Pseudosakrales umgibt noch heute das Haus, das Reich der Ahnengötter, der Laren, die längst zur Miete wohnen.“25 Draußen der Einheitsbrei, drinnen das Einmalige, das Intime, Besondere, Wohlige, draußen das Nirgendwo, die schlechte Dystopie der Bedrohung, drinnen die Futterale des Heimatlichen, draußen die kaputte Welt und drinnen, drinnen haben wir’s doch endlich gemütlich. Um die Form von der Funktion abzulösen und aus ihr ein komplexes Bild zu machen, das Bedeutung haben kann, bedarf es einer fundamentalen Kritik der gesellschaftlichen Funktionsverteilungen überhaupt. Die Ästhetik des Wohnens muss zur Kritik an den Gewaltformen fortschreiten, in denen strukturell definiert wird, wer wie leben kann und wer anders muss. Und zwar wird gerade durch die Auswirkungen von Konsum und Freizeit, durch die Ideologie von Gegenwartsgenuss und Wohlstand, industriellem Massenkitsch und dem passiven Individualismus des unsolidarischen Konsums die scheinbar rein städtebauliche Funktion von urbanen und gesellschaftlichen Einrichtungen zu einem unmittelbar politischen Problem.26 Gewiss ist die politische Seite von Planungsprozessen mit dem verbunden, was als geschichtliche Konzeption von Planung denkbar und verfügbar ist, sei’s pragmatisch oder sei’s utopisch. Und hinter den Sachzwängen öffnet sich gerade beim näheren Zusehen auf die Geschichte der Zugang zu einem Zusammenhang, der die Systeme von Planung als Niveau gesellschaftlicher Organisation von Tätigkeitsformen und Akzeptanz, d. h. von Ereigniskontrolle und Zustimmung zu Delegationen von Ereigniskontrollen macht. Dieter Hoffmann-Axthelm hat in einem Aufsatz in ‚Bauwelt 48‘ im Dezember 1983 über den Eingang der Geschichte ins Entwerfen geschrieben und dabei angemerkt, dass man sich nicht ungebrochen auf Geschichte beziehen kann, weil die Qualität der Auseinandersetzungen vom Horizont von Planungsmaßnahmen abhängt und dieser Horizont wiederum von einer qualitativen

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Selektion in einer und durch eine Analyse. Womit wir selbst bei so abstrakten Konzeptionen wie Geschichte und Planung wieder bei der konkreten Frage landen, wie eine Planungskonzeption eingerichtet werden könnte, die den dialogischen Prozess der Bedürfnisorientierung mit dem Definitionsprozess einer am Produkt orientierten Gestaltung vereinbar macht. Hoffmann-Axthelm: „Stadtplanung ist der Zugang zu einer qualitativen Analyse der Situation. Die Planerillusion ist, man habe eine in sich geschlossene ­Gegenwartsebene, auf der sich die Konflikte tummeln. Hier müssen Sektoren abgegrenzt werden, die nicht mit einem Instrumentarium zu bewältigen sind. Der Planer glaubt an eine mögliche Ähnlichkeit zwischen den arbeitsteiligen Sektorierungen der Verwaltung und der bearbeiteten Wirklichkeit.“27 Dagegen muss die Aufklärung der Entscheidungsprozesse sich auch über die Gewaltzusammenhänge verständigen, die so etwas wie die Erscheinungseben einer Stadt, und das heißt auch: ihrer Geschichte ausmachen. Der konkrete Bezug auf eine Geschichte und auf die Rekonstruktion ihrer Erarbeitung bezeichnet auch die erste der Antworten auf den Befund. Aldo Rossis Insistieren darauf, dass die Formensprache der Gestaltung, wie innovativ sie immer sein soll, ihre Bedeutungen immer der lokalen geschichtlichen Tradition, ihres nächstliegenden Kontextes also, entnehmen soll. Die schwächste Antwort liefert Charles Lindbloms Charakterisierung der politischen Planung als eines ‚muddling through‘, einem Sich-Durchwursteln, das eine Strategie der unkoordinierten kleinen Schritte ist. Resultat: Der Architekt führt das aus, worauf sich organisierte Interessengruppen als auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben. Die stärkste Antwort liefert das Strukturverständnis von Planung, das Peter F. Althaus und Aldo Henggeler in ihrem Buch Die Stadt als offenes System formulieren: „Leben ist ein Prozess; ein Prozess wird ausgelöst durch Ungleichgewicht und tendiert auf dessen Ausgleich. Eine lebendige Stadt darf deshalb nicht in eine starre, ein bestimmtes Verhalten vorschreibende Struktur eingezwängt werden, sondern sollte als offenes System laufend auf die sich verändernden Informationen reagieren, muss sich also ständig anpassen können.“28 Dass die Autoren des offenen Systems dabei nicht unbedingt der Architektur vertrauen, wird daraus klar, dass sie das offenen System der Stadt in einer anderen Weise verdoppeln und zusätzlich inszenieren: als einen Inszenierungsort von Alltäglichkeit, in der Einrichtung eines Ortes, des ‚offenen Museums‘, das als Ort explizit die Gesamtstruktur ‚Stadt‘ spiegeln, also erst den Charakter Urbanität inszenieren soll. Die Inszenierung einer Lebensweise ist ein Ziel, das darum utopische Qualitäten hat, weil sie hinter die Regulierung von Gestaltungsvorschriften und hinter Regeln und dingliche Einrichtungen greift. Sie geht aus von einer sichtbaren, materiell eingerichteten Lebensstruktur und versteht die Architektur als korrekturfähigen, revidierbaren Ausdruck eines bestimmten, geronnenen Moments der Lebensweise, als ein methodisch materialisierter Stillstand in Erscheinungen. D. h. nicht als evidente Empirie, sondern als Vergegenwärtigung einer Sichtweise. Und wiederum fragt die Planung nach der menschengerechten und brauchbaren Einrichtung und nach der Nutzung. Bedürfnisabklärungen, das ist ein technisches Programm, das man sich bei gutem Willen noch als gelingend vorstellen kann. Nutzungskonzepte zu entwerfen, die einen utopischen Geist transparent machen, ist wesentlich schwieriger. Vittorio M. Lampugnani siedelt

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die ­architektonische Seite dieser Planung zwischen Konsum und Kultur an und fragt nach der partizipativen Planung, also der Planung zwischen der minimalen und der maximalen Variante eines Eingriffs ins System. Die Frage nach einer menschengerechten Architektur führt zum Einbezug der Betroffenen in den Entwurfsprozess. „Diejenigen, die Gebautes benützen, sollen bestimmen, wie es aussieht.“29 Grundlegend ist die Vorstellung einer harmonischen Beziehung von Mensch und Architektur. Lampugnani beschreibt im Folgenden genau, wie dieser Planungsprozess in eine Krise gerät, weil er an der Idee der Perfektionierung eines von Kontexten isolierten Produkts festhält. Und er zeigt, wie verheerend sich die Flucht aus dem partizipativen Planen in die Autorität eines reinen Schöpfertums auswirkt. Lampugnani lesend, fällt auf, wie brüchig und unterentwickelt die Arbeit an der Berufsrolle der Architekten bis heute ausfällt. Die Nachfrage nach der Legitimation von Bauprozessen fällt nach Lampugnani in eine Zeit der politischen Revolten. Und das mit einem spezifischen Grund. Die Frage nach dem Bau ist nämlich eine nach der Legitimation von Planungsvorgängen und der Austarierung von Vorschriften und möglichen Übertretungen. Lampugnani vermutet, dass die Bedingungen der Partizipation dann besser werden, wenn keine allgemeinen ästhetischen und sozialen Normen mehr funktionieren. Was man pluralistische Gesellschaft nennt, führt also zu einem Übergewicht in der Pflege von Produkten. Denn eine Gesellschaft, die solche verbindlichen Normen kennt, würde nicht über Architektur in dieser Weise diskutieren. Es gäbe nicht in diesem Sinne offenbare Scheußlichkeiten und vermutlich erst recht nicht den Glauben, über die Einrichtung von Planungsformen sei der ästhetischen Problematik von eingerichteten oder verhinderten Lebensweisen beizukommen. Das ist denn auch der Grund dafür, dass sich das Publikum viel zu wenig um die Bauten wirklich kümmert und dass demnach gerade die Avantgardearchitektur dialogisch und kritisch nicht aufgenommen wird. Lampugnani gesteht den Eliten also keine sehr große Eigenständigkeit zu. Das Erobern neuer Formen sieht er nicht als Entscheidung dieser Elite, sondern in ihrem Gespür für mögliche Neuerungen, d. h. ihrem Sensorium für das, was an „fortschrittlichen gesellschaftlichen und kulturellen Fermenten der Zeit zu lokalisieren, zu interpretieren und umzusetzen“30 ist. Zu den wissenschaftlichen Verfahren schreibt Lampugnani: „Neue Impulse vermögen durch solcherlei Verfahren nicht gewonnen werden. Nutzerbeteiligung am architektonischen Planungsprozess ist trivial, zumal sie ausschließlich Triviales zeitigt.“31 Ist Kriterium der Bauwunsch eines Kapitaleigners oder einer Gruppe von Geldbesitzern, dann ist das keine Garantie für eine bessere Gestaltung. Allerdings die einzige Möglichkeit, um überhaupt eine Nutzungsdebatte konsequent führen zu können. Wenn aber zur Abklärung der Wünsche gehört, dass im Grunde jedes Gehäuse, das um die Architektur der Wünsche herumgebaut wird, falsch ist und sogar falsch sein muss, dann ist auf diesem Wege weder eine bauliche Lösung möglich noch scheint es, als ob Architektur etwas ermöglichen könnte. Ihre kritische Prüfung erfährt sie an dem, was sie verhindert, wenn sie auf eine bestimmte Weise Dinge bereitstellt. Die utopische Funktion der Architektur besteht also in einer Verdeutlichung der als Bau niemals umsetzbaren Komplexität von Lebenszusammenhängen. Das Partizipationsmodell scheitert denn auch nicht am Sinn einer dialogischen Bauweise, ­sondern

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an der Fetischisierung von partikularen ideologisch besetzten Werten wie ‚Heimat‘ und ‚Stabilität‘. Was aber, wenn sich herausstellt, dass der modernen urbanen Lebensweise nicht mehr das Haus entspricht und damit auch nicht der einzelne, sich artikulierende Nutzer, sondern eine gesamte und zum großen Teil nichtcodierte Struktur, dann müsste man nach Funktionen suchen, die dem entgegenkommen. Das Problem, das das Partizipationsmodell ja nie löst, ist, dass mittlerweile die Mobilität sich in die Triebstruktur des modernen Städters abgesenkt hat. Ich will ja nicht in einem Haus in der Stadt wohnen, sondern mich bestimmten Vibrationen überlassen können, bestimmte unregulierte und unordentliche Erfahrungen machen, mich Ereignissen hingeben und für die Sprache der Vibrationen und der ästhetischen Dekors und Geschwindigkeiten einer Stadt auch Nutzungsfelder und Einrichtungen vorfinden. Bis jetzt aber hat noch jede bewusste Einrichtung der städtischen Unordnung sich in Sozialkontrolle und Sozialtechnologie verkehrt. Wo vordem Stadtindianer waren, steht nun der touristisch adrette Wegweiser zum nächsten Kulturgut. Und wenn ich in der Stadt oder sonstwo lebe, dann möchte ich auf einen Schlag so wohnen, wie ich mich bewegen kann. Ich möchte aber nicht jetzt dafür leben, das irgendwann, in unbestimmtem Dereinst, noch benutzen zu können. Das heißt: Vielleicht möchte ich bald wieder wegziehen, woanders sein. Und überhaupt: Was weiß ich schon von dem, was ich in zehn oder zwanzig Jahren machen kann und machen werde und was davon, wie sich meine Ansprüche verändern? Daran scheitert das Partizipations­ modell in jedem Fall. Es verdrängt, dass jeder seiner Bauten unterlaufen wird von einem Lebenszusammenhang, der zunehmend auf Beweglichkeit und Unfertigkeit, Nichtcodiertes und Variabilität ausgerichtet ist. Ob ein Haus noch ein Haus ist, das nur noch aus beweglichen und demontierbaren Elementen besteht? Bis jetzt teilt der partizipatorische Planungsprozess mit jedem normalen profitorientierten genau die zwei Grundprobleme und Problemursachen: • dass nur wer Geld hat, offenbar auch das Recht haben soll, seine Wohnumwelt zu bestimmen, und • dass die unsichtbaren Regulierungen nur dann zum Erfolgs­ erlebnis einer eigenen ‚Heimat‘ führen, wenn man eine fixierte Lebensweise teilt. Ein Haus lässt sich in der Regel nur in 30 Jahren oder gar mehr amortisieren. Daran ändern auch Genossenschaften nicht prinzipiell etwas. Auch zehn Jahre sind eine sehr lange – vielleicht auch sehr kurze – Zeit, je nach Sichtweise und Standpunkt. Und dann heißt, ein Haus für sich bauen: einer ­soliden Arbeit nachgehen, Einkünfte haben, eine sichere Per­ spektive, eine Position und nebenbei auch die Fähigkeit, alles, was man zum Leben braucht, in einem Haus unterbringen zu ­können. Wer also den Wunsch nach Heimat mit einem architektonischen Produkt verbindet, der kann das nur, wenn er die Unauflösbarkeit der scheiternden Letztutopie vor sich selber preisgibt.

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Die Partizipation an diesem Prozess ändert nichts daran, dass die exklusiv besitzbegründete Nutzung ein logisch unhaltbares, an völlig Unsubstanzielles geknüpftes Privileg ist. Nur dass der Nutzer sich direkt und aktiv äußert, statt indirekt und passiv sich einrichten muss. Das Grundproblem der architektonischen Gestaltung lässt sich also als Funktionszusammenhang einer Gesellschaft beschreiben, in der es nicht um Gestaltung geht, sondern um die Möglichkeiten der Kapitalbildung und der Amortisation, kurz: der Verfügbarkeitsregeln einer Geldwirtschaftsgesellschaft. Das Grundproblem ist nicht einmal die Lüge oder Barbarei der Architektur, sondern die aktuelle Situation der Bodenbesitzoder Eigentumsverhältnisse. Lampugnanis Kernthese dazu: „Die kritische Verpflichtung von Architektur muss auch ihre funktionale Komponente prägen, wenn sie ihre Utopie ganzheitlich auffasst.“32 Ganzheitlich meint die komplexe Schichtung von Lebensweisen. Kritisch: Das meint die Erarbeitung von Nutzungsdichten, die jener Lebensweise gerecht werden könnte. Dazu bedarf es einer Funktionenkritik und einer Nutzungsdebatte. Und genau die findet immer noch nicht ausreichend statt. Es ist zugestandermaßen ein unliebsames Resultat der Planungsdiskussion, dass das Ästhetische eine untergeordnete Funktion darstellt – verglichen mit dem gesamten Kontext der gebauten Welt. Jede Planung, die nicht zu einem menschengerechteren Fortschritt in der Nutzungsdichte und der Ermöglichung oder mindestens Bewahrung einer komplexen Lebensweise beiträgt, jede solche Planung verkommt, auch wenn sie sich partizipatorisch und basisdemokratisch einrichtet, zu einer verlogenen geschmäcklerischen Dekorierung der gesellschaftlich verformten Wunschfantasien. Die Architekturdiskussion sollte also wegführen von abstrakten Formen von Planung und Bauweisen und hin zu qualifizierbaren Strukturen. Für die gilt: Sie sind ästhetisch nie herzustellen. Umgekehrt: Wenn sie als solche Strukturen funktionieren können, dann müssen sie die ästhetische Höchstqualifikation und damit die Kunst der Architektur enthalten, ausdrücken und ausformen. Das wäre das genaue Gegenteil der so aktuell gewordenen und hilflose Beschwörung der Stadtreparatur, die jetzt neben andere Konzeptionen in der zeitgemäßen Auffassung der Aufgabe architektonischer Gestaltung treten soll: die Beachtung des Kontextes, das internationale Design der Avantgarde, der Eklektizismus, die Erneuerung, der Prioritätenkatalog. Um aber einen wirklichen Diskurs einzurichten für eine Nutzungsdebatte, dazu reicht ein dialogischer Prozess nicht. Der müsste schon Polylog sein. Gestaltungen – das wäre ein Fazit zum Utopieverständnis – sind als Lebenstätigkeiten nicht delegierbar. Und Lebensgestaltungsprozesse hängen nun einmal entscheidend von der Nichtdelegation der Nutzungen ab. Deshalb ist das architektonische Bauen immer zugleich eine Erarbeitung möglicher Methoden für den Bauprozess. Dazu kurz einige wichtige Konstruktionselemente: 1. eine Entscheidungsstruktur, das Modell einer ‚Zukunftswerkstatt‘, 2. eine Lokalisierung und Dimensionierung utopisch qualifizierter Diskurse: ‚Utopie und Ort‘, 3. drei ästhetisch-architektonisch-semiotisch relevante Formen der Inszenierung von Gebilden: die Collage, die Ruine und das Fragment.

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1. Zukunftswerkstätten Robert Jungk versteht darunter Modelle, in denen selbst die weitgreifendsten Visionen als konkret mögliche Vorhaben so aufgegriffen werden sollen, dass sie realisiert werden. Das Diskursmodell sieht fünf Etappen vor: 1. Das laute Aussprechen aller Einwände und Vorwürfe zu einem bestimmten gewählten Thema, 2. Das Erfinden, das freie, ungebremste Imaginieren, 3. Das Prüfen. Erst hier kommen Kritik und Erfahrung zum Zuge, sei es als Kompetenz der Betroffenen, sei es als Sachverständigkeit durch weltbürgerliche Teilnahme am Leben, sei es als Sachverständigkeit durch spezielle berufliche Kompetenz. 4. Das Durchsetzen. Die Erarbeitung von Strategien, die eine ganze oder zumindest teilweise Verbesserung ermöglichen. 5. Das soziale Experiment, in dem die soziale Erfindung eine sozialkonkrete Neuerung wird. Ein Experiment zur Entwicklung des Fortschreitens in menschengerechteren Einrichtungen. Das utopische Modell versteht Jungk als Nutzung von Freiräumen, nicht als Umwälzung durch abstrakte Forderungen.33 Dazu bedarf es aber der entgrenzten Planungsvoraussetzungen, wie sie unter den eben genannten Punkten 1 und 2 skizziert sind. Der normale architektonische Prozess fängt am Ende von Punkt 2 an und endet bei Beginn von Punkt 4. Der Rest fällt aus. 2.  Utopie und Ort Hermann Huber versteht darunter die Rettung des Utopischen durch die Konkretisierung eines Ortes.34 Der Ort ist definiert als alltägliche ästhetische Sozialisation, lebt also von komplexen Zusammenhängen, die nicht in Planraster fallen. Bezüge sollen hergestellt werden. Architektur ist ein Medium der Sozialisation der Sinne. Der Ort soll durch die Benutzer auf allen Ebenen und in allen seinen Momenten mitgestaltet werden können. Dieser Ort zieht utopische Faktoren zusammen, steht aber nicht per se für gesellschaftlichen oder individuellen Fortschritt ein. Vor allem im urbanen Bereich, einem nicht sinnlich greifbaren, sondern in Lebenszusammenhängen fließenden Ort, ist das utopische Verständnis des Ortes durch einen Gestaltungsbegriff realisierbar, den Lucius Burckhardt in Übernahme wie Ausweitung einer langen italienischen Tradition, die in Restauration von Gemälden und Ingenieurtechniken fundiert ist, für die Beschreibung das italienischen Avantgarde-Designs der 1970er Jahre nutzte und als ‚kleinstmöglichen Eingriff‘ kennzeichnete. Unterstrichen werden muss dabei das ,,kleinstmöglich“. Auch das ist kein allgemein anerkanntes Verständnis von Gestaltung. Der kleinstmögliche Eingriff könnte den urbanen Ort als „Ort der Selbstbefreiung des Menschen“35 definieren, wenn er die Position der permanenten Aufsässigkeit der Städter als Planungsvorgabe miteinbezieht, z. B. anstelle der delegiert, d. h. durch parlamentarische Institution ausgehandelten Zonenpläne.

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3. Collage Als architektonische Entwurfsweise unter anderem – und hier als vereinzeltes Beispiel neben vielen anderen ausgewählt – von Franz Oswald 1976 im Rahmen eines Seminars an der ETHZ formuliert und als spezifisch urbane Gestaltung den städtebaulichen Studien von 1966 – dem Abschluss von Arbeiten bei Colin Rowe – über die Projektierung des Sihlraums Zürich beigegeben. Collagieren als Sammeln und Auswerten von Form und Werkstücken, von Fundstücken und Ersuchtem. Die Formgebung und Bildentstehung, d. h. die produzierenden und rezipierenden Qualitäten eines Produkts, entstehen durch ein Auswahlverfahren. Das Bild ist nichts anderes als dieses Auswahlverfahren. Collagieren meint nicht das Montieren von Fertigteilen durch Kataloglektüre. Nicht Eklektizismus ist gefragt, sondern die taktilen und optischen Erfahrungsqualitäten einer sinnlichen Architektur. Und zwar in Bezug auf einen allgemeinen und abstrakten Raum, für den die Bauten als konkrete Bezugsdefinitionen stehen. Dieser Raum ist aber nicht statisch, sondern ein Geflecht von Raumbeziehungen. Es geht nicht um die „Bilderwelt gesammelter Bauwerkstücke“, sondern um in „Erinnerungsbildern erlebte Gebrauchszusammenhänge des architektonischen Raums“. Das bedeutet: Die Werkstücke haben eine Geschichte, bezeichnen sedimentierte Schichten gelebter menschlicher Existenz, sie sind aber keine geschichtlichen Dokumente, die man berauben und bruchlos umbauen könnte. Sie haben symbolische Qualitäten, gerade weil sie in einem komplexen Bezugsgeflecht stehen zu den „Ablagerungen in Gebrauchsspuren überlieferter architektonischer Sittengeschichte“.36 Also: Spurenlesen in Zwischenräumen. Bewusstsein vom Labyrinthischen, nicht vom Planen, vom Dynamischen, nicht vom Statischen, vom Horizontalen, nicht vom Vertikalen, vom Untergründigen und nicht vom oberirdisch Vermessenen. Erst die Gestaltung in der Form der Collage schafft Bedeutungen, die sich auf die Wahrnehmung einer geschichtlichen Kontinuität erstrecken können. Materialität und Sinnenhaftigkeit sollen daraus resultieren. 4. Ruine Bazon Brock kritisiert in Die Ästhetik des Kaputten den Schöpfungswahn der Industriegesellschaft.37 Brock formuliert die Divergenz von Produzieren und Zerstören aber anders: als Unterscheidung zwischen Handlungen mit irreversiblen Folgen und solchen mit weniger irreversiblen Folgen. Grundsätzlich gilt für Planung, dass Problemlösungen neue Probleme schaffen. Problemlösungen müssen weniger irreversible Konsequenzen haben als das ursprüngliche Problem. Planung ist nur dort relevant, wo sie zumindest Richtungen, Bereiche und Dimensionen unplanbarer Nebenfolgen angeben kann. Diesen Hintergrund konkretisiert Brock durch eine Müll- oder Ruinentheorie. R ­ uine und Müll gelten als Vergegenständlichung der Differenz zwischen Entwurf und Realität. Und auch des Auseinandertreibens zwischen dem funktionalen Problemlösungsplan und der geronnenen Problemlösung. Problemlösungen haben immer die fatale Konsequenz, nicht exemplarische und revidierbare, sondern perfektionistische und geschlossene Gestaltungen hervorzubringen. Demgegenüber gilt die Ruine als „ein Objekt, das die Voraussetzung erfüllt, uns und unserer Selbsterkenntnis auf die Sprünge zu helfen“.38 Konsequenz für Gestaltung: „Das, was wir in die Welt hineinbringen, darf nur von

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der Art sein, die Differenz zwischen Vorstellung und Ausführung selber sichtbar zu machen, darf also nur von der Art der Ruinen sein, als Verwandelbares ohne irreversible Folgen.“39 Die Rede von der Ruine ist nicht unproblematisch, auch dort, wo sie strikt als Revision und Korrektur gegen den Schöpfungsmythos eingeklagt wird und nicht als Ästhetisierung eines bestimmten Untergangsszenarios gepriesen wird. Aber Ruinen sind auch Trümmer, und Trümmer resultieren nicht nur durch die Zubetonierung von Lebenszusammenhängen, sondern auch durch Kriege. Was an Motiven ästhetisch an den Ruinen gelesen werden kann, hat der Soziologe und Philosoph Georg Simmel, im Unterschied zu seinen Schülern Ernst Bloch und Walter Benjamin nicht sonderlich bekannt, bereits 1923 in einem Kapitel seiner Philosophischen Kultur wie folgt erörtert. Ich gebe die Ausschnitte40 mit diversen Annotationschiffren, Unterstreichungen und dergleichen mehr als Bild des Typoskriptes, der Fotokopie und Montage wieder (siehe Seite 276/277): 5. Fragment Die Wurzeln der Moderne haben mit dem Prozess der Subjektivität zu tun. Dass ein isoliertes ‚Ich‘ die Last trägt, die Bedeutungen und Bedingungen der gesamten Welterschließung zusammenzubündeln, macht das Ich immer zu einem brüchigen und fragmentarischen Gebilde mit einer Identität auf Abruf, einer Identität, die allein noch Kontinuität im Umbruch herstellt, in Handlungsanordnungen, in denen punktuell und fragmentarisch sich erproben lässt, was Bedeutung haben soll. Das Fragmentarische aber besteht nicht allein im Auseinandergerissenen, es ist auch ein Kristall. Es ist nicht Brüchigkeit allein, es ist ein permanenter und permanent revidierbarer Versuch. Nur was punktuell ist, kann sich gegen Zerreißproben schützen. Das Fragment ist etwas, an dem große Drücke abgeleitet werden können. Das Ganze ist eine Skizze, es besteht in Entwürfen, und nur so wird es nicht übermächtig und erdrückend. „Kunst obersten Anspruchs drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische.“41 Daran wäre, ein ander Mal, andernorts, zu erläutern, warum Vernunft in Kunst übergeht und warum Kunst nur noch als Fragment existiert. Weiter: die ästhetisch radikalisierte Nichtidentität, das Begriffslose, das vollständig Funktionslose, das sich wendet gegen die instrumentelle, kalte, zerrissene, entfremdete und durchrationalisierte, in allem regulierte Geschichte und Gesellschaft. „Überließe man das Diffuse der Kunstwerke, ihre Einzelimpulse ihrer Unmittelbarkeit, sich selbst, so würden sie spurlos verpuffen. Kunstwerken drückt sich ab, was sonst sich verflüchtigt. Durch die Einheit werden die Impulse zu einem Unselbständigen herabgesetzt. Spontan sind sie nur noch symbolisch. Das nötigt zur Kritik auch an sehr großen Kunstwerken. Die Vorstellung von Größe pflegt das Einheitsmoment als solches zu begleiten, zuweilen auf Kosten seiner Beziehung zum Nichtidentischen. Dafür ist der Begriff von Größe in der Kunst selber fragwürdig. Die autoritäre Wirkung großer Kunstwerke, zumal solcher der Architektur, verschlingt sich mit Herrschaft und verdunkelt zugleich deren Erkennbarkeit.“42 Nun hilft da keine wieder modern gewordene Moral von Bescheidenheit, keine Betulichkeit in der Suche nach dem Unscheinbaren und Kleinen. Aber die Architektur muss ihre Autorität bearbeiten, als Funktion und als Gestaltung zugleich, als gesellschaftliches Ordnungssystem am Leben wie als Konstruktion

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einer ästhetisch zum Vorschein gebrachten besseren Welt. Also vom Geist des Utopischen zum Fragment? Soll das alles sein? Also nur ein Zertrümmerungsvorgang am Ganzen der Utopien als letzte Gestalt des Utopischen, weil die Moderne Zivilisationstechniken entwickelt hat, die allenfalls an der Unmoral der Gesellschaft scheitert, aber nicht an den realen Möglichkeiten der Verwirklichung der alten utopischen Letztforderungen. Ist dies der eingangs zitierte Bloch’sche Weg? Alle diese Formen, Gestalten und Fragen müssen nochmals begründet, skizziert, diskutiert werden. Gefordert ist Planung als Zeigen der sie konstituierenden Bedingungen. Gelingt das Sichtbarmachen des Unsichtbaren? Inszenierungskonzepte dieser Denkrichtung sollen zusätzlich entwickelt, also stets ausdrücklich expliziert werden. Was eine Meta-Ebene erfordert. Zu prüfen bleibt: 1. Ist das hier Geforderte möglich? 2. Wie und wie weit kann es operabel gemacht werden?

Zusammenfassende Thesen 1.  ‚Utopia‘ – das ist ursprünglich der Nirgendort, ein Ort, der immer anderswo liegt, im Unbekannten, ein Ort, der ständig aktuell, aber nicht vorhanden ist. Die Gattung der Utopien, die Zeugnisse für die kritische Funktion der Einbildungskraft sind, hat intime Beziehungen zu Fragen, wie eine Gestaltungsplanung für groß dimensionierte und organisch vernetzbare Lebensräume auszusehen hat. 2.  Bis zur Renaissance haben Utopien kaum eine handlungsorientierende Funktion. Sie sind keine Drehbücher für Wirklichkeitsgestalter. Ihre Funktion besteht darin, gerade nicht funktionalisierbar zu sein. Sie sind Bilder der Fantasietätigkeit, die die Wirklichkeit einem Test unterzieht. In der Renaissance findet eine bis heute folgenreiche geschichtsphilosophische Wende des utopischen Denkens statt. Der Nirgendort wird dem imaginären Raum entrissen und einer wissenschaftlichen Prüfung der konzeptuell serialisierten geschichtlichen Zeitreihen eingegliedert. 3.  Die architektonischen Baupläne einer idealen Gesellschaft lösen sich von der Kon­ struktion der utopischen Fantasie ab und werden zunehmend als Faktoren des technologischen Fortschritts behandelt, ihre Wahrheit hängt seitdem von ihrer Realisierbarkeit ab. 4.  Die Moderne ist durch einen Prozess der Selbstbehauptung und Selbstermächtigung gekennzeichnet. In ihr werden die verschiedenen Lebensbereiche aufgespalten und der Bearbeitung durch jeweilige Experten zugewiesen. Die Verbindung von Sozialutopie und Architekturutopie als zweier einander korrespondierender Wunschvorstellungsgebilde für Modelle eines idealen Zusammenlebens wird von nun an zum Arbeitsmaterial für eine eigene Expertengruppe: für Architekten, die nicht mehr Baumeister sind, son-

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dern zunehmend als Experten für Stadt- und Lebensgestaltung im Ganzen sich geltend machen. 5.  Technisch sind Utopien realisierbar, human wirklich werden sie dadurch noch nicht. Der Verlust der utopischen Orientierung wäre ein Verlust der Wirklichkeit selber, nicht einer anderen Wirklichkeit. 6.  Architektur ist ein gesellschaftliches Medium der Einrichtung von Lebensweisen. Die Entscheidungen in der modernen, urbanen, expertenorientierten und extrem arbeitsteiligen Gesellschaft verlaufen nach den Zwängen eines unsichtbaren Designs. Das bedeutet: Sichtbare Gestaltung wird zur mehrdeutigen Oberfläche, von der her sich nicht unmittelbar der Bedeutungszusammenhang der Lebensgestaltung ablesen lässt. 7.  Moderne und an utopischen Dimensionen orientierte Architektur verwirklicht sich zwar in einem gebauten Produkt, ihre Bedeutung aber besteht in den Schnitten, die sie durch Infrastrukturen der Lebenswelt legt. Ihre Bedeutung bewährt sich – oder eben nicht – an der Einrichtung oder Verhinderung brauchbarer und menschengerechter Lebensmöglichkeiten. 8.  Architektonische Entwürfe und der Planungsprozess der Architektur als solcher stehen oft unter einem szientistischen Selbstmissverständnis. Die Verwissenschaftlichung von Funktionserhebungen haben aber zur Kehrseite den falschen Kunstschein einer eher hemdsärmligen Intuition. Planungsverständnis wie ästhetisches Verständnis sind Verkürzungen an möglichen Planungen und an einer, spielte sie eine wirkliche Rolle, durchaus präzisen und reflektierbaren Intuition. 9.  Zum theoretischen Verständnis architektonischer Planung ist anzumerken: Planun­ gen sind nur dann konkret tragfähig, wenn sie durch die Begründung und Problematisierung von Alternativen zustande kommen. Das bedeutet: Möglicherweise unterliegen sie alternativen Konzeptionen. Planung kann sich nicht auf vorliegende, schon etablierte und einfach faktisch normierende Regelungen beziehen. Sie wäre in einem solchen Falle keine Planung, sondern die ideologische Verdoppelung der sogenannten Sachzwänge, d. h. die Verbergung von Nichtplanfähigkeit. Eine utopisch-kritische und modern-skeptische architektonische Planung funktioniert nicht mehr nach dem Modell von Zwecken und Mitteln, sondern als eine stetig flexible Neubeziehung von ­Zwecken und Mitteln, die sich an nichtdelegierbaren Versorgungstätigkeiten des menschlichen Lebens orientieren. 10.  Wirkliche Planung bezieht sich auf Noch-nicht-Vorhandenes. Sie weiß um ein Stück Nichtplanbarkeit. Das entspricht ihrem gegenständlichen Ziel: nichtcodierbare, unordentliche und wilde, d. h. entwicklungsfähige Nutzungen zu ermöglichen. Die utopische Funktion der Architektur besteht in einer Verdeutlichung komplexer Lebenszusammenhänge. Sie ist weder ein Planspiel noch ein Instrument allein. Würde sie das

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Nichtcodierbare und das Unordentliche tilgen, dann wäre sie nicht Gestaltung, sondern verkäme zur trivialen Sozialtechnologie. 11. Die Nichtdelegierbarkeit von Lebensgestaltungen erfordert einen polylogen Diskurs. Ein Dialog ist eine zweistellige Beziehung und reichte hierfür nicht. Der polyloge Diskurs steht auch im Gegensatz zur formal-partizipatorischen Planung, die Zwänge und Probleme nicht löst, sondern einfach umverteilt. Er weiß, dass jede Nutzungsdichte nicht restlos rationalisierbare Felder widersprüchlicher, innovativer und offener Nutzungen beinhalten muss. 12.  Mögliche Planungsformen dazu sind: Zukunftswerkstätten (Robert Jungk), Utopie als Ort (Hermann Huber), der kleinstmögliche Eingriff (Lucius Burckhardt und Bazon Brock). 13.  Die Gestaltungsmaterie zielt, unter Berücksichtigung dieser komplexen und fließenden Planung, die auf Selbstrevision hin angelegt ist, auf eine ästhetische Formierung, die – im Sinne der Bewahrung der Moderne und der konkreten Anwendung utopisch-kritischer Architektur – mit folgenden Konzepten arbeiten kann: Collage (Colin Rowe/Fred Koetter), Ruine (Bazon Brock), Fragment (Theodor W. Adorno). 14.  Alle diese Konzepte, besonders das Fragment, beziehen sich auf ein nichtlineares, mehrdimensionales und umschichtbares Ganzes, auf ein offenes System, das die Architektur als permanentes Probehandeln ermöglicht und von ihr fordert, dass sie möglichst umstandslos korrigierbar, revidierbar und notfalls auch ruinierbar sein soll. 15. Vielleicht ist es keine Aktualitätserscheinung, dass die Architektur eine Lebensweise mehr spiegelt als gestaltet. Dort, wo Lebensweisen sich umschichten, sich umcodieren und ‚ins Fließen kommen‘, dort lässt die Forderung, Architektur habe komplex, transparent, sensibel, revidierbar zu sein, vermutlich die Architekten irritiert zurück. Architektur müsste sich heute in einem Ausmaß verflüssigen, dem ihre bisherige Bauweise zuwiderläuft. 16.  Mit B. B., Bertolt Brecht: In einer Zeit, wo eben kleinbürgerliche Kunstauffassungen in der Regierung herrschten, wurde Herr Keuner von einem Architekten gefragt, ob er einen großen Bauauftrag übernehmen solle oder nicht. „Hunderte von Jahren bleiben die Fehler und Kompromisse in unserer Kunst stehen“, rief der Verzweifelte aus. Herr Keuner antwortete: „Nicht mehr. Seit der gewaltigen Entwicklung der Zerstörungsmittel sind eure Bauten nur Versuche, wenig verbindliche Vorschläge. Anschauungsmaterial für Diskussionen der Bevölkerung.“ Sie mögen vielleicht immer noch sagen. Und? Das ist also alles gewesen, die im Fragment verschwindene, aber in diesem Verschwinden sich auch erhaltende Utopie? Ein Aufwand an Komplexität, um das Einfache zu bezeichnen? Ich persönlich ziehe den

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Weg vom Komplizierten zum Einfachen dem umgekehrten Weg vor. Ich halte ihn für notwendig. Das Einfache muss an den Durchgang durch das Kompliziertere erinnern und auch sich, nicht nur andere, daran erinnern. Weil es schwierig zu machen ist. Eine chassidische Geschichte, die Walter Benjamin einmal aufgezeichnet hat, formuliert unseren utopischen Durchgang oder, wenn Sie lieber wollen: den Durchgang durchs Utopische, genauer. Und schöner. „In einer chassidischen Wirtschaft saßen eines Abends einige ansässige Juden in einer ärmlichen Wirtschaft beisammen, abseits von ihnen, im Hintergrund, noch ein fremder Bettler. Man verfiel darauf, sich gegenseitig die Wünsche, die ein jeder hatte, mitzuteilend Das Übliche kam heraus, der eine wollte einen Schwiegersohn, der andere Geld, und so weiter, bis die Rede auf den Bettler kam, der nach langem Zögern endlich meinte: ‚Ich wollte ich wäre ein großmächtiger König und herrschte in einem weiten Lande und läge nachts und schliefe in meinem Palast; und von der Grenze bräche der Feind herein, und ehe es dämmerte, wären die Berittenen vor mein Schloß gedrungen; und keinen Widerstand gäbe es, und aus dem Schlaf geschreckt; nicht Zeit, mich auch nur zu bekleiden, und im Hemd hätte ich meine Flucht antreten müssen und sei durch Berg und Tal letztlich hier, in dieser Wirtschaft, angekommen. Das wünsche ich mir!‘ Verständnislos sahen die andern einander an. – ‚Und was hättest du von all dem?‘ fragte einer. – ‚Ein Hemd‘, war die Antwort.“43

Geschrieben 14. bis 18. 01. 1984 für einen Vortrag an der Architekturabteilung der ETH Zürich, 19.01.1984; die zusammenfassenden Thesen wurden für den Gebrauch der Abteilung erheblich erweitert; geschrieben am 05. 04. 1984.

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Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1959, Bd. 2, S. 873. jetzt in: Max Frisch, Forderungen des Tages, Frankfurt a. M. 1983, S. 333. Vgl. ebda. S. 336. Vgl. Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1972. Vgl. dazu und im folgenden: Rudolf M. Lüscher/Michael Makropoulos, Revolte für eine andere Stadt, in: Ästhetik und Kommunikation N° 49, Berlin 1982 S. 125. Vgl. die Figurationssoziologie von Norbert Elias am Beispiel dieser Begriffskonstellation: Norbert Elias, Engagement und Distanzierung, Frankfurt a. M. 1983. Vgl. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1982. Anm. Hinweis des Verf., H. U. R., während des Redigierens und Edierens des Vortragsskriptes zu einem Text, September 2020. Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, Buch I, Kapitel 2, Abschnitt 5. Ebda., Buch I, Kap. 1, Abschnitt 7. Vgl. schon Paul K. Feyerabend, Über die Interpretation wissenschaftlicher Theorien, in: Hans Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, Tübingen 1964; besonders aber: ders., Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der Wissenschaften (Ausgewählte Schriften Bd. 1), Braunschweig u. a. 1978; weiter: ders., Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1976, Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a. M. 1979. Hans Saner, Hoffnung und Gewalt, Basel 1982, S. 35. Vgl. Frederic Vester: Unsere Welt. Ein vernetztes System, Stuttgart 1978.

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14 Vgl. Christopher Alexander, Sara Ishikawa u. a., A Pattern Language. Towns, Buildings, Construction, New York 1977. 15 Vgl. Helmuth Gsöllpointner u. a. (Hrsg.), Design ist unsichtbar, Wien 1981. 16 Karl R. Popper, Elend des Historizismus, Tübingen, 3. verb. Aufl. 1971, S. 52. 17 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt a. M., 1959, Bd. 2, S. 819 f. 18 Vgl. Renato de Fusco, Architektur als Massenmedium. Anmerkungen zu einer Semiotik der ge­bauten Formen, Gütersloh 1972 (Original erstmals 1967). 19 Vgl. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt a. M., 1959, Bd. 2, S. 837. 20 Ebda. S. 872. 21 Ebda. S. 870. 22 Vgl. Leonardo Benevolo: Die Geschichte der Stadt, Frankfurt/New York 1983, 2. Aufl. 1984. 23 Vgl. z. B. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt a. M. 1972. 24 Vgl. Renato de Fusco, Architektur als Massenmedium. Anmerkungen zu einer Semiotik der ge­bauten Formen, Gütersloh 1972, S. 21. 25 Ebda. S. 23. 26 Vgl. ebda. S. 35. 27 Dieter Hoffmann-Axthelm in Zeitschrift ‚Bauwelt‘ N° 48, Dezember 1983, S. 335. 28 Peter F. Althaus/Aldo Henggeler: Denkmodell Stadtraum. Planung Mensch – Umwelt, Teufen 1969, S. 80. 29 Vittorio M. Lampugnani, in: Architektur – Avantgarde oder Massengeschmack, Zrsf. ‚Freibeuter‘ N° 12, Berlin 1982, S. 54. 30 Ebda. S. 61. 31 Ebda. S. 66. 32 Ebda. S. 65. 33 Vgl. Robert Jungk, Statt auf den großen Tag zu warten, in: ‚Lust an der Zukunft II‘, Zrsf. ‚Kursbuch‘, N° 53, Berlin 1978, S. 1 ff. 34 Vgl. Hermann Huber, Ort und Utopie, in: Docu Bulletin, März 1983. 35 Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a. M. 1966, S. 69. 36 Dieses und voranstehende Zitate: Franz Oswald, Entwurf Collage, ETHZ 1982, Institutsdruck; vgl. grundsätzlich: Colin Rowe/Fred Koetter, Collage City, Basel/Boston/Berlin 1984. 37 Vgl. Bazon Brock, Die Ästhetik des Kaputten, in ‚Werk und Zeit‘, Zeitschrift des Deutschen Werkbundes, Berlin 3/1980. 38 Ebda. S. 45. 39 Ebda. 40 Vgl. Georg Simmel, Die Ruine, in: ders., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin 1983, S. 118 ff. 41 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, S. 221. 42 Ebda. S. 278 f. 43 Walter Benjamin, Der Wunsch, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV.2, Frankfurt a. M. 1972, S. 759.

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GEFRÄSSIGE KINDER – ÜBER IRONIE UND ­PLANUNGSKRITIK Zum ersten Mal seit Reise ins Risorgimento, 1959, erscheint wieder ein vollständig von Lucius Burckhardt allein verfasstes Buch, eine Sammlung pointierter Stellungnahmen aus vielen Jahren allerdings, wie es dem Autor entspricht, keine Monografie1. Nach zahlreichen Editionen und Co-Autorschaften im Bereich alternativer Architektur und Planung – Burckhardt war Präsident des Deutschen Werkbundes – stellt Die Kinder fressen ihre Revolution zweifellos so etwas wie einen Querschnitt und zugleich eine Summe des Burckhardt’schen Denkens dar. Die Sammlung von 86 Texten (bei einem Gesamtumfang von 440 Seiten) aus den letzten 20 Jahren und den verschiedensten Publikationsorganen – Zeitschriften, Büchern, Vortragszyklen, Tagungsberichten, Sammelbänden – scheint allerdings nicht ohne Zurückhaltung des Autors zustande gekommen zu sein. Er zeichnet nämlich nicht selber als Herausgeber seiner Schriften und begnügt sich anstelle eines Überblicks, einer kritischen Revision oder einer zusätzlichen Reflexion seiner Grundthesen, welche die Schriften im Einzelnen fundieren, mit einer Sammlung eigener, hingeworfener Karikatur-Aquarelle, an denen Bazon Brock Grundthemen seines Denkens eher illustriert und resümiert als diskutiert und reflektiert. Das Buch, so ist dem Vorwort des Herausgebers zu entnehmen, ist als eine Art Geburtstagsgeschenk zum 60. Geburtstag des Autors zu verstehen und wird demnach durch einen zunächst unsachlichen Aspekt begründet. Dem entspricht auch eine dort formulierte Legende,2 eigentlich habe man eine Festschrift geplant, man habe aber beschämt einsehen müssen, dass man die Burckhardt’schen Standards nicht erreichen könne, und deshalb die Herausgabe der Schriften des Lehrers oder Vorbilds selber forciert. ‚Se non è vero è ben trovato‘ – und es stimmt in der Tat nicht, belegt aber einen charakteristischen Zug von Lucius Burckhardt, der, obwohl zunächst aufs Unsachliche bezogen, dennoch zum sachlichen Gehalt seiner Äußerungen gehört. Wie die vom Autor immer wieder zitierten Beispiele aus Architektur und Stadtplanung ist ein Text durch seinen Kontext, ist ein Kunstwerk durch die Eigenheiten der jeweiligen medialen Vermittlung mindestens so stark in seiner Aussage bestimmt wie durch das planerische, kreative Bewusstsein seines Autors oder Inszenators. Ich erinnere mich an viele Texte von L. Burckhardt, die immer Beiträge zu spezifischen, auch von anderen umrissenen Themen darstellten. Das Besondere seiner Beiträge war immer nicht bloß inhaltlich, sondern auch funktional und ‚textstrategisch‘ bestimmt. Seine Schriften erschienen mir wie Wegelagerer, die auf der Lauer lagen an Straßen für unvorsichtige, voreilige und schlecht gerüstete Passanten. Sie insistierten auf dem, was andere nicht sagten. Das wuchs sich manchmal zu einem Habitus aus, den man als eine- Art ‚Manierismus des Querdenkens‘ bezeichnen kann. Diese 86 Texte sind also aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst worden und bilden nun ihren eigenen ­Kontext. Dieses neue Medium verändert den Inhalt der Texte, die auch in ihrer Form

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­unterschiedlich sind und vom Anekdotischen über die Glosse, über Kommentar und Denkbild bis zum Theaterstück reichen. Um so bedauerlicher erscheint mir das Weglassen eines Vorworts, in dem unter fokussierten Gesichtspunkten das Erreichte, seine Korrektur- und Ergänzungsbedürftigkeit, seine Blindstellen, aber auch die Stärken gesondert hätten artikuliert werden können. Vielleicht ein etwas altmodischer Wunsch. Mit Johann Peter Hebel: ‚Das Unternehmen wird entschuldigt.‘ Zweifellos besteht die Stärke des Burckhardt’schen Denkens einerseits in der Skepsis gegen dargebotene Problemlösungsversprechen, vor allem von selten der institutionalisierten Planer, andererseits in der Orientierung am Detail: an den konkreten Bedarfs-, Planungs- und Entscheidungslagen in einem eingrenzbaren Interessenbereich. Auch wenn gerade die Fülle der Texte es schwierig macht, die verborgenen Eckdaten des Fallbeispiele übergreifenden Denkens von L. Burckhardt im Ganzen herauszuschälen, so gibt es dennoch einige immer wiederkehrende Punkte, mit denen die eigene Planungsideologie hinter den Beispielen – im Sinne der Ideologiekritik die Hintergrundannahmen also bezeichnend – wenigstens umrissen werden kann. Dafür steht schon die Einteilung in vier Kapitel (wobei die Zuordnung der Texte im Einzelnen öfter auch anders hätte vorgenommen werden können), von denen zumindest drei eine apodiktische These formulieren: 1.  Design ist unsichtbar. Damit ist gemeint, dass Entscheidungen von Nichterfassbarem beeinflusst werden und dass jede gestalterische Entscheidung, Konzeption oder Lösung Auswirkungen hat, die nicht sichtbar werden müssen, aber die Lebensweise im Ganzen betreffen. Der Modellfall des unsichtbaren Designs ist das, was der Soziologe Jürgen Habermas als Handlungen und Interpretationen stützende Traditionen bezeichnet, welche nicht reflexiv zur Diskussion gestellt werden, sondern als – vorrationales, mythisches – Residuum für bewusste Darstellungen funktionieren. 2.  Durch Pflege zerstört. Damit ist gemeint, dass ein übermäßig geordneter Eingriff das Gegenteil dessen bewirkt, was er zu beabsichtigen vorgibt. Das Verfahren der Kritik an im Sinne Freuds neurotisch verformten Ordnungsbedürfnissen ist ein Modell von Ideologiekritik. 3.  Der kleinstmögliche Eingriff. Damit ist gemeint, dass, sowohl als ständiges Denk- wie als handlungsleitendes Entscheidungsmodell, das ‚intervento minimo‘ Gestaltungen so bestimmt, dass je nach Problemkreis Eingriffe auf die kleinstmöglichen Auswirkungen auf nicht genau durchschaubare Folgelasten möglichst eng eingegrenzt werden können. Das ‚intervento minimo‘ soll die Bebaubarkeit der Zukunft durch Reduktion der Eingriffe in der Gegenwart ermöglichen. Die Grundthese vom kleinstmöglichen Eingriff lässt sich durch einige typische Denkfiguren von L. Burckhardt so konkretisieren, dass ein Raster an Grundüberzeugungen sichtbar wird: Planer arbeiten intuitiv;3 die heutige Situation einer Planungsverhinderung – resultierend aus dem Basiswiderstand gegen eine leblos rationalisierte Umwelt – müsse durch eine partizipatorische Planung abgelöst werden;4 es

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seien nicht die Probleme, sondern die Problemlösungen, welche die gegenwärtigen innerstädtischen Zustände erzeugt hätten;5 Planung müsse allein Bewusstsein des Unplanbaren beinhalten;6 man müsse von einer nicht vorhandenen Wahrnehmung eingreifend bestimmter Subsysteme ausgehen; durch eine ‚Sensation des Gewöhnlichen‘ seien diese Bestimmungen erst zu einer wahrnehmbaren Darstellung zu bringen;7 hauptverantwortlich seien die Expertengruppen, die sich einer öffentlichen Diskussion entziehen, um eigene Machtfelder aufrechtzuerhalten;8 Planungsmaxime müsse sein: geplante Objekte sind Bestandteile von Interaktionssystemen; man müsse einerseits das Ganze bedenken, um überhaupt Folgen an Zerstörung einrechnen zu können;9 andererseits sei es prinzipiell unmöglich, diese Folgen in Rechnung zu stellen, und das Ganze nicht überblickbar;10 das führe dazu, dass wir Probleme gar nicht mehr lösen, sondern meist zwischen Übeln wählen müssen.11 Burckhardts Planungskritik hat ihren gesellschaftlichen Ort, der ihre argumentative Kraft ausmacht, in dezentralen und an Selbstbestimmung orientierten Bereichen, in denen die Artikulationsfähigkeit vordem unterdrückter oder unberücksichtigter Interessen groß ist: Wohnstraßen, Einbezug der Handwerkskultur in die architektonische Gestaltung – Beispiel: Genfer Siedlung ‚Les Schtroumpfs‘ von Christian Hunziker –, Eigenveränderung nach Bedürfnissen langjähriger Bewohner – ‚Cité ouvrière‘ in Mulhouse. Auf der anderen Seite kommt Burckhardts Expertenkritik nicht selten in eine gefährliche Nähe zu den Schwachstellen einer eskapistisch überzogenen Wissenschaftskritik Paul Feyerabends, der zwar – mit dem Hinweis auf die Gleichwertigkeit aller Traditionen – die Expertenfunktionen in Bürgerinitiativen überführen und universale Regeln für Legitimation daran ausschließen möchte, aber niemals alles als gleichwertig oder -gültig bezeichnet hat. Dass es keine normgeleitete vertikale Hierarchie von (in letzter In­ stanz gar absoluten) Wahrheitsfunktionen mehr gibt, bedeutet nicht, dass alles in eine alles ins Identische auflösende Horizontale einrückt, sondern nur, dass es nach je wechselnden Problemlagen und Deutungen je wechselnde Dominanzhierarchien von Wahrheitsfunktionen, -überzeugungen oder -auffassungen gibt. Aber der Bürger ist ‚citoyen‘, zuweilen auch eher noch ‚bourgeois‘, und es bleibt als ein gravierendes Problem: Wenn unsere Umwelt Ansätze bieten muss, damit unsere Imagination eine akzeptable und gar eine richtige Welt aufbauen kann,12 dann ist das eine sinnvolle These nur dann, wenn erklärt werden kann, wie Kriterien für universale Inter­ essenvermittlungen so entwickelt werden können, dass nicht die eine Subkultur über verdrängte abstrakte Mechanismen der anderen die ungelösten Probleme aufbürdet. Gerade das aber sei nicht möglich, weil Bedürfnisse nicht eindeutig erfasst, nicht einmal annähernd umschrieben werden können, denn der Mensch sei ein unterdeterminiertes Wesen.13 Die Umwelt müsse so aufgebaut werden, dass soziale Rollen möglich und vorsehbar seien.14 Wer entscheidet über die Bedingungen des sozial Realen unter den Bedingungen eines Sozialen, das möglich werden muss in einer komplexen und abstrakt vernetzten Gesellschaft? Wer hat Kompetenz zur Vorsicht? Nach L. Burckhardt sind es nicht die Kurz- oder Weit-, sondern die Normalsichtigen.15 „Planen lernen heißt lernen, sinnvolles Flickwerk zu machen.“16 Der Anti-Utopismus klingt sympathisch und v­ ernünftig.

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Aber was meint denn ‚Utopie‘, deren Funktion darin bestehe, nicht verwirklicht zu werden? Entgegen der These von L. Burckhardt, dass unser Verständnis des Wirklichen auf einem reduzierten Abbild des Wirklichen beruhe17 – was die Liquidation der Gesamtkonzeptionen begründen soll –, scheint mir erkenntnistheoretisch ausgemacht – und hier muss man nicht Ernst Bloch bemühen, Jean Piaget tut’s auch –, dass jedes Verständnis des Wirklichen nicht auf einer Abbildung, sondern auf einer Transformation beruht. Und weiter: von den Bedürfnissen der Menschen ausgehen, sie nach ihren lokalen (und ‚mikrologischen‘ Kompetenzen machen zu lassen, beinhaltet auch das Zugeständnis des Rechts, unbeschränkte Deformationen zur Darstellung zu bringen. Darin steckt ein ziemlich harter heilsgeschichtlich-utopischer Rest. Die Vernunft des Common Sense als Plädoyer für die Vernunft der Normalität erscheint mir pragmatisch als ambivalent, theoretisch als Illusion. So sympathisch die Haltung eines ‚muddling through‘ wirkt, es löst wie jede Form des kritischen Rationalismus das Problem nicht, wie überhaupt Erhebungen im Bereich der Protokoll- oder Basissätze eindeutig gemacht werden können, ohne dass auch und gerade im scheinbar vorurteilslosen Fall Sinnelemente vorab auf das zu Beschreibende projiziert werden. Der Anti-Utopismus L. Burckhardts dürfte für die Planungspraxis und die Operationalisierung, der sich zwangsläufig in irgendeiner Form jeder theoretische Anspruch auszusetzen hat, deshalb schwierig sein, weil er durch geschichtsphilosophische Motive einer idealen Kultur durchsetzt ist, die auf eine komplizierte Weise auf den letztlich erfolgreichen gesunden Menschenverstand setzt.

Erstpublikation unter identischem Titel in: „Werk, Bauen+Wohnen“, Zürich Nr. 6/1985, S. 12 ff. ­Geringfügig r­ evidiert und erweitert.

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Lucius Burckhardt, Die Kinder fressen ihre Revolution. Wohnen – Planen – Bauen – Grünen; hgg. v. ­Bazon Brock, red. von Annemarie Burckhardt, DuMont Verlag, Köln 1985, S. 440.  Durchaus nicht unkokett gemeint im Sinne von Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher ­Versuch, eine Arbeit u. a. über die Meister-Schüler-Typologie aus dem Jahre 1934, wieder aufgelegt z. B. im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1980. Vgl. Lucius Burckhardt, Die Kinder fressen ihre Revolution. Wohnen – Planen – Bauen – Grünen; hgg. v. Bazon Brock, red. von Annemarie Burckhardt, DuMont Verlag, Köln 1985, S. 81. Vgl. ebda. S. 88. Vgl. ebda. S. 115 f. Vgl. ebda. S. 230 ff. Vgl. ebda. S. 133 ff. Vgl. ebda. S. 264. Vgl. ebda. S. 339. Vgl. ebda. S. 244. Vgl. ebda. S. 381. Vgl. ebda. S. 104. Vgl. ebda. S. 300. Vgl. ebda. S. 296. Vgl. ebda. S. 83 ff. Vgl. ebda. S. 235. Vgl. ebda. S 244.

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DESIGN ALS MACHT: GESTALTUNG ALS ­ÄSTHETISCH VERZEICHNETER GEBRAUCH Dieses Thema ist mir vorgeschlagen worden. Ich habe mir überlegt, zu welchem Publikum, zu welchen Zuhörern und Diskutierenden ich reden möchte, und mich dafür entschieden, die Thematik so vorzutragen, wie sie für jemanden wichtig werden könnte, der einerseits mit dem Entwurf – in der Ausbildung, in der Praxis – zu tun hat, andererseits die eigenen Selbstverständnisbemühungen als kulturelle Faktoren vor sich selber verdeutlichen möchte, also einfach Teilnehmer, Agent und Reagent einer bestimmten Kultur ist. Außerdem möchte ich nicht einfach ein Statement abgeben, sondern mich auf die Vorleistungen der Vorredner beziehen. Von Hans G. Helms haben wir einiges über das Verhältnis medialer Einwirkungen zu bestimmten Vorstellungen über Chancen und Erfolg militärtechnologischer Simulationen erfahren. Wichtigste Aussage war: Es kommt selbst im militärstrategischen Design nur mehr selten zu Produkten. Könnte man, im Glücksfall, die rein konzeptuelle Seite der Arbeit auf 100 Prozent steigern, wäre das ein entscheidender Fortschritt. Es bliebe dann eine rein ökonomische Betrachtung: Kann und soll man es sich leisten, eine Gruppe von Menschen zu finanzieren, die, je mehr Geld zur Verfügung steht, um­so stärker darauf verpflichtet werden können, ihre simulatorischen Spiele auch auf einer verbindlichen Ebene bloßer fiktiver Simulation zu belassen? Nämlich: ihre Arbeit so zu konzipieren, dass sie Nicht-Ausführbarkeit er­zwingt. Das wäre die reale, gleichzeitig latente Utopie von SDI: Entwurf eines Kriegsszenarios zu sein, das nicht in Realität umgesetzt zu werden braucht, sondern das von vornherein seinen Sinn nur hat, weil und indem es nicht umgesetzt wird. Natürlich gibt es die überalterten Militärstrategen – vor allem die Generäle, die Krieg führen wollen gegen die Menschen im eigenen Land, weil diese ihnen im Grunde nie zustimmen werden –, die, trotz ihres Wissens, auf den Anwendungsfall hoffen, um beweisen zu können, dass das Programm doch funktioniert, obwohl alles dagegenspricht. In vielen Aspekten der Designarbeit stellt sich ein ähnliches Problem. Zum Beispiel hinsichtlich einer vermeintlichen Gefahr, das edle Entwurfsgeschäft werde durch neue Technologien gefährdet. Die Abschaffung des Designers liegt gewissermaßen in der Falllinie der modernen Kultur, denn deren Paradigma stellt die Frage, auf welcher Grundlage überhaupt noch Design als auf Realisierbares hin tendierendes und angewiesenes Entwerfen konzipiert werden soll. Das ist eine tägliche Frage an ein Entwerfen, das Design gerne auf die mittlere Phase, das Aufscheinen eines Produkts als eines dinglichen Erscheinungsguts, einschränken möchte. Und dies, obwohl die Ausdruckskraft dieser Dinge ohnehin auf den Gesamtkreislauf der Zeichenverwendung verweist. Die Verwendung prototypisch moderner Bau­ten zum Beispiel im Film Morels Erfindung leitet über die Verwendung der Dinge als Zeichen zur Frage zurück, wie wir Dinge alltagskulturell als Zeichen immer schon nutzen. Das Versprechen solcher Möbel, wie sie in Morels Erfindung inszenatorisch genutzt werden – das klassisch moderne Programm von Mart Stam über Marcel Breuer zu Le Corbusier –, ist ursprünglich aber ein

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anderes: mittels der Gestaltung von Gegenständen und mittels gegenständlicher Formulierungen einer sozialästhetischen Utopie verändernd in die Gesellschaft einzuwirken. Diese Komponente des modernen Entwurfskonzepts wird unter dem Begriff der Funktion oft verkürzt diskutiert. Gerade in Hinsicht auf diesen Aspekt scheint mir wichtig, den kontrovers gebrauchten Begriff der Verzeichnung, die Zuschreibung seiner Trennschärfe, auf den Designbereich einzuschränken. Die prinzipielle Verzeichnung des Gebrauchs zur Funktion zu rechnen, diese These erschließt einen ganz anderen Zugang zur Produktekultur als die umstandslos für buchstäblich genommene Vision, mittels Gebrauchsgegenständen gesellschaftliche Emanzipation befördern zu können. Die heutige Situation zeichnet sich gegenüber einer solchen Tendenz dadurch aus, dass alles über einfache Deklaration verfügbar gemacht werden kann. Man kann irgendetwas nehmen, um damit die Wohnung, den Innenraum der Imagination, die Architektur der Fantasie zu möblieren und zu verzeichnen. Es spielt überhaupt keine Rolle, was man nimmt. Welche Funktion diesen Dingen der Ausstattung zugeschrieben wird, ist Produkt individueller Setzung. Diese Setzung ist der grundlegende Vorgang der Funk­ tionsbestimmung und markiert den Hintergrund der aktuellen Debatten um das Verhältnis von Kunst, Design und Lifestyling. Man kann heute spielerisch mit den Enzyklopädien des Entwerfens umgehen. Sie sind verfügbar. Das ist die Kehrseite der vermeintlichen Abschaffung des Designers durch die Tatsache, dass der technologische Entwurf auf die telematisierten Rezipienten übergehen kann, dass mit beliebigen kulturellen Strategien ein Stil fabriziert und seine Ausdrucksträger zusammengestellt werden können. Dem steht nur die Erneuerung des hochkulturell fixierten, also eigentlich überalterten Stildogmas entgegen. Die vorgeblich klar geschiedenen Lager der Antimodernen und der Modernisten sind einzig noch im Glauben vereint, es sei wichtig, gestalterische Anliegen mit Stilprätentionen zu formulieren. In Wirklichkeit verläuft der Bruch nicht zwischen moderner und postmoderner, funktionaler und emotiv-ornamentaler Architektur, sondern jene Linie entlang, an der Design-­ Formulierungen nicht nur eine Bedeutung, sondern ein Sinn, also das Einwirken des Bedeutungsarrangements auf das Bewusstsein zugeschrieben oder abgespro­chen wird. Immer mehr Kulturbeobachter stellen aber ihre Weltdeutungssysteme nach ganz anderen, eigenen Gesichtspunkten zusammen und scheren sich keinen Deut um die hochkulturell verformte Debatte zwischen Moderne und Gegenmoderne, die im Namen einer erneuerten Strategie der Befindlichkeitsabwägungen auf allen Ebenen medial geführt wird. Die Aufhebung der kulturellen Autorschaft durch technische Medien, zum Beispiel Computer Aided Design und Manufacturing – was in den professionellen Büros zunächst als bloße Entwurfshilfe antiquiert, da nur zum Ausdruck des vortechnisch bereits Gewussten eingesetzt wird –, ist bestimmt durch den Ort der Rezeption. Die Telematisierung kann dann dazu führen, dass man am Heimcomputer Dinge entwirft, die deshalb ganz anders aussehen, weil man ohnehin die mehr oder minder schmerzliche Erfahrung gemacht hat, dass Stühle im Grunde nicht dazu da sind, dass man bequem auf ihnen sitzen kann. Auch wenn erfreulicherweise die Menschen nicht in dem Maße Hausarbeit leisten werden, wie das die Medienpropagandisten von ihnen verlangen, steckt in solcher Technologie dennoch die Möglichkeit, individuellstes Stilgut in

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Gestalt künstlerischer Collagen selber zusammenzu­stellen und direkt produzieren zu lassen. Das ist das wirkliche Trauma der gesamten hochkulturellen Designelite, egal, ob sie sich als modern, postmodern oder gegenmodern verstehen. Was an Designthemen heute im Zentrum der praktischen Auseinandersetzung übrig bleibt, im Entwurf und der Schule, im Unterricht und der Anwendung, das ist die überkommene Fixierung auf Stil. Das sieht so aus, dass je nach Konjunktur und Abgrenzungsneigungen bestimmte Gestaltungsleitbilder besser sind als andere, ohne dass das theoretisch begründet würde. So besteht immer noch die ungeprüfte Meinung, die Moderne als solche habe etwas mit Design zu tun, was in dieser Zuspitzung nicht einmal für die Programmatik des Bauhauses stimmt. Aber in dem Maße, wie die sozialästhetische Utopie vom gesellschaftlichen Handeln abgelöst und auf einen Stilzusammenhang ‚neues Bauen‘, ‚modernes Wohnen‘ u. a. reduziert wird, werden Leitfiguren zu Gestalten hochstilisiert, deren Politik dann als ästhetisch reflektierende Strategie nicht mehr greifbar ist. Ästhetische Reflexion muss den Transport von Ideen in die Realität untersuchen. Es gilt zu fragen – dass das als Sakrileg gilt, belegt die Dogmatik von Stil-Denken überhaupt –, ob Le Corbusier wesentlich mehr ist als ein Albert Speer für Modernisten, wenn wir in Rechnung stellen, dass Le Corbusier seine Konzeptionen genauso rücksichtslos umzusetzen wünschte und sich nicht groß darum kümmerte, was die indische oder nordafrikanische Kultur als Einzelne darstellt. Ihn interessierte weder das Besondere noch gar die Unvergleichlichkeit des Einzelnen. Für weltsprachlich universale Zusammenhänge hat sich auch ein Albert Speer – ebenso wie Le Corbusier zudem für eine Beauftragung durch die Machteliten, egal welcher Provenienz, am liebsten solche des diktatorischen Typs, weil das das Vorgehen vereinfache –, hat sich also ein Albert Speer in erster Linie interessiert, wenn er monumentale Totenstädte als Mahnmale und Triumphstätten für Ostrussland konzipiert. Soll man gegen diese Dimension der Auslöschung des widerständisch Einzelnen sich auf den Stilaspekt zurückziehen und sich dabei beruhigen, Le Corbusiers Liege ‚schöner‘ zu finden als den Klassizismus von Albert Speer? Es ist nützlich, den engen Produktionsstandpunkt zu überwinden und die Strategie der Dinge von der anderen Seite her, als Ausdruck einer Hermeneutik der Lebensformen, zu behandeln. Es geht um den Rezeptionszusammenhang. Ich verstehe unter ‚Ästhetik‘ immer weniger das Entwerfen und immer radikaler die Aneignung dessen, was in einer Kultur insgesamt schon geleistet worden ist. Die postmoderne Architektur – die solchen Namen programmatisch trägt und ihn mit Produkten gegen die moderne Struktur von Raum und Fassade begründet hat – ist interessant, weil sie mit kom­plexen Montage- und Collage-Verfahren die Brüche (im besten Fall) dessen herausarbeitet, was im modernen Entwurf noch unreflektiert durch den Zwang zu einem organisch verstandenen sozialästhetischen Programm überdeckt worden ist. Wenn man sich der Mühe unterzieht, nicht nur die in kulturellen ­Konjunktur­zyklen weitergereichten Zuschreibungen zum Bauhaus-Programm zu verfolgen, sondern die konzeptuellen Schriften der Trägerfiguren des Bauhauses, dann blickt man auf eine merkwürdige Allianz zwischen der Geistaristokratie Kandinskys, der anthro­posophischen Gestaltwelt Ittens, dem politisch-szientistischen Positivismus eines Hannes Meyer und dem Handwerkersozialismus von Gropius. Die Frage nach den ­philosophischen

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­ egründungen der Moderne als eines politischen und sozialästhetischen Programms B führt zum Zugeständnis, dass, was gegen moderne Positionen im Wesentlichen eingewendet worden ist, insofern stimmt, als die ganze ästhetische Dimension im Bauhaus sich nicht auf das grundsätzliche Problem bezieht, wie überhaupt gedankliche Konzepte Wirklichkeit verformen, in welche sie transformiert werden. Dass Realität etwas sein könnte, das sich solchen manipulativen Einwirkungen prinzipiell entzieht, taucht in solch vorkritischem Denken nicht auf. Das mag nicht so wichtig sein, erhält aber sein Gewicht durch die gewissermaßen post-post-modernen Strategien einer Rehabilitierung des Erhabenen. Hier verschränken sich die ästhetischen Strategien der bürgerlichen Einzäunung des Ästhetischen durch das interesselose Schöne mit dem kulturellen Interesse einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts nach Maßgabe gesellschaftlicher Geschmackniveaus, die unangetastet bleiben. Moderne und gegenmoderne Aufwertungen der ästhetischen Utopie zur Erringung der Interesselosigkeit im Angesicht einer für Menschen nicht mehr fasslichen Ordnung, Harmonie und Erhabenheit sind Rückzugszonen beider, der modernistischen wie der gegenmodernen Ästhetikauffassungen. Es muss dagegen wieder ursprünglich problematisch werden, eine Idee in Realität umzusetzen. Wahrheit und Umsetzungen des als wahr Erkannten gehören verschiedenen Problemdimensionen an. Es gilt, die Differenz zwischen ideal angeeigneten Konzepten und unmittelbarer Wirklichkeit – als Vermittlung von Stofflichkeit, Materie, Widerstand – auch kommunikationstheoretisch zu verstärken. Das wesentliche Argument meines Vortrags ist also: Was immer wir behaupten oder wollen, kann nur so lange und insoweit gelten, als wir um die Dimension der Nicht-Verfügbarkeit wissen. Kommuniziert wird unter der Bedingung, dass die Voraussetzungen – wie auch die Produkte – der Kommunikation nie als identische verfügbar sind. Das ist ein anthropologisches Argument, das im aktuellen Kulturwandel in die Designdiskussion eingeführt wird: Mit Möbeln werden nicht Bedürfnisse befriedigt, Funktionskreisläufe aufrechterhalten oder gar alltägliche Handlungen als Problembeschreibungen aufgelöst. Möbel symbolisieren Lebensformen und wir symbolisieren diese mit ihnen, weil wir zur unabschließbaren Interpretation des Lebens gezwungen sind. Solche Aktualisierung hat die Designer erreicht, die mit dieser Verlagerung mehr oder minder zynisch umgehen können. Die Rechtfertigung des Stuhlentwurfs ist nicht mehr der Stuhl selbst in seiner Funktion, das Sitzen unsichtbar zu machen, indem der Stuhl zum Synonym dafür wird, dass Sit­zen keine Tätigkeit mehr ist, sondern weil bestimmte Funktionen interpretiert werden müssen, weil sie sozusagen als Funktionen nicht funktional sind. Es ist kurzsichtig zu sagen: Wir brauchen Stühle, um darauf zu sitzen, wir brauchen Häuser, um darin zu wohnen. Das gilt im nun wirklich nicht erfüllten politischen Sinne eines Kampfs um elementare Lebensvor­aussetzungen. Die wirklich politische Frage dieser Funktionsorientierung dreht sich tatsächlich um das Recht auf Güter, nicht um die Selektion der Stile. Die vorgeschlagene Reduktion der Tätigkeiten auf Einrichtung, auf Erfüllung und Delegation von Tätigkeitsvorgängen ist eine Verkürzung, die dem Mangel an Zuhandenheit substanzieller Güter entspricht. Der große Irrtum im Design ist die Funktionalisierung von Lebensformen und hat sich, in der euphorischen Programmatik der sozialästhetischen Emanzipation mittels

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verbesserter Funktionsbestimmungen, zu einem eigentlichen Selbstmissverständnis des Metiers ausgewachsen. Die Funktionalisierung von Lebensformen kann als GegenVerzeichnung begriffen werden, als Vernichtung derjenigen ästhetischen Dimensionen, welche Funktionen als Problemlösungsinterpretationen, nicht als Problemlösungen wahrnehmbar machen. Nur in dieser Dimension ist Design zivilisatorisch interessant. Design wird dagegen oft verstanden als Modell für beliebige Entwürfe einer Reduktion von Komplexität. Das zumindest liefert die designerische Selbstauffassung. In solcher Verkürzung dient Design für alle Arten von Vorgehen und Kalkülen als Modell. Dieses Modell ist bestimmt durch den Aufbau von Instrumenten, mit denen wir strategisch unser Leben so einrichten, dass wir von Aufwendungen entlastet sind. Die Stühle sind so gut, dass selbst die 80 Prozent Rückenbeschädigten der Bevölkerung von den Erfahrungen mühseligen Sitzens entlastet sind. Die Frage ist dann bloß: Was machen wir mit der Zeit, die wir durch diese instrumentelle Dispensierung gespart haben? Was hat ein Haus für eine Funktion als physikalisch definierbares räumliches Gebilde, wenn die Basis der Lebensform in ihrer Wahrnehmung durch einen kleinen Simulationsschirm grundlegender verändert wird als durch jeden noch so gelungenen Grundriss? Der Bildschirm, die technische Zulieferung alles Beliebigen ist das letzte universale Stilattribut, das stilübergreifend die Menschen vereint. Der Fernsehbildschirm projiziert tatsächlich die Ansichten der Welt und das ‚Überall‘. Er lehrt uns, dass zur ‚Welt‘ auch die medial vermittelten Darstellungen gerechnet werden dürfen. Solche Fragen, die Schnittpunkte und Umschlagzonen von materieller und immaterieller ästhetischer Erfahrung, sind immer noch ziemlich schlecht bearbeitet. Im Designbereich werden sie bis jetzt erst durch Figuren wie Hans Hollein aufgegriffen, der von solchen Sachverhalten Kenntnis genommen hat und diese dazu benutzt, sich selber zum Künstler zu salben. Der Verzicht auf Design gründet hier einzig in seiner Dekla­ration zur Kunst. Listigerweise holt derartige Selbststilisierungen das beschleunigte Altern der Novitäten immer schneller ein. Hollein, der sich nicht mehr als Entwerfer allein definiert, sondern als Ausstellender seiner ästhetischen Reduktionsformen (Zeichnung, Skulptur, Notiz etc.), musste parallel zur Retrospektive seines Werkes sich der Erfahrung anbequemen, dass seine postmodernen Pionierleistungen als nicht einmal der Antiquität sichere Produkte auf den Müll wandern. Zehn Jahre nach Ingebrauchnahme landet die Innenausstattung Holleins für das Österreichische Reisebüro auf dem Müll. Die Ingebrauchnahme dieser Ikone der postmodernen Avantgarde erweist sich als Verzögerung gegenüber der ästhetischen Einsicht in die Unzulänglichkeit aller Avantgarde. Nicht einmal Versatzstücke dieses Werkes finden heute ein Interesse. Niemand will sie unentgeltlich übernehmen. Gleichzeitig aber wandert diese Designleistung ab ins Museum des 20. Jahrhunderts und feiert Wiederauferstehung in Gestalt eines goldenen Turnsaals oder als Sammlung von signierten Bierkartonzeichnungen. Diese Konsequenz der Verkunstung von Design ist abfalltheoretisch kein Problem, dürfte aber den Stilprätentionen der Gegen-Moderne doch Herzklopfen bereiten. Design erscheint auch hier, gegen die deklarierte Absicht, als Interpretationsform von Handlungen und Lebenszusammenhängen. Die Verkunstung des Designs sichert ausschließlich neue Luxusgüter, Stilzugehörigkeiten, die sich parallel zur Machtverteilung in der Gesellschaft realisieren lassen. Nur kraft Zugehörigkeit zu Deklarationsmöglichkeiten

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von Machtbehauptung macht es einen Unterschied, ob man sich ein Haus von Mario Botta leistet, ob die künstliche Veredelung des Alltagskitsches als Memphis-­Programm angeschafft wird oder ob man die rohen Alltagsgegenstände vorzieht, die keine Veredelungen erfahren haben. Selbst der Verzicht auf Stilprägungen überhaupt kann Strategie einer Selbstdeklaration sein. Anti-Design als Wachstumsbranche für einen Berufsstand, der sich nicht mehr als Zunft definiert? Warum nicht? Auf jeden Fall kann spätestens, seitdem Mitterrand seine Beratungszimmer durch Philippe Starck hat ausstatten lassen, von einer ästhetischen Innenausstattung der Macht und der Rückkehr in die Design-Salons wieder konsensuell gesprochen werden. Mit solchen Verhaltensweisen und Vorgaben lässt sich ein Markt sichern. Aber der Markt hat sich grundlegend gewandelt. Es gibt keine dominierenden Trends mehr im Design. Es gibt sie auch nicht mehr in der Mode. Was man sinnvollerweise in solcher Richtung noch behauptet, kann einzig der Widerspruch sein. Wer ihn nicht gleich zu dem mitliefert, was er behauptet, ist mit Sicherheit nicht ‚in‘. Aber ein ‚in-trend‘ wieder­ u ­ m ist gerade als ‚in-trend‘ ganz eindeutig ‚out‘. Nur was ‚out‘ ist, ist ‚in‘. Gesamtgesellschaftlich spielt das keine Rolle, auch volkswirtschaftlich nicht. Deshalb gehen immer mehr Warenhäuser dazu über, alles gleichzeitig anzubieten. Endpunkt dieses Angebotes ist letztlich (und logisch) wieder die Abwertung der Gegenstände. Was parallel dazu die Machtstrategien als Deklarationen absichert, sind nur die Erkennungszeichen, die Legitimationsetiketten der Zugehörigkeitserklärung. Es reicht, wenn wir die Stildeklarationen mit uns herumtragen. Kulturgeschichtlich wird die Gegenwart geprägt durch Einschätzungen, dass selbst die allergewöhnlichste Kleidung auszudrücken hat, dass die Gewöhnlichkeit eine zeichentechnische Selektion ist und dass diese Zeichenhaftigkeit materiell die Zurückweisung der Veredelung reflexiv zum Ausdruck bringen muss. Das lässt sich gar nicht mehr unbelastet betrachten und belegt für den Alltag, dass Design Kultur immer dann unterbietet, wenn Komplexität reduziert wird. Selbst das Gewöhnliche ist so komplex wie nie zuvor. Die neueste Werbung von ‚Lacoste‘ zeigt den vorläufigen Endpunkt einer Strategie der Markenartikel-Inszenierung und damit der aktuellen Industriekultur. Im September dieses Jahres 1988 brachte das Wochenendmagazin, also das ‚Suplementario‘ von ‚El Pais‘ auf sechs Seiten – jeweils auf der rechten Seite, in einem sechsteiligen Umblätterungsschnitt also – eine Werbung, die in Akribie – und in großer Verschwendung, weil jeweils bloß in der Mitte der Seite ein Signet abgebildet und mit richtig oder falsch bezeichnet war – zunächst fünf falsche Signete, d. h. fünf Fälschungen als ‚falsch‘ vorstellte. Erst das sechste Zeichen war als echtes ‚Lacoste‘-Signet ausgezeichnet. Man müsste, um die Unterschiede zu überprüfen, die Seiten herausreißen und nebeneinanderlegen. Das heißt: Die Kenntnis der Fälschungsnuancen verhilft vorerst ebensowenig zur Zugehörigkeit zum Lacoste-Stilclub wie das Tragen des richtigen Krokodils. Es geht hier bereits darum, dass die richtige Zugehörigkeitsdeklaration überhaupt nur noch über die Propagierung der Fälschungen erreicht und mo­tiviert werden kann und dass einzig die Fälschungen diese Authentizität beglaubigen. Deshalb wird die Technik der Bezeichnung, erst recht die werberische Modellbildung der Komplexität dieser Bezeichnung, zunehmend wichtiger als die Ästhetik der primären Gebrauchsfunktion. Darin gelangen die

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Markenzeichen an ihr historisches Ende. Lebten wir in besseren klimatischen Verhältnissen, reichte für diesen Effekt, dass wir uns der Kleider entledigen und allein das Krokodil, das richtige oder das richtig falsche, auf unserer Haut spazieren führen. Diese Nuancierungen zu beschreiben und nicht zu zeigen, führt zu einem weiteren wesentlichen Punkt im Problemfeld der Aktivierung der Rezeption: die Modifikation der imaginären Bilder durch ihre Benennung. ‚Design als Macht‘ lässt sich wunderbar herleiten aus dem Barock. Nicht nur Versailles, sondern die frühen Statuen von Bernini, die sich in essenzieller Konzentration – in der Galleria Borghese in Rom befinden, die nicht Raum-, sondern hierarchische Zeitachsen projizieren, liefern suggestive Vorbilder für die Plausibilisierung durch Bildhaftes schlechthin. Ich tendiere dazu, mich dieser Ebene zu verweigern, um nicht die Beliebigkeit des Zitates und des Zitierens als denjenigen Mechanismus anzuheizen, den ich zu kritisieren beabsichtige. Sachlich lässt sich erweisen, dass der Ikonoklasmus der Kunstgeschichte heute im Designbereich ausgefochten wird. Das hat die documenta 5 (1972) schon hin­sichtlich der Werbung benannt.1 Heute sind die Gegenstände als Bilder selbst und nicht nur externe Rhetoriken ihrer Überhöhung in diese Debatte ein­gespannt. Die Produkte, die Auslagen, die Läden, die Werbung, sie zeigen, dass aktuell mit einem erneuerten Sensualismus operiert wird. Es wird, fälschlich, gegen das Bauhaus und die Moderne mit dem Vorwurf argumentiert, die Menschen seien emotional ausgehungert worden, man habe das Leben in einen Darstellungsraum für bloße Funktionen verwandelt: das richtige Sitzen, aber nicht mehr das gemütliche Sitzen als Vision für Zulässiges. Seit einigen Jahren grassiert dagegen die marktstrategisch geadelte Strategie eines Ornamentalismus, der sich mit den Ornamenten nicht begnügt, sondern zur Propaganda fortschreitet, die Zustimmung zum Sen­sualismus mache die Menschen schon deshalb glücklicher, weil ihre Stühle bunter seien. Das ist, ohne Verkürzung, die letzte Designtheorie der avancierten Praktiker dieser Richtung. Da wir – als gute Schüler der letzten französischen Simulationsphilosophien – gelernt haben, dass die Demokratie die Menschen nicht glücklicher gemacht hat, können wir also direkt zur Verzierung, zum Ornament, zur Dysfunktion voranschreiten und Möbel herstellen und verzehren, die aussehen wie Leoparden und Tiger, Wilde und überhaupt ­alles, was nicht ‚Sofa‘ oder ‚Möbel‘ denotiert und repräsentiert. Gerechtfertigt wird dieser Sensualismus mit dem neuen Hang zur alten Bildverehrung: Gegenstände als Bilder, deren Gegenstände wiederum Verehrung bezeugen. Es gibt zu diesem Thema nicht nur den Hinweis auf die historischen Bilderkriege von der Spätantike über Byzanz bis in die Moderne und die Verrechtlichung der Abwertung mittels Zensur und Sittlichkeitssanktionen. Es ist geboten, auf die kunsttheoretischen Aspekte und Probleme bestimmter Darstellungsmethoden (kursorisch) zu verweisen. Es gibt eine Spezies von Hermeneutikern, die ein merkwürdiges Verhältnis zur Geschichte und zur Kunst pflegen. Sie wollen nicht ein Subjekt, was traditionell das hermeneutische Anliegen als moralisches Bildungsideal darstellt, über seine Dispositionen und Interessen an der Bildwahrnehmung aufklären. Sie bestehen darauf, den Rezipienten – dessen Idealfall sie an sich selber behaupten – bloß bis zu dem Punkt an die Bilder heranzuführen, an dem die eigentliche Bildrezeption in der staunenden, schweigenden Verehrung der Bilder versinkt und deren ontologisches Schweigen in Ehrfurcht verwandelt. Das ist –

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gegen die nominelle Deklaration – Bilderfeindlichkeit.2 Psychohistorisch lässt sich solche vorgebliche Verehrung, die gegen Verzeitlichung und Versprachlichung sich richtet, als präventive Abwehr einer horrorisierten Vorstellung interpretieren, dass Bilder Wirkungen haben können. Das ist in aller Deutlichkeit die traditionelle Haltung klassischer Bilderfeindlichkeit. Dagegen erscheinen Ikonoklasten – und bestimmte Dispositionen zum Bildersturm – als die Letzten, die Bilder ernst nehmen. Die Thematik der Verzeichnung liefert im einzelnen Visualisierungen für die Reflektierbarkeit ikonoklastischer Traditionen, die für das Design relevant werden könnten, z. B. die Konfrontation mit Verzeichnungsvisionen eines Duchamp. Als ästhetische Ausdrucksform ist die Verzeichnung des Designs die Frage nach der Bedeutung dessen, was die Gegenstände nicht sind, sondern ermöglichen. Nicht nur im Rahmen der Modernismusdebatte, sondern eigentlich schon immer ist es falsch gewesen zu sagen, der Mensch erfindet Funktionen, die ihn in Gestalt von Prothesen in seinen Lebensversuchen unterstützen. Das Prothesendesign, das technologische Design ist ein Ausdruck primärer Analogien zur Natur, wohingegen die Mythen eher von der grundlegenden Kulturtatsache der Imitation mit dem Ausdruck des Menschen als eines Prothesengottes sprechen. Die Menschen der Urzeit flüchteten sich demnach in Höhlen und merkten durch den Schutz, der ihnen da gewährt wird, dass ein solch höhlenartiges Gebilde sich besonders als schützende Umschließung für den Menschen eignet, worauf sie ihr Imitat zum Ausgangspunkt des Hausbaus nehmen und dadurch überhaupt erst einen Funktionszusammenhang entdecken. Wie entdeckt man die Funktion einer Treppe? Die Naturanalogie und die rohe Wirklichkeit liefern nur Bedingungen der Möglichkeit, ein solches Gebilde als Automatismus zu nutzen. Populären Überzeugungen zufolge, lernt der Mensch aus solchen Imitationsanalogien: Er entdeckt an der Natur selber mögliche Zusammenhän­ge, die er sich artifiziell zunutze macht: Das Treppenartige, das durch Auswaschungen sich darbietet, erscheint dann als Voraussetzung für die Wahrnehmung, eine Treppe für das Hinaufsteigen nutzen zu können. Die Natur liefert Bilder einer wirklichkeitsgerecht übertragenen Einfachheit. Diese in verschiedensten Ausprägungen populäre Theorie ist unsinnig und falsch. Die Entdeckung, dass eine Treppe zum Emporsteigen dient oder eine Höhle als Wohngebilde, ist abhängig davon, dass der Wahrnehmungszusammenhang vorgreifend formuliert worden ist. Die Wahrnehmung ist die Bedingung des Nutzens von Funktionen, nicht der analogisch vorgegebene Gegenstand, der als Natur sich darbietet. Die Frage der Verzeichnung des Prometheus – als Ausstellung wie als Diskurs –, ob nämlich Zeichen eine grundlegendere, primäre Wirklichkeit verdrängen, ist eine kulturell berechtigte Frage. Aber in ihr ist eine Trennung bereits unterstellt, die nicht haltbar ist. Es gibt nicht Zeichen, die Wirklichkeit verdrängen. Was heißt denn ‚Wirklichkeit‘? Das kann doch nur ­Gegenstand einer medial vermittelten Erfahrung sein, wenn als mediale Vermittlungsform bereits Denken und Sprache, überhaupt Imagination und Wahrnehmung der Menschen anerkannt werden kann. Da die organische Grundlage dieser Vermittlung zur Naturge­schichte zählt, ist Vermittlung in dieser Hinsicht bereits Qualität einer vorgeblich unmittelbaren Wirklichkeit. Die mediale Verzeichnung kann also als Selbstdifferenzierung des Wirklichen begriffen werden, wenn die Bezeichnungen in sich selber als Uneinholbarkeit des Be-

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zeichneten durch die Zeichen strukturiert werden. Zeichen können in dieser komplexen Selbstvermittlung und Eigendifferenzierung niemals ‚Wirklichkeit‘ verdrängen, weil Wirklichkeit als Begriff ein zeichentheoretisches Konstrukt ist und weil die Unaussprechlichkeit der opaken Wirklichkeit (‚wirklich‘) die Uneinholbarkeit der Bezeichnungen ins Leben selber einschreibt. Die Frage ist vielmehr die, ob das Konstrukt wie das Bewusstsein der Uneinholbarkeit den Erfahrungen angemessen sind oder nicht. Entscheidend ist, ob die ästhetische Verzeichnung von Funktionen eine Kultur lebensfähig macht oder nicht. Das wird erst im Nachhinein entscheidbar an der Tatsache der Überlebensfähigkeit. Nur die Beobachtung des Weiterexistierens liefert den Wahrheitsbeweis dieser Anpassungsleistung. Was man dagegen als Wandel und synthetischen Zusatz ­sagen kann, ist, dass es immer mehr Zeichenstrategien gibt, bestimmte und bestimmbare Konzepte von ‚Wirklichkeit‘ durch weitere Artefakte zu verdrängen und aufzulösen. Solche Zeichenstrategien kann man in den letzten 15 Jahren unter den Titel des ­Lifestyling stellen. Das ist eine komplizierte Geschichte. Der Begriff beschreibt zunächst nur die Bewegung, mit der man punktuelle, flüchtige Aspekte eines individuel­len Stilbedarfs nach außen bringt und als Darstellung durchzusetzen versucht. Die Popkultur hat das entscheidend vorgeprägt seit Mitte der 1970er-Jahre mit Roxy Music, Culture Club, David Bowie. Die Strategien sind in ihrem zeichentheoretischen Zuschnitt immer reflektierter und artifizieller geworden. Der Wechsel zwischen den sexuellen Persönlichkeitszuschreibungen und Identitäten, die schillernde Figur des Androgyn, dessen Mythologie alltagskulturell verselbstständigt worden ist, zeigt nicht nur die Lust an Tarnung und Dekor an, sondern auch, dass der Wechsel zwischen Stilausdrücken das ist, was vom Stil überhaupt noch bleibt. Die Synthese verschiedener Stillosigkeiten, das Hin- und Hergehen zwischen diversen Repertoires haben dazu geführt, dass in immer kürzerer Zeit die jeweiligen subkulturellen Widerstandsformen hochkulturell bereinigt und auf Prestige getrimmt wurden. Die provokante Kleidung der Punks, die ihrerseits eine Umcodierung und Ausstülpung der bürgerlichen Doppelmoral mit dem Ziel einer Enthüllung der selbstzerstörerischen Aggressivität dieser Kultur ist, wurde in relativ kurzer Zeit in eine marktstrategische hochkulturelle Mode umcodiert, welche den vitalen Impuls als veräußerlichtes Zeichen dinglich transportabel machte. Solche Veräußerlichung von Vitalität ist ‚Lifestyling‘. Das nimmt auf allen Ebenen und mit allen Ausdrucksformen zu. Was sich hinter solchen Stilisierungen verbirgt, ist aber nicht nur ein weiteres Zei­chenrepertoire, sondern, viel technischer, die Frage an die Apparatisierung des Menschen durch diese Programme selbst. Ähnlich wie in der Beschrei­bung von Paul Virilio, dass der ‚reine Krieg‘ die Verlagerung der Kriegsführung in die Kriegsvorbereitung darstellt, die sich in dem Ausmaße totalisiert, wie der reale Krieg nicht mehr führbar ist, und die deshalb den Apokalyptismus mittels Kriegsvorbereitungshandlungen in das Leben verlängert, muss die Apparatisierung verstanden werden. Das Selbstverständnis der Menschen auf dem suggestiven Hintergrund von Untergangslust und Untergangskritik ist es, was die Designdebatte zu einer Möglichkeit macht, diese Selbstverhältnisse konzeptuell zu verdeutlichen. Die Mode am Ende der 1980er-Jahre, das ist weder Lacoste noch eine andere Marke, weder ‚In‘-Deklaration noch ‚Out‘-Koketterie, höchstens der Wechsel dazwischen. Allerdings kann man jetzt

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schon sagen, dass die Mode der nächsten Dekade nicht Kleider sind, sondern das Bodybuilding, d. h. die Apparatisierung des Körpers selbst als dinglicher fremder Ausdruck eines dezisionistisch verkürzten eigenen Programms. Der Körper selber wird zur Mode, zu ihrem Subjekt, ihrem Objekt, dem Darstellungsraum und dem Darstellungsmaterial. Die Mode wird dann lesbar als eine ins Psychische eingreifende stra­tegische Verzeichnung der Suche nach dem Unerbittlichen. Dieses Unerbittliche als Unverfügbares ist dann wieder die rohe, unbearbeitbare, unmittelbare Realität, die zugleich als Produkt medialer Selbstvermittlung der Strategien sich darbietet. Es scheint, als ob man Wirklichkeit nur noch am exzessiven Punkt der Überspannung eigener Belastungsfähigkeit als wirklich erfahren könnte. Dieses strategische Probehandeln bewährt sich darin, dass man sich selber zum Objekt der eigenen Strategien macht, die nicht mehr umkehrbar sind oder kontrolliert werden können. Diese Haltung ist, bezeichnenderweise, das Gegenteil der Simulationsthese, die, vor allem in der Baudrillard’schen Ausprägung, vollkommen falsch ist. Dass alles indifferent wird, bedeutet, dass diese Indifferenzbehauptung sinnvoll nur sein kann auf dem Hintergrund der Unterscheidung, der Deklarierung, dass Indiffe­renz different, nämlich bedeutungssignifikant ist. Man sollte auch theore­tisch nicht naiver tun als man es aus Selbstbeobachtung gewohnt ist. Solche Indifferenzbehauptung ist eine Differenzierungsleistung. Es geht darum, diese Indifferenz als aktive Vergleichgültigung des Selbstbezugs zur Darstellung zu bringen. Nur in dieser Selbstdifferenzierung steckt das Aufklärungspotenzial der Simulationsphilosophie. In dieser Richtung lehrt sie uns, Wahrheitsbehauptungen als Lügen zu buchstabieren und damit auch die Indifferenzbehauptungen ihres trügerischen Scheins zu überführen. Für das Problem solcher Selbstbezüge ist an die gesellschaftstheoretische Vorprägung zu erinnern, welche die Totalitätskategorie bis zur Kritischen Theorie geliefert hat: Wie ist es möglich, die Gesellschaft als Ganzes denunzierend zu beschreiben, wenn man doch nur Teil der Gesellschaft ist: Diese Fragestellung führt methodisch zum Scheitern der Simulationstheorien an diesen selbst. Immer, wenn sie geäußert werden, sind sie schon falsch, weil sie nur behauptbar sind kraft Differenz zwischen Differenz und Indifferenz. Nur deshalb ergeben sie Sinn. Deshalb sind sie technisch-mediale Strategien und als Philosophien Ausdruck der alteuropäischen Fixierung auf Reflexion, für die gerade Baudrillard ein Beispiel gibt. Wird aber das Medium des Reflektierens gewechselt, zum Beispiel durch eine Rückkoppelung der Militärstrategien in die Ästhetik der Rockkultur, dann wird die reflexive Behauptung abgelöst durch ein Benutzen von Strategien, mit denen das Produzieren z. B. von Videotapes nicht durch Simulation, sondern durch Differenzierung der Autorenrolle entschieden wird. Wie weit hier Indifferenzbehauptungen sinnvoll sind, ist schwer zu entscheiden, weil ge­rade die Authentizität hindert, über Archive bedingungslos zu verfügen. Der Video­clip führt eigentlich dialektisch zur Abschaffung des Starkults der ganzen Popularkultur seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Immer schnellere Schnittfolgen von immer mehr Gruppen, die sich selber mit ihren privaten Neigungen immer punktueller lancieren, führen automatisch zur Demontage der Starfiguren, weil kulturelles Material verfügbar und in seiner Struktur deutlich gemacht wird. Richard Wagner wird mit seinem Gesamtwerk in durchschnittlich zehn Sekunden abgehandelt. Das gilt auch für

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die Messbarkeit des Rezeptionsniveaus. Die Beschleunigung der kulturellen Zitate hat die Rezipienten so schnell geschult, dass sich sinnvollerweise für Videoclips niemand mehr interessiert, es sei denn, der Produzentenstandpunkt wird kulturell und in seinem Selbstbezug stärker herausgestellt. Der Rezipient als Produzent, das ist technisch möglich und simulatorisch sinnvoll: Das Durchspielen der eigenen Imagination an den Tastaturen, die alles universal verfügbar machen, was je an ästhetischen Ausdrücken und Formulierungen geleistet worden ist, beschreibt Designstrategien insgesamt als Verfügungsgrößen, d. h. als Strategien der Macht. Jeder Rezipient sitzt an den Tastaturen einer imaginären Kulturgeschichte, die vorspiegelt, als Film, als Sequenz, noch die individuellste ästhetische Erfahrung als Ausdruck potenzieller Kulturprogramme begreifbar zu machen. Das ist die programmatisch kulturelle Umkehrung der Frage nach dem Biochip. Coppola arbeitete früher daran, Filme zu konzipieren, in denen der Betrachter zum Akteur dadurch wird, dass neurologische Reize als Bildsimulationsinputs abgerufen und an die Filmapparatur rückgekoppelt werden. Solche Intentionen kreisen immer wieder, unbesehen der wissenschaftlichen Realisierungschancen, um die Frage nach dem Stellenwert des Authentischen und seiner Differenz zur Macht. Design als Macht, um damit zur Schlussbetrachtung überzuleiten, ist kulturgeschichtlich mit Design überhaupt identisch. Denn die ersten Design-Hochschulen, die im Zeitalter der Gegen­reformation gegründet wurden von Vasari und Zuccari als Accademia del Disegno – ‚Zeichnung‘ als Entwurf und Primat des ‚concetto‘ – waren eindeutig vom Interesse bestimmt, mit den demokratischen Repräsentationsmodellen zu brechen. Vasari hat das selber mit dem Umbau der Piazza della Signoria in Florenz unter Beweis gestellt, indem er die feudalistischen Achsen so legt, dass die überlieferte Konzentration auf das Innere des Platzes nicht mehr möglich war. Die Tradition von Design als Macht reicht bis zu ihrer Kontestation durch den Anti-Akademismus, den Anti-Klassizismus, den Bruch mit der Verhinderung der sozialen Veränderung als eines ästhetischen Momentes. Gegenüber dem bloßen Positivismus des Utopischen, das als Gegenspiel zum Etablierten beansprucht wird, muss der Machtbegriff differenziert werden. Hannah Arendt zum Beispiel unterscheidet Macht und Gewalt dadurch, dass ein einzelner nur Gewalt, Selbstbewaffnung an sich reißen kann, aber niemals Macht, wofür er die Zustimmung anderer, kommunikative Prüfung seiner Eigenhandlung, braucht. Macht hat, wie immer missbraucht, eine kommunikative Grundlage: An die Stelle bewaffneter Selbstbehauptung muss die Einigung über Strategien treten. ‚Strategie‘ ist also keineswegs eine abstrakte Verfügung über Beliebiges. Macht ist, ohne damit schon Habermas’sche Abstraktionen zu übernehmen, ein Gegenmodell zu allen Fiktionen der Autopoesis, die in Luhmann’scher Systemausdehnung demnächst auch noch auf die Kunst überzugreifen drohen. Kunst als das nächste System einer Komplexitätsreduktion, das die Autopoesis als Kunst behaupten wird, das wird mit Sicherheit – wie immer unter dem Zeichen der Novitäten – auf die uralte nominalistische Strategie der Sicherung des Unterschieds zwischen ‚schön‘ und ‚hässlich‘ ausgerichtet sein. So konventionell sind derartige Gegenwartsdenker ja allemal und so kalkulierbar ihre theoretischen Transzendenzattitüden. Autopoetische Systemfiktionen sind gefährliche Illusionen.

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Dagegen denotiert ‚Macht‘, dass man sich mit jemandem überhaupt einigen muss. Das geht nur unter der Vorgabe, dass dieser andere widersprechen kann. Dieses Vorgehen ist letztlich produktiv nur dadurch, dass der andere in seinem Widerspruch unverständlich bleibt. Wirklichkeit ist deshalb immer ein Produkt einer Beschreibung, eine Interpretation, die nur deshalb notwendig ist, weil Menschen überhaupt denken, fantasieren, imaginieren und nicht unmittelbar in einem autopoetischen System der Natur funktionieren. Wir müssen von der Nicht-Identität zwischen Denken und Wirklichkeit ausgehen. ­Mediale Leistungen müssen so formuliert sein, dass die Bezeichnungen verdeutlicht werden. Denn nur so können sie auch bestritten werden. Macht als Gegenstrategie zu solchen immer ­wieder neobarocken und neofeudalistischen Herrschaftsansprüchen ist ein subver­sives Prinzip, weil sie verhindert, dass ein Einzelner allen anderen seine Gestaltungsvisionen aufzwingt. In diesem Machtbegriff steckt eine Utopie. Utopie nicht im Sinne eines Handlungsdruckes, sondern einer Reflexion. Wir müssen versuchen, über die mediale Bezeichnung von Wirklichkeit die Wirklichkeit komplexer zu machen, sie zu komplizieren, um uns vor voreiligen Handlungen zu schützen, in denen wir wieder zum Reduktionismus flüchten. Design muss in dieser Hinsicht zum sozialästhetischen Innovationsimpuls zurückfinden. Es gilt, diesen Zusammenhang zu vergegenwärtigen, nicht, das Verhältnis von Form und Funktion als einziges Problem fortzuschreiben. Es gilt, sich gegen diese altertümlichen Debatten das historische Erbe anzu­eignen. Die Linie und Grenze dieser Aneignungsmöglichkeit verläuft mit Sicherheit – und das ist das einzig Gewisse daran – nicht dort, wo heute über Moderne und Postmoderne diskutiert wird.

Zuerst erschienen in: Hermann Sturm (Hrsg.), Verzeichnungen. Vom Handgreiflichen zum Zeichen, Klartext Verlag, Essen, 1989. Dem Text lag zunächst ein frei gehaltener Vortrag unter dem Titel „Gestaltung als ­ästhetisch verzeichneter Gebrauch – Design als Macht“ für das Symposion im Kontext der Ausstellung von Hermann Sturm „Der verzeichnete Prometheus. Kunst-Design-Technik“ im Folkwang Museum Essen vom 22. Oktober 1988 zugrunde. Bazon Brock mahnte anhand der gedruckten Fassung gelegentlich und wiederholt an, dass Kerngedanken in diesem Essay unausgewiesener Weise von ihm stammten. Ich verzichtete auch für die schriftliche Ausarbeitung auf alle möglichen bis notwendigen Referenzen. Aber er hat recht: In jenen ­Jahren assimilierte ich Brock’sche Denkfiguren – namentlich die Utopie des Unterlassens oder der Nicht-Ausführbarkeit sowie die Problematik bruchloser Umsetzung einer Idee in die Realität – in einer Weise, die, wie bei anderen, zu einer Art mythischem Unbewussten wurden. Das sei hier, in der zeitlichen Distanz zu Text und Referenz, erwähnt und nachgetragen.

1

2

Vgl. Bazon Brock, Ein neuer Bilderkrieg. Programmtext des audiovisuellen Vorwortes der d 5 synchron zu 2000 Dias der AV-Präsentation, in: Katalog documenta 5, Kapitel 2, Kassel 1972 [dass. unter dem Titel: Wirklichkeiten in Bildwelten heute, 8. Ausstellung im Haus Deutscher Ring, Hamburg 1973]; Anm. Verf. 2020. Vgl. dazu Bazon Brock, Der byzantinische Bilderkrieg. In: Martin Warnke (Hrsg.), Bildersturm, München 1973; Anm. Verf. 2020.

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3  An der Schwelle zur Postmoderne – Wahrnehmung, Teleologie, ­Technologie

3  An der Schwelle zur Postmoderne – Wahr­ nehmung, Teleologie, ­Technologie Vorab: Die Erfahrung des Scheiterns von Problemlösungen führt in eine Situation, die ambivalent bleibt. Partikularisierung und prinzipielle Unentschiedenheit treffen auf Überbietungsfiguren. Ein entschiedener Abschied wird nicht als Aufgabe formuliert, sondern als schon ­erreicht behauptet. Die Suggestivität der Unplanbarkeit setzt sich ab von historischen Handlungsmodellen, die instrumentelle Vernunft, also ein Szenario von Strategien für Lösungen Schritt auf Schritt, behaupten. Im Inneren der Gesellschaft treten neue Erfahrungen und Widersprüche auf: Auseinanderbrechen des Zeitgetriebes, Krise der Arbeit, Erschöpfung der ästhetischen Subjekte liefern die Stichworte. Reicht es, deviant oder episodisch zu bleiben? Markiert eine postmoderne Ästhetik einen entscheidenden Fortschritt, sofern es solchen überhaupt noch geben kann? Unentscheidbarkeit, De-Hierarchisierung, Polyvalenz und Heterogeneität markieren einerseits substanzielle, von der Moderne abweichende Erfahrungen, andererseits sind auch sie von ideologischen Setzungen und peripher irrationalisierten Hoffnungen nicht frei. Bleibt also der insistente Fortgang der Erörterungen, die Auseinandersetzung mit dem Macht- und Handlungsanspruch des Designs einerseits, den theoretisch divergierenden Behauptungen andererseits.

300  AN DER SCHWELLE ZUR POSTMODERNE – WAHRNEHMUNG, TELEOLOGIE, ­T ECHNOLOGIE 

KENNWORT: GRENZBEGEHUNGEN (AUSZÜGE) Inhalt und Absicht Bilder und Gestaltungen vermitteln Botschaften. Man kann sie betrachten, man kann sie lesen. Es gibt wechselnde, kontinuierliche und diskontinuierliche Übereinkünfte dar­ über, wie Bilder zu lesen und welches die Verständigungsmittel dazu seien. Nun stehen aber das Bild, der Kitsch, die gute Form, das Gestaltete nicht als isolierte Botschaft oder als beliebige Projektionsmatrix im leeren Raum. Sie sind vielmehr Sender und Empfän­ ger zugleich. Die Bilder der Produzenten verhalten sich zu den Bildern der Rezipienten über verschiedene und nicht einer einzigen Logik zuschreibbare Medien: Es geht immer auch um Weltbilder, die sich bis ins kleinste Detail und Einzelstück fortschreiben, Bil­ der nicht im ideologischen Sinn des verfänglichen und verführenden Inhalts, sondern des Bildsinns im Umfeld der ästhetischen Arbeit, der Wahrnehmungsproduktion, d. h. der Erzeugung der Weltdeutung in privilegierten Bildweisen selbst. Daraus ergibt sich eher ein Geflecht von Codes und Zeichensystemen als ein Code oder ein System, eine Vielfalt von Sprechweisen und Begriffsebenen, deren Zusammenspiel in keine endgül­ tige Richtung aufgelöst ist. Ein vorerst unentschiedenes Spiel. In den ‚Grenzbegehun­ gen‘ geht es um grundsätzliche Versuche, dem komplexen Feld des ästhetischen Spiels sich grundsätzlich zu nähern. Je nach Umgebungsdiagnose folgt aus der Aufgabe des Designs zwischen guter Form und Kitsch immanent die Rekonstruktion grundsätzli­ cher Vorbedingungen. Es geht um Versuche einer Vorklärung der sich selbst reflektie­ renden Erkenntnis und die Magie des Bildraums darin, in einem weitgespannten Sinne. So wie jedes gestaltete Objekt und jedes Bild nur eine jeweilige diskrete Form objekti­ vierter Wahrnehmung darstellen, so sind die Strukturen des Bildraums, die sich darin äußern, nicht restlos, sondern nur näherungsweise definierbar. Deshalb ‚Grenzbege­ hungen‘, Näherungsversuche. Mit dem Ziel, eine montierte Ganzheit im jeweiligen Zu­ griff prinzipiell unabgeschlossen zu halten. Versuche, die mal wissenschaftlicher, mal essayistisch, mal polemisch, mal didaktisch, mal kunsthistorisch, mal szenisch, mal kommentierend und mal bloß fragend sind. Die Vielfalt der Formen soll für das Weiter­ treiben des Bedarfs am Inhalt der These von der Vielfalt einstehen. Ausgangspunkt ist die Nachzeichnung einiger relevanter und im guten Sinne problematischer Begriffe, As­ pekte und Thesen des Wettbewerbbeschriebes (v. a. in den Unterlagen I und II, s. nach­ folgend ‚Verzeichnis‘). Das Design gilt hier als Sonderfall der ästhetischen Urteilskraft, der Wahrnehmungsbildung, der geschichtlichen und gesellschaftlichen Vernetzung in der Produktion von Schönheit, Genuss und Funktion. Grundfragen dieser ästhetischen Praxis stehen als ein Bereich in Zentrum, auf dem Hintergrund der Frage nach den eruierbaren neuen Technologien der Bilderzeu­ gung und der Steuerung über Bilder, die Magie des Bildraums im alten und elektronisch neuen Sinne. Schließlich dienen die Versuche einer Diagnose zum einkreisenden Ertas­ ten des möglichen versöhnenden-versöhnten Dritten: der Vision einer ‚wahren‘ – und damit auch ästhetisch qualifizierten – Identität von Funktion und Gestaltung. Daraus

KENNWORT: GRENZBEGEHUNGEN  301

hätten sich nochmals konkretisierbare und kollektiv diskutierbare, kritikfähige Gestal­ tungskonzepte im Gegenzug zu einer sich abzeichnenden Epochenschwelle der Bilder­ technologie abzuleiten, die beste Traditionen aufarbeiten muss, wenn ihre Vision sich retten will. Und von sich weiß, wie sie das tun könnte.

Kennwort ‚Grenzbegehungen‘ – Verzeichnis der Unterlagen Der Baukasten für eine Verständigung über die gegenwärtigen Probleme und Entwick­ lungen in den Bereichen Gestaltung, Form, Ästhetik liefert unter dem Kennwort ‚Grenz­ begehungen‘:1



I Zwei Ansichten zur Linie – Design und Disegno II Regulierung der Imagination III Bilder und Schatten – Schwierigkeiten im Umgang mit dem Schönen IV Skepsis gegen Bilder V Rettung oder Liquidation der Universalien? – Über Semiotik VI Alltag als Kultur? VII Alltag und Kultur – Szenario für eine Bildersammlung im ­Spiegel der eingeübten Wahrnehmungskontrolle (für eine ­didaktische Ausstellung) VIII Film als Magie IX Für eine Zertrümmerung der Bilder X Fragenkatalog eines imaginären Forschungsinstitutes

I  Zwei Ansichten zur Linie – Design und Disegno Styling, Konzeption, Produktegestaltung, das totale ästhetische Umfeld als Handhabe für eine über Absatz vermittelte Identifikation von Gebrauchshandlungen und der Tausch­ barkeit von Bedürfnissen: Das stellt Fragen, die das gelungene visuelle Konzept an Fra­ gen der Qualifizierung der Form, der Objekte, der Umgangsweise und der Kenntnis der appellativen Strukturen des Bildes zurückbinden. Dabei ist das zugerichtete Design im Unterschied zum kulturell qualifizierten humanistischen Bilder-Lesen kein struktureller Aufbruch oder Abfall, sondern eine Variante. Man kann zum Problem der technischen Ordnung ‚Design‘ eine Reihe aufstellen: • Entwurf/Zeichnung • technische Ordnung • Produktegestaltung

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Visualisierung der Objekte als Signal Visualisierung des Konzepts als der Idee für ein Objekt Organisation der appellativen Bilderelemente (Selektion) Imagination von realisierten Objekten im Horizont ­zwischen ­Erwartungshaltung und kontrollierbarer Innovation • ­Integration von Stereotypie und Innovation • visuelle Organisation von Gebrauch: Konsumtion und ­Verzehr, Verhalten und Gesten • Koordination der primären Sinnfunktionen, d. h. der wahrneh­ mungsspezifischen Bedingungen einer bildlich organisierten Erkenntniskraft, einer primären Begriffsbildung. Diese Reihe folgt semiotischen, nicht ideologischen oder technischen Kriterien. Das Problem der Qualifizierung und Wertung visueller Ereignisse hängt von der semio­ tischen Komplexität ab, mit der das Bewusstsein von der Re-Präsentation der Dinge als eigenständiges Feld der Objektschöpfung selber ins Bewusstsein tritt; als eine durch Genuss und privilegierte Bedürftigkeit ermöglichte Zugangsweise zu Dingen, die Gebrauch nur bieten, wenn sie mehr wert zu sein scheinen, als ihrem Gebrauch zukommt. Nun lässt sich aus der semiotischen Struktur leicht ableiten, dass die syntakti­ sche Organisation der technischen Produktionsmittel des Designs völlig anders wird oder sich anders auswirkt, wenn der Gesamtrahmen einer pragmatischen Veränderung im Umgang mit Dingen und Bildern sich verändert hat. Ich schlage deshalb vor, das De­ sign als Sonderfall des Umgangs mit Codes zu betrachten, und würde dann feststellen, dass man das Design als Medium und Organisator eines Gesellschaftsmodells betrach­ ten muss. ‚Design‘ steht für die appellative Organisation des Imaginären, d. h. der Wahrneh­ mung wie der Vorstellungskraft und dem Raster jener Dinge, die darin auftauchen. Das Design lebt davon, dass im Zugriff auf die Gestaltung der Linie nicht allein Dinge, Kon­ zepte etc. präsentiert werden, sondern die Bildgestaltung selber handhabbar wird, ihre Mitteilungen und Bedeutungen an ihrer Darstellung selber begreifbar. Das Design lie­ fert Ikonen und übernimmt tatsächlich quasisakrale Funktionen, allerdings ist das viel diskutierte Säkularisationsproblem nur ein spezifischer Fall dieser Umfunktionierung. ‚Quasisakral‘ meint die Plausibilität oder Selbstevidenz des Mitgeteilten als eines unpro­ blematischen Umgangs mit der Bezeichnung und ihren Bedeutungen. Das Design steht heute an einer Epochenschwelle im Umgang mit Bildern, im Bilderdenken und Bilderle­ sen: Es beginnt, die in sich verbundene (also: syn-ästhetische) Wahrnehmung zu ikoni­ sieren, d. h. auf eine Vielzahl von Sinnen den Prozess bloßer eindimensionaler Embleme zu projizieren, um darin grundlegende Wahrnehmungsprozesse verfügbar zu machen oder die Struktur der verbundenen Wahrnehmung am Freizeitleben der Menschen sel­ ber zu testen. Diese Ikonisierung des Syn-Ästhetischen markiert einen ­Funktionswandel im Bereich des Verhältnisses von Dingwerten und Bildwerten. Der Paradigmenwandel – vom designierten Objekt zum ideellen Design als einem Gesellschaftsmodell – wird

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durch eine Vielzahl von offenen und verborgenen Institutionen und Regelsystemen er­ möglicht, bedingt und bezeichnet. Das Design muss also – ob das dem Gestalterwillen entspricht oder nicht – auf dem Hintergrund einer sich abzeichnenden regulierten Imagination gesehen werden. Die for­ malen Konzeptionen der Funktionsgestaltung und der Zugriff auf den Gebrauch, der im­ mer gestaltet ist, artikulieren die Projektionen auf die klassisch denunzierten Wunschund Versprechensbilder in neuen Grauzonen. Den materiellen Bewegungen hätte eine neue Ideologiekritik zu folgen, die genau beobachten müsste, wie Konzeptionen auch ein Design bestimmen, das zunehmend die Objekte und die Repräsentation der Surrogate im Vorfeld der Software einer anders als nur instrumentell organisierten Gesellschaft regeln: als Kommunikationsnetz von direkt abrufbaren Genusspraktiken unter dem Schein einer aktiven Partizipation. Abrufbar sind Inputs, in denen jeder scheinbar autonom seine rest­ los privat gewordene Welt aus seriell vorgebildeten Einheiten zusammenbauen kann. Das öffentliche Design auf der Ebene der Lebensgestaltung selber durchformt den privaten Bereich. Es ist zu vermuten, dass sich die Präsenz der visuell-appellativen Zeichensprache im urbanen Raum entscheidend verändern wird. Die letzten Träume werden verfügbar: Vom Pandämonium zum Eldorado erstreckt sich der Gestaltungsraum einer ersticken­ den Unmittelbarkeit zwischen den Surrogaten eines freien Lebens in schier willkürlich gedehnten Zeithorizonten und einem bezeichnenden dekorativen Raum. Der Heiman­ schluss an vorgeprägte Weltbilder wälzt vermutlich sämtliche optischen, sensuellen, tak­ tilen Gewohnheiten um. Es geht nicht allein mehr um die Warenästhetik, die triviale Re­ gression, den Wohlstandskitsch, nicht allein mehr um simulierte Bilder, sondern um einen unmittelbaren Zugriff auf bildliche und praktische Lebensreichweiten durch Re­ tortenbilder, die zunehmend nicht mehr für Wahrnehmung stehen, sondern direkt in ihr stattfinden. Das verändert auch den therapeutischen Zugriff auf das Verhältnis von To­ talisierung und Fragmentierung: Das eine steht nicht mehr, erkennend, für das andere, ­visualisierend, ein. Die neuen ‚autonomen‘ Codes der seriell differenzierten Fremdbestimmung re­ gelt über die Simulation von Bildern nicht eine stereotype Massenkommunikation, son­ dern eine neuartige Auszehrung und Abdrängung von Eigengestaltung und Eigenarbeit an identifikationsfähigen Genuss- und Gebrauchshandlungen. Das Design hat hier eine prinzipielle Grenze, und hat sie schon immer gehabt: Sie setzt eine fremdbestimmte Formalisierung von Objekten als Zeichen um. Dabei ersetzt sie zunehmend Symbole durch Ikonen, betreibt also einen stillgelegten Bildersturm an der Depravierung des ide­ alistisch-emphatisch formulierten Ästhetischen. Und zugleich stellt sie derartige ikoni­ sche Elemente zur privaten Steuerung bereit. Die Macht des Bildes verschiebt sich auf die Regulierung der Produktionsbefehle von Hard- und Software: von Rahmengestal­ tung der Simulationsorte und den synthetischen Programmen der Visualisierung inner­ halb der nachmodernen industriellen Konsumgesellschaften. Daran reicht keine Ikonologie der Konsumgütergesellschaft mehr heran: Wenn die Produkte gewissermaßen sich ‚zurückziehen‘, dann treten Konzeptionen von ge­ brauchsfähigen Bildideen hinter den Strukturen zurück, die an die Stelle der kulturstif­ tenden Symbolik und der Denkarbeit an einer kollektiven, kommunikativ orientierten

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Identität2 die simple Regulierung von Fremdheit setzen und drohen, jede Erinnerung an die Eigenleistung kulturell differenzierter und überschaubarer visueller Weltordnun­ gen auszulöschen. Es lässt sich deshalb über die Regulierung der Bilder und der, nach Kant, syn­ thetischen Identifikationskraft von Vorstellung und Selbsteinsicht der Begriffsmit­ tel bildlich mitgeteilter Weltdeutungsmuster hinaus eine Diagnose für die materiellen ­Bereiche unserer Gesellschaft formulieren, unter der Vorbedingung allerdings, dass die skizzierte schlechte Utopie der elektronischen Aussteuerung des restlosen Gedächtnisund Bildverlustes tatsächlich mittelfristig durchsetzbar wird. Es gilt dann • für die Wirtschaft: die Zweiteilung der Welt in materielles und strukturelles Elend, wobei im avancierten Konsum der hohen Technologie alle Chancen auf Selbstversorgung irgendwelcher Art aufgezehrt werden; • für Staat/Politik: das Ende des Diskurses, der noch letzte rituelle Formen auf argumentationsfähige und kritische Deutungsmus­ ter von gemeinsamem Leben beziehen muss. Dieser Prozess ist beobachtbar an der Verrechtlichung von lebensweltlichen Be­ reichen, die im Zuge einer neuen inneren Kolonialisierung den Systemzwängen einer funktionalen Vernunft unterworfen wer­ den, die das Ende der Geschichte produziert;3 • für die Gesellschaft: die restlose Formierung der Dekulturierung über die zu Ende geführten Sachzwänge einer abgekoppelten und übergeordneten Organisationsstruktur, die der Gewalt der Kolonialisierung noch in den Subsystemen einer auf alte Werte angewiesenen solidarischen Lebensweise zum Durchschlag ­verhilft. Warum eine Klärung des Bildraums und der darin konzentrierten geschichtlichen, ver­ schiedenen Organisationsformen menschlicher Tätigkeiten in einer privilegierten visu­ ellen Verbindung für die Konzeption von ‚Design‘ relevant ist, möchte ich wenigstens andeutungsweise skizzieren. Ich verlasse dabei einen epistemischen Grundzug, den es erst noch zu klären gälte: Warum die abendländischen Konzeptionen von Erkenntnis­ theorie ohne die Konstruktion des Bildraums nicht denkbar sind. Dabei geht es nicht um die Verwendung von Metaphern, sondern um das logisch verbindende Glied zwi­ schen der Geltung von Begriffen und der wahrnehmungskontrollierten Differenzierung bildlicher Erfahrung empirischer Sachverhalte. Für das Design ist eine andere Beobachtung dringlicher: Die Begriffe der guten Form und des Bildes überhaupt werden immer noch im Geheimen durch rekonstruierte Formen von Ganzheit entwickelt, und zwar so, dass die Legitimation des Designs von umgreifenden Rahmenbedingungen abhängt, die den Gegensatz von hoher und nied­ riger, humanistischer und angewandter Kunst ebenso unterlaufen wie die Segmentie­ rung des Ästhetischen im Feld des Künstlerischen, d. h. die Polarität von Gesellschaft –

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instrumentelles Handeln – und Gestaltung – symbolisches und kommunikatives ­ Handeln. Der Horizont des Designs ist ebenso wie der der Kunst auf das klassische hu­ manistische Lehrbild, die Bildprogrammatik, die darin regulierte Affektmodellierung4 und schließlich auf die exemplarische Verbindung von heidnischer Antike und huma­ nistischer Ideenordnung der Symbolik hin ausgerichtet. Von dieser Verbindung her da­ tieren wir nicht nur unser Bewusstsein von Kunst – als einer expressiven Ordnung von wertgemäßen Geltungsansprüchen –, sondern auch die Implikationen der Bilder: die Moralität nicht allein des Bezeichneten, sondern auch der Bezeichnung, d. h. der ele­ mentaren Auffassung der Bildkraft der Linie. Ich verfolge diesen Zusammenhang in zwei Schritten: 1. dem der Ausstrahlkraft des neuzeitlichen Designs auf die Gebrauchsorien­ tierungen in allen Bereichen, 2. dem der Metaphysik des ‚Disegno‘ als einer höheren Le­ gitimität der noch nicht von strikter Erkenntnis getrennten festhaltenden Darstellung in Skizzen, d. h. den Vorstufen des realisierten Bildes, des Übergangs vom bedeutungs­ vollen Fragment zum genussfähigen und geschlossenen Bildraums, der symbolisierten Ganzheit eines visuellen Stilllegungsprozesses von ‚Weltdeutung‘.

Zu 1. Folgendes ist Ausgangspunkt: das Produkte-Design in der maßgebenden Tradition des Werkbundes seit 1907. Sachlichkeit der Produkte und funktionale Produktsprache als einer neuen, demokratisch legitimierten, erziehenden und ästhetisch qualifizierten Ge­ samtkultur. Vision einer ungebrochen gestalteten Welt, die semiotisch schlüssig ist und die politischen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, konsumtiven und produktiven Tätigkeiten der Menschen unter einem durchgängig befriedeten und stimmigen Hori­ zont gestalteter und bewusster Lebensweise vereint. Dabei spielt der maschinell struk­ turierte Stand der Technik – in der Falllinie des multiplizierten Konsums für alle – eine unproblematische Rolle für die Formensprache des Designs. Die Verschränkung von Sprache, Moderne, Sachlichkeit und Design auf dem Hintergrund des ästhetischen Ide­ als einer für kollektive Kontrolle zugänglichen Produktionswelt markiert die Errungen­ schaft und setzt Bemühungen, diese zu unterlaufen, eine kulturell codierte Grenze. Das Modell kann m. E. nicht an Folgeprodukten allein gemessen werden. Der Vorwurf der Technokratie ist aus einer späteren Optik auf die Rahmenbedingungen bezogen und auf die sie verdichtenden Objekte einseitig zulasten der formellen Konzeptionen einer all­ gemeinen Gebrauchssprache der Massenprodukte vermerkt worden. Ich zitiere für den organischen Anspruch einer funktional-ästhetisch geordneten Gebrauchswelt Walter Gropius mit einer Aussage zu einem Automobil-Entwurf: „Das Maß der Schönheit eines Automobils hängt nicht von der Zutat an Schnörkeln ab, son­ dern von der Harmonie des ganzen Organismus, von der Logik seiner Funktionen. Der inneren Wahrhaftigkeit, der knappen, phrasenlosen, der Funktion entsprechenden Durchbildung aller seiner Teile zu einem vollendeten technischen Organismus muss auch die Gesamterscheinungsform des Autos entsprechen. Die sichtbare Außenform

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hat also ästhetisch gesprochen genauso zu funktionieren wie der technische Apparat. Die reine edle Form ist ein Ergebnis der planmäßigen Beseitigung alles unnötigen Auf­ wandes an Energie, Masse, Gewicht, Zierat. Ein moderner Gebrauchswagen soll tech­ nisch vollendet, schön und billig sein. Dieses Ziel kann nur in engster Arbeitsdurchdrin­ gung maßgeblicher technischer, gestalterischer und kaufmännischer Kräfte erreicht werden.“5 Und, so ließe sich hinzufügen, der maßgeblichen konsumptiven Arbeit an der Identifikation von Funktion, Gebrauch, Nutzung und Gestaltung. Die Kompetenz der Ar­ beitsdurchdringung muss den Zwang zur Arbeit als einem Selbstreflexionsmodell der menschlichen Gattung6 tatsächlich formulieren: als Eigenleistung, die die Kompetenz gleichsam im Nachhinein beweist. Es ist Mode geworden, solche Äußerungen als blinde, ideologisch gegenbildende und verräterische Huldigungen an eine später im Faschis­ mus krude aufgelöste Realisierung der technischen Serialität und ihrer kriegerischen Elemente zu denunzieren. Mir scheint das nicht schlüssig. Das Problem ist nämlich nicht die über ästhetische Gestaltung rekonstruierte Vernunft oder Unvernunft einer Gesamtgesellschaft, sondern die Kompetenz der Visualisierung im Bildraum selber. Gropius’ Äußerungen erhalten eine ganz andere Stoßrichtung, wenn wir sie auf dem Hintergrund alter, seit der Antike hervorgehobener philosophischer und kunstthe­ oretischer Konzepte über die geringstmögliche Ökonomie der Mittel zur Realisierung der größtmöglichen Transparenz und Distinktion lesen. Das Problem bleibt dann einzig das unerledigte der Moderne. Und vor allem ihrer inszenierten Verdrängung der Recht­ fertigung des Bildraums selber, der Gestaltung visueller Impulse, Appelle und Erkennt­ nisse.

Zu 2. Ausgangspunkt ist hier die Mathematisierung als Läuterung der Sinne. Wobei Mathema­ tik nicht als technisch formelle Anordnung zur Erzeugung von Algorithmen verstanden wird, sondern als konzeptionelle Ordnung aller Begriffe, die im menschlichen Wahr­ nehmungsraum strukturiert sind mit dem primären Ziel einer ästhetischen begriffenen und genussvoll erkannten Darstellung der Weltordnung. Aus den Notizen des Leonardo da Vinci, des visuellen Metaphysikers des transparenten ‚sfumato‘, d. h. der bildlich symbolisierten und anderweitig verschlossenen Welt, des Begründers des Eigenrechts von Skizze, Disegno und der skeptischen, unabgeschlossenen Linie sei hier Folgendes zitiert: „Abkürzungen fügen der Kenntnis und der Liebe Schaden zu, da die Liebe zu al­ len Dingen der Ursprung dieser Kenntnis ist und die Liebe in dem Maße glühender als die Kenntnis sicherer ist […] Von welchem Nutzen ist dann der, der die Details jener Dinge vermindert, von denen er vorgibt, gründliche Information zu geben, während er doch den Hauptteil zurücklässt, aus dem das Ganze zusammengesetzt ist? […] und dann sollen sie den Geist Gottes verstehen, in dem das Universum inbegriffen ist, indem sie ihn genauestens wiegen und in unendliche Teile zerstückeln, als ob sie ihn zu zerlegen hätten.“7 Und weiter, diesmal zum sogenannten pareidolischen Sehen: „Ich werde nicht

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­ermangeln, unter diese Vorschriften eine neuerfundene Art des Schauens herzusetzen, die zwar klein und sich fast lächerlich ausnehmen mag, nichtsdestoweniger aber doch sehr brauchbar ist, den Geist zu verschiedenen Erfindungen zu wecken. Sie besteht da­ rin, dass du auf manche Mauern hinsiehst, die mit allerlei Flecken bedeckt sind, oder auf Gestein von verschiedenem Gemisch. Hast du irgendeine Situation zu erfinden, so kannst du da Dinge erblicken, die diverse Landschaften gleich sehen […].“8 Die Mauern der Inspiration sind heute überklebt, taugen dazu nicht mehr, dienen keiner unklassi­ schen, inspirativen Studie der menschlichen Vorstellungskraft mehr, die im Bild sich seiner selbst und umgekehrt, an sich selbst sich des Bildes versichert, bevor aus den Schatten und Linien sich die persuasive oder appellative Aussage gefügt hat. Leonardo steht für zweierlei: 1. für die Durchsetzung der Malerei als einer geisti­ gen und nicht mehr einer mechanischen Kunst (oder Wissenschaft), 2. für die Grund­ legung der Malerei aus dem Geist der skizzierten Linie und des Disegno als dem Kon­ zept, in dem die Strukturen der Natur durch die semiotischen Mittel der transparenten Bezeichnung überhaupt erst zu ihrer Einsicht und damit zu ihrer Göttlichkeit erhoben werden. Die Malerei ist die Wiedererschaffung der Welt. Und das gründet in der gott­ ähnlichen Beschaffenheit der Imagination. Die Skizze (‚il bozetto‘), das ‚sfumato‘, das ‚disegno‘ dienen dazu, die Imagination aufzuklären, sie zu überprüfen und kontrollier­ bar zu machen. Und zwar nicht durch naturwissenschaftliche, theologische oder ideo­ logische Bindungen. Das Vorrecht des Disegno als dem Bereich, in dem die Imagination eigentlich lebt, nämlich in der ersten Nach- oder Vorzeichnung der festzuhaltenden Gegenstände, Be­ deutungen und Strukturen, erklärt denn auch, neben anderem, warum Leonardo viele seiner Malereien nicht vollendet hat. Er hat zwar den Zentralperspektivenraum nicht ge­ schaffen, ihm aber zu einem entscheidenden Durchbruch verholfen. Allerdings nicht bruchlos, sondern gerade durch eine trickreiche Unsichtbarkeit der Abweichung von der Zentralperspektive durch eine an der Bedeutung des Geschehens orientierte Raummon­ tage, die scheinbar natürlich wirkt, um dem Scheinreich des organisierten Natürlichen die Offenheit einer ständig zu erstellenden Neuverbindung unter dem metaphysischen Zeichen der permanent neu zu schaffenden Welt, der permanent neu zu bezeichnen­ den Wiederschaffung der Bildordnung der Welt entgegenzuhalten. Das kann am Abend­ mal-Fresko auf der Nordwand des Refektoriums von Santa Maria delle Grazie in Mailand überprüft werden, wo eine spezifische Raumverkürzung stattfindet, die nichts mehr mit dem zentralperspektivischen Raum zu tun hat. Was immer interpretatorisch zur Zen­ tralperspektive gesagt worden ist – ich erwähne hier nur: die Selbstermächtigung des Weltdeuters als des Prototyps des modernen Subjekts schlechthin; die funktionale Spie­ gelung der sich kapitalisierenden Ratio, die sich die Welt nach zentralperspektivischen Impulsen zurichtet9 –, sie hat ihre Schattengeschichte im strengen Sinne: Es bedürfte noch weiterer Klärungen, warum denn die Durchsetzung der Zentralperspektive mit der Gründungsmetaphysik des Disegno als der entwerfenden Skizze organisch zusammen­ fällt, wo doch beide grundsätzlich gegeneinander stehen: das eine als visuelle Totalität im exemplarischen Zugriff auf die Stufenleiter zwischen dem niedrigen menschlichen und dem höheren göttlichen Reich,10 das andere als Selbstbewusstsein des Fragments,

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der Problematik des Bildraums selber, der Funktion der Bilder als eines nur zum Teil ­objektiv dargestellten unabgeschlossenen imaginären und erkenntnistheoretischen Comic-Strips der ins unendliche verlängerten menschlichen Arbeit am Bildvermögen der begrifflich angeleiteten Vorstellungskraft. Das ‚Disegno‘ besitzt gegenüber dem Bild ein Vorrecht, das auch die Zentralper­ spektive problematisiert, ja zuweilen gar zerbricht. Es fällt deshalb nicht schwer, den naturwüchsigen und paradigmatischen Einfluss der Zentralperspektive auf Design und Werbung zu rekonstruieren und jederzeit in angemessene Rechnung zu stellen. Die flo­ rentinisch beanspruchte ‚gestaltete Linie‘ als dem Angelpunkt zwischen Bild, Erkennt­ nis, Darstellung und Bedeutung auf dem Hintergrund der visuell eingelösten Selbster­ mächtigung für die Bezeichnung der Welt ist ein unabgeschlossenes Programm, an dem es weiterzudenken gilt, wenn immer Konzepte von Design im Rahmen der Legitimation visueller Wahrhaftigkeit und Produktionsethik diskutiert werden.11 Die rechtliche No­ bilitierung des Disegno allerdings, und das unterstützt das eingangs entworfene Szena­ rio der an Macht gebundenen Regulierung der visuellen Gestaltung, fällt nicht in die Zeit der Zentralperspektive in ihrer Bindung an die Transparenz, sondern eine isolierte Selbstermächtigung der Bilder. Giorgio Vasari als erster zielbewusster Manierist war, wie schon dargelegt, auch der Begründer der ersten regelmäßigen Kunstakademie. Was vorher Akademie hieß, war ein kreativer Freiraum für ungebundene Improvisationen. Mit Vasari wurden diese Einrichtungen im Unterschied zu den früheren ‚Konfraternitä­ ten‘ durchorganisiert: Sie setzten den Status des verschulten Lehrers ebenso durch wie eine Regulierung der Privilegien im Bereiche der institutionellen Praxis. In die Akade­ mie aufgenommen zu werden wurde zu einem Ehrentitel, der nur selbstständigen und schöpferischen Künstlern verliehen wurde. Allerdings wurde mit dieser Selektion auch eine Kontrolle im ästhetischen Bildraum möglich. Mit Recht lässt sich in dieser Hinsicht von der Geburtsurkunde des modernen De­ signs sprechen, denn die kulturelle Privilegierung eines bestimmten formalen Status ging ein in die Reglementierung durch gesellschaftliche Institutionen, welche symbo­ lische Formen und Sprechweisen, ästhetische Empfindungen und Produktionsricht­ linien, kurz: den gesamten Bereich von Wertstandards für kulturelle Praktiken insze­ nierten.12 Exemplarisch war schließlich die 1593 durch die Initiative Federico Zuccari zustande gekommene Umwandlung der römischen Lukas-Akademie zu einer geordne­ ten Kunstschule. Zuccari versuchte primär, die kunsttheoretische Arbeit zu fördern. An erster Stelle unter den behandelten Problemen stand der seit der Renaissance beson­ ders mit Leonardo aktuell gewordene Streit um Status und Rangfolge der Künste, der ‚Paragone‘. Und darin spielt die hervorragende Rolle der Streit um das ‚Disegno‘ in obi­ gem Sinne: die Genesis der Zeichen und die Legitimität der Objekte aus der Visualisie­ rung einer künstlerischen Idee, die im Entwurf sich selber skizziert und im realisierten Bild hinter die Zwänge einer suggerierten natürlichen Ordnung zurücktritt. Die Orga­ nisationskraft dieser Akademien wurde erst im 19. Jahrhundert gebrochen. Vorher ent­ wickelten sie sich zunehmend zum Medium einer gesellschaftlichen Distinktion: Der Status des Künstlers fällt mit seiner Anerkennung als ‚professore del disegno‘ zusammen. Für herausragende Leistungen in diesem durchstrukturierten Feld der ‚guten L ­ inie‘, von

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dem ich vermute, dass die Durchsetzung seiner ursprünglichen Idee so dem Diskurs ei­ ner machtvollen Ordnung der Bilderwelt verschmolzen wurde, dass zu Recht sich von einer immanenten und stetigen Entwicklung des Disegno zum Design sprechen lässt, wurde der Titel des ‚cavaliere‘ bereitgehalten. Ich würde im Fazit der zweiteiligen Betrachtung zum Problem des Disegno/Design die unerledigten Konzentrationsprozesse auf den Bildraum selber als Paradigma eines die Moderne strukturierenden Bewusstseinsverlustes um die Orientierung der semio­ tisch grundlegenden Darstellungsmittel als der Instrumente zur Selbstermächtigung und zur Erzeugung der Welt ansprechen. Sie sind in der Kontinuität des ungelösten Doppelproblems der vielgesichtigen Linie und der doppelgestaltigen Einbildungskraft – und des doppelten Begriffsvermögens der Erzeugung durch Abbildung der Welt und umgekehrt – das eigentliche Problem im Umgang mit Bildern, und zwar auf der Pro­ duktions- wie auf der Rezeptionsseite. Darin ließen sich die näherliegenden Organisa­ tionswerte der ethischen und sozialen, politischen und funktionalen Legitimität der Welt- und Produktegestaltung wie der daraus entlassenen freien Selbstbearbeitung der ‚künstlerischen‘ Imagination als Orientierungskriterien und -aporien des Bildraums sel­ ber einklagen. Das würde mehr Sinn ergeben als die Denunzierung der Gropius’schen Zumutungen im Hinblick auf eine zur Mündigkeit erzogene Massendemokratie. Im Bildraum selber steckt das Problem der unabgegoltenen Traditionen und der visuali­ sierten Spuren der imaginativen Ordnung der Welt. Ihre Zeichen wie die Strukturen ihrer Darstellung wären erst noch zu erforschen, nicht auf dem Hintergrund der Verbesserung der Objektgestaltung und damit des emanzipierten und bewussten Genusses, sondern auf dem Hintergrund der Beobach­ tung, dass wir vom Phänomen der Zeichen und ihrer Bezeichnung imaginativer Ener­ gien immer noch viel zu wenig wissen.13

II  Regulierung der Imagination Ein Design präsentiert. Sein Bild geht restlos in den Objekterfolg ein, kennt kein ästhe­ tisches Eigenrecht. Sein Bild gelingt als Funktion. Eine Form wird Bild, genauso wie der Gebrauch von der reglementierenden Funktion bestimmt wird. Die Frage nach der Steuerungsfähigkeit des Designs schafft erst in der Zirkulation der Bilder und der Ge­ brauchsebenen, mit denen strategische Ziele sich formulieren lassen, einen Sinn. Design als Form – die Botschaften artikulieren sich als visuelle, optische, semioti­ sche Struktur: Die Codes werden Rhetorik, die Rhetorik selber signifikant nur, wenn sie auf naturwüchsige und rituelle Prägungen zurückgreifen kann. Die Geschichte des De­ signs operiert mit der permanenten Revolution. Nicht die Beliebigkeit der Warenästhe­ tik fordert die skizzierte Innovation als Grundzwang des Designs, sondern umgekehrt: Das Design bewährt sich daran, dass es die Revolution als organisierte Dienstleistung verpacken kann wie einen Gegenstand x, y. Die Grundstruktur dieser Innovation, die den rhetorischen Code für die Feinzeichnung, das sogenannte Konzept abgibt, ist die

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permanente und leere Wiederholung. Die Revolution in der Werbung ist kein Problem, wo die Werbung selber übers Design die Konzepte erzeugt, an denen sich die Dienstleis­ tungen bemessen. Das Design transportiert alles als Dienstleistung. Es ist der wahre Horizont der pluralistischen Gesellschaft. Die Neutralität des Inhalts gegenüber den Regeln der Her­ stellung, die Gleichgültigkeit der Werte gegenüber den Formen der Aneignung, die nach den Steuerungsfunktionen von Macht und Geld nicht allein bemessen, sondern legiti­ miert werden. Der spezifische Grundzug ist der absolute Sieg der leeren Formalisierung über den Gebrauch der Funktionen selber und damit der semiotischen Struktur des ­Designs und der Werbesprache. Die Kritik der Werte ist nicht der Wert der Kritik. Zur Diskussion stehen allseitig Probleme: z. B. das der Denunzierung der Denunziation des Brauchens und der Werte durch das visuelle Konzept. Warum können Design und Visualisierung solche Steue­ rungsfunktionen übernehmen? Wie sieht die Legitimation zur Kritik von Design, Kitsch, Funktion aus? Design als nunmehr etablierte Abstraktion von allem Inhaltlichen, ist all­ seitig verfügbar. Die Frage hätte nicht nach dem Design zu gehen, auch nicht vorrangig nach den Dingen, sondern allein nach den Menschen, die in letzter Linie aus jeder Funk­ tion und jeder Form einen seelenbesetzten und triebwuchernden, augenfüllenden und herzweitenden Fetisch ihres Interieurs machen. Das Design ist die Tapete des seelischen Innenraums. Nur das erklärt, warum sie in marktschreiender Öffentlichkeit stattfinden kann: Ihr Konsens ist, dass hier beim Gebrauch einzig die privaten Werte entscheiden. Die Öffentlichkeit löst sich auf, die Kritik auch. Es geht nämlich nicht darum, wer wie ge­ stalten darf. Diese Frage setzt eine andere voraus: wie gebraucht werden soll/wie Werte Gebrauch werden können und wer welche Folgenlasten auf wen mit dem Naturrecht der Eigengestaltung abwälzt. Das Problem von Design (Form) und Funktion (Kitsch) kann nicht entlang isolierter Kritiklinien debattiert werden. Sinnvollerweise geht man vom Befund der Post-Moderne aus, d. h. vom Ende semiotisch strukturierter Gesellschaften. Das Bewusstsein über den Verlust der lebensversorgenden Dinge, der Lebensgü­ ter, die über den Missbrauch der verkürzenden Bilder rekonstruiert werden, die sich zwi­ schen die Menschen und die Werte stellen, artikuliert sich immer noch in einem Hori­ zont systematischer Verspätung: Mit Mitteln der Gründerzeit soll der Übergang in die Post-Moderne reflektierbar werden. Das Problem des Designs tradiert ein kulturell vorkapitalistisches Thema: die handwerkliche Identität von Produktionsbewusstsein und Wahrnehmung des Verzehrs, d. h. einen semiotisch verdichteten Kreislauf, an dessen neuralgischen Punkten zwar immer konträre Elemente auftauchen, aber immer für ein und dasselbe Subjekt. Zur Diskussion steht seit geraumer Zeit drohend die Abschaffung des Menschen. ‚Die An­ tiquiertheit des Menschen‘14 wurde vor drei Jahrzehnten exemplarisch über die Eigen­ steuerung der Produkte rekonstruiert. Diagnostiziert wurde, atemberaubend, eine radi­ kalisierte Dominanz der Dinge über die Menschen, die Degradierung der Subjekte zur schieren Mitgeschichtlichkeit in einer durch technisch ermöglichte Übertötungskapazi­ täten vollkommen zerrütteten Ontologie, einer philosophisch nicht mehr zu verstehen­ den Welt, einer Welt, die die Grundlagen allen philosophischen Verstehens liquidiert

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hat. Heute ist die Situation nochmals – in zusätzlicher Hinsicht, auf diesem weiterhin unverändert gültigen Hintergrund – eine andere geworden: Arbeit und Arbeitslosigkeit werden untrennbar, es geht nicht um Güter, um Produkte, um Existenz, sondern um den direkten Eingriff in die seelischen und neurophysiologischen Steuerungsfunktio­ nen. Darin wird anpassbar, wofür kein Missbrauch von Gütern, keine systematische Ver­ zerrung und Falsch-Bildung mehr einstehen kann. Dort, wo die Probleme von Grund auf steuerbar werden, dort wird der Gegensatz von guter, am Versorgungsrecht der Ob­ jekte orientierter Form und trivialer Entleerung durch Surrogate – für die ein Begriff von ‚Kitsch‘ nicht schlüssig, aber nähernd, stehen mag – illusionär. Weil Dinge wie Men­ schen illusionär werden und die Illusionen über Stimulanzien und Konditionierungen im Wahrnehmungs- und Bildbestand der Imagination wirklich. Es geht allein um die Verfügung der ‚inputs‘, nicht um die Formierung und Verpackung der ‚outputs‘. Die elektronische Magie spielt Design und Layout im elektronischen Simulator durch. Gewünschtes und mittlerweile mögliches Resultat: Die Welt wird wirklich er­ zeugbar und existiert allein in der Totalität der simulierten Imaginationstechniken, die in der Hirnrinde nach eigenen geheimen Dispositionen die Bilder flexibel machen. Der subjektivistische Zugriff gemäß objektiven Reiz-Reaktions-Techniken im Gehirn sel­ ber unterläuft jede Fragestellung nach dem Design als einer Technik, die – wie auch im­ mer – an der Diskretion der Objekte orientiert ist. Das Surrogat der Dinge schafft aber diesen Zusammenhang ab. Die neuen Götter sind andere. Die Kritik am Design ist eine Wunschproduktion: Sie wünscht sich das Fortleben alter Götter, weil sie Fragen nach den Werten stellen möchte und ihr Wertbewusstsein dann entwickelt, wenn ihre Wert­ körper bereits untergegangen sind. Die Rede von den Göttern kann analytisch verstanden werden: Nietzsche sprach noch davon, dass mit der scheinbaren Welt auch die wirkliche Welt endlich abgeschafft worden sei – im königsbergischen Leuchten der bloßen Formen, d. h. in der Kant’schen Reduktion der Welt auf die synthetischen Funktionen des menschlichen Bewusstseins. Wissenschaft entsteht, wo die Götter schlecht gedacht werden. Wissenschaften als elek­ tronisch-chemische Illusionstechniken sind in einem noch unerkannten Sinne magisch: Sie ersetzen die wirkliche Welt durch die scheinbare, indem sie die scheinbare und real scheinende Welt als absolut wirkliche setzen. Es bedarf keiner Gegensätze mehr. Am Ende der Moderne findet eine Auflösung der bisher geltenden Regulierungs­ medien statt. Weder Arbeit/Produktion noch Politik/Diskurs bleiben Bereiche, in denen Organisationsformen für grundlegende Tätigkeitsformen produziert werden. Die klassi­ schen Medien und mit ihnen die kritische Differenz ihrer nichteingelösten Vernunft ge­ hen unter. Was ansteht, ist die große Simulation, die Versorgung mit Steuerungseinhei­ ten an der physiologischen Basis der mentalen, seelischen Funktionen selber. Von dort wälzt sich die Organisation der Herrschaft ebenso um wie die Standards produktiver Tä­ tigkeit, guter Formen und Gebrauchswerte als Objekte. Bedingung dafür ist die strikte und restlose Zweiteilung der Welt: Die Abdeckung des Energiebedarfs für das futuristi­ sche Szenario der künstlich gesteuerten Erlebniswelt des industrialisierten Kitschmen­ schen wird ghettoisiert im Überfluss der sich vermehrenden überflüssigen und ausge­ hungerten Menschen der eingezäunten dritten Arbeitswelt. Produktion und Konsum

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werden politisch und geografisch getrennt. Die Folgeprobleme lassen sich nicht ghetto­ isieren. Deshalb muss der Zugriff in die Steuerungszentrale selber verlegt werden. Hier aber lässt sich im Krieg der Bilder schlecht von Defizit oder Aufgabe von Design spre­ chen. Es geht vielmehr um die Abdeckung der Fragmentierungsprozesse, die mit den Multiplikatoren der technisierten Seele und der synthetischen Wahrnehmung jede Er­ innerung an das Phänomen der Bilder – als Erkenntnis- und Wahrnehmungsräume, als Differenzierungsprozesse der erkennenden Selbstbearbeitung – auslöschen. Es ist wahrscheinlich, dass die moralische Betrachtung der Dinge nur ideologisch möglich ist. Man müsste vielleicht die Antiquiertheit der Ideologien dafür nutzbar ma­ chen. Für die Beschreibung der Tatsachen allerdings nützt eine ideologische Beschwö­ rung aufgelöster Humanismen wenig – zu stark gleicht sich hier die Frage nach dem Leben den Verdrängungen an, die bestimmte Fragen unmöglich gemacht haben. Es müsste an die Stelle jener Konzepte, die eine richtige Zurichtung der Dinge als Aufklä­ rungsprogramm für eine verarmten Genuss ansehen, ein Programm treten, das vorerst Grundlagenforschung im Bereich der Sprache der Bilder schlechthin betreibt. Die Ge­ staltung der Dinge nämlich findet ihre Schranke ohnehin am Gebrauch und die gute Form ist nur möglich, wo man dem Bild vertraut. Was aber erzeugen Bilder, wie funk­ tionieren sie, worin besteht überhaupt die Funktion der symbolischen, über Zeichen vermittelten, bildhaften Identität, ohne deren kommunikative Restbestände keine Art von wie immer reduziertem instrumentellen, strategischen Handeln überhaupt mög­ lich wäre? Man kann vorerst nur sagen, dass die Funktion davon abhängt, dass sich die Kraft der Bilder unreflektiert beweist, d. h., dass die Realität der Bilder die Wirklichkeit organisierter Imagination immer dann unter Beweis stellt, wenn nicht angegeben wer­ den kann, mit welcher Eindeutigkeit die Sprache der Bilder tatsächlich funktionieren könnte. Erkenntnistheoretisch, gesellschaftspolitisch und semiotisch ist es falsch, das ­Design überhaupt noch auf der Ebene der Dinge, ihres Konsums und der möglichen ori­ entierenden Vermittlung zwischen Dingen, Gütern, Konsum und Wahrnehmung an­ zusiedeln. Das Design ist vielmehr der Organisationshorizont von gesellschaftlichen Strukturmodellen geworden, das Planspiel des Lebens. Die Rede von der Bewusstseinsindustrie kam zu früh – wie so oft griff die kulturell sensible Semantik den technischen Möglichkeiten vor. Was wirklich damit gemeint ist, bedarf keiner Ideologie mehr, wie sie von der Kritik der Kulturindustrie und von der De­ nunziation der verlogenen Bilder einer falschen Welt (Hollywood) noch vorausgesetzt worden ist. Was jetzt ansteht, ist die materielle Organisation an der Basis der Produk­ tion der Bilder selber. Es geht um die restlos inwendige und synthetische, vereinzelnde und desorganisierende elektronische Produktion simulierter Surrogate des ganzen Le­ bens selbst. Daran arbeitet z. B. Francis Ford Coppola mit einer darauf ausgerichteten eigenen Industrie. Coppola gibt einen Begriff von der anstehenden Realität, in der humanisti­ schen Korrekturideologie würde man von jener Metaphysik reden, die einzig die ‚Fak­ tizität des Tatsächlichen‘ wiedergibt, antizipiert und durch vorgreifende Formulierun­ gen akzeptabler macht. Darin findet ein paradigmatischer Wechsel statt, und zwar nicht

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allein des Umgangs mit Dingen und ihrer Präsentation durch Bilder, sondern der Er­ kenntnis und ihrer Begründungsmuster selber. War es bis jetzt nämlich so, dass gerade im Bildraum die Frage der Wahrheit eine der Legitimierbarkeit war, so wird mit der synthetischen Simulation der Bilder zur total gewordenen Illusion eines spezifischen und apathisch überfüllten glücklichen L ­ ebens diese Frage überflüssig, weil der ganze Vorgang überflüssig wird. Die Legitimierbarkeit erzeugt sich als Legitimiertheit selbst. Es gibt keine Legitimation mehr, sondern nur noch jene Wahrheit, welche über sich und die Mittel ihrer gegenständlichen Verwirkli­ chung immanent verfügt. Damit wird das Ende aller Traditionen möglich. Damit auch das Ende des Designs. Denn bis jetzt war jeder Code abhängig von einer über die individuelle Lebenszeit hin­ ausgehenden Abarbeitung an der Chiffrierung und Codierung von in symbolische Ori­ entierung eingebetteter Kommunikation. Die imaginative Steuerung arbeitete mit ima­ ginierten Rubriken, Codes also, in denen Erfahrungen begreifbar, mitteilbar werden. Mit der neuen Vision der Bildsimulation, die keiner Objekte mehr bedarf, ist auch das Ende der Semiotik in Sicht: Dass Zeichen funktionieren, weil die Menschen durch sie funktionieren, stellt eine vergleichsweise kultivierte Form von Identitätsbildung dar. Die biochemische Stimulation einer erdrückenden und unmittelbaren Visualisierung innerer Dispositionen, welche für das jeweilige Subjekt adäquat sind, liquidiert sämt­ liche Restbestände an Vernunft und verunmöglicht, von Zeichen zu reden, weil jedes Zeichen immer noch elementare Partikel aufweist, die diskret gemacht werden können und damit reflektierbar, veränderbar sind. Gewiss: All das ist noch nicht Realität. Aber zugleich lässt sich nur im extremen Denkmodell verfügbar halten, was geschehen wird. Und daraus hätten Szenarien sich abzuleiten, wie mit voller Kraft der humanistischen Bildtraditionen sich eingreifen ließe in unterlaufene Grundrechte der modernen menschlichen Existenz. Die Fragestel­ lung nach dem Dritten, d. h. universal vermittelnden und demnach gemäß der idealis­ tischen Figur der Vermittlung – als visualisierter Gerechtigkeitsprozess – beglückenden Ausgleich zwischen der guten Form und dem Kitsch ist dagegen abhängig von der unge­ brochenen Überlieferung der Lebensweise und besonders der Produktionsorientierung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kitsch ist als eine semiotische Struktur gekennzeichnet: der Transformation von informativen Ordnungen in serielle Strukturen, die den Bedeutungsgehalt eines visu­ ellen Feldes in einen externen Bereich von Orientierungen übergeben, der an keinem Punkt sich mit den Bedingungen des Codes für jene Bedeutungen berühren muss. Das bedeutet: ‚good design‘ und ‚Kitsch‘ sind keine evidenten Gegensätze. Das eine bezeich­ net eine Haltung (Gebrauch, Fetisch, Dekoration, Identifikation), das andere ein Ver­ fahren der Visualisierung. Wenn man Kitsch als soziales und psychisches Problem im ästhetisch qualifizierbaren Umgang mit einer restlos subjektivierten Schönheit betrach­ tet, dann ist das kein Problem von Design oder visueller Gestaltung mehr. Und zwar ge­ rade, weil dann übers ‚good design‘ elementare Erziehungsprozesse für eine sensible Wahrnehmung organisiert werden müssten. Kitsch und ‚good design‘ wären Elemente einer moralischen Bestandsaufnahme darüber, wie Menschen leben: zwischen der ge­

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heimen und offenen Diktatur der ästhetischen Gestaltung und dem geheimen und offe­ nen ­Terror der Kleinbürgerträume. Dazu kommt, dass es kein Menschenrecht auf ästhetische Gestaltung gibt. Sei’s weil man auf die Bildkraft vertraut, sei’s weil man ihren Verlust nicht als elementare De­ strukturierung der ‚condition humaine‘ erkannt hat. Solange aber gibt es weder Grund noch Möglichkeit, das Naturrecht des Kitsches zu denunzieren. Regression, Schweigen, Verharren – diese Strukturen der Normalität machen den Kitsch zum Ärgernis, den Är­ ger zum anthropologischen Irrtum der verfehlten ästhetischen Vorarbeit an der Basis der lebensweltlichen Traditionsbildungen. Es gibt nur das Postulat, man solle von mo­ nokulturellen Vorstellungen Abschied nehmen, man müsse auch rechtliche Freiräume für eine ungebundene Gestaltung durchsetzen, in denen alles Ästhetische – zwischen dem kruden Schrecken des Trivialen und dem Pathos der ästhetischen Versöhnung von Geist, Natur und Geschichte – unmittelbar objektivierbar und praktizierbar sein muss im Sinne einer Therapie, die vom Schrecken sich nur kurieren kann, wenn sie mit der Realität ihres eindimensionalen Spiegels sich schonungslos konfrontieren kann. Das scheint eine Vorbedingung für sämtliche Konzepte von Visualisierung und Gestaltung. Einer Zeit folgend, welche ohnehin nicht über das Reich der Dinge sich begreifen lässt. Das Auseinanderbrechen der Gesellschaft, die Errichtung unüberwindbarer Gren­ zen – welche den guten Willen der Elite mit einem schlechten Geschmack nachwirken lässt: als Umweg, über das Recht des Trivialen den Bedeutungsprozess für eine wirkliche Expertenelite wieder eingreifend verfügbar zu machen – muss zunächst bezeichnet wer­ den können. Dafür kann die Massenproduktion keinen Horizont abstecken, der nicht a priori von Kitsch und ‚good design‘ beeinflusst wäre. Es handelt sich hier im mate­ riellen wie im ästhetischen Bereich um Krankheitszustände, um kollektive Psychosen und Neurosen, denen über die Regulierung von Objekten nicht beizukommen ist, son­ dern nur über die Freigabe der ästhetischen Sozialschranken und die Beschränkungen der Gestaltungsrechte im urbanen, architektonischen und grundsätzlich im Nutzungs­ bereich der ins Verborgene abgedrängten und deshalb restabilisierten Triebneurosen. Nur der wertfreie offene Prozess könnte dereinst Bedingungen für die Identifizierbar­ keit von Bildern einer gelungenen Identität überhaupt ermöglichen. Dass damit kein Problem der Werte, der Orientierung gelöst ist, muss zugestanden bleiben. Man sollte aber nicht so tun, als ob sich ein Begriffsfeld der Probleme wirklich anders als mit dem Rücken zur Wand überhaupt bezeichnen lässt. Wenn man die Wünsche der Bevölke­ rung ernst nehmen will, wenn man den von der ästhetischen Elite unbemerkten Reich­ tum der Massenproduktion aufarbeiten will, wenn man schließlich sich an den mani­ festen Gebrauchsinteressen der Kaufmassen orientieren will, dann muss man für die Aufarbeitung der visuellen Grunddisposition zugleich dieser Massenbevölkerung das durschlagende Recht auf die Selbstdarstellung ihrer kollektiven pathologischen Verfor­ mung zugestehen. Und zwar ohne Schranken, einzig in der Hoffnung auf eine, wenn sie üppige Blüten hervortreibt, nicht länger verdrängbare Selbsterkenntnis der schreck­ lichen Verfassung der Selbstorientierungen, welche aus der Zurichtung unserer mo­ dernen Kultur an diesen Menschen für den Bildbestand der Lebendigkeit entstanden ist. Die ästhetische Pointe einer solchen ungebundenen Selbsttherapie könnte in einer

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­ ntmilitarisierung der Lebensvoraussetzung enden oder in der Perfektionierung der Re­ E gression auf eine Verwirklichung der wiederum physisch greifbar gewordenen Vernich­ tungsdispositionen selber. Aber würde sich das von der manifest werdenden Disposition der Gegenwart wirk­ lich unterscheiden, würde das wirklich für die Diskussion der ästhetischen Grundfunk­ tionen – die ja immer bedeuten, dass Leben funktionieren muss, wo die ästhetische Qualität der Dinge den Objekten etwas Qualifiziertes zufügt – eine Veränderung, Ein­ schränkung oder Preisgabe der Gestaltungsambitionen provozieren, die, man wird es gerne zugeben, allein noch im elementaren Griff nach dem trivialsten Zeichen überlie­ fert werden? Wie könnte die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten zurückgewonnen wer­ den? Welcher Auseinandersetzungen, und auch: welcher Zusammensetzungen bedarf es dazu? Reicht das Andersartige bei all dem Eigenartigen, das jedem anderen immer schon eignet, wenn es ins Augenfeld des eigenen kulturellen Horizontes integriert wer­ den soll? Fragen an die Voraussetzungen der Fragestellungen, die sich immanent ergeben, wenn man den Horizont der Verständlichkeit abschreitet, in dem der Ernst des Lebens einzig in den ästhetischen Reichtum eines friedlichen und spielerischen Glücks mün­ den soll. […]

IX  Für eine Zertrümmerung der Bilder Utopien gehen auf’s Ganze. Sonst würden wir nicht von Utopien reden: Gegenbilder, deren Stärke in jedem Falle nicht im Detail liegt. Mit dem Akt, in dem solche Bilder des Ganzen errichtet werden, liegt eine Selbstermächtigung. Es geht um die Behaup­ tung eines Zugriffs auf ein Leben, auch wenn im Einzelnen Utopisches oft unter Wert für dieses oder jenes reine Selbstempfinden beansprucht wird. Die Utopien negieren also etwas, das sie im Zusammenhang denunzieren. Sie unterliegen aber auch der gel­ tenden Herrschaft, und zwar gerade weil sie deren Begründung nicht akzeptieren und ein mögliches Eigenhandeln nicht nach kalkulierbaren Bedingungen ausrichten. Da hilft auch die Versicherung der ‚konkreten Utopien‘ nicht sehr viel, gerät zu oft zum Jargon und zum schlechten Ersatz. Und dann gibt es auch noch die schlechte Manier, gegen den Ernst des Utopischen als einer konkreten Perspektive von Widerstand das Festliche eines ‚Offenen‘ und ‚Unfertigen‘ zu beschwören, das sich mit der inneren Existenz von Bildern begnügt. Allzu oft sind solche Utopisten zu schäbigen Realpoli­ tikern geworden, als dass man über die Bilder des anderen noch reden könnte, indem man jeden Berührungskontakt mit der Realität verweigert. Schmidt, Kohl, Strauss und Co. – sie alle haben schon Utopien als Begriff der Orientierung für sich beansprucht, sei’s auch nur darum, zu sagen, was werden müsste, damit alles bleibt, wie es ohne­ hin schon ist.

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Mich interessiert hier die politische Frage nach der Berechtigung, über Begriffe zu verfügen, nicht. Ich frage danach, was einen solchen Begriff missbrauchbar und ­gebrauchbar macht. Utopien als Modelle liefern über ihre Theorien andere Bilder. Sie malen ein Leben, eine Geschichte in Bildern aus – die Utopie als Ganzes ist eine Bilder­ welt. Das ergibt sofort Probleme: Warum sind die formulierten Utopien meistens litera­ rische? Und warum kommen die Bilderutopien meistens als schlechte Horrorvisionen auf uns zu? Es ist nicht eine verdrängte und korrupte Angst, auf die solche Bilder tref­ fen – das reichte als Erklärung nicht. Man versteht mehr vom Problem, wenn man die Umkehrung befragt: ob nicht ein Defizit im Umgang mit Bildern und dem Bildraum der verdrängenden Besetzung mit schrecklichen Bildern zuarbeitet, die eine mögliche Mo­ bilisierung gegen ihre Gründe abdämpft. Der Verlust dieser Funktionen im Umgang mit Bildern verdrängt das Utopische mehr als seine Begründungsmängel. Die machen eher ein Widerspenstiges möglich. Was aber dem Verlust solcher Bilder folgt, ist ihre Klitte­ rung durch eine beschworene Geschlossenheit des Ganzen. Und das geht an die Sache selber. Dort, wo kein verquerer Zug in die Bilder einer besseren Welt einbricht, dort erkennen wir eine Form wieder, die alle Inhalte ideolo­ gisch verfügbar hält. Und verfügbar für alle, die nur vorgeben können, es gehe ihnen ums Ganze. Wenn wir die kleinen Elemente der beschworenen Utopien betrachten, die im politischen Gegenalltag wie im offiziell verordneten Sprachgebrauch auftreten, dann stellen wir schnell fest, dass die Verweigerung der Begründung, die sich radikal fordert, die Beliebigkeit von Ganzheitsbildern freisetzt. Der gewaltsam unreflektierte Zugriff aufs Bildganze ist es, der zunehmend hindert, das Wort für die Sache ‚Utopie‘, die es meint, zu retten. Die gekittete Form legt die Dynamik still, fördert einen beliebigen Null­ zustand an einem beliebigen Ort. Zu viele Utopien des alltäglichen Sprachgebrauchs ver­ sammeln gewalttätige Bilder einer schlechten Nostalgie. Auch die Zeugen eines Besse­ ren haben dort an der Gewalt teil, wo die Welt selber sich abschafft. Es geht nicht um Fragen der Verfügbarkeit von dem, was man im magischen Wort ansprechen möchte. Was gegen das Utopische steht, ist die Rückständigkeit von Ant­ worten, die auf gar nicht utopische Fragen folgen. Es geht um selbstverständliche Vor­ aussetzungen und gegen ihre perfekte Auszehrung. Und diese Preisgabe setzt sich in den allseitigen Beteuerungen nach der Unumgänglichkeit der nährenden Utopie fort – utopische Inflation, aber nur dort, wo die Realien fehlen. Das Erbe der Utopien kann man getrost den Realpolitikern überlassen. Die Funktion von Bildern zwingt zu ande­ ren Strategien. Die Form Utopie ist Abbild geworden, es steckt darin keine Kraft mehr. Denn alle Utopien haben versucht, die überlieferte Geschichte und Kultur zu retten und ‚Eigentliches‘ herauszuarbeiten. Woher aber bezieht man Bilder von Brüchen, wenn doch schon Mauern fallen sollen? Ich jedenfalls ziehe Versuche der Zerschlagung den totalen Formen der Umbe­ nennung vor. Die Symbole, die verfügbar sind, wurden dem Diskurs der Macht einver­ leibt. Dass der Spielraum für Bilder größer wird und zugleich der Freiraum kleiner oder verlogener, bezeugt eine gelungene Regulierung der utopischen Bilder. Die Definitions­ gewalt reicht bis in das Machtfeld der symbolischen Orientierungen hinein. Dagegen bedürfte es Sabotagetechniken im Bereich der Bilder, wie sie vormals der Surrealismus

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­entwickelt hat. „Und zwar prägt die Geschichte nicht als Prozess eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang eines unaufhaltsamen Verfalls sich aus. Damit bekennt das al­ legorische Bild sich jenseits von Schönheit. „Bilder sind im Reich des Gedankens was ­Ruinen im Reich der Dinge“, schreibt Walter Benjamin 1927 im Ursprung des deutschen Trauerspiels, und wenn’s die Geschichte nicht von alleine tut, sollte man ihr nachhelfen. Dazu bedürfte es Bilder, die jene Kraft haben können. Die Ganzheitsbilder nähren sich eher von uns als umgekehrt. Die Bilderwelt des Utopischen ist verschüttet vom indirek­ ten Bilderverbot und den Verdrängungen des Bilderverlustes. Mit einer ideologisch zu­ rückbindenden Form des Ganzen würde auch die unerträgliche Pose der Helden unter­ gehen, die – von welcher Seite auch immer – aufdringlich die Arbeit am Utopischen uns abnehmen möchten.

Einleitungstext/Übersicht zu den Unterlagen des anonym eingereichten Beitrags zur 4. Forums-­Ausschrei­ bung des Internationalen Design Zentrums (IDZ) Berlin vom August 1982. Die Ausschreibung hatte das Thema „Gestaltung zwischen good design und Kitsch“, mein Beitrag wurde eingereicht mit dem Kennwort „Grenzbegehungen“. Laut Ausschreibung war es möglich, theoretische Texte und Konzepte einzureichen. „Grenzbegehungen“ wurde von der Jury – Bazon Brock, Alessandro Mendini, François Burkhardt – zusammen mit sechs anderen aus eingereichten 124 Beiträgen ausgewählt und prämiert. Als Preis winkte kein Geld, sondern die Möglichkeit, den Arbeitsrat des IDZ zu bilden, zu dessen Vorsitzenden ich vom Forum des IDZ für die vier Jahre 1983 bis 1986 gewählt wurde. In der Funktion als Vorsitzender des Arbeitsrates des Internatio­ nalen Design Zentrums IDZ Berlin stand an, gemeinsam mit der Leitung des IDZ Berlin, zunächst F ­ rançois Burkhardt, die Konzeptberatung, Planung und Mitorganisation für Ausstellungen, Symposien, T ­ agungen in den Jahren 1983 bis 1986 (Planungszeit; Veranstaltungszeit: 1984 bis 1987) zu realisieren.

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Die hier präsentierten Überlegungen geben den Kern des damaligen Wettbewerbsbeitrags wieder. Einige Teile – z. B. VIII – bestehen in annotierten Text-Zitat-Kommentarmontagen, die digital nicht sinnvoll auf­ bereitet werden können, es sei denn, man belässt es bei einer bildlichen Dokumentation, was aber we­ nig sinnvoll erscheint. Andere Teile ‚Alltag und Kultur‘, ‚Alltag als Kultur‘ sind als Vorlesungen ausgeführt worden, weitere – hier die unter III, IV und V genannten – mündeten in Zeitungs- und Zeitschriftenbei­ träge ein, so die Ausführungen über Semiotik, Alltag, Bilder und Schatten. Vgl. hierzu z. B. Hans Ulrich Reck, – Rettung oder Liquidation der universellen Wissenschaft. Über Semiotik und Bürgerinitiativen, in: Basler Magazin, 21. Mai 1983; ders., Bilder und Schatten: Schwierigkeiten im Umgang mit dem Schönen. Versuch über Gemeinheit 1, in: Kunstnachrichten 2/83, Luzern 1983; ders., Für eine Zertrümmerung der Bilder (Kolumne zu ‚Utopie‘), in: Wochenzeitung Zürich, 18. März 1983. Für meine intensive und andau­ ernde Beschäftigung mit Designtheorie ergab sich zu Beginn der 1980er-Jahre mit ‚Grenzbegehungen‘ eine Weichenstellung. Auf die kommt es hier an, die redaktionelle Aufbereitung der Kernargumentation sowie der nachfolgenden Beiträge zu IDZ-Publikationen macht nachvollziehbar, worum es diesem Anlie­ gen, dieser Auffassung geht. Im Folgenden werden die Texte unter I, II, VII, IX und X präsentiert. Vgl. Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Frankfurt a. M. 1977. Vgl. dazu Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981, Bde. 2, S. 489 ff. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1975. Walter Gropius, Die neuen Adler-Wagen, in: Das neue Frankfurt, H. 1, 1931, S. 19. Vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rechtsphilosophie, Zweiter Teil: Das System der Bedürfnisse. Leonardo da Vinci, aus dem anatomischen ‚MS.C‘ II, 14, Windsor-Komplex, ca. 1513.

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Leonardo da Vinci, Trattato della Pittura, ‚Das Buch von der Malerei‘, hgg. v. H. Ludwig, 3 Bde., Wien 1882, § 66. Analog formulierte für eine spätere Phase des durchgesetzten kapitalistisch rationalisierenden Bürger­ tums Ernst Bloch einen solchen Interpretationstypus der ästhetischen, gleichwohl vorgreifenden Spie­ gelung: Er erwähnt mit einem solchen Zugriff auf die Weitung von Raum und Geist den Übergang von der Bach’schen, strikte gebundenen Fuge zur Sonatenform und ihrer Vollendung bei Mozart. Vgl. Ernst Bloch, Philosophie der Musik, in: ders., Geist der Utopie, Erstausgabe, München und Leipzig 1918, S. 81 ff. Hier sind die klassischen Allegorien von Botticelli und Tizian zu erwähnen, besonders die Verbindung von klassischer, animalischer, humanistischer und göttlicher Liebe – Lichtmetaphysik und platonisch geläuterte orphisches Affektlernen in den Bildprägungen selber; vgl. dazu die bekannten einschlägigen Arbeiten von Warburg, Panofsky und Wind. Für den Zusammenhang von Legitimität, Wahrheit und Bildordnung verweise ich hier pauschal auf die Arbeiten von Hans Blumenberg, besonders: Die Legitimität der Neuzeit, erster und zweiter Teil, Frank­ furt a. M 1974 und ders., Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981. Vgl. dazu exemplarisch Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M 1971, der den vergleichbaren Prozess in Frankreich anhand der Trainingsfelder für die Hochsprache unter­ sucht. Vgl. dazu u. a. die Arbeiten von Arnheim und Kepes: Rudolf Arnheim, Kunst und Sehen. Eine Psycholo­ gie des schöpferischen Auges. Neufassung, Berlin/New York 1978; Gyorgy Kepes, Sprache des Sehens, Mainz und Berlin, 1944; ders. (Hrsg.), sehen + werten. Untersuchungen über heutige wissenschaftliche und künstleri­sche Leistungen und deren Integration in der modernen Welt, 6 Bde., Brüssel 1967 ff. Vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band: Über die Seele im Zeitalter der z­ weiten industriellen Revolution (1956), 5. Aufl. München 1980, ders., Die Antiquiertheit des Menschen. Zweiter Band: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980.

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IM HINTERLAND DER DINGE – DESIGN AN DER HIRNRINDE 1 Die Kunst aber wäre, Heimweh zu haben, ob man gleich zu Hause ist. Dazu muss man sich auf Illusion verstehen. (Sören Kierkegaard, Tagebuch eines Verführers) Pendant l’art cherche l’intimisme, l’industrie marche de l’avant. (Octave Mirbeau, ­Figaro, 1889) Der Wechsel unterbricht den Entwurzelungsprozeß zwischen Subjekt und Objekt. (­ Georg Simmel, Philosophie des Geldes, 1900) Is not scientific management largely a state of mind? (Frederick Winslow Taylor, 1917) My customers can get Fords in any color they want, as long as its black. (Henry Ford) Das träumende Kollektiv kennt keine Geschichte. Ihm fließt der Verlauf des Geschehens als immer nämlicher und immer neuester dahin. Die Sensation des Neuesten, Modernsten ist nämlich ebenso Traumform des Geschehens wie die ewige Wiederkehr alles gleichen. (Walter Benjamin, Das Passagenwerk, 1927–1940) We strode down the open corridors together in our solitary fancy tasting articholes, ­possessing every frozen delicacy, and never passing the cashier. (Allen Ginsberg, A Supermarket in California, 1966) Amazing how they can program robots to imagine / Making me think I’m alive / Making each memory seem real. (Antler, Factory, 1976)

2 Bis jetzt sind Dinge Gebrauchskörper gewesen. Jetzt sollen sie inwendig werden, als vereinzelnde und desorganisierende Surrogate für ein ganzes Leben. Um das für die 1980er-Jahre paradigmatisch erhellende, bereits geschilderte Beispiel seiner Bedeu­ tung wegen hier nochmals in nötiger Ausführlichkeit zu schildern: Der amerikanische Film­regisseur und Direktor der Bilderfabrik Zoetrope, Francis Ford Coppola, meint auf die Frage, ob erst jetzt, mit seinen Arbeiten und Ambitionen, die ‚Traumfabrik‘ Wirk­ lichkeit werde und nicht allein mehr eine Metapher bedeute: „Richtig. Nur dass ich per­ sönlich nicht von Traumfabrik spreche, sondern von ‚consciousness replacement‘, also

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vom Bewusstseinsersatz oder besser: ‚Einpflanzung eines neuen Bewusstseins‘. Ich träume davon, eine futuristische Radio City Hall zu bauen, in der man Shows für rie­ sige Menschenmengen veranstalten kann. Ich denke dabei an vollsynthetische Shows, die aus elektronischen Hologrammen bestehen und dem Zuschauer die Illusion vermit­ teln, er befinde sich am Ort des Filmgeschehens und sei mit in die Filmhandlung verwi­ ckelt. Es ergibt sich eine faszinierende Aussicht: Fachleute sind der Meinung, dass man Filmbilder auch unmittelbar ins Bewusstsein einzuspeisen vermag. Eine solche Bilder­ pflanzung ins Hirn wäre weniger zeitraubend und technisch leichter realisierbar als die Herstellung eines dreidimensionalen Hologramms.“ Dies sagte Coppola zur Zeit einer komplizierten, elektronisch gestützten Edition seines, im Wesentlichen misslungenen, Films One from the heart (1982), in dem nur einige Illusionseffekte andeuten, worum es ihm und seiner Fantasie gehen könnte. Der Architekt Hans Hollein hat vor einigen Jahren davon gesprochen, dass Raum­ gefühle heute nicht mehr vom wirklichen Raum abhängen, sondern chemisch simulier­ bar sind. Wohnpillen statt Wohnbau. Künftig wird über Heimcomputer bestellt: nicht allein Dinge, sondern Lebensweisen, Szenarien. Verfügbar auf unzähligen Kanälen, zu­ sammenstellbar vom bedürftigen Konsumenten, löst sich nicht allein die Differenz zwi­ schen Illusion und Wirklichkeit auf. Die illusionäre Wirklichkeit wird zur härteren Rea­ lität, weil sie von der direkten Simulation der Wünsche abhängig gemacht werden kann. Die Szenarien sprechen von der Katastrophe des Bewusstseins. Diese Katastrophe aber spricht von anderen: von jener der Dinge und ihrer Naturgeschichte, und von jener der mit der Herausbildung des visionären Individuums der Neuzeit verbundenen Gestal­ tungsfreiheit. Ob Coppola von der Technik als Selbstzweck fasziniert ist oder einer abstrakten Vi­ sion nachhängt, deren Denkbarkeit und Wirklichkeitsmacht Stanislaw Lern in etlichen Büchern szientifisch ausfindig gemacht hat: Das Problem ist nicht abhängig von der Einschätzung des Illusionsgrads solcher Programme. Das Problem ist die Antwort auf jede mögliche Katastrophengeschichte: das Erschrecken über die Möglichkeiten und die Ortlosigkeit des Schreckens. Gestaltungen gehen einher mit Medien, aber die Me­ dien vernetzen sich mit einem Kontinuum von Affekten und kollektiven Erfahrungen. Ersichtlich hat dieser Schrecken kein taktiles, räumliches, urbanes Gegenstück mehr. Er kondensiert sich in keinem einzelnen Ding mehr. Was fließt, bedarf eines Mehr an Widerstandsenergie als jener Anstoß, mit dem die Dinge in Bewegung geraten. Die para­ digmatische Ablösung von Dingen wälzt den Vorgang der Repräsentation um, wirft Bil­ der durcheinander, vernebelt Konturen und raubt den Dingen ihre Existenz. Dort, wo Bilder nicht mehr in Objekten greifbar sind, sondern allein innerhalb der Reize existie­ ren, die von ihnen ausgehen, dort wird am immer magisch gebliebenen Raum der Bilder nichts mehr überprüfbar. Bleibt die Wahrheit eines Bildes – wie eingeschränkt auch immer – eine der Le­ gitimierbarkeit seiner Codes, so wird mit der synthetischen Simulation von Bildern an der Hirnrinde die Sphäre der Bedeutungen zu einer Technik der rhetorischen Verflüssi­ gung am Bildsinn selber. Die Tatsache der Erzeugung ersetzt dann jeden, nach einem diskursiven Vorgang verpflichteten Akt der Ermächtigung. Es besteht kein Bedarf an

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­Legitimation mehr und deshalb auch keine Möglichkeit für eine Verständigung über ­ ategorien einer Illegitimität. Es reicht, wenn eine solche ‚Wahrheit‘ über sich und die K gegenständlichen Mittel ihrer Verwirklichung immanent verfügt. Bis jetzt war jeder Code – und das heißt: jede Arbeit an der Bedeutsamkeit von Ob­ jekten – abhängig von einer über die individuelle Lebenszeit hinausreichenden Arbeit an den über Symbole und den problematisch überdenkbaren Vorgang ihrer Codierung sich orientierenden Kommunikationsprozessen. Die biochemische Simulation einer unmittelbaren Visualisierung von inneren Dispositionen, die im Subjekt als program­ mierte automatische Reflexe abrufbar werden, liquidiert selbst Spuren einer Vernunft der symbolischen Orientierung. Die Wände werden zu Bildschirmen, der Wohnraum löst sich in den Fernsehraum auf. Die Reflexsteuerung gibt das Subjekt an die unend­ lichen Raster von zweiwegigen, flexiblen Simulationen ab. Ein Bild ist da, bevor es aus­ gearbeitet ist, und das nächste kommt, bevor das letzte überhaupt wahrgenommen ­werden konnte. Die nachmoderne Umwandlung der Geschichtsverdrängung in eine Geschichts­ losigkeit beinhaltet nicht allein die drohende Auflösung jeder Gestaltung; sie integriert das Subjekt in einen Traum, der keine Zeit mehr hat. Postmodern ist dies deshalb, weil die Moderne ein Zeitalter des Semiotischen ist, die Apparate nachmoderner Illusions­ techniken aber nicht mehr semiotisch, sondern einerseits algorithmisch, andererseits imaginativ strukturiert sind. Ein Erwachen aus diesem Traum ist nicht vorgesehen: Mit der Zeit verschwinden auch die Brüche im Leben und dieses selbst. Gestaltung ist auf Unterbrechungen, Pausen und ein Diskontinuum angewiesen: Nur in einem leeren Raum können Dinge als Träger von Gestaltung koordiniert werden. Dieser Raum soll von unten her restlos gefüllt werden.

3 Szenarien für eine Zukunft als aktuell verfügbare zu behandeln – das setzt sich schnell dem Vorwurf einer eitlen Prophetie aus. Hier geht es aber um einen Versuch zu ei­ nem anatomischen Blick, der die Motive einer älteren Gestaltungsgeschichte bündeln könnte. Dort, wo die Bilderzeugung als Identitätssteuerung so an der Basis der Imagi­ nation formiert wird, dort hat der Gegensatz von guter – am Versorgungsrecht aus ­Dingen orientierter – Form und der trivialen Entleerung der Bedeutungen durch Kitsch keinen Angriffspunkt mehr. Der Übergang von der Dinggestaltung zur Imaginationssteuerung lässt sich aber nur unter der Last einer geschichtsphilosophischen Hoffnung als Bruch deuten, der Einsicht provoziert. Zu vermuten bleibt eher, im Feld des normalen Konsums und der rituellen Fetischbildung auf dem Hintergrund einer in ihren Strukturen zynisch gewor­ denen Gesellschaft würden Zwänge eingeübt, die jenen Übergang als Zuwachs an Frei­ heit und Wunscheinlösung und nicht als schmerzliche Bedrohung erfahrbar macht. Die Konditionierung ist nichts Neues. Aber ihre reine Form setzt die ästhetische Qualifika­

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tion von Gebrauchsgewohnheiten und Gebrauchswünschen außer Kraft. Nicht mehr die Verpackung von ‚outputs‘ (Produkten), sondern die Formulierung von ‚inputs‘ (Befehlen ohne Befehlsform) entscheidet darüber, was unter Gestaltung, auch jener von Dingen, zu verstehen sei. Das meint aber nicht ein restlos ‚anderes Design‘. Design ist immer ein spezifisches Medium gewesen, eine Art ‚Strategie der gerechten Verkürzung‘, denn je­ des Objekt spricht vom ganzen Leben und bleibt dann doch nur Ding. Es steht immer ein für die appellative Organisation des Imaginären. In seiner Besonderheit als solcher – und nicht erst in der Steuerung der visuellen Erscheinung (von Produkten und Szena­ rien) – ist eine Wertsetzung enthalten. Die Sprache des Designs definiert Entscheidungen für oder gegen bestimmte Werte ausschließlich in einer ästhetisch bearbeiteten Auswahl und Präsentation. Seine Bedeutsamkeit hängt direkt ab von der Abgrenzung gegen jeweils andere Objekte und Strategien. Die Logik der Gestaltung vernetzt also immer den lebensgestaltenden mit ei­ nem erkenntnistheoretischen Zugriff. Das durch Design ermöglichte Objekt korrespon­ diert mit Subjekten, die sich seiner bedienen. Aber auf eigentümliche Weise entwickelt sich die Dynamik dieser Bedienung außerhalb des einzelnen Objekts. Die Gefahr jedes Designs – unabhängig von der ästhetischen Qualifizierung – be­ steht darin, dass es Ikonen liefert und quasisakrale Funktionen ausübt, d. h. den Pro­ zess der Weltdeutung um die Lasten einer differenzierten Erfahrung reduziert. Die fu­ turistische Großtechnologie markiert dabei einen Funktionswandel im Verhältnis von Dingwerten und Bildwerten: Das designte Objekt verwandelt sich in das ideelle Design, das den Verkehr der Menschen nach Verteilungsrechten (indirekt oder direkt) befehls­ mäßig hierarchisiert und dabei die eingeübte Tradition der kulturellen Pyramide an die Wunschmaschinen technischer Bildversorgung anschließt. Der Vorgang der Pyra­ midenbildung kann restlos privatisiert werden. Ein neues Netz zuteilbarer und vorent­ haltbarer, abrufbarer oder suspendierbarer Genusspraktiken wird ausgeworfen für un­ begrenzt einwegige Zuteilungen an Konsumchancen. Die Genusspraktiken suggerieren den Schein aktiver Partizipation. Abrufbar aber sind in der Tat nur die ‚inputs‘, die dem scheinbar autonomen Individuum in seiner privaten Domäne Bausteine anbieten, die seriell vorgebildet, stereotyp und als immer gleiche angeboten werden. Die ‚Gramma­ tik des Lebens‘ unterhalb der Institutionen wird nicht allein ausgetrocknet. Die Überflu­ tung sorgt für eine Permanenz der Verdrängung, die selbst die Erinnerung an den Vor­ gang der Verdrängung, an seine kulturbildende Kraft, auszulöschen droht. Es bleiben Ereignisse, wo Erfahrungen hätten werden sollen. Ereignisse tauchen als Schock auf. Gestaltung hat wesentlich mit der Abdämpfung des nichtverarbeitbaren Schocks zu tun. Dieses Design wird als öffentliches um so privater, je mehr der Akt der gebrauchs­ orientierten Zusammenstellung von Genusspraktiken sich auf die Lebensgestaltung anhand der auf dem Bildschirm angebotenen Szenarien beschränkt. Die Verfügbar­ keit der Träume hüllt das Traumatische ein. Die Träume werden zur präventiven Rhe­ torik einer Inszenierung, die sie von ihrem sperrigen Wirklichkeitsgehalt abschottet. Vom Pandämonium zum Eldorado erstreckt sich der synthetische Gestaltungsraum ei­ ner erstickenden Vernetzung der Surrogate eines zeitfreien Lebens mit dem seriellen und überdekorativen Planspiel, in dem die Bezeichnung und Benennung ‚fließende

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Produkte‘ stimulierter neurologischer Dispositionen sind. Diese Dispositionen greifen in den Bildungsprozess bisheriger Identität ein und gehen einher mit der Umwälzung überlieferter sensueller, optischer und taktiler Gewohnheiten. Und das hat Auswirkun­ gen auf die Geschichte der Designkritik. Ein Design für einen gerechten und qualifizierten Gebrauch von identitätsver­ sorgenden, weil Identität erweiternden Zeichen lässt sich nicht mehr aus einer Kritik der Warenästhetik und einer Denunzierung des Wohlstandskitsches erschließen. Die neuen Codes der seriell angebotenen Fremdbestimmungen regeln über die Simulation von Bildern nicht allein das, was man bis jetzt als stereotype Massenkommunikation be­ zeichnen konnte. Ihre Logik beruht nämlich auf einer neuartigen Auszehrung, einer Ab­ drängung von Eigengestaltung und Eigenarbeit, bestimmter Tätigkeitsweisen also, die einen liebevollen, solidarischen Umgang mit der Natur ebenso beinhaltet haben wie die Ausbildung identifikationswerter Genusshandlungen innerhalb einer kommunikativen Lebenswelt. Natürlich sind auch in diesen neuen Szenarien die Netze der Erfahrungen und der Herstellungsbedingungen zwischen den institutionalisierten Bereichen der In­ dustriegesellschaft enthalten. Aber die Objekte öffnen ihren Gehalt nicht mehr direkt. Eine Gesellschaft, in der die Dinge hinter Szenarien zurücktreten, büßt auch das Wider­ standspotenzial unserer geschichtlichen Industriearbeit ein. Die Abdrängung jeder Eigenarbeit hat eine Voraussetzung, ohne die die postmo­ derne und nachindustrielle Einrichtung der synthetischen Genusshandlungen nicht eingerichtet werden könnte: die Verlegung aller notwendigen Rohstoffarbeit und ih­ rer Ressourcensicherung in die nichtindustrialisierten Länder der Dritten Welt – oder, wenn die Überflüssigkeit an Arbeit in den modernen Gesellschaften nicht aufgefangen werden kann durch einen mindestens so extensiv und intensiv für Genussbildung ein­ gesetzten Energieaufwand: in eine gewaltsam ausgegrenzte und ghettoisierte Sphäre, die für Arbeiten wieder einsetzbar ist, aber nicht mehr zur Gesellschaft gehört. Es sind äquivalente Einzäunungen, aber das Äquivalent hat keinen greifenden Erfahrungsraum mehr: hier die hierarchische Ersetzung der Konsumkompetenz durch gefiltertes Ge­ nussvermögen, dort die Einkreisung von Rohstoffenergie in Kulturen, die im Übergang zur industriellen Gewaltarbeit die Naturnotwendigkeit der Existenzversorgung für alle abgelten. Beide Einkreisungen bewirken die Zerstörung der Multikultur, die Austrock­ nung der Regionalismen und der Korrektur durch Peripherie, Vielfalt und Verschieden­ heit. Auch hier wirft ein futuristisches Szenario einen anderen Blick der Gegenwart auf sich selbst: Mit der Erinnerung an die Eigenleistung droht die Kenntnis kulturell diffe­ renzierter und überschaubarer visueller Weltdeutungen unterzugehen. Die permanente und ständig wechselnde Überfülle der Bilder löscht auch das aus, was wir unter Bild verstehen. Die Identifikation von Funktion, Gebrauch, Nutzen und Gestaltung von Dingen und damit eine mögliche Wahl von Mitteln zu ihrer Erzeu­ gung waren vordem maßgebliche Arten einer konsumtiven und kreativen Arbeit, wobei diese Identifikation niemals gratis gewesen ist, sondern eine stetige Arbeit blieb. Aus ihr entstand jene (mögliche) Kompetenz der Arbeitsdurchdringung, die Hegel – u. a. in der Rechtsphilosophie, unter dem Titel ‚System der Bedürfnisse‘, was ihm bedeutete: die bürgerliche Gesellschaft – nicht als Zwang zu natürlicher Arbeit allein angesehen

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hat, sondern auch als chancenreiches Selbstreflextionsmodell der menschlichen Gat­ tung, als Vermögen zu einer Kompetenz, die sich an dem entwickelt, was erarbeitet wor­ den ist. Die Geschichte der Arbeit enthielt immer auch diese kulturelle Geschichte der Gestaltung. Heute ist deutlich geworden, dass die Umkehrung dieses Satzes nicht mehr gilt: Die zynisch gewordene Struktur der Gesellschaft und des Selbstbewusstseins hat die Leidensgeschichte der Arbeit verdrängt; sie hat kein mögliches Erfahrungsbewusst­ sein mehr für die ‚Megamaschine‘, für die Größenordnung einer einzigen Fabrik, wel­ che die ganze Gesellschaft umfasst und entwickelt. Aber nur unter der Voraussetzung einer erhaltbaren Differenz zwischen dem Produzierten und dem am Produkt überprüf­ baren Nichteingelösten, d. h. an den Gegenständen einer nichtdelegierten Eigenarbeit, könnte der Zynismus zur Selbstkritik einer Erfahrung fortschreiten, die ihre Objekte ‚liest‘ und dem falschen Objektivismus widersteht. Überprüfung am Widerstehenden also. Design und Gestaltung? Oder einfach: ­Kultur? Die Chancen einer Kultur sind solche, die den Widerstand als kollektive Selbst­ aufklärung am noch nicht erfassten und gleichwohl Gestalteten ermöglichen.

4 Gestaltungen und Objekte, Formen, Dinge und Bilder vermitteln Botschaften. Man kann sie betrachten, betasten, ergreifen, überdenken, nachbilden, verformen. Darüber, wie Bilder zu lesen und welche die Mittel der Verständigung dazu seien, gibt es Über­ einkünfte. Das Bild, der Kitsch, die gute Form, die Gestaltung – sie stehen nicht als iso­ lierte Botschaften oder als Matrix für beliebige Projektionen in einem leeren und dunk­ len Raum. Sie sind Sender und Empfänger zugleich. Die Bilder der Produzenten vernetzen sich mit den Bildern der Rezipienten über verschiedene, nicht einer einzigen Logik folgende Medien. Weltbilder schreiben sich im Detail fort und eignen sich Einzelnes an. Bilder nicht eines verfänglichen oder verfüh­ renden Inhalts, sondern Bilder, die Sinn erzeugen wollen. Der Bildsinn greift auf das Umfeld ästhetischer Arbeit, die Erzeugung von Wahrnehmung und die Etablierung der Weltdeutungen durch jeweils herausgehobene Zeichen. Daraus entsteht eher ein Ge­ flecht von Codes und Zeichensystemen als ein Code oder ein System. So wie jedes ge­ staltete Objekt und jedes Bild nur eine jeweilige diskrete Form einer in die Dinge hin­ einverlegten Wahrnehmung darstellen, so sind die Strukturen des Bildsinnes, die sich den Objekten einzeichnen, nur näherungsweise definierbar. Das Design – als eine Spra­ che an Schnittpunkten – ist ein Sonderfall der ästhetischen Urteilskraft, der Wahrneh­ mungsbildung und der geschichtlichen, gesellschaftlichen Vernetzung in der Herstel­ lung von Schönheit, Genuss und Funktion. Jede Orientierung, die am Schnittpunkt vorgenommen wird, zielt in ihrem Kern auf die Vision einer möglichen wahren und ­damit auch ästhetisch qualifizierbaren Identität von Funktion und Gestaltung.

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5 Das Design lebt von der Inszenierung seiner eigenen Geschichte, und diese Geschichte besteht wesentlich im Umgang mit der permanenten Revolutionierung der Oberfläche. Die Neutralität des Inhalts gegenüber den Regeln der Herstellung, die Gleichgültigkeit der Werte gegenüber den Formen der Aneignung, die sich als Verfügungsmacht legiti­ mieren, reduzieren das Design auf die leere Formalisierung außerhalb des Gebrauchs von Funktionen und verflüchtigen die semiotische Struktur der Gestaltung. Unter semi­ otischer Struktur kann man eine Summe und eine Reihe verstehen, die mit den infor­ mativen Gestaltungselementen beginnen und das gesamte Ensemble der Kriterien auf die kommunikative Bedeutung als einen Diskurs zwischen Dingen und Menschen be­ ziehen. Semiotik ist angewiesen auf den Sinn einer kommunikativen Übereinkunft der Menschen über die Sprache der Zeichen, einer Übereinkunft, die niemals ein rationales Modell an Willensbildung ist, aber auch nie eine bloße Aneignung von Naturgeschichte. Die industrielle Organisation der Arbeit hat diesen kommunikativen Sinn im höchsten Maße problematisiert. Das wird aktuell noch verstärkt. Die postmoderne Ge­ staltung bedingt eine postindustrielle Produktion: Sie ist medial und ersetzt den Mas­ senkonsum von Dingen durch die Massensimulation synthetisch austauschbarer Bilder, die sich beliebige Dinge unterwerfen. Alles und Nichts werden tendenziell identisch. Es gibt aber unliebsame Kontinuitäten: Das Konzept der Moderne hat – gerade im Zeichen einer autonomen und authentischen Gestaltung – die traditionellen Formen eigenstän­ diger Produktionen, Bildungen und ihre Beständigkeit zerstört. Aber erst im Apparat des Postmodernen wird die semiotische Beziehungsstruktur suspendiert: Die Relation zwischen der Bedeutungsarbeit eines bildbedürftigen Subjekts und den Dingen, wel­ che Zeichen in Bildern symbolisch verkörpern und darin erst konsumierbar machen, ist nicht mehr notwendig. Sie liefert nicht mehr ihr Material, sondern wird gewaltsam in eine von außen angesetzte Verknüpfung angepasst.

6 Das Denken der Versöhnung, die Figur eines Dritten und die lösende Kraft dieses Drit­ ten auf einer integrativen, aber nicht unterwerfenden neuen Stufe beinhalten das Ver­ sprechen einer ausbalancierten Mitte und artikulieren einen moralischen Anspruch. Die Ohnmacht der Moral aber verzeichnet Verkürzungen. Die Frage nach einem solchen Design des Dritten zielt auf eine ehrwürdige Tradition: auf die Pflege eines intimen Her­ stellungskönnens. Der semiotische Kreislauf, in dem verschiedene Zeichen für ein und dasselbe Subjekt verständlich werden, ist dem Modell der handwerklichen Einheit von Produktionsbewusstsein und Gebrauchswahrnehmung nachgebildet. Dieser Kreislauf ist in der Moderne von mehreren Seiten her aufgebrochen wor­ den: von den Seiten der Produktion (industrielle Fertigung als demokratische Ästhetik), der Zeichensprache, der Traumatisierung des Gebrauchs und der Fixierung der Men­

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schen auf die quasi-natürlichen Bedeutungen von Dingen. Günter Anders hat im Befund über die Antiquiertheit des Menschen schon vor Jahrzehnten beschrieben, wie die Selbst­ inszenierung und die Eigensteuerung einer Übermacht an Dingen die Kommunikation vernichten. Der Diskurs der letzten 200 Jahre hat eine gleichwertige These. Die neuzeit­ liche Organisation der Erkenntnis greift auf ihre eigene Naturgeschichte zurück, und diese Naturgeschichte besteht darin, dass über die Produktion von Dingen die Welt er­ schlossen, umgewandelt und der Gestaltung des Menschen unterworfen werden kann. Auch die Kritik an einer solchen vorrangigen Selbstbedeutsamkeit der Dinge teilt den Universalismus dessen, was sie zurückweisen möchte. Sie ist nämlich der Überzeugung, dass an den Objekten selber die Strukturen einer Gesellschaft abgelesen und bis in die geheimen Winkel der Imagination hinein verfolgt werden können. Die Produktion von Dingen ist gleichzeitig eine rituelle Organisation der gesell­ schaftlichen Kommunikation. Sie hat naturgeschichtliche Züge, ihr Paradigma ist der Zeitraum als Zeit-Traum. Walter Benjamin ist in seinem Passagenwerk den Spuren ei­ ner Urgeschichte der Moderne nachgegangen, einem Typus von Geschichtsbewusst­ sein, das die kollektiven Leistungen ins Unbewusste absenkt und die individuelle Sen­ sibilisierung auf die Organisation chaotischer Sinnesdaten ausrichtet: auf den urbanen Raum, die Überfülle der Ereignisse, die Verwandlung der Erinnerung ins Traumatische. Mit dieser indirekten Art von Öffentlichkeit fällt die Inszenierung massierter Dinge mit der über das reizabhängige Unbewusste gesteuerten Enthistorisierung der urbanen mo­ dernen Wahrnehmung zusammen. Selbst was an Dingen noch greifbar war, wird in die­ sem Kontext zu einem Illusionsritual. Das Bewusstsein versinkt im Schlaf. Aber dieser Vorgang findet im individuellen Bewusstsein statt. Wenige Jahrzehnte nach der architektonischen Universalisierung des Traumer­ lebnisses in den Passagen in Paris, der Metropole des 19. Jahrhunderts, wird Sigmund Freud die Kostenseite dieser Divergenz innerhalb der Reizverarbeitung in Kategorien ei­ ner unbewältigten Naturgeschichte beschreiben. Seither hat sich in dieser Divergenz – dem Versprechen der einzelnen Dinge und dem durch die Überfülle der Dinge erreich­ ten Zustand der Erfüllungsunfähigkeit aufseiten der Menschen – nichts geändert. Der Umgang mit Objekten, Dingwerten und Repräsentationswerten, der Umgang mit gestal­ teten Stoffen bleibt der Tatsache dieser Divergenz unterworfen.

7 Wenn Gebrauchsdinge ihre Produktionsgeschichte enthalten, dann verlegt die mo­ derne Konzeption diese Geschichte zunehmend in die Traumsphäre: Denn die Pro­ duktion ist immer eine Organisationsgeschichte des Mangels gewesen. Und die muss heute so umgewandelt werden, dass sie über die Verfügbarkeit der Konsumreize jene unter ­Erneuerungszwang stehenden Formen von Kompensation ermöglicht, in denen die Überfülle der Dinge niemals zum Glück führt. Die Dinge werden zu ihrem eigenen Defizit, sie lösen kein Versprechen ein und bestehen doch nur in der Verlockung seiner

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­ rfüllbarkeit. Die Produktion muss, um diese Kenntlichkeit von Dingen aufzufangen, E zunehmend von rituellen, tabuisierten Tauschhandlungen durchwirkt werden. Schon die alte Signatur dieses Tausches – asketische Arbeitsmoral gegen üppige Bilder eines welterschließenden Konsumversprechens – hat den Dingen einen nur vorläufigen Platz eingeräumt. In der Postmoderne ist aber die Balance zwischen der Summe der Dinge und dem Zwang zu einem menschlichen Aufwand an Arbeit massiv gestört. Die Dinge halten endgültig nicht mehr das Gleichgewicht mit dem moralischen Entgeltungsanspruch der Anstrengung, mit der sie erzeugt worden sind. Wirkliche Ar­ beit zerbricht daran. Sie besteht heute einzig noch in der Umformung der vorhande­ nen Stoffüberfülle. Wenn die Dinge mit der Arbeit nicht mehr ins Lot eines allgemeinen gesellschaftlichen Tauschsystems gebracht werden können, dann werden die Dinge zum Konzept einer unzureichenden Gestaltung. Die Planspiele des imaginativen ge­ sellschaftlichen Designs sollen die Defizite der Wahrnehmung entziehen. Nicht allein durch die Computerisierung der notwendigen Zerstreuung, sondern auch durch eine universale Fetischisierung aller Erinnerungsspuren, die im Genuss von Dingen nicht restlos getilgt werden. Die Fetischbildung soll die Langeweile auffangen. Die Langeweile ist nicht allein die aus der Kenntlichkeit der Waren bezogene Ge­ stalt banal und öd gewordener Träume. Sie bringt als subversive Muße die Frage nach dem Sinn von Lebensformen wieder zur Sprache. Die Sprache der Langeweile gründet in der Nichtsnutzigkeit des Arbeitens und der sperrigen Tatsache, dass der Arbeitsgesell­ schaft das ausgeht, worauf sie einzig sich versteht: die Arbeit.1 Das muss umgeschich­ tet werden. Die präventive Antwort hat aber geschichtliche Schwierigkeiten gegen sich; ihre Instrumente sind zwangsläufig immer noch industrieähnliche Maschinerien. Aber sie werden anders eingesetzt, und die Technologien folgen dem Zwang dieser präven­ tiven Steuerung. Die neue Antwort knüpft am Ziel der alten an: So wie früher die gesell­ schaftliche Organisation der Genusspraktiken an die Gewalt der Dinge gebunden war und die das Versprechen des Lebens in das Elend der Ermüdung verschoben haben, so sollen die postmodernen Genusspraktiken zwar nicht mehr vom Aufwand an Arbeit (und der damit verbundenen moralischen Demonstration ihres Subjekts) abhängen, aber mit der unterschiedlichen und weiterhin asymmetrischen Zuteilung an Souverä­ nität im Umgang mit Imaginationsmaschinen die Kontinuität mit der fraglosen Passi­ vität sichern. Diese Maschinen richten eine ‚Arbeit‘ ein, die sich in der Einübung von Szenarien für eine synthetische Ohnmacht erschöpft. Die stetig geforderte Arbeit daran, glücklich sein zu müssen, weil eine pausenlose Bilderwelt des überglücklichen Lebens vor dem Auge vorbeizieht, das ist das strikte Gegenbild zur schöpferischen und erholsa­ men Muße. Jede Erfüllung würde diese Arbeit verunmöglichen. Nur wenn der Genuss nicht eingelöst wird, kann man ihm eine Dynamik abgewinnen. Dinge und Menschen müs­ sen als Gefäße erhalten bleiben, die mit Wunschmaschinen und Bildern gefüllt werden können. Nicht mehr die Arbeitszeit, sondern die Einfügung in ein sanftes Befehlssys­ tem und in die Simulationsbedingungen des artifiziellen Genusses – mit der Tendenz auf eine Vervielfachung der Reizüberflutung – entscheidet über den privilegierten Zu­ gang zum Genuss. Und daran hindert das alte Konzept der Dinge. Ihre Überfülle ist nicht

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mehr in der Lage, anonyme Massen konform zu inszenieren. Wenn Arbeit Nichtarbeit wird, dann hängt die Einrichtung von Bedeutungen von anderen Tätigkeitsformen ab. Die Einrichtung einer arbeitsfreien Zeit erfordert andere Maßnahmen als die für die Zurichtung von Stoffen und Materialien notwendige. Daran scheitert das Konzept der Dinge: Sie werden paradox, weil gerade sie den notwendigen Schein an Überfülle nicht mehr garantieren können. Sie reden zu laut von ihrer Abschaffbarkeit.

8 Dieses Paradox schlummert in der ‚Wegwerfgesellschaft‘. Ihr Wohlstand ist ihre größte Lüge und ihrer Entkoppelung vom Wert der Dinge arbeitet der Kitsch vor. Das Dilemma von Kitsch und guter Form lässt sich einfach formulieren: Wenn man vom Eigenrecht an Gebrauchshaltungen ausgeht, dann ist die Praxis des Konsums und seiner Einrich­ tung immer eine Fetischisierung der Objekte, in denen eine ganze Symbolik als Orien­ tierung greifbar werden soll. Das bürdet dem Design Erziehungsaufgaben auf. Zwischen den typisierten Surrogaten und dem elitären Vokabular einer ‚kontrollierten Innovation‘ (Prinzip der Verständlichkeit von Ausbrüchen) wird deutlich, dass die Geschichte des Designs nicht zum Geringsten auch eine Geschichte der ästhetischen Volkserziehung – ihrer Verweigerung oder ihrer Pflege – ist. Kitsch und gute Form tragen den Wertanspruch ihrer Gestaltungen vor den Konsu­ menten. Die Wertentscheidung findet aber keinen eindeutigen Angriffspunkt innerhalb der ästhetischen Anordnung von Dingen. Der Kitsch übersetzt ganz einfach die informa­ tive Ordnung eines hochkulturellen Vokabulars – oder das, was eine gesellschaftliche Geschmacksbildung für ein solches Vokabular hält – in serielle Ordnungen. Die Gestal­ tung von imitierten Hochformen öffnet den trivialisierten Code einem externen Zugriff, der nicht mehr auf die kommunikative Aneignung seiner Bedeutungen abzielt. Und auch nicht darauf angewiesen ist. Mit den guten Dingen geschieht nichts wesentlich an­ deres. Es lässt sich aber vielleicht ein anderer Weg finden, sich über die Funktionen von Design zu verständigen. Statt dem Design die Visualisierung der Funktionen und Bedin­ gungen der gesellschaftlichen Herstellung von Dingen, Bildern und der Strukturen der Ideologiebildung zu überschreiben, womit man sich nichts anderes einhandelt als die Fabrikation eines ‚richtigen Lebens‘, kann man seine Geschichte als Spurensicherung und als Bearbeitungsweise an Reflexen einsetzen. Kitsch und ‚good design‘ sind eigene Verständigungsmedien einer Bestandsaufnahme darüber, wie Menschen leben. Dokumentarische Selbstreflexion und Erinnerung könnten dann Funktionen her­ ausbilden, die nicht mehr unter Erneuerungszwang stehen. Das könnte andere Postu­ late plausibel machen. Wenn man die Gestaltung als Forderung einsetzt, von monokul­ turellen Vorstellungen Abschied zu nehmen und von ihren Zwängen zu heilen, dann müssen allgemeine – aber auch rechtliche, soziale, ökonomische, politische – Frei­ räume für ungebundene Gestaltungen eingerichtet werden. Natürlich läuft eine solche Forderung bezüglich der visuellen Gestaltungsansprüche Gefahr, das zu entgrenzen,

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was einzig noch als ‚gute Form‘ gegen den wuchernden Kitsch hätte behauptet werden sollen. Das ist ein Dimensionierungsproblem: Die gesellschaftspolitische Emanzipa­ tion und die ästhetische Emanzipation als Wertschöpfung durch Gestaltungen decken sich nicht. Wenn die eine Forderung dazu führt, dass ästhetisch alles entgrenzt werden soll, dann kann die andere Forderung nur hoffen, die Entlastung von Erziehungsansprü­ chen habe die Funktion einer Therapie, die vom Schrecken und vom Schrecklichen nur kuriert, wenn sie sich mit der pathologischen Verformung durch eine eindimensionale Lebensweise konfrontiert. Und wenn man die Wünsche der Konsumbevölkerung ernst nehmen, wenn man den von der ästhetisch verblendeten Elite unbemerkten Reichtum der Massenproduktion und des abseitigen anonymen Eigendesigns aufarbeiten will; wenn man schließlich an den manifesten Gebrauchsinteressen der artikulierten Kauf­ kraft sich immer noch orientieren muss, dann muss man für die Aufarbeitung der visu­ ellen Grunddispositionen dieser sogenannten Massenbevölkerung das Recht auf eine entgrenzte Selbstdarstellung ihrer – kollektiv erzwungenen – signifikanten Deformati­ onen zugestehen. Gestaltung, das beinhaltet schließlich auch: die Grundrechte; die Verfassung; die Art, leben und sterben zu können; die Chancen, eine Straße zu überqueren; den Vitali­ tätsgehalt der Luft; die Stechuhr; den Lohn; das Fabriktor; den Fernseher; die Politiker.

9 Die Denunzierung des Kitsches als einer regressiven Verhaltensweise, als einer Ver­ weigerung, eines Rückzugs in den Schatten einer ‚stummen Kultur‘ enthält ein Hoff­ nungspathos: Dass die Dinge noch eine auratische Erfahrung ermöglichen sollen, et­ was Einmaliges, einen dichten Gebrauchsstoff für eine kundige und liebevolle Praxis der kommunizierenden Aneignung. Diese Hoffnung wiederum zu denunzieren, plädiert für einen skeptischen Konservatismus. Aber die ursprüngliche Hoffnung ist nicht allein konservativ. Ihre Frage nach den Werten einer Einrichtung sucht Formen einer eigen­ ständigen und widerständischen ästhetischen Vergesellschaftung. Dinge kann man verstehen als ein Arrangement der Beziehungen zwischen Sub­ jekt und Welt. Die Dinge reden vom Leben dessen, der sich in ihnen einrichtet. Aber sie sprechen nur, wenn sie mehr enthalten als das, was ein Subjekt von ihnen ohnehin will. In diesem Arrangement geht es im Widerstreit zwischen dem Archaischen und einem Modernen auch um die stetige Modellierung einer archetypischen Konstellation zwi­ schen Dingen, Augen, Händen und Stoffen. Und erst der Zugriff auf die physiologischen Fermente aller Wahrnehmungsbildung liquidiert mit den Dingen nicht allein die lange eingeübten und stabilisierten Beziehungen zwischen Hand und Auge, sondern die Ein­ richtung von Erfahrungen schlechthin. Geregelte Tauschhandlungen sorgen über die ­ andlungen. regulierte Imagination für die gesellschaftlich ermächtigte Kontrolle der H Dem hat die Moderne vorgearbeitet mit einer Aufspaltung: Ihre Politik weist dem öko­ nomischen Bereich die schlechten, der Avantgarde einer autonomen ­ästhetischen Tä­

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tigkeit die Erzeugung der guten Dinge zu. Der gesellschaftliche Ort des Gestalters, seine Legitimation sind durch diese Aufspaltung definiert. Das ist das primäre Problem. Die begründbare Absetzung von den schlechten Dingen und vom schlechten Geschmack dagegen löst weder den ästhetischen Eigenwert von Gebrauchshandlungen ein, noch macht sie den Unterschied zwischen ästhetischen und nichtästhetischen Objekten ein­ sichtig. Die Erinnerung an eine solche Abgrenzung setzt sich dem Verdacht des Nostal­ gischen aus. Die Erinnerung hat eine trauervolle Seite. Vielleicht ließe sie sich aber als Korrektur einsetzen gegen jenen Wunsch nach Erfüllung, der die Melancholie seines Gelingens vorgreifend verdrängt. Die konservative Trauer hat ihr Recht in der Erinnerung an eine Zeit, in der die ­Bearbeitung der Natur noch nicht der Gewalt der Maschinen erlegen ist und in der die Bearbeitung der Geschichte noch nicht der Liquidation von klarsichtigen Träumen hat geopfert werden müssen. Die Trauer ist nicht konservativ allein; sie arbeitet auch nicht an sich, um sich selbst zu überwinden. Sie redet auch von einer möglichen Befreiung der Lebensversor­ gung vom Übergewicht der Dinge. Gebrauch und Genüsse bedürfen der Dinge, die nicht ausgelöscht werden. Die Erinnerung rebelliert gegen die Naturlast, dass sich der Dis­ kurs der Bedeutungen bis jetzt immer nur als Tilgung der Stoffe und Objekte behaup­ tet hat. Diese Tilgung soll die Erinnerung korrigieren. Ihre Aura hat damit zu tun, dass es (noch) Dinge gibt, die leichthin Geschichten erzählen können. Die Verehrung dieser Aura lebt aber von einer Geschichte der Verzweiflung: dass immer weniger Stoff für au­ thentische Erfahrungen mehr vorhanden ist.

10 Die Gestaltung und ihre Vision einer für Massen authentisch möglichen qualifizierten Form von Dingen zielt auf eine Einrichtung von Fähigkeiten, die eine gelingende Identi­ tätsbeziehung von Menschen und Dingen zumindest beschreiben können. Genuss wäre dann nicht mehr Besitz, Geschmack nicht mehr ein Verfügungsrecht, Vergnügen wäre nicht mehr der Verdrängung einer aufgetragenen ‚verborgenen Tugend‘ geschuldet. Die Dinge selber würden zu einer Spurensicherung an den Vorgängen, in denen sie leben­ dig werden. Eine solche Gestaltung hätte ein Bewusstsein von den Grenzen des ObjektDesigns. Die notwendige Gestaltung ist eine, die an den elementaren Voraussetzungen dessen arbeitet, was sie dereinst als allgemeine Kultur ermöglichen möchte. Es geht ihr nicht um die Wahrheit und die Signatur eines ‚Anderen‘, sondern um die Rückgewin­ nung des Abgedrängten an der Überfülle des Vorhandenen. Sie bricht Dinge, Zeichen, Bedeutungen an ihnen selbst auf. Die Fragmentierung ist das Modell ihrer Notwendig­ keit, und es ist zugleich das Modell nicht nur ihrer Freiheit. Sie spräche von einer gelin­ genden Rückgewinnung einer Natur, die heute nur noch als ‚Übernatur‘ eingeklagt wird gegen ein Abstraktum ‚Geschichte‘, das sich uns entzogen hat und als Urgewalt ‚Ob­ jekt‘ zwischen den Gehalten und den Bedeutungen sich einnistet. Ein Zitat zum Schluss:

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„Man darf nicht vergessen, dass das Objekt der beste Bote der Übernatur ist: es gibt im Objekt zugleich eine Vollkommenheit und ein Fehlen des Ursprungs, etwas Abgeschlos­ senes und etwas Glänzendes, eine Umwandlung des Lebens in Materie (die Materie ist magischer als das Leben).“2

Nachdem der Beitrag zur im August 1982 erfolgten 4. Forums-Ausschreibung des Internationalen Design Zentrums (IDZ) Berlin zum Thema „Gestaltung zwischen good design und Kitsch“ im Frühjahr 1983 prämiert worden war, erhielt ich die Einladung, für die Broschüre zum Wettbewerb einen Text beizusteuern: „Im Hin­ terland der Dinge. Design an der Hirnrinde“, in: François Burkhardt/IDZ Berlin (Hrsg.), Gestaltung zwischen ‚good design‘ und Kitsch. Dokumentation zur Ausschreibung und Ausstellung des IDZ Berlin, Berlin 1984. Die Broschüre enthielt weitere Beiträge, u. a. von Lucius Burckhardt, Bazon Brock, François Burkhardt.

1 2

Hannah Arendt, Ralph Dahrendorf, Jürgen Habermas und Claus Offe haben wiederholt darauf ­hingewiesen. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964, S. 76.

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AUGENSCHEIN – DIE AUFLÖSUNG DER DINGE IM KOPF. ZUM STELLENWERT DES DESIGNS IM ILLUSIONSZEITALTER Es gibt Kitsch, Schrott, Abfall. Und daneben die schönen, die gut geformten, die teuren, die ­luxurierenden Dinge. Und es gibt Szenarien, Kalküle, was mittels Dingen wie transportiert werden könne und was sich auszahlen solle. Einige dieser Szenarien kann man mit dem ­Ausdruck ‚Design‘ bezeichnen. Ein Typ der Kritik am Designvorgang ist uns bekannt: die Ideo­ logiekritik, die Denunzierung der gesellschaftlichen Lüge, des Fetischs der Dinge, der Dinge überhaupt als Betrug. Heute allerdings wird die Auseinander­setzung mit den Dingen immer stärker abgelöst vom Design von Illusionen und Bildern im Kopf.

Die Regulierung der Freizeitkultur, die Einrichtung einer Gesamtmaschine für Zer­ streuung, Genuss, Geschmack, die Abhängigkeit von Beteiligungschancen am Illusi­ onsmarkt, die Abrufbarkeit von Eigeninszenierungen – all das sind zeitgenössische Elemente einer neuen Art von Design. Dieses Design ist nicht mehr das einer Produk­ tekultur, sondern einer kybernetischen Kultur, zu der die Computerisierung einen Zu­ gang liefert: Rückkoppelungen, Veränderungen der ‚inputs‘, damit mögliche Kontrolle der Situation durch Simulierung einer neuen. Erst sehr unvollkommen und fragmenta­ risch sind die Maschinerien, die eine solche Richtung anzeigen. Eine Richtung, die mit der alten Kultur bricht, neue Sprachen, Symbole, Zeichen und vor allem Signale entwi­ ckelt, die Kommunikation von der alten gewohnten Sprache ablöst. Die Auflösung der Güterproduktionsgesellschaft ist noch nicht offensichtlich geworden, erst recht sind ihre Konsequenzen noch nicht sichtbar. Zu viel läuft noch immer über die Auseinander­ setzung mit der ökonomischen Tätigkeit, der Arbeit. Eines lässt sich immerhin sagen: Die Verfügung über Dinge wird immer abhängi­ ger von einer organisierten und organisatorischen Fähigkeit, mit den kulturellen Inhal­ ten und Verknüpfungen medial hergestellter Bilder umzugehen. Nicht mehr die Dinge sind es, sondern das, wofür sie stehen: Bedeutungen, Bedürfnisse, Szenarien, was das Modell der Gesellschaft in ein Erkenntnismodell der Leistungsfähigkeit von Medien ver­ wandelt. An die Stelle von Konsum, von Fetisch und Gütern, würde immer mehr eine Er­ eignisästhetik treten, die Inszenierung von Montage, Stilisierung und Zitat – vor allem das Zitat der älteren Güterkultur, ihre spielerische Verwertung und Umwertung.

Rückblick 1: Unvergleichliche Dinge Einen Rückblick erlauben beispielsweise die unvergleichlichen Dinge, die essenziellen oder gar quintessenziellen Dinge.1 Das Schweizer Armeemesser ist ein solcher Fall. Das Ding schneidet, schlitzt, öffnet, bohrt, schraubt, feilt und ist überhaupt das universelle Instrument für Überlebenskünste, (defensive) militärische Männlichkeit, familienväter­

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liche Sonntagsleistungen und transportiert jede Menge Pfadfinderromantik. Es ist ein Messer, und es befördert seinen eigenen Mythos. Es existiert gewissermaßen ohne Ur­ heber und ohne Ursprung. Es verkörpert einen Lebenszusammenhang, eine Nation, es repräsentiert sich als Bild dieser Nation, geschrumpft, ‚en miniature‘, aber mit allen so­ zialen und patriotischen Tugenden, dessen Werdegang es bezeugt. Es gibt andere Erzeugnisse von solcher Perfektion, die mehr oder weniger deut­ lich soziale Wertsysteme verkörpern: der Teddybär von Steiff, die Märklin-Eisenbahn, der Faber-Castell-Stift, ‚Caran d’Ache‘, Parker. Die Jeans von Levi Strauss sind eine Ein­ stellung, keine simplen Hosen. Coca-Cola ist nicht nur ein Getränk, sondern eine Kul­ tur, und außerdem bezeugt es die Allgegenwart einer Industrie und eines Landes. Wüste, Eis, Nordpol, Südpol – wo es nichts gibt, dort steht mit Sicherheit mindestens ein ColaAutomat. Aber gerade die Geschichte von Coca-Cola zeigt, dass das Design und die Wirk­ samkeit eines Stylings (Schriftzug und Flaschenform) abhängig sind von einem anderen, kaum sichtbaren Design, der Organisationsleistung von Technologen, Produzenten, Strategen, Vertragsabfassern und Lizenzverteilern. Coca-Cola hätte seinen weltweiten Siegeszug nicht in diesem Tempo durchführen können, wären nicht im Zweiten Welt­ krieg auf Wunsch der Soldaten in Europa mit Regierungsgeldern über 70 Cola- Fabriken gebaut worden, die nach Abzug der Armeen produktionsfertig und gratis für den Kon­ zern bereitstanden. Gerade die Organisationsleistung des Designs – zwischen Dingen, die irgendwel­ che Bedürfnisse befriedigen, und Vorlieben und Moden, Geschmacksneigungen, mit denen scheinbar Bedürfnisse zur Sprache gebracht werden können – macht aus den Dingen ein Mehr. Der Bedeutungszuwachs ist etwas Undingliches und Unsinnliches, oft das Entscheidende, eine diffuse Wirkung von Dingen, die mehr ermöglichen als das, was sie sind: eine Kulisse für Verhalten, Spuren und Dokumente, Elemente und Frag­ mente, Propagandisten und Motoren einer Konsumkultur, die immer eine bestimmte Arbeit an den Sinnen ist. Eine gesellschaftliche Gliederung von Geschmacksurteilen, ei­ ner Berechtigung zum Wechsel von Moden, einer Sinnenkultur und den Formen der Umwertung, der Neuinterpretation. Kulturelle Verhaltensweisen – das zeigt Pierre Bour­ dieus Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft Die feinen Unterschiede von 19822 – bilden ein komplexes System von Antworten auf gesellschaftliche Entwicklungen im Ganzen.

Rückblick 2: Müll Einen anderen Rückblick erlauben Dreck, Müll, Abfall, das ganze unterirdische, nicht gesellschaftsfähige, verdrängte Reich der getilgten Spuren, der ausgenutzten Bedürf­ nisgüter. Die Theorie des Abfalls des amerikanischen Mathematikers und Soziologen Michael Thompson3 weist nach, dass viele Dinge nur Wert erhalten können, wenn sie einmal Müll gewesen sind, eine Müllphase durchlaufen haben. Die Haltbarkeit ist ein Faktor des Verfalls. Die Inszenierung eines bestimmten Stils macht die Dauerhaftig­ keit zu einer Variante der Vergänglichkeit. Das italienische ‚Banal-Design‘ macht dar­

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aus einen Stil: bewusstes Zitieren und Propagieren des schlechten Geschmacks und des mannigfachen Kitsches – siehe die Präge- und Leitfiguren Studio Alchimia, Mem­ phis, die Zeitschrift ‚Domus‘, die Designer und Designtheoretiker Ettore Sottsas, Ales­ sandro Mendini. Und an diesem Stil wird deutlich, was für jeden Stil gilt: dass er nicht in den Dingen liegt, sondern in den Köpfen der Menschen gemacht wird. Unstillbar­ keit ist etwas, das hinter den Dingen liegt. Der Blick bewegt die Bilder in und neben den Dingen.

Wahrhafter Umgang mit Dingen Worin aber besteht ein wahrhafter Umgang mit den Dingen und dem Wirklichen? In einem Verhältnis von Distanz und Authentizität, Präzision und Diffusion, um die Or­ ganisation dieser Bilder durch ein an und in Medien geschultes, fähiges Publikum. Bei Alexander Kluge4 hält die Filmleinwand Kontakt mit der Netzhaut und ist also eine Au­ ßenhaut. Übertragen: In den Dingen ermöglichen nur die wahrgenommenen Bedürf­ nisse eine Dynamik. Es entstehen Bilder, und dort spielt sich das Weitere ab. Es gibt eine Unzahl von Bedürfnissen, die sich durch Gegenstände nicht einmal darstellen, ge­ schweige denn verzehren, entäußern oder zurückgewinnen lassen. Lebensbedürfnisse zum Beispiel. Es gibt Bedürfnisse, die von Ausdrücken geleitet sind, aber nicht von Ge­ genständen. Und wie lassen solche Bedürfnisse sich befriedigen? Kluge weiter: Die Frage, ob etwas authentisch ist, setzt die Souveränität der Distanz voraus. Die Formel lautet: Du kannst mich haben, wenn du willst, du brauchst mich aber nicht zu haben, weil ich auch so überlebe. Nur ungefähr 15 Prozent der Dinge werden bewusst designt. Der Rest wird durch einen anonymen Massenalltag reguliert und fällt aus dem Raster kulturell qualifizierter Wahrnehmung heraus, trotz aller Erziehungen durch Bauhaus, die Gute Form und Ge­ stalterpädagogiken. Zur ungeschriebenen Gebrauchsgeschichte des Alltags gehört das an den Dingen selber nicht Sichtbare. Das führt zur Veränderung des Designbegriffs, noch bevor mit der Revolutionierung neuer Bildmedien ohnehin der kulturelle Zusam­ menhang sich von der Güterproduktionsgesellschaft löst. Der Alltag unterliegt nicht so sehr Dingen als vielmehr den Szenarien gegen­ über der Lebensweise im Ganzen. Design in diesem Sinne – das meint: Öffnungszei­ ten, ­Verkehr, die Verbannung der Gerüche – der guten und schlechten –, Krankenhaus, Sektoren, Verwaltungen, Gesetze, Subsysteme, Zusammenhänge, Interferenzen. Das alles läuft heute in der Richtung einer mehrfachen und sich überlagernden medialen ­Vermittlung.

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Elektrifizierung der Weltsimulation Demokratisierung des Designs als Forderung: Das meint eine politische Forderung ge­ genüber der Medienkultur, nicht gegenüber Dingen. Es sind ja nicht Designvorstellun­ gen, die den Alltag mechanisiert haben, sondern eine gesamte Technologie der Zirku­ lation von Arbeit und Konsum. Die Benützung von Bildern ist schon immer eine andere gewesen als die Benützung von Dingen. Das zeigt die Geschichte der Medien seit der Er­ findung einer leistungsfähigen Reproduktionstechnik, der Gutenberg’schen Erfindung der beweglichen Lettern im 15. Jahrhundert. Das entscheidende an visuellen Medien – vom Beginn der Schrift an – ist, dass sie ihre Botschaft von ihrem materiellen Träger lösen und dass sie schnell Gegenstand und Mittel gesellschaftlicher Auseinanderset­ zungen wurden. Es gibt, gerade im Umfeld der Reformation, soziologisch einen Gleich­ klang von gesellschaftlicher Dynamik, Verfügbarkeitskonflikt gegenüber Medien, Kon­ trolle der Imagination, Geometrisierung des Körpers, Selbstkontrolle, Modellierung der Affekte in Richtung eines gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang. Der Herrschaftscharakter von Bildern wird innerhalb von Medien definiert. Die Medien ihrerseits sind Variablen einer zunehmenden Geschwindigkeit in der Erzeu­ gung von Bildern. Das erzwingt einen Punkt qualitativer Veränderung. Die rasante Be­ schleunigung der elektronischen Bilderzeugnisse, deren Revolutionierung in unser Zeitalter fällt, ist nicht deshalb von Belang, weil sie einfach ein weiteres Beispiel wäre für die jahrhundertelange Kombination von Fertigungsweise, Verbreitungsmethode und soziale Zweckbestimmung, sondern weil das Tempo der Bildsimulation heute er­ laubt, die Wahrnehmung der Bilder auszuschalten. Sie können produziert, ergänzt, ge­ wechselt werden, bevor sie überhaupt richtig im Blickfeld identifiziert werden. Wenn je, dann ist die Möglichkeit der Simulierbarkeit von Bildern durch bis da unbekannte mikrologische Reizungen an der Hirnrinde ein mögliches Modell horrorutopischer Verfügbarkeit. Die Elektrifizierung der Weltsimulation macht das soziale Leben neurologisch regulierbar. Vielleicht. Denn für eine Generation, die unter großem Einfluss medialer Bilder aufwächst, ist die Welt schon immer eine Kopie des Bildes gewesen, das die Me­ dien zeigen. Der Maßstab hat sich verkehrt: Die Illusion wird zur Richterin des Wirkli­ chen und ist eine höhere Wirklichkeit. Die Welt wird zur Umkehrung der Erfahrungen, die einmal hierhin, einmal dorthin und ohne Reibung an Sperrigkeit und Authentizi­ tät verschoben werden können, weil ohnehin keiner mehr zu verstehen braucht, was auf der Welt wirklich vorgeht, also wirklich ist, weil es zeigbar ist. An der Basis der Sin­ nentätigkeit wird jetzt die Illusion zur Wirklichkeit. Und das hat einige Pointen, die gar nicht so chancenlos aussehen. Es ist nämlich möglich, dass die Fähigkeiten des Be­ wusstseins so gegenüber einer Wirklichkeit getestet werden können, weil die Kraft der Bilder der Schlüssel dazu ist. Es steckt darin ein spezieller kultureller Bruch mit dem gesellschaftskritischen Bewusstsein, das gemeint hat, die Menschen würden mit Din­ gen betrogen.

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Demokratisierung der Fantasie Scheinbar physikalische natürliche Ordnungssysteme und Eigenschaften werden heute als Faktoren sozialer Regelungen deutlich. Der Architekt Hans Hollein propa­ giert als Architektur die Wohnpille, die chemische Beeinflussung der Raumerfahrung, die damit realer würde als der Wohnraum selber. Die elektronische Integration von Fantasie und Einbildungskraft, Wahrnehmung und Geistestätigkeit würde eine Visu­ alisierung von Bildern erlauben, wie wir sie nicht kennen, weshalb wahrscheinlich just von ihnen ein Francis Ford Coppola träumt: riesige Radio-City-Halls, wo, mittels Holo­ grammen, die Hirnströme der Betrachter samt diesen selber ins aktuell inszenierte Ge­ schehen eingebaut werden könnten. Das gelingt aber sinnvollerweise nur, wenn man über den Heimcomputer nicht allein bestellen und nicht allein vorfabrizierte Szena­ rien und Lebensweisen einkaufen kann, die so idiotisch sind, wie eh und je, weil die Produzenten und Macher ganz einfach die Fülle des Mitgeteilten mit einer Zunahme an Information verwechseln. Die seriellen Produktionen nämlich lassen sich unterlau­ fen, individuelle Programmierungen sind ohne Weiteres an die Produktion anschließ­ bar. Unter einer – der gewichtigen und springenden – Voraussetzung allerdings: dass Computer und Verkabelung zu einer allseitig benutzbaren, offenen und unzensierten Dezentralisierung der Produktionsinputs führen und dass damit die Benutzung der Medien der Chance der Selbstwahrnehmung und Selbstdifferenzierung von Wünschen dient. Die Demokratisierung der gesamten Technologie, ihrer einzelnen Medien wäre dann für einmal identisch mit der Intensivierung und Demokratisierung der Fantasie. Das ist idealtypisch gesprochen. Aber immerhin möglich. Und mehr als Möglichkeiten hat noch kein Medium geboten. Einschätzungen über den Stellenwert der chemisch-­ illusionistischen Manipulation der Welt an der Registratur des Gehirns liegt ganz sim­ pel in der Logik der Medienentwicklung seit der Erfindung der Schrift. Die ebenso ba­ nale, dagegen aber gänzlich unlogische Frage ist die nach der Qualität der sinnlichen Zusammenhänge im Ganzen. Und die liefert kein Medium, und kein Medium hat sie einfach so geliefert. Ungenützte Wahrnehmungen sind aber kein Argument gegen Technologien. Die Erprobung von Kommunikationstechnologien hat immerhin einen gesamtgesellschaftlichen Stellenwert und könnte auch zur Erkenntnis des Stellenwerts ästhetischer Phänomene und der Kontrollfähigkeit genutzt werden. Die Verfügbarkeit über Medien ist kein Faktor, der außerhalb dessen liegt, was Technologien überhaupt leisten können. Das Design im Illusionszeitalter würde zu einem Modell interkultureller Fähigkei­ ten, zu einer Leistung einer anderen kulturellen Sensibilität. Die ‚inputs‘ müssen uni­ versal geöffnet werden. Die Kontrollfrage dreht sich zurzeit ja um das scheinbar nicht entscheidbare Problem, ob sie überhaupt schließbar sind. Die mediale Bildersimula­ tion könnte die Wahrnehmung befördern, Produktion und Konsum demokratisieren und dezentralisieren. Die Demokratisierung und Vervielfachung simulierbarer Bildwel­ ten wiederum könnte die Abschaffung der Dinge befördern, sie entwerten, zu brauch­ barem Müll degradieren und damit die Vernichtung von Arbeit fördern zur Pflege der

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I­ n- und Umwelt. Moral ist immer ein Faktor der Technologien gewesen und sie ist es auch heute – ein Faktor im Inneren des technologischen Monsters, nicht in externen Wünschen, sondern in der ‚Natur‘ der Sache.

Zum (Weiter-)Lesen sei hier abschließend empfohlen: Sigfried Giedion, Herrschaft der Mechanisierung, 1982; Susan Sontag, Kunst und Antikunst, München 1980; Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Ber­ lin 1984; Alexander Kluge. Bestandsaufnahme: Utopie Film, 1983; W. Ross Ashby, Design for a Brain, New York 1952; Richard Bennett, Die Tyrannei der Intimität. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, 1983; Michael Thompson, Theorie des Abfalls, Stuttgart 1981; ­Richard Sennett. The Uses of Desorder, New York 1970.

„Augenschein – die Auflösung der Dinge im Kopf. Zum Stellenwert des Designs im Illusionszeitalter“, in: ­Wochenzeitung, Zürich, N° 38 21. September 1984.

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Vgl. dazu: Comfeld/Edwards, Quintessence. The Quality of having it, New York 1983. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982. Vgl. Michael Thompson, Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value, Oxford 1979 (deutsch: Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart 1981). Vgl. Alexander Kluge, Bestandsaufnahme: Utopie Film, Frankfurt a. M. 1983.

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DESIGNAUFFASSUNGEN IM WANDEL – CHANCE FÜR NEUE PRODUKTIONSWEISEN? – KONZEPT FÜR DEN ÖFFENTLICHEN FORUMKONGRESS DES INTERNATIONALEN DESIGN ZENTRUMS (IDZ) BERLIN IM NOVEMBER 1984 Die Güterproduktionsgesellschaft ist an einem Ende angelangt, die Arbeit knapp gewor­ den. Es scheint, als hätten die Güterberge, die wir nicht mehr nutzen können und die uns im Wege sind, die Arbeit aufgesogen. Die Wirtschaft befindet sich in einer permanen­ ten Krise. Sie wird zum Ende ihres Wachstums gezwungen. Fragen wir gegenüber Trend­ vermutungen weiter: Wie wird die wirtschaftliche wieder zu einer ökonomischen Tätig­ keit, die kulturell nicht mehr in Arbeitszeit und Freizeit aufgespalten werden kann? Wie gewinnen wir die Energie aus den Bergen unbrauchbar gewordener Dinge zurück? In welchen Formen eignen wir sie uns wieder an? Wie verwandeln wir unsere Produktions­ kultur in eine produktive Kultur? Die Güterproduktionsgesellschaft ist heute einer Pro­ vokation ausgesetzt, die tief zielt; der epochale Bruch zwischen Arbeit und Kultur, der sichtbar geworden ist, der Stilwandel in den kulturellen Einstellungen und Gewohnhei­ ten und vieles mehr intendieren ein Ende der dingherstellenden Formen von Tätigkeit. Die Güterproduktionsgesellschaft hat sich herausgebildet als: • • • •

eine bestimmte Strategie der Herstellung von Formen für Dinge, eine bestimmte Auffassung von Gestaltung und Design, eine definierbare Verständigung über Dinge und Formen, eine bestimmte Organisation des Geschmacks über die Sprache der Dinge, • eine spezifische Ritualisierung der sozialen Welt, • eine systematische Repräsentation von dinglichen ­Qualitäten.

Die bestimmte Auffassung von Gestaltung und Design verbindet die vielen Varianten der Gestaltung, die angesiedelt werden zwischen der einzig als Massenkonsum kon­ zipierten Welt der trivialen Dinge und der professionell gestalteten Welt einer mino­ ritären guten Form. Sie verbindet sie mit den anderen Charakteristika der Güterpro­ duktionsgesellschaft zu einer einheitlichen und umfassenden Welt dinglich verfasster Tätigkeiten, einer Welt, gebildet nach einem mechanischen Modell. Was wir heute beobachten können, ist der Beginn der endgültigen Überwindung dieses mechanischen Modells. Damit tun Ökonomie und Design sich schwer. Die Wirt­ schaft tut sich besonders schwer; Design dagegen ist seit geraumer Zeit nicht mehr aus­ schließlich auf die Verpackung von Dingen fixiert. Ein Anliegen dieses Forum-Kongresses ist denn auch die Klärung der innov­ativen Möglichkeiten des Designs. Gefragt wird nach der Förderung von Wirtschaft durch ­Design, nach dem Verhältnis der kritischen Vermittlung von Alltagsästhetik, Design,

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­ onsum, Produktion und nach den Möglichkeiten einer Abstimmung der Produktion K auf ein neues, gewandeltes Design. Die Frage nach dem Verhältnis produktiver Technologie und produktiven De­ signs soll versuchsweise mit einer Anwendung von Designkonzepten auf einer mittle­ ren Ebene geklärt werden. Damit sind gemeint die Chancen eines Designs der kleinen Serien. Nicht gemeint ist die vordergründige Förderung einer mittelständischen Wirt­ schaft. Auch nicht gemeint ist die bloß quantitative Verwertung eines innovativen De­ signs durch eine dem alten rationalistischen und positivistisch-pragmatischen Muster der Dingproduktion angeglichene Ökonomie. Zu fragen ist qualitativ nach einer mittle­ ren Ebene bewusster Gestaltung zwischen der – mittels designten oder nicht geformten – Großproduktion und der Produktion der gutgeformten Dinge. Es geht um Alternativen zum anonymen Design des Massenkonsums und der illusionär gewordenen Etablie­ rung einer neuen Geschmackselite. Die dritte Ebene der Produktion meint als einen Zwischenraum zwischen sich ent­ sprechenden Formen eines internationalisierten Geschmacks. Die Großtechnologie, die mit positivistischen und scheinbar rationalistischen Methoden und faktisch mit in­ tuitiven und partikularen Selektionsvorgängen Objekte produziert, die durch den Raster kulturell codierter Geschmacksbildungen vermittelt werden, ist abhängig vom sichtbar alt gewordenen Modell mechanischer Kultur, von der Mechanisierung der Arbeit, der Produktion, des Konsums, der Kultur. Ein innovatives Design heute geht von der Überalterung und vom Niedergang der monokulturellen Güterproduktion aus und fragt nach polykulturellen Werten, nach Werten an Gebrauch und Gestaltung, die weder mechanistisch noch dinglich sind. Die dritte Ebene intendiert den kulturellen Zwischenraum einer exemplarischen, gleichwohl ­anspruchsvollen, regional zustande gekommenen, autonomen und l­ okalisierbaren Ge­ staltung der gesamten Umwelt. Es handelt sich dabei um durch Produktion realisier­ bare Formen von Gestaltungsvorschlägen. Design soll machbar sein. Über Machbar­ keit soll der Grad an Bewusstheit entscheiden. Um das Verhältnis von mechanisierter Produktion und rationalistisch-positivistischer Dingkultur in den Blick zu bekommen, muss als Gestaltung konzipiert werden, was eine wechselseitige, notwendige Verän­ derung des gewandelten Designs und der veränderten Produktionsweise ermöglicht. Wenn wir ausgehen vom Verlust der Authentizität, wenn die gefälschte Fälschung, das Zitat, die Collage, die Einrichtung von Szenarien für eine Bearbeitung der Überfülle be­ deutungslos gewordener Dinge zu einer neuen Qualität führen sollen, und mehr noch: wenn wir mit solchen Szenarien die Absicht verbinden, gesamtkulturelle Probleme zu­ mindest angemessen zu verstehen, dann können wir nicht davon ausgehen, dass das innovative Design einfach in die Produktionsbedingungen der bisherigen Ökonomie eingepasst werden kann. Es geht um einen konstruktiven Dialog zur Einrichtung einer neuen gesamtkulturellen Qualität, einer neuen Verbindung von Arbeit und Tätigkeit von beiden Seiten, der Produktion wie der Rezeption her. Beide machen erst Gestaltung aus; es existieren keine isolierten Gestaltungsvorgänge. Die Formulierung der Gestaltung von Designauffassungen her ist eine Chance. Denn: Die Entbindung des schöpferischen Potenzials gewandelter Designauffassungen

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fordert genau das, was politische Appelle immer nur beschwören: innovative Leistun­ gen einer als Kultur verstehbaren Ökonomie. Der Idealtyp einer internationalistischen Gestaltungsform hat ausgedient, ebenso ausgedient wie die Einrichtung der wirtschaft­ lichen Tätigkeit als einer Produktion von Gütern. Gerade neue Designtendenzen wissen um die Welt-Umwelt-Beziehungen und um die Defizite auch der neuen Technologien. Aber ohne deren Herausforderung, welche ohnehin die Güterproduktion verändert, auf­ zunehmen, ist bewusstes Design nicht mehr möglich. Die ‚neue Epoche‘ macht das Problem noch von einer anderen Seite her deutlich: Ein Design, das auf ökologische Grundeinsichten durch die ökologische Gesamtgefähr­ dung nicht produktiv reagieren kann, ist kein innovatives Design. Das Erschöpfen der Ressourcen, das Zusammenbrechen des Wirtschaftswachstums, die Einschränkung an Konsum, damit das Aufbrechen des über Lohn vermittelten gesellschaftlichen Verkehrs mit den Dingen, die Umgewichtung des sozialen Handlungsspielraums, die Krise der Ballungsgebiete, die innere Gefährdung der staatlichen Politik als solcher, der Zugriff der neuen Technologien auf Lebensweise und Bewusstsein – all das sind Tendenzen, die verdeutlichen, wie sehr allein der Dialog zwischen Ökonomie und Design, Praxis und Reflexion, Ausbildung und Designauffassung in der Lage ist, innovativ nach den Gestal­ tungsbedingungen einer neuen, einer gesamtheitlichen Kultur zu fragen – weit über den Horizont unseres Produktionsverständnisses hinaus, das ebenso hinter der Entwick­ lung von Technologien und Problemlösungserfordernissen herhinkt wie die Entwick­ lung der Designausbildung und das Problembewusstsein des Designers. Die Fragen an die Einrichtung einer zeitgemäßen, innovativen Ausbildung der ­Designer ist ebenso wichtig wie die Frage nach den Methoden, mit denen Design die Entstehung einer neuen Kultur fördern kann. Diese neue Kultur entwickelt sich – in ­gewisser Weise und in noch unentschiedener Form – ohnehin ‚von selbst‘. Welches Ge­ sicht sie aber wirklich hat und welcher Spielraum der humanen Auffassung von mensch­ lichem Leben bleibt, das ist eine unmittelbare Folge bewussten Handelns. Es geht für die Produktion wie für Design um die Frage nach dem Potenzial einer machbaren Kul­ tur; es geht um die kulturellen Leistungen von Design und Produktion; es geht um die Organisation von Entscheidungsprozessen, mit denen die Selektion von Entscheidun­ gen wieder zur Kontrolle über die heute nicht mehr kontrollierten Auswirkungen von Technik, Politik und Ökonomie auf Lebensweise und Existenzgrundlagen werden kann. Und es geht darum, wie im Dialog zwischen einer mittleren Ebene einer innovativen wie anpassungsfähigen Produktion mit dem gewandelten Designkonzept Methoden der Machbarkeit von Gütern für eine stabile Kultur entwickelt werden können.

Gestalt, Form und Ablauf des Kongresses Die Diskussion der oben geschilderten Tendenzen und der nachstehend formulierten Fragen soll im Kreis von Fachleuten kontrovers nachgegangen werden. Für die nachste­ henden Bereiche werden Eintretensthesen und Voten vorbereitet:

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1. Aktuelle Probleme aus der Sicht der Wirtschaft. 2. Krise von Wirtschaft und Arbeit; veränderte Technologien und Entscheidungsmodelle. 3. Ökonomische Szenarien und Selektionskriterien für die ­Pro­duktion von Dingen. 4. Der Übergang zur nachmodernen, nach-mechanischen ­Gesellschaft im Spiegel von Designauffassungen; Kon­ sequenzen für die Designpolitik in Ausbildung und Praxis, ­Theorie und Wirtschaft. 5. Ökonomie und Design als Bearbeitung bereits produzierter ­Güter. 6. Ökonomie und Design als Massenmedien; zum Verhältnis von Wirtschaft und Kultur, Dingen und Öffentlichkeit; Fragen an die ‚öffentlichen Dinge‘ der zeitgenössischen Kultur. 7. Computer, mittlere Ebene der Produktion – Modelle für eine ­innovative Produktionsleistung und Gestaltung, ein nach-­ mechanistisches Modell von Tätigkeit. Perspektiven der Über­ windung der Wirtschafts-, Arbeits- und Gestaltungskrisen. Der Kongress wird in Gestalt eines Podiumsgesprächs, eines öffentlichen Hearings mit geladenen Experten aus den Bereichen Wirtschaft, Designpraxis, Designausbildung, Designtheorie, Soziologie, Medienwissenschaften und Kommunikationstheorie durch­ geführt. Dabei soll zu jedem Thema in einem ersten Schritt von kompetenter Seite der Stand dargestellt, in einem zweiten Schritt die Probleme kontrovers diskutiert werden. Es soll exemplarisch die Spannkraft zwischen den aktuellen Zwängen der Güterproduk­ tionsgesellschaft und dem kritischen Modell kultureller Aufklärung als Chance für eine Klärung der Innovationsgehalte in Gestaltungsfragen genutzt werden. Der Kongress wird ganztägig im November 1984 stattfinden. Angesprochen wird ein überschaubarer Kreis aus Industrie und Design sowie Vertreter der Presse. Eine an­ schließende Publikation ist vorgesehen. Sie soll nicht den Ablauf des Kongresses do­ kumentieren, sondern Überlegungen präsentieren, die sich aus den kontroversen Dis­ kussionen als Bearbeitungen aufdrängen und die für den Kongress erarbeitete Beiträge ergänzen: Thesen, Ausführungen, Voten, Essays. Der Kongress wird stattfinden in ei­ nem Clubraum der Berliner Hochschule der Künste. Konzeption, Präsentation und Gesprächsleitung: Hans Ulrich Reck, Philosoph, Publizist. Referenten und Disputenten: • • • • •

ein Vertreter des Verbandes Deutscher Industrieller VDI Hartmut Esslinger, Designer (APPLE) Richard Sapper, Designer (IBM) Tilman Spengler, Sozialwissenschaftler Wolf Lepenies, Soziologe

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• Carlo Jaeger, Ökonom • Jochen Gros, Designer • Alexander Kluge, Medienwissenschaftler, Medienproduzent Eintretensvoten: Es handelt sich hier um einen Vorschlag. Die Nummerierung ­bezieht sich auf die oben benannten Themenbereiche. • • • • • • •

Themenbereich 1: Vertreter VDI Themenbereich 2: Carlo Jaeger Themenbereich 3: Richard Sapper Themenbereich 4: Jochen Gros, Wolf Lepenies Themenbereich 5: Hartmut Esslinger Themenbereich 6: Alexander Kluge Themenbereich 7: Tilman Spengler

Forumkongress IDZ 1984 – Anhang: Diskussionsbereiche/Fragen 1.  Die industrielle Produktionsgesellschaft ist eine Güterproduktionsgesellschaft. Ihre Technologie entspringt dem mechanischen Zeitalter und den Gesetzen der Mechanik. Diese Gesellschaft häuft Güterberge an – mittels bedeutsamer und unbedeutender For­ men. Die Konzepte, die diese Formen interpretieren, sind unterschiedlich. Aber die Verknüpfung von mechanischer Produktion, Mechanisierung der Arbeit, Geschmacks­ bildung über Sozialprestige und Präsentation der Geschmacksbildung durch Güter, Ge­ genstände, Objekte – der Darstellung wie des Verzehrs – bleibt durchgehend erhalten. Diese Verbindung ist das aktuelle Problem. Die eindimensionale Werteproduktion von Dingen, welche die Arbeit aushöhlt, ist weder sozial noch ökologisch, und das heißt auch: weder ökonomisch noch gestalterisch verantwortbar. Voraussetzungen sind neu zu ­diskutieren: • Weshalb ist unsere Vorstellung von Produktion mechanisch, wieso ist die produktive Arbeit mechanisch konzipiert? • Weshalb wird Arbeit über den Lohn in Formen gesellschaft­ licher Kompetenzverteilung dargestellt, die wiederum ­einzig in der Aneignung von Dingen (oder Qualitäten von Dingen) ­messbar wird? • Wie soll man die Gestaltung des Lebens gesellschaftlich ­organisieren, wenn mit der Verteilung der Arbeit auch die ­Verbindung des mechanischen Zeitalters mit seinem ­Konzept von Dingen überwunden wird?

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2.  Nicht allein die Produktion folgt einer neuen, kybernetischen Technologie – auch die Gesellschaft im Ganzen überwindet die Strukturen des Mechanischen und mit ihnen das Konzept des Konsums von Dingen. Die Gestaltungsfragen der Wirtschaft gehen weit über das Problem der Gestaltung von Gegenständen hinaus. Was gibt es an Szenarien in der Wirtschaft, die dem neuen Prozess gerecht werden? 3.  Bis jetzt wurde auch das Verhältnis der Verausgabung von Tätigkeit zum Gehalt der Dinge mechanisch konzipiert. Es kehrt als Frageverhältnis zwischen Arbeit und Freizeit wieder. Was aber, wenn Arbeit nun getan werden kann, ohne dass sie die Lebenszeit so belegt, dass sie den anderen Teil, den des Verzehrs von Dingen, auch mitproduziert hat? Wie öffnet der wirtschaftliche Komplex seine produktionsbestimmte Mechanik wie­ der einer Form von Arbeit, von Tätigkeit, die grundsätzlich als Subsistenz, als Eigenver­ sorgung, als Lebensgestaltung, als Beruf konzipiert ist und damit nicht mehr über den Lohn und die mechanische Produktion definiert werden kann? 4. Misst man die Wirtschaft an den Qualitäten der Gestaltung von Lebensbereichen, dann stellt sich über das spezialisierte Verantwortungsdenken der professionellen De­ signer die grundsätzliche Frage danach, wie und – wenn ja – welche Formen der Produk­ tion es ermöglichen, den Schritt in eine kybernetische Kultur zu tun. Der Unterschied der kybernetischen zur mechanischen Kultur ist einfach: Es geht nicht mehr um die Produk­ tion von Dingen, sondern um das Anbieten von Infrastrukturen für eine umfassendere und nachdrücklichere, wesentlichere kulturelle Gestaltung des Lebens. Wie wird die wirt­ schaftliche selber zu einer gestalterischen Tätigkeit in diesem Bearbeitungsvorgang, zu einer Leistung für Reflexion, Spiel, Kommunikation, gesellschaftliche Interaktion? 5.  Wir kennen die Schlagworte: postindustrielle Gesellschaft, Informationsgesellschaft, postmoderne Gesellschaft, fließende Codes. Was wir ernst nehmen müssen an der PostIndustrialität: Die Gesellschaft gründet nicht mehr in der Güterproduktion und dem mechanischen Modus ihrer Produktionsweise, sondern in der Vernetzung von Informa­ tionsflüssen (Information hier nur quantitativ – als Summe von abrufbaren, aber auch veränderbaren Daten) mit einem kybernetischen Verständnis des neuen kulturellen Subjekts. Darauf deutet die Rede von der Nachmodernität hin, die zunächst ganz ein­ fach die Urbanisierung der Organisation der Produktion meint, d. h. die Tertiarisierung der Gesellschaft. In ihr werden die Dinge austauschbarer; es geht nicht um Stabilität, sondern um eine Permanenz der Drapierung und Verwandlung innerhalb einer Reihe von Inszenierungen und Erscheinungsweisen. Wer die Trends der letzten zehn Jahre schon nur flüchtig verfolgt hat, dem wird klar sein, dass sich ein Konsumverhalten her­ ausbildet, das nicht mehr nach den stabilen Dingen fragt, nicht mehr mechanisch fragt, nicht mehr auf der Linie der Güterkonsumgesellschaft und, z. B., auch nicht mehr auf der Linie der Bauhaus-Pädagogik. Es ergeben sich Fragen: • Nimmt die Wirtschaft die beginnende Ablösung von den Din­ gen ernst?

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• Hat sie Szenarien zur Verfügung? • Wie gestaltet sie die Form ihrer Güter, die sie anbieten möchte? • Wie rational sind die Entscheidungsvorgänge, wie rational die stilbildenden Vorstellungen, die Selektionen von Ge­ staltungsvorgängen und Entwürfen? • Welche Konzepte gibt es für ein neues Design, ein Design, das nicht mehr monokulturell ist, nicht mehr professionalisiert ­hinsichtlich einer definierten Serie gestaltungsbedürftiger ­Güter, sondern ein Design, das aus dem Verhältnis des Gestal­ ters zu Fragen und Erscheinungen der Kultur und der Künste hervorgeht? • Welcher Kompetenzen bedarf ein Designer neuen Typs, ein ­Designer, der polykulturell fragt und vieles macht, ein Desig­ ner, der selber ‚banal‘ ist und sich als professioneller ­Dilettant zu Dingen und Szenarien verhält – nämlich so, wie der nach­ moderne kompetente Konsument sich als Insze­nator versteht seiner öffentlichen Erscheinungsweise? 6.  Diskutiert werden müssen also auch die Vorgehensweisen des Designs und von hier aus der Zusammenhang von Designausbildung, Designpraxis und Unternehmensent­ scheidungen. Dazu einige, unvollständige und klärungsbedürftige Stichworte: • die gefälschte Fälschung als Gestaltung, die dem Zerfall des ­Stilpluralismus heute angemessen ist; • die postmoderne Überwindung des kritischen und mechani­ schen Rationalismus (wie Opper ihn versteht: als Szientifizie­ rung aller Entscheidungsvorgänge); • die Sichtbarmachung des Unsichtbaren durch eine Zitier­ technik: Zitat als Zitieren; • nichtrationalistische Gestaltungsweisen des Designs: das Pro­ blem und die Chance des Endes der Authentizität.

Geschrieben am 31. Mai 1984 als Konzept zur Durchführung der Tagung Designauffassungen im Wandel – Chance für neue Produktionsweisen? im Auftrag des Arbeitsrates des Internationalen Design Zentrums IDZ Berlin und seines Direktors, François Burkhardt, in der Funktion des Vorsitzenden des Programm- oder ­Arbeitsrates aufgrund der Prämierung im Wettbewerb 1982/1983 zur Ausschreibung und Bestellung des 4. Forums des IDZ Berlin zum Thema „Zwischen good design und Kitsch“.

DESIGNAUFFASSUNGEN IM WANDEL – CHANCE FÜR NEUE PRODUKTIONSWEISEN? 345

IDZ-KONGRESS DESIGNAUFFASSUNGEN IM WANDEL – CHANCEN FÜR NEUE PRODUKTIONSWEISEN? – EINLEITUNG DER TAGUNG Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin hier nicht als Redner, sondern als Medium, als Tagungsleiter bestellt und habe also die Funktion des anregenden Vermittlers. Nicht allein ungeschriebene Konvention, sondern ihr Gründen in der Sache, schreiben es vor, dass der Tagungsleiter nicht als Re­ ferent sich vordrängt und schon gar nicht in der Einleitung versucht, Inhalte vorab zu diskutieren oder Entscheidungen darüber nahezulegen. Als erste Vermittlung möchte ich Sie alle herzlich zu unserem diesjährigen Forum-Kongress begrüßen, begrüßen auch in Ihrer Funktion als anregende oder widersprechende, kontroverse oder zustim­ mende Referenten, Referenten nämlich Ihrer Anliegen, Ihres Interesses, Ihrer Kritik. Unser Podium ist gedacht als Element eines Plenums, und ich freue mich auf diese bei­ den Tage, an denen wir Gelegenheit haben, ein Stück öffentlicher Kultur, ein Stück Ar­ gumentations- und Debattierkultur zu entwickeln. Dieses Stück Kultur scheint mir we­ sentlich mit unserem Thema zu tun zu haben, mit dem Verhältnis von Ökonomie und Ästhetik, Produktion und Design, Theorie und Praxis. Ich möchte Ihnen im Folgenden diesen Zusammenhang erläutern. Und zwar so, dass ich Ihnen über die Ausrichtung der Arbeit im Arbeitsrat des IDZ berichte, der die­ ses Thema als Forum-Kongressthema vorgeschlagen und ausgearbeitet hat und des­ sen Diskussionen sich als ständiger Begleiter eines sich schnell wandelnden – um es neutral auszudrücken – Internationalen Design Zentrums genau um die Schwerpunkte drehen, die nun im Tagungsprogramm unschwer erkennbar sind: um den Übergang in ein neues technologisches Zeitalter, die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Einführung neuer Technologien in die Produktion, ihren Zusammenhang mit neuen Designtheorien, das Verhältnis von innovativer Theorie und Praxis zu den ökono­ mischen Engpässen in der Entwicklung der heutigen Arbeits- und Energieverbraucher­ gesellschaft, die möglichen Veränderungen in den Strukturen wiederbelebter mittlerer und kleinerer Unternehmen und schließlich die Reflexion der neuen Technologien in ihrer Auswirkung auf die Entwicklung der Gesellschaft allgemein. Dabei gehen wir – als ständiges Modell oder als, gewissermaßen, Spielanleitung – von der funktionellen Überlegung aus, dass unser Diskurs über diese Punkte an die öko­ nomische Realisierung angeschlossen werden kann. Wir übernehmen als Zielvorgabe das ökonomische Szenario, dass die gestalterischen, theoretischen, kulturkritischen und ideellen Formulierungen praktisch realisierbar sind, sei’s als Produktion in einem engeren, sei’s als Produktion (Szenarien) in einem weiteren Sinne. Damit nehmen wir einen programmatischen Sachzwang auf, der die Arbeit des IDZ künftig ausrichten und dominieren soll: das Kriterium der ökonomischen Verwertbarkeit für mittlere Unter­ nehmen, kleinere Serien und spezifisch Berliner Verhältnisse. Produktion als Maßstab

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der theoretischen Verständigung tritt nun an die Stelle der ästhetischen Vermittlung der alltäglichen Kultur, die ja nicht allein, wenn auch nicht zum Geringsten, von den ökono­ mischen Vorgängen geformt wird. Der neue Zugang zu einer mittleren Ebene der Pro­ duktion ist das generelle Thema des zurzeit als 4. Forum des IDZ bestellten Arbeitsrates, der von 1984 bis 1987 tätig sein wird. Dieses Thema hat schon bei der Ausschreibung des Wettbewerbsthemas eine entscheidende Rolle gespielt, durch dessen anonyme Bedie­ nung die aktuellen Mitglieder des Arbeitsrates gewählt worden sind. Im August 1982 schreibt das IDZ den Wettbewerb aus „Gestaltung zwischen ‚good design‘ und ‚Kitsch‘“. Dabei wird ein Designbegriff definiert, der für die Zusammenset­ zung des Forums und die Kontinuität seiner Arbeit wichtig geblieben ist. Das Design kann nicht die Gesellschaft formen, vielmehr müssten die gesellschaftlichen Gegeben­ heiten ernst genommen werden auf eine Weise, die der Geschichte des Designs immer noch fremd ist. Das Gestaltungskonzept des ‚good design‘, der guten Form und der ho­ hen Kunst der Gestaltung sind einzig in Randbereichen noch vorhanden. Ihr Marktan­ teil ist gering. Dasselbe gilt für Architektur, visuelle Kommunikation und für den Stel­ lenwert kultureller Betätigungen überhaupt. Der Paradigmenwechsel, den die 1980er-Jahre hier bringen, lässt sich heute als Vorgabe für unser Thema angeben: eine Entwicklung von der symbolischen Kommuni­ kation hin zu inszenierten Signalen trifft auf eine immer stärker technologisierte und mediatisierte Kultur, im Besonderen im städtischen Umfeld. Philosophisch und gesell­ schaftlich wird dieser Sachverhalt in zwei Richtungen kontrovers ausgedeutet: einmal als Befreiung aller Zeichen von ihren Signifikaten, d. h. als spielerische Entdeckung am Selbstwert der kulturbildenden Materialien, als Lust am Dekor, am Zitieren, an der Iro­ nie und der Camouflage, also alles Elemente, wie wir sie auch vom Postmodernismus der Architektur – unterstützt durch eine anti-modernistische Ideologie, also eine restau­ rative Ideologie – her kennen. Die andere Ausdeutung stellt dagegen eher den Gedanken ins Zentrum, dass die von allen Referenzen und Bedeutungen entkleideten Zeichen, die Zeichen, die nur für sich als Zeichen stehen, obszön sind und dass die Semiotik heute diese Katastrophe der Zeichenrelationen beschreibt, mit der die alten Funktionen und Formen sich in eine unerträgliche und überdeutliche Redundanz, eine langweilende Ba­ nalität verformen. Letztere Position, die in der Selbstgenügsamkeit von Zeichen das Ob­ szöne erblickt, legt die These nahe, dass mit dem Verlust der Referenz die Wirklichkeit synthetisch erzeugbar wird, denn nur die Referenz des Zeichens erlaubt uns eine Unter­ scheidung von Wirklichkeit und Fiktion, die sich auch gegen den Zugriff von Medien plausibel schützen kann. Die Gesellschaft der medial Vereinzelten wäre dann die gül­ tige Realisierung der Entkoppelung der Zeichen von ihrer semantischen Funktion. Da­ für gibt es heute angebbare Tendenzen, mindestens so starke Anzeichen wie für die In­ dividualisierung der Öffentlichkeit unterhalb der alten Foren der Republik und wie für die Automatisierung von Lebensentwürfen außerhalb der knapper werdenden industri­ ellen Ökonomisierung der Arbeitskraft. Das Thema einer dritten Ebene der Gestaltung, das zur Zusammenstellung des derzeitigen Arbeitsrates des IDZ geführt hat, soll also die anonym produzierten, die auf­ gefundenen und verfügbaren Gewohnheiten und Objekte aufgreifen, um die einlinigen

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Vorstellungen vom guten Design und der ihm entsprechenden Denunzierung des Kit­ sches aufzubrechen. Das Ziel einer solchen Öffnung des professionellen Designs hat nicht allein mit wirtschaftlichen Problemen zu tun, nicht allein mit einem Schritt in die Normalität, die durch verschiedene volkserzieherische Konzepte über lange Zeit ein­ zig als Widerstand gegen Aufklärbarkeit definiert worden ist. Ziel ist das Interesse am Abschied von ‚monokulturellen‘ Vorstellungen an der Schwelle zu den Tendenzen der 1980er-Jahre. Die dritte Ebene zwischen ‚Kitsch‘ und ‚good design‘ soll als Denkmodell dazu dienen, die beiden anderen Ebenen in Beziehung zu setzen. Einige der Antworten auf einen solchen Versuch der Erneuerung der Formenspra­ che in Design, Architektur und anderen Gestaltungsbereichen aus der Beobachtung der Massenproduktion, einige Antworten auf die Suche nach neuen Entwurfsmodellen ha­ ben eine Synthese zwischen den beiden Bereichen versucht, andere haben verdeutlicht, dass ein Bezug gerade nicht als Synthese zu denken ist, und eine dritte Linie der Ant­ worten versucht sich an der Überführung der Objektgestaltung in Bildreferenzen als der zeitgemäßen Form, wie Objekte aufgefasst werden: als Sprachkörper nämlich, als kom­ munikatives Reservoire zur Darstellung nicht nur der gegenständlichen Bedürfnisse, sondern v. a. des wachsenden Bedürfnisses nach fundamentalistischen Orientierun­ gen, nach Selbsterkundung, Selbstüberschreitung, nach dem individuellen Recht auf Lebensgestaltung und die Dramatisierung des individuellen Glücks als Erlebnisintensi­ tät. Diese Bewegungen werden zurzeit ja vermarktet im Tourismus, dem Tourismus der Geografie wie dem Tourismus in filmischen Bildern. Das Forum des IDZ hat einen Arbeitsrat gewählt, der zusammen mit der Geschäfts­ leitung des IDZ das Programm entwirft und insbesondere im alljährlich stattfindenden Forum-Kongress versucht, die im Thema des Wettbewerbs angeschnittenen Fragen wei­ ter zu bearbeiten. Die Weiterbearbeitung geschieht im bereits erwähnten Hinblick auf ein vom IDZ gefordertes intensiveres Angebot für mittlere und kleinere Unternehmen. Das Szenario der Tagung ist also angelegt auf ein ökonomisches Szenario, das wir al­ lerdings in einem weiten Sinne verstehen als Anwendung aller für die Neuorientierung ökonomischer Vorgänge erforderlichen kulturellen Beobachtungen und Erkenntnisse. Es wird ein wesentlicher Punkt unseres Kongresses sein, über einen Designbegriff und seine Auswirkungen auf die Produktion nachzudenken, der in praktischer Umsetzung in der Lage ist, die Spannkraft des reflexiven Bogens der gesamten Sphäre ästhetischer Ereignisse zwischen Produktion und Konsum aufrechtzuerhalten, und nicht etwa zu­ gunsten verführerischer praktischer Szenarien einen Begriff von Realisierung einzufüh­ ren, der auf Kosten der Inhalte jenes ‚Übergreifenden‘ geht. Bei der Erarbeitung des Themas gingen wir zunächst von einer Vermutung aus: dass neue Designbegriffe und neue Produktionsauffassungen sich aufeinander einpen­ deln könnten in der Weise, dass sie den engeren Bereich der Güterproduktion verlas­ sen und sich auf die semiotischen als die Sprache der Zeichen befassenden Elemente der erneuerten Kultur beziehen. Wir hatten den Wunsch, im Gespräch mit Experten zu klären, ob der Zusammenhang von Energieverbrauch-Produktgestaltung-maschinisier­ ter Produktion-Ressourcenverknappung-Ausweglosigkeit-entsprechende Arbeitsmono­ tonie und Banalkonsum-positivistisches Denken-Sozialprestige über Dingreichtum auf­

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gebrochen werden könnte. Und zwar so, dass eine ökologisch verantwortbare Nutzung von Dingen zugleich ästhetische Qualitäten hat, die keinen Eingriff in Nutzungsrechte darstellen, die also nicht diese Art von Produktions- und Verkaufszwängen errichtet wie die positivistische Produktion. Das hat uns dann verleitet, das Thema unter den etwas vorschnellen Tenor des Endes der mechanistischen Kultur und des mechanischen Weltbildes überhaupt zu stellen. Wir möchten über Inhalte einer kybernetischen Kultur reden, über sich selber ausbalancierende Regelsysteme, über autonome Systeme also, die an die Stelle der ver­ tikalen und energieverbrauchenden Systeme des mechanischen Denkens treten. Es ist klar, dass wir diese kybernetische Kultur nicht unumwunden definieren können. Das wäre dreist und falsch. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht einfach noch unbegriffene Wandlungen, Anzeichen und konkrete Vorgänge in einem Raster umdefinieren, der wie­ derum mechanischen Beweiszwängen folgen würde. Damit ist für unsere Tagung und die Art unserer Gespräche für mich eine wichtige Voraussetzung formuliert, die ich in die Form einer Empfehlung bringe: Keiner von uns weiß ganz Genaues über diese neue Kultur, und demnach sollten wir auch in unseren Bestandsaufnahmen uns nicht als Deuter und Propheten aufführen. Aber das ist nicht so einfach, denn gerade zum wenigen Bekannten in kybernetischen Systemen gehört, dass wir nicht ein erkennendes Subjekt simpel einer beschreibbaren, äußeren objekti­ ven Realität entgegenstellen können. Kybernetische Systeme brechen monokausale Lo­ giken auf und setzen eine mehrwertige Logik ein. Das bedeutet aber, dass unsere Be­ standsaufnahme bereits theoretische Überzeugungen, bewusst oder nicht, vorder- oder hintergründig, beinhaltet und sich das Beobachtete also im Licht eines solchen theo­ retischen Blicks zurechtlegt. Das kybernetische Erkenntnissubjekt ist keine Matrix, die verzeichnet, sondern eine eingreifende Person, die im Vorgang des Beobachtens min­ destens ein bedeutsames Element des Beobachteten erst erzeugt. Damit wären die Eckdaten unserer Gespräche genannt. Es bleibt mir noch, die vier für uns wesentlichen Akzente des Themas zu umreißen: 1.  den Übergang zu einem neuen technologischen Zeitalter. Die Automatisierung der Produktion schreitet fort, freie Zeit nimmt zu, wird aber nicht unbedingt verfügbarer, und trifft im Gegensatz zu den technologischen Aspekten auf eine Lebenswelt, die sich hauptsächlich immer noch auf Werte der Arbeitsethik und auf vorindustrielle Sozial­ beziehungen, Solidarität in Familie und Nachbarschaft stützt. Was ist die Perspektive der güterproduzierenden Gesellschaft angesichts der ‚freien Zeit‘ als Reservoire direkter kultureller Arbeit, die aber ethisch, sozial und ökonomisch gerade nicht als Muster ent­ löhnbarer und anerkennbarer Arbeit angesehen wird? Was geschieht, wenn die Arbeits­ gesellschaft, wofür Soziologen Überlegungen beibringen, individualisiert wird und sich eine Gemeinsamkeit der Individualisierten in einer Lebenswelt vorfindet, in der die Pro­ bleme – Ungerechtigkeit etc. – ungelöst geblieben sind? Offensichtlich hat ein zuneh­ mend medial vermitteltes Zeitalter Auswirkungen auf das Design. Und offensichtlich wirkt die medial orientierte Kultur der Gegenwart auf die Einbildungskraft und dadurch auch auf ihre ästhetische Fundierung. Die Auflösung der engen Koppelung der F ­ antasie

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an die produzierende Einbildungskraft – die, wie ich vermute, Herr Kamper ausführ­ licher ansprechen wird –, wie sie in der philosophischen Tradition über lange Zeit ge­ stützt worden ist, hat auch Chancen, die für Theorie und Begriff des Designs zu nutzen sind. 2.  Neue Erkenntnisse und neue Technologien, die in die Produktion eingeführt werden, machen eine neue Designtheorie notwendig. In diesem Bereich bleibt immer noch in erster Linie der Funktionalismus als internationaler Konsens einer richtigen, d. h. einer schönen und demokratischen Gestaltung aufzuarbeiten. Vor allem das Verhältnis der elektronischen Steuerungsmöglichkeiten in der Verteilung und Ausführung der Arbeit zu den überlieferten Lebenswelten ist hier ein Ansatzpunkt, der für ein realisierbares Zusammenspiel von Design und Produktion wichtig wird. Was setzt die Computerisie­ rung für Zwänge, Zwänge der Ausführung, aber auch schon der Selektion von Entschei­ dungsdaten? Was für Zwänge gegen den subjektiv bestimmbaren Rhythmus von Gestal­ tungsarbeit (z. B. CAD), was für Zwänge der Anpassung der entsinnlichten Tätigkeiten an die Apparatur? Was für Chancen beinhaltet die elektronische Arbeitsgestaltung, die gerade aus Produktions- als Designentscheidungen so oder anders genutzt werden kön­ nen? Wie verändern urbane Räume und Zeitrhythmen sich durch Computerisierung? Wie ließe Telearbeit sich gesellschaftlich anders nutzen? Wenn wir den Überhang an Kulturkritik – zeitgemäß beim Verlassen von 1984 – etwas abbauen, dann scheint mir das gerade ein wichtiges ökonomisches und sozialpolitisches Feld einer Strukturierung von Lebenswelt durch Design. Und zwar nicht zuletzt, weil die neuen Technologien ge­ radezu eine spielerische Variation der Nutzung herausfordern. Und eine dieser Nutzun­ gen wäre eine an Solidarität und Autonomie dezentraler Gruppen interessierte. Auf der anderen Seite muss die Entwicklung der Stadt zur immer größeren Dispersion gerade darum beachtet werden, weil politische Entscheidungen als Medium der Nutzung sich auf städteplanerische Leitvermutungen stützen, also auf das, was ein mechanisches Sze­ nario von Verwertbarkeit und Legitimierbarkeit überhaupt noch an möglichen Daten­ grundlagen liefern kann. 3.  Wie kann ein neues Design eine Reaktivierung mittlerer und kleinerer Unternehmen bewirken? Welche Struktur müssen diese Betriebe haben, um solche Designleistungen zu erbringen? Wie sehen kleinere und mittlere Serien aus in theoretischer, konzeptu­ eller, praktischer, technologischer Hinsicht? Wie ist hier das Verhältnis von Handwerk und Instrument, wie das Zusammenspiel von Entscheidung, Zielformulierung, Tech­ nologieeinkauf, Kalkulation der kulturellen und ökologischen Rahmenbedingungen? Können solche Unternehmen festgelegt werden auf die positivistische Herstellung von Konsumgütern? Ist ein besserer Anschluss an neue kulturelle Nutzungen – aktiv und in­ novativ – möglich? Wie ist die Dezentralisierung der Gebrauchsgüter möglich? Wie ist das Verhältnis einer neuen Produktion zu den Aufgaben einer Aufklärung über soziale, ästhetische Gewohnheiten und Konsumverhalten? Wie sieht eine Designpolitik auf die­ ser Grundlage aus, wie eine institutionelle Einbindung von Designleistungen?

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4.  Der vierte Aspekt unseres Themas betrifft Konzeption und Reflexion der neuen Tech­ nologien, Produktionsweisen und Formen des Designs und die Konsequenzen auf die Entwicklung der Gesellschaft allgemein. Und umgekehrt: Wie wirken sich offensicht­ lich neue Strömungen des sogenannten Zeitgeistes auf die Möglichkeiten aus, im Me­ dium ‚Design‘ eine Balance z. B. zwischen traditionellen und oppositionell-erneuernden Bedürfnissen in diesem gesamtkulturellen Zugriff zu erreichen? Wie wirkt sich der in­ ternationale Rechtsrutsch aus, der parallel verläuft zur Intimisierung des gesellschaftli­ chen Lebens, zur Wiedereinrichtung feudal-repräsentativer Formen der Öffentlichkeit? Der amerikanische Soziologe Richard Sennett schreibt von einer „Tyrannei der Intimi­ tät“, die auf einem neuen Narzissmus beruhe, der aus dem Verlust an öffentlich drama­ tisierten Disputen und entsprechenden Kontroversen hervorgegangen sei, in denen die Idee einer republikanischen Öffentlichkeit aufbewahrt war und im städtischen Leben ein Forum fand, das im 20. Jahrhundert Stück für Stück zersiedelt worden sei, eine Zer­ siedelung, die mit der elektronischen Dispersion an eine qualitative Grenze gelangt. Es gibt andere Anzeichen einer Aufkündigung der Moderne und ihrer Semiotik: neue fun­ damentalistische Strömungen, absolut individualisierte Werte, das Ausblenden der kri­ tischen Funktion von Zeichensprachen durch eine akzeptierte Katastrophe der Zeichen, mit der die Zeichen ebenso als gesetzte verschwinden wie die Unterscheidung von Re­ alität und Fiktion. Erfolge wie die eines Filmes Paris, Texas zeigen, wie drängend das Bedürfnis wieder geworden ist, mit den einfachen Geschichten und den großen weiten, langsamen Bildern den Triebhaushalt der Sehnsucht nach einer Heimat zu bedienen, wobei im Zuge dieser neuen Heimatbilder die Überschaubarkeit einer dramatischen, sentimentalen und existenziellen Geschichte Hand in Hand gebracht wird mit der Neu­ auflage der sichernden Bande der Familie, der Entpolitisierung der Umgebungswahr­ nehmung und v. a. mit der Ortung der Heimat in einer medial durchsetzten Lebenswelt, die in unserer Vorstellung immer schon die Heimat der Technologie UND gleichzeitig die Technologie der Heimat gewesen ist, die USA nämlich. Vergleichbare Tendenzen weist die zeitgenössische Literatur, genauer: die Kunstlitera­ tur, die hohe Literatur auf. Kaum eine Geschichte, die – kaum hat man ein Buch auf­ geschlagen – nicht zeigen würde, wie ernst es ihr als Geschichte ist und wie stark sie mit dieser Geschichte eine Transzendenz meint – sei’s als entleerter Zynismus (wie bei Botho Strauss), sei’s als vollständig ins Innerliche und Weltliche aufgelöste Religiosi­ tät (wie bei Handke). Ich nenne diese Beispiele nicht aus einem zufälligen und allergi­ schen Befinden heraus, sondern weil ich diese Sinnorte Literatur und Film ohne Wei­ teres immer stärker als konzeptuell bewusst angewandte Designleistungen betrachten kann und weil dieser Vorgang die Möglichkeiten eines neuen Designbegriffs sozusa­ gen noch unbestimmt und im Vakuum umreißen. Der reflektierte Einsatz neuer Tech­ nologien für Konzepte, die wir als ‚Design‘ diskutieren können, nämlich als bestimmte Anwendungen und Realisierungen kultureller – fördernder oder hindernder – Inhalte, muss eine ganze Reihe von Fragen und Strategien miteinbeziehen: gesellschaftliche, ge­ schichtliche, soziale, ästhetische. Wie lässt als Design sich das Verhältnis der Menschen zu Dingen und Gebrauchsgütern nutzen, wenn Imagination und Fantasie, für die die

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Objekte ja stehen, über Bilder immer stärker simulierbar werden? Wenn also Lebensge­ fühl als Nutzung von Zeit und Wahrnehmung von Raum immer stärker imaginär verän­ dert wird, wenn also zum Beispiel die Stadt als Ort nicht mehr als Summe von in Orten definierte Auszonung von Funktionen erscheint, sondern als innerlich bestimmtes Ge­ fühl. Mit dem Architekten Hans Hollein: die Wohnpille an der Stelle des Wohnraumes. Was geschieht mit den Dingen und der Fantasie, wenn die Dinge direkter an das Gehirn der Nutzer angeschlossen und technologisch nach stärker individuellen Gesichtspunk­ ten produziert werden können? Ich habe Ihnen ein weites Feld umrissen. Aus zwei Gründen. Einmal, um Ihnen den Kontext der inhaltlich bestimmenden Diskussionen am IDZ aufzuzeigen, der zu die­ ser heutigen Veranstaltung geführt hat. Und zum anderen, weil dieser nun abgesteckte Horizont es – im Gegenzug, den ich mir wünsche – erlauben soll, gerade über die Pro­ bleme und Chancen im Einzelnen zu reden. Die pauschalen Bezüge wären genannt. Ich persönlich glaube nicht, dass die Probleme in ihrem Horizont entschieden werden oder entscheidbar sind. Die allgemein aufgeworfenen Fragen werden nun unter Designern, Ökonomen, Technologien, Kommunikationsinteressierten – sei es eher theoretischer, sei es eher praktischer, sei es forschender, sei es produzierender Herkunft – diskutiert. Die heutige Tagung steht in einer längerfristig angelegten Planung der Arbeit am IDZ: Aus den Über­ legungen des Forum-Kongresses soll ein Wettbewerb ausgeschrieben werden, der Ent­ werfer und Hersteller in praktischen Projekten zusammenführen und Ideen zur Ausfüh­ rung bringen soll. Es liegt eine Chance in den parallel verlaufenden Schwierigkeiten der Berufssituation junger Designer und der ökonomischen Situation mittlerer Unterneh­ mungen. Das IDZ wird solche Pilotprojekte begleiten und mit Rahmenveranstaltungen den traditionellen Einbezug aller Aspekte gestalterischer Tätigkeit sichern. Beiträge, Voten und Resultate des Symposions werden in einer Broschüre veröf­ fentlicht werden. Die ganze Tagung wird auf Band aufgezeichnet. In diesem Zusammen­ hang zwei nachdrückliche Empfehlungen: 1.  Beziehen Sie sich in Ihren Voten möglichst nicht auf alles, was vorher schon referiert worden ist, sondern bringen Sie Ihren wichtigsten Gesichtspunkt, und nur diesen, da­ für möglichst prägnant. Das würde ohne formale Beschränkungen das Problem der Re­ dezeiten lösen. 2.  Nennen Sie doch, bevor Sie reden, Ihren Namen und Ihr Arbeitsgebiet, Ihre Herkunft also. Ich glaube zwar nicht, dass das auf Dauer berücksichtigt werden wird, aber ich kann Ihnen versichern, dass das die Bearbeitung der Abschriften verbessern würde. Die vier inhaltlichen Punkte, die ich Ihnen vorgestellt habe, geben den sachlichen Zu­ sammenhang. Der organisatorische sieht so aus, dass wir am ersten Tag, heute, die öko­ nomischen und erkenntnistheoretischen Aspekte behandeln, und zwar so, dass die er­ kenntnistheoretisch-kommunikativen von einem ökonomischen Forschungsbeitrag und einem ökonomischen Erfahrungsbericht eingerahmt werden. Am zweiten Tag, mor­

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gen also, werden die theoretischen und praktischen Inhalte und Aspekte des Designs zur Sprache kommen. Dabei soll aber der erste, sozusagen theoretische Tag nicht als Er­ kenntnisdirektive für den zweiten, den Designtag erscheinen. Ich bin besonders glücklich, Ihnen einen ökonomischen Beitrag als Eintretensre­ ferat ankündigen zu können, in dem einzelne Aspekte in einen Zusammenhang gestellt werden, der zurzeit an der ETH Zürich im Rahmen eines nationalen Forschungsprojek­ tes untersucht wird: Auswirkungen, Chancen und Probleme der elektronischen Heim­ arbeit. Carlo Jaeger ist an diesem Projekt maßgeblich beteiligt. Er wird als Referat vor­ erst nur einige Aspekte darstellen, um möglichst bald ins Gespräch einzutreten, in dem dann Teile seines Referates als Erläuterungen wieder Platz hätten.

Geschrieben am 3. Dezember 1984 als Vortrag des Moderators zur Eröffnung der Tagung des IDZ Berlin ­Design im Wandel – Chance für neue Produktionsweisen? vom 8. und 9. Dezember 1984, Akademie der Künste. Mit Bei- und Vorträgen von: Hans Ulrich Reck, Carlo Jaeger, Oswald Wiener, Dietmar Kamper, ­François Burkhardt, Fritz Hahne, Alexander Neumeister, Jochen Gros. Die Beauftragung seitens des IDZ ­umfasste Organisation, Moderation und Dokumentation der Tagung (Konzeption, Organisation, Moderation, Bearbeitung, ­Redaktion, Niederschrift der Diskussionen, Kommentierung und Illustrierung, Einleitung und Ausblick von und zu).

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NOTIZEN ZUR ZUSAMMENFASSUNG DES 4. FORUM-KONGRESS DES INTERNATIONALEN DESIGN ZENTRUMS IDZ BERLIN DESIGNAUFFASSUNGEN IM WANDEL – CHANCEN FÜR NEUE PRODUKTIONSWEISEN? Es gibt bei Molière einen Monsieur Jourdain, der nimmt Rhetorikunterricht und stellt mit Erstaunen fest, dass er dort lernt, dass er sein ganzes Leben Prosa gesprochen hat. Es gibt bei Molière keine Figur, die handwerkt oder arbeitet im Unterricht und mit ­Erstaunen feststellen könnte, dass sie immer schon gehandwerkt und gearbeitet hat. Stellenwerte von Theorie und Praxis in Bezügen und Bezugsmedien sind unklar. Wie ­Bezüge? Szenarien dafür hier und dort. Standorte: Verbraucher, Produzent, Entwerfer, Kulturaneigner, Imaginator etc.

Thesen Theoriereferate Carlo Jaeger: Verwandlung von Arbeit in Tätigkeiten. Neue Typen von Vernetzung. Wei­ terführung des Maschinendenkens fantasielos. Keine Substituierung von Kommunika­ tion durch Apparaturen. Oswald Wiener: Design als Technik des Unwesentlichen. Ich möchte nicht von anderen gestaltet werden. Es sei denn von einem System, das ich als mir überlegenen Zwang erfahren kann. Autonomie wäre Einsicht in eine überlegene Automatisierung von Abläufen, in denen ein Ich sich rational strukturieren kann. Dafür liefert das Mo­ dell der Maschine das entwickeltste Konzept. Bewusstsein entwickelt sich schneller als die Planbarkeit der Bewusstseinssteuerung durch Apparaturen und Medien. Design müsste sein wie eine mathematische Formel, mit der man arbeiten kann, ohne dass man der Herstellung dieser Formel misstrauen müsste. Angesichts der Dinge ist Miss­ trauen geboten. Das Setzen auf das Unbewusste wird ebenso schwinden wie die Legiti­ mationen im unsichtbaren sozialen Bereich. Dietmar Kamper: Zeichengeber Mensch und sein Status? Moderne: Zeichen, die Dinge eindeutig zu machen. Abstraktion: das Reale nur noch als Zeichen des Realen. Zy­ nismus als Herrschaft der Zeichen über die Materie. Simulation, Selbstreferenz. Kriti­ sche Erkenntnisfunktion der Zeichen und damit Erfahrungszusammenhänge werden abgeschafft durch die Abkoppelung der Zeichen von dem, wofür sie stehen. In der Rea­ lität gibt es dann keinen Ort für eine solche Relation mehr. Rückgewinnung von Materi­ alien für Vorgänge des symbolischen Tausches (resp. einer Funktion dieser ethnischen Struktur heute). Zeichen wieder lesen als Erinnerung an die Wunden, die der Mensch in die Materie geschlagen hat, und dadurch die Militarisierung der Sinne bekämpfen.

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François Burkhardt: Totale Trennung von Theorie und Praxis in der BRD ist seit 1970 Realität. Theorie nur noch einerseits als totale Abstraktion, andererseits real durch und als technisch-methodische Anwendungskonzepte. Benutzbarkeit nicht mehr pri­ mär als funktionale Gestaltung, sondern als Symbolismus. Theorie als Aufarbeitung von kulturellen Zusammenhängen zur Erstellung von Hypothesen. Die hypothetischen Mo­ delle sollen Realisierbarkeit ermöglichen. Bruch mit der Moderne. Bruch mit der Konti­ nuität. Diskontinuität.

Operationalisierung/Schritte dazu (Unterstellungen) Carlo Jaeger: Wie sieht ein Design aus, das kommunikative Beziehungen im beruflichen Bereich so einrichtet, dass Apparaturen für Tätigkeiten nutzbar werden, d. h. nicht Pro­ duktionsformen erzeugen, in der Tätigkeiten substituiert werden durch Arbeit. Design von Berufsräumen. Von der Produktionsseite her stehen die globalen Strukturen der Wirtschaftsgesellschaft erneut zur Diskussion. Wichtig für Design – sei’s von Dingen, sei’s von Tätigkeiten – ist in jedem Falle die Öffnung experimenteller Räume, in denen solche kommunikativen Verständigungen möglich werden. Oswald Wiener: Dinge einzig in ihrer Benutzbarkeit, d. h. auf einem minimalen Level von Einrichtung konzipieren und ausführen. Überlegung: Die minimal eindeu­ tige Einrichtung lässt am besten Nutzungsvielfalt und Variationen zu. Das ist kein ein­ facher Funktionalismus, denn es wird damit nicht die Vision von Gestaltung verbunden. Funktion wäre gerade, was nicht in diesem Sinne Gestaltung ist. Als bestes Beispiel einer solchen Nutzung: gotische Malerei. Jeder am Design Beteiligte, u. a. auch der Designer, muss an Chancen, Motiven und Grenzen seiner Rationalität, d. h. rational arbeiten. Das Modell, Rationalität und Bewusstsein in Termini der Maschine zu formulieren, ermög­ licht gerade, Nutzungen zu überlegen, die nicht mit dem Apparateangebot der verdeck­ ten Außensteuerung sozusagen eine Maschine minderer Qualität fortsetzt. Dietmar Kamper: Rückkehr zu Dingen als möglichen Widerständen für beliebige, sich selber zitierende Symbolisierungen. Dinge zugleich als erfahrbare Körper, die wi­ dersprüchliche Zeichensystem zulassen. Auch hier: Funktion von Dingen als Gestaltung, nicht als Zitat. François Burkhardt: Stilpluralismus, d. h. variierte und dezentrale, institutionell vielfältige, verschiedene Herstellungsweisen von Dingen. Gegen Monokultur, für Dis­ kontinuität und Differenz. Für Metamorphose, gegen Puritanismus und Verbotsden­ ken des Funktionalismus. Für eine Theorie, die als Kulturtheorie im weitesten Sinne die Kompetenz von Gestaltern, Referenten und Nutzern erhöht und schärft. Bewusstseins­ zuwachs über Weitmaschigkeit und Präzision einer Theorie, die in Symbolisierungen ab­ lesbar wird im Sinne von Entwürfen durch Dinge und nicht als Akkumulation von Din­ gen. Bedeutet z. B. Formsprache, Symbolik von Dingen als Inszenierungen zu verstehen. ­Eigentlich ist alles möglich, was sich in seinen Strukturen selber einsehbar macht, wenn es als Dinge eine Funktion erfüllt.

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Theoriebegriffe und -probleme • Algorithmus/kritischer Rationalismus • Sinnverstehen/rekonstruktive Methoden/Theorie als ­Implikation • Rationalität als Selbstaufklärung über Rationalität • Muddling through (Philosophien) • Technokratische, methodologische Modelle • Wahrheit als Konsensbildung • Theorie als Modell von Verständigung, d. h. Praxis ist ­Element des theoretischen Prozesses und umgekehrt. Kein Anwendungs­ modell, sondern eine gemeinsame Arbeit. Erfordert Strukturen von Gemeinsamkeit

Konsequenzen/Operationalisierungen/Vorschläge Was ist wirklich Problem? Solange Produzieren heißt, sich auf Rentabilität einrichten, so lange ist nicht einzusehen, weshalb wir Gestaltungsfragen mit Problemen und As­ pekten kultureller Identität und Gestaltung aufladen. Solange unter Theorie Behinde­ rung der Praxis verstanden wird, so lange artikuliert der Bezug zu Theorie allein die Rechnungsführung gegenüber so genannten funktionierenden Kaufgewohnheiten und berechenbaren Umsetzungen, die die Dinge in ihrer Formiertheit einzig als geliehene Materie für den Umtausch in Geld verstehen. Kulturelle Aspekte sind primär nicht prak­ tischer, sondern sinnorientierter Herkunft. Sie sind theoretische Konstrukte. Wie wir uns praktisch verständigen, das ist ein theoretischer Vorgang. Das heißt nicht, dass er als theoretischer Vorgang beschrieben werden müsste oder könnte. Wie immer. Sämt­ liche Anstrengungen von Design – im Bogen von Theorie und Praxis als eines gesamten theoretischen Verständigungsprozesses – hätten erst noch die Verbindung von Ökono­ mie, Technologie, Kultur in einer Weise zu erbringen, die so etwas wie Überlegungen zu Sinn und Normen eines menschengerechten und emanzipierten Lebens überhaupt erst möglich macht. Das Problem des Fortschritts liegt natürlich im Detail. Aber er liegt nicht in den Dingen. Das Verhältnis Theorie und Praxis muss im Medium praktischer Zusammenarbeit entwickelt werden, nicht im Medium Theorie wie hier (verglichen mit technischen Problemen und praktischen Vorgängen ist die Sprache ein theoretisches, reflexives Medium). Dazu bedarf es der Einrichtung von innovativen, kreativen Erfin­ dungsräumen. Und da muss sich die Wirtschaft bequemen, die einzurichten. Wer sonst hätte das allgemeine Vermögen (Simmels Definition von Geld) dazu? Worin bestehen diese Räume? Nicht allein Kommunikation und interdisziplinäre Vernetzung, sondern eine Vorgehensweise, die Realisierungsprobleme in einem Modell erst im vielleicht drit­ ten Schritt diskutiert, nämlich nach der Invention aus verschiedensten Sparten, die frei und ungebunden sein muss. Diese Innovation z. B. wäre das Ziel und eben nicht das

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­Mittel zur Erreichung von Zielen, die sich in Termini der Sachzwänge definieren lassen. Jener Innovationsraum ließe sich ohne Weiteres mit der Rationalität der Wiener’schen Maschine strukturieren.

Geschrieben am 8. Dezember 1984 als Zwischenbetrachtung zum ­ersten Tag des Kongresses des IDZ Berlin Design im Wandel – Chance für neue Produktionsweisen? mit Bei- und Vorträgen von: Hans Ulrich Reck, Carlo Jaeger, Oswald Wiener, Dietmar Kamper, François Burkhardt, Fritz Hahne, Alexander Neumeister, Jochen Gros. Die Notizen dienten zugleich der Vorbereitung der abgesprochenen Dokumentation wie auch eines ge­ planten Entwurfwettbewerbs für kleinere Unternehmen.

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MYTHOLOGIEN DER TECHNIK UND ­IMPROVISATION IM WIDERSTREIT Abstract ‚Funktion‘ ist ein Ausdruck, der nicht nur für Zwecksetzungen steht, sondern für Bere­ chenbarkeit. Diese wiederum ist eingegliedert in den Prozess der theoretischen Neu­ gierde, der für moderne Lebensformen ausschlaggebend auf die Mechanisierung des Alltags eingewirkt hat. Die technisch-industrielle Zivilisation hat ihre eigene Mytholo­ gie über eine Suggestion errichtet, die sie selber nie begründet hat: die einer umfassen­ den und abschließenden Beschreibbarkeit der Wirklichkeit unter der Perspektive einer Gesetzmäßigkeit, die sich im Anwendungshandeln objektiv nutzen lässt. Nicht zuletzt für Architektur und Design ist diese Organisation des Wissens nach Funktionsberech­ nungen verbindlich geworden, auch wenn die Mythologisierung der Technik die Über­ prüfbarkeit der Gesetze der Herstellung von Bildern und Metaphern überschrieben hat. Diese Mythologie ist wirksam und über die Herstellung von Metaphern gar zu einem ­eigentlichen Leitbild von Alltagshandeln geworden. Dagegen scheint Improvisation als Form der Entwicklung poetischer Aussage­ möglichkeiten auf den anderen Pol des Handelns zu verweisen: auf Sensibilität und Wahrnehmung. Wie weit sich Improvisation methodisch für gestalterisches Entwer­ fen nutzen lässt oder, andersherum, für die Selbstbestätigung genialischer Erweckungs­ modelle vereinnahmt werden kann, steht nicht nur im Zentrum von Architektur und De­ sign, sondern auch in dem der Konzeptualisierung von praktisch nutzbarem Wissen über solches Tun. An diesem Punkt gerät das Improvisatorische in die Zwickmühle einer doppelten Mystifikation. Als Bestätigung für die Unergründbarkeit der Inspiration führt das Denkmodell künstlerischer Autonomie zur Abkoppelung von einer Technik, welche Kunst gerade in dem Maße gelten lässt, wie sie selber sich als Berechenbarkeit absolut setzt. Als Arbeitsstoff für Gestaltungsmethodik wird das Improvisatorische in der Funk­ tion von Unberechenbarkeit wiederum instrumentell verrechnet. Wie kann die Provokation einer durch die Wissenschaftsentwicklung (Computer, künstliche Intelligenz, Medientechnologie) erzwungenen Exaktheit der Poesie mit der mythologischen Überlieferung in Verbindung gebracht werden, Poesie habe auf Ent­ grenzung, Deregulierung und Entautomatisierung eingeschliffener Denk- und Bildmus­ ter hinzuwirken? Formuliert der Widerstreit zwischen den Mythologien der Technik und der Improvisation, wie er gerade im Feld der Gestaltungsdiskussion den ästheti­ schen Brennpunkt ausmacht für Einrichtung und Veränderung von Lebensformen und sozialästhetischen Konzepten der Bewusstseins- und Geschmacksregulierung, formu­ liert dieser Widerstreit einen neuen Zugang zu Ansprüchen an den durch den Abschied von der Monokultur möglichen Aufweis verschiedenster Lebensformen? Inwieweit aus der Kategorie des Widerstreits ein Verständnis für die Notwendigkeit eines geschärften Utopiebegriffs über die Pluralität von Teilkulturen hinaus entwickelt werden kann, bil­

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det den Abschluss der Betrachtungen. Leitbild wird dabei ein Plädoyer für die Nutzung des Unbrauchbaren sein, über die Paradoxien einer Planung des Unplanbaren, der Be­ rechnung des Unberechenbaren hinaus.

Ausführungen/Erörterungen/Abhandlung Beginnen wir beim Titel. Es geht nicht allein um das Technische oder das Improvisato­ rische, sondern um deren Mythologien, die sich außerdem im ‚Widerstreit‘ befinden. ‚Widerstreit‘ ist eine Kategorie von Jean-François Lyotard und beschreibt ein Modell, in dem kulturelle und politische Kontroversen ohne oberstes Schiedsgericht, ohne Pro­ blemlösung also, ausgetragen werden können. Roland Barthes hat u. a. in den Mythen des Alltags umschrieben, welche Rollen und Interessen ein ‚Mythologe‘ haben kann. Er unterscheidet drei Strategien des Mythologen. Die erste Vorstellungsfigur ist der Mys­ tagoge, der den Mythos als Beispiel nutzt. ‚CH 91‘, die Schweiz als 700-Jahre währendes Refugium heilsgeschichtlicher Katastrophenverschonung, liefert dazu reichlich Mate­ rial. In einer zweiten Bedeutung entziffert der Mythologe den Mythos, den er als Defor­ mation erfährt. Die dritte Position wäre die der Lektüre, die von der realen Präsenz des Mythos ausgeht. Diese letzte Figur interessiert Roland Barthes, und sie interessiert auch mich. Die ersten beiden Bedeutungen behandeln den Mythos instrumentell. Der Erste produziert ein Beispiel für eine Ideologie, die er im Mythos bloß transportiert: Krieger­ denkmäler beispielsweise. Der Zweite löst als Ideologiekritiker den Mythos auf: Ideolo­ giekritik der Massenkulturindustrie beispielsweise. Einzig interessant ist aber die Ver­ gegenwärtigung der Präsenz des Mythos. Die Kraft des Mythischen wird erhalten und erhellt, aufrechterhalten und durchdrungen, ohne dass die Kraft des Mythischen gebro­ chen oder seine deformativen Grundlagen missbraucht werden. Ich möchte mit einigen Beobachtungen beginnen, dann eine ästhetische Skizze des modernen Technikkonzepts liefern, Konturen einer aktuellen Technikphilosophie umreißen. Einige anthropologische Argumente, die keinen Anspruch auf Neuheit, son­ dern auf Problemerörterung haben, werden gegen apokalyptische Einstimmungen ent­ wickelt. Wir sind geübt, das Technische gegen das Improvisatorische auszuspielen: Na­ turwissenschaften gegen Poesie, Design gegen Kunst, das Kalkül gegen Spontaneität, Notwendigkeit gegen Freiheit, kurz: Mimesis gegen Poiesis, Nachahmung gegen freie, eigenbestimmte Schöpfung. Aus der Sicht heute Studierender lösen Begriffe wie ‚Plan‘, ‚Planung‘ etc. zunehmend Gefühle der Fremdbestimmung aus. Berechnung rutscht in die Grauzone des Verdachts, dass wir durch Maschinenprozesse regiert werden. Ratio­ nalität erscheint in diesem, wie ihn die Semiotik nennt, ‚konnotativen Bereich‘ insge­ samt als eine Art Missachtung des Lebens. Trotz gewichtiger anderer Ansätze wird Moderne als Synonym eines Ursprungs­ verrats, als Paradigma der Entfremdung gesetzt. Das Plädoyer für Nachmoderne fällt dann mit der Suggestion emotionaler Leitbilder zusammen. Insgesamt erscheint zu­ nehmend alles, was Zukunft ist, belegt durch Angst. Zukunft stellt ‚sich‘ vielleicht ‚ein‘.

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­ erspektiven auf das Bessere ergeben sich bloß noch dadurch, dass Zukunft nicht aus P der Gegenwart heraus hergestellt wird, sondern sich von ihr gegebenenfalls unterschei­ det ohne herleitbare Gründe. An die Stelle von Utopie tritt eine Atmosphäre des Unplan­ baren, die Verführung des Nicht-Determinierten. Niemand verfügt mehr über das Pa­ thos, Zukunft als planbare im Ernst einzufordern. Selbst unter Kulturtheoretikern ist der rhetorische Abschied vom Utopischen zu einem Ritual bezeugter Selbstverständ­ lichkeit geworden. Ein weiteres wichtiges Beobachtungsfeld für die Einstellungen zu den hier verhandelten Begriffen ist das Feld der Ungleichzeitigkeiten, z. B. denen zwi­ schen technischen Sicherheitsvorschriften, ökologischen Einschränkungen und einem zunehmend an Attraktivitätsschübe verwiesenen ‚kreativen‘ Designverständnis. Nicht selten hinkt die Kreativitätsbehauptung der Designer weit hinter dem technologischen Standard her. In dem Ausmaß, wie diese als technologische Einschränkung gesetzt wird, erscheint jene als Aufbruchsperspektive aus der technoiden Welt der Zwänge. Völlig unabhängig von den Sachverhalten setzt sich Design zunehmend als eine Metaphern­ produktion, als ästhetische Selbstdarstellung zwischen Technologie und Naturwissen­ schaft. Anders gesagt: als Empfindungserfahrung zwischen Spielgeräten, Computern, CD-Playern auf der einen, Gentechnologie auf der anderen Seite. Der Rückzug ins Form­ gestammel ist technologisch einprogrammiert und rechnet zur Selbstverständlichkeit. Eine weitere Ungleichzeitigkeit besteht zwischen dem Selbstverständnis techni­ scher Planung und dem Restrisiko der technischen Überproduktionsgesellschaft. Das hat Auswirkungen auf die Anthropologie der Sinne, insofern wir gar keine reale em­ pirische Wahrnehmung von Gefahren mehr haben können. Die Gefahren können nur analytisch beschrieben werden, die Empfindungen werden gezwungen, ihre Vernunft in die Funktionale zu verschieben. Deshalb ist Erleben am Punkt des Aufbruchs aus dieser Funktionalen immer katastrophisch. Die sich zeigende Katastrophe ist nichts anderes als die analytische Berechenbarkeit des Restrisikos. Das Restrisiko ist die Ein­ heit beider Ordnungen als Garantie des Eintreffens des Allerschlimmsten. Das ist bloß eine Frage der Zeit. Der verschwindende Prozentsatz des Restrisikos ist eine Metapher für die Permanenz der globalen Gefährdung. Man kann die Differenz zwischen Geis­ tes- und Naturwissenschaften mit diesen Hinweisen grundsätzlich auflösen. Die Sug­ gestivität der Gentechnologie erzwingt nicht nur eine subjektive Moralisierung eines sakralisierten Naturbegriffs, sondern ist ein Produkt der Verhinderung einer ästheti­ schen an der Stelle einer diskursiven Erkenntnis. Das führt zu heillosen Selbstmiss­ verständnissen. Die ‚harten‘ Naturwissenschaften funktionieren auch als linguistisches System, als Sprache, die auf die Bausteine der Natur mit dem Versprechen einer ‚Entschlüsselung der Grammatik des Lebendigen‘ projiziert wird. Es gehört zur symbolischen Gebietsre­ gelung, aber nicht mehr zur Rationalität, dass im Selbstverständnis der Naturwissen­ schaft die Technik zu ihr abgewandert ist und das Ästhetische eine Restform künstleri­ scher Anstrengung oder eine eher defizitäre Erfahrung des Undurchschauten darstelle. Ästhetisch wären dann nur die Elemente eines noch nicht geleisteten Verstehenspro­ zesses. Zauber des Undurchschauten als Diffamierung eines unbekannten Territoriums, das längst Erkenntnis in Interpretation, Information in Metapher, Abbildung in Darstel­

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lung verwandelt hat. Allen Versprechungen und symbolischen Lockungen zum Trotz wi­ derspricht die Zeitstruktur des Alltags dem Wunsch nach Improvisieren durch bürokra­ tische Verwaltung. Die Selbstbezüge – Handlungsform, Inhalt, Arbeitsgegenstand wie innere Empfindung, Aufbau von Zeitökonomie – werden immer stärker technisiert, das soziale Erleben durch Apparate geformt, unsere Lebensgestaltung zeitlich immer mehr durch Mechanisierung der Tätigkeit, Minimalisierung des Zeitaufwands bestimmt. Das Leben ist programmatisch determiniert bis in die Restzonen des Improvisierens hinein. Das Improvisatorische als Grenzfall des Technischen verwandelt sich in dessen Restri­ siko, nun aber mit umgekehrter Wirkungsrichtung: Es provoziert die rechnerische Kon­ trolle und dient als Regenerierung eines lädierten Technikverständnisses. Eine kurze Klärung des Begriffs ‚Improvisation‘ scheint angebracht. Wir meinen wesentlich mehr als bloß ein Spiel. Improvisieren bedarf der bestmöglichen vorgän­ gigen Kenntnis der Strukturen, in denen man handelt und woraus man Handeln auf­ brechen möchte. Jemand, der auf einem musikalischen Formhintergrund improvisiert, ohne dessen Strukturen zu kennen, ist eine lächerliche Figur (in einer doppelten Aus­ prägung: als Barbar und als korrekt Ausführender). Ein darauf bauendes, zweites Mo­ ment des Improvisierens ist der Versuch, diese Strukturen zu suspendieren, um in der Abweichung etwas Neues zu realisieren. Improvisieren ist eine auf Vorläufiges ange­ legte Herstellungsform: das Provisorische, Unfertige, ein Zwischenstadium zwischen Konzept und Produkt mit dem Ziel der Verstärkung von Reibungsflächen. Improvisie­ ren zielt auf andere Zeiterfahrungen, Möglichkeiten, die zuweilen in einem neuen Pro­ dukt eine wieder klare Definition erhalten können. Improvisieren bedingt also eine enger definierte kulturelle Handlungsform und umgekehrt. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass es einen Wettstreit gibt zwischen der Technisierung der Improvisa­ tion und der künstlerischen Subversion, technischen Formen immer wieder den Pro­ zess des Improvisierens aufzuzwingen. Z. B. durch das Einführen von Zufallsentschei­ dungsgrößen in der Kunst (John Cage u. a.). So viel zum atmosphärischen Kontext des Themas. Die historische Vergewisserung muss heute auf die wesentlichen Probleme be­ zogen werden. Das wichtigste ist wohl die Mediatisierung der Realitätswahrnehmung durch Bindung seelischer Energien an die zu Tatsachen erklärten Phänomene, die uns nur als inszenierte Größen medialer technischer Produktion erscheinen können. Das aber ist keine Errungenschaft erst der technischen Bildproduktion, sondern steht in ei­ nem breiten Traditionszusammenhang. Seit der Renaissance erwirkt die Organisation des symbolischen Wissens eine strikte Trennung zwischen Kunst und Technik. Gerade weil die Künstler einen naturwis­ senschaftlichen Geltungsanspruch anstrebten und Kunst als Wissensdisziplin tatsäch­ lich durchsetzten, erwies sich die doppelte Technisierung – des Wissens, der Imagina­ tion – als unumgänglich. Das lateinisch ‚ars‘ heißt im Griechischen ‚techne‘ und meint die wohl ausgebildete Einzelfähigkeit, bezogen auf ein spezifisches Problem und einen spezifischen Gegenstand. Die Kunstfertigkeit herstellbarer Einsicht wurde aufgespalten in den protokollarischen Prozess theoretischer Neugierde und die Subjektivierung in­ dividueller Einbildungskraft. Deren anarchische Züge wurden einer begrifflichen Form

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unterworfen. Das gilt selbst für die spätere Verwaltung des Künstlerischen als einer de­ finierten Domäne des spontanen Willens, des ungezügelt Mannigfaltigen der empiri­ schen Wirklichkeit. In dieser Abtrennung und der nachfolgenden Instrumentalisierung der künstlerischen Chaos-Konzeption sehe ich einen wesentlichen Grund der Ent­ wicklung unserer Technik und Wissenschaften. Dabei korrespondieren das Selbstver­ ständnis des technischen Wissens und die Entwicklung der Künste bis zur Design- und Kunsttheorie. Kanonisch wird in der humanistischen Konzeption der gebildeten Per­ sönlichkeit der formbildende Zwangszusammenhang kontrollierter Imagination als Be­ weisprobe kontrollierter Wirklichkeitsproduktion festgeschrieben. Am verbindlichsten tritt uns das in Formulierungen von Immanuel Kant in der Kritik der Urteilskraft von 1790 entgegen. Im § 13 steht: „Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.“ Im § 14 wird das an einem Bei­ spiel ausgeführt: „Eine bloße Farbe, z. B. die grüne eines Rasenplatzes, ein bloßer Ton (zum Unterschiede vom Schalle und Geräusch), wie etwa der einer Violine, wird von den meisten an sich für schön erklärt; ob zwar beide bloß die Materie der Vorstellun­ gen, nämlich lediglich Empfindung, zum Grunde zu haben scheinen, und darum nur angenehm genannt zu werden verdienten. Allein man wird doch zugleich bemerken, dass die Empfindungen der Farbe sowohl als des Tons sich nur sofern für schön zu gel­ ten berechtigt halten, als beide rein sind; welches eine Bestimmung ist, die schon die Form betrifft, und auch das einzige, was sich von diesen Vorstellungen mit Gewissheit allgemein mitteilen lässt: weil die Qualität der Empfindungen selbst nicht in allen Sub­ jekten als einstimmig, und die Annehmlichkeit einer Farbe vorzüglich vor der andern, oder des Tons eines musikalischen Instruments vor dem anderen sich schwerlich bei jedermann als auf gleiche Art beurteilt annehmen lässt.“ Aber gerade das, die univer­ sal gleiche Form als objektives Urteil, soll bei Kant und grundsätzlich in der Aufklärung erreicht werden. Eine Farbe oder ein Ton tendiert dazu, Sie zu rühren und insofern von der Fähigkeit Ihres urteilsmassig klaren Denkens abzubringen. Das ästhetische Empfin­ den als Urteilsform des anthropologisch dritten Vermögens – des Gefühls der Lust oder Unlust – ist nur gerechtfertigt als reine Form. Diese reine Form entspringt der Einheit einer als Wissen gefassten Person. Die Reinheit der Form in der Ausdrucksweise von Kant ist für die Avantgarde des 20. Jahrhunderts folgenreich geworden. Kant argumen­ tiert gleich wie Loos gegen das Ornament, Corbusier für transparente Räume, die kubis­ tischen Maler für die Herausarbeitung einer reinen visuellen Form. Ein ungeheures Be­ streben tritt zutage, alles zu denunzieren, was sinnlich sein könnte und verführerisch vom Geist der reinen Form wegführt. Diese Einheit der reinen Form ist nicht nur das Selbtstmodellierungsmodell der Vernunftkritik und der bürgerlichen Person, sondern gründet im spezifisch neuzeitli­ chen Perspektivensystem. Dass die entwerfende Skizze zum Plan im Designprozess ge­ worden ist, zeigt, dass der technischen Organisation des Wissens ästhetische Prozesse zugrunde liegen. Diesen ästhetischen Prozess kann man am zentralperspektivischen Darstellungssystem einfach erläutern. Prinzipieller Ausgangspunkt ist, dass Kunst eine Art Darstellung ist, die sich auf anderes bezieht, semiotisch gesprochen handelt es sich

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um heteroreferenzielle Zeichensysteme, Darstellungssysteme, die konventionell als Zei­ chen und durch Zeichen auf anderes verweisen (einen Zeichengehalt, vermittelt durch begriffliches oder Vorstellungsmaterial). Das ‚Andere‘ ist organisiert als eine Bezugs­ größe und zugleich als Moment des Subjekts, das dieses ‚Andere‘ als Natur, als Objekt betrachtet. Es liegt dieser zentralperspektivischen Organisation – entwickelt, praktiziert und schließlich beschrieben von Filippo Brunelleschi, Masaccio, Leon Battista Alberti, Albrecht Dürer – eine ungeheure Distanzierungsleistung zugrunde von dem, was ‚em­ pirische‘ Natur heißt, vom Stofflichen, Dinglichen, Gegenständlichen. Die im Visuellen zum Ausdruck kommende Distanzierung des Subjekts vom Objekts, des Eigenen vom ‚Anderen‘, des Ausstreuenden vom Bündelnden ist die wesentliche Voraussetzung je­ ner Technisierung, die gemäß dem Dualismus von Körper und Geist, Ausdehnung und Denken als zweier wesensverschiedener Substanzen Natur als bloßen Rohstoff, Materie für geistige Formgebung, Ausdruck geistiger Zweckbedingung behandelt. Die Löschung des Belebten in der Natur ist ein Produkt der Reduktion der Körperwelt auf Ausdehnun­ gen. Descartes vollzieht in der Philosophie bloß, was in der visuellen Ordnung der Per­ spektivierung zur Selbstermächtigung des menschlichen Auges und damit selbst schon zu einer technischen Waffe der Distanzierung angelegt ist. Natur als Rohstoff, analytisch gliederbar, durch Beobachtung nutzbar entspricht dem Visuellen, das in der Organisation der Perspektive Natur als gezähmtes Bild auf­ scheinen lässt. Beide bilden einen Handlungszusammenhang. Die viel beklagte Vor­ herrschaft des kognitiven Wissens vor anderen Erfahrungen und die Reduktion des Bewusstseins auf die Schemata der Kategorienorganisation sowie die Ausgrenzung leib­ lich sinnlichen Bewusstseins haben hier ihre entscheidende Quelle. Es wundert nicht, dass die Begründer dieser visuellen Struktur nicht nur als Ingenieure und Techniker ge­ arbeitet, sondern das gesamte humanistische Erkenntnisprogramm als Denkfigur des Technikers formuliert haben, auch das der Kunst. Die Technisierung des Visuellen so­ wie die Reduktion der leiblichen Orientierung auf die Vorherrschaft des Visuellen hat entsprechend zu großen Schwierigkeiten geführt; verweist das sichtbare Bild auf das re­ ale Geschehen oder auf den Rahmen, in dem es erst Bild wird? Kann die Bildkraft an­ ders denn als Kampf zwischen Bild und Abbild verstanden werden? Kann Malen, wie die zahlreichen Anekdoten der Renaissance im Rückgriff auf die Antike nahelegen, die Na­ tur in ihrer Erscheinungsweise noch übersteigern, kann sie mehr Täuschungspotenzial mobilisieren als unser Auge ohnehin schon ins Vertrauen auf die Dinge investiert? Ist das Ziel des Malens, wie Plinius schon bezüglich Zeuxis behauptet, das Erzeugen einer Täuschung, die selbst Tiere Kunst als Natur zu sehen zwingt? Oder geht es um ein höher entwickeltes Selbstverständnis, das erst an der Wahrheit dieser Suggestion sein Darstel­ lungsrecht, als darstellende Imagination und Transformation des Realen, findet? Offensichtlich gibt es, kraft paradigmatischer Modellbildung, zwei Modelle. Das eine ist zweidimensional, konventionell lesbar als Schrift im Bild. Das zweite versteht das Bild als Ebenbild und verführt zur unmittelbaren Betrachtung des Bildes als ‚Zeuge seiner selbst‘. Zwar ist diese Polarität in der heutigen Kunst nur noch peripher von Be­ lang, dafür umso stärker prägend in den technischen Bildmedien. Solange die darge­ stellte Wirklichkeit als Referenz die Wahrheit eines Sachverhaltes garantieren muss,

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so lange können beispielsweise Bilder aus dem Golfkrieg nicht gezeigt werden: Die Geschichte ist noch nicht geschrieben und die Schriftlichkeit der bezeugenden Bilder kann so den Bildcharakter noch nicht restlos liquidiert haben. So lange bleiben Bilder unsichere Kandidaten der Wahrnehmungsbildung. Ein noch nicht determiniertes Ge­ schehen kann ‚falsch‘ interpretiert werden. Die Voraussetzung der manipulativen technischen Medienpolitik ist also durch­ aus bestimmt von der älteren Frage, die Zuschreibung als Anwendung des theoretischen Problems zu betreiben: Ist das Bild als Zeichen symbolisch interpretierbar oder soll es die Realität als solche zeigen können? Immer wieder ist versucht worden, die subver­ sive Kraft des Bildes durch Texte zu zähmen. Die Manipulation technischer Bildherstel­ lungsprozesse ist nichts anderes als der Versuch, Zeitgeschichte als Text zu schreiben. Wenn die Realität des Wirklichen als Effekt einer Dramaturgie nicht programmatisch eingeplant werden kann, wie im Falle der televisuell simulierten rumänischen Revolu­ tion, wo das Geschehen, das als Übertragung vorgegeben wurde, auf dem Bildschirm als Text selber geschrieben worden ist, so müssen Bilder ausgeschlossen werden: Sie kön­ nen vieles mitteilen außer dem, von dem man weiß, dass es als Geschehen abgebildet werden soll. Die Angst, die wirklichen Bilder können – randomisierend – den Text der Geschichte stören, führt dazu, dass wir seit dem 15. Januar um die versprochene Holly­ wood-Dramaturgie betrogen werden. Bis da war die Wirklichkeit am Golf medial in den Wohnzimmern näher als die eigene Schädeldecke oder die Tapete an der Wand. Von da an herrscht ein Betrug: Das ästhetizistisch angelockte Gut wird verweigert. Vom real Wichtigen ist nichts mehr zu sehen. Das übersteigert Eigentliche des Realen verschwin­ det. Zurück bleibt ein Pausen-Insert zur Überbrückung einer Bildstörung. Diese Bildstö­ rung ist der Krieg selbst, gefasst als Krieg um die richtigen Bilder, deshalb ein Krieg ge­ gen das Reale als Bild. Der Bilderkrieg wird als Krieg geführt, die ‚Wahrheit‘ eines Textes zu zeigen, der noch nicht besiegelt ist. Die Verweigerung der Bilder belegt ihre mögliche subversive Kraft, anderes zu bewirken als das dramaturgisch vorab Berechnete. Leon Battista Albertis Formulierung, Bilder seien Fenster zum Wirklichen, erweist sich als listige Täuschung eines Strategen über das, was Bilder eigentlich leisten kön­ nen. Solche Zuschreibung von Bildfunktionen sind kunstwissenschaftlich also seit Lan­ gem vorbereitet. Entsprechend einer technischen Handhabung der Bilder, ihrer Um­ wandlung in einen Text, der anstelle eines unsicheren Bildes Bedeutungen festlegt, und entsprechend der allgemeinen Technisierung der Bilder ergibt sich ein Missverständ­ nis über den Status von Wissenschaft und Technik. Bis zu den heutigen kritischen So­ ziologen wird dem technischen Handeln der Status einer instrumentellen Kommunika­ tion zugeschrieben: Man kennt Zwecke und stellt die Mittel bereit, die zur Erreichung dieser Zwecke führen. Dieses rationale Vorgehen ist ein aggressives Bild, das Vernunft als Erfolg im Nachhinein konstruiert. Wer sich mit der Wissenschaftsgeschichte be­ fasst, stellt bald fest, dass dieses Bild keiner Wirklichkeit entspricht. Neben anderen hat auch Paul Feyerabend gezeigt, dass Wissenschaft nicht auf Induktion basiert, sondern durch Kontra-Induktion zustande kommt. Man geht nicht von einer Beobachtung aus, um dann in aller theorielosen Unschuld zu einem Modell zu gelangen oder, noch n ­ aiver,

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festzu­stellen, dass die eingesammelte Beobachtung in keiner bestehenden T ­ heorie Platz hat. Umgekehrt: Man bestreitet voluntaristisch die Geltung von Tatsachen. Der ­anarchische Impuls des Improvisierens bildet die maßgebliche Quelle wissenschaftli­ chen Forschens. Die Kontra-Induktion liefert erst Beobachtungen, weil nur die wahr­ nehmungstheoretische und psychologische Rahmenbildung Beobachtungsdaten lie­ fert. Banaler gesagt: Man sieht nur dort, wo man sehen will. Man kann sehen wollen nur dort, wo man weiß, was dieses Wollen heißt. Was gemeinhin unter Technik und wissen­ schaftlicher Rationalität verstanden wird, ist eine nachträgliche Rechtfertigung der pro­ duktiven Anarchie zur Legitimation der Forschungsgelder, an die unter künstlerischen Ansprüchen schwerlich heranzukommen sein dürfte. So verfährt beispielsweise die Bio-Technologie: Die Amortisation der teuren Appa­ rate wird vorgeblich durchgesetzt mit dem fraulichen Recht auf Gebären, das apparativ ermöglicht werden müsse in den Fällen eines naturgegebenen Mangels. Was wirklich interessiert, ist nicht das, sondern, wie weit man mit der recht abenteuerlichen Un­ terstellung kommt, die Natur sei weder Organismus noch Mechanismus, sondern ein linguistisches System. Um das zu erforschen, muss man die Natur umbauen und um­ programmieren, weil nur an den künstlichen Resultaten die Theorievoraussetzungen überprüft werden können. Die technische Praxis vorgeschobener Naturwissenschaft ist Moment der Wirkungsgeschichte der Sprachphilosophie seit Ferdinand de Saussure. Die technische Zähmung des Improvisatorischen ist seit Jahrhunderten Bestand­ teil der Entwicklung in den Künsten selbst, nicht ein externer Zugriff auf ihre Voraus­ setzungen. Umgekehrt muss die aus Intuition gespiesene improvisierende Negation wissenschaftlicher Tatsachen als Bestandteil der Entwicklung des Wissens, nicht als seine Subversion gelten. Was ändert sich für den Technikbegriff, wenn diese Mytho­ logien einer Entgegensetzung einzig als Denkfiguren für unser kulturelles Selbstemp­ finden, nicht aber der Sache nach Bestand haben? Damit verbunden ist die Frage nach dem Wandel der vormodernen zur modernen Technik. Traditionellerweise kann Tech­ nik als Gebrauch künstlicher Werkzeuge beschrieben werden, die für Lebensgestaltung und Überlebenssicherung konstant bleiben. Es gibt ursprüngliche Erfindungen, die langwierige Herstellung von Geräten und geringe Rückwirkungen mit sorgfältigen Mo­ difikationen. Im Wesentlichen bleibt sich der Prozess der Technisierung über Jahrtau­ sende gleich. Wissenschaftliche Revolutionen sind Vorkommnisse äußerster Unwahr­ scheinlichkeit, eines ungeheuren Verdichtungsgrades in der Komplexität erzwungener Aufgabestellungen. Dieser Zwang ist der politische Kern aller Technik, denn meist ist technische Invention an die Zentralisierung der Gewalt und die Hierarchie von Macht gebunden. Dieser Prozess aber hat sich in den letzten hundert Jahren grundlegend geän­ dert. Nicht mehr antwortet die Technik der Kontinuität von Funktionen und Aufgaben. Die Technikentwicklung geht von der Antizipierbarkeit dessen aus, was genutzt wer­ den soll. Es wird versucht, vorwegzunehmen, was der Nutzen sein könnte. Die Tech­ nik verliert ­ihren rekonstruktiven Aspekt, dem gemäß erfunden wird, was in einer Notlage weiterhilft. Heute geht es um eine Simulation des Möglichen, d. h. des für je ver­ schiedene ­Klassen von Vorfällen überhaupt zu einem bestimmten Zeitpunkt denkba­

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ren. Dieses Denkbare wird als Forschungsvorgabe (und Finanzvorgabe) simuliert. Der bloß ­abstrakte ­Gedanke an einen wie immer geformten Ertrag legitimiert alle Anstren­ gungen dafür. Die Forschung der Gegenwart wird auf den Vorschein eines in Zukunft technisch Nutzbaren ausgerichtet, der Idee der ermöglichenden Vorwegnahme aller denkbaren Zwecke geradezu unterworfen. Diese Vorwegnahmen werden angehäuft, ak­ kumuliert mit dem Zweck, die Energien zu verdichten. Das führt unweigerlich zur prä­ ventiven Technisierung allen Handelns entsprechend einer Gesellschaft, in der Tun im­ mer zweckhaft bestimmt ist. Ein neuer Schritt in der Technik hat nicht ein Ziel, das als erreichtes zu ihrem Abschluss führte. Vielmehr wird jeder Schritt in der Technik Aus­ gangspunkt und Anlass für unzählige weitere, wie dies der Technikphilosoph Hans Jo­ nas in verschiedenen Büchern untersucht hat. Jede technische Neuerung wird in der szi­ entistischen Gesellschaft der Techniker und Wissenschaftler umgehend multipliziert. Die Technik ist ohne den Selbstlauf ihrer Propaganda nicht zu denken. Und drittens werden die Verhältnisse von Zwecken und Mitteln nicht linear, sondern dialektisch ent­ wickelt. Ständig kommen neue Gesichtspunkte hinzu. Nebenlinien werden verfolgt, die gar nicht vorgesehen waren. Die Techniker sind immer auf der Hut. Noch der Abfall der Imagination wird technisiert. Deshalb gibt es keinen zu großen technischen Fortschritt, der an einem bestimmten Punkt seiner Vorherrschaft kontrolliert werden müsste. Das Fortschrittsproblem der Technik ist deren Struktur selbst, kein Effekt ihrer Anwendung. Über alle einzelnen Zwecke hinaus tendiert das Technische zu einer op­ timalen Selbstrealisierung. Eine ethische Kontrolle der Technik ist zunächst mit der Tatsache konfrontiert, dass das Technische als solches und aus sich heraus ein morali­ sches Verhältnis zur Welt ist. Die humanistisch gerechtfertigten ethischen Argumente gegen die Technik sind deshalb so schwach, weil die Verfasstheit der modernen Tech­ nik prinzipiell amoralisch auf den Punkt ihrer optimalen Wirksamkeit hin tendiert und Realisierbarkeit des Gedachten prinzipiell erzwingt. Die Ausmaße der Bedrohung wach­ sen deshalb unermesslich, weil die Technik linear und rational ihre Ziele verfolgt, nicht weil neue Anwendungsunfälle Katastrophen erzwingen. Diese sind allenfalls drama­ turgische Erfüllungsgehilfen des Normalitätsauftrags. Die Bedrohlichkeit setzt das ge­ wohnte Gefüge von Raum und Zeit außer Kraft. Bei der Atomkraft lässt sich im Ernst zwischen kriegerischer und friedlicher Nutzung nicht mehr unterscheiden. Das wird zwar versucht, ist aber lächerlich. Ob eine Atombombe gebaut oder nicht gebaut wird, ist dann belanglos, wenn jedes gebaute AKW eine potenzielle Atombombe ist. Dabei ist nicht einmal an terroristische Interventionen zu denken. Es reicht, denjenigen Inter­ ventionen in der Zeit ihren Lauf zu lassen, die täglich als ‚Störfälle‘ in Umlauf kommen. Moderne Technik ist eben nie ein neutrales Instrument gewesen, sondern immer schon von diesem Moment einer internen katastrophischen Militarisierung durchsetzt. Klar­ text dafür sind immer noch die futuristischen Manifeste zwischen 1909 und 1914. Wenn man sie ihres Bilderpathos entkleidet, bleibt als Provokation die tiefe Einheit von Krieg und Technik als Moment beschleunigter Modernität übrig. Die ästhetische Überhö­ hung der Technik im Krieg ist deren logische Anwendung und damit der Klartext ihrer selbst. Im Massenvernichtungskrieg, wie ihn das Studium unseres Jahrhunderts zeigt, kommen nicht nur die technischen Anstrengungen des Menschen zur Realität, sondern

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auch die ästhetischen Triebmomente und Antriebsfedern der Technik. Eine solche Ein­ schätzung ist keine Frage der Haltung. Die Zynismuspotenziale sind von der verfügba­ ren Rollenkomik der Ideologen in die Realität abgewandert. Lassen sich denn überhaupt Alternativen zu einer solchen Technik denken, die wei­ ter greifen als die Selbstbestätigungsrituale derjenigen guten Menschen, die der Technik einen Spiegel vorhalten? Fernwirkungen und Verdrängungen sind zu nennen: Wir lasten den nachfolgenden Generationen Probleme auf, die wir selber bearbeiten müssten. Viel­ leicht wollen auch wir nicht verschont werden? Hilft dann das perspektivische Modell, dass wir als letzte Überlebende den Weltuntergang am Bildschirm betrachten können, aber scheinhaft selber von den Folgen dieses Handelns nicht mehr erreichbar sind? Eine groteske Vorstellung: Da es die Künftigen nicht mehr geben wird, existieren auch wir in der Jetzt-Zeit nicht, die die Substanz dieser Zukunft verzehrt, annektiert, vergeudet. Die Orientierungsgröße der Künftigen gibt es nicht mehr. Der Zeitbruch des Zukunftsverlus­ tes lebt in jedem technischen Handeln. Jede Erfindung löscht die Zukunft, die auf ihre letztgültige Verwirklichung schon deshalb drängt, weil sie technisch handhabbar wird, ja: weil sie Erfindung nicht werden könnte, wenn sie nicht so geartet wäre. Ein grundle­ gendes Wahrnehmungsproblem, das sich zu einem ausweglosen Zirkel der zweckhaften Kontrolle anderer Zwecke ausgewachsen hat. Keine Erfindung, die nicht praktisch ange­ wendet würde, keine Waffe, die, einmal vorhanden, nicht zum Einsatz käme. Die Selbstverwirklichung der technischen Geräte hat apokalyptische Formen ange­ nommen. Die Ideologie der Technik ist nicht, dass sie falschen Zielen dient oder von ent­ fremdeten gesellschaftlichen Verhältnissen zeugt, wie Marcuse und Habermas meinen, sondern dass sie Ausdruck einer Kultur ist, die sich in und nicht nur mit dieser Technik zu verwirklichen trachtet. Die Alternativen zur übertechnisierten Kultur, an denen, wie ich unterstelle, wir alle vital interessiert sind, sind deshalb schwer denkbar, weil die Kri­ tik der Apokalypse von deren Logik selber bestimmt ist. Selbst die wesentlichen Tech­ nikkritiker wie Hans Jonas bringen in jahrzehntelanger Arbeit als konkrete Perspektive nicht mehr zustande als den Appell, dass die Technik unter Kontrolle gebracht werden müsse. Was heißt das denn anderes, als einen Selbstwiderspruch oder einen endlosen Zirkel zu pflegen? Ob durch Ethik oder Moral, Vernunft oder politische Strategie: Tech­ nik soll durch außertechnische Willensanstrengung kontrolliert werden. Das bedeu­ tet doch bloß, dass sich das Problem des technischen Kalküls und der instrumentellen Macht verschiebt. Sobald die Technik technisch begrenzt werden soll, ist man unwei­ gerlich in dem technischen Modell drin, das man bekämpfen möchte. Das ist deshalb ein Problem, weil zwar einzelne Verbesserungen – und es ist dann lebenswichtig, diese durchzusetzen – möglich sind, aber der Erfolg dieser Reparatur wieder die Struktur be­ stärkt, dass technische Kontrolle der Technik machbar ist durch Antizipation, Neben­ wege, Eröffnung eines Arsenals von Möglichkeiten, Ausdehnung möglicher akkumu­ lierter Wirkungen, kurz: durch alle die Momente, die wir als Bestimmungsgründe des Technikproblems strukturell ausgemacht haben. Die Plädoyers für Unterlassungen und Verhütungen scheinen notwendig, greifen aber zu kurz. Logisch verwandelt sich der Selbstwiderspruch einer Technikkontrolle aus außertechnischem Geist in die reaktionäre Beliebigkeit einer Selbstkontrolle der

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­ echnik. Die zeitgemäße Utopie-Kritik von Hermann Lübbe bis Bazon Brock hat wohl T solche Sachverhalte im Blick und plädiert deshalb gerne für Unterlassung, die mysteri­ öse Kunst des Nicht-Einlassens und Ähnliches. Dass die Technisierung des Außertech­ nischen kein Mittel sein kann, die Technik unter Kontrolle zu bringen, ist nicht zuletzt eine ungewollte Leistung der Moderne durch die Verwandlung des utopistischen Bildes in die Machbarkeit der Utopie. Rowe und Koetter haben in Collage City die Moderne als durch und durch geprägtes Erlösungsstreben beschrieben, das ohne sein Bedingungs­ moment, das Apokalyptische, nicht plausible Erleuchtungskraft haben kann. „Nachdem wir auf etwas Hebräisches hingewiesen haben – die Verheißung des messianischen Kö­ nigsreiches – und dann auf dessen christliche Version – wenn wir versucht haben, die­ ses virulente Ding hervorzuheben, das in der Renaissance platonisch formuliert und im 18. Jahrhundert säkularisiert wurde, könnte man jetzt auch geneigt sein, die Karriere die­ ses jahrhundertealten Gärstoffes im 19. Jahrhundert zu erkennen, der nun, ohne viel von seiner Virulenz zu verlieren, aus dem politischen Bereich auftauchte, um in den ästheti­ schen einzugehen. Es ist ein Fall, in dem geglaubt wurde, dass eine Metapher der guten Gesellschaft buchstäblich zur Sache selbst werde, wo ein Mythos zum Rezept oder das Rezept mit der Drohung des Entweder-Oder indossiert wurde. Die städtebauliche Vision der zwanziger Jahre wird – sei es als Wahl einer Utopie oder anders – in Begriffen des mo­ ralischen und biologischen Problems der Erlösung vorgelegt, und dem Bauen kommt eine Schlüsselstellung zu.“1 Nach einem Corbusier-Beleg fahren die Autoren von Collage City fort: „So war der wesentliche Hintergrund beschaffen, und gegen dieses blendende Licht könnte man letzten Endes die ganze außerordentliche Orchestrierung von deutscher Geschichte und französischer Wissenschaft von geistiger Explosibilität und mechanischer Kalt­ blütigkeit, von Unvermeidlichkeit und Untersuchung, von Menschen und Fortschritt sehen. Es war ein Licht, das Energie erzeugte und das, als es mit den ruhigen Kräften einer liberalen Tradition und den romantischen Direktiven eines eben flügge geworde­ nen Avantgardismus verbunden wurde, der Modernen Architektur die Geschwindigkeit ­eines Geschosses verlieh, welche ihr erlaubte, wie eine apokalyptische Entladung aus ei­ ner neuentwickelten Waffe in das 20. Jahrhundert einzudringen. Und es ist immer noch dieses Licht, das, obwohl verblasst, jedes ernsthafte Bemühen um den ‚Aufbau‘ oder das Wohlergehen der Gesellschaft beeinflusst.“2 Zahlreiche Belege lassen sich für diese Rhe­ toriken des Apokalyptischen und der Erlösung beisteuern. Was zu dieser Sachlage verschärfend hinzukommt, ist eine Intensivierung der Ge­ schwindigkeit, anders gesagt: die Ablösung der geophysikalischen Wirklichkeitsordnung durch die Kategorie der Beschleunigung. Der Golfkrieg liefert die entsprechende Heilser­ wartung hinsichtlich der Kontrolle der Beschleunigung. Es handle sich – so die aufmerk­ samere Berichterstattung – um den ersten durch den Mikrochip geführten Krieg. Nicht der Ost-West-Konflikt oder das Nord-Süd-Gefälle beherrschten die Welt, sondern der Streit zwischen schnellen und langsamen Staaten. Der Mikrochip als Zeitmaschine mili­ tarisiert die Lebensrhythmen – auch hier wird der Ernst- zum Normalfall. Ein übliches Vi­ deo-War-Game (namens Thunder Blade) wird so angepriesen: „Vier Spielstufen, der Ton kann ein- oder ausgeschaltet werden, automatische Endabschaltung, Speicherung der

368  AN DER SCHWELLE ZUR POSTMODERNE – WAHRNEHMUNG, TELEOLOGIE, ­T ECHNOLOGIE 

Höchstpunktzahl, realistische Geräuscheffekte. Das Spiel hat vier Stufen: 1. zerstöre mit deinen Raketen die gegnerischen Flugzeuge; 2. mit deinen Bombern zerstörst du die geg­ nerischen Flugzeuge; 3. steure deinen Hubschrauber nach oben, unten, hinten, vorne, um den Angriffen der Gegner auszuweichen; 4. sei vorsichtig, denn du hast insgesamt nur drei Chancen, um schließlich auf Stufe 4 zu gewinnen.“ Dieses Szenario ist identisch mit dem Kriegsszenario am Golf. Das simulative Vernichtungsspiel ist strukturidentisch mit den Techniken des Alltags. Deshalb sprechen die interviewten Piloten wie vor einem Simulationsspiel. Die Realität flüchtet sich in das minimale Bewusstsein, es sei zwar al­ les wie ein Spiel, bloß das persönliche Risiko sei größer. Die Vorstellung läuft ins Leere. Wir haben gelernt zu wissen, aber dieses Wissen versagt in der Realität gerade dort, wo es diese noch weiß. Diese Art Spiel hat alle Orientierungshilfen für den Umgang mit Wirk­ lichkeit determiniert. Das ist im Kern die apokalyptische Struktur der Technik: Technik als an die verdeckten Zwänge der Aufklärung gebundene. Für die Aufklärung leitend sind die Metaphern des Lichts, der Erleuchtung. Indem Aufklärung dieses Licht anstrebt und eine hellsichtige Aufmerksamkeit gegenüber der erhellenden Wahrheit erfordert, trägt sie ein notwendiges Verlangen nach Offenbarung in sich. Dieses Verlangen ist geregelt in einem apokalyptischen Diskurs. Die Struktur des Apokalyptischen ist das sichere Er­ eignis, das bloß noch keine Zeit hatte, eine Katastrophe diesseits aller Regenerierungs­ fähigkeit. Es ist die Rhetorik der Ankunft oder des Appells, der Anrufung des ‚komm‘, die den apokalyptischen Kern der Technik ausmacht. Das ist deshalb verheerend, weil diese ­Rhetorik durch und durch die Sprache der militärischen Führung spricht und im Auto­ ritätsgefälle unbedingten Gehorsams funktioniert. Autorität ist in diesem Sinne immer apokalyptisch, auf unumkehrbare Effekte, demonstrierte Macht ausgerichtet. Die Verschworenheit der Technik mit dem Krieg bedingt, dass eine Alternative zum Apokalyptischen nicht mehr gedacht werden kann. Es geht dabei nicht allein um die massierte Macht der Kriegsaufrüstung, sondern darum, dass die Apokalypse den Be­ dingungsgrund motivierter Technikhandlungen darstellt. Selbstredend wird der Krieg aus anderen Gründen vom Zaun gebrochen: weil ein Präsident sich innenpolitisch nicht halten kann, weil die Militarisierung der Außenbeziehungen den Armutskrieg im Inne­ ren der Gesellschaft aufschieben hilft usw. Aber diese Motivation hat mit der inneren Technikstruktur nichts zu tun, die – selbst unter Vorgabe der Apokalypse – die Anwen­ dung ihrer Mittel erzwingt. Dass das theologisch kanalisiert wird – Kampf der Guten ge­ gen die Bösen – ist nur ein später Reflex auf die Potenzfantasien der Selbstaufrüstung des technisch-industriellen als eines militärischen Komplexes. Die Macht befindet sich nicht in den Händen der Techniker, denn die Militärs sind immer auch die maßgeb­ lichen Wissenschaftler. Die Untrennbarkeit von Wissenschaft und Militär ist, was die Technik spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg als Kriegstechnik definiert. Macht hat immer weniger mit politischer Macht und immer mehr damit zu tun, wie das technische Wissen organisiert wird. Der Krieg ist ein Modell dafür, unter welchen Bedingungen über die Klassifika­ tionsmuster des technischen Wissens entschieden wird. Das Organisationsmodell des Wissens ist der Kern der aktuellen Technikphilosophie, weil der Technik das Mo­ ment des Apokalyptischen eingeschrieben ist, das selbst in bedingungslose Aufklä­

MYTHOLOGIEN DER TECHNIK UND I­ MPROVISATION IM WIDERSTREIT  369

rung ­eingeht. Die Technik liquidiert den moralischen Widerspruch. Ihre Gewalt scheint ­unauflösbar. Wenn eine Alternative dazu aufbaubar ist, dann lässt sich darüber mit Si­ cherheit nicht verfügen. Dagegen sich zu versammeln und zu protestieren, reicht nicht hin. Wenn die UNO nur noch der Sammler der Abfälle politischer Vernunft der Nationen ist und zum Dekor für technische Abläufe nach klaren Interessenvorgaben verkommt, dann wird das Moment des Technischen deutlich als Faktor einer zynischen Realität, die ohne die technischen Medien undenkbar ist. Walter Benjamin entwirft am Ende der ‚Einbahnstraße‘ ein abgründiges Modell für dieses Problem: Der Krieg als Perversion der technischen Fähigkeiten und als fehlgeleitete Extension unserer leiblichen Organe, die wir nicht zu nutzen wissen, könne nur erklärt werden als ein im Krieg pervertieren­ der verzweifelter Versuch der Moderne, überhaupt noch eine kosmische Erfahrung zu machen. Die Selbstanklage des Menschen im Evolutionsprozess tritt hier mit einem ge­ schärften Schuldbewusstsein in die Kulturgeschichte ein. Hintergrund dafür ist nicht das apokalyptische, sondern das anthropologische Moment. Wir kommen aus der Technik nicht heraus, weil diese grundsätzlich Bestimmungs­ moment der Beschaffenheit des Menschen ist. Der Mensch ist zur Artifizialität und zu ei­ ner riskanten Öffnung gezwungen. Er ist physisch schwach. Die Geräte, mit denen er sich orientiert, haben immer einen technischen Status. Das gilt dann für die Voraussetzungen der Funktionalisierung wie für deren Regenerierung am Unbekannten, also für die Me­ dien Sprache und Kunst. Wie immer Epiphanes in der Sprache aufscheint: Es dient der Symbolfindung und interpretiert gesellschaftliches Handeln als ein mögliches kommu­ nikatives. Wo geltende Symbole verletzt, überwunden, zerrüttet werden, greift ein künst­ lerisches Intervenieren kritisch über die geleisteten Erfahrungen hinaus und eröffnet et­ was Neues. Dass wir auf solche Funktionen der Funktionsverweigerung angewiesen sind, ist auch eine technische Leistung unserer Wahrnehmungsapparate. Solche Ausdehnung unseres Körpers beinhaltet die gesamten Kooperationsmöglichkeiten einer Gesellschaft. Deshalb ist der Krieg als eigentlicher Realisator moderner Technik das Entsetzlichste: Er weist uns darauf hin, dass wir in einem sehr weiten Sinne nicht vernünftig kommuniziert haben, sondern unvernünftigerweise die unlösbaren Probleme als scheinhaft lösbar dar­ stellen. Der Krieg ist seit dem Schwert Alexanders des Großen, mit dem dieser den Gordi­ schen Knoten zerhaut, der Inbegriff der Reduktion von Komplexität. Seit der Renaissance besteht ein enges Verhältnis zwischen Kunst und Technik. Deshalb der Wettstreit, der ‚paragone‘, zwischen den Künstlern. Wie Leonardo über das ‚disegno‘, den Entwurf, die Vorherrschaft der Malerei als einer wissenschaftlichen Diszi­ plin sichern wollte, so tritt heute der Kunstanspruch der Ingenieure über den Computer an die etablierten Künste heran. Die Künstler haben in den letzten 190 Jahren, dezidiert seit 90 Jahren, versucht, die Kunst auf den gesamten Lebenszusammenhang auszudeh­ nen, Kunst als spezifische Erkenntnisform einzusetzen. Heute beansprucht die Com­ puterkultur das Erbe der ästhetischen Grundlagenarbeit für das gesellschaftlich Ima­ ginäre (dass diese nur das Symbolische erreicht und das Imaginäre verzehrt, kann hier nicht ausgeführt werden). Die neue technische Intelligenz schickt sich an, die kulturelle Semantik zu annektieren. Der Verstoß an die Spitze der bürgerlichen Kultur arbeitet mit

370  AN DER SCHWELLE ZUR POSTMODERNE – WAHRNEHMUNG, TELEOLOGIE, ­T ECHNOLOGIE 

entliehener Geschichte. Dem Ausdehnungsanspruch der Kunst wird mit der Ausdeh­ nung des technischen Zugriffs auf den gesamten Lebenszusammenhang geantwortet. Da die Bedeutung der Kultur, die Semantik der Gewöhnung, langsamer arbeitet als die technische Innovation, wird der Anspruch mit dem Hinweis auf die Tradition des Künstlers als des Technologen untermauert. Man versucht, von dieser Seite her das Technische mit dem Improvisatorischen begrifflich zu vereinigen. Computeranimation und fraktale Simulation sollen belegen, dass der neue Leonardo nicht Künstler, sondern Designer sei. Das macht sich gut, besagt aber nicht viel, denn bereits Leonardo hat ja mit dem Vorrang des Konzepts (des ‚disegno‘) das Wesentliche einer solchen Program­ mierstruktur formuliert. In den technischen Apparaturen selbst soll die Vereinigung des Technischen mit dem Improvisatorischen stattfinden. Aber diese technischen Ap­ paraturen vergleichgültigen jede stofflich konkrete Arbeit und Arbeitsform: Krieg und Kriegsspiele, Entwurfsskizzen und Rechnungsprogramme – alles dasselbe für die Per­ spektive des Apparates. Der Apparat wird zum Synonym für die Unterschiedslosigkeit und Leere derjenigen Bestimmungen, die Leben erst gehaltvoll machen. Deshalb wird er an sich selber falsch und irrelevant. Allerdings sind es nicht die Mythologien, mit denen Abgrenzungen vorgenom­ men und Widerstände ermöglicht werden. Es hat keinen Sinn, gegen das Technische die Lebendigkeit der Kunst auszuspielen oder vonseiten der Techniker die archaische Dimension spontanen Sich-Formulierens als Beleg der Unexaktheit auszureizen oder, umgekehrt, zu beschwören. Das sind Argumentationen, die die Tiefe der zu verhandeln­ den Sache nicht erreichen. Diese Mythologien zeigen bloß, dass wir in einer geschlosse­ nen Kultur leben. Die Entgegensetzung von Technik und Improvisation belegt unseren Widerwillen, die Eindimensionalität unserer Kultur als das zu akzeptieren, was sie ist: eindimensional. Perspektivisch ist an der Macht des unvernünftigen Wunsches nach Mehrdimensionalität anzusetzen. Dafür kann die Figur des Widerstreits tauglich wer­ den. Jean-François Lyotard beschreibt diese als etwas in der Moderne Verstelltes. Seit Kant ist die Moderne als Vernunftreligion konzipiert. Die Vernunft ist oberste Richterin aller Erkenntnisse. Jegliches Handeln hat sich der Form dieser Gerichtsbarkeit einzu­ gliedern. Lyotard fordert eine Gerechtigkeit ohne Richter, deshalb auch ohne universale oder objektive Richtschnur und hierarchische Rollen. In einer Vielzahl kleiner dezentra­ ler Streitkulturen gäbe es keine übergeordnete Wahrheit mehr. Es ist leicht einzusehen, dass dieses Modell ein antimilitaristisches ist. Denn der Krieg ist das letzte weltpolitische Instrumentarium eines solchen Gerichtshofes. Wichtig ist, dass Lyotard nicht bloß gegen die Vereinnahmung des Gerichts durch miese Interes­ sen sich wendet, sondern erst recht gegen den unterstellten Idealtypus. Vernunft muss an diesem Punkt zusammen mit der modernen Konzeption universaler Technikherrschaft, universaler Gerichtsbarkeit, universaler Gerechtigkeit, der Hierarchie des obersten Ge­ richtes verabschiedet werden. Mit dieser Vorstellung zu brechen – und ich möchte mit ihr brechen –, erfordert eine andere Mentalität. Darüber ließe sich mehr sagen als über den Selbstwiderspruch einer Durchsetzung eines solchen nachmoderne Gerechtigkeits­ modells, das gewissermaßen in oberster Instanz deklariert, dass wir auf oberste Instan­ zen zu verzichten haben.

MYTHOLOGIEN DER TECHNIK UND I­ MPROVISATION IM WIDERSTREIT  371

Man kann das Modell der polyvalenten, widerstreitenden Lebensformen nicht durchsetzen, ohne in die Gerichtsstruktur der universalistischen Modernen zurückzu­ fallen. Das Denken im Widerstreit hat dort anzusetzen, wo man die künstlerischen und kulturellen Erkenntnisse nicht mehr als informationsverarbeitenden oder kommunika­ tiven Prozess versteht. An diesem Punkt wäre weiterzudenken. Kommunikation bedarf des Nicht-Kommunizierbaren. Es sind nur noch Sätze interessant, die nicht program­ matisch erzeugbar sind, die uns also irritieren können. Die apokalyptische Struktur der Technik steht diesem Experiment schroff entgegen. Eine letzte Frage bleibt: Wenn das Plädoyer für die Chancen des Widerstreits und die Notwendigkeit, das zu formulieren, was nicht verfügbar ist, das Unverfügte einfordert: wie wäre das Nicht-Realisierte denk­ bar? Gibt es das überhaupt noch? Ist nicht alles, was in dieser Funktion angesprochen wird, bereits so vorstrukturiert, dass man im Grunde mit Erfolg schon weiß, was davon zu erreichen sein wird, Reich der Mittel als Beleg der Zwecke? Dagegen sei gesetzt: Die Vorstellung, dass Nicht-Realisierbares auf bestimmte Art existieren könnte, ist gebun­ den an die Vorstellung der Umschreibung des Nicht-Erkennbaren. Wenn wir dazu keine Möglichkeiten einer Orientierung aufbauen können, verbleiben wir in der Kontinuität des instrumentellen kriegerischen und technischen Handelns.

Redigierte und korrigierte Ab- und Umschrift des Gastreferats von Hans Ulrich Reck über „Mytho­logien der Technik und Improvisation im Widerstreit“ vom 21. Januar 1991 in der Abteilungsveranstaltung zum Thema „Der Gebrauchswert des Unrealisierbaren“ am Lehrstuhl für Bildnerisches Gestalten – von Prof. P. Jenny – der Architekturabteilung ETH Zürich. Das Abstract wurde als Vorgabe für die Vorankündigung des Vortrags „Mythologien der Technik und Improvisation im Widerstreit“ geschrieben im Juni 1990.

1 2

Colin Rowe/Fred Koetter, Collage City, Basel-Boston-Berlin 1984, S. 42. Ebda. S. 43 f.

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Projektkoordination: Freya Mohr Herstellung: Amelie Solbrig, Anja Haering Layout, Covergestaltung und Satz: Sven Schrape Designkonzept BIRD: Christian Riis Ruggaber, Formal Papier: 110g/m2 Offset Lithografie: bildpunkt Druckvorstufen GmbH, Berlin Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza: Library of Congress Control Number: 2022931299 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Ta­ bellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheber­ rechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungs­ pflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Design/Theorie ist ein zweibändiges Werk. Dieses ist der 1. Band. ISBN 978-3-0356-2522-6 e-ISBN (PDF) 978-3-0356-2525-7

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Design/Theorie

Board of International Research in Design, BIRD

Members: Tom Bieling Uta Brandes Michelle Christensen Sandra Groll Wolfgang Jonas Ralf Michel Marc Pfaff

Advisory Board: Lena Berglin Cees de Bont Elena Caratti Michal Eitan Bill Gaver Orit Halpern Denisa Kera Keith Russell Doreen Toutikian Michael Wolf John Wood

Hans Ulrich Reck

Design/ Theorie Band 2 Essays 1982 bis 2020

Birkhäuser Basel

INHALT VON BAND 2 4  Theorie an Kunst- und Design­hoch­schulen

010

Was meint Theorieunterricht für die Ausbildung von Gestaltern?

011

Navigieren mit eingeschränkter ­­Sicht – zur Frage der Theorie in der Design­a usbildung

013

Postzivilisatorische Unberechenbar­k eiten – zur Lage der Bildung und zu den Konsequenzen für Designausbildung

019

‚Euphorie und Elend‘: Ein Projekt

027

mit Martin Heller

Einleitung/Vorwort zum Katalog Euphorie und Elend 030

004 DESIGN/THEORIE 

Zur Aktualität der Ausbildung von ­Gestalterinnen

033

Bildung, zersplittert

035

Design – zum Forschen prädestiniert

041

Zum Stand von Designtheorie

044

Theorie durch Theoriemangel – ­ Episteme und Verfahren in Kunst und Design, auch zu verstehen als eine Erörterung ästhetischen Urteilens

051

Vom Weltbesitz und etlichen seiner ­m öglichen Mystifikationen. Designtheorie aktuell: Avancements, Handeln, ­R eflexion

070

5 Neue Kontextuali­sierungen und Kontroversen – ­ Design und ­Forschung

078

Verstreute Notizen A: Grundlagen und Kontext zu Forschung im gestalte­r ischen Feld

079

Doktorieren an Kunsthochschulen – ­e inige Voraussetzungen, Kriterien und Perspektiven

083

Verstreute Notizen B: Promovieren durch Künstler als Wissenschaftler an Kunsthoch­ schulen – ­F orschung, ­R echerche, Theorie, Reflexion 95 Entwicklungsperspektive Forschung für Hochschule für Gestaltung Zürich: Auftrag, Arbeitsfelder, Organisation

102

mit Martin Heller

6  Zur Symbolizität der Dinge

110

Exkurs: Der perfekte Modellkörper

111

Eine Anmerkung zur Mode als Sprache

116

Exkurs: ‚Politics Follow Emotion‘ – ‚­S tilett‘ oder die Kehrseite des neuen ‚Emotionalen Designs‘

120

Das Ringen um den Gegenstand: Design zwischen Kunst, Kult und Lifestyle

127

Design und Sprache

168

INHALT VON BAND 2  005

7 Nach der und trotz der Moderne – ­Exempel und Diskurse Abweisungen, vage Erinnerungen: Gegen gestaltete Zeit

177

Müll, Abfall, Chaos – eine Möglichkeit, mit Relikten der Güter-Gesellschaft ­u mzugehen

187

Parteilichkeit hat ausgedient: Bloß was nützt das? Kritische ­B emerkungen zur Zeitschriften-­Ä sthetik der 1980er

196

Vom befreienden Unwert der ­k leinen Dinge, mit einem Seitenblick auf die ­U topien des Konstruktivismus – ­e rweiterte Version

200

Imitieren? Klar, immer. Aber wie?

218

Nach der Ordnung des Geschmacks: Für eine Ästhetik des Experimentellen

232

Vom Ende der Differenz: Ästhetische Perspektiven auf einen Motivzusammenhang der Moderne – erweiterte Version

237

8 Nach der Postmoderne – Design, Designpolitik und ­Medien

006 DESIGN/THEORIE 

176

256

Das plötzlich polemische Aufscheinen des Zeitgeistes – eine Kritik der Neuheit

257

Reflexionen über die Zukunft des Designs

269

„Jedes neue Design ist Re-­D esign“ – zur ‚Theorie des Designs‘ von Michael Erlhoff

291

Stilfigur. Auszüge für Michael in ­d iversen Stücken

295

Design der Zukunft in den Köpfen der Designer heute

301

Vom ‚unsichtbaren Design‘ zum ­u nsichtbaren Design – mediale ­H erausforderungen einer aktuellen ­D esigntheorie

303

‚Style & Design‘: Ästhetische Betrach­t ungen zu einem performativen Modell in der aktuellen Gesellschaft der ­S pektakel und seinen weitgreifenden theoretischen Voraussetzungen 312 Denk(form)gleichungen. Kleine ­M editation über ein Plädoyer für das Böse, ­H ässliche und Unzweckmäßige

9  Gemeinsinn und Revolte Alltag als Kultur?

336

340 341

Die andere Seite des Utopischen: Wiederholungszwänge 350 Offenes Design/Public Design

353

Graffiti – Zeichen, Räume, Körper: ­ Einschreibungen und Verwerfungen

356

Vom Protest zur Revolte – Design und mediale Transformationen in gegen­k ulturellen Bewegungen 362 ‚Tugendterror‘ 370 Terror und Blasphemie

378

INHALT VON BAND 2  007

10  Ausblick mit Michael Erlhoff Einfacher Ausstellungshinweis für ­ Besucherinnen und Besucher

388

389

mit Michael Erlhoff

„Etwas zeigen, was man nicht ­b egreifen kann“ – ein Bericht zur Ausstellung ­H eute ist Morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Konstruktion

391

Unschärfe und Paradoxie-Inszenierungen – Ausstellungskonzept für die KAH

399

mit Michael Erlhoff

11 Zum ­Konzept der ­Edition ‚­Design/Theorie – Essays 1982 bis 2020‘

Über den Autor

008 DESIGN/THEORIE 

412

419

4 Theorie an Kunst- und Design­hoch­ schulen

4  Theorie an Kunst- und Design­hoch­schulen Vorab: Die notwendige Öffnung der instrumentellen Designtheorien auf Figuren der Problematisierung, von Über- und Unterschreitung hin, greift ebenso in die Reflexion der Situation der Studentinnen und Studenten in den einschlägigen Studiengängen ein. Was ist noch der Anspruch an ‚Bildung‘, zivilisatorischer Reflexion im Unterschied zur Fachtheorie? Wie verhalten sich Bildung und Ausbildung zueinander? Was ist das Profil einer Minimalfähigkeiten sichernden Theorie-Auffassung in der Vermittlung während des Studiums? Voraussetzungen von Designtheorien haben sich hier im Kontext solcher Handlungsweisen zu artikulieren und zu begründen. Es geht um Unsicherheitspotenziale, permanente Kontext-Reflexion, es geht um Komplexität und ein Handeln, das weiß, dass es stetig nur dadurch begründet werden kann, dass es jederzeit zahlreiche Alternativen immanent ausschließt, ohne für die Ausschlüsse und die Selbstwahl wirklich objektivierbare Gründe zu haben. Evidenz gibt es nicht mehr, es müssen tastende wie testende Abwägungen gefunden werden.

010  THEORIE AN KUNST- UND DESIGN­H OCH­S CHULEN 

WAS MEINT THEORIEUNTERRICHT FÜR DIE AUSBILDUNG VON GESTALTERN? Ziele der Gestalterberufe heute und damit auch der Gestaltungsausbildung: • Verstärkung des Verarbeitungspotenzials; Schärfung der Sinne muss mindestens in der Lage sein, den Weg durch den Kopf zu gehen. • Die Qualitäten des Bewusstseins entscheiden auch über Quali­ täten der Gestaltung. Die intuitiven Elemente der normalen ­Planung sind eine Einsicht des Bewusstseins. • Bewusstsein als Gestaltung wahrnehmen zu können, • Fähigkeiten interdisziplinärer Problemstellung; Problem­ wahrnehmung als Vernetzungslernen. • polykulturelle Orientierung – gemäß einem Berufsbild eines kompetenten Gestalters, der nicht als departementalisierter ­Designer professionalisiert, sondern als kulturell vielschichtig interessiertes und darum beispielhaftes Individuum bean­ sprucht werden will – liegt nicht vor der eigenen Nase, sondern muss über Information und Reflexion erarbeitet werden, • Gestaltung als Faktor eines gesamtkulturellen Interesses: als ­Fähigkeit, den Teilnehmer- als Beobachterstandpunkt wahr­ zunehmen und umgekehrt. • Die Probleme heute folgen weder einer professionalisti­ schen Einsicht noch einer Handwerkelei. Die Gestaltung der Welt-/Umweltbeziehungen im Ganzen ist das Ziel einer Aus­ bildung auf dem Niveau ‚höherer Gestaltung‘. Theorieunter­ richt heißt: lernen, sich angemessen zu orientieren. Einen ­Überblick zu ­haben über Gründe und Ursachen unserer Lebens­ welt und ­Kultur und von dort eine Fähigkeit zu Analyse und­ ­Synthese. Themenbereiche der Ausbildung wären: • Planungsfragen und Planungsmodelle • Stadt- und Umweltgestaltung/soziale, politische, kulturelle und ökonomische Entwicklungen unserer Gesellschaft • neuralgische kulturelle Prozesse: aktuelle, neue Ereignisse und die Hintergründe • Gestaltungsmedien und ihre semiotischen Strukturen

WAS MEINT THEORIEUNTERRICHT FÜR DIE AUSBILDUNG VON GESTALTERN?  011

• Thematisch konzipierte und begründbare Gestaltungen • Denken und Denkmodelle Ein voller Arbeitsbereich für Theorieunterricht, aufgeteilt in fünf mal zwei Stunden: 1. Aktuelle kulturelle Phänomene in verschiedenen Medien – ­Gegenwart ‚lesen‘ lernen 2. Planungsprobleme – theoretische Perspektiven der ­Gestaltungspraxis 3. Lektüre/Seminar theoretischer Texte zu Gestaltung/­Urteilskraft 4. Thematische Bereiche und Probleme angewandter Semiotik 5. Projektanalysen/Projektkritiken – Netze bilden Beispiele (s. Beilagen): • • • • • •

Mechanik in der Kunst Architekturutopien Designwandel/neue Produktion Stadtplanung Stadttourismus Ästhetik von Weltbildern

Geschrieben 4. Juni 1984

012  THEORIE AN KUNST- UND DESIGN­H OCH­S CHULEN 

NAVIGIEREN MIT EINGESCHRÄNKTER ­­SICHT – ZUR FRAGE DER THEORIE IN DER DESIGN­ AUSBILDUNG Die Frage, wie viel theoretische Grundlagen ein Designstudium beinhalten soll, muss oder kann, führt in Schwierigkeiten, die man zunächst gar nicht vermuten würde. Wieso ist das so? Anders gefragt: Weshalb ist es so schwierig, für diese Frage pragmatisch sta­ bile Antworten zu finden? Niemand würde doch trotz der notorisch künstlerischen Skep­ sis gegen einen zu engen und modularisierten, vor allem gegen polytechnisch verordne­ ten Lernaufbau mittels Curricula deren grundsätzlichen Sinn bestreiten. Also scheinen nur die Details oder Ausführungsbestimmungen als schwierig?

Fragen und ‚große Fragen‘ Fallweise bieten sich die viel beschworenen Grundlagen an. Aber wer selektioniert diese? Gehört Philosophie dazu, Biologie, Physik, Vertrautheit mit der Ingenieurtradi­ tion und ihren Theorien, Semiotik und Ästhetik, Kundigkeit in der Kulturgeschichte des Entwerfens, soziologisches, psycho-mentales Verständnis für die Designaufgaben, ein spezifisch ästhetischer Sinn, der, ob gelernt oder nicht, so doch stetig verfeinert wer­ den kann? Oder Systemtheorie, politologisch fundiertes Wissen um das Gemeinwesen, sozilogische Kenntnisse im Umgang mit Auftraggebern, Nutzern, Folgekostenabschät­ zungen? Und was ist mit den großen Versprechungen einer algorithmischen Design­ technik, mit der Emphase der Mechanisierbarkeit des Lebens von Siegfried Giedion bis Marvin Minsky, was mit der ästhetischen Vorschule der Informationsverarbeitung und erst recht der vermittelnden Programmierung von Symbolverarbeitung und -vermitt­ lung, findet dies im Gehirn, in Gemeinschaften oder in der Maschine statt? Und was haben Theorien zu sagen und zu leisten, wenn es um die ganz großen Fragen geht, die ökologische Bewahrung des menschlichen Lebens auf dem Planeten, die Garantien ei­ ner bisher schiere Utopie gebliebenen Subsistenzgerechtigkeit über den täglichen Ver­ teilungskampf hinaus, die Reparatur an den so bezeichnenden drastischen Asymme­ trien im Krieg um Lebensmittel, die endliche Durcharbeitung von Kolonialismus und Neo-Imperialismus in Ressourcen unersättlich gefräßig verschlingenden ersten Welt, die bisher noch allemal politisch gegen die geschmeidige Improvisationskunst des leis­ tungsfähigen Teils der dritten Welt sich durchsetzt, indem sie eine rasant ins Globale wachsende vierte Welt von Verelendung und Armut erzeugt. Kann man Überleben den­ ken, improvisieren, einrichten, ermöglichen unter solchen Bedingungen? Und welche Kenntnisse braucht man dafür, welche Theorien, wie kann man sie vermitteln, wie kann man sie lernen und einsetzen?

NAVIGIEREN MIT EINGESCHRÄNKTER SICHT  ­­ 013

Die Liste der Fragen ist weder willkürlich noch überzogen, sondern ein Minimalka­ talog. Dieser macht sofort deutlich, dass es sich hier um etwas Besonderes handelt. Kein anderes theoretisches Feld müsste oder sollte sich all diesen Fragen in gleicher Weise öff­ nen. Im Design, seiner Praktik wie seiner Reflexion ergibt sich das aber auf Schritt und Tritt. So erscheint Design als Sphäre reflektierender, fragender Verbindung und Verknüp­ fung. Vielleicht ist man im Allgemeinen gerade deshalb gut beraten, Designtheorie im Studium nicht an disziplinäre oder gar polytechnisch gestufte Wissensvorgaben zu knüp­ fen, sondern der stetigen Frage und Beobachtung auszusetzen, wie die Designer sich eine Basis des zivilisatorisch relevanten Wissens, also lebensweltliche Kundigkeit auf dem höchsten Niveau von ‚Welt‘ und ‚Welterfahrung‘, der diese prägenden und formierenden Prozesse, Hintergründe und Perspektiven erarbeiten können. Dieser zivilisatorische An­ spruch wäre das für Designtheorie Bezeichnende. Und auch ein Besonderes: Was ande­ ren Gebieten als utopisches Regulativ aufgetragen bliebe, wäre hier ein Prüfstein für den Wert kritisch reflektierender Theorienaneignung. Ich meine, dass darin keine vage bil­ dungsbürgerliche Welt angezeichnet bleibt, sondern ein konkreter Anspruch, mit dem sich der Einsatz von Wissen als Theorieaneignung im Studium perspektivieren lässt.

Irritationen und Probleme Diese Kurzbeschreibung eines Relevanzprofils namens ‚Design/Theorie‘ zeigt deutlich, welche Faszinationen, aber auch welche Irritationen vom Berufsfeld der Designer aus­ gehen, zumal, wenn theoretische Stützung des eigenen produktiven Tuns gesucht wird. Wer Physik oder Biologie studiert – und somit irgendwann weitere Kenntnisgrundlagen für zahlreiche Aufgaben der Designpraxis bereitstellt –, würde sich doch arg wundern, wenn er davon ausgehen müsste, gar keine brauchbare enge, abgeschlossene, von ande­ rem unterschiedene Definition seines abgrenzbaren Tätigkeitsgebietes zu haben. Wenn man unter Design aber nicht die so lange beschworene und immer wieder bitterlich ent­ täuschende und dann dem entsprechend entmystifizierte Technik einer berechenbaren Konzeption von Objekten für klar beschreibbare Lebensformen versteht – egal in wel­ cher Dimensionierung, von der Pillenverpackung bis zu Architektur und Städtebau –, sondern die Beschäftigung mit allen konzeptuell formulierbaren Einflüssen auf die Le­ benswelt im Ganzen, der hat es eben schlicht mit ‚allem‘ zu tun. Dann jedoch kann der Gegenstand der Designtheorie nicht in der Addition der Theorien der in einzelne Sekto­ ren zerlegten Faktoren dieser lebensweltlichen Problembeschreibungen liegen. So nämlich käme man nie zu einer brauchbaren kritischen Aneignung, einer se­ lektiven Gewichtung der Faktoren. Man käme also auch nie zu einem kritischen Selbst­ bewusstsein, nie zu einer angemessenen experimentierenden Wahrnehmung des ent­ werfenden Probehandelns. Wir können mittlerweile – nach den guten Argumenten von Lucius Burckhardt, Bazon Brock und weiteren aus den 1970er- und 1980er-Jahren – da­ hingehend gut argumentieren, dass die theoretische Begründung von Designpraxis

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nicht darin bestehen kann, Probleme dadurch zu lösen, dass man sie in Unterpunkte oder Teile gliedert. Da Problemlösungen immer in Problemverschiebungen münden, führt die theoretische Einsicht dazu, nicht eine Lösungsbehauptung zu suchen, son­ dern eine angemessene Problemwahrnehmung und -beschreibung zu entwerfen. Jede direkte, auf vermeintlich sicherem Wissen, gar Expertenwissen beruhende Problem­ lösungsbehauptung würde dagegen nur auf Unsichtbar-werden-Lassen oder Kaschieren des ursprünglichen Problems hinwirken und mehr Ungelöstheiten erzeugen. Wie nun kann man theoretisch grundiert handeln, wenn man aus der Komplexität der Beschreibung der Einflussgrößen nicht herauskommt, ja, gar nicht herauskommen kann? Was ist zu tun, wenn doch ein immer nächster Faktor auch noch unbedingt einge­ arbeitet und berücksichtigt werden muss? Zwei Rezepte sind hierzu angeboten worden: Die außerinstitutionelle Beschwörung eines ‚Holismus‘, einer angeblichen Ganzheits­ technik. Und die innerinstitutionelle eines Kanons, dessen Relevanz zwar nicht umfas­ send ist, aber doch minimal ausreicht, um das famose ‚alles‘ zu bewältigen. Beide Ange­ bote genügen nicht, ja, sie erscheinen schon deshalb als fraglich, weil sie eine Theorie der Theoriereduktion beinhalten, die wiederum gar nicht theoretisch begründet wer­ den kann. Sondern die einfach über Dezision, also schiere Setzung herbeigeführt wird. Solche Setzung scheitert aber regelmäßig in erbärmlicher Weise, vielleicht nicht so­ fort, aber gewiss auf lange Sicht. Zu oft sind autoritäre Theorien und ein im Namen der Kunst agierender Gestaltungstotalitarismus in der Geschichte unheilvolle Allianzen ein­ gegangen, ja, habe diese erzwungen. Es geht also in einem studierenden Suchen nicht nur um Wissen, sondern um Methoden eines selbstreflektierenden, experimentieren­ der Entwerfens. Dieses markiert den jeder Theorieausbildung im Designstudium inne­ wohnenden Typus eines erkennenden Probehandelns, das von Situation zu Situation ­voranschreitet und sich entwickelt.

Verfehlungen und Verknüpfungen Fast alle Theorien der Gestaltung, die als Revolution der Lebensformen und aufs Ganze gehende Utopien im 20. Jahrhundert vorgebracht worden sind, verfehlen jedoch diese regulative, als Gebot genannte theoretische Selbstwahrnehmung. Sie leugnen die Skep­ sis, ihr Theorieanspruch begründet sich nicht, sondern postuliert nicht selten – in zu­ dem Evidenz heischender Weise – einen Algorithmus der Ableitung zur Erlangung oder Durchsetzung einer ‚wahren‘ oder ‚richtigen‘ Ästhetik, einer ‚guten Form‘ oder einer ‚reinen Gestaltung‘. Solches im Monolog des Meisterdenkens gefangenes und nutzloses Unterfangen behauptet ja immer nur, im Dienste einer klaren und reinen Ordnung der Dinge zu wirken. Aber die Dinge und Sachverhalte im Design sind ‚polysemisch‘ oder gar ‚pervers‘, jedenfalls deviant. Sie folgen nicht der normativ behaupteten Ordnung der Tatsachen. Somit ergibt sich als wiederum skepsisfähige Maxime für jede Theorie-Ein­ richtung im Designstudium: Designtheorie gründet in der Auseinandersetzung mit der

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Bewertbarkeit von Resultaten aus zahlreichen Wissenschaften, die je nach Problemstel­ lung in unterschiedlicher Weise relevant werden. Sie muss also immer wieder neue Fak­ toren einbeziehen und die Perspektiven wechseln, indem sie neue Verbindungen sucht. Angesichts der auferlegten und unvermeidlichen Hilflosigkeit im Umgang mit komplexen Zwängen und ‚unentscheidbaren Entscheidungen‘ muss der Designer die Instanz der reflektierenden Verknüpfung einnehmen, ohne die Paradoxien zu leugnen. Kundig muss er deren diverse Seiten durchspielen und die Gesichtspunkte verschieben. Das kann nur in stetigem Abwägen der Vorschläge von und Theorien aus welchen, stets wechselnden Disziplinen auch immer geschehen. Damit wird deutlich, dass es nicht um Entwurfsmethodologie, sondern deren Pluralität geht, um ein Durchlaufen von Vor­ schlägen ‚nach und nach‘. Es geht insgesamt nicht um den Typus eines meta-theoreti­ schen Wissens, wohl aber um eine Kundigkeit im Umgang mit den wissenschaftsthe­ oretischen Fragen der Induktion, der Hypothesenbildung, der Abwägung, der Kritik, kurzum einer auf Aneignung zielenden Logik nicht der Forschung, sondern ihrer erhal­ tenen Widersprüchlichkeit in einer Polylogik der Aneignungen. Um diese flexiblen Verschiebungen einer Gewichtung überhaupt wahrzunehmen, muss ein Instrumentarium erarbeitet werden, die Bedeutungen und Einflüsse der Wis­ senschaftsresultate zu bewerten, selektiv zu gewichten. Das gelingt keiner Rezeptur, aber ohne Zweifel ist primäre Theorieziel für Designausbildung und methodische Ansprüche an ihre Curricula in der Schulung für eine produktive Abschätzung von Wissenschaftsund Technikfolgen anzusehen. Typischerweise gehört zur Frage, wie solches Studium ­beschaffen ist, immer wieder die negative Darlegung, worin es nicht bestehen kann. Designrelevante Methoden gewinnt man nicht durch Anwendung mathematischpolytechnisch gestufter Wissenschaftlichkeit, sondern durch ‚bottom up‘ entwickelte Theorieperspektiven entlang exemplarischer Problemzäsuren, die in wiederum bei­ spielhaften Aneignungen verdeutlicht werden sollen und können. Man muss also auf alle so verführerischen Forderungen und Ratschläge aus dem Repertoire des bildungs­ bürgerlichen Kulturwissens verzichten, auf allgemeine historische Belesenheit, umfas­ sende Kenntnis, inter- und transdisziplinärer Synthesebildung. Es ist immer der Akt der verbindenden Reflexion, also eine implizit theoretisierte Praktik, die solche Ver­ bindungen für je aktualisierbare Problemlösungsansprüche verdeutlicht und zugäng­ lich macht. Hier muss die Evaluierung mittels immer weiteren Anläufen ansetzen. Dazu ­bedarf es der philosophischen, hermeneutischen, wissenssoziologischen, artefakthisto­ rischen und weiterer Argumentationen, die natürlich wiederum auf exemplarisch ent­ wickelten Kenntnissen beruhen.

‚Enzyklopädie‘ und ‚Bricolage‘ Der Designer bedarf deshalb einer Theorie der Theorieverknüpfungen, die ihm nichts weniger erlaubt als eine revidierende ‚Redaktion‘ oder ‚Re-Lektüre‘ der Weltprobleme

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in je konkreter Hinsicht auf Erfahrungs-Wirklichkeit. Er hat für solches ‚nochmalige ­ achen‘ Instinkte und ausreichend komplexe, sich ergänzende Aneignungen zu mo­ M bilisieren, die man als exemplarisch lernfähige und testende Theorien und als modell­ hafte Aneignungen von ‚Welt‘ ansprechen darf. Solche Theorie ist immer auch eine theoretische Praktik. Diese Praktik muss als Methode der Erarbeitung von Kenntnis­ sen in einem projektorientierenden Studium angemessen eingerichtet werden. Gerade im Designstudium kann das gelingen, wenn man sich den Gedanken des enzyklopädi­ schen Erkenntnisprozesses verdeutlicht als einen im ‚Umraum‘ von Problemen rele­ vante Orientierungen versammelnden Erkenntnisprozess in Gestalt des forschenden Suchens – so zumindest legt es das altgriechische Wort in seiner Bedeutung nahe. Dies alles auch zum Zwecke kundiger utopischer Verschiebungen, testender Verzerrungen und zugleich der mit Mut gesuchten ‚Regressionen‘, durch welche Fortschritte auf über­ raschende Weise wieder möglich werden. Solche situativ vernetzende Designtheorie – die schon deshalb zentral ins Studium gehört, weil man sie individuell gar nicht entwickeln kann – bedarf einer wiederum the­ oretisch gestützten Orientierung darin, dass sie nicht Auflösungen feiern kann, sondern eine Erzählung vom Andauern der Probleme ist – ‚problema‘ altgriechisch verstanden als ‚Aufgabe‘. Und sie weiß auch, dass für solches nicht Funktionslösungen, sondern multiple Projekte und Prozesse anzustreben sind. In deren Praktiken sind die Theorien von Anfang eines Studiums an einzubetten. Das ist der didaktische Kern der Modellie­ rung von Studienprozessen in diesem vermeintlich so konkreten und immer wieder so anspruchsvollen und zuweilen schier unüberschaubar komplexen Feld. Deshalb fin­ den Maß und Gewicht des Theoretischen eine Orientierung in dem experimentierenden Probehandeln, in das Problemwahrnehmung und intuitives, kritisches Entwerfen ein­ gehen, jederzeit analysierbar und jederzeit untereinander verbunden. Theorie schärft die kritische Selbstwahrnehmung. Es ist also typisch für Designtheorie, dass sie keine Rezepturen ausbildet und dass ihre Theorie immer auf konkretisierbare Empirie aus­ gerichtet ist. Das unterscheidet Design von Künsten wie von Wissenschaften, die sich nicht per se untereinander verbinden müssen. Design tut das aber. Und in eben dieser ‚mannig­ faltigen‘, mannigfach ausgefalteten Verbindungsgestalt haben Design als entwerfen­ des Tun und kritisch sich selbst wahrnehmendes Probehandeln in Theorien und Den­ ken ihre Eigenheit. Das in Ausbildung umzusetzen, ist gewiss eine Kunst. Um auf die vorgegebene Frage nun im Sinne einer vorläufigen Antwort zurückzukommen: Dieje­ nige Theorie soll in Art und Maß im Studium eine Rolle spielen, die zur Artikulation der exemplarisch in Problemzäsuren gedachten Situationsverdeutlichungen verhilft, und zwar in allen Dimensionen, die auf die Sachen einwirken. Das setzt Theorie als An­ bindung an wiederum theoretisch durchsetzte Praktiken voraus. Es gibt für Designer, ja, es gibt auch im Design keine Möglichkeit und keine Berechtigung, auf Vorrat theoreti­ sche Kenntnisse anzuhäufen, um im gegebenen Fall diese dann ableitend anzuwenden. ­Design ist keine Domäne des vorbereitenden Ernstfalls, sondern eher ein permanen­ tes Improvisieren-Müssen auf höchstem Niveau in stetig überkomplexen und zugleich

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­fragilen U ­ mgebungen und Zusammenhängen. An die Stelle des Ernstfalls tritt die Irrea­ lisierung des Ernstes durch ein Probehandeln und Experiment, ein Exempel. Theorie ist deshalb immer ein Geschäft der Fiktionalisierungen. Vor langer Zeit schon hat der Ethnologe Claude Lévi-Strauss gezeigt, welche Ei­ genständigkeit und Originalität im Aspekte der ‚Bricolage‘, des situierenden und im­ provisierenden Bastelns liegt, das dem Bewusstsein dieser unvermeidlichen Fiktiona­ lisierungen entspringt.1 Man hat das oft verkürzt nur für praktische Problemlösungen in Anspruch genommen. Der Ethnologe meint das aber anders: Für ihn gibt es ganze Systeme der Mythologie, die so funktionieren. Durch Zusammenstellungen, Übertra­ gungen, Collagen, in Gestalt eines sichtlich seine Brüche und Herkunftselemente zei­ genden Hybrids, ja sogar, um das schlimmste Wort zu verwenden, in Gestalt von ‚Patch­ work‘ geht es nicht um Eigenerfindung von Theorien, sondern um ihre Praktikabilität im Dienste eines Überschießenden, eines Neuen, der Entdeckung eines vorher nicht Ge­ sehenen, und zwar nach stets sich wandelnden Kriterien und Aspekten. Eben deshalb ist Designtheorie nicht nur Methodologie oder Meta-Theorie des Entwerfens, sondern eine theoretisch inspirierte, theoretisch artikulierte und reflektierte Praktik. Oder auch Inbegriff des Kreativen als einem, wie Ernst Kris in einem Buch zu psychoanalytischen Erkundungen im Feld der Künste 1967 ausführte,2 bewussten Wiederholen unbewuss­ ter Handlungen. Oder auch als eine Eröffnung selbstbestimmter, also stets auch anar­ chischer Denkräume: Kritisches Räsonieren der zivilisierten und autonomen Weltbür­ ger treten an die Stelle verblendeter Experten. Dabei gilt die Maxime: Man löse Komplexität nicht auf, sondern steigere diese, wo immer es möglich ist. Versteht sich von alleine, dass dies aber geformt und organisiert sein will. Komplex ist nicht einfach, was man nicht durchschaut, sondern nur das, was wohlverstanden dargestellt werden kann, dem man aber übliche, schlichte Rezepturen nicht zumuten will. Wie viel Theorie ein Designstudium erfordert oder erlaubt, hat ent­ scheidend mit der Vision auf solches Weltbürgertum zu tun, welches einzuüben und zu befördern meiner Erfahrung nach immer die wichtigste und nobelste Aufgabe des De­ signstudiums gewesen ist.

Geschrieben 14. November 2013; eine gekürzte Fassung erschien unter dem Titel „Navigieren mit ein­ geschränkter Sicht“, in: form. Design Magazine, Ausgabe N° 252 (‚Designausbildung‘/‘Design Education‘), form Verlag, Frankfurt a. M., März/April 2014, S. 48–52.

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Vgl. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973. Vgl. Ernst Kris, Psychoanalytic Explorations in Art, New York 1967.

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POSTZIVILISATORISCHE UNBERECHENBAR­ KEITEN – ZUR LAGE DER BILDUNG UND ZU DEN KONSEQUENZEN FÜR DESIGNAUSBILDUNG Wenn in der Folge vorrangig Fragen des Wissens, der Aneignung von Kenntnissen, also epistemische Organisation der Informationsgesellschaft die Rede ist, dann meint das nicht das Design von Symbolnavigationen, sondern markiert für alles Designdenken und -handeln eine zentrale Aufgabe. Oder, altertümlich gesagt: ein Problem. Es ist dies ein dem Design eigentümliches und ureigenes Problem, weil Design die Sparte der auf Probehandeln angelegten Verknüpfungen schlechthin darstellt. Alle Fragen nach Bildung heute laufen in der technisierten ersten Welt auf einige wenige Tatbestände hinaus, die einfach und folgenreich zugleich sind, ohne dass man jedoch weiß, in welche Richtung die Folgen sich auswirken werden. Man ist also auf spe­ kulatives Denken angewiesen. Grundthese ist: Das Bildungsbürgertum hat ausgedient. Bildung ist auch in den Kreisen der bisher Gebildeten nur noch Halbbildung, besten­ falls. Ein Blick in die einschlägigen Zeitungen genügt: FAZ und Zeit und weitere, die Be­ richterstattungen in den geistigen Flaggschiffen der Republik, desgleichen im Radio­ bereich, selbst beim Deutschlandfunk, belegen, dass Sprache auch hier zunehmend schwerfällt. Parallel dazu eröffnet sich ein Universum unsortierter, global präsenter In­ formationen – immer: in der ersten Welt und unter Voraussetzungen der konstanten Verfügbarhaltung von Energien, Strom und weiteres. Die schiere Fülle übersteigt dabei jedes Maß. Und auch jede Form, in die etwas gefügt werden könnte. Da die Fülle der Informationen und damit des ‚im Prinzip‘ Wissbaren grenzenlos und unsortiert ist, ist, ­genau besehen, jede Information gar keine, sondern bleibt virtuell oder latent, bis sie zu einem Wissen umgebildet wird. Wer tut dies, vermag dies noch? Wozu? Wie?

Informationen sind nur noch virtuell auch solche, die etwas ­begreifbar machen Dafür Kriterien zu formulieren ist schwer, denn die Selektionen gehorchen nicht mehr dem so lange so gut etablierten, auch kulturbildenden Konsens des sozialen oder Wohl­ fahrtsstaates: Kanonbearbeitung innerhalb der Autorität der Schulbildung. An die Bas­ tionen dieser nur noch ihren Fiktionen haltlos erlegenen, der Modernisierung nicht mehr fähigen Sortierungen innerhalb der kanonischen Zitadellen eines verblichenen oder verkommenen Bildungsbürgertums branden die Sturmwogen des ­proletarisierten Halbwissens, das jeder weniger nutzt und bewältigt, als sich vielmehr ihm im Gestus hemmungsloser Bereitschaft zur Selbstproletarisierung hingibt. Die libidinöse Beset­ zung des eigenen Selbst zeugt weniger von einem neuen Narzissmus als vielmehr von

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der Bereitschaft zu einer Illusion, das eigene, unbedeutende Leben vorrangig unterm Verdacht eines Kollateralschadens der technischen und apparativen Erneuerungen zu sehen und es somit schlicht nur noch in Kauf zu nehmen. Die entfalteten Apparate der Eröffnung mehr denn einer Erschließung eines un­ ermesslichen Meeres an potenziellen, niemals aktuellen Informationen, belegen näm­ lich die Organisationsmacht der Datenpräsentationen, die aus sich heraus keine begrif­ fenen Formen darbieten, wie sie der gestufte Wissensbegriff der modernen Zivilisation nahelegt: angeeignetes, für Erfahrungen taugliches und handlungsspezifisch offenes Wissen werden zu können, das aus der Fülle der Informationen das Wissensnotwendige sortiert und synthetisiert. Das war im Übrigen auch der Anspruch der enzyklopädischen Modelle und Systeme, denen keine Informationsauffassung ferner liegt als die heutige Euphorie der ‚großen Datensammlungen‘ in der Phase einer techno-apparativen Welt­ konsumgesellschaft, die zur dominanten Kultur der ersten Welt geworden ist, ohne die Fortsetzung der Zivilisation zu sein, zu deren Substitution sie inzwischen, ganz im Ge­ genteil, geworden ist.

Gegen den Kanon weiß Design immer um Fragmentierungen und ­Begrenzungen Und was macht das Design damit, was sein Feld, was seine Theorien? Man mag sich, und es soll nicht auf Beruhigung hinwirken, sofort vergegenwärtigen, dass das Problem des Designs nie die technische Anwendung synthetisierten Wissens im Kanon oder Orga­ non einer Logik der Forschung und damit des gegliederten Erkenntnisfortschrittes der Wissenschaften war. Design hatte immer ein Bewusstsein davon, an bestimmten Gren­ zen sich zu bewegen, genauer: in einem Niemandsland oder in Grauzonen zwischen Ter­ ritorien. Auf der einen Seite befinden sich die Wissenschaften, das Wissbare, das in ge­ staltete Formen Umsetzbare. Auf der anderen die Lebenswelten mit ihren komplizierten Eigenheiten. Und dazwischen eine Domäne, in der Umsetzungen ohne indirekte und unbesehene, unbeabsichtigte, stets unvorhersehbare Folgen nicht gelingen konnten, in der jede Problemlösung immer auf eine Problemverschiebung hinauslief. Design war also immer schon die Sparte privilegierten Umgangs mit dem grundsätzlichen philo­ sophischen Problem, dass alles Wissen Nicht-Wissen erzeugt, alles Wissbare unscharf und nie abschließend zu definieren und jede Umsetzung mit zähen Eigenheiten zu rech­ nen hatte, der Resistenz der Stoffe, Materialien, unter anderem der Physik und der so­ zialen, technischen und weiterer Realitäten. Daraus folgt auch, dass die Praktiken wie die Theorien der designspezifischen Umsetzungen oder Lösungen ihrerseits immer un­ scharf, ungenau, abweichend, unvollkommen und irritierend sind und nicht nur so er­ scheinen.

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Situative Bewältigungen Nun wäre es aber ein falscher Schluss zu meinen, nur weil Design immer schon eine Praktik der situativen, momentanen und vorläufigen Bewältigung gewesen ist, dass sich dies auch unverändert erhält angesichts und gegenüber der Plebejisierung und Selbst­ proletarisierung der Informationsdurchflüsse im gegenwärtigen kommunikationstech­ nologischen Zuschnitt der kulturell verformten westlichen Zivilisation. Neue Dimensi­ onen würden wohl zu neuen Qualitäten führen. Zum Umgang mit der informationell verfügbaren, konstruierten, aber auch nicht geordneten Wirklichkeit der Informatio­ nen seien einige Überlegungen angestellt.

Das Reale und seine Transformation Der Poetologe, Lyriker, Schriftsteller, Kulturhistoriker und Autor in manch anderem Fe­ lix Philipp Ingold schreibt im März 2015 zur indifferenten, ‚polymorphen Heterogenität‘ der aktuell ‚im Prinzip‘ verfügbaren Informationsflüsse: „Heute, da ich mich via Inter­ net über alles (wirklich alles) informieren und auch desinformieren kann, brauche ich keine Künstler, keine Autoren (oder generell: keine Künste) mehr, die mir irgendetwas beibringen, berichten, bezeugen wollen – Kindheitsmissbrauch, Alzheimer des Vaters, Diktatur der Mutter, Leichen im Familienkeller, Zerstörung der Regenwälder, Krebsdra­ men, Verarmung, Spekulantentum, Ausbeutung von Sklavenarbeitern, geheimdienst­ liche Überwachung, Drogen- oder Frauen- oder Waffenhandel usw. Ich halte es, heute eben, für einen Missbrauch der Kunst, wenn sie dafür instrumentalisiert wird, Miss­ brauche zu rapportieren, […] Seh ich mir die Träger der grossen deutschen Literatur­ preise an […] dann muss ich sagen (dann sag ich mir): deren Stoffe und Probleme kann ich mir, stilistisch nicht weniger gekonnt, auch via Magazine, die Sonntagspresse oder beliebig viele Blogs vergegenwärtigen. So what. Endlich hat doch nun die Kunst, hat vorab die ­Literatur die Chance, sich im Entwerfen zu behaupten, statt weiterhin dem Täuschungs­geschäft des Realismus (überdies: eines falsch verstandenen Realismus) nachzugehn und zuzudienen. Aber nein, sie tut’s nicht, sie tut das Gegenteil […].“1 Alexander Kluge bemerkte vor wenigen Jahren im Rückblick auf die letzte Tagung der Gruppe 47 in der Pension Pulvermühle in Oberfranken, die 1967 stattfand und eine Auseinandersetzung zwischen den etablierten Autoren und Studierenden der Univer­ sität Erlangen erfuhr, die jenen vorwarfen, nur ‚Papiertiger‘ zu sein, dass sich damals zeigte, dass auch die avancierteste Literatur mit der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts nicht mehr umzugehen wisse. Und dies zu einer Zeit, eben 1967, in der es die giganti­ sche Daten-Durchfluss-Maschine der heutigen sogenannten Informationsgesellschaft noch nicht gab. Exakt das ist nun das Problem: Das geformte Wissen, zumal in Gestalt des unsortierten Meeres der virtuellen Informationen hat kein internes Merkmal im Umgang mit einer extern entfesselten Wirklichkeit aufzuweisen, die heute den Bestand

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der Zivilisation zur allseitig verletzlichen ohnmächtigen dünnen Hülle über der Gewalt der Barbarei entwertet hat. Das in der Zivilisation wirkende Bildungsideal des kritischen enzyklopädischen Wissens ist ohnmächtig geworden, seine Utopie obszön, sein An­ spruch gegenstandslos, seine Behauptung erledigt. Was war damit eigentlich gemeint?

Enzyklopädie: Umraumwissen Altgriechisch wurde die Form der Enzyklopädie als eine Sortierung der Episteme im ‚Umraum des Wissens‘ bestimmt. Erst dieser Umraum und nicht das von der lebens­ weltlichen und ethischen Einbettung getrennte abstrakte, als ‚Erkenntnisfortschritt‘ isolierte Wissen legitimiert dessen Anspruch. Das heißt, dass jede Orientierung über Er­ kenntnis, Wissen, Informationsverarbeitung nicht einen Kanon oder eine stabile Ord­ nung, auch nicht die der Wiederlegbarkeit im Sinne der Logik der Forschung wieder­ gibt, sondern von der Aneignung in diesem Umraum her erst die Berechtigung erhält. Sie diente immer einer möglichst plastischen Darstellung offener Probleme und nicht einer Sicherung von Universalien. Es gibt keine objektive Erkenntnis über die Diversi­ tät verschiedener Kontexte hinaus. Das ist auch die der französischen Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts zugrunde liegende Idee einer kommentierten Konzentration auf das für die Gesellschaft Wesentliche. Deshalb ist das Enzyklopädische gerade kein Lexikon­ wissen, sondern bestimmte sich durch den Einsatz der Art und Weise, wie das Wissen selektioniert wird. Wer tut dieses? Ein Rückblick hilft bei der Markierung der Probleme. In den 1930er-Jahren hat der futuristisch inspirierte Autor Herbert G. Wells eine Uto­ pie einer von oben geprüften, validierten und sortierten Ordnung des nützlichen Wis­ sens für alle formuliert, die den letzten Bezugspunkt des Bildungsromans und seiner Erneuerung auf der Ebene zeitgeschichtlich verändernder Techniken der Speicherung und Ausstreuung des Wissbaren entworfen, die von heute aus hoffnungslos gescheitert ist, keine soziale Realität mehr berührt, also umso interessanter ist für die Ermessung der Differenzen.

World Brain Der unter anderem mit seinem wissenschaftsutopisch eingefärbten Roman Zeitmaschine berühmt gewordene Schriftsteller H. G. Wells reiste in den 1930er-Jahren viel durch Europa. Zwei Jahre lang, 1936 und 1937 tat er dies, um in und mit zahlreichen Vor­ trägen auf eine Erneuerung des zivilisatorisch grundierten Wissens hinzuwirken. Ein Teil dieser Vorträge wurde 1938 von ihm unter dem Titel World Brain publiziert.2 Wells’ Auffassungen können beispielhaft für alle Bemühungen um universale, rationale, umfassende Wissens-Ordnungen stehen. Es ist kein Zufall, dass die fast

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zur gleichen Zeit entworfene Memex-Maschine von Vannevar Bush nach dem glei­ chen Prinzip einer „continual correspondence“ funktioniert wie der Vorschlag Wells’. Wells’ Konzept lautet, populär zugespitzt, etwa so: Wer gut handeln will, muss gebil­ det sein. Informiertheit ist die Grundlage der Erziehung. Je mehr man weiß, umso bes­ ser gefeit ist man gegen die Versuchung zum Bösen. Gewalt und Terror sind Mächte des Unwissens, der Unaufgeklärtheit. Je reicher die Persönlichkeit ist, je stärker fun­ diert in der zivilisierenden und bändigenden Ethik der kenntnisreich angeleiteten Selbstbildung, umso mehr befähige sie zum Frieden. Wissen, Kenntnis und Information beruhen allerdings nicht auf direkter Erfah­ rung, sondern auf der Nutzung kultureller Archive. Je besser diese aufbereitet seien, je offener nutzbar für alle, umso größer die Chance der Stabilität in der Welt. Jede neue Technologie, welche die Kontinuität der Archive festigt und ihre Nutzung öff­ net, wirke an den Bedingungen einer friedlichen Welt, an der Stärkung der Basis des Handelns und der Moral, nämlich von Information und Wissen, mit. Deshalb begrüßt Wells die damals kräftig geförderten neuen Technologien der Mikro-Verfilmung von Buch-­Inkunabeln und dergleichen mehr. Die Synthese von technischer Distribution und geistiger Koordination der Erzieher ist für Wells das entscheidende Kennzeichen des neu möglichen ‚World Brain‘. Noch bezeichnender aber ist, dass Wells nicht nur ganz auf das Ideal der Enzyklopädie setzt, sondern deren perfekte Realisierung erst­ mals als durch die neuen Technologien des Austausches und der Beteiligung aller we­ sentlichen geistigen Kräfte im planetarischen Maßstab für gegeben, also für möglich und für notwendig, hält. Man denkt bei der Lektüre vor allem an die beiden langen, propagandisti­ schen Vorträge World Encyclopedia (1936) und The Brain Organization of the World (1937), schon nach wenigen Seiten an Ausdrücke wie ‚Navigation‘, ‚Netzwerk‘, ‚tele­ matische Kommunikation‘ etc. Und tatsächlich finden sich einige dieser Ausdrücke schon bei Wells. Diese Tatsache dient als Indiz für den angestrebten Nachweis ei­ ner projektiven In­strumentalisierung der neuen Technologien für die enorm druck­ vollen und verführerischen kulturellen Ideale, die sich, was nicht allzu sehr erstau­ nen sollte, als langlebiger herausstellen als die Einbrüche je aktualer technologischer Epochenschwellen – insbesondere im Bereich der Organisation und Nutzung von Wis­ sen. Diese Langlebigkeit bedeutet ja nichts anderes als Substanzerhaltung durch vari­ able Anpassung an graduell sich verschiebende Kontexte oder Anschlüsse. Natürlich kann sich ein solcher Anlehnungskontext mit der Zeit als determinierend erweisen und führt dann zu einem Abbruch der Kontinuität des bisherigen Ideals. Aber bis zu diesem Punkt eines vorerst irreversiblen Umschlags in eine neue Qualität ist die Substanz des kulturellen Ideals so groß, dass es, geschult in harten Kämpfen und An­ fechtungen, sich gegenüber Provokationen als assimilationsfähig erweist, indem es diese zu adaptieren oder gar zu annektieren sucht. Wells’ Plädoyers setzen – ohne dass dies, systemkonstituierender blinder Fleck, explizit würde noch werden müsste – ganz auf die A ­ nnektierungskraft des Ideals. Gesellschaft ist ihm überhaupt eine ­Erziehungsmaschine

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Bildungspriesterschaft und das Problem der Ausbildung heute Die von Wells angestrebte Enzyklopädie ist selektiv. Die Selektion wird von oben nach unten organisiert. An der Spitze steht die durch Intelligenz und Wissen berufene Geist­ aristokratie, eine Art Clearingstelle der Bewussten, welche für den Rest der Gesellschaft die Daten und Darstellungen auswählen. Es handelt sich also um eine oligarchische oder autoritäre Selbstkonstitution der Philosophen in alter platonischer Auffassung, dass die geistig Berufenen auch die geistvoll Befähigten sind. Die Geschichte der Umset­ zung solcher Konzepte allerdings fällt mit der Geschichte der europäischen Totalitaris­ men und sich auf normative, gar absolute Wahrheit berufenden Diktaturen zusammen. Gut gemeint, und doch fatal, werden die Daten und Zusammenhänge bei Wells auf dem höchsten Niveau kritischer Sichtung, Aneignung, Vereinfachung und pragma­ tischer Praktikabilität vereinheitlicht, und zwar nach Maßgabe der intellektuellen Elite, der zum ‚World Brain‘ legitimierten Führer-Kaste. Diese Ordnung muss vollständig sein, alles enthalten, nichts auslassen, darf keine Lücken haben. Das erzwingt die Setzung ei­ ner oligarchischen Autokratie der Besten oben, an deren universal gesetzter Rationali­ tät alles Weitere hängt. Die Ordnung des Wissenswerten wird durch Rekrutierung einer Bildungspriesterkaste regelmäßig aktualisiert. Das ist rationale Führerschaft wie seit je, Diktatur des Guten von oben. Wells hält am Universalcharakter der Aufklärung gegen die Parzellierung der Ein­ heiten fest. Er sieht als Überwachung der Enzyklopädie ein ‚clearing house‘ vor, das im heutigen digitalen Zeitalter vielleicht nichts anderes ist als das Netz, d. h. als mit den Da­ tenströmen zusammenfallend gedacht werden muss.

Das Netz dient nicht der kritischen Wissenschaft – Zwischen­bemerkung In der Zeitschrift form findet sich – in der Nr. 158 (2/1997) – eine interessante Notiz. Unter dem Titel „Forschung erstickt im Internet“ wird von einer Studie der MIT-Forscher Mar­ shall Van Alstyne und Erik Brynolfsson berichtet, die belegt, dass die weltweite Vernet­ zung in der ‚scientific community‘ nicht zu einer Verbesserung der Einsichten oder der Koordination unter Forschern führt, sondern ganz im Gegenteil zu einer fatalen Zerstü­ ckelung der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Da täglich – wir schreiben das Jahr 1997 – über 200 000 neue Seiten im Internet publiziert würden, reduzierten die Forscher das Pro­ blem der Datenflut durch immer enger definierte Suchprogramme. Die vorgegebenen Stichworte schränken die Forschungen rigide auf den jeweils ganz eng gefassten eigenen Bereich in einem Ausmaß ein, das vordem unbekannt war. Wichtige Entdeckungen ent­ stehen nicht mehr in Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen. Zwar funktioniert die weltweite Kommunikation gut und natürlich unvergleichlich schneller als je – aber eben ausschließlich unter den Angehörigen engst definierter gemeinsamer Themen und Interessen. Das Überangebot wird wegselektioniert durch Konzentration aufs Singuläre,

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eine die Disziplinen übergreifende Synthese immer unfassbarer. Die Vision der weltweit unmittelbaren, ohne Zeitaufschub möglichen und grenzüberschreitenden Rezeption und Diskussion aller Ressourcen hat sich bereits heute in eine drastische Begrenzung verkehrt. Die Preisgabe eines an Zusammenhängen orientierten Wissens in den Wissen­ schaften geht symmetrisch einher mit der euphorischen und propagandistischen Rheto­ rik, dass zwar nicht für Wissenschaftler, also für jedermann, also für das zeitgenössische Bildungsproletariat, zu dem, bis hinauf zu den Universitätsprofessoren heute schlicht alle zählen, prinzipiell alles zugänglich sein könnte. Ohne Selektion und Zusammen­ hang, transversal und horizontal, fluktuierend, weich, diffus, beweglich, orientierungs­ los und mit unabsehbaren Konsequenzen. Was bedeutet dies für Designausbildung?

Radikales Umdenken, radikaler Umbau von Bildung – Gebot und Folgerungen Design organisiert Aneignung von Wissensnotwendigem wie Wissbarem in Projekten. Anders geht es nicht. Es formuliert sich von Situation zu Situation eine andere Lage. De­ signausbildung muss deshalb, von der ersten Stunde an, immer schon in Forschungsge­ meinschaften organisiert sein – nicht im Sinne der Wissenschaften, sondern im Sinne der Problemerfassung. Da alles Design wiederholend, ein Nochmal-Machen ist – mit ­Michael Erlhoff: „Alles Design ist Re-Design“ –, kann die Problemstellung nie isoliert werden. Deren Wahrnehmung und Artikulation bewegt sich also in einem Feld perma­ nenten Recherchens bezüglich der sich entwickelnden Problemaneignungen. Die Wells’sche Option ist nicht mehr unsere, der Kanon ist es ebenso wenig wie der automatische Fortschritt der Wissenschaften als Inkorporationen des besseren ra­ tionalen Arguments im Kontext einer Konsenstheorie der Wahrheit ‚in the long run‘, wie Jürgen Habermas sich dies vorgestellt hat. Dagegen kann Bildung nur noch im Fil­ ter oder Prisma zerbrochener Geflechte und Funktionen gedacht werden, die man um­ standslos und ungeschönt anerkennen muss. Aus dem Analysierten ergeben sich eigentlich ziemlich schnell ungeschönte und un­ geliebte, dennoch unvermeidliche und als positive Aufgaben zu verstehende Einsichten: • Wissenswertes drastisch reduziert • auf jeglichen Kanon verzichtet • das Versprechen des Kommunikationsgesellschaft ­ver­mittelten Wissens als Betrug und Täuschung • die bildungsbürgerlichen Erkenntnisansprüche als ­ideologische Fiktionen durchschaut • das Wissen auf exemplarisch orientierendes Wissen ­eingeschränkt, also schiere Setzung von Brauchbarem ­akzeptiert und emphatisch begrüßt werden

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Das wiederum setzt ein restloses Bekenntnis zum Zufälligen und Situativen voraus und zugleich in Kraft. Ja mehr noch, wie bekannt aus ganz anderen Zusammenhängen,3 ein Bekenntnis zum Unreinen, zum Stottern, zur Fehllektüre. Das mündet nicht nur in Her­ metik, sondern erst recht in ein Plädoyer eines eigentlichen ‚Fehldenkens‘. Die Durch­ kreuzung falscher Autoritäten, an die noch ein Wells ebenso bedingungslos wie selbst­ verblendet glaubte, ist zentral geworden. Die Subversion des Wissens vollzieht sich derzeit noch in ganz anderem Sinne als von Michel Foucault gedacht, dessen Theorie ja nicht nur kritischer Diskurs ist, sondern auch Ausdruck hegemonial synthetisieren­ den Meisterdenkens und als solcher dekonstruiert werden muss. Schlägt Zivilisation wie heute allenthalben – heuchlerisch, verlogen, aporetisch – in Barbarei um, so ist die Dekomponierung der Wissensordnungen und die Zersetzung der Autoritäten oberstes Gebot. Man muss dafür einiges in Kauf nehmen, vor allem Verluste. Das verändert auch den Unterricht in allen Belangen, und zwar radikal: Entwicklungen von gemeinsamen Bezügen in suchenden, versuchenden Gruppen in exemplarischem, solidarischem Ler­ nen vom ersten Tag eines Studiums an ist nun das Gebot, mag auch für viele der Verzicht auf jede Art von Kanonik in allen Bereichen schmerzhaft sein. Und dies nicht nur, weil professorale Machtfelder schwinden. Denn verlustreich ist das allemal. Zersplittert, zerstreut, transitorisch, ephemer, so erscheint die Situation des Le­ bens im aktuellen Zusammenhang. Von einer anderen Seite her würde man solches Wissen für überaus verwundbar halten. Jedenfalls ist es vorläufig. Und problembewusst. Und damit fähig, die Dinge nicht in schroffen Entgegensetzungen zu betrachten, sie nicht in Aporien hinein zu zwingen, sondern in einer Schwebe zu belassen, in welcher mögliche Verbindungen immer lokal gebildet und fein verknotet werden. Zusammen­ hang ist auch nur eine Ideologie.

Geschrieben 19. und 20. April 2015; eine gekürzte Fassung erschien unter dem Titel „Neue Wissensordnungen“/„Avenues Towards a World Brain“, in: form. Design Magazine N° 260 (‚Design and Ethics‘), Frankfurt a. M., Juli/August 2015, S. 42–46. Eine bearbeitete und veränderte Fassung erschien außerdem als N° 3 der Kolumne von Hans Ulrich Reck „Dissonante Perspektiven“ zur Aussicht der Künste heute, in: Kunstforum International, Bd. 250, Köln, Oktober-November 2017, S. 38–41 unter dem Titel „Bildung zersplittert“. Siehe dazu die nicht in diesem Essay enthaltenen Auszüge aus diesem Text weiter unten unter dem Titel „Bildung zersplittert“.

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Brief von Felix Philipp Ingold an Hans Ulrich Reck, März 2015. Vgl. Herbert G. Wells, World Brain, Books for Libraries Press: Freeport, NY, reprint 1971. Vgl. hierzu die Einlassungen von Felix Philipp Ingold zu einer poetologischen Lesart der Bratzlawer ­Kabbala des Rabbi Nachman von Bratzlaw, in: volletxt 1/2015, Wien 2015, S. 22 ff.

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EUPHORIE UND ELEND: EIN PROJEKT (gemeinsam mit Martin Heller)

Ständig dieselbe Frage: Wie lässt sich das scheinbar Selbstverständliche begreifen, ohne ihm aufzusitzen? Hinter ‚Euphorie und Elend‘ stehen zehn Jahre Praxis der Zür­ cher Weiterbildungsklasse Visuelle Gestaltung. Das wäre üblicherweise Grund für eine satte Jubelfeier. Nur reibt sich diese Praxis je länger je mehr an der Ästhetik eines Alltags, der dem gestalterischen Höhenflug so etwas wie die irritierend komplexe Banalität des Wirklichen entgegenhält. Der traditionelle, behäbige Glaube an den Vorsprung, den die Gestalterinnen vor den Untugenden der sogenannten Massenkultur hätten: Er ist ver­ flogen. Kommunikation, ob visuell oder verbal, bezeichnet die Kanalarbeit von Zwangs­ gemeinschaften. Zumal der tradierte gestalterische Autonomieanspruch allem und überall in die Quere kommt. Ein aktuelles Berufsbild ist so leicht nicht mehr zu haben. Höchstens zu entwickeln: in einem Prozess ständigen Fragens und Rückfragens, der das gesamte Ter­ ritorium gestalterischer Rhetorik auf seine Regel-Systeme hin abtastet. Dieser Katalog und die Wanderausstellung, die er begleitet, sind das Ergebnis ei­ nes solchen Prozesses. Sie wollen und sollen, nach innen wie nach außen, Ausrichtung und Selbstverständnis der WVG konturieren. Schließlich hat deren Ausbildungsgang er­ klärtermaßen anderes im Sinn und im Auge als herkömmliche Grafik. Auftrag und Rah­ men des Museums sowie die Modalitäten des laufenden Diplomjahres bestimmten die Disposition des Projekts – als Beitrag zu einem Programm, das neuralgische Tendenzen gegenwärtiger Kulturentwicklung untersucht. Zwei Momente vor allem waren leitend: die Forderung, intensive Teamarbeit zu er­ zwingen, sowie eine exemplarisch eindringliche Verklammerung von theoretischer Re­ flexion, Recherche und gestalterischer Arbeit. Beides macht Mühe und kommt darum im schulischen Normalfall zu kurz. Darüber hinaus formulierte die Kerngruppe der be­ teiligten Dozenten – André Vladimir Heiz, Martin Heller, Hans Ulrich Reck, Aldo Wal­ ker – einen weiten Untersuchungsrahmen. Ihr Versuch, generelle Problemerfahrungen visueller Kultur zu bestimmen, gliederte eine Reihe von reich konkretisierten Unter­ suchungsfeldern aus. Als besonders relevant erwiesen sich Thesen zum Verhältnis von Elite- und Massen­ kultur, zur Funktion von tatsächlicher oder vermeintlicher Innovation, zur Schmerz­ grenze der Fremd- wie der Selbstbestimmung sowie zur Herstellbarkeit von Bildwirkun­ gen. Eine erste Semesterarbeit bot erschöpfenden Raum für eigene Forschung. Als Ziel lockte ästhetischer Erkenntnisgewinn entlang der weitläufigen Sichtung und Prüfung disparatesten Materials. Aus diesem Zuwachs wiederum waren im zweiten Teil des Di­ ploms ein je eigenständiger und mediengerechter Katalog- und Ausstellungsbeitrag zu entwickeln.

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Um in intensivem Dialog zwischen unterschiedlichen Sehfähigkeiten auch dem nachspüren zu können, was ein vorschnell dogmatischer Common Sense üblicher­ weise verschüttet, wurden die fünf Studentinnen der Abschlussklasse im Theoriesemes­ ter von Tutorinnen begleitet; deren Ermutigung und Kritik gewährleisteten Hilfe und waren Stachel zugleich. Die Resultate dieses oft schwierigen, oft turbulenten, aber im­ mer förderlichen Jahres lassen sich im Folgenden überprüfen. Sie stehen in einem Kon­ text, der über Schnitte und Sondierbohrungen, im historischen Rückblick wie in der Momentaufnahme die Mentalität und das Klima der WVG spüren lässt. Als Beispiel für hoffnungsvoll avancierte Gestaltung – was auch immer das heißen mag. Denn eine an­ gemessene Definition dessen, was erreicht werden soll, fällt schwer. Wo die kanonischen Gewissheiten zerfallen und gerade der rechte Weg zum Tram­ pelpfad wird, bleibt nur wenig oder dann unendlich viel Spielraum. Dieser Falle haben sich Beruf und Ausbildung zu stellen. Mit einem Konzept beispielsweise, das die Kom­ munikation zwischen Studentinnen und Dozentinnen, zwischen Idee und Kommen­ tar, zwischen institutionellen und ungebundenen Gestaltungskräften grundlegend ver­ ändert. Damit sich die hinterhältig raffinierten Wendungen der visuellen Kultur selbst, die auf mitunter atemberaubende Weise drastische Formalisierung mit theologischer Spitzfindigkeit vereinigt, weiter analysieren lassen, über ein Instrumentarium der end­ zeitlich, gar heilsgeschichtlich beanspruchten Auflösung sämtlicher Missstände verfügt ohnehin niemand mehr. Gerade darum gilt es, das Prinzip bildverhafteter Untersuchun­ gen weiterzutreiben. Um daraus Mittel zu gewinnen, die immer stoßendere Ungleich­ zeitigkeit zwischen dem Horizont der Institutionen und dem der sogenannt wirklichen ­Realitäten produktiv zu bearbeiten. Bilder wachsen. Bilder reifen. Bilder sind überreif. Dann werden sie fröhlich ge­ erntet. Aus prallem Stand in die Bäder und in die Maschinen und auf den Tisch und an die Wand. So geht das. So stellt man sich das gerne vor. Schön wär’s. Stattdessen müh­ same Arbeit für Vollwertbrot. Vor anderem Ort. An anderer Metapher. Augenmarter. Schweißfäuste. Krampf & Kampf. Mit dem Auftrag. Mit der Geschichte. Mit dem Kopier­ apparat. Und den Terminen. Und den Ideen beziehungsweise mit dem, was davon üb­ rig bleibt. Wenn die Bilder ausschlüpfen. Oder sich vordrängeln. Ihre Sache an die Hand nehmen. Um selbst zu ernten. Was halt so anfällt. Bei uns. Beim Publikum. In der Welt. Von schütterem Baum. Auf magerem Boden. So ist das also. Auch in der Weiterbildungs­ klasse Visuelle Gestaltung. Dort erst recht. Erst zur Probe und später im Ernst. Seit fast zehn Jahren. Form um Inhalt, Bild um Bild. Zur Drogensituation und Kulturarbeit im Kreis 5: Seit der Schließung des Platz­ spitzes besetzt eine offene Drogenszene den Kreis 5. Die Situation dieses Quartiers ver­ schlechtert sich zusehends. Schule und Museum für Gestaltung Zürich sehen sich ver­ anlasst, darauf zu reagieren: mit Widerstand, aber auch mit der kurzfristigen Verlegung einzelner Angebote und Abendveranstaltungen. Beides kann nicht von Dauer sein. Ziel bleibt die Wiederherstellung von Verhältnissen, die auch in diesem Teil der Stadt eine uneingeschränkt offene Kulturarbeit ermöglichen.

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Als Einleitung geschrieben, dann endredigiert gemeinsam mit Martin Heller am 2. Juni 1992. „Euphorie und Elend. Berufsfeld Visuelle Gestaltung“ war ein vom Museum für Gestaltung Zürich in Kooperation mit der Höheren Schulen für Gestaltung (Weiterbildung Visuelle Gestaltung) Zürich beauftragtes Vorhaben für Konzeption, Recherchen, Betreuung von Diplomarbeiten, Ausrichtung/Produktion von Ausstellung und Katalog für das Museum für Gestaltung/WVG HöSfG vom April 1991 bis Juli 1992. Zur Aufgabenstellung gehörte die ­Realisierung eines je individuellen Ausstellungs- und Katalogbeitrags seitens der Diplomandinnen und Diplomanden, denen jeweils eine Betreuung zur Seite gestellt wurde, zu deren Aufgaben die Verfassung eines ­Katalogtextes zur jeweiligen Diplomarbeit gehörte. Die Publikation unter dem Titel Euphorie und Elend. ­Visuelle Gestaltung erschien 1992 und wurde von Martin Heller und Hans Ulrich Reck herausgegeben. Zu den Beiträgen des letzteren zur Publikation gehörten: „Durch Ästhetisierung ausgeschaltete Welt“; „Nach­ betrachtung zur Lektüre von Bildpublizistiken“; „Euphorie und Elend. Ein Gespräch zwischen Hans Ulrich Reck und Martin Heller“. Die hier vorgelegte Version der Einleitung ist die ungekürzte ursprüngliche, so nicht gedruckte Fassung mit den beiden abschließenden Abschnitten.

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EINLEITUNG/VORWORT ZUM KATALOG EUPHORIE UND ELEND Die Vorarbeiten zum, informell früh schon so benannten, Projekt Euphorie und Elend, begannen Ende 1990, seine Wurzeln reichen weiter zurück und beziehen sich auf die 10-jährige Gesamtentwicklung der ‚Weiterbildungsklasse Visuelle Gestaltung‘. Un­ tersuchungen zum ‚Berufsbild Visuelle Gestaltung‘ sollten notorische Schwächen im gestalterischen Selbstverständnis zwischen Schule und Praxis klären. Der Leiter der Weiterbildung Visuelle Gestaltung (WVG) der Höheren Schule für Gestaltung Zürich (HöSfG), Aldo Walker, erwähnte in seinem Memorandum vom 2. Januar 1991 zwei der dringlichsten Punkte: Es werde weder gegen Innen noch gegen Außen sichtbar, dass die programmatische Ausrichtung der WVG anderes im Blick hat als die herkömmli­ che Grafik. Und: Den Absolventen der WVG mangele es an der Fähigkeit zur Teamar­ beit. Beide Aussagen bildeten eine Orientierung für Arbeitsziel und -formen. Im März 1991 begann die Redaktionsgruppe – Aldo Walker, Hans Ulrich Reck, Martin Heller – mit der Arbeit. Zwar stand fest, eine Ausstellung und einen Katalog durchaus auch im Sinne ei­ ner Öffentlichkeitsarbeit für ein nicht griffiges Berufsbild zu realisieren. Was zu unter­ suchen sei, ergab sich aber erst aus den Eintretensvoten: eine Darstellung der gesamten Rhetorik des Feldes, der Regeln und Konventionen, der Konflikte zwischen formalisier­ tem Habitus und dem Anspruch an Autonomie. Und dies in enger Zusammenarbeit mit Studenten, d. h. einer Generation von Prä­ gungen und Seh-Fähigkeiten, die ganz anders geprägt sind als die der Dozenten. Eine Doppelung wurde eingerichtet: Der Auftrag erging vom Museum an die Klasse, nach­ dem deren Leitung den Beizug unabhängiger externer Kräfte mit entsprechender Erfah­ rung angeregt hatte. Keine bloße Ausstellung der Abschlussarbeiten also, sondern Ge­ staltung von Ausstellung und Katalog, Plakat und Einladungskarte als gewissermaßen professionelle Dienstleistung im Auftrag einer kulturellen Institution, die im Übrigen solche Ausstellungen nicht als Durchlaufpflichten schulischen Vorzeigebedarfs bloß zulässt, sondern in das eigene Programm der Untersuchung neuralgischer Tendenzen gegenwärtiger Kulturentwicklung eingliedert, wohlgemerkt unter den gewöhnlichen Ansprüchen ohne pädagogischen Schon-Vorschuss. Aus den Diskussionen im engen Kreis der Redaktion wurde eine umfassende Grundlage formuliert, die der eigenen Orientierung diente. Thesen zur Ausrichtung der Ausstellung, Versuche einer generellen Bestimmung gestalterischer Gegenwartsanlie­ gen und schließlich eine Gliederung der Problemerfahrungen visueller Kultur liefer­ ten die aus den kritischen Grundlagen gefolgerten Schlüsselkategorien, ging es doch in erster Linie um die Befragung von Innovationsmöglichkeiten. Die Untersuchungsfelder trugen die Überschriften:

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Elite und Massenkultur, Darstellung und Neigung (Mimikry und Empathie), Querschläger, Attraktivität, Innovationsverschleiß, Kreativitätsbehauptung, Einschaltquoten, Subjektivismus und Selbstbehauptung, Eigenlähmung, Schmerzgrenzen, Realismusansprüche und Realitätsbehauptungen, Anmutungsüberwältigungen.

Zum Beginn der Recherchen, im September 1991, wurden aus diesen reich konkretisier­ ten Feldern nicht Aufgaben gestellt, sondern Brennpunkt-Phänomene in Bild-Kommen­ taren herausgearbeitet, die als eine Art szenisches Bildpanorama dargebracht wurden. Wesentliches Ziel der Semesterarbeit in der ersten Hälfte des Diplomjahres war eine äs­ thetische Erkenntnisgewinnung als Grundlage für die gestalterische Umsetzung und Realisierung von Katalog und Ausstellung im Sommersemester 1992 als eigentlicher Di­ plomarbeit. Die szenisch vergegenwärtigten Brennpunkte leiteten die Wahl eines The­ mas durch die Studentinnen und Studenten an. Um in intensivem Dialog dem nach­ zuspüren, was gestalterische Dogmenüberzeugung und der entsprechende Common Sense über Berufsbild und Ausbildungsroutine noch nicht entdeckt haben, um also der Hoffnung auf außergewöhnliche Erfahrungen gerecht zu werden, wurde der Erarbei­ tungsprozess entsprechend eingerichtet. Zusammen mit einem Tutor/persönlichen Be­ gleiter (es waren dies für Ursula Deiss: Aldo Walker, für Andrea Fischer: André Vladimir Heiz, für Roland Hersche: Birgit Kempker, für Jürg Huber: Hans Ulrich Reck, für Tho­ mas Wolfram: Jörg Huber) wurden das Arbeitsfeld problematisiert, Methoden und The­ sen überprüft, neue Aspekte des freien Befragens entwickelt. Dass diese erste programmatische Ausstellung zum Berufsbild Visuelle Gestal­ tung, zum ästhetischen und sozialen Kontext, aus der Sicht einer WVG auch für deren nunmehr 10-jährige Geschichte ein Novum ist, hat mit den Schwierigkeiten einer an­ gemessenen Definition avancierter Gestaltung zu tun. Dass sie im Auftrag des Muse­ ums für Gestaltung hat realisiert werden können, belegt, wie vordringlich solche Be­ fragungen unterhalb der Routinierung gestalterischer Formalismen sind. Schnell war absehbar, dass mit der traditionellen und behäbigen Auffassung vom Vorsprung des ­Gestalters vor den Untugenden der sogenannten Massenkultur heute keine Analyse der visuellen Wirklichkeit zu leisten, keine kooperative Kommunikation mit durch Massen­ medien ganz anderen Ausmaßes geprägten Studenten einzurichten ist. Um die aber war es wesentlich zu tun. Bleibt die Hoffnung, dass die Elendslastigkeit der Euphorie-Unter­ suchungen den Weg des Beginnens zeigt. Also: keine Jubiläums-Ausstellung, erst recht keine Propaganda für ein gefestigtes Selbstverständnis, das so leicht nicht zu haben ist.

EINLEITUNG/VORWORT ZUM KATALOG EUPHORIE UND ELEND 031

Sondern ein avanciertes Konzept, das die Kommunikation zwischen Studenten und Do­ zenten, Ideenträgern und Kommentatoren, institutionellen und außerinstitutionellen Gestaltungskräften verändert. An die Stelle der kanonischen Gewissheiten tritt, was ein­ zig den Anspruch einer avancierten Ausbildung begründen kann: dass die Lehre selber als Lernen und nicht als Vermittlung gestalterisch zum Tragen kommt. Bleiben die intrikaten und hinterhältigen Wendungen der visuellen Kultur selbst, die auf teilweise atemberaubende Weise drastische Formalisierungen mit theologi­ scher Spitzfindigkeit für raffiniert ausgereizte Banalitäten verbindet. Hier gilt es weiter zu analysieren. Über ein Vokabular der wie immer endzeitlich, gar heilsgeschichtlich beanspruchten Auflösung der Missstände verfügt heute ohnehin keiner mehr. Um die­ sen Preis der Redlichkeit gilt es, das Prinzip bildhafter Untersuchungen in Permanenz zu verfolgen, um daraus Mittel zu gewinnen, die immer drastischere Ungleichzeitigkeit zwischen dem Horizont der Institutionen und dem der sogenannten wirklichen Realitä­ ten produktiv zu bearbeiten.

Geschrieben am 14. Mai 1992 als erste Fassung einer Einleitung, eines Vorwortes zum Katalog Euphorie und Elend. Berufsfeld Visuelle Gestaltung, einem vom Museum für Gestaltung Zürich in Kooperation mit der Höheren Schulen für Gestaltung (Weiterbildung Visuelle Gestaltung) Zürich beauftragten Vorhaben für ­Konzeption, Recherchen, Betreuung von Diplomarbeiten, Konzeption von Ausstellung und Katalog für das Museum für Gestaltung/WVG HöSfG vom April 1991 bis Juli 1992.

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ZUR AKTUALITÄT DER AUSBILDUNG VON ­GESTALTERINNEN Hans Ulrich Reck, Professor an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und ­Dozent an den Höheren Schulen für Gestaltung Basel und Zürich sprach an der SWB-Ta­ gung in Baden am Beispiel des Projekts für eine Schule für Gestaltung im Kanton Aargau zur Aktualität der Ausbildung von Gestalterinnen. Im Folgenden zitieren wir aus dem Tonbandprotokoll dieses Statements. „Über welche Ressourcen verfügen unsere Schulen für Gestaltung? Was für eine Ökonomie haben sie? Wie steht es um ihr Innovationspotenzial? Wie definieren sie sich im Kontext der Gesellschaft und der Kultur? Diese grundsätzlichen Fragestel­ lungen gilt es, im Auge zu behalten, wenn wir über die Reform unserer Gestalterschu­ len nachdenken. Beim Projekt für eine neue Gestalterschule im Kanton Aargau geht es nicht darum, den bestehenden Schulen insofern Konkurrenz zu machen, als hier nun die wirklich guten Künstler, Architekten, Designer etc. unterrichten sollten. Viel­ mehr geht es den Projektverfassern um eine Schule mit möglichst entwicklungsfähi­ gen Strukturen.

Institut für Kultur- und Gestaltungsforschung Solche Strukturen zu schaffen, ist denn auch die erste Aufgabe des vorgeschlagenen In­ stituts für Kultur- und Gestaltungsforschung. Den bestehenden Schulen fällt es aus in­ stitutionssoziologischen Gründen schwer, ihre Grundlagen zu überdenken und neue Elemente einzuführen. Die Lehrkörper neigen einfach dazu, das Bestehende zu bestäti­ gen. Deshalb sollten die an dem vorgeschlagenen Institut tätigen Leute auch keine fest angestellten Beamten sein, sondern, wie etwa beim Theater, im Sinne einer Intendanz beschäftigt werden. Die neue Schule für Gestaltung Aargau soll drei Bereiche umfassen: Kunst- und Medienpädagogik, Kommunikations- und Umweltdesign sowie Freie Kunst.

Kunst- und Medienpädagogik Das Konzept der Kunst- und Medienpädagogik geht davon aus, dass die Kunstpraxis von der Kunstvermittlung in der Praxis der Schule selber getrennt werden muss, dass aber Kunst- und Medienpädagogik einen immer größeren Stellenwert bekommen soll und bekommen wird.

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Man muss sich dies zum Beispiel so vorstellen: Die Studentinnen, die in diese Schule eintreten, sind von Anfang an mit Projektzusammenhängen, mit Arbeitsformen konfrontiert, die nicht linear auf Curricula aufbauen und die nicht in geschlossenen Klassenzügen durchgeführt werden. Vielmehr wird es eine Reihe von Laboratorien und Werkstätten geben und zudem Studien- und Forschungsbereiche, in denen die Studen­ tinnen mit einer großen Selbstverantwortung selber den Weg wählen müssen, den sie sich vorstellen. und gehen wollen.

Kommunikations- und Umweltdesign Der Bereich Kommunikations- und Umweltdesign wiederum unterscheidet nicht nach Sparten, wie beispielsweise ein-, zwei- oder dreidimensionales Gestalten oder wie Gra­ fik, Produktedesign, Bauliches Gestalten etc. – all dies wäre vielmehr dem neuen Bereich zugeordnet.

Intermediale Kunst Anstelle von Freier Kunst würde ich lieber von intermedialer Kunst sprechen, denn es kann nicht darum gehen, eine traditionelle Ausbildung anzubieten. Eines der großen Themen, in denen sich unsere Kultur definiert hat, ist die überperfektionierte Verwen­ dung des visuellen Sinns; in dieser intermedialen Ausbildung soll deshalb dem Auditi­ ven ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Zwar soll es keine Musikausbildung ge­ ben, aber es sollen Felder existieren, in denen über das Hören nachgedacht wird, über Ton in Verbindung mit dem, was sonst an Kunstformen da ist, wie beispielsweise das szenische Gestalten.“

Auswahl und Bearbeitung der Zitate: Leonhard Fünfschilling. Gedruckt in SWB-Information. Mitteilungen des Schweizerischen Werkbundes SWB, N° 16, Zürich 10. Dezember 1983, S. 3.

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BILDUNG, ZERSPLITTERT Bildung, so legen es die Gebräuche und Einstellungen derjenigen nahe, die man als ge­ bildet ansieht, und auch die Universitäten, die über lange Zeit darauf einen besonde­ ren Anspruch entfaltet haben, ist anderes als das, was man beispielsweise in einer Aus­ bildung lernt. Gebildet ist, wer sich in symbolischen Zusammenhängen zu orientieren weiß, eine Menge an Kenntnissen nicht einfach abrufen, sondern Beziehungen herstel­ len, Argumente prüfen, Gewichte abwägen kann. Selbsttätigkeit und Eigenständigkeit gehören in hohem Maße dazu. Bildung bezeichnet eine innere, persönliche Qualität, sie funktioniert nicht auf Vorgabe, Befehl oder Abruf. Gebildet ist jemand, der sich wohl auch in den Belangen der Wissenschaften aus weltbürgerlicher Sicht auskennt. Wie­ derum gilt hier nicht einfach Kenntnis oder Informiertsein, sondern: sich aus eigenem Verstandesgebrauch zu orientieren vermögen. Nicht die polyglotte Beherrschung von Sprachen und Disziplinen, nicht das ele­ fantöse Gedächtnis, nicht die Kenntnis von Fakten sind entscheidend, sondern die Kraft zur angemessenen Beurteilung der Bedeutung dessen, was Wissenschaften und Künste tun. Und vor allem: was sie für die Lebenspraxis bewirken und bedeuten.

Eigenorientierung in Sphären von ‚Welt‘ Aber auch wenn man diese Auszeichnung von singulären Ausprägungen solcher Kennt­ nisse verlässt, und erst recht dort, wo Bildung einen allgemeinen Anspruch hat, ist klar, worum es geht: Um den Erwerb zivilisatorischer Techniken, um sich im Leben eigen­ ständig, angemessen, differenziert und situations- wie problembezogen richtig, d. h. produktiv verhalten zu können. Auch hier geht es nicht um Kenntnisse, sondern einen Begriff von Weltläufigkeit oder welttauglicher Erfahrung. Der Begriff ‚Welt‘ überhaupt ist das Pendant zum Begriff der ‚Bildung‘, denn Letztere ermöglicht eine starke subjek­ tive Besetzung der Ersteren als eine durch und durch erfahrungsgesättigte Konstruk­ tion von Handlungssphären, im engeren Maße den persönlichen, im Weiteren auch die sozialen und politischen. Gebildet bedeutet also nicht einfach: gelehrt und kenntnis­ reich in Literaturen und Lektüren zu sein, obwohl dies oft mit solchem verbunden ist. Es meint: fähig, lebenspraktische, komplexe, sich wandelnden Problemstellungen an­ gepasste Verhaltensweisen gedanklich zu entwerfen, vorzubereiten und während der praktischen Umsetzung kritisch zu reflektieren und auszuwerten. Und zudem: pro­ blemfreies Sinnieren, mentales Entwerfen, gedankliches Umherschweifen, Verdichten, Verknüpfen, Verwerfen. Wer so über oder von Bildung redet, der erzählt nicht nur explizit, sondern auch implizit eine Geschichte. Die explizite Beschreibung liegt genau so auf der Hand wie die

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Kategorien, die zu ihrer Beschreibung eingangs verwendet worden sind. Sie stammen allesamt aus der Geschichte der Subjektphilosophie, wie sie für die Neuzeit und beson­ ders für den deutschen Idealismus prägend geworden, durch diesen mit solchem mo­ dellhaften Anspruch in die Welt gebracht worden sind, als Maß und Richtschnur von ‚Welt‘ schlechthin. Dabei geht es nicht nur um den Verstandesbegriff von Kant, nicht nur um Fichtes Subjekt-Setzung, nicht nur um Hegels Theorie von den in Widersprü­ chen und stetig herausgeforderter Bewegung sich ausbildenden Erfahrungen des Selbst. Es geht auch um das, was die Bildungsromane erörtern und die Literatur von den mora­ lischen Tugenden der Toleranz erzählt.

Die falsche Annahme von einem ‚Kanon‘, Bildung unsichtbar als Vertrag Es geht offenbar nicht um den epochenbildenden, und zudem, wie wir wissen, notori­ schen Korpus von Lessing über Moritz bis Goethe und von dort weiter. Diese Geschichte wird hier nicht erzählt. Aber auch die implizite Geschichte kann nur gestreift, sie soll aber wenigstens problematisiert werden. So wie die Bildungsromane, die literarischen wie die philosophischen, vom Gang des in allem sich selber aspektual, different und be­ weglich erfahrenden Subjektes handeln, so handelt die Konstruktion von Bildung als einer wesentlichen Sphäre von ‚Welt‘. Darin gesetzt geht es um nichts weniger als eine gemeinschaftliche Ermöglichung einer solchen Erzählung, in die alle Menschen unbe­ sehen ihrer Herkunft, Neigung und individuellen Moral sollen integriert werden kön­ nen. Es ist dieser universale implizite Zug der Bildung, die ihren eigenen Roman erzählt als konkrete Ausgestaltung des ihr innewohnenden Vertrags. Der Vertrag ist natürlich imaginär und real zugleich, wie der Gesellschaftsvertrag, in dem sich der Zusammen­ hang der Menschen als Bürger ausbildet. Er ist imaginär, da regulativ und zuweilen utopisch. Und er ist real, weil der Anspruch auf vorurteilslose Behandlung, Gleichbe­ rechtigung, Gerechtigkeit und die Eröffnung der Selbstbildungsoptionen für alle darin begründet sind. Analog zum sozialen Vertrag, der die Stofflichkeit eines ‚Wir‘, eines Ge­ meinsamen, eines Zusammenhangs meint und nicht einfach eine normative Formu­ lierung der Bindung, die Vereinzelte zur Wahrung gemeinsamen, schon feststehenden Nutzens eingehen, genau so erzählt der imaginäre Vertrag von der Bildung von den Ga­ rantien einer emphatisch gedachten Subjektwerdung. Jedem soll es offen stehen, aus eigener Kraft sich diese Art Bildung zu erwerben, mit welcher er praktisch tätiges wie reflektierendes Subjekt, Gestalter seines eigenen Lebens werden kann, der dazu der An­ erkennung anderer bedarf. Wenn nun der Vertrag zerbricht, dann steht wesentlich mehr auf dem Spiel, als es die oberflächliche und lehrerhafte, in der Tat auch pädagogisch zur Drohgeste entwer­ tete Betrachtung vom Verlust des Bildungskanons und vor allem die Klage um den Zer­ fall dieser äußerlich bezifferbaren Bildung nahelegt. Der beklagte, nämlich zunehmend

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als abwesend beschriebene Kanon der Bildung ist ohnehin nur eine vollkommen sinn­ leere und äußerliche Gestalt, die als Ersatz dient für das, was an der Selbstbildung des Subjekts längst schon nicht mehr funktioniert. Das Zerbrechen des Vertrags zwischen der ebenso idealen wie zugleich illusionären Erreichung der Selbstbildung als souverä­ nes Subjekt und dem imaginären Ganzen, das eine Gesellschaft als Korpus von Wissen und Erfahrung aller orientierend dieser Subjektwerdung beibringt und beigibt, ist dage­ gen ein Vorgang, der in der Tat fatal und gefährlich ist. Im Unterschied zu geläufigen Einschätzungen ist dieser Prozess aber nicht be­ dingt durch subjektive Verwahrlosung und objektive, ‚kulturell deviante‘ Desorientie­ rung, nicht alleine durch Mediatisierung und Apparatisierung erwirkt, sondern auch durch produktive Faktoren in einer besonderen Entwicklung. Ich erwähne nur drei da­ von: erstens die explosionsartig wachsende Summe dessen, was im Prinzip gewusst wer­ den kann; zweitens die Freigabe der bildungssicheren Berufe durch selbstdynamisierte Parzellierungen mit kurzfristigen Dispositionen, die als Optionen eines der Bildung nicht mehr bedürftigen Kapitalismus erscheinen. Und drittens schlicht eine inzwi­ schen zur kollektiven Gewalt gewordene Attitüde, mit der die ja keineswegs wachsende Lebenszeit nicht mehr in den mühsamen, aber stetig sich lohnenden Erwerb von Bil­ dung investiert wird, sondern in die Navigation von Selbstdarstellung und parzellierter Kommunikation entlang von Reizkonfigurationen, die allenthalben abrufbar sind als umlaufende Gerüchte. In sich selber kreisende leere Beziehungsfloskeln, die man tei­ len will, denen man sich zuwendet, wobei der Zeitaufwand, um zur Demonstration oder Artikulation dieser Zugehörigkeit zu kommen, stetig steigt. Dem Vernehmen nach, dem Hörensagen nach … darauf läuft die Front der schnellen Kommunikationen in den tele­ matisierten Informationsnetzwerken und ihren Steuerungsprämissen hinaus. Der do­ kumentierte Selbstbezug ist eigentlich nur ein Abfallprodukt dieses Prozesses und lädt deshalb umso mehr ein zur sekundär narzisstischen Besetzung der Leerformeln. Aber nicht erste der dritte Aspekt, auch schon die ersten beiden würden reichen, um das Modell der Bildung in die Krise zu treiben. Am interessantesten ist das erste Motiv: Der ganz normale Fortschritt, die Akkumulation des Erkenntnisprozesses, auch wenn die Wissenschaften diesen sehr eng verstehen, sie haben in den letzten 150 Jah­ ren eine Anhäufung von Sachverhalten zutage gefördert, die kein Einzelner mehr über­ blicken und bewältigen kann. Nichts ist verräterischer als die altmodische Rede von ‚Fachidioten‘, denn diese bezeichneten früher ja eine Schwundstufe, eine Regression aus der Erfahrungswelt der Bildung in die faktenidentifzierende Welt der überschau­ baren, abzählbaren und abgetrennten Einzelheiten. Nichts ist inzwischen falscher als die klagende Rede von der Verstellung eines wahren, vernetzenden Wissens durch an­ gebliche ‚Fachidioten‘. Genau diese gibt es aus zwingenden Gründen nämlich gar nicht mehr. Kein Fachwissenschaftler, und sei er noch so avanciert, überschaut noch ein ein­ ziges Spezialgebiet in all den Verzweigungen, welche eine intensivierte Forschung in einer jeweiligen Gegenwart gerade hervorzubringen dabei ist. Deshalb findet sich seit Längerem unter den hoch qualifizierten und weltzugewandten, neugierigen und taug­ lichen Szientisten ein neuer Typus, der viel eher dem Generalisten entspricht, nämlich

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­jemandem, der entlang von lebensweltlichen Problemen – wie Behausung/Wohnen, Mobilität, Energie, Ressourcen, Ernährung und komplexe technische Steuerungen – ste­ tige argumentative Verknüpfungen vornehmen kann. Vielleicht leben wir in einer Zeit, in der es noch nie so viele gebildete und engagierte, am Zusammenhängenden orien­ tierte, heuristisch geschulte, klug suchende, skeptisch prüfende Wissenschaftler, insbe­ sondere in den Gebieten Natur und Technik gegeben hat wie heute – neben allen struk­ turell wie personell durch Geld, Macht, Prestige korrumpierten Karrieristen, die zu viele der öffentlichen Diskurse mit ihren Fälschungen und vorlauten Behauptungen besetzt halten.

Preisgaben, Gefährdungen Was aber geschieht auf den Ebenen darunter? Schulbildung führt fatalerweise nicht mehr zur Bildung, weil diese nicht mehr benötigt wird. Viele, jedenfalls zu viele Berufe wurden abgeschafft, willkürlich zerstört, aufgegeben. Mit fatalen Folgen und Gefähr­ dungen für das Ganze der Gesellschaft wie auch für den Vertrag des Vertrauens in Bil­ dung. Arbeit wandert in die Automatisierung ab. Die Finanzierung der Arbeit ist ebenso prekär geworden wie die Tatsache, dass aus ihrer Freisetzung natürlich auch soziale Fol­ gekosten nicht mehr finanziert werden können. Die zögerliche Debatte um die Besteu­ erung der Produktivitätskraft (oder mindestens: -funktion) von Maschinen anstelle der Subsistenz der Arbeitsleistung von Menschen oder Subjekten gibt einen Vorgeschmack auf das weitere Zerbrechen aller imaginären Vertragssicherheiten einer bürgerlich-zivi­ lisatorischen Zähmung des techno-phantasmatischen Kapitalismus. Dazu kommen die lebensweltlichen Erleichterungen durch angebliche univer­ sale Verfügbarkeit aller möglichen orientierenden Informationen, Datenflüsse, Leit­ systeme, Unterweisungen, worauf diese, wenn diese auch das leisten, was man ihnen zuschreibt, unvermeidlicherweise so leistungsfähig und mächtig werden, dass ein Sub­ jekt der Bildung ohnehin nicht mehr bedarf, weil es sich in seiner Gestalt als universal befähigter und perfekt ausgebildeter Konsument inzwischen überaus gerne den Won­ nen einer Selbstenteignung und Selbstproletarisierung gegenüber Orientierungsalgo­ rithmen übergibt, zu denen bald auch die Erarbeitung eines das Individuum erfüllen­ den, alles umfassenden Befriedigungsprofils gehört.

Künstlerisches Handeln, vor aller Philosophie Was macht man nun auf diesem Hintergrund aus der Sicht einer Kunsthochschule oder Akademie mit der Aufgabe von Bildung heute? Man kann sich natürlich schnell in der Weise trösten, dass das Feld der Künste deshalb interessant sei, weil hier immer schon

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mit intuitiven, aber risikobereitem Probehandeln auf der Basis fragmentierter Kennt­ nisse und in bewusster Absehung vom universalen Aufwand und Selbstausformungsan­ spruch des Bildungssubjekts abgesehen worden ist, zumindest in der Moderne, in der wagemutige Experimentierfreudigkeit bei gleichzeitiger Bildungs-Selbstimmunisierung programmatische Bedeutung erhalten hat. Das heißt nicht, dass nicht gelesen und Dis­ kursives erarbeitet würde, es heißt aber, dass zum reflektierenden Bestand des prakti­ schen Handelns diskursive Argumentation von Bildungssubjektivität nicht mehr gehört. Anders gesagt: Seit alle Kunst Gegenwartskunst ist, also seit und in den zunehmend be­ wusst alle Regeln verletzen wollenden, sie suspendierenden Aufbrüchen der bildenden Künste um 1800 in Europa, ist diese Kunst, gemessen am Bestand und den Forderun­ gen des deutschen Idealismus nach-philosophisch. Kunst transzendiert die Philosophie, lässt sie bewusst ins Leere laufen, zeigt dieser ihre Schranken nicht durch argumentative Zurückweisung, die ja selber als philosophisch artikulierte Tätigkeit nur möglich wäre, sondern indem sie schlicht ein Terrain ausfüllt, das unterhalb oder jenseits oder so weit diesseits der Philosophie liegt, dass sie dieser notwendiger oder unvermeidlicher Weise entgleiten muss. Auf solchem Hintergrund sollen einige Aspekte nochmals genannt, aber anders benannt, zudem einige wenige Schlüsse gezogen werden. Alle Fragen nach Bildung heute laufen in der technisierten ersten Welt auf einige wenige Tatbestände hinaus, die einfach und folgenreich zugleich sind, ohne dass man jedoch weiß, in welcher Richtung die Folgen sich auswirken werden. Man ist also auf spekulatives Denken angewiesen. Grundlegende Beobachtung: Das Bildungsbürgertum hat abgewirtschaftet. Bildung ist auch in den Kreisen der bisher Gebildeten nur noch Halbbildung, bestenfalls. Oder dann eben ein entschwundenes Ideal mehr denn eine verbindliche Idee. Ein Blick in die einschlägigen Zeitungen, Flaggschiffe weltbürgerli­ cher Publizistik, genügt hierfür. Parallel dazu eröffnet sich ein Universum unsortierter, global präsenter Informationen – allerdings gilt dies nur unter Einschränkungen. In der ersten Welt sind sie markiert durch die Annahme einer konstanten Verfügbarhaltung von Energien, Strom und weiterer Ressourcen.

Informationen sind nur noch virtuell auch solche, die etwas ­begreifbar werden lassen Die schiere Fülle der Daten übersteigt heute jedes Maß und damit auch die Möglichkeit ihrer Formbarkeit. Da die Fülle der Informationen und damit des ‚im Prinzip‘ Wissba­ ren grenzenlos und unsortiert ist, ist, genau besehen, jede Information gar keine, son­ dern bleibt virtuell oder latent, bis sie zu einem Wissen umgebildet wird. Wer tut dies, vermag dies noch? Wozu? Wie? Der gestufte Wissensbegriff der modernen Zivilisation legt nahe, begriffene For­ men als kulturellen Speicher auszubilden und allen Subjekten vorzuhalten als ein ange­ eignetes, für Erfahrungen taugliches und handlungsspezifisch offenes Wissen. Aus der

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Fülle der Informationen muss das Wissensnotwendige ja erst sortiert, herausgefiltert und dann synthetisiert werden. Das war im Übrigen auch der Anspruch der enzyklopä­ dischen Modelle und Systeme, denen keine Informationsauffassung ferner liegt als die heutige Euphorie der ‚großen Datensammlungen‘ in der Weltkonsumgesellschaft, die zur dominanten Kultur der ersten Welt geworden ist. Dafür taugliche Kriterien im Einzelnen zu formulieren ist schwer, denn die Se­ lektionen gehorchen nicht mehr dem so lange so gut etablierten, auch kulturbilden­ den Konsens des sozialen oder Wohlfahrtsstaates: Kanonbearbeitung kraft erworbener Auto­rität der Schulbildung. Was aber, wenn die Fülle alle Formen sprengt, Sortierung aus dem Ruder läuft? Bleiben dann nur noch Zersplitterung, Zerstreuung, Vereinzelung, Beliebigkeit, Zufälligkeit? Meint diese Kontingenz oder vollkommene Desorganisation? Wie auch im­ mer: Die Gegenwart wird in Zukunft eine andere sein oder besser: werden müssen.

Geschrieben 13. und 14. März 2017; gedruckt unter dem identischen Titel „Bildung, zersplittert“ als N° 3 der Kolumne „Dissonante Perspektiven“ zur Aussicht der Künste heute, in: Kunstforum International, Bd. 250, Köln, Oktober-November 2017, S. 38–41. Hier um die Passagen zu H. G. Wells und seiner Utopie eines ‚World Brain‘ mitsamt den Folgerungen gekürzt, die schon im Text „Postzivilisatorische Unberechenbarkeiten – zur Lage der Bildung und den Konsequenzen für Design-Ausbildung“ enthalten sind, s. den Text in diesem Teil weiter oben.

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DESIGN – ZUM FORSCHEN PRÄDESTINIERT Unübersichtlich sind die Entwicklungen, durch die sich Forschung im Design momen­ tan als angewandte und als akademische Disziplin entwickelt. Was derzeit noch fehlt, ist ein gemeinsamer Forschungsbegriff – und da fangen die Probleme an. Birgit S. Bauer sprach mit Hans Ulrich Reck. Was ist eigentlich Forschung – und was könnte Forschung im Design bedeuten? Forschung bezeichnet aus meiner Sicht vorrangig das, was sich gerade nicht aus den je­ weiligen Routinen einer Disziplin ableiten und als ‚gewöhnlichen Forschungsprozess‘ einrichten lässt – weder durch handwerkliche noch durch fachtheoretische Kenntnisse und auch nicht durch implizites Wissen. Sie wird dann nötig, wenn es um die Bestim­ mung und Entwicklung von komplexen Problemstellungen geht. Für das Design trifft das im Besonderen zu, da das Wissen der Designer im Vergleich zu den anspruchsvol­ len Aufgabenstellungen, die sie bearbeiten, in der Regel unvermeidlicher Weise unter­ komplex ist. Designer verknüpfen Wissensgebiete, die nicht zu ihrem Fachgebiet gehö­ ren. Und diesen Typus von Rationalität kann designwissenschaftliche Forschung am besten beschreiben – Design ist für das Forschen also geradezu prädestiniert – wegen der absehbaren übergroßen Schwierigkeiten bei gleichzeitiger nicht klar ausgeprägter Routine­bildung. Wer definiert, was Forschung im Design ist? Das müssten kollektive Konformitäts- und Prüfungsinstanzen machen – die es allerdings in der Designforschung bislang noch nicht gibt. Die Definition von Forschung im De­ signbereich reicht momentan vom recherchierenden Forschen, in der Art wie zum Bei­ spiel auch Kinder ihre Mit- und Umwelt entdecken, bis hin zu wirklich formulierbaren Forschungsprozessen. Diese beinhalten das Erarbeiten theoretischer Grundlagen und das Entwickeln von erklärbaren Ansprüchen, etwa auf die Verhältnisse einzuwirken, Ant­ worten auf bisher ungelöste Probleme zu finden oder die Defizite bisheriger Problem­ lösungen zu beschreiben. Spätestens an diesem Punkt muss man dann auch mit ande­ ren Forschungsgebieten kooperieren, deren Erkenntnisse einbeziehen. Man muss Ziele vorgeben und überprüfen können, ob diese erreicht wurden. Das ist es, was eine Wissen­ schaftsgemeinschaft ausmacht. Sind angewandte Forschung und Grundlagenforschung im Design zu trennen? Nicht nach meinem Verständnis von Designreflexion. Forschung sollte immer – ob aus einer Praxis heraus oder in den Grundlagen – eigene Motive und Wirkungen mit reflek­ tieren. Angewandte Forschung im Design geht aber meistens nicht über die Entwicklung von Produkten hinaus, etwa bei der Erforschung von „Embedded Systems“, die sich mit der Integration von Computern in Autos befasst. Das kann für die beteiligten ­Fachgebiete

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zwar spannend und herausforderungsreich sein, aber mit einer entscheidenden Engfüh­ rung der Aufgabenstellung unter Ausblendung vernetzter, auf die gesamte Lebenswelt bezogener Fragen werden die vorgesetzten Problemstellungen an sich nicht mehr hinter­ fragt. Die gesellschaftlichen und kulturellen Implikationen fehlen mir – es geht allein um die Implementierung einer Technologie. Was heißt: Man hat die wirklichen Probleme schon ausgeblendet, in der Aufgabenstellung schlicht wegdefiniert. Was operabel und konkret behauptet wird, ist in Wirklichkeit abstrakt und vorbelastet. Die sogenannte angewandte Forschung ist ihnen also nicht reflektiert genug? Sie erfüllt meiner Ansicht nach nicht den Anspruch an Forschung. Ich habe den größten Respekt vor den jeweiligen Einzelerkenntnissen – nur ist es keine Forschung, wenn man bei der Fokussierung auf einen Handlungsrahmen alle Meta-Probleme wegdefiniert. Welche Konsequenzen haben beispielsweise die computergestützten Systeme im Auto für den Beruf des Automechanikers? Welche Kompetenzen werden dem Nutzer aus der Hand genommen und welche Folgen kann das haben, zum Beispiel wenn die Schließan­ lage eines Fahrzeugs streikt? Die Auseinandersetzung mit der gesellschaftspolitischen und lebensweltlichen, umgreifenden Dimension fehlt mir häufig im Design. Sie ist aber meiner Meinung nach extrem wichtig. Design als „Problemlösungsdisziplin“ beschäftigt sich aber gerne mit der Reduktion von komplexen Fragen. Und das ist falsch! – Designforschung hätte allen Grund, Komplexitätsforschung zu sein, weil Design mit vielen Bereichen in Berührung kommt, die kein einzelner Mensch be­ herrschen kann. Gerade diese Verknüpfung der unterschiedlichen Disziplinen bringt einzigartige Fragestellungen hervor, die in der Gesellschaft sonst nicht thematisiert würden. Die große Chance derer, die heute Design studieren, ist, dass sie sich mit vielen Bereichen der Komplexität der Mit- und Umwelt auseinandersetzen. Das bedeutet auch, dass sie sich mit der Ungleichzeitigkeit der Gegenwart auseinandersetzen, etwa mit all dem, was als Geschichte in der Gegenwart weiterlebt oder mit der Frage, wie die Kultur zu Identitäten kommt, wie die Identitäten zerfallen, wie es zu symbolischen Prozessen kommt, zu Streit in der Bewertung kultureller Hierarchien. Das aufgeschlossene Teilha­ ben an Gegenwart als interessierte Zeitgenossen: Das ist eine entscheidende Kompetenz des Designs. Es gibt daher die Notwendigkeit einer Reflexivität und Theoriebildung im Design – lange bevor man von Forschung spricht. Vieles an der Vorgehensweise von Designern ist experimentell und undefiniert. Ist das ein Problem? Das sind Entwürfe ins Offene, sie beziehen sich auf eine Kunst des Findens von etwas. Diese intuitiven Phasen des Entwerfens, die methodisch kaum definiert sind, sind mei­ nes Erachtens unerlässlich. Man muss sie auch nicht definieren, sondern als Phase an­ sehen, in der man suchend auch auf Vagem insistieren muss. Wichtig ist, dass man zu Freiräumen kommt, in denen so etwas möglich ist.

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Und wie kann man zu diesen Freiräumen gelangen? Die Freiräume liegen meiner Ansicht nach in den kommunikativen Kooperationsstruk­ turen, die charakteristisch für das Design sind: Designer experimentieren im Kollektiv und kommunizieren das auch. Die kollektive Kreativität ermöglicht es, Dinge zu ent­ wickeln, die über das Formulierbare hinausgehen. Design Thinking von Tim Brown bei­ spielsweise greift diese kollektiven Prozesse auf – ohne das Buch uneingeschränkt für ­alles mögliche empfehlen zu wollen. Wenn man von Designforschung spricht, kommt man schnell zum Thema Doktorarbeiten. Viele Designer müssen nachstudieren, um wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen, und finden innerhalb ihrer eigenen Disziplin selten Betreuung. Wie kommt das? Das hat mit der Entwicklung der deutschen Designausbildung zu tun und auch damit, dass hier das Promotionsrecht nur für Universitäten gilt. Eine Perspektive könnte die Orientierung an den Technikwissenschaften sein. Auch dort sind die Promotionen an eine Praxis gebunden – eine, die eine theoretische Praxis einschließt. Das akademische Profil eines forschenden Designs muss sich in den Ausbildungsgängen erst noch entwi­ ckeln, und zwar Schritt für Schritt. Es wird noch dauern, bis sich etwas Eigenständiges herausgebildet hat. Und welches Selbstverständnis könnte eine Designforschung etablieren? Design ist als Begriff omnipräsent – das zeigt, dass Design offenbar eine Form von pro­ blematisierender Verknüpfungstätigkeit ist. Deshalb können sich auch Wissenschaft­ ler ganz unterschiedlicher Disziplinen mit Fragestellungen des Designs auseinanderset­ zen, die sich dann eben nicht nur aus dem engen Bereich des Designs heraus entwickeln und die festgesetzten Thesen immer wiederholen. Designforschung sollte sich als MetaDisziplin verstehen, die in der Lage ist, unterschiedliche Wissens- und Lebensformen auf je singuläre Weise zu verbinden.

Gedruckt unter dem Titel „Design – zum Forschen prädestiniert. Birgit S. Bauer traf Designforscher Hans ­ lrich Reck“, in: design report 2/12, Zeitschrift, hgg. Rat für Formgebung, Leinfelden-Echterdingen 2012, U S. 40 f.

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ZUM STAND VON DESIGNTHEORIE Design und seine Theorien haben jederzeit mit allem Möglichen zu tun. Es handelt sich nicht um festgelegte Größen oder Aufgaben. Das ist reizvoll. Und schwierig zugleich. Also muss in einem Dickicht von Mythen und Mystifikationen der Kern von designtypi­ schen Handlungen freigelegt werden. Keine Fachdisziplin könnte nicht sowohl zum ele­ mentaren Material und Gegenstand wie zum methodischen Anreger für ‚eine‘ Design­ theorie werden. Nichts ist ausgeschlossen, nichts ist evident, nichts per se und zunächst abzulehnen. Nicht ist bestätigt, nichts widerlegt. Es gibt kaum eine Designtheorie, die nicht in das Geflecht der praktischen Prozesse eingewoben ist. So wie designerische Praktiken theoriegeleitet sind – ob bewusst und absichtsvoll oder unabsichtlich und un­ bewusst –, so sind die Theorien immer auch Praktiken eigener Art. Nicht ‚Praxis‘, son­ dern ‚Praktik‘, als belehrtes, sich selber wahrnehmendes Probehandeln ist das, worum es geht. Das erklärt, weshalb die Theorien und Praktiken des Designs zusammengehören und die Theorie immer auch als wie aus der Sicht von Praktikern vorangetrieben wird. Zumindest bis an eine bestimmte Grenze. Dort wird es besonders interessant. Die An­ leihen aus anderen Gebieten kann immer schon ein eigenes Profil schärfen. Deshalb ist es besser, Ansprüche zu haben statt sich nur dem modischen Firlefanz wie beispiels­ weise der noch immer kurrenten Rede von der ‚Wissensgesellschaft‘ anzudienen. De­ sign wie Designtheorie sind kritisch. Und modellbewusst. Deshalb wären ihre nächsten Anleihen, wie vor einigen Jahren im Umkreis der Deutschen Gesellschaft für Designthe­ orie bereits angedacht, eher aus den Bereichen kritische Theorie, Systemtheorie, Kyber­ netik, radikaler Konstruktivismus, aber auch Hermeneutik und gar Psychoanalyse und nicht in angewandten technischen Disziplinen zu finden. Letztere wäre besonders inter­ essant, zumal in ihrer Ausrichtung auf die Vermögen des Traumes und die tastenden Methoden ihrer Deutung. Kategorien wie ‚Verdichtung‘ und ‚Verschiebung‘, aber auch die ‚Rücksicht auf Darstellbarkeit‘ sind unmittelbar verständliche Slogans auch für eine Designtheorie. Eine gewichtige Veränderung gegenüber den Designtheorien des 20. Jahrhun­ derts allerdings ist für heute vorab festzuhalten: Die innovativen Theorien im Design sind nicht mehr Ausdruck und Element der Formation eines Dispositivs, einer ‚großen Erzählung‘ (Jean-François Lyotard) oder eines totalisierenden Gestaltungsanspruchs an ein durch Designkonzepte zu veränderndes Leben. Die entscheidenden prototypischen Formationen der Moderne und ihre Dispositive wie ‚Bauhaus‘, ‚Hochschule für Gestal­ tung Ulm‘ u. d. m. sind Vergangenheit. Designtheorie setzt heute nicht an Doktrinen oder Problemlagen an. Sie bewegt sich an Reibungsflächen zwischen technisch wie epis­ temisch hochgerüsteten Prozessen. Sie muss in schwieriger Randlage Balancen finden und eine eigene Stimme üben. Nehmen wird dafür ein prominentes Beispiel.

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Zum Beispiel: Automobilität als Immobilität Unter den vielen Versuchen, intelligente Dinge zu erzeugen, also kleine Helferlein, die dem Menschen quasi-humanoid den Umgang mit Technologien und Umwelt erleichtern, eventuell gar abnehmen, ist das Automobil sicher ein herausragender Kandidat. Es soll intelligent werden, von alleine steuern und fahren, kontrollieren, vorausschauen, agie­ ren und reagieren, die menschlichen Unsicherheiten eliminieren. Das Automobil ist aber noch immer eine herkömmliche, durch und durch regressive, ja reaktionäre Ma­ schine. Systemisch funktioniert es immer noch gleich wie zu seinen Anfängen. Es lässt den Raum schrumpfen, beschleunigt die Zeit, bedarf eines Fahrkanals, macht Krach und Gestank, wenn auch weniger als früher. Es ist und bleibt, unbesehen des Geschlechts der Fahrenden, eine ‚Junggesellenmaschine‘, nämlich jenseits aller praktischen Gestalt im­ mer auch eine Maschine zur Erzeugung imaginärer Lösungen für ein phantasmatisches Phänomen.1 Und auch praktisch wird es noch immer – wenn auch derzeit zum ersten Mal signifikant weniger – betrachtet: als Symbol, für Freiheit und anderes. Im Normal­ fall fährt jeder allein. Es handelt sich um eine ‚black box‘ für Einzelne in Gestalt einer verselbstständig­ ten Automatik im Dienste einer Fortbewegung, die wenig mit dem Automobil, sehr viel mit allerlei gesellschaftlichen Strukturen zu tun hat. Was machen eigentlich die Desig­ ner dabei, daran, damit und darin? Die Herausforderungen, die am Automobil-Pro­ jekt bisher als wirklich interessant gelten, richten sich an Ingenieure und Informati­ ker. Heraus­forderungen technischer Art gibt es viele. Die Anmutungsqualitäten an der Schnittstelle zum Konsumenten werden durch Marketing festgelegt. Und die Designer? Was machen die eigentlich? Sind sie mit von der Partie? Fehlanzeige: Sie agieren besten­ falls im ­Unwesentlichen, wirken in Anmutung und für Verschönerungsdetails, Innen­ ausstattung etc. Man kann allerdings klar sagen, was sie substanziell machen könnten oder sollten: Nämlich all das zu überlegen und zu konzipieren, was dem freien Spiel der Kräfte überlas­ sen, also aus dem planenden Kalkül der Ingenieure, Informatiker und Marketingästheten ausgesondert, aus dem Kalkül ausgeschaltet bleibt. Da erst ginge es dann um Nachhal­ tigkeit, systemische Verbindung mit Umwelt und Lebensformen, Kultur und Zivilisation. Nicht um gewandelte Gestalt, PS, Früherkennungssysteme, intelligente Programme für die Gerätschaft. Sondern um die Frage nach wandelbarer, utopisch befähigter Intelligenz im Ganzen. Das heißt, um zeitgenössische Bedingungen für Sesshaftigkeit, Mobilität, sys­ temisch erzwungene und in Kauf genommene Einschränkungen der versprochenen Mo­ bilität, um Beweglichkeit, Zeit- und Sinnressourcen, Mangel und Stress, Unterworfenheit und Instrumentalität. Vom Auto aus ist man dann schnell bei der ganzen Welt und stellt fest, dass die solitäre Junggesellenmaschine Auto zu teuer ist, zu viel Energie frisst, zu dumm ist, im Verkehr stecken bleibt. Sich einfach konzeptuell nicht wirklich weiterent­ wickelt hat. Erste zögerliche Anzeichen dafür sind nun erst festzustellen. Das Automobil, von den Ideologien der intelligenten Fahrzeuge und der ‚embedded intelligence‘, der Hybridisierung von Computer und Mensch einmal abgesehen, bleibt

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weit über solches hinaus ein Hauptkandidat für die designtheoretische Einsicht in die Di­ alektik vom Kreativität und Zerstörung: Durch Erfolg ruiniert, durch Pflege zerstört – so ist zu resümieren, dass die immer schnelleren und wendigeren Fahrzeuge im Dauerstau der technisierten Gesellschaften wenig mehr ermöglichen als stationäre Zeitvernichtung oder Ersatzreligion – einem eingängigen, aus anderer Sicht: trivialen Bonmot von Sloterdijk zu­ folge handelt es sich beim Dauerstau auf den Autobahnen, nicht nur an Ostern, um die Karfreitage der Moderne. Damit wird das Auto ungewollt auch zu einem prominenten An­ wendungsfall für philosophische Theorie der Aporie. Oder gar eine Theodizee: Rechtferti­ gung der Weltursachen angesichts der Weltwirklichkeitsbetrachtung. Was aber intendieren die Marketingstrategen eigentlich, darin einfach nur ih­ rem Job folgend? Sie erfinden einen Kunden, für den die Informatiker und Techniker Leistungen einrichten, Systeme und Maschinen, Programme und Regulierungen rea­ lisieren – mit dem letzten Ziel einer zentralen Steuerung der Maschinen durch Appa­ ratesteuerungen hinter dem Rücken der bisherigen Fahrer. Sie erfinden einen idealen Konsumenten, für den alles gut sein soll, was er nicht mehr selber zu leisten vermag. Sie betreiben also dessen Proletarisierung und die Enteignung seines erworbenen Wis­ sens. Designer dagegen haben zunächst theoretische Argumente, weshalb sie weiter­ hin auf Selbstbefähigung und Komplexitätswahrnehmung, also auf Reflexion und nicht Dispens von dieser setzen. Die Liste der Fragen und Erörterungen am Beispiel zeigt: De­ signer kommen dort ins Spiel, wo der Handlungsraum für Ingenieure und Marketing bereits definiert, ja determiniert, vor allem aber überaus restriktiv angelegt und in man­ cherlei Hinsichten strikte begrenzt ist. Design ist hier immer eine theoretische Prak­ tik, die mit der Verschiebung solcher Rahmen zu tun hat. Vom Funktionsraum hin zum testenden Spiel geht die Bewegung. Und aus Kommunikation wird Meta-Kommunika­ tion: An die Stelle des Ernstfalls tritt die Irrealisierung des Ernstes durch ein ernst ge­ meintes Probehandeln und Experiment, ein Exempel. Theorie ist ein Geschäft der Fikti­ onalisierungen. Designtheorie weiß, wann und warum sie so tut, ‚als ob‘ die Dinge und vor allem die Lösungs- und Funktionsbehauptungen von Problemen anders betrachtet werden können. Designtheorie ist die Disziplin einer fragenden Erhaltung von je wan­ delbar modellierten, durch Aspekte veränderten Aufgaben. Sie feiert nicht Auflösun­ gen, sondern ist eine Erzählung vom Andauern der Probleme (‚problema‘ altgriechisch: ‚Aufgabe‘). Und sie weiß auch, dass für solches nicht Funktionslösungen, sondern mul­ tiple Projektstrukturen anzustreben sind.

Verknüpfen, Verschieben, Übersetzen: Aneignung und Hinbiegen Wahrlich: Die Zeit hat sich gewandelt. Die designtheoretischen Impulse der 1970er, be­ sonders der 1980er- und 1990er-Jahre sind verschwunden. Das systemische ‚unsicht­ bare Design‘, die kulturtheoretische Regulierung von Re-Inszenierungen, die Beobach­ tung von ‚Zerstörung durch Pflege‘, die Mülltheorie der Kultur, die Methodologie des

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‚intervento minimo‘, die Rationalität des kleinstmöglichen Eingriffs, das Patchwork der polykulturellen Semiotik, die Wahrnehmung von Denkfallen in normal rationalisierten Planungsprozessen, die Lust an einer Analyse der gerade durch gutwillige Planungskon­ zepte noch unwirtlicher gewordenen Wirklichkeit – all dies ist nicht, zwar von der Sache her, dafür aber umso gründlicher, aus dem theoretischen Diskurs verschwunden. Auch wenn die meisten Impulse historisierbar sind: Der Sache nach müssen sie neu erfunden, revitalisiert und wieder orchestriert werden. Design ist stets eine Domäne, die eng mit ihrer eigenen Theorie verknüpft ist. Man kann sagen, dass Designtheorie immer auch Designpraktik ist. Sie gewinnt die Re­ geln und Kategorien ihres Vorgehens nicht aus sich, sondern borgt sich Theoriemo­ delle, die sie in den Akten einer Anverwandlung stets auch transformiert. Ob das die subjektive Situierung von Sinn gemäß der Hermeneutik ist oder die systemische Refle­ xion auf verbundenes Handeln wie in der Systemtheorie, ob es um die notwenige Ideo­ logiekritik nach dem Vorbild der kritischen Theorie geht oder gemäß dem radikalen Konstruktivismus das gesteigerte Bewusstsein einer Einrichtung derjenigen Empirie anzustreben ist, die dem theoretischen Impuls entspricht. Oder ob das gar der Bezug auf Techniken der Freud’schen Traumdeutung ist mit ihren Kategorien der Verdich­ tung, Verschiebung und Rücksicht auf Darstellbarkeit – immer gewinnt sie ihre Mo­ delle in schöpferischer Anverwandlung und Transformation. Sie besitzt kein ‚eigenes Terrain‘, keine genuine privilegierte Methode. Sie muss immer wieder begründen, was sie in welche Hierarchien einbaut. Das bedeutet nicht die Feier eines Uneigentlichen, ist kein Bekenntnis zum permanenten Grenzverkehr in nicht-definiertem Gelände mit der Grauzone von Schmuggel und Diebstahl, sondern das ist schlicht der Modus ihres In-der-Welt-Seins. Es kommt hier auf theoretisches Probehandeln an, auf Entfaltung von Experimen­ ten, auf Tentatives, also Suchendes, auf Heuristisches, also vorläufig Hingebogenes oder Zurechtgebasteltes. Eine Designtheorie muss selber nicht designtheoretisch gerechtfer­ tigt werden im Sinne einer reinen Theorie. Design ist Wiederholen von Versuchen. Frei nach und mit Samuel Beckett: Try and fail. Try again. Better fail. Auch wenn Versuche ge­ lungen sind, Design ist und bleibt, wie Michael Erlhoff kürzlich wieder herausgestellt hat, immer Re-Design. Dieses schließt nie eine einmal gefundene ‚Lösung‘ aus. Im Ge­ genteil, aber sie unterwirft dies doch anhaltend weiterem Spiel und Verschieben: Sie bleibt subversiv, zersetzend, irritierend. Also auch ein Ärgernis. Der sich viel mit Küns­ ten beschäftigende Ernst Kris hat in einem Buch zu psychoanalytischen Erkundungen im Feld der Künste 1957 klar gemacht, dass ‚Kreativität‘ zunächst nichts anderes ist als ein bewusstes Wiederholen unbewusster Handlungen oder Setzungen. Es ergibt sich die Einsicht, dass der Gegenstand von Designtheorie niemals fixiert werden kann oder monolithisch ist, dass er in Objekten, Handlungen, Systemen und auch Theorien beste­ hen kann. Er hat also Designtheorie als Praktik zum Gegenstand. Diese beinhaltet ein Vermögen, das nicht vorab reglementiert werden kann, sondern das seine Trefflichkeit und Geltungskraft im Prozess unter Beweis zu stellen hat.

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Suchendes Entwerfen – ein Theorietypus Der Universalgelehrte, dann aber vorrangig als Semiotiker bekannt gewordene US-ame­ rikanische Forscher Charles Sanders Peirce hat um die Wende des 19. zum 20. Jahrhun­ dert methodische Vorgehensweisen in Wissenschaften sowohl der Natur wie der ­Kultur untersucht. Neben den bekannten ‚Deduktion‘ und ‚Induktion‘ hat ihn besonders ein Typus von Erkenntnishandeln interessiert, dem er den Namen ‚Abduktion‘ gab. Induk­ tion beginne den Erkenntnisweg mit einer Hypothese, die so plausibel ist, dass sie kei­ ner Begründung bedarf. Sie sucht sich die dazu passenden Fakten, Deduktionen setzen überprüfte allgemeine Hypothesen oder Gesetze voraus und prüfen daraus folgende Tatbestände. So wie Induktion also Fakten sucht für ihre plausible empirische Verifi­ zierung, so suche Abduktion eine ihr passend erscheinende Theorie. Aber Abduktion sei nicht blindes Tasten, sondern ein, wenn auch meist noch unformulierbares, so doch strukturiertes Suchen, eine Art von Methodologie. Sie entspricht am ehesten dem krimi­ nalistischen Aufspüren, der Spurenlese oder der Insistenz auf dem entscheidenden De­ tail, wie winzig und unscheinbar dieses auch immer sein möge. Gegenprobe: Fast alle Theorien der Gestaltung im 20. Jahrhundert verfehlen diese theoretische Selbstwahrnehmung. Sie haben stets einen Algorithmus der Ableitung im Auge zur Erlangung oder Durchsetzung einer ‚wahren‘ oder ‚richtigen‘ Ästhetik, einer ‚guten Form‘ oder einer ‚reinen Gestaltung‘. In jüngster Zeit und lange nach dem Ver­ fallsdatum solcher normativen Fixierungen wurde in geradezu scholastischer Verbis­ senheit und Opulenz nochmals eine mehrbändige Theorie als Methodologie des Gestal­ tens vorgelegt, durch welche junge Menschen befähigt sein sollen, sich im poetischen wie ästhetischen Prozess der Gestaltfindung zu situieren – ein ebenso aufwendiges und auf seine Weise beeindruckendes, aber solipsistisch gefangenes und nutzloses Unter­ fangen im Dienste einer klaren und reinen Ordnung der Dinge. Aber die Dinge und Sach­ verhalte im Design sind ‚polysemisch‘ oder ‚pervers‘.

Kriterien für ein Modell Designtheorie Was also betreiben Designer als ihre eigenen Theoretiker? Sie müssen sich unaufhör­ lich und ohne Einschränkung mit allen Wissensbereichen, Disziplinen, Fächern etc. be­ schäftigen, die mit dem von ihnen behandelten Gegenstand verbunden sind. Das ist ver­ messen und schlicht unmöglich. Da sie nicht Universalwissenschaftler sind oder werden können und das im Übrigen nicht nur nichts nützen, sondern erst recht schaden würde, haben sie situativ passende, nicht universal gültige Kriterien zu entwickeln. Sie impro­ visieren und selektionieren, verknüpfen und verschieben in kundiger Weise. Da Ingeni­ eurperspektiven, Informatik und Marketing in der Regel nur kurzfristig funktionieren wollen, kann nur der Designer für Ausweitung, rückkehrenden Neu-Anfang, für Kom­ plexitätswahrnehmung und Übersetzungen der Einsichten, Stoffe, Gebiete, Disziplinen,

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Thesen und Hypothesen zuständig sein. Er wäre derjenige, der für Nachhaltigkeit ein­ steht – als eine Perspektive der Frage an Mit- und Umwelt, nicht als Rezepteverwalter. Angesichts der heutigen Hilflosigkeit im Umgang mit vielerlei Zwängen und Entschei­ dungen muss der Designer die Instanz der reflektierenden Verknüpfung einnehmen. Er leitet epistemische und weiter Reflexionsprozesse an, moderiert und redigiert diese. Der Designer bedarf deshalb einer Theorie der Theorieverknüpfungen, die ihm nichts weniger erlaubt als eine revidierende Redaktion der Weltprobleme in je konkreter Hin­ sicht auf Erfahrungs-Wirklichkeit. Dafür gehört er ins Zentrum derjenigen Teams, die an Projekten arbeiten und fälschlicherweise, jedenfalls allzu oft meinen, diese arbeits­ teilig und mit akkumulativen Fortschritten in und mittels Einzeldisziplinen bewältigen zu können. Aber das kann nicht gelingen und gelingt eben nicht. Nun ist es alles anderes also so, dass dieser unser ‚Modell-Designer‘ schon dort ar­ beitet, wo das Zentrum der Projekte im Sinne suchender, probehandelnder, experimen­ teller Verknüpfungen funktioniert. Das ist Zukunftsmusik und erfordert ein Bekenntnis zur Unerlässlichkeit von Designtheorie.

Schluss Der Status der eigenen Theorie ist die erzwungene Reflexion des prinzipiellen episte­ mischen Nicht-genügen-Könnens und dennoch-Handeln-Müssens auf einer möglichst rationalen Basis. ‚Rational‘ aber ist keine Autobahn, sondern ein Geflecht von Straßen, deren rettende sicher nicht der Holz-, aber zuweilen doch der steinige und holprige Feld­ weg ist. Mit der Kybernetik der zweiten Stufe – Beobachtung der Beobachtung – sei eine Maxime formuliert, die zum Regulativ werden könnte: Handle so, dass die Welt als Er­ fahrungswirklichkeit durch deine Intervention reicher und komplexer wird. Und dies, auch wenn du etwas vorlegst, das auf Einfachheit und Reduktion zielt. Denn diese erwei­ sen sich in jedem Fall als eine Problemverschiebung. Da Probleme – auch dies eine ent­ schiedene Einsicht der Designtheorie der 1980er-Jahre – nicht gelöst, sondern nur ver­ schoben werden können, kommt es auf den Zuwachs an deutlicher Thematisierung der Problembezüge an. Deshalb löse man Komplexität nicht auf, sondern steigere diese, wo immer es möglich ist. Versteht sich von alleine, dass dies aber geformt und organisiert sein will. Komplex ist nicht einfach, was man nicht durchschaut, sondern nur das, was wohlverstanden dargestellt werden kann, dem man aber übliche, schlichte Rezepturen nicht zumuten will. Das sind solche, für die ausgehende Resultate als wiederum (‚re-ite­ rative‘/‘re-entry‘) eingehende Impulse für Veränderung der Eingaben des Systems ein­ gesetzt werden. Das bedeutet, dass es nicht um ‚out-put‘ geht, sondern um die Einsicht, dass dieser sinnvollerweise nicht fest vorab berechnet werden kann. Designtheorie soll, so mein Vorschlag, heute als eine nicht-triviale Maschine ­eingerichtet werden. Den Stand der Dinge in der Designtheorie markieren epistemisch

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r­ eflektierende und zugleich gegenständliche Praktiken, die uns dazu zwingen, die Welt so anzuschauen, anzueignen und wahrzunehmen, dass sie eine nicht-triviale Maschine sein kann. Wenn sie denn schon eine Maschine sein soll …

Geschrieben am 12. September 2013. Erschienen in einer gekürzten Version unter dem Titel „Zum Stand von Designtheorie“, in: form. Design Magazine, Ausgabe N° 250 („Design Quo vadis?“, November/Dezember 2013), Frankfurt a. M. 2013, S. 74–77.

1

Vgl. Hans Ulrich Reck/Harald Szeemann (Hgg.), Junggesellenmaschinen. Erweiterte Neuausgabe (Reihe ‚Medienkultur‘, Springer Verlag), Wien/New York 1999.

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THEORIE DURCH THEORIEMANGEL – ­EPISTEME UND VERFAHREN IN KUNST UND DESIGN, AUCH ZU VERSTEHEN ALS EINE ERÖRTERUNG ÄSTHETISCHEN URTEILENS Die eingeschliffenen Schwierigkeiten, Unstimmigkeiten, Verzerrungen und Missverständ­ nisse zwischen dem sogenannten ‚Theoretischen‘ und dem sogenannten ‚Praktischen‘ in den ‚freien und den angewandten Künsten, also, verkürzt: zwischen ‚Kunst und De­ sign‘, werden von Hans Zitko in seinen Vorbereitenden Überlegungen prononciert zusam­ mengefasst.1 Es handelt sich um einen das gesamte neuzeitliche System der Künste bis in die Gegenwärtigkeit hinein begleitenden Diskurs, der von einer Dichotomie ausgeht, die das System der Künste konturiert und modelliert. Die Dichotomie besteht in einer Abspaltung eines oft selbstgerechten und saturierten Praktischen von einem abgehobe­ nen, anmaßenden und ‚abstrakten‘ Diskurs. Unersättliche Diskursivierung der Künste sei der verzerrte eine Pol, eine maßlose Apotheose des Sensualismus und fetischisierte Unmittelbarkeit der leiblich-leibhaftigen, nämlich eigenhändigen Kunstpraktik der an­ dere. Zitko weist auf die Verluste hin, welche diese verfestigte Ritualisierung als eine kulturell codierte und organisierte Verengung mit sich bringt: Das implizite Wissen der Künste, gerade das um die je aktualisierenden Praktiken von findungsreichen Aufgaben, gehe zunehmend und zunehmend schnell verloren. Was Richard Sennett in Craftsmen als Geheimnis kollektiver Kreativität beschreibt,2 erscheint dagegen als Implikation vielfältiger Kenntnisse, die spezifische theoretische Qualitäten haben, die auf diversen Ebenen angesiedelt sind, aber nicht verschriftlicht, nicht diskursiviert, nicht in eine all­ gemeine Publizistik übersetzt werden müssen.

Künste als implikative Theorien Wenn der traditionell und rituell theoriefeindliche Diskurs der Kunst – der aber nicht der Sache selbst, sondern eher einer bestimmten Mystifizierung und Stilisierung der Künst­ lerfigur entspringt3 – in Betracht gezogen wird, dann hofft das nicht auf eine subsidiäre oder zusätzliche Großzügigkeit vonseiten der ‚Praktiker‘, sondern erinnert daran, dass solche restriktive Handhabung von Grenzen mitsamt Lagerbildungen zu beiden Seiten die wahre Produktivität der Beziehungen zwischen den historisch aufgespaltenen Op­ ponenten verkennt. Es handelt sich um ein Selbstmissverständnis, vor allem aber um ein gravierendes Ignorieren der zahlreichen impliziten Formen von Theoriebildung in den poetischen Praktiken.4 Und vor allem missversteht diese Einstellung, dass das, was vermeintlich praxisferne Theorie heißt, kein immateriell schwebendes Gebilde ist, son­ dern genuin eigene Praktiken entwickelt. So wie Praktiken intrinsisch t­heoriegeleitet

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sind, ob explizit oder implizit, artikuliert oder automatisiert, bewusst wahrgenommen oder nicht, so sind Theorien immer auch Praktiken, in und als die sie dynamisch prozes­ sieren, weil sie sich sonst gar nicht artikulieren können. Davon zu unterscheiden sind natürlich die Formen der Erklärung, Begründung, der vor- wie der nachträglichen Artikulation konzeptuell angestrebter oder an Entäuße­ rungen wahrgenommener theoretischer Qualitäten. Implizites Wissen kann explikativ werden mittels Rekonstruktion, aber auch, vorgreifend, mittels spekulativer Heuristik. In keinem Falle aber handelt es sich um ein instrumentelles Wissen, das als eine Art Re­ zeptur operativ nicht nur eine Werkgestalt ermöglicht, sondern diese auch vorbestimmt bewerten oder entsprechende Wertungen normativ beschreibbar machen würde. Ge­ setzte Praktik ist immer auch Theorie im Sinne eines vergegenständlichten oder wie­ derholenden Probehandelns: aktive Wiederholung eines passiv Erlebten als, nach Kris,5 Grundmodus von Kreativität: „To repeat actively, what one has experienced passively.“ Bewusstes Handeln und reflektierendes Wissen durchdringen sich im Prozess stetig. Eben deshalb kann man Reflexion auch als ein denkerisch re-integrierendes Probehan­ deln beschreiben. ‚Umwege in die Philosophie‘ verdeutlichen diese implizite Durch­ dringung in einer Weise, die selbstverständlich in geboten grundlegendem Sinne ‚Gel­ tung‘ von ‚Genesis‘ unterscheidet. Auch wenn im Prozess sich die Dimensionen immer durchdringen, sind Ansprüche an Geltung stets auf konstruierende Epistemologie bezo­ gen und werden erhellt nicht an oder durch die Genealogie. Die Entstehungsgeschichte der Künste wie des epistemologisch geleiteten Wis­ sens sind historiografisch von Bedeutung für die Selbstwahrnehmung des poetisch kons­ truierenden Subjektes, bleiben aber vom Anspruch an Geltung strikt unterschieden. Man muss sich allerdings immer gewahr bleiben, dass es sich bei einer reflektierenden Theo­ rie um eine Meta-Theorie handelt, wie sie für die ästhetische Fundierung von Kunsttheo­ rie generell typisch ist.6 Sie bezieht sich deshalb immer auch auf die anderen, mehr oder weniger implikativen Theorie-Ebenen wie: Fachtheorie, mediale Selbstkritik, kulturelle (politische, ideologische etc.) Reflexion. Spezifisch reflektierende Selbstkritik markiert demnach einen Typus philosophischer Reflexion, der von subjektiven Leistungen abhän­ gig, aber nicht durch systemische Kriterien vorstrukturiert ist. Man kann das mit diesen immer einhergehende (kunstsoziologisch triviale) naturalistische Argument mit gutem Recht umkehren, demnach der Künstler eine Figur sei, für die eine besondere, ja gar ex­ klusive Fähigkeit gegeben sei, sein Werk unabhängig von vorgesetzten Regeln zu entwi­ ckeln. Das mag man konventioneller Weise als eine naturhafte Basis betrachten, die in der kulturellen Entwicklung zunehmend zu einer meta-theoretischen Zäsur wird, näm­ lich ‚irgendwann‘ nicht mehr als naturgegeben oder naiv erscheint, sondern nur noch funktioniert durch angestrengte, d. h. transformierende Theorieleistungen. Diese Zäsur ist zweifellos in der Mitte des 20. Jahrhunderts erreicht, und zwar unabhängig davon, ob die gestalterische Praktik weiter als ‚arte povera‘ oder als ‚conceptual art‘ zu differenzie­ ren ist. Jedenfalls konstituiert sich diese philosophische Selbstreflexivität im Verbund mit autonomen, ja gar idiosynkratischen Neigungen zu einem selbstgesetzten wie fort­ gesetzten Experimentieren.

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Experimentieren – zum Ersten Experimente und Künstlertheorien beschreiben diesen spezifischen Typus von Künst­ lerfigur und auch einer Theorie, die sich implikativ entwickelt. An jeweiligen Umbruch­ stellen wird sie explikativ zugänglich, ohne abstrakt als rekonstruierendes Theorem benannt werden zu können. Es geht also für die hier gewählte designtheoretische Un­ tersuchungsanlage immer um Diskursverfahren, die über Kunsttheorie und Ästhetik hin­ausgehen. Mehr oder minder intuitiv von Künstlern entwickelt, geht es um den Aus­ tausch, der seit je in der Geschichte der Kunstakademien wesentlich war: Durchsetzung einer Semantik von ‚Kunst‘ und Anerkennung eines gewandelten Künstlerverständnis­ ses in der und durch die Gesellschaft ist das wesentliche Moment in den Anstrengun­ gen von Giorgio Vasari und Federico Zuccari, nicht das, was am Kunstwerk evidenter­ weise für diesen Wandel sprechen würde. Das gewandelte Werk, der Eigensinn der Ästhetik, die Illusionskunst eines radikalisierten Naturalismus, die Verwissenschaftli­ chung der gestalterischen Produktion im 14. und vor allem 15. Jahrhundert, all dies bil­ det ein Funktionsgeflecht, in dessen Dynamik die historische Figur des Künstlers sich als ebenso gewandelt erweisen wird, nämlich nun als Teilhabender an den ‚freien Küns­ ten‘ mit wissenschaftlichem Anspruch, wie das Kunstwerk, das eine ästhetische Autono­ mie im politischen Raum beansprucht. Zu diesem Zweck verlässt die Kunst neuzeitlich das Territorium des Sakralen und verbindet sich zunehmend mit einer Aneignung herr­ schaftspraktischer Technologien zum Zwecke der Gesamtumgestaltung des politischen Gemeinwesens im Sinne des bewaffneten Decorums.7 Dem Grundgedanken einer typenbildenden diskursiven Kunstausbildung an der Schwelle der neuzeitlichen Akademiegründungen ist der folgende Exkurs gewidmet.

Akademie: Diskurs, Kunstanspruch, soziale Reflexivität – mit und gegen die Instanz der Akademie Bereits im späten Mittelalter wurde das Modewort ‚Akademie‘ für zahlreiche Arten von Zusammenschlüssen verwendet. Mit der Umgestaltung der mittelalterlichen ‚studia ge­ neralia‘, eine Schöpfung der Humanisten, wurde das Wort ‚Akademie‘, das an Antike er­ innert, zum Synonym für ‚Universität‘. Akademie und Universität gelten mancherorts bis heute als identisch. Seit 1540 legen Vereinigungen und Gesellschaften der verschie­ densten Art Wert darauf, sich mit dem hochtönenden Titel ‚Akademie‘ zu schmücken. Im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts explodiert die Zahl der Akademien vor allem in Italien. Die direktesten Abkömmlinge der Renaissance-Akademien waren Zirkel, wel­ che sich der Kunst des Schreibens widmeten, um Langeweile zu vertreiben und dem Müßiggang zu frönen. Jede höhere philanthropische oder allgemein ästhetische Nei­ gung konnte zur Gründung einer Akademie führen. Debattierzirkel, die Inszenierung von Theaterstücken und das Abhalten von Vorlesungen an einer Universität oder auch

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­außerhalb – alles konnte als Aktivität, Bestandteil, vor allem aber als Kennzeichen einer Akademie gelten. Die Akademien zur Zeit der Renaissance waren völlig unorganisiert und regellos, diejenigen des Manierismus besaßen in der Regel komplizierte und sche­ matische Regeln. Die erste feste Satzung einer Akademie war die der Rozzi in Siena 1531. Es folgten die Floridi 1537 in Bologna, die Umidi 1540 in Florenz, die Sdegnati 1541 in Rom. 1560 eröffnete Giovanni Battista della Porta in Neapel die ‚Accademia dei Segreti‘ für die Forschung auf den Gebieten der Astronomie und der Experimentalphysik, aber auch eines imaginären Maschinenbaus.8 Es ging um unvoreingenommene Studien, die nicht durch Publizität beeinträchtigt werden sollten – deshalb die Benennung in ‚Seg­ reti‘. Die Zusammenkünfte wurden allerdings nach kurzer Zeit verboten, weil sie im Wi­ derspruch zum Geist des Tridentinum standen. Erst im etablierten Barock, also nach dem Ende der militanten Gegenreformation, standen die Chancen für wissenschaftli­ che Forschungen und Vereinigungen wieder besser. Im Atelier des Künstlers Baccio Bandinelli wurde um 1540 eine ‚Accademia‘ ge­ gründet, die sich der gebildeten Abendunterhaltung widmete. Der Zweck dieser Zusam­ menkünfte in der Werkstatt des damals berühmten, allerdings eitlen und notorisch sich selbst überschätzenden römischen und später Florentiner Bildhauers bestand darin, sich in gesellschaftlichem Rahmen mit dem Zeichnen zu beschäftigen und Diskussio­ nen über Theorie und Praxis der Kunst zu führen. Interessant daran ist, dass hier das Mo­ dell der Zusammenkunft von Amateuren und Humanisten in Zirkeln auf die bescheidene Werkstatt eines Bildhauers übertragen wurde, der davon einiges Aufhebens machte. We­ nig später wurde die Ungeregeltheit solcher Zusammenkünfte einem eigentlichen Pro­ gramm unterworfen, das seinen Platz im Rahmen einer neuen Institution hatte. Aber auch später blieben zahlreiche private Bemühungen unter dem Titel der ‚Aka­ demie‘ möglich, sofern sie nur irgendeine plausible Beziehung zu den Kunstakademien und Kunstszenen der damaligen Zeit hatten. Die Mitglieder solcher Zirkel oder ‚Akade­ mien‘ kamen zusammen, um zu zeichnen, meist nach Modellen. Besonders gepflegt wurde der menschliche Akt. Das Zeichnen, zeichnerisches Modellieren nach dem Origi­ nal und Vorbild ist seit der Renaissance das wesentlichste Ziel jeder Kunstausbildung ge­ wesen. Solche Akademien versammelten sich entweder im Atelier eines Künstlers oder im Palast eines Gönners. In diesem Fall trug der Mäzen die Kosten, die in Studioakademien gelegentlich über das Entrichten von Eintrittsgeldern verteilt wurden. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts blieb eine solche, äußerst beliebte Form von Zeichenunterricht bestehen. Die wenigen offiziellen Akademien, die existierten – die bedeutendsten waren damals in Rom, Florenz, Perugia zu Hause – änderten nichts an diesem überwiegend privaten Ver­ gnügen einer kulturell positiv encodierten Selbstbildung, die mit der Attitüde eines guten Geschmacks und der Aura gesellschaftlich anerkannter Bildung belohnt wurden. Die offiziellen Akademien wurden langsam zu eigentlichen berufsorientierenden Zentren höherer, zeitgemäßer Ausbildung. Gerade wegen der absolutistisch kontrollier­ ten Ästhetik und angesichts der autoritären kunstpolitischen Regulierungen, wie sie für das 18. Jahrhundert typisch waren, müssen die Akademien als klare – wenn auch von Land zu Land unterschiedlich funktionierende – Selektionsinstrumente einer äußerst

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genau beobachteten Künstlerqualifikation angesehen werden – und damit auch als we­ sentliche Faktoren auf dem Weg zu Ruhm und Auftrag. Die Lage der Künste und des Handwerks kann man dann mit Blick auf den Vorabend der französischen Revolution wie folgt charakterisieren: „Die Akademien halfen dem Künstler, einen lange ersehn­ ten gesellschaftlichen Rang zu erlangen, und ermöglichten es dem Handwerker, sich gewisse Kenntnisse des klassischen Geschmacks anzueignen, der ihm so fern lag und doch überall verlangt wurde.“9 Später, im Zeichen des ‚Pankreationismus‘ und einer Idolatrie künstlerischer Welterfindung und permanenter Innovation,10 wurde die Abneigung ritualisiert, ergab sich als neuer, ebenfalls typenprägender Habitus die Verachtung der Akademie, der Schulung und überhaupt jeder ‚akademischen Haltung‘ oder Prägung, vor allem der­ jenigen, die als Stilistik naturalistischer Technik und allegorisierender Mystifikationen historisch penetrant, aber auch entschieden obsolet geworden war. Die Abneigung oder der Hass gegen die Akademien begleitet diese, allerdings mit wechselnden Argumenten, von Anbeginn an. Vital wird die Ablehnung im Zeitalter des Klassizismus und natürlich besonders von romantischer Seite. William Blake und Francisco de Goya lassen heftig und in tiefster Überzeugung nur gelten, was der eige­ nen Imagination entspringt und entspricht, den eigenen Werten zu genügen vermag. Akademien gelten ihnen als Zuchtstätten einer Dogmatik, die nichts weniger als kunst­ feindlich sei. Goya ist wie Blake der Überzeugung, dass der einzelne Künstler sich selbst Regeln gibt und es nicht Aufgabe der Malerei als solcher sein könne, Regeln zu bean­ spruchen, zu begründen oder gar zu lehren – man ziehe hierzu in Betracht den berühm­ ten Brief Goyas vom 14. Oktober 1792 an die Akademie der schönen Künste zu Madrid.11 Jeder Zwang wirke sich kontraproduktiv auf die Jungen aus. Goethe notiert in seiner Ab­ handlung Von deutscher Baukunst lapidar, Schule und Prinzip fesselten alle Kraft der Er­ kenntnis und Tätigkeit.12 Blake notiert in einer Glosse zum ästhetischen Kanon (vorge­ legt als ‚Discourse‘) des damaligen Akademiepräsidenten, des Malers Joshua Reynolds, Geschmack und Genie seien nicht lehrbar. Zahlreiche weitere, ähnlich lautende Zitate und Stimmen lassen sich ohne Weiteres beibringen – von Thomas Carlyle, John Ruskin, Eugène Viollet-le-Duc, Samuel Butler, William Morris und weiteren. Fazit: Man hat vor­ neuzeitlich und auch später unter ‚Akademie‘ sehr Unterschiedliches verstanden.

Idee, Linie, Entwurf, ‚disegno‘ Geht man auf die systemische Formulierung der emanzipativen Interessen der Künste in der frühen Neuzeit zurück, dann zeigt sich eine Einheit zwischen praktischen Theorien und theoretisch grundierten Praktiken in der Handhabung, den ‚maniere‘ der Künste. Es erweist sich darin auch, dass Theorien wie Praktiken, freie wie angewandte Ausbil­ dungen und Reflexionen in der Kunst des Entwerfens, im konzeptuellen und zugleich poetologischen Begriff des ‚disegno‘ ihren Existenzgrund haben, ihre ­Berechtigung und

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zugleich ihre Leistungskraft finden.13 Giorgio Vasari beschrieb die Einheit der Kunst des Entwerfens als magische Technik der Handhabung der kreierenden Linie und konzen­ trierten Imagination. Er erblickte den schöpferischen Geist künstlerischer Erfindung gänzlich in dieser am Werk. Vasari resümiert zur emphatisch akzentuierten Magie der Linie als Kern jedes ‚disegno‘: „Die Zeichnung (disegno), der Vater unserer drei Künste Architektur, Bildhauerei und Malerei, geht aus dem Intellekt hervor und schöpft aus vie­ len Dingen ein allgemeines Urteil, gleich einer Form oder Idee aller Dinge der Natur, die in ihren Maßen überaus regelmäßig ist. So kommt es, dass die Zeichnung nicht nur in den menschlichen und tierischen Körpern, sondern auch in den Pflanzen, Gebäuden, Skulpturen und Gemälden das Maßverhältnis des Ganzen in Bezug auf die Teile und das Maßverhältnis der Teile untereinander und zum Ganzen erkennt. Und da aus dieser Er­ kenntnis eine bestimmte Vorstellung (concetto) entspringt und ein Urteil, das im Geiste die später mit der Hand gestaltete und dann Zeichnung genannte Sache formt, so darf man schließen, dass diese Zeichnung nichts anderes sei als eine anschauliche Gestal­ tung und Klarlegung der Vorstellung, die man im Sinne hat, und von dem, was ein ande­ rer sich im Geiste vorstellt und in der Idee hervorgebracht hat.“14 Auch der zweite Pionier der Umwandlung der alten Gilden und Zünfte in moderne Kunstakademien, die sich ganz der theoretischen Reflexion in Einheit mit der Technik der kreierenden Linie, dem Konzept des kreativen ‚disegno‘ verschrieb,15 Federico Zuc­ cari, entwickelte eine ausgefeilte Pädagogik der Formung künstlerischer Fähigkeiten, die Fantasie, Imagination, als ‚inneres disegno‘ mit der Bewältigung der Materialität der Medien, Plan, Skizze, Zeichnung, Entwurf, ‚bozzetto‘ verband. In seiner Abhandlung von 1607 „Idea dei Pittori, Scultori ed Architetti“ erläuterte Zuccari ausführlich diese Theo­ rie des ‚disegno‘ mit folgenden Unterteilungen: disegno primo/interno/itelletivo; di­ segno secundo/esterno/pratica; das ‚disegno esterno‘ ist unterteilt in: disegno naturale, disegno artificiale, disegno fantastico-artificiale. Dabei geht es eben keineswegs um eine reine Technik oder gar selbstgenügsame Praktik. Das Ganze ist zu verstehen als ein Na­ tur und Kunst kohärent verbindender, ein mimetisch steuernder Schaffensprozess zum Zwecke der Herausbildung einer Zusammenbindung.16 Das geschieht mit diversen Ex­ perimenten und in stetiger Weiterentwicklung zahlreicher Ebenen theoretischer Anlei­ tung und Reflexion – vom Fachwissen der handwerklichen Produktion über technische Innovation bis hin zu konzeptuellen und strategischen Erneuerungen der Kunstbehaup­ tung im gewandelten öffentlichen Raum. Spätestens Letzteres markiert (und benötigt zu­ gleich) eine Theorie der medial radikalisierten Selbstkritik und -reflexion, die immer auf der Ebene der Verbindungen, also einer zweiten oder Meta-Ordnung angesiedelt ist.

Experiment – zum Zweiten Implizite Theorie, Fachwissen, prozessuale, während eines Experimentierens, also ­einer erweiterten Praktik gewonnene Einsichten und Theorie als Praktik entfalten

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­ iverse Reflexionstypen. Dabei muss der Begriff des Experimentierens nicht mys­ d tifiziert, sondern kann technisch betrachtet werden als Selbstmodifikation einer Versuchsanordnung, in welcher es um Theorieentfaltung geht, welche aus der An­ passung einer Praktik zwingend hervorgeht17. Das sei kurz erläutert: Im verallgemei­ nerten Sinne beschreibt das Experiment einen Typ von Verhalten oder Aktion in ky­ bernetischen Systemen. Ein Experiment schließt in jedem Falle einen Eingriff in die Wirklichkeit ein (einmalig, stochastisch oder gesetzmäßig). Für Experimente in der klassischen Physik ist charakteristisch, dass bei Wiederholung unter gleichen Bedin­ gungen und identischen Ausgangszuständen auch identische Ergebnisse erzielt wer­ den. Abweichungen von einem Mittelwert sind zulässig in ausgedehnten Serien, wenn damit Einsichten in die Genauigkeit der Reproduktionsbedingungen des Experimen­ tes gewonnen werden können. Bekanntlich kann sich dies durch Beanspruchung sta­ tistischer Gesetze ändern, sodass bei Abweichung der Messdaten kein solcher Rück­ schluss auf die Solidität der Reproduktionsbedingungen vorgenommen werden kann. Und, wie ebenfalls bekannt, kommt in der Quantenmechanik dem Objekt kein von den experimentellen Bedingungen (der Untersuchung) unabhängiger Status mehr zu. Beobachtung und Definition einer Größe gehen ineinander über und bedingen sich komplementär. Die Geltung von Experimenten wird sichergestellt durch das Erfüllen bestimmter Kriterien: Kontrolle der Versuchsbedingungen, Reproduzierbarkeit des Experimentes, tatsächliche Überprüfung durch Wiederholung. Phänomene, die nur ein einziges Mal auftreten, gehören im strengen Sinne nicht, ja: niemals und auf keinen Fall, zu den Wis­ senschaften. Also können auch die Epiphanien oder Idiosynkrasien der Kunst nichts beanspruchen außer ihrem entschiedenen Willen zum Singulären – es gibt schlechter­ dings keine Objektivität für sie.18 Summarisch lässt sich sagen, dass Theorie und Expe­ riment nicht in einem Gegensatz stehen. Experimente bedürfen der Theorie und bil­ den deren unverzichtbare Ergänzung. Experimente, hinter denen keine theoretische Bemühung steht, sind inhaltsleer.19 Der Prozess der Klärung ist vorrangig immer noch außerwissenschaftlich, kommunikativ konsensuell: ausschlaggebend wirkt die Evolu­ tion der ‚scientific community‘ oder irgendeiner anderen kollektiven, auf überindividu­ elle Klärung von Ansprüchen und Aussagen ausgerichteter Instanz. Die wissenschaftli­ chen Diskussionen entscheiden über die Anerkennung der Hypothesen, eventuell auch nur einzelner aus einem Gewirr oder Geflecht von Annahmen und Entwürfen. Kritischer Austausch und Prüfung der Behauptungen unterliegen in allen Momenten und Pha­ sen dem Prozess des kritischen Rationalismus, welcher die Erkenntnisansprüche vali­ diert im Sinne unvermeidlicher Vorläufigkeit. Sicherheit ist niemals zu gewinnen oder zu ­erreichen. Deshalb geht es in der Designtheorie nie um reine Epistemologie, sondern immer auch um die Kontexte je aktualisierender Designtheorie/n von Zuccari über Wedge­ wood bis in die Gegenwart und ihre aktuellen Revokationen und Situierungen von De­ signtheorie in Gestalt von: Spektakel, Ästhetisierung, kritischer Theorie.20

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Sensus communis. Begriffe und Konzepte von Lebenswelt und Intersubjektivität Da Kunsttheorien und theoretische Einbindungen künstlerischer Experimente und Praktiken in besonderem Ausmaß auf die intersubjektive Einbindung und Vermittlung epistemischer Prozesse, von Einsichten, Hypothesenbildungen, Vermutungen u. d. m. angewiesen sind, markieren sie einen besonders zugespitzten Problemtypus bezüglich der Frage, wie denn überhaupt eine soziokulturelle Sphäre, eine symbolisch unter Iden­ titätsaspekten zusammenfassbare Epoche, eine typisierende Mentalität etc. zu einem Konzept intersubjektiv geteilter Epistemologie, einem Bestand von als gesichert, dem­ nach unverbrüchlich ‚rational‘ (oder mythologisch ‚wahr‘) geltenden Erkenntnissen kommt. Für die traditionelle westeuropäische Konzeption der Ästhetik besteht das episte­ mische Problem gerade nicht in der Wertung der Werke der Kunst (das überlässt man stets, auch besser, einer funktionsfähigen Kunstgeschichte), sondern in der Leistungs­ fähigkeit des Geschmacksurteils als eines allgemeinen. Begründbar ist es im individuel­ len Gefüge der Erkenntnisleistungen, aber als eine allen Menschen zugängliche Quali­ tät geht dieses gerade nicht aus der individuellen Verfasstheit hervor, sondern folgt der Vermutung, dass nichts anderes übrig bleibt als eine allgemeine Urteilsfähigkeit anzu­ nehmen. Das ist gerade im Falle ästhetischer Gegenstände oder Erkenntnisformen ein Problem, weil dieses Urteil weder apriorisch-normativ-kategorial noch induktiv-sensu­ ell sein kann. Es vollzieht sich Kraft eines Allgemein- oder Gemeinsinns, der kontra-nor­ mativ ist, aber dennoch unbedingt eine allgemeine Anwendbarkeit von Empfind(ung)en auf einer kategorialen Ebene postuliert. Das allgemeine Geschmacksurteil als besonde­ rer Anwendungsfall der ästhetischen oder reflektierenden Urteilskraft stellt einen spezi­ ellen Fall all derjenigen Urteilsformen dar, die von einem Einzelnen auf ein Allgemeines schließen lassen, ohne dass eine verstandesmäßige Deduktion oder eine allgemeine, empirisch motivierte Form vorliegt. Das allgemeine Geschmacksurteil ist demnach, so Kant in seiner klassischen Argumentation, nicht Anwendung eines Regelsystems, son­ dern eine Vitalkraft, eine Gabekraft Natur, eine Naturanlage der ‚höheren Art‘ also. Ein Urteil, das sich nur im subjektiven Gefühl des Einzelnen zeigt, wird mit dieser singulä­ ren Argumentation deshalb allgemein, weil der Mechanismus in allen Einzelnen je ein­ zeln zwingend erlebbar und auch tatsächlich erlebt wird. Was aber macht die Qualität des Austausches zwischen diesen singulär empfin­ denden einzelnen Subjekten aus? Die Allgemeingültigkeit, die sich durch die einzelne Subjektivität hindurch realisiert, ist nicht von stofflicher oder argumentativer Allge­ meinheit. Sie bleibt durch und durch Empfindung, also spezifisch, also auch borniert, egozentrisch. Was den Übergang vom einen zum anderen Subjekt möglich macht, ist nicht eine verallgemeinerbare Erfahrung oder ein allgemeines Urteil, sondern eine be­ sondere Mitteilbarkeit dessen oder über das, was im Evidenzerleben des Gemeinsinns empirisch unabweisbar gegeben ist und erlebt wird. Das ästhetische Urteil, das An­ spruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, obwohl es kein epistemisches Urteil ist, wird

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e­ ines, nämlich Urteil, durch Mittelbarkeit. Das ist eine Argumentationslinie, die sich auf dem Hintergrund von Kants Theorie-Architektur und seiner spezifischen Problema­ tik, nämlich der von Einzelnen auf ein Allgemeingültiges reflektierenden Verbindung von theoretischer und praktischer Vernunft, in der Philosophie des Gemeinsinns, der Intersubjektivität und der allgemeinen Epistemologie des Urteilens durchhält – von Ed­ mund Husserl über Rudolf Carnap bis zu Donald Davidson.21 Es sind die Bedingungen der in sich kommunikativ differenziell und systemisch vermittelten Gemeinschaft, in welcher die Urteile zum Geschmack sich verfestigen und ausbilden.22 Man könnte auch sagen: ‚Geschmack‘ ist der Name für eine systemisch aufgelöste Kommunikation des Kommunikationslosen in einer Konstruktion, die wiederum nur dann notwendig ist, wenn sie Ausdruck eines Bedarfs an ‚Habitus‘ ist, nämlich ein äs­ thetisches Kommentieren über ästhetische Objekte und Phänomene erzwingt. Es ergibt sich hier eine doppelte Ebene: die Erörterung von Phänomenen und die Beanspruchung von Kategorien. Die Verbindung beider Ebenen ist immer eine metatheoretische Unternehmung. Diese Metatheorie ist Kern der ästhetischen Theorie des empfindenden Urteilens. Also nicht Theorie, sondern Meta-Theorie macht aus, was Theorie im Bereich der Künste ist, zu denen hier, im Zeichen des schon erwähnten und auch teilweise beschriebenen Entwerfens, aber auch eines allgemeinen Formbegriffs, das Design gezählt wird – der Einfachheit halber und weil die Synthese von sogenannten ‚freien‘ und sogenannten ‚angewandten‘ Künsten eine empirische Tatsache, vor allem aber auch Ausdruck eines wohlverstandenen theoretischen Postulates ist. Dabei bedarf es aus heutiger Sicht nicht mehr der Behauptung einer reinen ästhetischen Urteilsform, die sich mit der subjektiven Allgemeingültigkeit Kraft Natur rechtfertigen kann. Viel­ mehr reicht die Zuspitzung, dass ästhetisches Urteilen meta-theoretische Selbstkritik der Zuschreibungen von Werturteilen und Qualitätszuschreibungen zu sein hat.23 Diese Explikation reflektiert auf die Bedingungen von systemischer Autonomie und systemischer Funktionalität einerseits – mitsamt allen Verschränkungen dazwi­ schen –, Kriterien des Wohlgefallens, der Gelungenheit einer künstlerischen Form und ihrer kommunikativen Vermittlung im System der Kommunikation über Kunst, ihre Grenzen und Kontexte andererseits. Die Artifizialität von durch Künsten geschaffenen Kontexten bedürfen keineswegs der kommunikativen, vorab artikulierten Festsetzung. Es wäre ein Missverständnis und ein Fehler, meinte man mit der systemischen Kom­ munizierbarkeit des ‚sensus communis‘ die Aufgabe, dass Kunsterzeugnisse sich erst dann produktiv entfalten, wenn sie in ästhetischer Extrapolation kommuniziert werden. Kommunikative, also erläuternde Vermittlung ist Kennzeichen allen Redens über jewei­ lige subsystemische Gegebenheiten. Das ist für Kunst nicht spezifisch. Für Künste und für Designleistungen spezifisch sind dagegen poetisch gewonnene Erzeugnisse, durch welche sich in evidenter Weise die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils differen­ ziell, als Leistung wie als Problem, erfahren lässt. Ohne solchen Anstoß durch – psychologisch gesprochen: stark motivierte – Evidenz-­ Suggestionen und die Herausbildung artifizieller Kontexte durch Werke wäre das Kom­ munizieren gerade kein Beleg des ästhetischen Gemeinsinns, sondern pädagogisch-

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diskursive Erläuterung der Gegebenheiten durch Fachleute für Laien.24 Aber just so funktioniert der Gemeinsinn nicht. Denn er ist singuläre Gegebenheit und allgemeine, ‚quasi-natürliche‘ Erfahrung. Dass Gefühlsstimmungen dabei ‚mitlaufen‘, ist ebenso selbstverständlich wie unspezifisch und demnach in nicht-spezifischer Weise bedeu­ tungslos, da universal gegeben und niemals spezifisch bedeutend. Betrachten wir das Problem nochmals, angemessen kurz, im Lichte einer der stärksten – oder auch: ‚gewaltigsten‘ – wissenschaftlichen Illusionen des 20. Jahrhun­ derts, Rudolf Carnaps Insistenz auf einer idealen Sprache als einer Architektur von The­ orie, die deshalb Ansprüche auf angemessene objektive Epistemologie entwickeln kann, weil sie angeblich dem ‚Bau der Welt‘ in idealer Weise entspricht. Auf dieser Kontrastfo­ lie lässt sich in der Folge die Eigenheit einer Theorie durch Theoriemangel klarer kon­ turieren. Das gilt besonders für den ästhetischen Eigensinn und die Eigenart des Äs­ thetischen im Sinne einer empirisch singulären, universal anspruchsvollen Form, die keinerlei idealtypischen Reinigung ihrer Aussagen bedarf, sondern, umgekehrt, stark auf Kontamination angewiesen und ausgerichtet ist. Nicht aber, wie noch zu begründen sein wird, auf Paradoxie.

Eine Erörterung zu Rudolf Carnap – vom logischen Aufbau der Welt zur Kommunikation ästhetischer Inkommensurabilität In Der logische Aufbau der Welt setzt Carnap25 alles daran, Erkenntnisse auf die Basis ei­ ner gereinigten Idealsprache zu stellen und definitorische Klarheit, Ein-Eindeutigkeit, für alles zu gewinnen, was mit Erkenntnisbildung verbunden ist. Also eine strikt kon­ trollierte Sprache, ein perfekt ausgebildetes Symbolsystem für das, was auf wissen­ schaftlichem Wissen beruhen und jederzeit in der Lage sein muss, auf es zurückgeführt zu werden. Darin erschöpft sich aber das Vorhaben keineswegs, wie so oft mit Verweis auf den Ausdruck ‚Idealsprache‘ unterstellt wird. Carnap lässt viele Weisen und Wege der Wissensbildung in allen möglichen Bereichen zu. Es geht ihm im Kern um ein phi­ losophisches Problem, das von Aristoteles über René Descartes bis zu Ludwig Wittgen­ stein die entscheidende philosophische Erkenntnishandlung als Erörterung der Be­ gründungen für kategoriale Systeme ausgebildet hat. Diese Begründungen sind ‚clare et distincte‘, klar und deutlich, durchzuführen. Sie stellen die Hauptaufgabe einer wahr­ heitsfähigen philosophischen Argumentation dar. Das erkenntnistheoretische Problem einer deutlichen Definition fällt nicht in die Domäne der Sprache. Auch besteht es kei­ neswegs nur in einer angemessenen Beherrschung der in ihr zu benutzenden Ausdrü­ cke. Die Definitionen markieren nämlich nicht nur eine Ordnung der Welt als Welt der Erfahrungen, sondern legen sie fest, konstruieren sie.26 Das Problem der Definitionen, wie wir zu angemessenen Begriffen und nicht nur zur Hypothese ihrer Objektivität kommen, führt unweigerlich in die Sortierung der Wege und Weisen der Wissenserzeugung und -begründung in den verschiedenen

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­ eldern und Domänen der Einbildungskräfte. Welchen Zusammenhängen eignet eine F Empirie, die als Erfahrungswissen ausreicht, welche Bereiche bedürfen einer universa­ listischen und nominalistischen oder nominellen Festlegung? – Das ist die zunächst orientierende Frage. Die Definitionen sind nämlich immer mit Kontrollmethoden der Anwendung von wissenschaftstheoretisch generalisierbaren Verfahren verbunden. Im Gebiet der Mathematik beispielsweise besteht die Kontrolle in der Anwendung logi­ scher Verfahren, in den empirischen Wissenschaften dagegen in einer Überprüfung der gemachten Beobachtungen und Experimente. Formallogische Kriterien sind niemals hinreichend für die Feststellung des Wahr­ heitswertes von Aussagen. Aus philosophischen Wirklichkeitsbehauptungen oder uni­ versalen ‚Wahrheitswerten‘ lassen sich keine Voraussagen für die Zukunft ableiten, so­ dass auch empirische Kriterien halt- und gegenstandslos werden. Man kann generell sagen, dass der Wert der philosophischen Wahrheitsbehauptung nicht in der ontolo­ gischen Erhärtung von Existenzaussagen liegt, sondern in der durch skeptische Erfah­ rung motivierten Selbstbescheidung eines höchst spekulativen Tuns. In der Philosophie kann nämlich – mit guten Gründen – nicht zwischen Fantasievorstellungen und echten Erkenntnissen – prinzipiell und hinreichend – unterschieden werden.27 Die entschei­ dende epistemologische Frage ist, ob den in Definitionen verwendeten Kategorien noch eine universale substanzielle Bedeutung zukommt. Wenn alles aus der Erfahrung her­ rührt, dann müsste die seit den Tagen von Hume und Locke unbefriedigende Definiti­ onsarbeit des Sensualismus endlich entscheidend verbessert werden können. Schon Leibniz hatte gegen einen solchen und jeden Sensualismus eingewandt, dass gewiss alles aus der Sinnlichkeit komme – nur das Denken und der Verstand nicht. Der skeptische Einwand gegen die Tatsache, dass Philosophie für ihre Spekulationen keine epistemologisch stichhaltige Erhärtung beizubringen vermöge, hat eine lange Tradition, die man mit den Stichworten ‚Agnostizismus‘, ‚Relativismus‘ oder auch ‚So­ phismus‘ kennzeichnet. Aber erst der moderne Empirismus, so der bedeutende Wissen­ schaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller, leugne nicht nur wie die bisherigen Einwände die objektive Kontrollierbarkeit der metaphysischen Aussagen, sondern kritisiere be­ reits die metaphysischen Begriffe und die von metaphysischen Positionen verwendeten Namen und Prädikate. Auch Rudolf Carnap ist ein Exponent der Auffassung, dass diese Positionen die üblicherweise gebotene intersubjektiv wirksame Bedeutung solcher Aus­ drücke in hinreichender Klarheit anzugeben vermöchten. Das Postulat des modernen Empirismus kann demnach so formuliert werden: Wenn nicht formale Begriffe der Logik und Mathematik verwendet werden, müssen die in den Wissenschaften verwendeten Begriff empirische Begriffe sein. Was nicht logisch begründbar ist, kann einen analogen Anspruch nur haben, wenn es sich erfahrungsmä­ ßig bewährt. In diesem Falle sind logische Begründungen verzichtbar. Das Problem der hier verhandelten Substitution von idealer und Alltagssprache kann plastisch mit einer Passage aus dem postum erschienenen Roman Die nabellose Welt des Literaturwissenschaftlers, Komparatisten und Romanisten Werner Krauss ex­ poniert werden. Es geht dabei um die Schilderung der Sprache einer exterrestrischen

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Kultur, die von den Bewohnern des Sternes Hasdrubal gesprochen wird, zwecks Unter­ scheidung von der menschlichen Sprache, um deren Eigenheiten es in unserem Zusam­ menhang geht.: „Hasdrubalianisch war […] eine durch und durch grammatikalisierte Sprache. Die ganze Reihe der reproduzierbaren Laute stand im Dienst einer bis ins letzte durchgearbeiteten Syntax. Offenbar war es möglich, in dieser Sprache die feinsten Un­ tertöne des Gedankens zu notieren. Das System der Modi war besonders reich entwi­ ckelt. Durch dreimaliges scharfes Räuspern wurden Imperativsätze angespitzt. Das aus vollem Hals hervorgestoßene Keuchen und Ächzen diente der Verneinung der nachfol­ genden Wort- und Satzgebilde. […] Diese Sprache war in scharfen und unverwischbaren Konturen gegen den ganzen Bereich des außer-sprachlichen Daseins abgegrenzt – im krassen Gegensatz zur Menschensprache, die ihr geöffnetes System in unwägbare Ge­ bärden bis zur Ankündigung des Vomitierens und anderer physischer Prozesse fortsetzt. Während die Menschheitssprache sich in den letzten Jahrtausenden immer mehr ver­ kürzte und zusammendrängte zu einem bloßen System von Anzeigen und Hinweisen, zur bloßen Instrumentierung von sachlich relevanten Situationen, verlief die Sprachbe­ wegung der Hasdrubalianer in einem geistigen Raum, in dem die Gegenständlichkeit vollkommen reproduziert werden konnte. Diese Sprache bedurfte keiner Anlehnung an die besprochene Sachwelt. Im Gegensatz wiederum zur Menschensprache, die niemand richtig verstehen und erlernen kann, der an der menschlichen Praxis keinen Anteil be­ sitzt.“28 Offensichtlich, wie sich noch deutlicher zeigen wird, ist Rudolf Carnap als ein Hasdrubalianer anzusehen: Als ein Fortschreiten auf der Stufenleiter des Fortschritts nach oben haben er und seine Gesinnungsgenossen die Entwicklung einer formalisier­ ten Sprache in genau diesem Sinne sich immer vorgestellt. Rudolf Carnap gehörte also zu denjenigen Vertretern des modernen Empiris­ mus, die der Auffassung waren, dass aus diesen Gründen die Sprache des Alltags durch formalisierte Sprachsysteme zu ersetzen sei. Die Alltagssprache sei hoffnungslos mit nichttrivialen Vagheiten, Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen dergestalt durchsetzt, dass logische und wissenschaftstheoretische Untersuchungen sowie definitorische Klärun­ gen nicht an die gewöhnliche Sprache anknüpfen könnten, sondern nur an formalisier­ bare Sprachen. Diese Auffassung kann ein Künstler oder Designer, der in vielfältiger Weise auf seine Praktiken und Theoreme reflektiert, nicht teilen, auch und gerade für die philo­ sophischen Möglichkeiten der Künste (wiederum: unter Einschluss von Design) nicht. So wie die Empiristen die Notwendigkeit einer klaren Trennung von Wissenschaft auf der einen, Kunst und Religion auf der anderen Seite für unverzichtbar hielten, so ist für Künste ein Verfahren typisch, das nicht an ableitbaren Aussagen zu messen ist. An die Stelle einer ‚Privatheit‘ der metaphysischen Erlebnisse hat zu treten ein Ensemble von poetisch kommunizierenden Praktiken. Sie zeigen sich in Gestalt einer Irritation am Neuen, betreffen die Intuitivität des Erstaunens, lassen aufscheinen artifizielle Kon­ texte, deren Verstehen nicht auf Konventionalisierbarkeit beruhen. Die idealsprachliche Mystifikation von Wahrheit wird in ihrem eigenen System ­paradox und erweist sich als verunreinigt durch Alltagskultur. Das belegt das Scheitern

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der Carnap’schen Idealutopie. Da Künste (und Design) eine intime Nähe zur Lebenswelt, zu Alltäglichkeit und diversen undeutlichen oder verunreinigten ‚Weisen des Sprechens‘ haben, erweisen sie sich als wesentliche Agenten einer meta-theoretischen Einsicht in den bestimmenden Mechanismus gestalterisch-spekulativer Theoriebildung: der Kons­ truktion einer Theorie aus Theoriemangel, die ihren Bedarf an eigenem Tun oder eben den Mangel an Auflösung weiterhin perpetuiert. Theorie in Design und Kunst ist also stets abhängig von der Figur eines Mangels, der strukturell – und auch strukturalistisch – betrachtet werden kann. Deshalb bezieht jede Designtheorie immer Anleihen aus anderen Gebieten ein: Hermeneutik, Systemtheorie, kritische Theorie, Konstruktivismus, Semiotik, aber auch Philosophie generell. Weiter wäre insbesondere ihre Transformation in Psychoanalyse und Meta-Psychologie als eine Möglichkeit zu prüfen.29 Aber wie auch immer man die Sachlage betrachtet, die solche ReIntegrationen systemischer Umgebungen – hier: externer Theoriemodelle von Hermeneu­ tik bis Meta-Psychologie – in ein internes Modell und seine Struktur betrachtet: Die zen­ trale Eigenheit einer avancierten Theorie der Künste inklusive des Design besteht in der Reflexion auf den spezifischen Mangel, den solche Theorie nicht nur als ihre Grundlage hat, sondern den sie gerade dann stetig und weiterhin erzeugt, wenn sie gelingt. Das ist eine Typik und Eigenheit dieser Sphäre: Gelingende Theorie vollzieht sich durch Mangel und radikalisiert diesen, setzt ihn in je anderer Weise und weiterhin frei. Man sollte das nicht vorschnell in die eingeschliffene Mechanik der Paradoxien (zu­ rück-)übersetzen, um sie nach und nach zur entfalteten Inszenierung ihrer widerstrei­ tenden und widerstrebenden Momente zu bewegen, sondern sollte sie intrinsisch be­ wahren als dieses Paradoxe am Paradoxen selbst – ohne Synthesen, Auflösungen und Beruhigungen durch inszenierte Erschöpfung der Antriebsdynamik. Der nachfolgende Exkurs zum Topos einer Theorie aus und durch Theoriemangel weitet die Argumenta­ tion in einer essayistischen Weise aus, um die Epistemologie der reflexiven Kritik durch die spekulativen Erfahrungen eines ‚kontaminierten Sprechens und Wissens‘ zu ergän­ zen. Dabei ist hier, immer im Verweis auf unauflösliche Einheit, vorrangig von ‚Design‘ die Rede. Stets sind hier aber auch die ‚anderen‘ ‚Künste‘ mitgemeint. Mit der Selbst­ wahrnehmung eines solchen Sprechens verbunden ist das Zugeständnis der konstitu­ tiven Rolle des Fiktionalen für den Prozess eines poetischen Entwerfens und damit ei­ nes konstruierenden praktischen Verstehens, das mit seiner radikalisierten Skepsis das Erbe der Utopie antritt – an deren genuinem Platz und ohne diese zu verraten (wobei die abstrakte Feier des Utopischen ebenfalls schon ein Verrat an der Utopie wäre).

Einige Aspekte zu ‚Theorie durch Theoriemangel‘ – am Beispiel des Designs und seiner möglichen Theorie Gelingendes Design erscheint oft als Gegensatz, gar als Aufhebung des Reflektierens. Das, was gemeinhin ‚stimmig‘ heißt, erfüllt vordergründig und wie selbstverständlich

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die Kriterien, die dem prozedierenden Modell erst Schritt für Schritt und in stetiger Prü­ fung seiner eigenen Ausdruckslogik zu entspringen hätten. Das Singuläre versteht sich, verzaubert im Gelingen, fixiert auf sein Versprechen, gerne als Modell, das seine Dichte über Exklusionen behauptet. Der Diskurs des Designs ist immer ein Traum vom Singulären, vom befreienden, evidenten Meisterwerk gewesen – und sei es eines für die Massen. Die Seltenheit dieses alle theoretischen Vorgaben einlösenden singulären Momentes kompensiert der Dis­ kurs mit den Ritualen einer Pädagogik des Mittelmaßes, zu dessen geistiger Bewälti­ gung man einen ‚double-bind‘ einbaut. Zulässig ist das Mittelmäßige nur als transitori­ scher Zustand, als ein vorläufig nicht zu überbietender Höhe- oder Endpunkt. Von unten betrachtet: eine stetige Verbesserung durch ständige Annäherung ans Ziel. Von oben betrachtet: ein Normkonflikt, weil der Theoriediskurs des Design sich imprägniert hat ­gegen das Verwerfliche des ‚nur‘ Schönen, den Reiz des Gefälligen, das Dekor der Ober­ fläche, die Halbheiten des schmeichelnden Nicht-Unbedingten. Aus dieser Sicht kann nur die Einlösung optimaler Werte als Gegenstand von Designtheorie generell gelten. Nun ist allerdings oft bloß historisch bedingte Schönheit entstanden, wo es um die Unbedingtheit des Wahren zunächst zu tun war. Wie kommt das? Immer wieder stößt der Traum von einer geordneten Welt an eine Divergenz von Moral und Technik, die den Traum erst in Gang bringt. Der Gestaltertraum z. B. von der unbedingten Wahr­ heit der Funktionen, die als unverfälscht geronnene Formen erscheinen, um dauerhaft und unbeirrt von dieser Wahrheit zu künden, verdankt sich dem Gefühl des Ungenü­ gens, das die technischen Mittel wegen ihrer Abspaltung von einer Moralität an sich ha­ ben, welche die Welt als komplex, undurchschaubar, kontingent versteht. Der Verdacht, dass das Reale und seine symbolische Durchdringung weniger miteinander zu tun ha­ ben, als die Vision einer technisch-moralisch kontrollierten Welt verspricht, dieser Ver­ dacht wendet sich deshalb mit Vehemenz gegen vermeintliche Defizite, zuletzt und ins­ gesamt gegen das Ungenügen der Welt im Hinblick auf die höheren Funktionen einer geläuterten Moral. Denn nur so scheint er dem unerbittlichen Zwang zur Zustimmung zu einer chaotischen und unbändigbaren, unterstrukturierten und insignifikanten Welt entgehen zu können: als stetige Überbietung seiner selbst im Namen des Unbedingten. Diese Evidenzbehauptung verwandelt das noch in der Euphorie zuletzt technikskepti­ sche Selbsterfahrungspotenzial des planenden Menschen in eine Waffe des moralisch aufgerüsteten Subjekts. Die Kluft schließt sich wieder, indem Moral aus solcher Sicht, die oft die Autorität des Lehrers reklamiert, zu einer Bewährprobe des Technischen ge­ macht wird. Jede Auslegung von Gedanken bedingt ihre Vergegenständlichung. Die gestalteri­ sche Reflexion beginnt bei der Beobachtung der genuin eigenen Formmuster. Undenk­ bar, dass eine ausdrückliche Vorstellung nicht theoretische Implikationen hätte. Theo­ rie ist deshalb ein Name für die Beförderung der Wahrnehmung der eigenen Stilismen und Tricks, jener Angewöhnung von Überzeugungen, die gerade wegen der Fixierung auf das Singuläre nichts wiedergeben als bildtechnisch aufgerüstete moralische Über­ zeugungen mit selbstmissionierendem Effekt.

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Theoretische Erkundungen im Feld der Künste sind, entgegen dem wohl unüber­ windbaren historischen Missverständnis, keine apriorischen Philosophien, sondern entwickeln sich aus relativ pragmatischen Bearbeitungen praktisch erfahrener Stolper­ steine. Das folgt einem Konzept von Theorie, das um die Komplexität des vermeintlich Nebensächlichen und die Einfachheit der großen, übergreifenden Konzepte weiß, die deshalb so einfach sind, weil in ihnen die Welt als das definiert wird, was sie dem Kon­ zept gemäß zu sein hat. Wohlgemerkt: Das ist kein Plädoyer für methodologische Pragmatik oder gar das sogenannt Konkrete, das sich ja meistens als das vom Abstrakten Diktierte, als vom an­ deren Losgelöste herausstellt. Gestalterische Theorien bedingen die Durcharbeitung der Vermittlungsformen, in denen jedes Design überhaupt erst zu dem wird, was es ver­ spricht, leisten zu können – wenn man es lässt. Dieser Zugriff ist dezidiert durch die kognitive Schematisierung erzwungen, welche ‚Praxis‘ heißt. Im Unterschied zu einer Theorie, die moralische Ideologie meint, selbstbeweisende Geste subjektiver Weltverfü­ gung, zwingt sich diese Theorie der Wahrnehmung der eigenen Praxis auf. Deshalb be­ ginnt gestalterische Theorie immer wieder am Nullpunkt: Der erfahrene Theoriemangel ist das bewegende Moment der Theorie, die Nuancierung und Momentanisierung eines ­Vakuums, das sich der Theorie einschreibt. Designtheorie ist demnach unterschieden von rekonstruktiver Reflexion, aber auch von instrumenteller Durchsetzung moralisch festgesetzter ästhetischer Manipu­ lationen. Es ist von einer geradezu erschlagenden Offensichtlichkeit, dass Designtheorie ihr bewegendes Moment in den die praktische Handlung anleitenden Modellen und nicht im Feld der ‚Haltungen‘ hat. Theorie ist, da jene Modelle meist implizit wirken, ein Forum der Explikation. Da die Darstellungsmittel der Explikation naturgemäß mit denjenigen der impliziten Modelle verbunden sind, entspricht die gestalterische Refle­ xion vom Theorietypus her am ehesten einer medientheoretischen Kriterienerörterung, nicht aber dem weltbürgerlichen Philosophieren. Was immer man von einem solchen Support für ein sogenanntes allgemeines Menschenbild erwarten mag: Das faktisch be­ wegende Moment der Theorie ist der durch Design selber erzeugte Widerstand, ein Pro­ blem, das der mediale Prozess dem praktischen als Entzug jeweiliger Lösungsabsich­ ten aufzwingt. Es mag für jede von den Globalvisionen einer ethisch-ästhetischen Designutopie imprägnierte Künstler- und Gestalterseele schmerzhaft, gewiss aber narzisstisch krän­ kend sein, dass Design als Illusionen konfigurierende Singularität reinen Gelingens jede Theorie bereits eingelöst hat, weil der Problemwiderstand, die Reibungsfläche des Stofflichen verschwunden sind. Erst recht – dies ist nicht schwer zu verstehen – möchte der habituell kanonisierte Stolz auf den Vorsprung des geschlossenen Stilrepertoires po­ chen, durch das eine vorab veredelt-veredelnde Sicht dem Nullpunkt auferzwungener Theorie zu entgehen vermöge. Designtheorie ist eine Theorie des Theoriemangels. Ihre wirkliche Notwendigkeit hat Theorie nämlich genau dann, wenn sie kein technisches Rüstzeug bereitzustellen hat. Wäre es nicht um die Durchdringung der Gründe, Motive

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und Effekte eines Ungenügens zu tun, Theorie wäre der reine Reflex einer vollkommen instrumentalisierten Welt. Die Identifikation eines Vagen steht am Anfang des Design-Theorie-Prozesses, der eine reflexive Dimension des Praktischen, Medium intensivierter Selbstbeobachtung ist. Die aus solcher Problembestimmung des Praktischen hervorgehende Selbstwahrneh­ mung der Widerstände bezeichnet präzise das Medium von Theorie als ein ästhetisches Vermögen. Ästhetisch ist die Bezugnahme auf eine Theorie des Theoriemangels gerade wegen des erfahrenen Zwangs zur Schärfung der Mittel, ein Problem zu durchdringen, um es zu transformieren. Erst in der Transformation wird ein Weg der Durchdringung eröffnet. Nur am vitalen, intensiven und brisanten Material der Vergegenständlichung eigener Bilder und Symbole erweist sich die Theorie als das Medium des Notwendigen, als ein Dazwischen-Stehen des Unvermeidlichen im Möglichen, das Design schlechthin als Entwurf auszeichnet. Was existiert, unterliegt dem Zwang zur Existenzbehauptung auf der Ebene der Begriffe. Die Sprache selber ist das wesentliche Verdinglichungsmedium, das aus der qualitativen Bestimmung des So-Seins eine Existenzbehauptung im Sinne einer Ontolo­ gie des Da-Seins macht. Ästhetische Theorie hat es vorwiegend mit eingrenzbaren Phä­ nomenen des Fiktionalen zu tun. Kann etwas Nicht-Existierendes doch existieren, wie ist der Modus seines Existierens zu denken? Ist das festgestellte ‚Nicht‘ – Ausdruck ei­ nes Nicht-Da-Seins, das anderes ist als das Dasein eines ‚Nichts‘ – doch ein bedeutungs­ tragendes Etwas, mindestens eine Spur des Gegebenen im Entwurf mentaler Objekte? Kann man sich mentale Gegenstände denken, deren Wirkliches einzig ihre Bezeichnung ist, was gewiss beim Feststellen eines Fiktiven ganz ohne Schwierigkeiten zur Anerken­ nung dessen führt, was da sein muss, damit die Feststellung einer Bezeichnung des Fik­ tiven, dessen also, was nicht da ist, Sinn ergibt oder allenfalls auch erzeugt? Verhält es sich vielleicht nicht eher so, dass ‚Welt‘ ein Gefäß ist für die Bezeichnung von Relatio­ nen, nicht eine Sammlung von Objekten, Dingen, Stoffen? Wer, beispielsweise, wirkli­ che Menschen im Unterschied zu fiktiven für wirklich hält, der wird wohl unter Existenz nichts anderes verstehen als Konsistenz, d. h. eine eindeutig zuschreibbare, spekulative und im Übrigen eine, angesichts lebenspraktischer Verwicklungen, die aus dergleichen Annahmen hervorzugehen pflegen, äußerst riskante Fiktion. Über solche Beispiele hinaus bleibt, genereller, zu vermuten, dass für das Subjekt einer Erkenntnis zwischen dem ontologischen Druck allgemein akzeptierter Bedeutun­ gen und dem wirklichen Gehalt der Repräsentation eines Etwas im mentalen Apparat nicht strikter unterschieden werden kann. Dann aber ist nicht allein jeder kognitive Pro­ zess auf die Herausbildung eines Kommunikationsmediums angewiesen, sondern jede vermeintlich evidente Wahrheit erweist sich als Realitätsbehauptung innerhalb einer der Kommunikation ausgesetzten Kette von Interpretationen. Vielleicht, ja wahrscheinlich gibt es mehr Dinge, die nicht existieren, als Dinge, die existieren. In jedem Bezeichnen, das sich nicht aus Konditionierungen ergibt, bein­ haltet der Widerstand des Materials einen Überschuss des Möglichen über das Wirkli­ che. Was als Deutung durch Design erscheint, ist also mitnichten Praxis, sondern eine

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Metaphorisierung des Bezeichnens, eine virtualisierende Problemidentifikation. Ästhe­ tik als Theorie des Theoriemangels bedeutet: Theoriemangel ist der fiktiv erschlossene Sachverhalt des Möglichen. Dieser Prozess einer realitätshaltigen Untersuchung des Vir­ tuellen ist das genuine Arbeitsfeld künstlerischer und gestalterischer Theorie, einer spe­ kulativen Heuristik, einer heuristischen Spekulation. Es gibt also niemals eine zweite, ‚eigentliche‘ Welt hinter den Zeichen und Bildern. Denn deren Möglichkeiten haben es immer schon mit dem Realen von Wirklichkeiten zu tun.

Epilog: Gestaltung und Gemeinsinn Gestaltung hat aus sich heraus diese Fähigkeit zur Virtualisierung im Bewusstsein von der Notwendigkeit der Fiktionen zu beweisen. Das geht nur, wenn sie den konstrukti­ ven Zwängen des Heterogenen und Lebensbezogenen gerecht wird. Gestaltung wie ihre Intention sind immer relational und deshalb, linguistisch formuliert, mit der Struktur von Kommunikation und dem, wie erörtert, problematisch Allgemeinen eines vitalen Gemeinsinns vergleichbar. Es ist nämlich trotz aller Generalisierungsbehauptung, be­ sonders durch eine universalpragmatische Sprachdoktrin, nicht so, dass der Sinn ein­ heitlich wäre oder seine Verschiedenartigkeit immer nur unterschiedliche Mentalitä­ ten und nicht auch auseinanderfallende semantische Objekte bezeichnen. Der Sinn kann synonym oder homonym wirken. Und zwar sowohl auf sich selbst wie auch auf die Rezipienten, Autoren, mögliche ‚Subjekte‘. Nur wenn man diese fließende Relationie­ rung durch Aufforderungen einer je aktualen Pointierung von Gestaltung, ihrer Absicht, Wirkung, Gebrauchsweise und Objekte, überhöht und sie dem Dispersen zu entreißen trachtet, indem man sie einer Unbedingtheit oder Matrix einschreibt, entstehen die üb­ lichen Verirrungen und Suggestionen: Das Sublime, das Schöne, der Sinn. Realismus, Subjektivismus, Ästhetizismus, Formalismus sind dann weniger Ausdruckskategorien als vielmehr Epiphänomene und Kompensationsfiguren einer wild wuchernden, unge­ zügelten und unfassbaren (ungeordneten, dispersen) Realität nicht mehr kategorisier­ barer Gestaltungsvorgänge. Nach gestalterisch prozessual errungenem intimen Wissen ist deshalb die Inten­ tion auf Innovativität wie diese selbst nicht Kennzeichen von Gestaltung, sondern Pro­ dukte eines Prozesses, die sich ganz im nebenbei ergeben und die weder eine struktu­ relle noch eine paradigmatische Erörterung verdienen. „Die Intention der permanenten Steigerung und Superlative verkennt die Funktion und Praxis von Gestaltung allemal und fundamental. Die Gestaltung ist ein pragmatischer Anlass. Das heißt andererseits aber nicht, dass darin sich auch ihre Wesenheit erschöpft, sondern dass sich die Ge­ staltungsintention ihrer kommunikativen Essentialität bewusst sein muss und dort ihr Handeln begründet. […] Klar wird jetzt: Gestaltung ist ‚Reden‘, nicht ‚Grammatik‘; ihre Beschaffenheit vermittelt öffentliche Betreffnisse und nicht sich selbst. […] Die Akte ­ihrer Wirklichkeit sind aber der individuellen Intention integral. Eben dort, in der

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­einschlägigen Auseinandersetzung mit den lebensweltlichen Problemen und deren Ver­ mittlung, findet diese Anlass, Intuition, Furor und Ergebnis.“30 Das bezeichnet den Kern einer Auffassung, die Kunst, visuelle Kommunikation und Bildrhetorik nicht mehr sek­ toriell qualifiziert oder in Code-Hierarchien gliedert, eben: spekulative Heuristik durch realisierte Theorie existenziell wahrgenommenen Theoriemangels.

Geschrieben 13. und 14. März, 19. Juli und 19. bis 23. Juli 2012; Korrekturen und letzte Bearbeitung: 26. Juli 2012 und, nach Redaktion durch den Herausgeber H. Zitko, am 27. September 2012; erschienen unter dem Titel „Theorie durch Theoriemangel – Episteme und Verfahren in Kunst und Design, auch zu verstehen als eine Erörterung ästhetischen Urteilens“, in: Theorien ästhetischer Praxis. Wissensformen in Kunst und Design, hgg. v. Hans Zitko, (Schriften der Hochschule für Gestaltung Offenbach, Köln/Weimar/Berlin: Böhlau Verlag), 2014, S. 19–38. Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, der im Rahmen der Ringvorlesung Theorien der Gestal­ estaltung tung an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, am 1. Juli 2010, in der Aula der Hochschule für G Offenbach unter dem Titel „Theorien ‚Theorie durch Theoriemangel – Episteme und Verfahren in Kunst und Design“ gehalten worden ist. In gewissen Teilen dieses Aufsatzes/Kapitels – besonders in den ­Unterkapiteln „Akademie: Diskurs, Kunstanspruch, soziale Reflexivität – mit und gegen die Instanz der Akademie“ und „Idee, Linie, Entwurf, ‚disegno‘‘‘ - sind unvermeidlicher Weise Überschneidungen festzustellen mit den historischen Rückbesinnungen und Referenzen, wie sie besonders im ersten Teil dieser Anthologie, „Vom Erbe“, ausgearbeitet und präsentiert worden sind.

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Vgl. weiterführend: Hans Zitko, Kunstwelt. Mediale und systemische Konstellationen, Hamburg 2012. Vgl. Richard Sennett, Handwerk, Berlin 2008. Vgl. Hans Ulrich Reck, Index Kreativität, Köln 2007, S. 272–286, bes. S. 278 ff.; vgl. auch Felix Philipp Ingold, Der Autor am Werk. Versuche über literarische Kreativität, München/Wien 1992; ders., Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur, München 2004. Zur systematischen Entfaltung des Stellenwerts impliziter gestalterischer Theoriepotenziale, die den Praktiken und der Poetik der Kunst selber als Theorie innewohnen, sie weder konstituieren noch ‚optimieren‘ vgl. Hans Ulrich Reck, Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung, München 2003. Vgl. Ernst Kris, Psychoanalytic Explorations in Art, New York 1967, S. 41 ff.; vgl. auch Hans Ulrich Reck, ­Index Kreativität a. a. O., (Anm. 3), S. 154–189. Vgl. Hans Ulrich Reck, Polylog über Ästhetik – Metatheorie, Eurozentrismus und zeitgenössischer Horizont, in: Ins Offene – Gegenwart: Ästhetik: Theorie, Magazin ‚31. Das Magazin des Instituts für Theorie‘, Hochschule der Künste Zürich, Nº 18/19, Zürich 2012, S. 27–39. Vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien/New York 1996; ders., Ästhetische Theorie der Renaissance, Leon Battista Alberti, 2. überarb. Aufl., Bochum 2005. Vgl. Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, München 1986, S. 29 f. Ebda. S. 184. Vgl. Wladyslaw Tatarkiewicz, Das Schöpferische: Geschichte des Begriffs, in: ders., Geschichte der sechs Begriffe Kunst-Schönheit-Form-Kreativität-Mimesis-Ästhetisches Erleben, Frankfurt a. M. 2003, S. 356–385, hier S. 378 f. Vgl. hierzu Victor I. Stoichita/Anna Maria Coderch, Goya. Der letzte Karneval, München 2006, S. 91 f. Vgl. die Belege und Ausführungen bei Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, a. a. O. (s. Anm. 8), S. 17 ff. Hans Ulrich Reck, Disegno und die Zeichen künstlerischer Kreativität. Kulturgeschichtliche Betrachtung zur europäischen Künstlerausbildung, in: ders., Spiel Form Künste. Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens, hgg. v. Bernd Ternes, Hamburg 2010, S. 277–327; Wolfgang Kemp, Disegno. Beiträge zur Ge-

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schichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 19, Marburg (Lahn): Univ., Kunstgeschichtl. Seminar 1974. Giorgio Vasari, Le vite dei più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani, da Cimabue insino a‘ tempi nostri, neue kritische Gesamtausgabe hgg. v. P. Della Pergola u. a., 9 Bde., Milano (1962–1966), deutsche Ausgabe: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567; neu hgg., übers. u. eingel. von Julian Kliemann, Ludwig Schorn, Ernst Förster, Nachdr. d. ersten dt. Gesamtausgabe Stuttgart u. Tübingen 1832–1849, Worms: Werner, 1983–1988, Bd. 1–6; zit. n. Hans Ulrich Reck, Disegno als Zeichen für künstlerische Kreativität, a. a. O. (s. Anm. 13), S. 290 f.; zur Rhetorik und künstlerischen Figur der kreierenden Linie an einem zeitgenössischen Fallbeispiel vgl. Hans Ulrich Reck, Singularität und Sittlichkeit. Die Kunst Aldo Walkers in bildrhetorischer und medienphilosophischer Perspektive, Würzburg 2004, S. 75–92. Das im Zeichen einer naturgegebenen, angeborenen, vor allem aber ‚unverstellten‘ Genialität des souverän entwerfenden Künstlers und seiner perfekten Mimesis an das Unlernbare auf die mystifizierten Anfangsgründe des modernen Künstlergenies verweist, vgl. hierzu: Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch (1934), Frankfurt a. M. 1980. Vgl. Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, Reinbek 1987, S. 66 f. Vgl. den Eintrag zu ‚Experiment und Beobachtung‘ in: Michel Serres/Nalya Farouki (Hgg.), Thesaurus der exakten Wissenschaften, Frankfurt a. M. 2001, S. 252–256. Vgl. Hans Ulrich Reck, Singularität und Sittlichkeit, a. a. O. (s. Anm. 14), S. 92–124. Vgl. Michel Serres/Nalya Farouki (Hgg.), Thesaurus der exakten Wissenschaften, a. a. O. (s. Anm. 17), S. 262 f. Vgl. Michael Erlhoff/Tim Marshall (Hgg.), Wörterbuch Design. Begriffliche Perspektiven des Design, ­Basel 2007. Vgl. Hans Ulrich Reck, Singularität und Sittlichkeit, a. a. O. (s. Anm. 14). Ich vermerke hier dankend den einschlägigen Hinweis von Michael Erlhoff auf die 2010 an der philosophischen Fakultät der Universität Bonn eingereichte Magisterarbeit von Arne Willé zum Thema der intersubjektiven Dimension der Kritik der Urteilskraft. Zu diesem problemerörternden Kontext gehören auch Ludwig Jägers Überlegungen zur transkriptiven Semantik bei und nach Kant; vgl. als Vorarbeiten: Ludwig Jäger, Bezugnahmepraktiken. Skizze zur operativen Logik der Mediensemantik, in: Ludwig Jäger/Gisela Fehrmann/Meike Adam (Hgg.), Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme, München 2012, S. 13–41; ders., Transkription – Überlegungen zu einem interdisziplinären Forschungskonzept, in: Rolf Kailuweit/Stefan Pfänder/Dirk Vetter (Hgg.), Migration und Transkription – Frankreich, Europa, Lateinamerika, Berlin 2011, S. 15–36; ders., Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität. Überlegungen zu einigen Prinzipien der kulturellen Semiosis, in: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hgg.), Sprache intermedial: Stimme und Schrift – Bild und Ton. Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2009. Berlin, New York 2010, S. 301–324. Vgl. hierzu: Robert Trautwein, Geschichte der Kunstbetrachtung. Von der Norm zur Freiheit des Blicks, Köln 1997; Rainer Wick, Bauhaus-Pädagogik, Köln 1982. Vgl. Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt (1928), Frankfurt a. M. 1979. Vgl. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1984; ders., Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt a. M. 1987; ders./Catherine Z. Elgin, Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1989; ders./Willard V. Quine, Steps toward a Constructive Nominalism. in: Journal of Symbolic Logic 12/1947, S. 105 ff.; vgl. auch Thomas S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 1976. So Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Bd. I, 6. Aufl., Stuttgart 1987, S. 353. Im Folgenden wird bei Paraphrasierungen von Stegmüllers Thesen aus dem genannten Buch auf Seitenverweise verzichtet. Werner Krauss, Die nabellose Welt, hgg. von Elisabeth Fillmann und Karlheinz Barck, Berlin 2001. Was aus entsprechend adaptierenden Erörterungen zu Verschiebung, Verdichtung und kulturellen Symbolisierungen mittels der Traumtechniken allgemein zu gewinnen sein könnte; vgl. Hans Ulrich Reck, Traum. Enzyklopädie, München 2010, bes. S.84 ff., 105 ff., 117 ff., 179 ff., 183 ff., 686 ff. Aldo Walker, Innovation und Intuition, in: Euphorie und Elend. Visuelle Gestaltung, Verlag des Museums für Gestaltung Zürich 1992, S. 88; vgl. zur Physiognomik besonders des entfesselten ‚ikarischen‘ Künstlertypus: Felix Philipp Ingold, Der Autor am Werk, a. a. O. (s. Anm. 3); ders., Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur, München 2004.

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VOM WELTBESITZ UND ETLICHEN SEINER ­MÖGLICHEN MYSTIFIKATIONEN. DESIGNTHEORIE AKTUELL: AVANCEMENTS, HANDELN, ­REFLEXION Der Wunsch, eine Welt zu erschaffen, ist Grund, Grundlage und Grundierung aller De­ signtheorie. Damit wird ‚ab ovo‘, vom Eisprung jedes konzeptuellen ästhetischen Han­ delns an klar, dass Designtheorie sich inmitten der Designpraktiken bewegt, ohne sie nicht zu denken ist. Aber auch umgekehrt: Es gibt keine ästhetische Disposition, keine These, keine Gliederung, kein Entwerfen ohne Designtheorie. Halten wir vorab fest: Im Unterschied zur Wissenschaft, welche am Ende Geltungsansprüche, Begründungsfor­ men, Wahrheits- und Anwendungsfähigkeiten von Erkenntnissen behandelt, ist Design­ theorie dem Probehandeln vergleichbar, in welchem sich, analog zur Ontogenese der in­ dividuellen Kognition, Imitieren und Spielen stets mischen. Deshalb meint, eine Welt zu erschaffen, sie neu zu machen weniger durch Veränderung als vielmehr dadurch, dass sie als eine gegebene, aber externe behandelt wird, gegenüber der man immer von innen her sich ‚Welt‘ als erfahrene eigene Wirklichkeit aufbaut, stets den permanenten Umbau des Realen. Das ist deshalb nicht dynamisch, weil ohnehin alles im Fluss ist und Dyna­ misierung keinen Sinn ergibt in einem Feld, das schlechthin nichts Statisches aufweist. Ob als Modifikation oder als Verwerfung, die interne Differenz des Realen lässt keine systemtheoretische Schließung, keine abstrakte oder willkürliche Konstruktion, aber auch keine revoltistische Verleugnung oder normative Substitution des Realen durch ein ‚höheres Wahres‘ zu. Sich inmitten dieses Verstehens durch Konstruieren, des Konstruierens durch Entwerfen zu bewegen, bedeutet eben, von der inneren Ein­ heit poetischer Praktik und entwerfender Theorie, also von Entwurf und damit immer auch: Designtheorie auszugehen. Deshalb sind Design und Designtheorie immer Phi­ losophien der Mischung, also Hybride, und die eigentliche Selbstwahrnehmung dieser Hybridisierungen erscheint dann als das eigentliche Feld einer Designtheorie, die im­ mer eine Meta-Theorie dieser Mischprozesse ist. Was sind dagegen, abgelöst von solcher Meta-Theorie, mit der das Ästhetische erst beginnt, bedeutsam zu werden, typisch zeitgenössische Figuren von ‚Design‘, die dem wachsenden Hunger nach heraushebender Ereignishaftigkeit kultureller Situationen Nahrung verschaffen, kreisend um das expandierende ‚Ich‘, also dem Situationismus der delirierenden Zeicheninszenierung und dem Spektakel als solches – unbedingt und schlechthin – huldigen? Eben dies zeigen Praktiken unterhalb der Meta-Theorie des po­ etischen Entwurfs deutlich und beredt an. Zum Beispiel: Fußball-, TV-, Show- und Me­ dienidole, die zu Bildern werden, wie überhaupt der Leib sich in Ikonizität, Identität in Fremdbesitz, auf der Seite der Konsumenten: Betrachten in Verschlingen verwandelt. Die Rückkehr des Kannibalismus als physisch verselbstständigtes symbolisches Prinzip spricht Bände von der Suggestion, welche zunächst die Verdoppelung der Welt in das

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Reale und das Phantomatische, später ihre angestrengte Wiedervereinigung, das Reale als Camouflage des Phantoms also, nämlich Versprechen schlechthin beschreibt. Um die Identität des Designs ist es deshalb schlecht bestellt, weil der Triumph der ­Gesellschaft des Spektakels, der unbedingte Sieg der symbolischen Logotechniken, die ex­ zessive Semiotik der Markierungen, die allseitige Prädominanz des Bildhaften – als schiere ‚visuelle Präsenz von etwas‘ unterhalb der rückbezüglichen Komplexitäten von Bild – heute vollkommen, also verwirklicht und tendenziell abgeschlossen zugleich erscheint. Erst das erklärt die Rückverlagerung des triumphalistisch gezähmten Symbolischen in die Physik des Lebens, die nur noch als eine programmierbare Grammatik betrachtet wird. Biotech­ nologie vollendet den Praktizismus von Design als instrumentelle Programmierung, Pla­ nung eines entworfenen, möglichst algorithmisch determinierten Lebens. Vielleicht sind deshalb Design und avancierte Apparate der algorithmischen Steu­ erung, vermeintlich linear realisierbare Planung der symbolischen Befehle eine so bei­ spielhafte Symbiose eingegangen – zumindest erscheint sie den entsprechenden Pro­ pagierungen des Tatbestands als solche. Was nicht in dieser engen Allianz von Design als praktischer Ingenieurkunst, Kunst des Entwerfens des Künstlichen, also recht ei­ gentlich die berühmte, Design und Ingenieurtum vereinigenden Wissenschaften vom Künstlichen des bewundernswerten Herbert A. Simon aufgeht, scheint für solcherlei Bewertung oder Anstrengungen zu einem Design der Prothesen und Artefakte nicht zu existieren. Aber vielleicht als Rand, Exterritorialität, als Rest? Was also wäre der Rest? Gibt es einen solchen? Zunächst erscheint der Rest als Objekt einer sekundären Bearbeitung, reiner Stoff für den Akt der symbolischen Ent­ sorgung. Indiz zum Beispiel: der auf den 21. Juni 2004 erstmals einberufene ‚Interna­ tional Design Action Day‘, ein willkürlich ausgerufener Feiertag, mit dem im Gewand des Anti-Designs, eine ausgereizte Kunst-Attitüde nachholend, eine letzte Ausdehnung des Designs erreicht werden soll. Design zu bestreiken als symbolische Designbewäh­ rung – das bezeugt den internen Umschlag von Triumph in Elend des Designs an und in diesem selber. Denn wo alles Design, alles zum Logo geworden ist – mit all den David Beckhams als Ikonen ihrer selbst, also reines Phantom, Physikalisierung einer Zeichen­ strategie, ohne je ein Ich zu berühren –, dort wird Design belanglos, da es sich von nichts anderem mehr unterscheidet. Wenn alles Design und jeder ein Designer ist, dann spielt alles keine Rolle mehr, und Design hört auf zu existieren. Programmatisch – es ist gegen solches leicht zu verstehen, und eben deshalb ist es an solchem erläutert worden – ist Designtheorie eine Kunst radikaler Einschränkung und Selbstbeschränkung. Es sind also – der Wendung zur ästhetischen Selbstkritik und zur Meta-Theorie folgend – jetzt entschieden wieder Zeiten nominalistischer Selbstkri­ tik und konzeptueller Selbstbeschränkung angesagt. Erst jetzt nämlich – in der Epoche des Logo-Triumphs und des semiotischen Kannibalismus, der alles zu ‚branding‘, Mar­ ken, Zeichen, Identitätsstrategien macht und Zivilisation auf dem niedrigen Niveau der Idolatrie, des Begaffens und staunenden Bewunderns visueller Reizschemata rituali­ siert, wird deutlich, wie falsch und fatal die Expansion der Design- zu einer universalen Kulturtheorie in den 1970er- und 1980er-Jahren gewesen sind.

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Lassen wir kurz die Slogans und Ideologien Revue passieren, die so überaus gut in die damalige Zeit und Mentalität passten, in welchen sich der hedonistische Widerspruch zum affirmativ-alternativen Selbstschonungssyndrom willfährig zähmte. Das ‚intervento minimo‘, der kleinstmögliche Eingriff, der attraktiv versprach, Ressourcen mit einer endlich möglich gewordenen rationalen Berechnung des Eingriffsnotwendigen zu paa­ ren, setzte, damals vollkommen unbemerkt, eine perfektionierbare, also schon im Prin­ zip wohlgeordnete, vor allem aber: eine besessene, und zwar: durch ein Eigenes oder ein ‚Selbst‘ besessene Welt voraus. Sie war wirklich Epiphänomen nicht nur eines harmonika­ len Glaubens, sondern vor allem seiner materialistischen, besitzorientierten Grundlage. Die ‚Mülltheorie der Kultur‘, epistemologisch attraktiv wegen der psychoanaly­tisch und entwicklungspsychologisch gut ausschlachtbaren Reduktion der hohen Werte auf deren Genealogie im und als Müll, bildet einen späten Nachklang Duchamps und von dessen artifizieller Valorisierung des Trivialen in einer höheren, adelnden Sphäre, ent­ wickelt aber ihren eigentlichen Charme aus der Tatsache, dass nunmehr die plebejisch niedrigen Objekte Wertträger der aufsteigenden hochkulturellen Codierung sind, also Würdenträger nicht von Objekteigenschaften, sondern einer Strategie: ­Designtheorie als plebiszitäre Selbstaufwertung des bisher Zukurzgekommenen. Sodann die ‚­pattern language‘, die eine universale Montierbarkeit von allem im Einzelnen Bestehenden oder auch nur Denkbaren nach geordneten Mustern versprach, aber an sich selber nicht bemerkte, es mit einem Synkretismus zu tun zu haben, in dem die Gleichwertig­ keit von allem und jedem behauptet werden konnte. Diese Pseudo-Pluralität in der Zu­ sammenführung zum Multiversum des differenziell nicht mehr Unterschiedenen, also des vor aller Unterscheidung Gleichberechtigten, erwies sich natürlich als der große an­ thropologische Differenzvertilger, als Auslöscher der Unterschiede und damit als kon­ sumistischer Gleichmacher, der jede Devianz als Kulinarik, jedes Ding als Stoff für Ver­ zehrung pries. Die Probe auf dieses Exempel machten dann alle die verpönten Bereiche, die daraufhin ans Licht einer angeblich interessierten Ästhetik der Neigungen und ei­ ner indifferenzgierigen Toleranz gezerrt wurden – nicht nur in den Medien, auch auf den Straßen, in Privatgemächern, aber auch in den Gerichtssälen. Zu guter, zugleich triumphaler, mindestens zur Coda aufgebauter Letzt ist die The­ orie vom ‚unsichtbaren Design‘, die gleichsam ‚natürlich‘ die materielle Kraft bisher un­ besehener Regulierungssysteme entdeckte und sie zu Recht den physikalisch spürbaren Gestaltungsformen der Dinge gleichstellte. Es handelte sich um einen im Nachhinein leicht verstehbaren symbolischen Effekt einer in den Jahren zuvor unvergleichlich pros­ perierenden Gesellschaft, die nach der Stillung vorrangiger Bedürfnisse einen sekundä­ ren, durchaus vitalen und vehementen Bedarf an Symbolizität entdeckte – diesen wie jene erzeugte und befriedigte zugleich. Es ist gerade die Theorie vom unsichtbaren Design, welche zum Kernmotor kulturell-imperialer Expansion eines nach-wissenschaftlichen Entwerfens in Theorie und Praxis wurde. Und in den 1980er-Jahren auch zum unhinter­ gehbaren ‚State of the Art‘, d. h. zu einem Gestus, einer Attitüde, einem ‚must‘, nicht nur zu einem Habitus, sondern gar zu einem Minimalstandard intellektueller Neigung und progressiver Designermentalität, kraft Selbstauszeichnung theoretischer ­Markierung

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durch publizistische Praxis in einem gewiss angenehm hochstehenden Diskurs in der Ära postmoderner Fröhlichkeit. Diesen Habitus benannte ich 1985 in einer kritischen Re­ zension von Lucius Burckhardts Die Kinder fressen ihre Revolution, für das, wenn auch in ganz anderer Wertung als eben erörtert, die hier benannten Theoreme Leitfunktion hat­ ten, als einen ‚Manierismus des Querdenkens‘. Die Diffamierung der Hochschule für Ge­ staltung Ulm war in jenen Jahren ebenso billig zu haben wie im Jahrzehnt davor. Das hat sich bis heute nicht geändert, die Leistungen dieser Institution, die in vielen Teilen zum ersten Mal einem radikalen Niveau sich verpflichtete, wurden erfolgreich verdrängt und abgedrängt, nachhaltig in Misskredit gebracht – wie sonst nur noch die nicht nur zeitge­ schichtlich mit ihr verbundene informationstheoretische Ästhetik. Die spätere Euphorie des Verknüpfungsdesigns, von Kommunikationsdesign, elektronischem Lernen, Symbolnavigation und vor allem von ‚branding‘ und Corporate Identity mitsamt der betriebswirtschaftlichen Beredsamkeit und den ebenso logozen­ trischen wie ikonophilen Werbestrategien ist ein Effekt dieser Theorie, der aus deren Re-Integration in die Bezeichnung erneut fröhlich verwertbarer Funktionen herrührte. Denn von nun an war schlicht alles Gegenstand von Designtheorie, was dazu erklärt wer­ den konnte. Man hat der Sache damit natürlich keinen Dienst gemacht. Einschränkungen also sind auf diesem Hintergrund, aber schlicht auch sonst, zwingend nötig. Sie fordern oder empfehlen keinerlei Rückkehr, weder die zu ästheti­ schen Normen oder restringierten Wertsystemen noch gar eine zu wiedererrichteten Objektklassen eines Ingenieurs- oder Produktedesigns, obwohl sich an diesem die de­ signtheoretische Kernleistung – die konzeptuell kalkulierbare und dann im Produkt, als Stoff gewordene Form konkret überprüfbare Verbindung von ästhetischer Formalisie­ rung und ergonomischer Funktionsdarstellung – besonders gut beschreiben lässt. Alle diese Theoreme setzen voraus, dass man die Welt nur noch zu modifizie­ ren, aber nicht mehr zu errichten braucht. Sie gehen von der Tatsache als einer in die­ ser selbst mitgesetzten normativen Evidenz aus, dass man diese bereits besitzt. Nur dann – und nur insoweit – kann man die unsichtbaren Ebenen, die Mechanismen ei­ ner Höherbewertung oder gar den minimalen Eingriff als angemessene Behandlungs­ weisen betrachten. Dass man die Welt besitzt, bedeutet, abgesehen von allem Fetisch des Besitzens, dass es keine Exterriorialität (oder, formuliert in Rücksicht auf die fran­ zösische Tradition von Sartre bis Lévinas: keine Exterriorität) gibt, kein Außen. Die bis in die 1980er-Jahre außerordentlich wirksamen Expansionsfiguren der postfunktiona­ listischen oder extensiv-systemischen Designtheorien setzen also gerade eine geschlos­ senen Welt mit reiner Innenorientierung, also eine auf autoritative Manipulation exklu­ siv ausgerichtete Gegenständlichkeit voraus. Das läuft zwingend darauf hinaus, dass den nachgeborenen Generationen a priori und per se eine Gestaltungsfreiheit bestritten, ja, ihr Gestaltung nur zugestanden wird in dem Maße, wie sie über eine hochstufig gestei­ gerte Begründung verfügt. Die Intensivierung der Legitimationsanforderungen an tendenziell als Illegitime, faktisch unerbittlich zu bekämpfende Konkurrenten betrachtete andere, die mit ­einer ein autonomes Handeln nahezu vollkommen verhindernden Expansion der Regulie­

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rungssysteme von Design konfrontiert wurden, ist also auch Ausdruck einer generati­ onsspezifischen Machtentfaltung und eine schlechte, verlogene Rationalisierung der Ansprüche einer älteren Generation, die noch so gerne vom vermeintlich paradigmati­ schen Scheitern einer Hochschule für Gestaltung Ulm dahingehend zu profitieren trach­ tete, dass sie Rationalität in spezifischer Weise im genannten Viereck expansiver Design­ theorien als eine souveräne Leistung des Symbolischen exklusiv festgeschrieben hat. Gewiss: Es wäre nicht falsch, diese genannten Theoreme als kritische Instan­ zen auf die Logiken der Produktion, Begründung und auch der Vermittlung von Din­ gen, Werten und Ansprüchen zu beziehen. Gemessen daran ist es – um ein besonders gewichtiges Beispiel jüngeren Datums zu erwähnen – ein großer designtheoretischer Verlust, dass im Bundesverband der deutschen Ingenieure die bis vor wenigen Jahren so produktive Gruppe zur Technikphilosophie sich aufgelöst hat und, wie allenthal­ ben, durch Ethikkommissionen ersetzt worden ist. Aber Ethik ist immer ein Diskurs der Macht und begleitet (präludiert, verdeckt, beschönigt) irreversible Gestaltungsoffensi­ ven, die mit humanistischen Plattitüden verbrämt werden, um jeden Anklang an eine Logik der natürlichen Evolution zu verbergen, also die Anthropologie des artifiziellen Menschen durch seine Idealisierung als normatives Wesen zu ersetzen. Dass nicht mehr die Technologien als Techniken der Artefakte und des Lebens erörtert werden, sondern nun der Ethik eines appellatorischen Konsenses zu weichen haben, bezeichnet den Ort, an dem die Theorien als kritische Instanzen generell geschwächt, zuweilen ‚entsorgt‘ werden. Das ist insofern gewichtig, als im Diskurs des Designs moralische Persuasion schon immer einen allzu großen Platz innehatte, aber immerhin auch einen, der mi­ noritär bleiben und Selbstkritik als theoretische Reflexion durch die von ihm gesetzten ­Widerstände zu befördern vermochte. So ist gerade die selbstbewusste Kultur des Entwerfens die Bühne einer Theo­ rie, ohne die sie gar nicht entstanden wäre und in der sie sich als vitale unentwegt wei­ ter entwirft und begründet. Historisch gründet sie in der Einheit des concetto als disegno, gewissermaßen seit alters her, seit der ersten, meta-theoriefähigen Begründung der me­ thodisch gestützten Kunst des Entwerfens im Manierismus, mit dem typischerweise die institutionelle Entwurfsausbildung als Künstler- und Designerausbildung begonnen hat, in Florenz und Rom, mit Vasari und Zuccari, ihren meta-theoretisch verfahrenden, gat­ tungstypologisch äußerst bedeutsamen Theorien. Darin gründet – als Regulativ, Maxime, Handlungsmatrix – bis heute die spezifische Typik oder Charakteristik von Designtheorie. Sie ist nämlich keine Theorie der Produktion, keine Ontologik der Gegenständlichkeit der Dinge und erst recht kein Organon der praktischen Vernunft. Sondern sie ist Methodolo­ gie der Reflexion innerhalb und gegenüber der Logik des Artifiziellen, der Anthropologie der erzeugten Prothesen, also der Technologik der menschlichen Selbstmodellierung, der Techniken des Selbst und demnach besonders der diese jeweils prägenden Technologien. Man kann demnach Designtheorie als eine Selbstkritik der medialen Modellierung und als eine Selbstanalyse der verwendeten Verfahren im Hinblick auf die Erzeugung individu­ eller wie kollektiv wirksamer Modellierungstechniken verstehen. Und dies in besonderer Weise: als eine theoretische Erörterung von Alternativen zu gesetzten Formen, Verständ­

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lichkeiten, Behauptungen. Insofern ist Designtheorie eine kulturell elementare Leistung, weil eben die Kritik der Technologie weder den Techniken noch den Apparaten oder Me­ dien noch gar den fortschrittlichen Denkfiguren systemischer Differenzierung entspricht. Die Theoreme der 1980er-Jahre markieren also den äußersten Rand einer expan­ dierten Welt, eine unterworfene Landkarte und einen systematischen Endpunkt aller Designtheorie, die den Gang nimmt von der guten Form über die gute Utopie und gut geformte Wirklichkeit, die späte historische Synthese von Paradies und Verzweiflung in­ mitten einer posthistorischen Indifferenzialisierung des Apokalyptischen wie Techno­ magischen und ihre Hinwendung schließlich zur bloß formalen Selbstbeschränkung auf Modifikationen einer weitgehend verwalteten, also nur noch in Restbeständen, mar­ ginal und ephemer zu modifizierenden Welt. Die zivilisatorische und kulturelle Alteri­ tät ist, was Designtheorie zu ihrem hauptsächlichen Gegenstand hat. Insofern genügt sie den wesentlich gültigen Prinzipien des radikalen Konstruktivismus und einer sys­ temisch erneuerten Kybernetik: Wenn es, wie der sehr junge Norbert Wiener scharf­ sinnig zeigt, kein absolutes höchstes Gut, genauer: keine Begründung für dieses gibt, dann kann man, mit Heinz von Foerster, als einzige relevante Maxime theoretischer Be­ trachtung und Forderung an eine Theorie des Handelns nur gelten lassen: Denke und handle so, dass durch deine Reflexion die Wahlmöglichkeiten in der Welt wachsen, also Welt/Wirklichkeit mehr Optionen hat als vor dieser Denkhandlung. Anders gesagt: Der Zuwachs an Optionen in der Welt, Wahlchancen, Chancen, also auch Differenzierung schlechthin, entstehen aus dieser Bewegung der Begründung. Designtheorie ist das des­ halb, weil die kulturelle Option der Technologie-Selbstkritik und der medialen Selbst­ differenzierung immer am Entwurf der Artefakte ansetzt, der Autonomie der Vergegen­ ständlichung und Verwirklichung als einer Inkorporation der entwerfenden Muster, einer externen (oder, wie oben erläutert, ‚exterrioritären‘) Verdinglichung bedarf. Alle so bestimmte Designtheorie ist eine praktisch angewandte, nicht ethisch dis­ ponierende, also nicht zum Dispositiv der Macht gehörende Philosophie. Sie ist eine Re­ flexionsfigur. Man kann sie auf die Denkprobleme der epistemologischen Ästhetik be­ ziehen. Sie hat dann zu betreiben: Selbstkritik der in Dingen, Formen, Anweisungen, also Prozessen wie Algorithmen verstofflichten menschlichen Selbstentwürfe nach je­ weils (und jederzeit) wechselnden Gesichtspunkten. Designtheorie ist eine Erörterung gerade auch der Paradoxien, da sie durch sukzessive Inszenierung des Konträren und Selbstwidersprüchlichen den Reichtum der nicht vereinbaren Ansprüche nach und nach durchläuft und in der Weise zum Bild einer Sache gelangt, dass sie Fragmente, Zu­ stände, Abfolgen ineinander und gegeneinander montiert, je nach ihren aktualen und aspektualen Bedürfnissen. Designtheorie ist anti-geschichtsphilosophisch. Sie ist zwar evolutionär orientiert, aber nicht im Sinne von Progression, Fortschritt, auch nicht in Gestalt von Chronologie und einer stetigen Zeit, als Linearität der sich homogen und ge­ stuft entwickelnden Schematisierungen. Sie ist das Verfahren einer Einschränkung al­ ler möglichen Ansprüche auf den entscheidenden Typus einer ästhetischen Selbstkritik. Innovationen werden, es war davon bereits die Rede, wenn auch noch nicht ent­ schieden genug, generationsspezifisch erzwungen und sind insofern immer anti-öko­

VOM WELTBESITZ UND ETLICHEN SEINER M ­ ÖGLICHEN MYSTIFIKATIONEN  075

logisch und anti-traditional. Designtheorie hat es mit dem Skandalon des verweigerten Lebens und der Rationalitätsbehauptung eines Stillstandes, Herrschaftsanspruchs des Alters zu tun. Dass Design wie ihre Theorien oft jugendbewegt und bewusst idiotisch angelegt sind, nämlich als Subversivität eines stilisiert unbefangenen Anfangens und Nachfragens, hat mit ihrer eigentlichen Beschaffenheit zu tun. Abgesehen davon ent­ spricht das in ausgezeichneter Weise dem Kult der Selbstprimitivierung der künstleri­ schen Avantgarden, mehr noch ihren kulturstrategischen Rhetoriken seit Cézanne. So also kommt die Welt zum Wunsch, und das Spiel beginnt von vorne. Der Wunsch, die Welt neu zu schaffen, als Eliminierung der Widerstände, die sie daran hin­ dern, ist Grund, Grundierung und Ursprung aller entwerferischen Praktiken als konzep­ tuelle wie experimentelle Theorieleistungen des Designs. Diesmal aber auf der MetaEbene: Als Reflexion des poetischen Prozesses, der Autonomie gewonnen hat und in keinem Programm mehr technisch implementiert ist, sondern umgekehrt als macht­ volles Handeln aus der Reflexion hervorgeht. Das ist Anfang und Ende aktueller Design­ theorie, zugleich Bühne des avancierten Designs selbst. Soweit die Lage der Theorie, die nur Meta-Theorie sein kann. Der Wunsch, der zur Welt kommt – konzeptuell für designtheoretische wie praktische Fundierungen und Grundierungen in der Designausbildung –, darf getrost auf den poetischen Mechanis­ mus vertrauen, der diese Meta-Theorie unvermeidlich in Gang bringt: die Kraft der Ju­ gend, die sich von autoritativen Hinderungen ihres Welt-Setzungs-, also eines Selbst­ gestaltungsrechtes nicht abbringen lassen wird, erst recht nicht von deren schierem Drängen. Das beschreibt einen vertrauensvollen Optimismus. Jugend ist, was eine ei­ gene Welt kon­struiert – ob wiederholend oder erneuernd, ist dabei zunächst und für län­ gere Zeit ganz nebensächlich. Es kommt darauf nicht an, aber auf den naturgemäß nicht verhinderbaren Wunsch, zu einer eigenen Welt zu kommen, weil jede, und erst recht die vollkommene, vorgesetzte als vorgesetzte Welt eben die schlechteste ist, eine, die unbedingt verworfen werden will und die nur Wert hat, aus dieser Sicht zugrund zu ge­ hen. Das impliziert keinerlei Revolution oder Aktionismus, erst recht nicht ein gestei­ gertes Maß an sogenannter Destruktivität. Sie eignet sich auch nicht als Dokument von Haltung, da diese ja doch nur dem Fehlerhaften und der Zerstörung der Dinge an sich selbst auf den Grund gehen will. Das schiere Gestalten ist immer schon eine poetische wie theoretische Disziplin, die dem Wunsch, einem Weg in diese eigene Welt zu ver­ helfen, entspringt. Alles andere, erst recht Stil, Dogmen, ästhetische Konventionen, alle diese angeblich so selbstredenden und selbstverständlichen Werte, haben demgegen­ über zurückzutreten. Und leisten ihren Beitrag, wenn und insofern sie dieses in nobler Weise tun.

Bisher unpubliziert; geschrieben am 17. Juli 2004 als Einleitung/Einführung zu Theoriekonzept Departement Design (Forschungsprojekt mit Dokumentation) der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich HGKZ, Departement Design im Auftrag von Urs Fanger, Joachim Huber, Ruedi Widmer.

076  THEORIE AN KUNST- UND DESIGN­H OCH­S CHULEN 

5 Neue Kontextuali­ sierungen und Kontroversen – ­Design und ­Forschung

5  Neue Kontextuali­sierungen und Kontroversen – ­Design und ­Forschung Vorab: In den letzten Jahren gibt es eine eigentliche Euphorie für den Einbezug von Designtheorie in allerlei interdisziplinäre Fragestellungen zu beobachten. Wenn das nicht epiphänomenal und episodisch bleiben soll, muss ein Forschungsbegriff entwickelt werden, der den Eigenheiten wie den Ansprüchen an Erkenntnisgewinnung in dieser spezifischen, wie auch der allgemeinen wissenschaftlichen Sicht gerecht werden, d. h. Erkenntnisfortschritt wirklich befördern kann. Ein Rückgriff auf Argumentationen, die vor einigen Jahrzehnten schon, mitten in der Ära der Postmoderne entwickelt worden sind, könnten hier hilfreich wirken. So wie Kunsttheorie nicht in erster Linie oder nur an Akademien und Hochschulen entwickelt worden ist, sondern ohne die Bildung von Künstlertheorien und weiteren reflexiven Entwürfen in Ateliers und Werkstätten haltlos bleiben, so sind Designtheorien ebenfalls immer auch als Teile des praktischen Arbeitsprozesses zu verstehen: Figurativ modellierte Probehandlungen mit reflexiver Rückkoppelung an ein ‚Mentales‘, was wiederum reflexiven Antrieb ermöglicht. Das bedeutet, dass Theoriebildung und praktischer Entwurf stetig ineinander verflochten sind. Es leitet Denk- und Handlungsprozess als ein permanenter Vorgang der Abwägungen und Überlegungen an, die nach vorne sich an Neues herantasten, nach hinten sich den Motiven der gefundenen Setzungen zu vergewissern trachten. Nicht Konzepte, Briefings und instrumentelle Setzungen, also nicht die Ausarbeitung von Vorhaben und deren logistisch-algorithmische Abarbeitung für die Umsetzung derselben in und als Realität, ermöglichen dies, sondern eine spezifisch intuitive Reflexivität. Diese ist für Design besonders geartet und in Zeiten der Krise des Wissens, der Wissenschaften, ganz zu schweigen von den Lenkungsvorgaben durch Politik und Ökonomie, wohl ein wesentlicher Grund dafür, dass designtheoretische Erörterungen und Erfahrungen in den Prozess der Konnektivität des Wissens und der Erkenntnis zwischen den Disziplinen attraktiv geworden ist. Am Rande hat das selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Frage, ob und wie denn Promovieren in Künsten und Design, also der Vermittlung ‚freier‘ und ‚angewandter‘ Disziplinen in gerechtfertigter Weise stattfinden soll.

078  NEUE KONTEXTUALI­S IERUNGEN UND KONTROVERSEN – ­D ESIGN UND ­FORSCHUNG 

VERSTREUTE NOTIZEN A: GRUNDLAGEN UND KONTEXT ZU FORSCHUNG IM GESTALTE­RISCHEN FELD Die Situation unserer Kultur ist vorrangig durch vier Eigenschaften gekennzeichnet: • den zunehmenden Verlust der Arbeit als Basis und Medium existenzieller Selbstinterpretation und sozialer Anerkennung; strukturelle Gewalt erzwingt die Auszehrung der Subsistenz, ­erzeugt Pauperisierung; • die ständige und beschleunigte Entwicklung von Technologien im elektronischen Bereich; • die Aufspaltung von Alltags-, Wissenschafts- und Technikkultur, konkret: die freiwillige Depotenzierung und Proletarisierung von Kenntnissen und persönlich erworbenen, verfestigten, gefestigten und geübten Fähigkeiten (durch externe Evaluierungen, Creditpoints, GPS etc.); • die Pluralisierung von Teilkulturen oder auch: Parallelkulturen (Symbolen, Codes, Rhetoriken, Zeichenmodellen, Strategien der semiotischen Identitätssicherung). Es droht eine zunehmende Spaltung zwischen Alltagskultur, Wissenschaft und Technik. Gestaltung – im weiteren Sinne der Einrichtung der Lebenswelt (Verhältnis von Natur und Kultur), im engeren Sinne als Entwicklung und Anwendung künstlerischer, poetischer, experimenteller und heuristischer Methoden – ist nicht selbstreferenziell, sondern – gerade auf der symbolischen Ebene – immer auch soziales und kommunikatives Handeln. Technologie, Wissenschaft und Kultur rechnen zu ihren Aufgaben und Gegenstandsbereichen. Dass Technikgesellschaft und elektronische Technologie die bisherigen Künste rasant verändern werden und Gestaltung längst nicht mehr über eine Einheits-Doktrin programmatisch geregelt werden kann, ermöglicht und erfordert die permanente Reflexion der Arbeitskonzepte, Methoden, Ausdrucksmittel und Ziele. Gestaltungsaufgaben benötigen deshalb heute prinzipiell die Möglichkeit eigener Grundlagenforschung. Gestalterische Forschung muss jedoch, wenn sie diesen Namen verdienen will, den generellen methodologischen Kriterien der Forschung standhalten können: • • • •

Konsensualisier- und Beurteilbarkeit von Vorhaben, Validierung von Resultaten, Objektivierung von Ausgangsbedingungen, Pluralisierung und Reversibilität der Methodenwahl,

VERSTREUTE NOTIZEN A  079

• Gewinnung und Formulierung von Hypothesen, Thesen, Gesetzen in Übereinstimmung mit dem Falsifikationsprinzips und den generellen Anforderungen einer kritischen Wissenschaftstheorie. Diese Kriterien müssen auf der Basis einer Theorie und Methodologie des Ästhetischen von Fall zu Fall spezifiziert und modifiziert werden. Gestalterische Forschung muss ihre Voraussetzungen (Anfangszustände), Verfahrensweisen, Gültigkeitsansprüche intersubjektiv und nach kommunikationstheoretischen Regeln sichern können. Gestalterische und künstlerische Forschung ist nicht privilegiert individuell oder intuitiv. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung, die sich primär als Logik der Forschung orientiert, operiert künstlerisch-gestalterische Forschung auf der Ebene einer Logik des Handelns, der Umsetzung und Vermittlung.1 Keineswegs arbeitet sie jedoch mit qualitativ anderen Methoden oder einzigartigen, exklusiven Gegenstandsbereichen. Als Regulativ genuiner Methodenorientierung gestalterischer Forschung kann einzig die poetische, ästhetische und phatische Funktion des Symbolischen im Unterschied zu referenziellen und informativen Zeichenfunktionen beansprucht werden. Sie arbeitet aber nicht zwangsläufig mit anderen Methoden oder Medien und kann auch nicht primär angewandte Forschung im Sinne einer Technologienutzung sein. Insoweit sie Grundlagenforschung zu sein vermag, betreibt sie einen Methodenpluralismus und benutzt analog der wissenschaftlichen Grundlagenforschung außergewöhnliche Arbeitsformen, deren Paradigmatik sich im Unterschied zur normalen und gewöhnlichen Forschung durch situative Heuristik auszeichnet. Festzuhalten ist in jedem Falle: Grundlagenforschung ist ein Entwicklungsstadium der Forschung, nicht deren Anfangszustand. Objektivierbar haben demnach auch die Grundlagen perspektivenreicher Intentionen und von Innovationschancen zu sein. Keineswegs kann der gestalterische Forscher in autoritativer Setzung die dunklen Gründe intuitiver Absichtlichkeit als Anfangszustand reklamieren und gleichzeitig und gleicherweise an der Objektivität und Universalsignifikanz der Resultate als Bezugsfeld kultureller und kommunikativer Handlungsansprüche festhalten. Solche Setzungen brechen sich an der Zufälligkeit der Resultate. Die nach wie vor weit verbreitete Überzeugung, das jeweilige periphere und akzidentielle eigene Tun als Forschungsarbeit zu deklarieren, belegt, dass gestalterische Forschung zuallererst ein angemessenes Methodenbewusstsein zu entwickeln hat. Weist auch auf, dass gestalterische Forschung nicht definitorisch über die Schemata künstlerischer Selbstbestimmung beansprucht werden kann. Jede Forschung ist ein Kommunikationsprozess. Dem hat auch die künstlerischgestalterische Eigenwilligkeit sich zu assimilieren. Vorrangige Gegenstände einer gestalterischen Forschung sind auf der Ebene einer symbolischen, reflexiven Aneignung der Kulturentwicklung, ihrer Dynamik und Tendenzen, Mechanismen und Perspektiven angesiedelt.

080  NEUE KONTEXTUALI­S IERUNGEN UND KONTROVERSEN – ­D ESIGN UND ­FORSCHUNG 

Gestalterische Forschung untersucht im Einzelnen: • Produktion, Zirkulation, Vermittlung und Aneignung des ­symbolischen Handelns; • den Transfer von Wissenschaft und Technologie in Kunst, ­Design und Alltagskultur; • Logik, Struktur, Ausdruckskraft und Gestaltqualität spezifischer Darstellungs- und Zeichensysteme in ihrer internen Bedingtheit sowie ihren Koppelungen an sie umgebende Systeme (Gesellschaft, Politik, Technologie, Natur); • die wechselseitigen Beeinflussungen zwischen künstlerisch-­ gestalterischen Experimenten, Gestaltungsmethodologie und Kulturentwicklung; • die Schnittstellen von Alltags-, Wissenschafts- und Technik­ kultur; • Möglichkeiten, Perspektiven und Grenzen einer Integration von Wissenschafts- und Technologie-Entwicklung in Gestaltungsmethodologie und gestalterische Praxis. Qualifizierte gestalterische Forschung ist durch eine integrale, grundlagenorientierte Forschungsprogrammatik ausgezeichnet. Von dieser Forschung sind qualitativ zu unterscheiden: • die Applikation eingeübter und etablierter Methoden auf ­modifizierte Themen (Übung, Repetition, curriculares Alltagshandeln); • die Entwicklung und stetig kritisch bilanzierende Auswertung von Forschungsprojekten (Vorphase, Themenfindung, Zwischenresultate, Hypothesen, falsifizierbare Gesetzes-Postulate etc.); • die Weiterbildung individueller künstlerischer und gestalterischer Ad-hoc-Verfahren; • Projektrecherchen (Ausstellungen, Weiterbildung, Unterrichtstätigkeit); • Schul- und Museumsaktivitäten (Normalbetrieb). Von einer Programmatik gestalterischer Grundlagenforschung sind im Übrigen auch Gewinne zu erwarten für eine experimentell-testende und konstruktiv-offene Nutzung innovativer Prozesse sowie für die Differenzierung, Modifizierung und Neuentwicklung einer gegenwartsfähigen, aktuell bedeutsamen, zeitgeschichtlich substanziell orientierten Lehrtätigkeit.

VERSTREUTE NOTIZEN A  081

Geschrieben am 7. Januar 1994. Auszüge und umgearbeitete Thesen aus dem Kontext der Erarbeitung des Teilprojektes „Forschung“ (gemeinsam mit Martin Heller) für die Hochschule für Gestaltung und Kunst Zü­ rich 1994 und 1995 (Schlussbericht eben dort 17. Mai 1995). Zusammen mit vielen anderen Grundlagen ver­ wendet für den Vortrag „Entwerfen und Improvisieren. Reflexionen zu Kunst und Design auf dem Hintergrund von ‚Disegno‘ und ‚Paragone‘ (Festvortrag im Rahmen der Wochenexkursion/Studienfahrt Biennale 2011 der Stipendiaten Kunst/Design der Studienstiftung des Deutschen Volkes, gehalten im Centro Tedesco/Deut­ sches Studienzentrum Venedig, Palazzo Barbarigo della Terrazza, Venedig, 4. August 2011). Vgl. auch die Pu­ blikation von: „Design – zum Forschen prädestiniert. Birgit S. Bauer traf Designforscher Hans Ulrich Reck“, in: design report 2/12, Zeitschrift, hgg. Rat für Formgebung, Leinfelden-Echterdingen, 2012, S. 40 f.

1

Eine zentrale Einsicht, These und Forderung von Bazon Brock seit den 1980er-Jahren. Vgl. Bazon Brock, Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978–1986, Köln 1986.

082  NEUE KONTEXTUALI­S IERUNGEN UND KONTROVERSEN – ­D ESIGN UND ­FORSCHUNG 

DOKTORIEREN AN KUNSTHOCHSCHULEN – ­EINIGE VORAUSSETZUNGEN, KRITERIEN UND PERSPEKTIVEN Vorbemerkung Der Natur der besonderen Erkenntnisproblematik in den Künsten, der Kreativitätsvermutung des genuinen Entwerfens und der Tatsache, dass epistemische Prozesse in den Künsten den strukturellen Status von Grundlagenforschung haben, ist im Folgenden von Beispielen der Künste, des Doktorierens an Kunsthochschulen etc. die hauptsächliche Rede. Mit gemeint sind aber immer die Domänen und Dimensionen von Gestaltung in allen Facetten und Ausdrucksformen. ‚Freie‘ wie ‚angewandte‘ Künste bilden ein dynamisches Feld wechselseitiger Überschneidungen und Durchdringungen. Die Bezeichnungen – wie ‚freie‘, ‚angewandte‘ – verraten vorrangig ideologische Kulturbewältigung. Man könnte statt ‚Kunst‘ auch ‚Gestaltung‘ oder ‚Design‘ sagen. Nun sind Designprozesse eben vollumfänglich und äquivalent mit gemeint, wenn im Folgenden das Feld der Künste im Hinblick auf die Frage von Forschung und intra- wie transsubjektiver Qualifikationsfeststellung verhandelt wird: Kunst und Design als eines, Identisches im Hinblick auf die erörterten Fragen und Anforderungen der epistemischen Reflexion.

Einleitend: Knapper Erfahrungsbericht aus Köln Die Kunsthochschule für Medien (KHM) Köln ist eine Einrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW), nicht der Stadt Köln. Sie ist von Anfang an mit dem Promotionsrecht ausgestattet und dementsprechend mit einer starken, nach strikt universitären Anspruchskriterien zusammengestellten wissenschaftlichen Abteilung ausgerüstet worden. Allerdings mit dem Auftrag, eine tragfähige Promotionsordnung auf der Basis von Erfahrungen mit künstlerischen Ausbildungen, also erst nach einer gewissen Zeit, zu erarbeiten. Das Land NRW behält bisher das Promotionsrecht als wissenschaftlichen Abschluss wissenschaftlicher Studien prinzipiell – und in Übereinstimmung mit Tradiertem – den Universitäten vor. Mit der KHM Köln wurde eine für Kunsthochschulen übliche Regelung getroffen, zumal die KHM von Anfang an als universitäre bzw. universitätsgleiche Einrichtung definiert und ausgestattet worden ist. Zudem räumt das Kunsthochschulgesetz, respektive die zyklisch erfolgenden Novellierungen mitsamt Adaptierung des Hochschulgesetzes auf Belang der Kunsthochschulen diesen explizit ein genuines Promotionsrecht ein. Allerdings wird immer wieder beansprucht, dass Promotionen kooperativ oder gar unter der Federführung der Universitäten stattfinden sollen, was dem bisherigen Kunsthochschulgesetz widerspricht, das den Institutionen auch das ­ enehmigung einer Habilitationsrecht einräumt, bei entsprechender Ausrichtung und G

DOKTORIEREN AN KUNSTHOCHSCHULEN  083

­ rdnung durch das M O ­ inisterium. Bestehende Kunsthochschulen und -akademien haben das in einigen wissenschaftlichen Fächern realisiert: Philosophie, Psychologie, Pädagogik. Absehbar ist, dass sich längerfristig nicht der dezidiert autonome, sondern der pragmatische Weg durchsetzen wird und das Recht auf Promotion in Kooperation mit den Fächern und Fakultäten der Universitäten ausgestaltet werden muss. Dafür gibt es natürlich gute Gründe. In der Regel ist die personelle Ausstattung an Kunsthochschulen zu dünn. Wenn nur ein Professor promotionsberechtigt ist in einem bestimmten Fach, dann ist das zu wenig und Einbezug der Universitäten in jedem Falle notwendig, zum Beispiel bei der Durchführung und Ausgestaltung eines Promotionsstudiums. Keineswegs verschließt NRW sich den auf eine neue Typologie hinwirkenden absehbaren Neuerungen, die außeruniversitäre Organe mit einem bisher den Universitäten vorbehaltenen Recht ausstatten: Entprivilegisierung und Nivellierung liegt im Trend der aktuellen Ideologien in Europa (Stichwort ‚Gleichstellung‘). Gesetzesentwürfe in diesem Feld sehen vor, dass Dissertationen auch an Fachhochschulen (nachfolgend abgekürzt als FH) und Kunsthochschulen (nachfolgend abgekürzt als KH) möglich sind, wenn 1. die Federführung und Verleihung bei Universitäten liegt und sofern 2. die FH gemeinsam mit den promovierenden Universitäten die Promotionsausbildung, also Formation der Voraussetzungen aufbauen und durchführen sowie am entsprechenden Unterricht mitverantwortlich beteiligt sind. Dann sind auch Gutachter aus den FHs möglich (wenn auch als Zweitgutachter, was hier aber keine Kastenordnung indiziert). Es sind die Universitäten, die promovieren (dürfen, sollen). Sofern gemeinsame Programme vorliegen, die von den Universitäten, und das heißt hier immer: entsprechend qualifizierten und sich verantwortlich erklärenden promotionsberechtigten Professorinnen und Professoren, also von Personen, dem von ihnen entwickelten Ausbildungsprogramm sowie dessen wissenschaftlicher Verallgemeinerung und Anerkennung, nicht aber von abstrakten Institutionen ‚an sich‘, verantwortet werden. Es sind also Dissertationen auch in Kooperation mit Kunstakademien und FHs möglich. Selbstverständlich sind an den an Universitäten – wie beispielsweise an der Bergischen Gesamthochschule/Universität Wuppertal, im Falle der Kunsthochschule als eigenständiger Fachbereich an der Universität/Gesamthochschule Kassel oder auch im Falle der Hochschule für Musik und der Kunsthochschule, vormals Kunstakademie Mainz, die beide der Universität Mainz eingegliedert sind – eingerichteten Studiengängen, die den Künsten verbunden sind, künstlerische Elemente und Anteile an den Promotionen möglich – nach Anerkennung durch die Lehrenden und die offiziellen Gutachten. Nach langer Abklärung hat sich die KHM Köln nicht für einen internationalen PhD oder die ohnehin jederzeit und weiter mögliche Kooperation z. B. mit der eta­blierten und bereits bewährten Humboldt Universität zu Berlin entschlossen, sondern – man mag sagen: konservativ und traditionell – für ein wesentlich wissenschaftlich fokussiertes Anspruchsprofil, also nicht für einen ‚Dr. in Kunst‘, der vorrangig in künstlerischen Erzeugnissen besteht, die durch irgendeine Art von bestenfalls künstlertheoretischer Reflexion oder auch nur prozessual berichtender Annotation garniert wären. Diese freie Entscheidung basiert auf der Überzeugung, dass die Jahrhunderte alte und

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überaus tiefe Kluft zwischen den Künsten und den Wissenschaften nicht durch billige Koexistenzen von Titularbehauptungen geschlossen werden kann, sondern nur durch den Nachweis der Einbeziehbarkeit künstlerischer Forschung in die intersubjektiv und konsensuell nach gängigen oder ‚normalen‘ wissenschaftstheoretischen Maximen der scientific community überprüfbaren wissenschaftlichen Forschung. Das schließt künstlerisch-mediale Arbeitsanteile keineswegs aus. Im Gegenteil. Auch sind Gruppenarbeiten möglich. Ein Promotionsausschuss entscheidet über Zulassung. Hier sind ebenfalls künstlerische Einschätzungen präsent. Elementare Voraussetzung ist die Verantwortlichkeitserklärung seitens eines wissenschaftlichen Professors als stetigem Haupt-Betreuers. Hier hat die KHM eine relativ ‚weiche‘ Lösung ermöglicht. Formale Voraussetzung für Promotionsbetreuung ist, in Abweichung von universitären Gepflogenheiten, denen zufolge immer eine Stufe höher qualifiziert sein muss, wer Qualifikationen auf einer tieferen Ebene zu- und ausspricht (was für Promotionen Habilitation und formale ­Zuerkennung einer ‚venia legendi‘ voraussetzt), ‚nur‘ die Promotion. Der Ausschuss kann für den Promotionsstudiengang detaillierte Ausbildungsprogramme als Vorbedingung des Eintretens in den Dissertationsprozess festlegen, die auch an anderen Institutionen absolviert werden können. Zugelassen werden kann, unter der Voraussetzung, dass, wie eben genannt, eine Verantwortlichkeitserklärung und Betreuung seitens eines prüfungsberechtigten wissenschaftlichen Professors ausgesprochen worden ist, jede Person, die über einen entsprechenden Studienabschluss verfügt. Von den etwa 35 in den letzten 15 Jahren initiierten Promotionen sind bis 2020 an der KHM elf abgeschlossen, davon aber nur eine einer Absolventin der KHM mit einem Diplom in ‚Medialen Künsten‘, vormals ‚Audiovisuellen Medien‘, dem einzigen Abschluss (und Studium), den die KHM anbietet. Derzeit – Oktober 2020 – werden im Promotionsprogramm 13 Projekte genannt. Außerdem sind etwa ein Dutzend Promotionen, die wesentlich von Lehrenden der KHM initiiert und geprägt worden sind, an anderen Orten durchgeführt worden. Die KHM setzt auf eine induktive Entwicklung spezifischer Dissertationsvorhaben, die den Bezug zur künstlerischen Praktik in enger Weise suchen und aufweisen. Induktiv heißt: fallweise mit geeignet erscheinenden Kandidatinnen und Kandidaten. Es sind hier Quereinstiege und Außenseiter-Entwicklungen möglich und auch erwünscht, die für alle Beteiligten bewusstermaßen ein mitunter erhebliches Risiko darstellen, weil immer nur hypothetisch eine Erwartung an Erfüllung der Ziele vorliegen kann, da z. B. kein eigener wissenschaftlicher Unterbau ein wissenschaftliches Studium über Jahre so anlegen kann, dass eine größere Zuversicht oder Sicherheit im Vorfeld gegeben wäre. Verliehen wird ein Dr. phil. mit Verweis auf ein von Anfang an zu benennendes Arbeitsgebiet. Davon gibt es sechs: Kunstwissenschaft, Medienwissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Designwissenschaft, Filmwissenschaft, experimentelle Informatik. Allerdings wird nur in einem Fach zum Dr. phil. promoviert: in Kunst- und Medien­wissenschaft.

DOKTORIEREN AN KUNSTHOCHSCHULEN  085

Thesen: Erörterungen zur Frage, ob ein Promotionsstudium (Doktorat oder PhD) als ein dritter Zyklus ein Bedürfnis und eine Perspektive für die (im Kontext einer Fachhochschul-­ Gesetzgebung geregelten) Kunsthochschulen darstellt Die Kunsthochschulen brauchen diesen dritten Zyklus nicht. Sie sind aus verschiedenen Gründen weder kurz- noch mittelfristig in der Situation, solches vorrangig oder gar einzig über einen Bedarf zu definieren und zu fordern. Sollten sie der Meinung sein, dies prinzipiell zu wollen und zu sollen, also als positive Forderung vorzutragen, dann bedarf solcher Wille einer Begründung, die dem Gehalt des begehrten Zielobjekts entspricht, d. h. die Begründung kann nicht als institutionelle Behauptung, mittels und im Verweis auf territoriale Wichtigkeit, bildungspolitische Gleichwertigkeit, internationale Tendenzen oder auch und gar unausgesprochenes Prestigedenken vorgetragen, sondern nur im kritischen Diskurs intersubjektiv und in überprüfbarer Weise, in rationaler, begründender Argumentation nach den Minimalkriterien des kritischen Rationalismus und des in der scientific community anerkannten wissenschaftstheoretischen Kriterienkatalogs vorgetragen werden. Kurz- wie mittelfristig geht es an FHs wie an KHs dagegen um den entschiedenen Auf- und Ausbau starker kunstbezogener Forschungen, also poetisch-praktische Formulierung und Erprobung forschender Denkweisen und eines reflexiven Experimentierens im Feld der Künste. Im Folgenden meint ‚Kunst‘ deshalb alle Sparten, nicht nur die immer vorrangig als ‚bildende Kunst‘ konnotierte Gattung, also: Theater, Literatur, Poesie, Musik, Design, Film, Architektur; das gesamte Spektrum der ‚freien‘ und ‚angewandten‘ Künste, visuelle Kommunikation, Grafik, Textil, Schmuck, Mode, Produkte­design, Innenarchitektur etc. Künstlerische Entwicklungsvorhaben können durchaus Status und ­Bedingungen von Grundlagenforschungen im Sinne der Paradigmentheorie von Thomas S. Kuhn aufweisen und erfüllen.1 Sie haben ihn aber nicht automatisch oder per se. Und schon gar nicht erhalten sie ihn durch Selbstzuschreibung, Empfinden, Begeisterung und dergleichen mehr. Vielmehr ist ‚Paradigma‘ ein aus einer so tiefen Krise und erzwungenen Umschichtung hervorgehendes Denk-, Handlungs- und Argumentationsmodell, das kein Beteiligter aus internem Blick heraus ein solches Paradigma vor seiner komplexen Durchsetzung und Entfaltung schon nur bezeichnen, geschweige denn beschreiben könnte. Paradigma ist eine Rekonstruktions-, keine antizipierende Programm-­ Kategorie. Langfristig geht es darum, in diesen und mittels dieser Forschungspraktiken ­einen fähigen Unterbau zu erarbeiten für die anschließenden hochstufigen, selektiv angegangenen Promotionsvorhaben an Kunsthochschulen. Zahlreiche Gefahren lauern hier, die schon jetzt beobachtbar und benennbar sind: Das Recht auf Dissertationen bildet nicht nur ein wesentliches Prestige (und bisher privilegiertes Kennzeichen universitärer Bildungsabschlüsse), sondern eben deshalb auch ein Verführungspotenzial für alle möglichen Formen von Selbstverblendung und territorialen Besetzungsstrategien, sowohl aufseiten der Lehrenden wie der der ­Studierenden. Der größte Fehler wäre, zu be-

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haupten, es sei ‚evident‘, dass künstlerische Promotionen per se einen epistemischen Vorsprung aus sich heraus und in definitiver, eben wiederum ‚evidenter‘ Unvergleichlichkeit mit anderem hätten, das bis dato nicht wirklich existiere, weil sich das intime Wissen der Künstler, hervorgehend aus rein internen und genuinen Praktiken, nun auf einen künstlerisch wahren, also exklusiven Gegenstand richtet. Solche Auffassungen sind in aller Regel ungerechtfertigt, verstiegen und blind. Promotionen an Kunsthochschulen sind in spezifischer Weise wünschenswert als Beiträge zu dem, was Promotionen immer schon geleistet haben: Ausweis einer allseitig und verbindlich auf dem Niveau aller jeweils spezifisch entfalteten Kenntnisse (‚state of the art‘) und der kundigen Bewältigung eines Erkenntnis- und Forschungsstandes erfolgenden Bearbeitung der Zusammenhänge, Eröffnung von neuen Perspektiven in mindestens einem bisher nicht so gewerteten Teilaspekt, Erweiterung der Themen, Steigerung der Problematisierung. Der angestrebte unverzichtbare Komplexitätszuwachs bedarf einer reflexiven und meta-theoretischen Darlegung und Artikulation. Promotionen beschäftigen sich niemals in ‚intimer‘, gar exklusiver Weise mit einem angeblich nur in ihrer Sicht existierenden Stoff oder Objekt, einem als ‚evident‘ und privilegiert behaupteten Gegenstandsbereich – epistemologisch würde das in die bekannten, breit erörterten Aporien des ‚Privatsprachenarguments‘ führen, das, hart an der Grenze zur Pathogenese, ein ‚Etwas‘ behauptet, das nur introspektiv offensichtlich und zweifellos gegeben ist und deshalb angeblich extern begründungsimmun, ja, jeder Explikation grundsätzlich enthoben sei. Die große historische Hintergrunds-Markierung der Divergenz von Künsten und Wissenschaften in den epistemischen Prozessen und Dispositiven Europas erklärt ein spezifisches Gegenwartsproblem in der Debatte zum hier verhandelten Thema. Die Entwicklung der gleicherweise von Religion wie anderer Bevormundung sich emanzipierenden Künste und Wissenschaften in der Neuzeit beschreibt für diese beiden einen parallelen Begründungsprozess, der zwar identische Grundlagen und Ziele hat, jedoch später in eine immer rigider wirkende und bisher unumkehrbare Subsystematisierung führte, welche die Bereiche selbstreferenziell ausrichtet und voneinander abkoppelt. Bis zur Entfaltung der industriellen Anwendung und ‚großen Maschinerie‘ im 19. Jahrhundert bildete Kunst mit Naturforschung, Technologien eine durchgängige Kette von Signifikationen und Exemplifizierungen mit identischen Voraussetzungen, Methoden und Überzeugungen. Das Wesen des Lebendigen konnte gleichermaßen und in gleicher Weise studiert werden anhand der Konstruktion einer Maschine, anhand der Skulptur, anhand des lebendigen Organismus oder der dafür verwendeten Symbolsysteme und Zeichenketten. Kunst und Industrie, Wissenschaft und Forschung bildeten eine Einheit.2 Diese ist in der Entwicklung vom 17. zum 19. Jahrhundert aufgrund des epistemischen Fortschritts der Wissenschaften zerbrochen, die sich im selben Schritt auch von der Behauptung einer nur noch in Abstraktionen sich entwerfenden, aber dogmatisch werdenden und bevormundenden Systemphilosophie lösten, die sich immer stärker vom Erkenntnisfortschritt der Wissenschaften entfernte. Im 18., an breiter Front im 19. Jahrhundert war es dann so weit, dass Wissenschaften und Künste, Industrie, ­Ästhetik und Lebenswelt nicht mehr zu einer Einheit (gar jener von ‚Sinn‘)

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verklammert sein konnten. Industrialisierung und Technologie, Maschine und Naturbearbeitung wurden abgespalten von den Künsten. Die Wissenschaften modellierten Lebenswelt und die Anwendung von Wissen nach ihren genuinen Prämissen, Forderungen und Bedingungen. Die Künste wurden aus dem Lebensprozess ausgegliedert und erhielten, sofern sie nicht polytechnisch in die angewandten Wissenschaften aufgenommen werden konnten – wie dies mit der Textilproduktion, industriellem Produktedesign, Ingenieurwissen und Architektur, Schmuckkunst auf industrieller Basis und Weiterem möglich war –, als Existenzgrund wie -ort das Museum zugeteilt. Winckelmanns Einrichtung der Kunstsammlung in der Villa Albani in Rom Mitte des 18. Jahrhunderts markiert die erste historische Zäsur, die Schinkels Kunst-Museum in Berlin als Verstofflichung der geschichtsphilosophisch argumentierenden Ästhetik Hegels kanonisch festschrieb:3 Das Kunstmuseum wurde damals und bis heute verbindlich (dispositional unauflöslich) zur Inkorporation einer dogmatisch Werte und Qualitätsmaßstäbe im Werk selber setzenden, nach Schemata argumentierenden, in Zeitgeistern bis an die Schwelle des absoluten und Zeitlosen progredierenden Kunstgeschichte. Nicht zufälligerweise vollzog sich in derselben Epoche die Entwicklung eines auf (wenn auch epistemische) Sensualität bezogenen neuen ‚Ästhetik-Konzepts‘. Baumgarten begründete die moderne Disziplin der Ästhetik zum Zwecke der Einübung in das Schöne der epistemischen Sinnlichkeiten und der Wahrnehmungsobjekte mit den Mitteln der zu solchem hinleitenden und notwendig hinführenden bildenden Künste. Seither zählen die Künste endgültig zu den ‚humanities‘, nicht zur ‚science‘. Sie werden als weiche, unscharfe, undeutliche, ‚schwammige‘ Größen behandelt – manchmal in positiver, manchmal in negativer, aus wissenschaftlicher Sicht epistemologisch jedoch immer in defizitärer Bewertung. Ein Rückblick auf das System der Organisation der Künste und Wissenschaften in der frühen und der entfalteten Neuzeit – also Transformation sowohl der ‚artes liberales‘ wie der ‚artes mechanicae‘ – zeigt, mit welcher Drastik die ‚freien bildenden Künste‘ in die Symbolizität der Bilder, d. h. in das vorher genannte Museum abgedrängt worden sind. Seitdem und von dort her wollen die Künstler immer wieder ‚ins wahre wirkliche Leben‘ ausbrechen. Die Bemühungen um einen ‚dritten Zyklus‘ spielen sich immer noch auf diesem semantischen Hintergrund ab. Sie sind unter der Vorgabe des historischen Verdikts der Einzäunung mindestens der freien bildenden, aber auch zahlreicher musikalischer und darstellender Sparten in einen musealen Bereich zu sehen. Auf diesem Hintergrund ist deren heftige Abneigung gegen die Musealisierung zu verstehen. Erweiterte Qualifikationen, Lebensformen reformierende Utopien und Weiteres leiten sich aus dieser erzwungenen Musealisierung und der darin motivierten Museumsphobie her mit der Hoffnung auf Rückgewinnung lebensweltlicher, also praktischer und nicht mehr ‚nur‘ poetischer Geltung und Wirkung. Wie man sieht, reichen und gründen die historischen Markierungen und Spuren solcher Differenzen außerordentlich tief. Wenn heute die Künste epistemische Bedeutungen durch Erreichung wissenschaftlich bekräftigter Resultate entfalten sollen, so bearbeiten sie ihr Thematisierungspotenzial dadurch, dass sie sich zugleich als eine mediale Selbstkritik, als Meta-Reflexion bewähren. Das könnte ein Hinweis auf die zeitgeschichtliche Dynamik sein, dass

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Künste sich in spezifischen, generalisierbaren Forschungen erneuernd zu bewähren haben. Selbstkritik der Medien meint: Die Wahrnehmung der vermittelnden Setzungen, Inszenierungen, Artikulationen könnte mehr als eine Propädeutik und Methodologie, nämlich eine Epistemologie werden. Das setzt aber die entschiedene Ablösung von und Absage an das Syndrom einer Romantik voraus, die nur Ideolekt, Idiosynkrasie und Privat-Utopie des sich selber privilegierenden Künstlers wäre. Dieses Letztere, seit Langem eingeschliffene Künstlerbild zielt entschieden nicht auf Konsensualisierung und Argumentabwägung, sondern erschöpft sich in der Radikalisierung von Emotivität, dem Ausdruck persönlicher Vision als einer selbstgenügsamen Geste. Diese wird aber im 20. Jahrhundert bereits durch gesteigerte Medialisierung, Hybridisierung, Verfransung und vor allem die zunehmende Technisierung und apparative Gründung/Verschaltung der audiovisuellen Kunstproduktion überschritten. Nicht zuletzt die algorithmisch gestützten, digital verfahrenden, informatisch basierten Künste sind auf kooperative oder gar ‚kollaborative‘ Praktiken und Strukturen sowie eine wissenschaftliche, experimentierende Reflektierbarkeit der Episteme, Methoden und Praktiken ihrer Arbeit und Werke angewiesen. Dafür reicht die ideelle, zuweilen auch nur ideologische Deklaration einer Absicht zur Aufhebung der Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst nicht mehr. Die Hochschule für Gestaltung Ulm, die als bisher einzige Institution im 20. Jahrhundert die Methodologie der Künste auf wissenschaftliche Basis zum Zwecke der Erneuerung der Technikkultur und Lebensformen stellte, scheiterte an einer dogmatischen Ausblendung genau solcher problem-­ orientierten Reflexion und Meta-Reflexion. Anders gesagt: an einer ästhetikimmunen Reduktion von Komplexität. Konsequenz daraus könnte die Einsicht sein, dass ein neuer Ästhetik-Begriff, eine Inhaltlichkeit, nicht eine Form, über die wissenschaftliche Möglichkeit und epistemische Qualität der Künste bestimmen. Die entscheidende Frage ist hier nämlich: Wenn Promotionen Forschungsarbeiten sind, die auf Erkenntnisgewinn bezogen sein müssen, was kann dann die Kunst überhaupt noch beitragen? Vom Prinzip und zunächst generell müsste man wohl zugestehen: gar nichts, wenn und sofern es in ihr nicht vorrangig um meta-theoretisch artikulierbares Wissen und Erkenntnis geht. In neuer Ausrichtung allerdings würde die Frage differenzierter beantwortet werden können. Denn eine neue Konzeption könnte sehr wohl Evaluierungsprojekte z. B. auf die Apparate der technisierten Lebenswelt beziehen und damit dem Verdikt des mystischen Ideolekts der Künste, einer Arroganz der Avantgarden, der Hermetik der schieren innerlichen Subjektivität, sowie den Aporien der immer noch dominierenden romantisch-expressiven Kunstauffassung entgehen. Die jüngere Geschichte der beruflichen, oft mit großem Erfolg gewerblich zugeschnittenen und fundierten Künstlerausbildung, exemplarisch und vorrangig in der Schweiz, zeigt, dass bisher kaum auf Forschungsvorhaben solcher Ausrichtung, ja: irgendeiner Ausrichtung Wert gelegt wurde, dass man im Gegenteil stolz war auf eine vorrangig handwerkliche Ausbildung inklusive einer werklich-subjektiven Beratung der Studierenden, die ästhetisch nicht selten hemdsärmlig und grob verfuhr. Das bis vor Kurzem von dieser Tradition geprägte und bis heute überwiegend zuständige Lehrper-

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sonal ist für Forschungsvorhaben in keiner Weise ausgebildet oder vorbereitet. Das dominierende Modell war der Unterricht in Klassen mit Aufgaben und Übungsanteilen, die traditionellerweise in keiner Hinsicht als offene und explorative Forschungen eingerichtet worden sind oder als solche bestimmt werden können. Aus diesen historischen Betrachtungen, so zugespitzt und zuweilen leider auch verkürzt sie hier ausfallen müssen, ergibt sich eine grundsätzliche Ableitung: Als Promotionsprojekt soll grundsätzlich nicht ein kunstbezogener PhD verstanden werden, sondern ein Beitrag, der den wissenschaftlichen Anforderungen an Dissertationen zu genügen vermag. Das spezifische Künstlerische ist nicht der Gegenstand oder das Subjekt der Durchführung einer solchen Arbeit, sondern die Tatsache, dass sich aus bestimmten Fragestellungen und einem komplexen Problembewusstsein eine wissenschaftliche Thematisierung ergibt, die Künstler im Kontext von Wissenschaftssprachen artikulieren. Das schließt, analog zu medizinischer, biologischer, technischer und weiterer, z. B. Ingenieurforschung, nicht aus, dass praktische Untersuchungsanteile eine wesentliche Rolle spielen, z. B. algorithmische Konstruktionen, Interface-Gestaltung, mediale Versuchsreihen und Experimente, bildtheoretisch und designtheoretisch motivierte Untersuchungsanlagen, in denen die Darstellungs- und Entwicklungsform eine spezifische Grundierung in künstlerischer Entwicklungsarbeit haben. Immer ist in Betracht zu ziehen: Institutionen per se können nicht Träger von Fähigkeiten sein, die ein Promotionsrecht begründen können, auch wenn sie ein solches zu verwalten und zu schützen haben. Ein solches liegt ausschließlich in der Ausbildung, Qualifikation und Anerkennung der dafür ausgebildeten, befähigten Personen sowie – idealtypisch und wenigstens bis vor Kurzem auch empirisch – in der wissenschaftlichen Anerkennung, kritischen Begleitung und stetigen positiven Bewertung der von diesen entwickelten Promotionsausbildungen begründet. Institutionen haben demnach ein dafür erwünschtes Forschungs- und Lehrpersonal mit entsprechend benannten und ausgestatteten Professuren aufzubauen, einzurichten und zu unterstützen. Das bedeutet, dass für die Promotion zuständige Lehrkräfte sich auf universitärem Niveau gemäß den Regeln der Universität zu profilieren haben, denn nur dort wird Forschungsrationalität im kritischen (idealtypischen, idealisierten) Diskurs der dafür Zuständigen erarbeitet und überprüft – im Prinzip und dem Ziel nach zumindest. Das gilt auch in Einrechnung aller, selbst einer vehementen und pauschal vergröbernden Kritik im Hinweis auf Missbrauch, Ungenügen, Scheitern solcher universitären Utopie. Die größte Gefahr für institutionelle Selbstbehauptungen und Anspruchsstrategien besteht im globalisierten bürokratischen und politisch-strategischen Überhang eines großflächigen Durchsetzungsverfahrens zur Erreichung eines Promotionsrechts. Zu empfehlen ist für KHs wie FHs demgegenüber die flexible, jederzeit mögliche Kooperation mit interessierten und interessant erscheinenden Lehrstuhlinhabern und -inhaberinnen der Universitäten. Für alle Fachhochschulbereiche gilt hier die Einsicht in die Chancen solcher Kooperationen und ein Verzicht auf sinn- und haltlose Prestigekämpfe. Wer federführend tätig wird, ist nachrangig. Es geht um die Qualität der Forschung, die jeder interessierte Hochschullehrer anerkennen wird. Entscheidend ist, dass die zur Promotion führenden Forschungsprogramme ebenfalls frühzeitig in Kooperation mit

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den interessierten Bereichen der Universitäten (incl. ETH u. a. m.) aufgebaut und eingerichtet werden. Das ermöglicht beispielsweise auch heute schon ohne globale Flurbereinigung und territoriale Gesamtdekrete in Deutschland den Einbezug von Fachhochschulen in Promotionsverfahren auf Universitätsebene, obwohl die FHs als solche prinzipiell kein Promotionsrecht erhalten haben. Eine weitere große Gefahr für den Fall einer Behauptung exklusiver idiosynkratischer Kunstbezüge, also eines Dr. art., liegt darin, dass es sich beim PhD in Anlehnung an Gepflogenheiten in anderen Ländern oft um eine Art von Discount-Doktortitel zum Zwecke rein interner curricularer Qualifikation aus bürokratischen Zwängen heraus handelt4 – ohne damit die ja nicht generalisierbaren Kontexte im Umgang einer Anerkennung solcher Titel in anderen Ländern diffamieren zu wollen, die eben andere sind. Diese zu ermöglichen, nur um international mit dem Etikett eines PhD aufwarten zu können, wäre vielleicht für den Visitenkartenfetischismus befriedigend, inhaltlich aber falsch und längerfristig kontraproduktiv, ja, möglicherweise gar destruktiv. Folgerung: Anzustreben ist ein Dr. phil., der die Möglichkeit der Grundierung und des Einbezugs künstlerischer Entwicklungsvorhaben ermöglicht, aber kein Dr. art., der unvermeidlicherweise beliebigen künstlerischen Praktiken eine szientistische Nobilitierung überstülpt. Das bedeutet gleicher Weise und gleichzeitig eine Etablierung der Kunst-Ausbildungen auf universitärem, also Hochschulniveau und damit deren Herauslösung aus den bisherigen FHs. Es muss deshalb ein universitärer Abschluss gemäß der Forderung und Tradition der universitären Einheit von Forschung und Lehre angestrebt werden. Prominente Beispiele mögen auch in anderen Ländern orientierend sein: Jeff Wall schrieb eine kunstgeschichtliche Dissertation an einer Universität, als Kunsthistoriker. Aber nicht als Künstlertheoretiker über den Künstler Jeff Wall, sondern über den Künstler Dan Graham. Der als Architekt und Kunsthistoriker ausgebildete Manlio Brusatin schrieb eine gloriose Trilogie in Kunstgeschichte (Geschichte der Bilder, der Linien, der Farben). Offenkundig tat er dies nicht als Architekt, sondern als Kunsthistoriker. Natürlich lassen sich in diesen Personen die Bezüge nicht substanziell aufspalten, aber die Artikulation ist immer differenziert. Es ließen sich zahlreiche andere Beispiele aus verschiedenen Sparten beibringen, von Morris und Ruskin über Muthesius, van de Velde und Le Corbusier bis zu John Maeda. In den USA sind Ausbildungen von Künstlern als Kritiker und Kunsthistoriker an Universitäten gang und gäbe. Die Doppelung stellt kein Problem dar. Universitäre Abschlüsse für Künstler sind dort nicht rufschädigend im Unterschied zum innerlichkeitsobsessiven, expressionistisch vereinseitigten, romantisch verabsolutierten europäischen Künstlerbild. Dass sich dies hier im Kontext von Doktoraten ändern könnte, ist eine große Hoffnung, aber nicht durch bürokratisch verallgemeinerte Einführung eines dritten Zyklus’ oder PhDs zu erwirken. Wenn eine Dynamik künstlerischer Forschungen sich erreichen lässt, die zu wissenschaftlichen Abschlüssen führen kann, dann wohl vorrangig im Kontext einer Transformation der Künste selber, die sich den Ingenieurwissenschaften und Weiterem aktiv öffnen und von diesen lernen, statt eigenständige Materie, Ideolekt, idiosynkratische Evidenz oder gar ‚­eigene Sprachlichkeit‘ und Binnenprivilegien evidenten Selbstzugangs zu einem anders nicht

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Aussprechbaren zu behaupten. In diesem Zusammenhang wäre auch die Reform-Geschichte der Künstler-Ausbildung neu zu beleuchten. Im deutschsprachigen Raum gibt es eine im Bauhaus kulminierende rigide Wissenschaftsfeindlichkeit, die im Namen metaphysischer Künstler-Theorien gesetzt und später nur von der dann schnell vehement diffamierten und gescheiterten Hochschule für Gestaltung Ulm mit dem viel belächelten Anspruch einer wissenschaftlich fundierten Lebensreform und die Künste in Design transformierenden Lebens(um)gestaltung geäußert worden ist. Der hier begründete Vorschlag wirkt also darauf hin: • für einen potenziellen Unterbau starker Dissertationsvorhaben einen in jedem Schritt ausgebauten Forschungsbezug aller künstlerischer Praktiken einzurichten und dafür personelle Ressourcen und Qualifikationen zur Verfügung zu stellen; • Dissertationen auch an Kunsthochschulen wissenschaftlich zu definieren (unter Berücksichtigung all dessen, was Herbert ­Simon in den Wissenschaften des Künstlichen beschreibt5); • diese Prozesse nicht über gesamtpolitische Entscheidungen, Statusregelungen, FH- oder KH-gesetze, globale Abkommen zu bürokratisieren, sondern: • die gesamten Prozesse empirisch und induktiv an der Basis aufzubauen und in enger Kooperation mit allen sich anbietenden, autonom handelnden Kräften der Universitäten abzustimmen (Aufbau gemeinsamer Promotionsstudien, Kollegs, Forschungsprojekte etc.); • die Befähigung zu solchem strikte von Bürokratie und Institu­ tionen zu trennen und sie den dafür befähigten und ausgebildeten Personen zu überlassen, die zu entsprechenden Programmen qualifiziert UND der innovativen Erwartung und Sache nach befähigt sind.

Folgerungen, zusammenfassend: • Kunst als forschende Denkweise muss sich erst noch explikativ entfalten. Die Zuschreibung eines impliziten Potenzials reicht nicht, weil dieses oft durch hartnäckige Künstlermystifikationen bis zum Exzess behauptet und in seiner Glaubwürdigkeit mittlerweile restlos verschlissen worden ist. • Alle KHs in der Schweiz zeichnen sich – das ist die Markierung ­ihres geschichtlichen Dispositivs – bis vor Kurzem und demnach über den größten Zeitraum ihres historischen Wirkens hindurch durch eine, nicht selten ebenso bornierte wie stolz

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­ eanspruchte Theoriefeindschaft aus; wenn man darauf nur b aus Prestigegründen reagiert und letztlich eine erweiterte Selbstadelung der Praktiker anstrebt, wäre das einfach Etikettenschwindel. Promotionen an Kunsthochschulen dürfen nicht als Verlängerungen der künstlerischen oder praktischen Arbeit betrachtet werden, sondern haben wissenschaftliche Reflexionen auf dem höchstem Erkenntnisstand der wissenschaftlichen Gemeinschaft und des kritischen Prozesses intersubjektiver Wahrheitsund Erkenntnisbildung zu sein. Es sind starke wissenschaftliche (universitär kooperations- und konkurrenzfähige) Abteilungen dafür aufzubauen; gemeinsame Forschungsvorhaben von Wissenschaftlern mit Künstlern können eine große Chance sein – nicht nur für die Anerkennung der diesbezüglichen Arbeiten an den KHs, ­sondern, mehr noch, für den Ausbruch aus den ja nicht zu leugnenden (wenn auch immer nur einen Teil des Ganzen ausmachenden) erstarrten Ritualen repetitiver wissenschaftlicher, ideologisch und methodisch eingeschränkter Forschung. Promotionen wären nur als ein spezifischer, durch persönliche Voraussetzungen grundierter, mehr noch durch gerechtfertigte Möglichkeiten der Veröffentlichung spezifisch relevanter Forschungsergebnisse legitimierter Teil der gesamten Forschungen an den KHs, der nicht quantitativ, sondern nur qualitativ für die an einer KH möglichen Forschungen stehen kann; es geht bei einem Dr. phil. von Künstlern an Kunsthochschulen darum, eine Doktorarbeit als Beitrag zu einer scientific community zu verstehen, die durch neue Arbeiten nur in spezifischer Hinsicht berührt und angegangen werden soll. Dafür sind die Regeln klar formuliert. In Betracht der ohnehin paradoxalen, wenn nicht gar wideroder unsinnigen Verleihung von Künstlerdiplomen durch den Staat und in Kenntnis der Tatsache, dass künstlerisches Arbeiten zum Unterschied von wissenschaftlichen Befähigungen nicht auf gesetzlich geschützten Berufsbildern basiert – mit Ausnahmen der in verschiedenen Ländern erst durch Berufskammern zuerkannten Berufslizenzen, z. B. Architektur, Anwälte –, in Einrechnung also der Tatsache, dass Abschlüsse nicht nötig sind (letztlich noch nicht einmal für das künstlerische Unterrichten einer nachfolgenden Generation an KHs), kommt man zum Schluss, dass der Erwerb eines Doktortitels durch Künstler sich nicht im künstlerischen, sondern im ­wissenschaftlichen Feld zu bewähren hat. Ein Dr. art. wäre noch

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paradoxer oder ‚perverser‘, als es Künstlerdiplome, die nicht auf handwerkliche Berufsbefähigung abzielen, ohnehin schon sind. PhDs an Kunsthochschulen dürfen nicht Verlängerungen der künstlerischen Arbeit, sondern haben wissenschaftliche Reflexionen derselben auf höchstem Niveau in Einheit von Praktik und Reflexion, Entwurf und Experiment, Theorie und Kontextualisierung zu sein. • Die langfristige Perspektive kunstbezogener, spezifischer Forschung als Aufgabe für die Schweiz, die bisher keine Kunstakademien kennt und lange auch keine haben wollte, ist eine Aufgabe und Chance innovativer künstlerischer Forschung. Was davon in Dissertationsvorhaben mündet, ist kein Maß für die Qualität der nun verstärkt unternommenen und weiterhin wissenschaftlich zu unterstützenden, mit erweiterten Ressourcen verstärkt auszustattenden Forschung. Letzteres ist das, was in eigener Regie und ab sofort in Gang gebracht werden muss.

Geschrieben und entwickelt in mehreren Phasen in den 2000er-Jahren, u. a. im Kontext der Initiierung und Konzeption von Forschungsförderungen, die spezifisch für epistemologische Aktivitäten und Programme der Kunsthochschulen entwickelt werden sollten. Dies geschah in Beratungen, Vorträgen und Konzeptverfassun­ gen – vom April 2009 bis Sommer 2012 als Leiter, dann als beratendes Mitglied der Arbeitsgruppe „Kunst/ Forschung“ – für die Kunsthochschulrektorenkonferenz RKK der BRD. Die hier gekürzt wiedergegebenen Aus­ führungen lagen auch dem auf die Schweizer Problemlage und mögliche Perspektiven hin orientierten Vortrag zugrunde: „Keynote/Input/Thesen zu: ‚Brauchen die Kunsthochschulen einen dritten Studienzyklus? – Erfah­ rungen im Ausland‘“ (veranstaltet als Jahrestagung 2008 der KHS/Konferenz der Hochschulen für Musik, Theater, Tanz, Kunst und Design der Schweiz, Conservatoire de Lausanne – HEM, 17. Oktober 2008).

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Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1973; ders., Die Ent­ stehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 1976. Vgl. zum Folgenden: Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993. Vgl. Beat Wyss, Klassizismus und Geschichtsphilosophie im Konflikt. Aloys Hirt und Hegel, in: Otto Pöggeler, Annemarie Gethmann-Siefert (Hgg.), Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, ­Hegel-Studien, Beiheft 22, Bonn 1983. Zum Beispiel in Großbritannien, wo solche Qualifikationen primär dazu dienen, die vom Staat geforderten Qualifikationen für eine Lehrtätigkeit an denselben Kunstakademien vorzuweisen. Derselbe Staat fordert also Qualifikationen, die er auf der anderen Seite in einer serialisierenden Weise als Phasenziel derselben Studiengänge an denselben Institutionen einrichtet. Das hat natürlich nichts mit einem Erkenntnisgewinn zu tun, verbindet sich auch nicht auf natürliche Weise mit einer Perspektive auf solchen hin. Vgl. Herbert Simon, Wissenschaften vom Künstlichen, Berlin 1990.

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VERSTREUTE NOTIZEN B: PROMOVIEREN DURCH KÜNSTLER ALS WISSENSCHAFTLER AN KUNSTHOCHSCHULEN – FORSCHUNG, ­RECHERCHE, THEORIE, REFLEXION Vorab sei gesagt, worauf mein Beitrag hinausläuft, nämlich auf eine Begründung, wieso PhDs – im Sinne der international gängigen Doktorate in Humanities und allen möglichen Randgebieten – an Kunsthochschulen nicht Verlängerungen oder Darstellungen, nicht die üblichen notwendigen theoretischen Darstellungen und Selbstdarstellungen der künstlerischen Arbeit sein können, sich darin nicht erschöpfen dürfen, sondern wissenschaftliche Reflexionen auf höchstem Niveau zu sein haben

Typologie, Verdeutlichung mit denkbaren, durchaus realistischen ­Fallbeispielen: • Ein Designer entwirft einen Stuhl, studiert dafür Ergonomie, promoviert darüber (typologisch real, individuell erfunden). • Ein Typograf verfertigt eine Diplomarbeit über Schriftgestaltung, erfindet eine Schrift, gestaltet eine Broschüre und Website; er beginnt eine Promotionsarbeit, nicht über seine Gestaltung oder seinen Entwurf, sondern über die Geschichte der Schrift unter dem spezifischen Thema des bildnerisch darstellbaren Verhältnisses von Notation, diagrammatischen Zeichen, Phonetik, Weiterentwicklung der linguistischen Forschungen, insbesondere des strukturalistischen Modells von Roman Jakobson als Hintergrund (Beispiel erfunden). • Die Absolventin einer FH, Fachbereich Design, verfolgt ihre gestalterische und theoretische Arbeit zu neuen theoretischen Bezügen zwischen Design und Rhetorik als Promotionsunternehmen und wird im Gebiet Rhetorik an der Universität Tübingen direkt in das Hauptstudium Allgemeine Rhetorik aufgenommen und promoviert dort anschließend über „Visuelle Rhetorik im Film“, von einem prominenten Forscher und Professor betreut (reales Beispiel). • Ein Künstler/Student an einer KH baut eine Poesie-Maschine und promoviert in der Folge über sprachtheoretische Voraussetzungen maschinisierter Sprachverläufe und strukturaler Modelle von Semantik, Bedeutung und den Denkfallen im ­Begriffsfeld ‚Geist‘;

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er verbindet die Darstellung seiner Programmierung mit Erörterungen der Poetologie aleatorischer Gedichtformen und den genannten, überaus bedeutsamen und breit erörterten analytischphilosophischen Problemen in einer umfassenden problemgeschichtlichen Betrachtung (halb erfundenes Beispiel). Nun ein reales Beispiel, mit Namensnennung: Ein später weltberühmter Architekt schreibt eine Promotion über die Architektur der Stadt, was auch zu verstehen ist als eine urbanismustheoretische Studie über Architektur als urbane ­Signifikanz, die eine veritable wissenschaftliche – meint geisteswissenschaftlich: historisch-kritische, hermeneutisch-komparatistische – ­Arbeit ist, in welcher er den Kern einer Entwurfshaltung formuliert, die ihn als Architekt tragen und treiben wird; es handelt sich hier um eine Ausnahme, eine ‚parallel dichte Konstellation‘, eine Studie nicht als Handlungsanleitung oder Rezept, die aber im Feld der Architektur durchaus möglich ist. Es handelt sich um Aldo Rossis Doktorarbeit Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen (Düsseldorf 1973); zu nennen sind als weitere Beispiele Bücher von Robert Venturi und Mitarbeitern sowie weitere, von denen ich hier nur nenne: Robert Venturi, Complexity and contradiction in architecture, New York 1966, Robert Venturi/Denise Scott Brown/Steven Izenour, Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt, Bauwelt Fundamente, Braunschweig 1979, Colin Rowe, The mathematics of the ideal villa and other essays, Cambridge MA 1976, Colin Rowe und Fred Koetter, Collage City, Basel-Boston-Berlin 1984, Colin Rowe und Robert Slutzky, Transparenz, 3. erg. Aufl., BaselBoston-Berlin 1989. Und dann sei wenigstens noch ein weiteres Beispiel für großartige Forschungen jenseits des wissenschaftlichen Konventionalisierungsproblems der Promotionen genannt; es handelt sich um eine bahnbrechende (in der Folge auch kontrovers diskutierte) ausgreifende Studie mit einer wahrhaften rationalen Systematik, die man doch nicht als encodierte wissenschaftliche Forschung vom Typus der Promotion ansehen mag, obwohl sie dafür beispielgebend sein könnte und dürfte: Christopher Alexander, Sara Ishikawa u. a., A Pattern Language. Towns, Buildings, Construction, New York 1977; hieran lässt sich studieren, wie eine hochkomplexe Entwurfsmethodologie, die immer noch

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kritisch-rational verfährt, dennoch nicht fachwissenschaftlich borniert sein muss. Erkenntnisinteresse ist hier eher eine universal entfaltete Empirie, ein Begreifen lebensweltlicher und gestalterischer Erfahrungen. Jederzeit bleibt im Einzelnen zu fragen: Kann Kunst als forschende Denkweise beschrieben werden?

Konsequenzen/Abwägungen: • Theoriebildungen an Kunsthochschulen in vielfältiger Weise, auf vielen Ebenen reichen in der Regel nicht für Begründung des PhD; nur ganz wenige Teile des gesamten Forschungs-, ­Recherche- und Theoriespektrums sollen, können und dürfen zu Promotionen im eigentlichen Sinne führen. • PhDs an Kunsthochschulen können nicht einfach Verlängerungen der künstlerischen oder praktischen Arbeit sein, sondern haben wissenschaftliche Reflexionen auf höchstem Niveau zu leisten. • Scharf gefragt: Weshalb streben Kunsthochschulen Promotionsrecht an außer aus Prestigegründen, was gibt es für stoffliche, sachliche Aspekte? • Und was sollen Theorieabschlüsse an Kunsthochschulen, wenn man doch die Auswahl hat, an guten Universitäten Kunstgeschichte, ‚humanities‘ und Wissenschaften zu studieren? Das einschlägige Beispiel verweist immer wieder auf Künstler in den USA, die als Kunsthistoriker abschließen und promovieren, dies aber in ausgesprochener, deklarierter Weise nicht als Künstler tun (z. B. Jeff Wall über Dan Graham). • Promovieren darf es nicht mit Instrumentalisierungen zu tun haben, auch nicht denen, die hervorgehen aus dem schieren Willen und der Setzung: „Wir brauchen einen dritten Zyklus, weil wir ihn wollen.“ • Wenn je, dann sind starke wissenschaftliche (also universitär konkurrenzfähige) Abteilungen nötig; Forschungsvorhaben von Wissenschaftlern mit Künstlern können eine Chance sein; das geht aber nicht mit der notorischen und üblichen Behauptung/ Beteuerung eines privilegierten Selbstbezugs, dergestalt, dass man, weil man eben eine poetische Praktik subtilster Art auf­ zuweisen habe, dies auch genau so subtil und kundig wissenschaftlich erforschen, darstellen und auswerten könne.

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• Zur polemischen Verdeutlichung nehme ich als absurdes Beispiel folgendes: Günter Uecker würde in Ingenieurwissenschaften über Ziele und Zwecke der Verbesserung des Nägelschmiedens forschen oder Yves Klein über Spektralanalysen der Farbe Universal-Klein-Blau. Wesentlich anders funktioniert das aber in Realität gar nicht, wenn man beispielsweise die Theorie­ doktrinen der modernen Architektur im Kontext von CIAM, Le ­Corbusier und und Siegfried Giedion betrachtet, zum Beispiel dessen ‚befreites Wohnen‘; das sind eben Programm- und Propagandaschriften, nicht wissenschaftliche Studien.

Argumente wider den privilegierten szientistischen Selbstbezug der poetischen Praktik/gestalterischen Entwürfe Mit Anton Ehrenzweig1 kann ganz knapp erklärt werden, wieso Künstler nicht wissen können, was sie am eigenen schöpferischen, gestalterischen Tun verstehen wollen, und wieso sie auch nicht reflexiv wissen können, was sie nicht wissen; es ergibt sich kein organischer Selbstbezug einer theoretischen Durchdringung des Nicht-Wissens, weil auch das eigene Tun nicht ‚organisch‘ angeeignet werden kann. Wieso Künstler ihre eigene Arbeit nicht wissenschaftlich verstehen können, entwickelt Ehrenzweig aus der Beobachtung der Fragmentierung/Parzellierung/Destruktion des kreativen Prozesses als konstitutive Elemente im kreativen Prozess in folgender Weise. Den ‚künstlerischen Stoffwechsel‘ (Metabolismus) als Moment einer permanenten Metamorphose zu betrachten, in welcher jedes Moment ein ephemeres, aber zugleich spezifisches, also ebenso unwiederbringliches wie unhaltbares ist, ist sauf Dauer wenigstens, an der Grenze, stetig am Limit des Überfordertseins: Das markiert wesentliche Umschreibungen künstlerischer Prozesse ebenso wie den psychischen Primärprozess, der ja in seiner Dynamik abgedrängt wird wegen der Angstpotenziale, die ihm in großer Intensität innewohnen. Die Bereitschaft zur Vermeidung von Filtern macht den Akt künstlerischer Entscheidung existenziell und beschreibt zugleich eine andauernde Normalität des Primärprozesses. Der Primärprozess bereitet den Sekundärprozess vor. Der Primärprozess sei vorrangig zugänglich über Traumvorgänge, also forschende Darstellung. Dieser etabliert Rationalität als Organisation des ebenso diffusen wie gefährlichen Primärprozesses in Übereinstimmung mit den Forderungen des Über-Ichs und der dem Ich zugänglichen Realitätsprüfung. Dennoch können der sekundäre Prozess nicht schlicht als verstümmelte Reorganisation des primären, der primäre nicht als unvollkommene oder ‚rohe‘ Latenz des sekundären verstanden werden. Ehrenzweig verdeutlicht immer wieder, an sehr unterschiedlichen Beispielen aus zahlreichen künstlerischen Sparten, aber auch aus dem psychologischen Universum: Die künstlerische Struktur ist ihrem Wesen nach ‚polyphon‘, Kreativität erfordert eine

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‚zerstreute Aufmerksamkeit‘, die der Logifizierung der chaotischen Empirie und der grundlegenden Erfahrungen widerspricht. Schöpferische Aufmerksamkeit kann sich an den belastenden Grenzen der Intensität durchaus psychotisch auswirken. Künstlerisch geformt werden kann sie nur, wenn stets differenzierende wie entdifferenzierende Momente des Wahrnehmungsprozesses erhalten bleiben, ohne sich stabil oder restlos in ein Drittes aufzulösen. Deshalb schließt Kreativität Selbstzerstörung mit ein. Das kann man struktural (synchron) und historisch (diachron) verstehen. Im Verlaufe des Lebens werden schöpferische zunehmend auch durch destruktive Prozesse markiert. Und in jedem Akt der kreativen Erzeugung realisiert sich nicht so sehr eine geniale Souveränität, die dem dialektischen System der idealistischen Subjektphilosophie (ästhetische Entäußerungsontologie) Genüge tun könnte, sondern vielmehr eine Umformung des Destruktiven in ein gefährdetes und immer nur partiell gelingendes Schöpferisches. Es wurzeln die Substrukturen der Kunst nicht zuletzt in den sie ambivalent nährenden wie gefährdenden, jedenfalls stets gefährlichen Dimensionen der primären Energien. Die Ordnungen der künstlerischen Poetiken und Praktiken bleiben bestimmend in ihrer verborgenen Unruhe, in welcher sie nicht mehr sie selber sind, sondern das, was nur partiell angemessen aus chaotischen Systemen oder Qualitäten hervorgeht. Kunstwerke realisieren sich als Resonanzräume und Effekte dieser Wirkungen und eben nicht als deren bewältigende Ordnungen, Transfigurationen, Durcharbeitungen und Sublimationen, wie das eine hermeneutisch-diskursiv verselbstständigte (und das bewältigende Verstehen systematisch überzeichnende) Psychoanalyse der exzeptionellen Bewältigungen des Primären durch die Kunst meist dogmatisch als Besonderheit des Ästhetischen in der Psyche des Künstlers herausarbeiten will. Nicht nur dem normalen, sondern jedem, auch einem künstlerischen Bewusstsein erscheinen die undifferenzierten Sehweisen, die für die primäre Einwirkung der empirischen Zerstreutheit oder Mannigfaltigkeit nötig sind, als chaotisch, bedrängend, nicht selten gar bedrohend. Aber der künstlerische Umgang mit solchem unterscheidet sich darin vom Alltäglichen, dass nicht Ordnung hergestellt und das Drängende am Primären überwältigt, bewältigt, geordnet wird, sondern dass diesem eine maximale Ambivalenz und eine drängende Unruhe als Eigenschaft der wirksamen Substrukturen erhalten bleiben müssen. Der Grund für den notwendig unbewusst bleibenden, als Unbewusstes nur strukturierungsfähigen Prozess der Kreierung, des Schöpferischen, der Gewinnung des Kunstwerks liegt eben in der Eigenheit des schöpferischen oder kreativen Prozesses als solchem, nicht in der gesellschaftlichen Codierung von ‚Kunst‘. Nach Ehrenzweig gliedert sich der schöpferische oder kreative Prozess in drei Phasen: erstens ein schizoides Anfangsstadium, „in dem gebrochene Teile des Ichs auf die Arbeit projiziert werden; unerkannte abgespaltene Elemente erscheinen dann leicht als zufällig, brüchig, unerwünscht und quälend“.2 Zweitens eine ‚manische Phase‘, die einen Prüfungsvorgang einleitet, der jedoch immer noch gänzlich unbewusst verläuft. „Im dritten Stadium der Introjektion wird ein Teil der verborgenen Substruktur des Werks auf einer

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­ öheren Mentalstufe in das Ich des Künstlers zurückgenommen.“3 Die erste Phase der h freien Projektion und Spaltung ist also „mit schizoid-paranoiden Ängsten angefüllt“.4 In einer zweiten Phase entwickelt der Künstler ein Modell, das ihm mittels eines Werks ermöglicht, die Vorstellung eines ‚Wohlwollens‘ zu entwickeln, mittels dem es möglich ist, „das gespaltene Material aufzunehmen und zu integrieren“.5 „In der dritten Phase der Kreativität findet eine partielle Reintrojektion der ozeanischen Vorstellungen in das Bewusstsein statt. Weil die aber nur partiell ist, bleibt der Rest verdrängt und bildet die unbewusste Substruktur der Kunst. Ferner schließt […] der Wiedereintritt in das bewusste Ich eine sekundäre Bearbeitung ein. Scharf konzentrierte bewusste Wahrnehmung kann den Schwung undifferenzierter Vorstellungen nicht erfassen. Daraus erklärt sich, warum als Endergebnis der schöpferischen Arbeit nie die volle Integration erreicht werden kann, die in der zweiten, ozeanisch-manischen Phase der Kreativität möglich ist. Depressive Angst ist die unausbleibliche Folge. Der schöpferische Geist muss fähig sein, Unvollkommenheit zu ertragen.“6 Fazit: In der dritten Phase der Re-Introjektion werde dementsprechend die unabhängige Existenz des Kunstwerks am stärksten spürbar. Es werde zu einem Gegenüber, entziehe sich, erweise sich als Fremdes, Eigenständiges, niemals organisch und symbiotisch Eigenes. Zurück zum wissenschaftlichen Prozess, der aber, wie wir seit Kuhn wissen, genealogisch und stofflich in den Grundlagen diesem Prozess einer stetigen Ausbildung der Synthese von ‚Dedifferenzierung‘ und Fragmentierung Kunst in etlichen Teilen und über bemerkenswerte Strecken entspricht Als einige weitere Aspekte sind zu nennen: • Wissenschaftliche Arbeiten sind nicht nur Informationsüber­ tragungsmodelle, sondern Artikulation von angeeigneter ­Reflexion von Forschungen und dem Stand der Erkenntnisse auf der Ebene einer Meta-Reflexion, nämlich methodisch geschulte Selbstkritik. • In Sonderheit gilt das für die ‚humanities‘ oder studies; die Künste zählen dazu. • Wieso zählen die Künste zu den ‚humanities‘ und nicht zur ­‚science‘? • Rückblick auf das System der Organisation der Künste und ­Wissenschaften in der frühen und der entfalteten Neuzeit; • Abdrängen der Künste in die Symbolizität der Bilder, d. h. ins Museum; • Romantik dagegen, unausrottbar und andauernd: Ideolekt, Idiosynkrasie und Utopie des Künstlers. • Das Künstlerbild ist gerade nicht auf Konsensualisierung und Argumentabwägung ausgerichtet, sondern auf Radikalisierung, Emotivität, Ausdruck persönlicher Visionen etc.

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• Wenn Promotionen auf Erkenntnisgewinn bezogen sein müssen, was kann dann die Kunst überhaupt noch beitragen? Traditionell: gar nichts, insofern, insoweit und weil es ihr darin nicht um Erkenntnis geht.

Ausblick auf die Idee der Universität mit Karl Jaspers7 • forschende Gemeinschaft in vollkommener Selbstregulierung; • Wissen im Wissen um das stetige Wachsen des Nicht-­Wissens inmitten wie am Rande des Erkennens; • unbedingtes Suchen der Wahrheit. • Das gilt für Kunstpraxen auch, wenn und insofern und ­insoweit es in diesen um Wahrheit oder auch um Wahr­haftigkeit geht.

Geschrieben 22. und 23. Januar 2009 für einen Vortrag am Treffen der AG Forschung der Arbeitsgruppe „Kunst/Forschung“ der Kunsthochschulrektorenkonferenz RKK der BRD. Der Vortrag fand an der KHM Köln am 30. Januar 2009 statt. Die hier summarisch präsentierten Gedanken zum Promovieren an einer KH als wissenschaftlicher Dr. phil. konzipierte ich zunächst unter dem polemischen Titel „agonale und ­paragonale Aspekte von Kunst und Wissenschaft“.

1

Vgl. Anton Ehrenzweig, The Hidden Order of Art. A Study in the Psychology of Artistic Imagination, ­Berkeley/Los Angeles, 1967, deutsch: Ordnung im Chaos. Das Unbewußte in der Kunst. Ein grundlegen­ der Beitrag zum Verständnis der modernen Kunst, München 1974. 2 Ebda. S. 113. 3 Ebda. S. 113 f.; zu weiteren Erläuterungen vgl. ebda. S. 129 f., 205 ff., 297 f. 4 Vgl. ebda. S. 200. 5 Ebda. 6 Ebda. S. 201. 7 Vgl. Karl Jaspers/Karl Rossmann, Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Zeit entworfen, ­Heidelberg u. a. 1961.

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ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVE FORSCHUNG FÜR HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG ZÜRICH: AUFTRAG, ARBEITSFELDER, ORGANISATION (gemeinsam mit Martin Heller)

1  Forschung im gestalterischen Feld Die Situation unserer Kultur scheint uns vorrangig durch vier Eigenschaften gekennzeichnet:



1.1 Verlust der Arbeit als Basis und Medium existenzieller Selbst­ interpretation und sozialer Anerkennung, 1.2 Beschleunigte Entwicklung von Technologien im elektronischen Bereich, 1.3 Aufspaltung von Alltags-, Wissenschafts- und Technikkultur, 1.4 Pluralisierung bestehender Teilkulturen (Symbolen, Codes, Rhetoriken, Zeichenmodelle, semiotische Identitätssicherung).

Gestaltung ist immer auch soziales und kommunikatives Handeln. Jede derart fundamentale Veränderung ihrer primären Aufgaben und Inhaltsfelder erzwingt deshalb die permanente Reflexion von Arbeitskonzepten, Methoden, Ausdrucksmitteln und Zielen. Solche Reflexion bedingt prinzipiell die Möglichkeit eigener Grundlagen­ forschung. Gestalterische Forschung, die diesen Namen verdienen will, hat generellen methodologischen Kriterien zu genügen: 1.5 Konsensualisierbarkeit und Beurteilbarkeit der Vorhaben, 1.6 Validierung der Resultate, 1.7 Objektivierung der Ausgangsbedingungen, 1.8 Pluralisierung und Reversibilität der Methodenwahl, 1.9 Gewinnung von Hypothesen, Thesen, Gesetzen in Über­ einstimmung mit den Anforderungen einer kritischen ­Wissenschaftstheorie. Natürlich operiert künstlerisch-gestalterische Forschung – im Gegensatz zu jener im wissenschaftlichen Bereich – auf der Ebene einer Logik des Handelns, der Umsetzung und Vermittlung. Grundsätzlich differente Methoden, exklusive Gegenstandsbereiche oder besondere Qualitäten des Intuitiven oder Individuellen kommen ihr jedoch nicht zu. Diese Feststellung ist umso wichtiger, als gerade im gestalterischen Feld das jeweilige

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­ eriphere und akzidentelle eigene Tun des Öfteren ebenso verklärend wie verschleiernd p als ‚Forschung‘ deklariert wird – eine unhaltbare Setzung. Demgegenüber bleibt zu bekräftigen: Forschung ist an externen, einsichtig qualifizierbaren Ansprüchen zu messen. Solcher Auflage hat sich gerade auch die tradierte künstlerisch-gestalterische Selbststilisierung zu unterziehen. Anzustreben bleibt insbesondere eine Grundlagenforschung, die sich als Entwicklungsstadium von Forschung versteht, und die sich vom curricularen Alltagshandeln, von bloß künstlerischer Weiterbildung, üblichen Projektrecherchen und von einem Großteil musealer Normalpraxis unterscheidet. Womit beschäftigt sich derartige Grundlagenforschung? Ihre Interessen liegen auf der Ebene einer symbolischen, reflexiven Aneignung der kulturellen Entwicklung, deren Dynamik, Mechanismen und Perspektiven. Daraus resultieren im Einzelnen folgende mögliche, Geschichte, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen umgreifende Un­ ter­suchungsfelder: 1.10 Produktion, Zirkulation, Vermittlung und Aneignung des ­symbolischen Handelns, 1.11 Wissenschafts- und Technologietransfer in Kunst, Design und Alltagskultur, 1.12 Logik, Struktur, Ausdruckskraft und Gestaltqualität spezifischer Darstellungs- und Zeichensysteme in ihrer internen Bedingtheit und in ihren Koppelungen an sie umgebende Systeme, 1.13 Abhängigkeiten und Austausch zwischen künstlerisch-­ gestalterischen Experimenten, Gestaltungsmethodologie und Kulturentwicklung, 1.14 Möglichkeit, Perspektiven und Grenzen gestalterischer Lehr-/ Lernsysteme, 1.15 Evaluation gestalterischer Prozesse und Produkte in ihrer je ­individuellen und sozialen Wirkung.

2  Institut für Gestaltung und Kulturforschung: Voraussetzungen Zu definieren ist jener Ort, an dem sich eine Forschungspraxis im bisher skizzierten Sinne aufbauen lässt. Dieser Ort besteht bisher nur in Ansätzen. Im Rahmen einer Hochschule für Gestaltung Zürich wären diese Ansätze weiterzuentwickeln. Dabei gehen wir von zwei Prämissen aus: 2.1 Der Forschungsbereich ist im Schulganzen ein weitgehend autonomer, offener und flexibler Bereich. Er muss in der Lage sein, interne und in besonderem Maße externe Schnittstellen wahrzunehmen bzw. zu organisieren.

ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVE FORSCHUNG FÜR HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG ZÜRICH  103

2.2 Einem Zürcher Forschungsbereich kommt angesichts der Schweizer Bildungslandschaft von vorneherein nationale Bedeutung zu. Organisation, Trägerschaft, Besetzung und Politik sind aus diesem Anspruch heraus zu entwickeln und darüber ­hinaus international zu positionieren. In diesem Sinne haben bereits jene Vorstellungen, die im Umkreis der bisher erst projektierten Schule für Gestaltung Aargau auf die Gründung eines Instituts für Kulturvermittlung und ­Gestaltungsforschung fokussiert. Mehr noch: Diesem Institut wurde gerade im Hinblick auf die Entwicklung, Vernetzung und kritische Begleitung der Schule eine zentrale Rolle übertragen. Die etwa im Papier „Schule für Gestaltung Aargau. Projekt für eine Ausbildungsstätte für gestalterische Berufe“ pointierte ­Argumentation für diesen Status und die damit verbundenen Chancen erscheinen uns nach wie vor und über den situativen Kontext hinaus zwingend. In Zürich nun präsentieren sich die Voraussetzungen für die Etablierung eines Instituts für Gestaltung und Kulturforschung insofern ideal, als die bisherige Struktur und aktuelle Praxis des Museums dafür eine wesentliche Basis bereitstellen. Diese Basis gilt es zu entwickeln und in einen neuen Zusammenhang zu überführen. Hilfreich wäre dabei wohl die kritische Evaluation von Konstruktionen wie das Internationale Design Zentrum in Berlin oder das ‚Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Gewiss bestehen für das was sich in Zürich unseres Erachtens aufdrängt, eine ganze Reihe weitere Modelle. Von besonderem Interesse wären für einen solchen Vergleich jeweils folgende Aspekte: Auftrag bzw. Selbstverständnis, theoretische Stringenz, praktische Attraktivität, Wirkungsgrad, Offenheit für die Belange und Chancen einer von akademischer Verkrustung unbelasteten gestalterischen bzw. kulturwissenschaftlichen Forschung, Struktur und Organisationsform, lokale/nationale/internationale Vernetzung, Ausstattung. über derartiger Informations- und Konzeptarbeit ist also die Zürcher Version eines Instituts für Gestaltung und Kulturforschung zu generieren, die den derzeitigen Bestand sinnvoll, zukunftsgerichtet und entlang einer klaren Zielsetzung öffnet und neu organisiert. Auszugehen ist dabei wie bisher von einer dem Institut und dem Schulbereich gemeinsamen Verwaltung; administrative Belange bleiben deshalb im Folgenden ausgeklammert.

3  Institut für Gestaltung und Kulturforschung: Organisationsstruktur Leitend ist die Vorstellung, dass das derzeitige Museum zu einem Institut erweitert wird. Dieses Institut ist innerhalb des Schulganzen eine autonome und wie bis anhin direkt

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dem Rektor unterstellte Abteilung. Es betreut in eigener Verantwortung sämtliche Forschungsprojekte der Hochschule und führt zugleich die Museumsarbeit in der heutigen – als einer in verschiedener Hinsicht exemplarischen – Form weiter. Zwei Hauptbereiche bestimmen die Tätigkeit und Politik des zukünftigen Instituts: Museum und Forschung. Eine Programmkommission bestimmt insbesondere Richtung und Gewichtung der Forschungsarbeit. Die Fragen allfälliger politischer Behörden klammern wir beim momentanen Diskussionsstand aus. 3.1 Museum Auszugehen ist grundsätzlich mindestens vom aktuellen Personalbestand, von der aktuellen finanziellen Ausstattung, und von der aktuellen Struktur des Museums für Gestaltung. Drei fachlich sich ergänzende Konservatorinnen, eine davon als Leiterin, sind für die Ausstellungen und – zusammen mit den Sammlungskonservatorinnen – für den Museumsbetrieb als Ganzes verantwortlich. Elemente dieses Betriebs bilden im Einzelnen die bisherigen Sammlungen, das Museumssekretariat und die Ausstellungssekretariate, die Ausstellungsgestaltung, die Technischen Dienste und die Museumswerkstatt. Der zu erwartende Bedeutungszuwachs auf nationaler Ebene legt allerdings nahe, gerade im Sammlungsbereich bestehende Archive neu zu ­definieren und bisher vernachlässigte Felder einzuschließen. 3.2 Forschung Denkbar ist ein Beginn mit drei fachlich sich ergänzenden ­Forschungsstellen zur Projektrealisation und Projektbetreuung. Diese Stellen können selbstverständlich gesplittet werden; im Gegensatz zum Museumsbereich wäre hier ohnehin eine Kon­ struktion mit Zeitverträgen vorzuziehen. Die erwähnte Programmkommission evaluiert sämtliche Forschungsanträge und entscheidet über deren Zulassung bzw. ­Dotierung. Anträge können von außen, seitens der Schule oder aus dem Institut selbst eingebracht werden. Eine mögliche Zusammensetzung dieser Kommission sieht fünf externe und vier interne (je zwei aus der Schule und aus dem Institut) Mitglieder vor. Geschäftsführung und Sekretariat liegen sinnvollerweise bei der Institutsleitung. Die externen Mitglieder aus dem In- und Ausland können sich auf Vorschlag für eine Amtsdauer bewerben; ihre Berufung erfolgt beispielsweise durch ein kleines, paritätisch zusammengesetztes Berufungsgremium unter dem Vorsitz des Rektors. 3.3 Der Institutsleitung direkt unterstellt sind der Verlag und ein ­Sekretariat.

ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVE FORSCHUNG FÜR HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG ZÜRICH  105

4  Institut für Gestaltung und Kulturforschung: Potenzial Einige Stichworte sollen die Möglichkeiten einer wie skizziert organisierten Forschungsebene umreißen. Dabei beziehen wir uns unter anderem auch auf Erfahrungen in einigen wie uns scheint wegweisenden, zumeist interdisziplinär angelegten Museumsprojekten der letzten Jahre: ‚Imitationen‘, ‚Euphorie & Elend‘, ‚Zeitreise‘, ‚Medium‘ und andere Untersuchungen. 4.1 Gegenüber dem heutigen Museum ist das zukünftige Institut weitaus polyvalenter und für Synergien noch offener als bisher. Das Museum führt die bisherige Vermittlungs- und Sammelpraxis weiter; es mag dafür einen Standortbeitrag der Stadt Zürich in Anspruch nehmen können. Der Forschungsbereich betreibt eine Politik sowohl der Kooperation mit dem Museum (bei bestimmten, von vornherein auf derartige Vermittlung angelegten Vorhaben) als auch mit der Schule oder mit der Industrie/­ Arbeitswelt (sämtliche Mischformen denk- und wünschbar). ­Sowohl die Konservatorinnen als auch die Forschungsstellen lassen sich mit Teilpensen an der Schule verknüpfen bzw. stehen umgekehrt auch Dozentinnen offen. 4.2 Die Projektmodellierung erfolgt im Einzelnen – grundsätzlich – durch die Programmkommission und – detailliert – durch die Institutsleitung (v. a. über die Zusammensetzung der jeweiligen Projektteams). Damit sind im Idealfall sowohl ein Regulativ und Korrektiv im Sinne der unter 1. aufgelisteten Prämissen als auch eine kompetente, kleinräumig effiziente Projektorganisation ­garantiert. 4.3 Die enge Konstellierung von Forschung und Museum bietet ­genau jenen Rahmen, der beispielsweise dem Schweizer ­Nationalfonds schmerzlich mangelt. Was heißt, dass keinerlei Obligatorien und Zwangsreflexe die Arbeit behindern müssen: Vermittlungsebenen und -formen beispielsweise (Publikationen? Veranstaltungen? Ausstellungen?) können aufgrund primär inhaltlicher bzw. institutspolitischer Kriterien bestimmt werden. Ein äußerst vitaler, von vielfältigen Bezügen durchsetzter ‚think tank‘ könnte entstehen, der souverän über verschiedene Gefäße und Instrumente verfügt. 4.4 Zur Konkretisierung dieser Vielfalt wären in einem nächsten Schritt bestimmte Projekttypen anhand möglichst praxisnaher Kleinst-Szenarien zu skizzieren. Beispiele: 4.4.1 Exemplarische Bearbeitung von Sammlungsbeständen aufgrund gezielter, an aktuellen Fragen validierter ­Interessen,

106  NEUE KONTEXTUALI­S IERUNGEN UND KONTROVERSEN – ­D ESIGN UND ­FORSCHUNG 

4.4.2

Entwicklung hochspezifischer, qualifizierter Lehr­ mittel, 4.4.3 Begleitung von Unterrichtsprojekten als Überprüfung bestehender – deklarierter wie heimlicher – Curricula, 4.4.4 Interdisziplinäre Mentalitätsrecherchen im ästhetischen Feld, 4.4.5 Untersuchungen zu Wissens- und Technologietransfer in ausgewählten Bereichen gestalterisch geprägter ­Alltagskultur, 4.4.6 Auswertung der institutseigenen Medienideologie und Vermittlungspraxis, 4.4.7 Industriepraktika als Feldforschung 4.5 Die Existenz und die Arbeit des Instituts bzw. seiner beiden Bereiche lässt nach wie vor und sinnvollerweise zu, dass Schulabteilungen Veranstaltungen in eigener Regie durchführen bzw. auch selbst publizieren. Allerdings soll hier – durchaus im Sinne und Interesse des immerhin als Hochschule auftretenden Gesamtinstituts – das Label ‚Forschung‘ nicht bemüht werden. Ein Veranstaltungsgefäß wie ‚Interventionen‘ beispielsweise wäre in der avisierten Konfiguration indessen wohl eher beim Institut zu platzieren.

5 Antrag Die vorliegende Disposition wurde im Hinblick auf die Projekt-Sitzung „Fachhochschule“ vom 23. März 1994 ausformuliert. Wir erwarten eine kompetente Diskussion sowie Vorschläge zu einer Weiterbearbeitung und Detaillierung unter Vorgabe einsichtiger Schwerpunkte.

Endredigiert und als Vorschlag für eine Beauftragung zu einer weiteren Ausarbeitung offiziell ­eingereicht für die Direktion Schule und Museum für Gestaltung Zürich am 21. März 1994 von Martin Heller, Leitender Kon­ servator Museum für Gestaltung Zürich und Prof. Dr. Hans Ulrich Reck, Basel/Wien.

ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVE FORSCHUNG FÜR HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG ZÜRICH  107

6 Zur Symbolizität der Dinge

6  Zur Symbolizität der Dinge Vorab zur Symbolizität der Dinge und zur Stofflichkeit der Zeichen: Körper, Dinge, Stile, Inszenierungen sind als semiotische Modelle zu verstehen. Das gilt aber besonders auch für die Inszenierung von Lebensformen, für ein anonymes Design der Markenzeichen und Signete, Logos und ‚brandings‘ wie der Interventionen wilder Strategien, informeller Codes, subkultureller Expansionen in den öffentlichen Raum. Die Informalisierung und Illegitimisierung der formierten Prinzipien des öffentlichen Lebens eröffnen sich einem ausgeweiteten Blick als eigentliche Designleistungen im Sinne eines unbewussten Prozesses kollektiver Bezugnahmen, für die eigentliche Designentscheidungen viel zu eingeschränkt wären. So wie Wissenschaft ohne Symbolisierungen nicht auskommt, so erweist sich die Bezugnahme auf Dinge gerade in ihrem funktionellen Anspruch als angewiesen auf Bedeutungen. Die Valenz der Dinge und Gegenstände als Verkörperungen von Symbolen und Bedeutungen ermöglicht einen Blick auf Design und Designtheorie, der zwar immer schon möglich gewesen ist, der aber vor den gegenmodernen Dys-Funktionalisierungen im Namen einer neuen erlebnisoffenen, zeichenhungrigen Semiotik und Ästhetik nicht möglich gewesen wäre. Dafür liefert der Diskurs des Postmodernen das Stichwort im Zeichen einer Zäsur, die es, da untergründigere und länger andauernde Entwicklungen hier wirken, so nie sichtbar auf einen Schlag gegeben hat, die aber auch nicht nur Denkmodell und Anspruch ist, sondern eben eine relevante Markierung vornimmt.

110  ZUR SYMBOLIZITÄT DER DINGE

EXKURS: DER PERFEKTE MODELLKÖRPER Auch Mode ist eine Philosophie. Nicht nur im Jargon der Branche, die ihr Tun gern im Wesentlichen begründet und den Erscheinungen des Flüchtigen – der Bezug der Mode zur Moderne gründet, wie schon Baudelaire sagte, im Versuch, dem Geschichtlichen die Poesie des Moments abzugewinnen – gern die andauernde Schwere der Bedeutungen unterlegt, sondern in einem substanziell auf die Modellierung des Körpers bezogenen Sinn. Es wäre ein großes Missverständnis, die Philosophie der modischen Inszenierung des Persönlichen auf den Bann der Oberfläche einzuschränken. Im Zeitalter der Krise der Identitäten leuchtet die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe auch beim Kör­ per nicht mehr ein. Wissen wir denn, was sich hinter der Oberfläche verbirgt? Oder ist es nicht besser, das bewusst Eingerichtete und Gezeigte, die Verhüllungen und Haut­ Auflagen (jeglicher Art und Materialbeschaffenheit) für das Ganze, Dichte, für Tiefe und Durchdringung zu nehmen – für ein durchgeformtes Kontinuum, das von der Haut bis in die letzten Winkel der Seele reicht und das von beiden Enden her – von der Grazie des Physikalischen wie von den verborgenen Untugenden der Seele her – begonnen und durchgesetzt werden kann? Oberfläche und Tiefe: Hülle und Dichte, Verschleierung und Enthüllung – sie ma­ chen aus Körper und Mode eine durchgängige Einheit, wenn wir dem traditionellen Mo­ dell eines Subjekts, das seine eigentliche Identität von seinem uneigentlichen, verzerr­ ten Verhalten unterscheiden möchte, misstrauen. Dafür haben wir heute alle Gründe. Die rasante Zustimmung zur Mode, die Begeisterung für ihre Techniken und Möglich­ keiten, wie wir sie seit etwa zehn Jahren erleben, ist alles andere als eine kurzfristige Mode, die sich der moralische Drücke der 1968er-Bewegung und der Kritik am Konsu­ mismus, der ‚Luxuslüge der ästhetischen Verhüllung‘, entledigt. Es scheint sinnvoller, sie als Anzeichen für einen tiefer liegenden Wandel anzusehen, der mit dem Selbstver­ ständnis zu tun hat, mit einem Umbruch in der Konzeption der Identität und der In­ terpretation des Verhältnisses von Körper und Bewusstsein, Kern und Hülle, Zentrum und Peripherie. Die Zustimmung zur Mode als dem wechselnden Ausdruck eines Be­ sonderen, das zugleich das Eigentliche ist, zeigt, dass ein bis vor Kurzem unüberwindli­ cher Gegensatz nun programmatisch aufgehoben werden soll. Wir brauchen ein ande­ res Verständnis dessen, was Mode in der heutigen Situation leistet. Dieses Fundament in der Orientierung derer, die Mode komplexer brauchen, in der Veränderung der Nach­ frage, der Techniken von Rezeption und Gebrauch, zeigt, dass die Mode nicht nur in ei­ nem Verhältnis zum Körper steht, sondern als eine mit dem Körper sich verbindende Technik gerade von großer Bedeutung ist. Mode – so ließe sich zuspitzen – ist die her­ ausragende und zugleich exemplarische Technik einer Perfektionierung und Modellie­ rung des ganzen Körpers. Dazu eine historische Rückblende mit zwei Akzentuierungen; einmal die traumati­ schen und obsessiven Bilder des zerfallenden Modellkörpers, die Welt der Puppen Hans Bellmers. Zum anderen ein Briefwechsel Oskar Kokoschkas mit einem Fräulein M…, in

EXKURS: DER PERFEKTE MODELLKÖRPER  111

welchem Kokoschka detaillierteste Angaben macht über den Bau einer lebensgroßen weiblichen Figur. Aus der Schilderung wird klar, dass Kokoschkas Auffassung in zwei Richtungen geht: einmal die des perfekten Körpers einer übernatürlichen schönen und gerade deshalb realen Frau, zum anderen in die Richtung der Modellierung eines Kör­ pers als Puppe. Bevor ich in Auszügen dieses außergewöhnliche Dokument als eine Art Urmodell unserer aktuellen Modethematik vorstelle, sei an ein ganz anders ausgerichte­ tes, aber ganz ähnlich interessiertes Beispiel erinnert, das den perfektionierten Körper als Identität schlechthin, als Einwirkungsorgan auf die Tiefen der Seele behandelt: an Stefan Zweigs zu Anfang der dreißiger Jahre geschriebenen, aber erst 1982 erstmals pu­ blizierten Roman Der Rausch der Verwandlung. Rausch der Verwandlung – das gelingt nur, wenn kontrollierende Disziplin die Verwandlung steuert. Der Rausch, das sind die Triebe, die Gier, die Obsession, die Be­ drängung durch die Vision eines vollkommenen, eines perfekten Modellkörpers. Die Verwandlung, das ist die komplette Durchformung des Körpers mit dieser Triebenergie. Kokoschkas Briefwechsel mit Fräulein M… ist in Paul Westheims Künstlerbekenntnissen veröffentlicht worden.1 Der Künstler hatte also offenbar nichts dagegen, diesen intimen Akt der sexuellen und erotischen Mystifizierung des Weiblichen in Form einer Puppe öf­ fentlich zur Kenntnis zu bringen. Kokoschkas Briefe an das Fräulein M… sind zutreffend unter dem Titel Der Fetisch publiziert worden, versehen allerdings mit einer beschöni­ genden Vorbemerkung, auf die am Schluss zurückzukommen ist. Bereits der erste Brief vom 22. Juli 1918 geht in Einzelheiten. Kokoschka hat jeweils detaillierte Werkzeichnun­ gen, Projektvorlagen angefertigt. Er redet von Festigkeit und Elastizität einer mit Kleis­ ter aufgekochten Papiermasse, von der Qualität der Wattierung, der Beschichtung der Innen- und Außenseiten verschiedener Körperteile. Die Stofflichkeit der Haut müsse je nach Körperpartie unterschieden werden. Alles müsse „reicher, zärtlicher, mensch­ licher“ werden, als der Entwurf nahelege. Das Fräulein M… solle sich mit der Vorstel­ lung eines Bildes behelfen, das Rubens von seiner Frau angefertigt hatte. „Wenn Sie diese Aufgabe glücklich lösen, mir eine solche Zauberei vorzutäuschen, dass ich beim Ansehen und Angreifen das Weib meiner Vorstellung lebendig zu machen glaube, liebes Frl. M…, dann danke ich Ihrer Erfindung und Ihren weiblichen Nerven … Ich glaube, es wird doch noch eine große Reihe von Figuren notwendig werden, die Sie mir zur Gesell­ schaft meiner Heldin machen werden müssen.“ Die Perücke muss organisch mit der Gesichtshaut verbunden werden. Die Haare sollen tizianrot sein. Das Fräulein M… solle in einem Zuge arbeiten und die ganze „weib­ liche Fantasie“ an diese Arbeit wenden. Kokoschka schickt Baumwoll-Zellstoff als Ma­ terialprobe und fleht, das Fräulein M… müsse einfach reüssieren und ist „von Monat zu Monat begieriger auf dieses Wunschgeschöpf, das Sie sicher so allen Sinnen ablis­ ten werden, dass ich mein Ziel erreiche, getäuscht zu werden“. Es besteht also kein Zweifel, dass Kokoschka den Bau dieser weiblichen Figur nicht nur als Fetisch, son­ dern auch als Symbol versteht, nicht nur als distanzierte Übertragungsfigur, sondern eher als realisierte Unmittelbarkeit einer zauberhaften und überzeugenden Person, die höchste Künstlichkeit und höchste Natürlichkeit ununterscheidbar vereint. Am 20. Au­ gust 1918 schreibt Kokoschka von der „lebensgroßen Darstellung meiner Geliebten“.

112  ZUR SYMBOLIZITÄT DER DINGE

Daran schließt er genaue Angaben über Schwergewichtslinie, Konturen, Kurve des Bau­ ches, Linie des Halses, die Schrägstellung der Beine an. „Bitte machen Sie es dem Tast­ gefühl möglich, sich an den Stellen zu erfreuen, wo die Fett- oder Muskelschichten plötzlich einer sehnigen Hautdecke weichen, aus denen dann irgendein Knochenstück an die Außenfläche kommt, z. B. am Schienbein, die Becken-Knieknochen, die Schul­ terblatt-, Schlüsselbein- und Armknochen … Der Kopf ist genau zu treffen und ist ganz der Ausdruck des Gesichtes, das ich mir wünsche und das ich nie treffe. Dass der Bauch und das gröbere Muskelfleisch am Bein, Rücken usw. eine ziemliche Festigkeit und Kör­ nigkeit besitzt!“ Für Kokoschka ist entscheidend die getreue Nachbildung, Nachbil­ dung des ideal Visionären einer stilisierten und vollkommen überhöhten Natur. Mit zu­ nehmender Vertiefung in die Aufgabe steigt der Druck der Erwartung und zugleich die Angst, vor der eigenen Vision nicht bestehen zu können. „Es handelt sich mir um ein Er­ lebnis, das ich umarmen muss.“ Falls das Fräulein M… sich der Plastizität eines Details nicht sicher sei, so solle sie nicht den Atlas (und die biologische Abbildung) konsultie­ ren, sondern an sich selbst die entsprechende Stelle auf das Genaueste nachfühlen. „Oft sehen die Hände und Fingerspitzen mehr wie die Augen.“ Kurz bevor Kokoschka nach Hellerau bei Dresden auf den Winter 1918/19 zieht, mahnt er zur Beeilung: Er würde sich schrecklich freuen, „wenn ich meine Fantasiefürstin schon dort in die neue Woh­ nung inthronisieren könnte“. Diese Fürstin soll die verführerischste Form alles Weibli­ chen ausbilden, das Kokoschka sich überhaupt denken kann Die Fantasiefürstin vereint das Denkbare und das Undenkbare. Auf jeden Fall ist es Kokoschka mit der Verwirklichung des Unausdenklichen Ernst: „Die Größe etwa so, dass man einen eleganten Frauenschuh darüber ziehen kann, weil ich in Wien eine Menge schöner Frauenwäsche und Kleidung schon für diese Ab­ sicht aufbewahrt habe. Was den Kopf anlangt, so ist der Ausdruck sehr, sehr merkwürdig und soll höchstens noch verstärkt werden, aber alle Spuren der Machart und des Hand­ werklichen möglichst verwischen! Ist der Mund zum Öffnen? Und sind auch Zähne und Zunge drinnen? Ich wäre glücklich … Es wäre hübsch, wenn man die Lider über den Augen schließen könnte. Die Haut endlich pfirsichähnlich im Ausgreifen und nirgends Nähte erlauben an Stellen, wo Sie denken, dass es mir weh tut und mich daran erin­ nert, dass der Fetisch ein elender Fetzenbalg ist, sondern überall dort, wo ich nicht hin­ schaue und wo nicht die Kontur oder der natürliche Fluß der Linien und Glieder gestört wird … Sie erlauben nicht, dass man mich quält für viele Jahre meines Lebens, indem Sie den tückischen realen Objekten, Watte, Stoff, Zwirn, Chiffon oder wie die gräßlichen Dinger alle heißen mögen, erlauben, sich in ihrer ganzen irdischen Eindeutigkeit aufzu­ drängen, wo ich ein Wesen mit den Augen zu umfassen meine, welches zweideutig ist, tot und lebendiger Geist.“ Die Vision übermannt Kokoschka – so sehr, dass er die kalte Technik seiner eigenen Angaben durch die direkte Bildlichkeit der Lebensvision ersetzt. Die ‚gräßlichen Dinger‘ – das sind auch die Namen für die Materialien, mit denen die Dinge gemacht werden. Die Lebendigkeit, absoluter Geist und absoluter Tod zugleich, kämpft gegen die Sprache, dieses ewig trügende Versprechen der Bilder des Lebens. Im Januar 1919 will Kokoschka sich von Wien aus im Gebirge verstecken „und die ekelhafte Realität vergessen und arbeiten. Und da ich keine lebendigen Menschen

EXKURS: DER PERFEKTE MODELLKÖRPER  113

­ertrage, allein oft der Verzweiflung ausgeliefert bin, so bitte ich Sie wieder, Ihre mir zuge­ dachte geisterhafte Gesellschafterin so mit allem aufgeregten Spürsinn zu erraten und zu animieren, dass am Ende, wenn Sie den Körper fertig haben, auch nicht ein Fleck­ chen bleibt, auf welchem nicht eine Wirksamkeit, ein raffinierter Belebungsversuch auf der toten Materie fehlt und so alle zarten und innigen Verschwendungen des Lebens am weiblichen Körper mir in der und jener verzweiflungsvollen Stunde wieder einfal­ len, durch irgendein stellvertretendes Monogramm, Zeichen, welches Sie in das Fetzen­ bündel hineingeheimnißt haben.“ Das Geheimnis ist nicht die Puppe, die Illusion nicht der Fetisch. Dieses Geheimnis soll unmittelbar Realität sein. Geheimnis wäre die Stö­ rung des Ablaufs einer absoluten erotischen Besetzung. Kokoschkas Briefe lesen sich oft so, dass er selber sich an seine Fantasie erinnert, im Grunde aber in allen Einzelhei­ ten die Realität seiner Vision als Vision vorwegnimmt. Unvermindert aber die präzisen Anweisungen für Einzelheiten. „Überhaupt würde ich Sie bitten, die Haut an den fol­ genden Stellen von der inneren (also dem Skelett zugewandten) Seite etwas zu färben, in verschiedenen Tönen, damit der Schimmer und Goldglanz des Samtes verschieden­ farbigen, der Natur der Fleischtöne an verschiedenen Körperstellen angepaßten Schat­ tenton empfängt. Und zwar: Rückenfurche, Schulterblätter, Halsrücken bis zum Kopf, Achseln, Kniekehlen, Schlüsselbeine, Schienbeinkante, Leistenkante, Ellbogen, Nabel, Schenkelansatz: leicht safrangelb … Das Gesicht macht mir die größte Sorge, weil die Stickerei so sein muss, dass ich die Stiche nicht merke … Wie ich merke, dass es künst­ lich angefertigt ist, einen Faden sehe usw., bin ich gepeinigt mein Leben lang. Ich muss es noch schreiben, obwohl ich mich schäme, aber es bleibt unser Geheimnis (und Sie sind meine Vertraute): es müssen die ‚parties honteuses‘ auch vollkommen und üppig ausgeführt werden und mit Haaren besetzt sein, sonst wird es kein Weib, sondern ein Monstrum. Und ich kann nur von einem Weib zu Kunstwerken begeistert werden, wenn es allerdings auch nur in meiner Phantasie lebt.“ Natürlich geht die ganze Angelegenheit schlimm aus. Der letzte Brief datiert vom 6. April 1919: „Liebes Fräulein M…, was wollen wir jetzt machen. Ich bin ehrlich erschro­ cken über Ihre Puppe, die, obwohl ich von meinen Phantasien einen gewissen Abzug zu­ gunsten der Realität längst zu machen bereit war, in zu vielen Dingen dem widerspricht, was ich von ihr verlangte und von Ihnen erhoffte. Die äußere Hülle ist ein Eisbärenfell, das für die Nachahmung eines zottigen Bettvorlegerbären geeignet wäre, aber nie für die Geschmeidigkeit und Sanftheit einer Weiberhaut.“ Kokoschka zählt im Einzelnen die Fehler auf und stilisiert nun ins Negative. Parallel dazu verläuft eine Rationalisierung seiner erotisch-obsessiven Besetzung des idealen Körpers, den er modellieren lassen wollte als Fantasiefürstin und Geliebte, welche ihm nun, angesichts des Resultates, nur noch als Modell zum Malen gilt, „weshalb ich die Puppe ja machen ließ“. Nachdem sein Modell zerstört ist, zerbrechliche Materie, missratene Figur und damit das Weibliche nicht zum Ideal des Unaussprechlichen geronnen ist, muss der Vorgang in die Sprache zurückgeführt und rationalisiert werden. An dieser Stelle greift die Männersprache Ko­ koschkas fast automatisch. Die Kadenz wechselt ebenso wie die Sprache, der Rhythmus. Was gleich bleibt ist die Fixierung aufs Weibliche. Kokoschka gibt dem Fräu­ lein M… die Schuld. „Wenn ich Ihrer Hand und Ihrer Fantasie mehr zutraute, als den

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vielen Puppenanfertigern und Schauladenfabrikanten, so war es nicht zum wenigsten, weil Sie mir immer versicherten, Sie verständen mich bis ins letzte und trauten sich al­ les zu …“ – mit dem Enttäuschungsritual des Mannes verabschiedet sich Kokoschka. Der Körper ist zerbrochen, der Wünschende macht sich an die Eroberung des Sprach­ körpers und entledigt sich seiner Fantasie wenig später im Gemälde ‚Die blaue Frau‘. Deshalb führt auch die Vorbemerkung des Herausgebers – Westheim – in die Irre: „Das Kind, der Spieler im Künstler, ließ Kokoschka sich einen Fetisch, eine lebensgroße Puppe wünschen.“ Nichts ist falscher. Es ist der Mann, der sich einen perfekten Modell-, einen Überlebenskampfkörper wünscht und bauen lässt. Diese Durchformung liefert ein ex­tremes Modell für die Durchformung des Körpers als das umhüllende Ganze. Die­ ser Körper ist Mode: als physische wie als rhetorische Technik.

Geschrieben am 7. März 1986; Erstpublikation unter identischem Titel in: Bazon Brock/Hans Ulrich Reck/IDZ Berlin (Hgg.), Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode, DuMont Verlag, Köln 1986, S. 294–300.

1

Vgl. Paul Westheim, Künstlerbekenntnisse, Berlin o. J., S. 243–254.

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EINE ANMERKUNG ZUR MODE ALS SPRACHE Körper und Sprache haben für eine Theorie der Mode ein bedeutsames, intimes Ver­ hältnis. Kokoschkas ‚Fetisch‘ zeigt die Variante eines Setzens auf Dichte, Durchformung, die Illusion eines perfektionierten physikalischen Körpers. Das Scheitern dieser Kon­ struktion führt auf den Sprachkörper zurück. Einige Detailaufnahmen aus einer fran­ zösischen ‚Vogue‘ zeigen den rhetorischen Körper. Ihr Ausschnitt ist beliebig, es han­ delt sich um wiederholbare Formen der visuellen Aufbereitung von Mode-Modellen in einer Modezeitschrift. Das fotografische Auge wurde auf auratisch bedeutsame, für das ­eigentliche Ziel der Präsentation von Kleidungsstücken aber nebensächliche Einzelhei­ ten gelenkt: auf den Mythos des weiblichen Modells als lebende Kleiderpuppe. Die Wie­ derholbarkeit dieser Elemente zeigt, dass der visuelle Code mit dem Code des Körpers und dem Code der Kleidung wesentlich verbunden ist. Versuchte Kokoschka in einem Kraftakt, die Seele als konstruierte Künstlichkeit der idealen, visionären Figur an die Oberfläche, den Triumph des reinen Scheins zu führen, so ist die Demonstration der Mode als Inszenierung des Körpers und als rituelle Stilisierung immer für die Sprache des Blicks gemacht. Kleidungsstücke müssen vorgeführt werden. Die Mode ist in dieser Art der Präsentation immer eine ästhetisch außerordentlich zugespitzte Sprache des Körpers. Sie präsentiert Modellkörper, sie passt die Kleidungs­ stücke als Gesamtszenario einer Attitüde, von Verhalten und Selbstdarstellung, in die Sprache von Körpermodellen ein, die von den ästhetischen Werten der Präsentation der Mode in Journalen und Zeitschriften geprägt ist. Oft scheint es nicht abwegig, die LivePräsentation als Kopie dieser vorab in Blättern gesetzten Standards zu interpretieren. Das heißt aber, dass die Sprache der Kleidung in einem engeren Sinne wirklich Sprache ist: als rhetorische Strategie der Formulierung der Kleidung in Journalen, die mit einer vielschichtigen Semantik arbeiten. Vielleicht erklärt dieser Bezug zur Sprache, weshalb es kaum eine Stiltheorie der Mode – analog den Stiltheorien formulierter Gestaltungsobjekte – gibt und weshalb sich theoretische Überlegungen zur Mode aufspalten in allgemeine Kulturgeschichten, in Motivgeschichten – hierbei meist unter Aspekten von Luxus, Erotisierung und Ver­ führung oder ihrer Kanalisierung, Mode als Geschlechterkampf thematisierend – auf der einen und Untersuchungen der Modesprache auf der anderen Seite. Alles andere als zufälligerweise kommen gesellschaftliche Überlegungen zur Mode als Sprache aus Frankreich. Das ambitionierteste Unterfangen hat ohne Zweifel Roland Barthes durch­ geführt. Sein Système de la Mode von 1967 wurde auf Deutsch bezeichnenderweise und erst viel später als Sprache der Mode (Frankfurt 1985) vorgelegt.1 Das unterstellt, Mode ließe sich als Sprache darstellen, wogegen Barthes’ Untersuchung anhand des Jahr­ gangs 1958/59 der Zeitschriften Elle, Jardin des Modes (vollständig) sowie von Vogue, Echo de la Mode und, gelegentlich, der Modeseiten einiger Tageszeitungen bereits davon aus­ ging, dass ein System der Mode nur in den Sinnsystemen ihrer rhetorischen Darstellung bestehen kann, Mode demnach immer schon Sprache ist. Barthes behandelt Mode als

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einen Gegenstand der strukturalen Sprachwissenschaft im Allgemeinen, als rhetorisch mehrfach überlagertes Bedeutungssystem des Zeigens im Besonderen. Er glaubt, der Zugang zur Realität der Mode sei nicht als Unmittelbarkeit der Kleider oder als Rituali­ sierung ihres direkten Zeigens, sondern nur als Übersetzung der Kleidung in die visuel­ len und rhetorischen Botschaften ihres medialen Zeigens zu schaffen. Struktural ist Barthes’ Untersuchung, weil er sich des Ordnungsschemas der Op­ position bedient, um Bedeutungen und Wertigkeiten des Ausdrucks in ein sprachli­ ches System zu bringen.2 Die Mode als Sprache verwandelt den Körper in Bedeutung. Die Kleidung macht aus dem Sinnlichen Sinn.3 Aber der Körper ist auch das Bezeich­ nete. Er ist Sprache und muss zum Sprechen gebracht werden. Er ist Reservoire und Aus­ druck, Institution und Aktualisierung zugleich. Barthes bezeichnet das als ‚strukturale Diskontinuität zwischen Sprache und Sprechen‘ – dies im Rückgriff auf den struktura­ listischen Vordenker, den Linguisten und Sprachphilosophen Fernand de Saussure, der zwischen ‚langue‘, ‚langage‘, ‚parole‘ unterscheidet und der daran festhielt, dass der Un­ terschied zwischen Sprache und Welt immer eine Unterscheidung ist, die innerhalb der Sprache getroffen wird. Die Sprache des Körpers ist noch der abstrakte Körper, also die potenzielle Unendlichkeit aller zuschreibbaren Werte; das Sprachlose von Kokosch­ kas ‚Fetisch‘4. Konkret wird er erst als sprechender Körper. Das Sprechen leistet nun die Mode als die herausragende Technik, vom abstrakten zum konkreten Körper überzu­ gehen. Dazu nennt Barthes drei Strategien: Man lasse einen idealen Körper als Inkar­ nation auftreten: Mannequins, Covergirls, Körper als reine Form, unindividuell, ohne Attribute und deshalb auch nicht ‚schön‘, sondern deformiert; diese erste Versöhnung zwischen Institution und Aktualisierung leistet die Modefotografie, die hier vom Körper des Modells abstrahiert. Man fülle diese Abstraktion mit Formeln, zeige das Modell und den Körper in Si­ tuationen, mit Gesten und Mienen; man schafft also Ereignisse, welche die reine Struk­ tur überlagern und zerstören; man zeichnet ‚modegerechte Körper‘ aus und schafft da­ mit den im engeren Sinne sprachlichen Körper. Man entwerfe die Kleidung derart, dass sie den realen Körper so transformiert, dass er den idealen bedeuten kann; mit den ent­ sprechenden Kunstgriffen, mit dem entsprechenden saisonalen Vokabular, den ein­ zelnen Moden, kann jeder beliebige Körper in die gewünschte Struktur transformiert werden; die Mode wird zu einer universalen Technik der Integration aller kulturell ver­ fügbaren Zeichen. „In diesem Sinne kann man sagen, dass alle Bereiche von der Mode erfaßt werden. Denn die Mode kann gleichzeitig als höchst verfeinertes Spiel und als grundlegendste Gesellschaftsform verstanden werden – als unerbittliche Besetzung al­ ler Bereiche durch den Code. Die Mode […] kommutiert alle Zeichen und tauscht sie un­ tereinander aus.“5 „Die Mode ist das einzige universalisierbare Zeichensystem; es bringt alle anderen unter seine Gewalt so wie der Markt alle anderen Tauschweisen eliminiert. Im Bereich der Mode gibt es kein allgemeines Äquivalent … Mode gibt es dann, wenn eine Form nicht mehr gemäß ihrer eigenen Determination produziert wird, sondern ausgehend von einem Modell – das heißt, Mode wird niemals produziert, sondern im­ mer und unmittelbar reproduziert. Das Modell ist zum einzigen Bezugs- und Referenz­ punkt geworden.“6 Entsprechend stellt Roland Barthes fest, die Mode habe gerade nicht

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mit der stilgemäßen Formung von Gütern und der Distinktion von Objekten der Bedeu­ tung zu tun, sondern sei, ohne eigentlichen Inhalt, ein Schauspiel, das die Menschen sich selber geben, um eine Macht darzustellen und das Insignifikante, das Unbedeu­ tende zu bezeichnen. Deshalb ist der Stil der Mode eine rhetorische Technik, die immer in den Grenzen und Mechanismen der Sprache als einer öffentlichen Theatralisierung verbleibt. Entsprechend wird die Kleidung auf drei Stufen eingesetzt: • als Modekörper ohne eigene Attribute, in einer reinen Form also, die durch die Kleidung definiert wird; Aufhebung der Grenze von Tiefe und Oberfläche, Dichte und Flüchtigkeit; • als saisonale Einrichtung dessen, was jeweils als modern zu ­gelten hat; Auswahl eines Körpers oder Körpertypus, der diese Akzentuierung darstellt; • als Kleidung, die den realen Körper verwandelt und ihn als ­idealen Körper der Mode definiert. Gerade diese Verwandlung zeigt, dass die Mode nicht ‚innovativ‘ sein kann: Ihre Fundie­ rung in der Sprache und deren Grenzen lässt Bedeutungen und Zeichen zirkulieren. Das ‚Neue‘ aber ist formal eine vertraute rhetorische Figur. Es geht nicht um die Zirkulation des Objekts dieser Figur, sondern um diejenige ihrer jeweiligen sprachlichen Deutung. „Einerseits ist das Heute der Mode rein; es zerstört alles in seiner Umgebung, verleug­ net gewaltsam das Vergangene und zensiert das Zukünftige, sobald diese Zukunft wei­ ter reicht als eine Saison. Andererseits ist ein jedes Heute eine triumphierende Struktur, deren Ordnung mit der Zeit deckungsgleich (anders gesagt: ihr fremd) ist, so dass die Mode das Neue zähmt, noch ehe sie es produziert, und damit das Paradox eines unvor­ hersehbaren, aber dennoch geregelten ‚Neuen‘ erfüllt. Insofern kann man sagen, dass die Mode das Unvorhergesehene domestiziert, ohne ihm freilich seinen unberechenba­ ren Charakter zu nehmen: Jede Mode ist unerklärlich und regelmäßig zugleich.“7 Das erklärt auch, weshalb es schwierig ist, den Stilbegriff einer übergreifenden Gestal­ tungssprache – formuliert anhand der Objektträger von Zeichen und Bedeutungen – auf den Begriff der Mode anzuwenden. Die Mode erscheint in dieser Überlegung als Integra­ tion des Unvorhersehbaren in eine etablierte und verfügbare Struktur. Gute Mode ändert sich nicht.8 Mode hat als Sprache die Struktur eines solchen Stils. „Die Mode ist parado­ xerweise inaktuell. Die Mode setzt immer eine tote, abgestorbene Zeit von Formen voraus, also eine Art von Abstraktion, durch die die Formen – außerhalb des Zeitablaufes – zu ef­ fektiven Zeichen werden, die – gewissermaßen durch eine Verkehrung der Zeit – zurück­ kehren können und die Gegenwart in ihrer Inaktualität besetzen, das heißt mit dem gan­ zen Charme der Wiederholung von Vergangenem, die der Entwicklung von Strukturen entgegengesetzt ist.“9 Die Sprache der Mode gründet im Körper. Entweder in der Dichte eines konstruierten Fetischs oder in der Intensität seiner wandelbaren und doch regu­ lären Benennung. Aber der Körper ist immer auch Sprachkörper, immer Transforma­ tion des natürlich Körperlichen. Das macht die Stilstruktur des Körpers als Sprachmo­ dell aus: Alles verweist auf ein Modell. Die Integration der Zeichen geschieht im Modell

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der ­Sprache. Deshalb auch Roland Barthes’ Wahl der Modezeitschriften, in denen diese Transformation sozusagen authentisch als Mode bereits vorgenommen und der Unmit­ telbarkeit oder Naivität der abstrakten Sprache der Objekte übergestülpt ist. „Es handelt sich, wenn man so will, um eine abstrakte Kleidung, die einem konkreten Sprechen an­ vertraut ist. Die geschriebene Kleidung ist zugleich Institution oder ‚Sprache‘ (langue) auf der Ebene der Kleidung – und Akt oder ‚Sprechen‘ (parole) auf der Ebene der mensch­ lichen ‚Rede‘ (langage). Dieser paradoxe Status ist wichtig; er wird die gesamte struktu­ rale Analyse der geschriebenen Kleidung beherrschen.“10 Diese Paradoxie lässt sich un­ schwer in den Stildebatten, den Rhetoriken und Aneignungen der Mode ausmachen. Was ­Bar­thes vor einigen Jahrzehnten zu schreiben begann, wird heute immer wichtiger: eine Analyse der Mode als Sprache, die sich anschickt, zu einer herausragenden Kultur­ technik zu werden.

Geschrieben am 8. März 1986; Erstpublikation unter identischem Titel in: Bazon Brock/Hans Ulrich Reck/IDZ Berlin (Hgg.), Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode, DuMont Verlag, Köln 1986, S. 301–307.

Vgl. Roland Barthes, Sprache der Mode, Frankfurt a. M. 1985. Vgl. ebda. S. 117 ff. Vgl. ebda. S. 264. Vgl. in dieser Abhandlung den vorangehenden Text: Exkurs: Der perfekte Modellkörper. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, Kap. III, Die Mode oder die Zauberwelt der Codes, München 1982, S. 133/135 f. 6 Ebda., S. 140. 7 Roland Barthes, Sprache der Mode, a .a. O., S. 295 f. 8 Vgl. dazu Antonia Hilke, Stilwandel in der Mode, in: Bazon Brock/Hans Ulrich Reck/IDZ Berlin (Hgg.), Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, ­Architektur, Mode, Köln 1986, S. 290 ff. 9 Vgl. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, a. a. O., S. 134. 10 Roland Barthes, Sprache der Mode, a .a. O., S. 28. 1 2 3 4 5

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EXKURS: POLITICS FOLLOW EMOTION – ‚­STILETT‘ ODER DIE KEHRSEITE DES NEUEN ‚EMOTIONALEN DESIGNS‘ Es ist offensichtlich, wie wichtig das Beispiel ‚frogdesign‘ für die Stildebatte heute ist. Fragt sich nur, wofür das Beispiel stehen soll. So viel scheint klar: Ziel ist eine Lebens­ form, die Totalität ermöglicht; Mittel ist eine Systemstrategie. Nun gibt es andere Sys­ temstrategien. Die Geltung dieser besonderen Strategie lässt sich genauer fassen, wenn man andere Ausdrücke und Äußerungen betrachtet, die gleichzeitig mit dem Erfolg der ‚Designfrogs‘, aber aus ganz anderer Sicht und von einer anderen Generation vehement öffentlich geworden sind. Systemstrategie und Lebensform an der Schwelle der Achtzi­ gerjahre – das ist das gemeinsame Thema von ‚frogdesign‘ und dem Kulturkampf der Jugendrevolten um 1980 von Brixton bis Zürich und Italien. Der kulturelle Zugriff der später als ‚neue Jugendbewegungen‘ ausgezeichneten Protest- und Kampfbewegungen beinhaltet eine Ganzheitsideologie. Sie richtet sich gegen die moralischen Konzepte der älteren 68er-Bewegung, gegen das politische Zwangssystem der Weltveränderung und die Vertreter der damaligen rigiden Moralvorstellungen. Sie richtet sich aber auch ge­ gen alle pragmatischen Handlungen, in denen eine alte 68er-Aura – wie sie, zwar nicht im Einzelnen, aber als gesamte Lebenseinstellung, auch für ‚frogdesign‘ bezeichnend ist – sich konkret als Bereitschaft zur Veränderung innerhalb des Systems interpretiert und Kontinuität der revolutionären Postulate, gereift auf dem Weg der Einsicht in das praktische Leben, beansprucht. Die Dynamik, mit der die Dinge in Bewegung gehalten werden sollen, hat zwei sich entsprechende Seiten: die pragmatische Integration mitsamt der Öffentlichkeit, die sie beansprucht, und das absolute Bestehen auf einer spezifischen, abgeschlossenen Nütz­ lichkeit, die nach autonom gesetzten Bedingungen einer bestimmten Gruppierung, ei­ ner lose verbundenen Bewegung funktionieren soll – zielend auf eine Lebensbasis, die sich nicht mehr in irgendeinem herkömmlichen Sinne als politische versteht, sondern das Politische von vornherein als Korruption und Preisgabe der Autonomie interpretiert. Dem gegenüber steht die Haltung, zum Beispiel von ‚frogdesign‘, den Non-Konformis­ mus ungebrochen in eine Systemstrategie verwandeln zu können. Dass dabei Ökologie und Hightech, Emotionalisierung der Warenästhetik und Engagement für das bessere Produkt im Sinne der sogenannten Lebensqualität zu einem neuen Totalstyling verbun­ den werden, erstaunt umso weniger, wenn man beobachtet, dass die Verbindung von Militanz und Szenarien-Konsum auch auf der anderen Seite routiniert vollzogen wird. Nun zeigt diese andere Seite eine vehemente Attacke auf Kulturkitsch, Positivismus und Sozialstaatsideologie. Dieser Lebensstil ist Anti-Stil, der mit stilistischem und rhetorischem Aufwand propagiert wird. Auch die Designfrogs arbeiten mit einer kämpferischen Rhetorik. Im Kontrast mit den publizierten Stilisierungen der neuen Jugendbewegungen lässt sich der gegenüber einem marktüblichen Durchschnitt geäußerte Anspruch auf Kompro­

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misslosigkeit erst historisch verstehen. Ähnlichkeiten und Unterschiede der Rhetorik liegen auf derselben Ebene: Designfrösche gegen Subversionsratten – das sind die Tier­ embleme, die leitmotivisch verwendet werden. „Vom Stil zu ‚Stilett‘“ ist also ein nahe­ liegender Slogan, wenn man das gemeinsame Thema der antagonistischen Bereiche in den Blick nimmt und strategisch differenziert: hochtechnoide Kultur, Mythos des Amerikanismus (oder, auf der anderen Seite: von Babylon), Computerisierung, Steue­ rungs- und Kontrollfragen, Wohlstands- und Abfallgesellschaft, Hyperrealismus und Plastikwelt, weiße und schwarze Romantik gegenüber einer imperial i­nterpretierten Neue-Welt-­Lebensweise. Beide Rhetoriken leben von der Politik der Fetischisierung und der Übertreibung von Schein. Der Stil des neuen emotionalen oder: emotionali­ sierenden ­Designs formuliert den positiven Geist, das zustimmende Aufgreifen der Technologien im Dienste einer moderaten Weltverbesserungsstrategie. „Junge Leute – rundum positiv“ titelte kürzlich die Zeitschrift ‚Freibeuter‘ einen Themenschwerpunkt. ‚Rundum positiv‘ bedeutet, unter Stilauflagen, für eine dem Revolutionarismus entsa­ gende, gleichwohl durch ihn geprägte Generation ein kritisch erscheinender Common Sense, ein Glaube an den Sinn machbarer Dinge. Für eine ursprünglich kritisch geprägte, nach Souveränität und Authentizität lechzende, kühl kalkulierende und emphatisch arbeitende Schicht der ‚neuen, mittle­ ren Generation‘, die einen professionellen Umgang mit Urbanität beansprucht, ist mit dem Begriff der ‚Yuppies‘, der ‚young urban professionals‘, ein griffiges Sprachbild ge­ funden worden. „Viele sind berufen, doch wenige sind auserwählt. Und laut der kali­ fornischen ‚Denkfabrik SRI International‘ können von den sechzig Millionen zwischen 1946 und 1964 geborenen Amerikanern nur vier Millionen als ‚young urban professio­ nals‘ gelten. Von diesen wiederum lebt nur ein Viertel in der Großstadt.1 Der Yuppie ge­ hört also zur Generation des Babybooms, ist zwischen 26 und 40 und verdient im Ma­ nagement oder in einem freien Beruf mindestens 40 000 Dollars im Jahr. […] Es wird ein künstliches Identitätsbewusstsein geschaffen, und zwar für die Bedürfnisse eines breit­ angelegten Marktes. Welchen Beruf der Yuppie hat, ist egal, solange der ihm nur den Konsum ermöglicht bzw. ihn dazu zwingt. Der Lohn ist nicht die Sache selbst, nicht der Croissantwärmer oder der BMW als Produkt an sich, sondern ihr Wert fürs Image. Yup­ pies haben daher ein ausgesprochen spirituelles Verhältnis zu ihren Besitztümern und erinnern einen damit an die Schilderungen von Naturvölkern in einschlägigen senti­ mentalen Darstellungen. Yuppies halten sich gerne für Trendsetter2 – eine bestürzende Selbsttäuschung bei einer Gruppe, die sich ausschließlich mit Banalem abgibt. Diese Stoßtrupps des Konformismus sind nach eigener Einschätzung die Vorreiter des erle­ senen Stils.“3 Die Bereitschaft zum Elitarismus – der durch die Äußerungen des (im Übrigen kei­ neswegs aufgesetzten) ökologischen Sinnanspruchs als Machtstrategie durchscheint – verstärkt das Banale. Durchaus möglich, dass an dieser erhellenden und auch auf ‚frogdesign‘ zutreffenden Beschreibung – ‚frogdesign‘ residiert ja auch in Kalifornien – gerade der Kernsatz in die Irre führt. Trendsetting geht heute notwendig in die Richtung des Banalen. Das ist durchaus doppeldeutig, denn schließlich sind die ökologischen Probleme banaler, nicht metaphysischer Natur.

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In genau der historisch-gesellschaftlichen Situation, in der die Yuppies sich dem Reich des Banalen verschreiben, findet mit den Jugendbewegungen eine andere Radi­ kalisierung des Banalen statt, mit einer ganz anderen visuellen und urbanen Typolo­ gie. Die städtische Prägung der Yuppies hängt immer noch vom Triumph der Dienstleis­ tungsgesellschaft ab, ergänzt durch die sogenannten Kommunikationstechnologien: Autos, Motorräder, Computer, Lifestyle-Techniken und immer wieder: fun, fun, fun. Der Kulturkampf der Jugendbewegungen zielt auf eine völlig andere Urbanität. Er sprengt die glatten, spiegelnden, geordneten Oberflächen und besteht auf dem Chaos der ­Lebensmöglichkeiten, auf der nicht begrenzbaren Wahl an Ausdruck und Aneignung. Gegen eine Kultur der reibungslosen Technisierung und Verkabelung artikuliert die Ju­ gend in den nachindustriellen Städten – London, Liverpool, Berlin, Zürich – das Ende der Arbeits- und Dienstleistungsgesellschaft zugleich, ohne dem vierten Sektor oder der Kon­struktion der kulturellen Freizeitgesellschaft zu huldigen. Deshalb der militante Kampf gegen den Staat, gegen die Bürokratie, die urbane Lebensformen ausdünnt, auf­ zehrt, wegkontrolliert. „Die gegenwärtigen Revolten sind urbane Revolten. Das heißt nicht einfach, sie brä­ chen in den Städten auf – und das würde nicht einmal ohne Abstriche zutreffen. Wichtig ist vielmehr, dass nicht nur in der Stadt, sondern um die Stadt gekämpft wird. Diese ur­ banen Revolten sind keine Revolten gegen die Verstädterung, sondern gegen den Man­ gel an städtischen Lebensformen in der Stadt. Sie klagen ein Versprechen ein, das die Städte laufend geben und laufend brechen. Die Stadt, Produkt und Raum der artifiziel­ len Leistungen der Menschheit, verkörpert und propagiert das Versprechen, sie biete je­ dem wünschbaren Entwurf menschlicher Lebensformen eine Realisierungschance. Die Stadt, Knotenpunkt verschiedenster Lebensweisen und kultureller Einflüsse, verkör­ pert und propagiert das Versprechen, die ganze Vielfalt von Lebensformen, die sie zu­ sammenbringt, aufgehen und sich wieder vervielfältigen zu lassen […] Wer ‚Stadt‘ sagt, meint nicht nur den geografischen Ort, auf den alle Verkehrswege führen und an dem jeder aus der ungeheuren Sammlung menschenmöglicher Erfahrung auswählen kann. Er meint zugleich jene Chance gesteigerter Aufmerksamkeit und Intensität, jene Sphäre des Reichtums, der weit über die Existenz im Wohlstand hinausreicht. Hier wäre der Kern des Begriffs ‚Urbanität‘ aufzusuchen, der ja keineswegs mit dem pejorativ markier­ ten Begriff ‚Verstädterung‘ zusammenfällt […] Die Stadt ist -wenigstens dem ersten An­ schein nach – der Knotenpunkt menschenmöglicher Erfahrungen und der Möglichkeit, an ihren Realisierungen gleichzeitig und ohne Ausschließlichkeiten teilzunehmen. Das urbane Versprechen trägt so seinen Widerspruch in sich selbst, und es schlichtet den Widerspruch, indem es alle Erfahrungen als Zitate verfügbar macht. Die Notwendigkeit, aus allen Erfahrungen einige wenige auszuwählen, verliert ihren Stachel, wenn man sich an keine der selektierten Erfahrungen verlieren muss. Die problematische und brüchige Einlösung des urbanen Versprechens durch die Verflüchtigung und Punktualisierung von Erfahrungen […] gelingt, soweit es der städtischen Apparatur gelingt, den Unter­ schied zwischen durchgemachter und zitierter Erfahrung einzuebnen. Dass diese Ein­ ebnung gerade keinen lntensitätsverlust erzwingt, wird plausibel, wenn man sich das Theatralische der zitierten Erfahrung vergegenwärtigt […] der Erfahrungsreichtum, den

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die Stadt verspricht, erweist sich zunächst als bare Fiktion. Aber die Fiktion ist das ein­ zig ‚Verläßliche‘ an der städtischen Erfahrung.“4 Was für ‚frogdesign‘ der Stil als Inszenierungsraum der für real gehaltenen Fiktion bedeutet, das drückt sich für die Auffassung, Realität sei Fiktion, in ‚Stilett‘ als exem­ plarische Theatralisierung und Stilisierung zitierter Erfahrungen aus. Insofern stehen sich emphatischer Stilpositivismus und fiktionale Überdrehung illusionierter Hyperrea­ lismen strikt entgegen. Realität und Fiktion werden vertauscht. Bei ‚frogdesign‘ kommt die Bühne der ernsthaften und erhaltenen Realität heraus, bei den Subversionsratten um ‚Stilett‘ der Fiktionsraum einer überrealisierten Illusion. Die einen halten am Rea­ len fest und verdichten es (der Produktestil entspricht diesem Erscheinungsbild: kom­ pakte, gedrängte Materie), die anderen versuchen, das Reale als in sich gebrochene Struktur der Illusionen aufzugreifen, um das Tempo der Verflüchtigung des Realen zu beschleunigen. Diese Überlagerung, dieses Tempo, die Fiktionalisierung des Überrea­ len in die Verzerrung, die neuer Realismus wird (völlig verschieden vom üblichen SurRealismus) – all dies als Kennzeichen eines Dynamismus, wie er die Umschläge der Zeit­ schrift ‚Stilett‘ auszeichnet. Stilett hieß (neben Brecheisen und Eisbrecher) eine der ‚Anti-Packeis-Zeitschriften‘ der Zürcher Jugendbewegung. Politisch nicht stilbildend, ist seine Kampfrhetorik als visuelles Medium einer Systemstrategie unverwechselbar und in den hauptsächlichen Nummern wohl nicht zufällig dem Format von Andy Warhols ‚Interview‘ nachgebildet. Nicht aus Affinität, sondern um einen radikalen Gegenpol einzunehmen. Unterstellt ‚In­ terview‘ Authentizität, so arbeitet ‚Stilett‘ mit Zitationen, in denen die Aura der intimen Teilhabe zerstört wird. Anonym produziert, in großer Auflage im Direktverkauf abgesetzt, jedes Mal mit einem anderen Slogan präsentiert – „Organ für Kultur, Kontakt und Nah­ kampf“, „Zeitung für Spraydosenhändler und Schwarzfahrer“, „Drogenabhängige anar­ chistische Volkszeitung“, „Magazin zur Verwirrung, Verbreitung und Verschlimmerung“, „Gehobene Makulatur amt. gepr.“ –, markiert das Erscheinungsbild, dass dieser Kultur­ kampf mit den alten Strategien der Gegenmacht und der moralischen Kritik der Weg­ werfgesellschaft nichts mehr zu tun hat. Engagement ist nicht mehr gefragt. Falls hier eine als Stil beschreibbare Kompromisslosigkeit geäußert wird, so bezieht sie sich in je­ dem Fall nicht mehr auf ein feststehendes, stabiles und geordnetes Subjekt. Die Frage nach dem Authentischen erscheint als überholt. Die Situation der imperialen internati­ onalen Massenproduktions- und -konsumgesellschaft, die als Repressionsmaschine ver­ standen wird, macht die Suche nach dem Authentischen banal, entlarvt die Sehnsucht nach ihr als lächerlich. Was gefordert wird, sind nicht bestimmte Inhalte oder Diskurse, sondern einzig das Recht auf Autonomie, das Zugeständnis des Willens, etwas wollen zu können für die Artikulation irgendeiner Gruppierung, die ihren Willen deklariert – unab­ hängig von Lebensformen und Verfügungsrechten im Einzelnen. Diese Autonomie – und die neuen Jugendbewegungen sind autonomistische Bewegungen, wenn auch nicht im Sinne des italienischen Fabrikkampfes der Siebzigerjahre – richtet sich primär gegen die Authentizität mit ihrer Forderung nach Selbstverwirklichung. Sie sucht nicht nach Ant­ worten, sondern besteht auf der Brisanz der Frage, was Wirklichkeit am Ende der Arbeits­ vertrags- und Sozialstaatsgesellschaft überhaupt noch heißen kann.

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Es ist hier nicht der Ort, die lokalen Gründe und internationalen Zusammenhänge dieser Kampfbewegung sowie ihrer Ghettoisierung und Verdrängung nachzuzeichnen. Der Kampf um Autonomie richtet sich jedenfalls gegen die Revolutionierung der Ge­ samtgesellschaft durch eine politische Strategie oder die Organisation des Glaubens an ein wahres totales Subjekt. Es geht nicht mehr um die Eroberung von Systemen, Gesell­ schaften, Ländern. Es geht um einen exemplarischen Nahkampf, um die Eroberung ei­ nes unterhalb der Verwaltungsordnung existierenden urbanen Lebens. Der Kampf um diese immateriellen Zusammenhänge des Urbanen macht die Kampfparole der Autono­ mie zum schärfsten Gegner und zum Schattenwesen der pragmatischen Trendsetting­ philosophie der Yuppies: totale Verweigerung5 gegen totale Pragmatik; Negativismus ge­ gen Positivismus; Zynismus und Skepsis gegen den neuen Glauben an das Machbare und die Verbesserung; Absage an die spirituelle Emotionalität als verbindliche und ver­ bindende Gruppenstruktur; Vereinzelung gegen Vermassung; Ausstreuung gegen Kon­ zentration; Wechsel gegen Identität; Tarnung gegen Umsetzungs- und Artikulationsma­ ximum. Oder, mit den von den Kontrahenten in Anspruch genommenen Tiergestalten: Ratten gegen Frösche. Die entscheidende Frage – das macht unseren Vergleich stichhal­ tig – ist die auch von den Designfrogs in die Runde geworfene Frage: Was ist richtiges Le­ ben? Worin gründet der Anspruch auf richtiges Leben? Mit welchen Dingen und Strate­ gien versichert sich dieser Anspruch der für die Existenzsicherung notwendigen Macht. Im innerhalb des Kulturkampfes entstandenen Video-Film des Videoladens Zü­ rich Züri brännt wird eingangs den Bildern folgender Text unterlegt. Er ist anonym in ei­ nem kleinen Jahreskalender, ebenfalls ‚Stilett‘ genannt, erschienen mit vielen kleinen Hinweisen für das Bestreiten des subversiven Nahkampfes. Um die Gegenposition zum Yuppie-Design klar auszudrücken, seien aus dem Text der Ratten einige längere Passa­ gen angeführt. „Es dauerte lange, bis Zürich brannte, und als es endlich Feuer gefangen hatte, fand dieses keine Nahrung. Denn der Beton tönt hohl und will nicht brennen, ein Su­ persicherheitsklotzgefängnis ist kein Scheiterhaufen, aber modern. Modern viereckig, grau und in Ordnung sind auch die von plastifizierten Hollywood-Monstren belebten Kinderspielplätze. In Ordnung ist überhaupt alles, was glatt, kahl und sauber ist. Gäh­ nende Wüste unter Industriedunst gegen oben elegant sich verjüngende Turmarchitek­ tur. Reduzierte Bildwelt. Andächtige Monotonie von Beamtenschritten in den öden Gän­ gen der Registraturbehörden. Riesige planierte Flächen vor den Einkaufszentren, so leer und wunschlos wie die Köpfe der Familienväter am Sonntag. Doch unten, wo der Ver­ putz zu bröckeln beginnt, wo verschämte Rinnsale Kleenex-sauberer Menschenärsche zu stinkenden Kloaken zusammenfließen, da leben die Ratten, wild wuchernd und fröh­ lich, schon lange. Sie sprechen eine neue Sprache. Und wenn diese Sprache durchbricht, ans Tageslicht stößt, wird gesagt, nicht mehr getan sein, schwarz auf weiß wird nicht mehr klipp und klar sein, alt und neu wird ein Ding sein. Krüppel, Schwule, Säufer, Jun­ kies, Spaghettifresser, Neger, Bombenleger, Brandstifter, Vagabunden, Knackis, Frauen und alle Traumtänzer, werden zusammenströmen zur Verbrennung der Väter. Geld ma­ nifestiert sich in Höhe und sterilen Glasfassaden. Macht blinzelt im starren Rhythmus vom rot-gelb-grün der Verkehrsampeln. Unumwerflich, die stabilisierende Wirkung nie

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endender Autoschlangen und allgegenwärtig wachen Roboter über Recht und Ordnung. Zürich-City, Großraumbüro, rentabel … doch zum Wohnen leider ungeeignet. ZürichCity: Parkhaus für Pendler und motorisierte Alleskäufer. Abgase zerfressen Sandstein­ fassaden in den letzten wohnlichen Quartieren, Lärm + Streß geben ihnen den Rest. Hautnah haben wir miterlebt, wie um uns herum die große Illusion der Wohl­ standsgesellschaft aufgebaut wurde. Wir lebten in den grünen Städten des sozialen Wohnungsbaus, in der heilen Welt neu besiedelter Außenquartiere. Unsere Eltern krab­ belten emsig und tüchtig wie die Ameisen, kurzsichtig und stur wie die Maulwürfe an der Erfolgsleiter herum. Die wenigsten schafften es bis ganz oben, aber die meisten schafften es zu dem, was sie heute sind: eine riesige Mittelschicht kleinkarierter, lang­ weiliger, subalterner fünfzigjähriger. Die unerschütterlichen Helfer des großen Bruders, mit Bierbauch, verklebter Fantasie und meterdicken Mauern um Hirn und Herz. Dann kam das Jahr 68 mit einem ominösen Schwall neuartiger, aufrührerischer Worte. Po­ lemisierende Väter, besorgte Mütter am Familientisch. Und wir, die wir damals noch heimlich Zigaretten rauchten auf dem Pausenplatz, waren fasziniert und verunsichert. Hilfe … die Schweiz von Aufruhrwelle erfaßt! … japsten die Nachrichtensprecher mit überschnappender Stimme. Globus-Krawall, die autonome Republik Bunker, die ersten Joints, Bilder knüppelnder Polizisten in Zeitungen und am Fernseher fressen sich in un­ sere Kindsköpfe. Wir hören vom ‚Shop-Ville‘, von der ‚Heimkampagne‘, von der ‚Vene­ digstrasse‘. Wir verteidigen unsere langen Haare gegen die Macht von Elternhaus und Schule. 68 wird zum Begriff und schläft ein. Jimi Hendrix erwacht zum Leben und stirbt wieder. Während die graue Hand der Liberalen Restauration unerbittlich die Lage zu stabilisieren beginnt, erwachen wir zu politischer Reife. Wir haben am Aufstand gero­ chen, wir sind genauso unzufrieden, wie es die guten alten 68iger waren, doch wo sind sie geblieben? Ihre Devise lautete: Unterwandert die Institutionen, höhlt sie aus, und jetzt hocken sie in ihren Parteien, Gremien + Ausschüssen, sind hohl + müde. Resigniert in den von ihnen geschaffenen Selbstverwaltungsstrukturen. Der Zahn der Zeit nagt an der Frauenbewegung, und in den Wohngemeinschaften werden kleinliche Frustratiön­ chen gehätschelt. Es wird kälter und kälter. Langeweile und das dumpfe Gefühl, nicht mehr länger von den alten Zöpfen aus den 68iger Zeiten leben zu können. Es muss et­ was in der Luft liegen … wenn aus allen Ecken der Stadt ein tiefkehliges Murren anzu­ schwellen beginnt, wenn gute Bürger hastig die Läden schließen und ihre Töchter vom Gehsteig entfernen. Wenn da und dort in schummrigen Lokalen unter Wuschelköpfen Unheimliches, Konspiratives zusammengebraut wird. Der wühlende Stachel des Punk. Wände erzittern, Nachbarn werden aus den Betten vibriert. Wilde Feste werden gefeiert, und dem durchschnittlichen Straßenbahnbenützer zieht es das Arschloch zusammen. Sein Gesicht erstarrt zur säuerlichen Grimasse, wenn das erste gemeine Gitarrenriff aus geschändeten Verstärkern dröhnt. Das ist sie, die Ouvertüre zu einer neuen, bösen Oper. Der Tanz der Kulturleichen.“6

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Geschrieben am 14. März 1986; Erstpublikation unter identischem Titel in: Bazon Brock/Hans Ulrich Reck/ IDZ Berlin (Hgg.), Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, ­Design, Architektur, Mode, DuMont Verlag, Köln 1986, S. 193–206.

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Allerdings lässt sich auch im Schwarzwald eine urbane Lebensform praktizieren; interessant sind hierfür die Hobby- und Neigungsangaben der ‚Designfrogs‘; Anm. H. U. Reck. Nichts ist dafür aufschlussreicher als die von den ‚Designfrogs‘ selber formulierten Angaben zu den ­Abbildungen im Buch: Stilwandel; vgl. Hartmut H. Esslinger, Stilwandel im Design? Das Beispiel ‚frogdesign‘. In: Bazon Brock/Hans Ulrich Reck/IDZ Berlin (Hgg.), Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode. DuMont Verlag, Köln 1986, S. 172 ff.; Anm. H. U. Reck. Darryl Pickney, Die Schlüssel zum Himmelreich – Yuppies in Manhattan. In: Freibeuter 26/1985, Berlin 1985, S. 66. Rudolf M. Lüscher, Vermutungen zu den Jugendrevolten 1980/81, vor allem zu denen in der Schweiz. In: ders., Einbruch in den gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse, Zürich 1984, S. 123 ff. Übrigens auch des eigenen revolutionären Ernstes; das Bewusstsein des Überflusses und der intensiven Verschwendung erstreckt sich auch darauf. Intro-Kommentar aus dem Video-Film des Videoladens Zürich ‚Züri brännt‘, gedruckt in einem Jahres­ kalender Stilett, Zürich 1980.

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DAS RINGEN UM DEN GEGENSTAND: DESIGN ZWISCHEN KUNST, KULT UND LIFESTYLE Exposition: Sprachlosigkeit der Form Das Versprechen, dass Dinge nützlich sein können, hat eine merkwürdige Neigung, sich im ästhetischen Feld als Nützlichkeitsanspruch aller menschlichen, formenden Hand­ lung aufzuspielen. Wenn, wie in den letzten Jahrzehnten rasant geschehen, der Kunst der utopistische Stachel der Ent-Regelung gesetzten Denkens und Vorstellens gezogen wird, Kunst selber zum Schau- und Dekorationsstück wird, dann wird diese triumphale Neigung gelungener Formfindung umso aufdringlicher, je mehr Gebrauchsdesign sich zur Kunst erklärt, gleichwertig mit jenen Gebilden, die auf Vergleichgültigung des Un­ terschieds von autonomer und zweckorientierter Kunst setzen. Die Geschichte, wie aus dem Fluxus der 1960er-Jahre die Indifferenzbehauptung ästhetischer Selbstgenügsam­ keit geworden ist, bleibt noch zu schreiben, markiert aber sicherlich eine Umkehrung der strategischen Bewertungen von damals. Die Vereinnahmung des Feldes der Kunst ist möglich, weil deren kritische Selbster­ schöpfung im Zeichen eines maßlosen und unvergleichlichen Erfolges ohne Alternative zu sein scheint. Dennoch bleibt die Klarheit der ästhetischen Zuschreibungen im Design­ bereich größer. Die Umformung des Alltags nach Modellen, welche Design durch kräf­ tige Plünderungen in Kunstgefilden entwickelt und ausprobiert hat, gibt der Aneignung von Design Fragestellungen vor, die An­sprüche an Handeln für die Mitteilung an andere immer haben. So gilt es, dieje­nigen abstrakten Werte, in denen Selbstbilder und Identi­ tät anerkannt werden sollen, zu versinnlichen. Für den Bezug auf Freiheit und Macht, so­ ziale Rollen und Ansprüche kommen Abstraktionen ohne Versinnlichung gar nicht zur Geltung. Reibungsverluste müssen in Kauf genommen, können aber nicht systematisiert werden. Die komplizierten Hierarchien und Austauschverhältnisse zwischen Wertdar­ stellungen und der Festlegung ihrer sinnbildlichen Genauigkeit sind ih­rerseits Konjunk­ turen ausgesetzt. Deshalb reichen Versinnlichungen von Ab­straktem nicht aus, weder für die Verdeutlichung der Wertansprüche noch für die Aneignung von ‚Wirklichkeit‘. Erst die Konstruktion von Symbolen, in denen über das Wirkliche Aussagen ge­ macht, Vorschläge zur Interpretation gemacht werden, setzt ein ‚Wirkliches‘ auch in das Wahrnehmungsfeld anderer. Deshalb müssen für bereits geleistete Wirklichkeitserfas­ sungen immer wieder neue Modelle gebildet werden. Erst in diesen – Zeichen, Wappen, Corporate Identity, Kleidung, kulturelle Attitüden und Gewohnheiten – wird eine Zuge­ hörigkeit differenziert oder eine Abgrenzung erklärt. Und mit diesen beginnt ein Spiel um die nur in Symbolen durchzusetzenden Ausdehnungen des Handlungs- und Gel­ tungsraums. Das erklärt, weshalb in einer Zeit der Neutralisierung der Kunst mit den Mitteln ih­ res Erfolges Design zu einer Strategie der Aneignung von Spielräumen anderer werden kann. Die These, alles sei Design (‚Design ist unsichtbar‘) und die These, Design müsse

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als Totalästhetisierung einer mit neuen Ornamenten und Mythen literarisierten Welt verstanden werden, entsprechen sich trotz ihrer deklarierten ideologischen Gegner­ schaft bis ins Kleinste. Die Ausdehnung der Berechtigung zur Ästhetisierung von Hand­ lungen anderer Menschen beginnt aber beileibe nicht damit. Sie gründet in der für an­ thropologische Letztgültigkeitsentwürfe strapazierten Überzeugung, menschliches Handeln finde dereinst universale, abschließend geltende, perfekte, quintessenzielle und, im glücklichsten ursprungsontologischen Falle: archetypische Formen. Die Form eines Gebrauchsgeräts in endgültiger Ausgestaltung würde verstanden als Problem­ lösung des durch sie bezeichneten gegenständlichen Handlungsvorgangs. Die Moderne steckt voller solcher Universalsuggestionen. Formästhetik als vollumfänglich realisierte Anwendungstechnologie, die Perfektionierung der Maschinen und Apparate: Sie alle sind nur Metaphern. Bloß soll aus diesen mit aller Gewalt Wirklichkeit werden. Diese letzten, entdeckten Formen wären selbstgenügsam. Sie bedürften nicht nur der Sprache und Interpretation nicht mehr: Sie könnten diese gar nicht mehr zulassen. Ihr Wirklich­ keitsraum ist ein Jenseits zu dem für menschliche Belange Benenn­barem. Ihr letzter Tri­ umph wäre die Tilgung menschlicher Sprache durch die Offenbarung der ­Eigennamen des Heiligen. Diese Form ist das Unheil aller Heilssuche.

Das Ringen um den Gegenstand: Einführungen zum Design zwischen Kunst, Kult und Lifestyle Kunst und Design gehen heute immer engere Verbindungen ein. Dies entspricht der Absicht einer Generation von Künstlern und Designern, die durch die Medienindustrie ebenso geprägt sind wie durch die zunehmende Verkünstlichung vordem historisch be­ stimmter, in spezifische Symbolsysteme eingebundener Zeichenrepertoires. Der neue Gestaltungsanspruch zielt auf die Ermöglichung der totalen Lebensstilisierung, einer in­ differenten, nur auf sich verweisenden Poesie. Kunst und Design als endlich gefundene Vereinigung von Gesellschaft und Ästhetik, Bewusstsein und Dekor, autonomer Kunst und angewandter Gestaltung? Oder doch bloß nur eine ästhetische Suggestion wesent­ lich älteren Datums, die durch den Technologieschub in der industriellen Produktion von Zeichenstrategien einen gesteigerten Reiz für die Beschwörung der neuen Unüber­ sichtlichkeit und ein vermeintliches Post-Histoire gewinnt? Designkunst und Kunstde­ sign, Kult und Ritual, Subkultur und Massenästhetik – alles dasselbe? Alles scheint im heutigen Stilkrieg als einer spielstrategischen Auto-Animation spätbürgerlicher GenussSubjekte erlaubt. Der letzte Stil ist kenntlich bloß noch als Summe der Stillosigkeiten. Nur was ‚out‘ ist, ist ‚in‘. Es gibt keine hauptsächlichen Tendenzen mehr. Die eine hebt die andere auf. Die Resultante bleibt volkswirtschaftlich und gesellschaftlich konstant. Jede Gestaltungsäußerung provoziert ihren Widerspruch. Wer Erfolg haben will, liefert ihn gleich mit. Das Lifestyling trium­phiert. Sämtliche Errungenschaften in Kunst, Kultur, Philosophie, Ge­schichte und Denken werden geplündert, verwässert, nach Belie­ ben als Dekor benutzt. Ein polymorphes Chaos breitet sich aus, in buntem, grellem Ge­

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wand und doch steril. Deutet sich hier eine universale poetische Technik an, die Kunst und Leben, Design und Wahrnehmung zugleich umfasst und determiniert? Oder ist die thesenhaft befrachtete, Ganzheitsstrukturen kulturdiagnostisch beanspruchende Rede vom Theater der Sensationen, der Polysemie der Zeichensimulationsgesellschaft, die ri­ tuell gefeierte Katastrophe des Tods der Zeichendifferenz in der beschleunigten Zirkula­ tion der Artefakte nicht bloß Ausdruck einer Ideologie, die sich aus der Verdrängung der historischen Zusammenhänge ergibt? Die ewige Wiederkehr der Rhetorik des Neuen verstellt den Blick auf die Traditionen ebenso wie auf das Problem der Avantgarden. An­ gesichts des Kunstheldentums der neueren Generation, angesichts eines erneuerten äs­ thetischen Vitalismus, gegen dessen Genusssüchtigkeit nichts, gegen dessen Macht­ strategie vieles einzuwenden ist, angesichts der Intensivierung der ästhetizistischen Ereignishaftigkeit als Form für öffentliche Äußerungen, angesichts des zunehmenden Kampfs um die Subsistenzressourcen, die als rhetorische Luxusgüter behandelt werden, angesichts der technisch-simulatorischen Mediatisierung der Wahrnehmung muss die Notwendigkeit symbolischer Darstellungen als Problematisierung der vermeintlich si­ cheren Interpretationsmodelle begriffen werden. Die Stilisierung der Artefakte spricht zwar im Einzelnen durchaus eine Sprache des triumphalen Luxurierens und wähnt sich als Dispositiv der Indifferenz, aber die Struktur der Herausbildung der Artefakte ver­ weist wie alle Symbolisierung auf anthropologische Differenz. Diese Differenz geht von der Kontinuität des Zwangs zur Symbolisierung im Taumel der inszenierten Ereignisse aus. Das zwingt zur Reflexion der verschiedenen ästhetischen Bezugnahmen auf die Suggestion der semiotischen Katastrophe, des Heiterkeitsdesigns oder der freischwe­ benden Libido-Dispositive. Es gibt Dinge, es gibt Bilder, es gibt Lebensformen. Zeichen haben eine Struktur, eine Bedeutung, eine kommunikative Funktion. Menschen eignen sich Dinge und Bil­ der als Bedeutungen an. Zeichen sind Hinweise auf ihre kommunikative Verwendung und ästhetisch strukturierte, gestaltbezogene Elemente einer Wahrnehmungssemantik. Bilder und Dinge haben immer Funktionen. Der Gebrauch ist eine Handlungsform, die einen Lebensentwurf strukturiert, Abweichungen und Verdeutlichungen, Verklärungen und Verunklärungen gleicherweise enthält. Der Gebrauch ist die Strategie der Klärung des Bedarfs an Diffusität und Unklarheit, der für jeden lebendigen Binnenbezug der Wahrnehmung grundlegender ist als eine abstrahierte Ratio­nalität der Reflexionsmit­ tel. Der Gebrauch ist ein Prozess der Wahrnehmung, aber nicht sinnvollerweise ein Pro­ zess der Klärung. Die Gebrauchsweisen von Dingen und Bildern sind nicht gleich. Der Gebrauch von Dingen ist in seiner instrumentellen Operationalisierung abhängig von ästhetischen Bewusstseinsfaktoren. Die Poesie der absoluten Kunst hat eine Funktion als Deregulierung der identifikativen Funktionssicherung. Sprache ist nicht identisch mit der Welt, auch nicht mit ihren eigenen Grenzen, erst recht nicht der Begrenzung der Welt durch subjektive Territorien, des Angeeigneten und begrifflich Differenzier­ ten. Wenn wir – darstellend, redend, gestaltend, wahrnehmend – von der Welt handeln, dann erschließen wir Bedeutung nicht nur über Interpretationen, sondern deren Trenn­ schärfe durch das Bewusstsein ihrer prinzipiellen Unangemessenheit zum Interpre­ tierten. Kommunikation setzt wieder ein, setzt sich fort und greift – ohne prinzipiellen

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­ bschluss – auf die inneren Dispositionen, die dysfunktional, als Handlungsaufschub in A ihren Mechanismen wahrgenommen werden müssen. Es geht um die Differenzierung dieser Artikulationsfaktoren, auch wenn es dem praktischen Design der technischen Mediengesellschaft um Territorialkämpfe und Behauptungssicherungen in erster ­Linie zu tun ist. Kunst ist ein Prinzip der formdifferenzierenden, bedeutungsverschiebenden Selbstbezüglichkeit geworden. Das Bild wird zum strukturellen Gegenstand für die sym­ bolische Interpretation durch die Wahrnehmung primärer Formulierungsmittel. Es wird Bildraum: Leerstelle unserer ästhetischen Vergegenständlichung. Diese gelingt nur in einer kreisförmigen Doppelbewegung. Wir nehmen die Bezugnahmen wahr, die durch das bildnerische Arrangement an den Bildbezügen selber möglich sind. Das Bild transformiert die ästhetische Fixie­ rung in die Eröffnung der Wahrnehmung einer Beziehung zwischen Bild und Be­ trachter. Gleichzeitig aber (und zugleich; trennbar nur analytisch) nehmen wir die ästhetische Struktur aller Erkenntnisse durch die Wahrnehmung des Bezugs unse­ rer Erkenntnisvermögen auf die bildnerisch strukturierte Beziehung zwischen Auge und Aussage an uns selber und unserer Beziehung zu ‚Wirklichkeit‘ wahr: ‚Wirklich­ keit‘ als Vergegenständlichung der empirischen Untrennbarkeit dieser Doppelbewe­ gung. Das Ringen um den Gegenstand1 verweist auf die ästhetischen Fundamente der Bedeutung aller Objekte. Kunst arbeitet mit De-Montage und Montage der Fragmente, Design mit der Transformation der Brüche zwischen den Elementen in eine vorgeb­ lich bruchlose Einheit. Kunst ist für Design Organisation der medialen Wahrnehmbar­ keit. Die Montage plastischer Wertigkeiten wird als Kompositionsprinzip der autono­ men Kunst zum Wahrnehmungsgegenstand für die Explikation der Gegenstände des Denkens, Fühlens, Bedeutens. Design lässt sich dadurch als Reduktion der poetischen Offenheit, als Suspension des Interpretationszwangs immer dann verstehen, wenn es nicht als Medialisierung des Bezugs auf Lebensform und Kultur, sondern als De-Medi­ alisierung dieser Relation zugunsten eines Scheinens der Dinge ‚selbst‘ sich behauptet. Lifestyling ist primär artifizielle Zeichenstrategie, ein Spiel der Codes, nicht der Rhe­ toriken, eine Verwen­dung der Dinge als Zeichenfragmente für die Montage durch Zei­ chenausdrücke. Das Lifestyling ist in der Popkultur und ihrer medialen mystifikatorischen Mas­ senöffentlichkeit entwickelt worden und steht deshalb sowohl der technischen Pro­ duktion artifizieller Ästhetiken wie der gesellschaftlichen Imagination, dem kulturel­ len Bildbedarf und seiner Symbolisierung näher als den hochkulturellen Strategien von Kunst und Design als den beispielhaften, innovativ-kritischen Zugriffen auf ein reform­ bedürftiges Leben.2 Avantgarde als semiotische Zeichenstrategie (Produkt einer Indus­ trialisierung des Lifestylings) gründet in der Funktion einer universal codifizierenden Banalisierung und einer Überlagerung und Tarnung der primären, stofflich-physischen durch eine zeichenstrategisch-simulatorische Realität. Realität wird in Darstellungs­ ansprüche einer in Wirkungen allein wahrheitsfähigen und empirisch messbaren Aus­ drücklichkeit der je gewählten Strategien transformiert. Das belegt die Entwicklung der Pop-Kultur seit Mitte der 1970er-Jahre, seit dem Auftreten und den Inszenierungs­ ritualen von David Bowie, Roxy Music und Culture Club, welche die früheren Stilisie­

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rungen der mystifizierten Figur des Androgynen3 nicht nur perfektionieren, sondern ar­ tifiziell so weit übersteigern, dass sie sich bewusst archaisierenden Ausdrucksformen (Maske der Schamanen; Oszillation der Gesichtsfarbe) assimilieren, sodass nicht nur ‚auch‘, sondern genauer: ‚erst wieder‘ archaisch-rituelle anthropologische Indifferenz­ beschwörungen auf der Ebene der technischen Mediensimulation erlebnisfähig wer­ den, was erklärt, weshalb Kunst und Kunsttheorie weder über Begriffe noch Sensorium noch Bereitschaft verfügen, solchen Manifestationen ästhetische Qualitäten zuzuge­ stehen. Die massenkulturellen Mystifikationen drücken die aktuelle Situation meta­ phorisch aus, in der Zeichen aus verschiedensten Kulturbereichen und Traditionsräu­ men anverwandelt, zitiert, nach subjektiven Setzungen gebraucht werden können. Sie legen Zeugnis ab für die rasant durchgesetzte Tendenz zu einer allseitigen Auflösung der ­moralisch-werttheoretischen Differenzfunktion geschichtlich interpretierbarer Zei­ chen in das immer formalisiertere, selbstbezüglichere Lifestyling. Lifestyling kann also definiert werden als mediale Verwertung von Lebensformen, die durch den Zugriff der zeichensetzenden und linguistischen Eigenheiten bestimmter Medien auf dem Niveau der Medialisierung vereinheitlicht werden. Die semantischen Gehalte treten hinter die Formalisierung ästhetischer Ereignis­ simulationen zurück. Die im Einzelnen auf ethnische, kulturelle, diachrone Ursprünge zurückzuverfolgenden modischen Attribute und Accessoires verformen ihre histori­ sche Referenz zur Inszenierung von Zeichen, die ihrerseits Zeichenkomplexe zitieren. Heterogenes wird nicht mehr dadaistisch, kubi­stisch, surrealistisch oder im Sinne ei­ ner Allegorisierung des an sich selber ruinierten Materials erkenntnistheoretisch, son­ dern als schlichte semiotische Selbstreferenz montiert. Beliebige Zeichen können von irgendjemandem in kürzester Zeit nach neuen Gesichtspunkten umcodiert werden. Die Bedeutung verschiebt sich vom Bezeichneten, von Geschichte und Objektsemantik auf die Signifikation, den Codierungsprozess, die Anwendung der auf sich selber bezoge­ nen Zeichenstruktur. Das geschieht nicht erstmals in Form massenkultureller AutoSuggestion und eines Hangs zur des-identifizierenden Stilisierung, wenn auch deren Form gegenüber dem semiotischen Trennungsprinzip durchaus neu ist. Man kann Marcel Duchamp in einen solchen selbstbezüglichen Erkundungszusammenhang be­ wusst isolierter Zeichensysteme einrücken, weil den gewählten Objekten jede Sugges­ tion des schönen Scheins ästhetisch subjektivierter Erkenntnisformen fehlt und die Objekte als banale, hässliche, ungeformte sich selber und nichts weiter bezeugen, ge­ wissermaßen als Störfälle ihrer nicht greifbaren Bedeutung übrig bleiben. Historisch neu am Lifestyling ist die Potenzierung des Bezugs: Zeichen von Zeichen, Bezeichnun­ gen um- und recodierter Zitationen. Authentizität verschwindet im Spiel punktueller Po­ sitionen und Nutzungen, in Strategien des Verschwindens4 und des Flüchtigen. Das be­ legen neue Ausdrucksformen, Darstellungsweisen, Medialisierungsleistungen, z. B. der Video-Clip. Er ist qualitativ anderes als eine auf dem Bildschirm sequenziell animierte Plakatwerbung oder eine technische Theatralisierung herkömmlicher Handlungsmo­ delle, obwohl er das in vielen Teilen auch ist und obwohl gerade die Verdichtung der Ab­ läufe als Zeichen der Modelle für Dramaturgien anstelle des handlungsstofflichen Aus­ drucks der noch multiplen Dramaturgien etwas Neues ist, das die allgemeine Struktur

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des ­Kulturwandels als zeichentheoretische Umwandlung der physisch-stofflichen Di­ mension selbst in einer so artifiziellen Technik belegt. Der Video-Clip, der als Prinzip seine arbiträr kommerzielle Bespielhaftigkeit über­ windet,5 wird nicht mehr für ‚Zuschauer‘ gemacht, sondern belegt eine Technologie der Bildverwendung, die aus Konsumenten ästhetische Produzenten macht, weil die Bild­ produktion nur noch unter Herstellungsaspekten interessant, als Rezeptionsereignis aber längst stereotypisiert ist. Produzent wird jeder, der über einen Terminal und Bild­ archive, einen Zeitachsenregler und eine ‚Schnitt‘-Einrichtung verfügt. In kurzer Zeit ist ein Band technisch herstellbar. Für die kulturelle Ästhetik dieser Gattung ist, wie bei allen bisherigen, etwas ganz anderes ausschlaggebend: der urheberrechtliche Schutz des archivalischen, vorgefertigten Materials und die von den Produzenten der ‚künstle­ rischen Videos‘ selber erwirkte Nicht-Zugänglichkeit ihrer Produkte, eine Zirkulations­ verhinderung. Entscheidend werden die Geste, die Form, die Logik des Spiels. Es gibt – hier vereinen sich neue technische Bildproduktionsformen und das Lifestyling – nicht mehr Schachbrett, Spieler, Regeln und Figuren: Es gibt nur noch eine einzige Bewegung, die Totalisierung der Elemente durch ihre Überlagerungen. Reine Zeichenhaftigkeit aber ist ebenso uninteressant wie reine Spielhaftigkeit, die jenseits des Unterschieds von Regeln, Spielraum und Spielelementen den Spielbegriff auflöst. Das reine Spiel, das absolut wird, ist kein Spiel mehr. Reine Zeichenrelation ohne Relata: Das ist ein er­ kenntnistheoretischer Unfug. Lifestyling markiert die kulturelle Tendenz zu einer sich indifferenziell als beliebig behauptenden Selbstauflösung der Zeichendifferenz (man muss die kulturelle Pointe auf der Ebene der Struktur betrachten; selbstverständlich ist eine einzelne Lifestyling-Strategie hinsichtlich der Wahl ihrer Zeichen, Figuren, Aus­ drücke, also sowohl linguistisch wie lexikalisch, in höchstem Maße differenziell, die an­ gezielte Wirkung aber bezeugt den Hang zur Indifferenz). Es überformt Lebenszusam­ menhänge – die Illusion wird total. Lifestyling ist eine Illusion. Dass es sich hier um eine totale Illusion handelt, ist nicht naturale Illusion, son­ dern Produkt des Imaginären. „Vom Lifestyling zu den Lebensformen“ als Leitparole einer Rekonstruktion der unverfügbaren Differenzleistung soll die Kraft dieser Illu­ sion als Ausdruck der Imagination und des ästhetischen Bewusstseins bearbeiten. Ge­ rade mit Blick auf den behaupteten Vorrang der immateriellen Zeichen gilt, dass weder Dinge noch das Zeichensubstrat der Bedeutungen einfach verschwinden. Das sugge­ rierte reine Reich absoluter Zeichen, die nur noch für Zeichen einstehen, die Auflösung der Differenz, bedeuten nichts, wenn sie nicht zumindest auf das bezogen werden kön­ nen, wogegen sie sich wenden und wovon sie ausdrücklich, also relational, sich absetzen möchten: auf die Kultur der Differenzierung zwischen Sprache und Welt, Bild und Be­ griff, Gegenstand und Gehalt, Bedeutung und Lebensform. Nur die Geltung dieses von Lifestyling-Indifferenz Negierten macht die Strategie der Indifferenz überhaupt wahr­ nehmbar und kategorial zu etwas Besonderem. Das identitätsverbürgende Ziel einer ge­ lingenden Indifferenz wäre die Eliminierung von Bewusstsein zugunsten eines natur­ geschichtlichen Flusses von physikalisch-stofflichen Gebilden, die keiner ästhetischen Verdeutlichung mehr bedürfen. Nichts spricht dagegen, auch die neuen Zeichenverwen­ dungen auf die Differenzierungskraft des ästhetischen Bewusstseins zu beziehen und

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sie als Äußerungen innerhalb der modernen Kultur zu inter­pretieren. Epochentheore­ tische Semantiken, kulturelle Umbruchs-Suggestionen, stilisierende Paradigmenwech­ sel, abstrakte Plädoyers für den dezisionistischen Bruch mit disponibel unterstellten Denkweisen, das Herbeizaubern beschworener Lebensalternativen: all dies kann man getrost einem späteren Geschichtsbewusstsein überlassen. Innovationszwänge spielen sowohl in der Kunst wie im Design seit geraumer Zeit eine große Rolle. Sie behaupten den Neuigkeitswert durch Abdrängen der Erinnerung an die Präfigurationen, die zeigen, dass jede Formulierung in einer Tradition steht, dass kein Werk ohne Präfigurationen zustande kommt und dass die formorientierte Bezüg­ lichkeit der kulturellen Variabilität ihrer Verzeichnung alle ‚Erfindungen‘ bloß als Ab­ wandlungen eines Bezugs auf die kulturell je spezifisch erneuerte Anthropologie der symbolischen Differenz gelten lassen kann. Mit Sicherheit aber wird die Bereitschaft zur Einreihung in die anthropologische Determinierung der kulturellen Variabilität im Zeit­ alter der Rhetoriken des ‚anything goes‘ entschieden revoziert. Vielleicht kann man dereinst sagen, die eigentliche Kulturleistung des Zeitalters der Simulation und der ‚Agonie des Realen‘6 bestehe nicht im Beweis ihrer Indifferenz­ neigungen, sondern in der Rhetorik, ihre Geltung suggestiv als Anschein, als Illusion verbindlich durchgesetzt zu haben. Die theatralische Künstlichkeit der Zeichen ist Stra­ tegie eines ästhetischen Selbstzwecks. So wie die Rhetorik des Zitierens die Codes eines zitierten (meist klassischen) Repertoires überdeckt und ablöst, so überdeckt die Rheto­ rik der Kulturideologie die Codes der Zitationen, die als Neuheiten zur Erscheinung ge­ langen, aber nicht mehr als Retrojektionen auf das etablierte Formenvo­kabular bezo­ gen werden können. Es gilt, gegen die jeweils rhetorisch beanspruchten Innovationen die kulturellen Nachfragebedingungen zu kennzeichnen, die beispielsweise das Thea­ ter der aktuellen Anti-Modernität zu einem kulturellen, und das heißt heute: einem Me­ dienereignis machen. An einigen Gegenüberstellungen aus dem aktuellen Design kön­ nen kulturelle Tendenzen als ästhetische Illusionsstrategien kenntlich gemacht, kann ge­zeigt werden, dass allein die rhetorische Beanspruchung das Neue, die Verwendung architektonischer, künstlerischer, formaler und designmäßiger Repertoires dagegen al­ les andere als neu ist. Neu ist im produktiven Sinne bestenfalls die Differenzkraft des Al­ ten, eine neu entdeckte Ungleichzeitigkeit, eine spezifische Akzentuierung von etwas, das in Retrojektion erst für eine spezifische Aktualität an Bedeutung gewinnt. In der Re­ gel meint ‚neu‘ bloß, dass am Alten etwas verdrängt wird. Wirklich neu wäre, was am Alten neu gesehen wird und was nicht über Dinge, sondern die Erneuerung des Wahr­ nehmens unterrichten könnte. Aber gerade darum geht es den neueren Attitüden nicht. Die Aktualität muss nach verschiedenen moralischen Gesichtspunkten bestimmt wer­ den. Die Aktualität von Erscheinungen liefert einen zumindest indirekten Aufschluss über das Verdrängte. Weiter ergibt sich daraus eine Aktualisierung der Interpretation von Geschichte durch die Verschiebung des Brennpunkts von den Dingen weg zu den Aneignungs- und Wahrnehmungsbedingungen hin. Die ausgewählten Beispielpaare sind weder umfassend noch singulär, aber typisch für die neue Situation. An ihnen soll die Tendenz der Designeuphorie der Mediengesellschaft zur Sprache kommen. Eine universale Rekonstruktion der sprachlichen Formrepertoires im Sinne einer internen

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­ eschreibung ist weder beabsichtigt noch wäre sie für den kulturellen Kontext sonder­ B lich erhellend. Es geht um die Verdeutlichung von sechs Tendenzen: Historizismus; Fe­ tischismus; Lexikalismus; Manierismus; Animismus; Additismus. Beispiel 1: Historizismus. Ricardo Bofill galt in den 1960er-Jahren selbst für Henri Lefeb­ vre als Prototyp eines sozialistisch gesinnten, fortschrittlich eingestellten Architekten, dessen urbanistische Theorie ihn als Fortsetzer der Moderne ausweise.7 Innerhalb des heutigen Reigens des Antimodernismus nimmt er aber eine ganz andere Position ein. Ein formsprachlich potenzierter Historismus dritten Grades artikuliert sich in einem sozialen ästhetischen Gigantismus, der sich hinter Huldigungen an eine griechisch ver­ standene Klassizität, hinter vermeintlich spielerischer Zitationskunst, akademisch de­ monstrierter ‚Kompetenz‘, ingenieurhaftem Lyrismus der Montage typologischer und morphologischer Versatzstücke verbirgt. Für neue Städte an der Peripherie von Paris schafft er unter dem Vorwand dieses Klassizismus (‚Versaille für das Volk‘) eine künst­ liche Gesamt-Natur-Umgebung. Der Fassade, den Ansichten opfert er bedenkenlos funktionale Minimalansprüche. Es geht ihm um die behauptbare Totalität des eigenen Entwurfs, die erkennbare Handschrift einer um Ökonomie, Sozialgestalt und Ästhetik unbekümmerten Zitation des kulturellen Formenkanons des klassischen Bauens, das in Übersteigerung auf dem Umweg einer moralischen Innerlichkeit schützenden Ironie als zeitgenössische Baukultur rehabilitiert werden soll. Antimodernität beansprucht strategisch und typologisch die Herrschaft der Form. Unübersehbar an diesen Trabantenstädten ist, dass Verödung a priori nicht bloß einge­ rechnet, sondern als Gestaltungsvorgabe selber dargestellt ist. Architektur, Sozialfunk­ tion und Monumentalität werden gegenüber einer Geste austauschbar, die den Baustil als publizistischen Code behandelt.8 Bofill teilt eine alte Gestaltungsvision, man könne das ‚totale Leben‘ als geschlossene klassizistische Struktur in der Wüste, im Un-Vorbe­ stimmten und Unbedeuteten, im historisch Unbelasteten einer gegen Gestaltung noch indifferenten Natur realisieren – ein Irrtum, in dem das Scheitern wesentlich humaner ausgerichteter Utopien, z. B. Robert Owens New Harmony schon früher deutlich gewor­ den ist. Ein Vergleich der Monumentalisierungen mit dem ausgreifenden Werk des slo­ wenischen Architekten Joze Plecnik (1872–1957) zeigt,9 dass der Bofill’sche Formalis­ mus weder zeichentheoretisch noch formal, weder ästhetisch noch struktural ein neues Element gegenüber der Pleznic’schen Synthese von Klassizität und Modernität, der ku­ bistisch-skulpturalen Baukunst des an die Wiener Moderne anschließenden böhmischtschechischen Jugendstils10 aufzuweisen hat. Das Spiel mit Säulen und Materialien, die edle und kostspielige Verarbeitung, die Pointierung von Architekturmotiven als durch Zeichengebung ver­deutlichten Funktionen im Sinne der freien Baukunst, die Drama­ turgie der Abläufe, die Eigenwilligkeit der Formsprache in den künstlerischen Detail­ gestaltungen: all dies hat Plecnik weitergetrieben und umfassender eingesetzt, mit mehr Fantasie und vor allem mehr Sorgfalt durch die Pflege des architektonischen Geis­ tes und seiner kulturellen Utopie gehandhabt als Bo­fill, der jeden sozialen Impetus in der reproduktiven Potenzierung des zu anderen Größenverhältnissen gesteigerten His­ torizismus untergehen lässt. Bofills Maßnahmen sind synthetisch und im Rahmen der

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Urbanlogistik der Pariser Stadtverwaltung als artifizielle Isolierung vom historischen Kontext geplant. Plecniks Architektur ist die bauliche und städtische Konstruktion ei­ ner transparenten Ordnung im Rahmen einer sozialen und nationalen Kultur. Zwei op­ positionelle Varianten des Eklektizismus, wobei nur Plecniks Entwurf die integrative Kraft einer Adaption an Geschichte hat, die Bofill zu ent-zeichnen trachtet, indem er Ele­ mente additiv in einem Plan zueinander setzt, dessen abstrakte Ausführung von Monu­ mentalität bestimmt ist. Beispiel 2: Fetischismus. Es gibt zahlreiche Beispiele für die zeitgenössische Entwick­ lung von widerständischen Objekten der Wahrnehmung zu einer Komposition von Din­ gen, die nur noch den achtlosen Fetischismus des ding­lich Reliktären spiegeln. Eines der Beispiele ist eine Arbeit Thomas Virnichs, die in Harald Szeemanns Skulpturenaus­ stellung im Zürcher Kunsthaus 1985 als Beleg für die ‚stille Skulptur‘, den plastischen Modus eines ästhetischen Entzugs beansprucht und mit Konnotationen wie die Stärke des Echos, die Mystik der Spuren, die Melancholie der Moderne, die Präzision des Offe­ nen, der Reiz des Sich-Bewegenden, die Utopie des Nicht-Verzeichneten, die Ungleich­ zeitigkeit des Unbemerkten poetisch aufgeladen worden ist.11 Virnich versammelt Dinge, Materialien, objets trouvés, kombiniert sie mit Ummontiertem, Selbergebautem, sorg­ los gefügt, bemalt, wie ein dreidimen­sionales Sudelheft. Virnich verfolgt damit paradig­ matisch eine der zahlreichen Absagen an die poetische Struktur der Werke, die Regeln der überprüfbaren Form, die Struktur der Dichte, die sich als sich auf Werkbedingun­ gen hinbewegende Transformation der Idee durch die Widerstandsenergie des Zeichen­ trägers zu bestimmen hat wie in jeder plastischen Arbeit. Virnichs Entwurf ist glaubhaft wie irgendeine subjektive Mystifikation in der Epoche kulturell erzwungener Individuie­ rungsverluste. Dass Virnich sich seine Realität selber schaffen will, ist das eine. Die da­ mit gesetzte Pointe, dass die Welt als eigener, privat verwalteter Planet erscheint, das andere, das in unserem Zusammenhang interessiert. Die Verkleinerung der Dinge be­ zeugt nicht nur subjektive Gestik, sondern deren Selbstreduktionsstruktur – die dras­ tische Verkleinerung der ästhetischen Formierung der imaginativen wie gesellschaftli­ chen Erkenntnisfunktion ist die unausweichliche Konsequenz dieser Auffassung, die den Kunstbegriff wieder im Sinne der privaten Wunderkammern und poetischen Rück­ zugswinkel für die verletzten Seelen in den Strudel des sich privat wähnenden Verfügens hinabreißt. Die poetisch seit Langem beanspruchte und reichlich abgedroschene Pointe der Untauglichkeit der Objekte verbirgt schlecht die nur noch private, vom Symbolischen abstrahierende Beliebigkeit solcher Ding- und Versatzstücksammlungen. Man sieht deutlich, dass Fragment nicht im Sinne einer vorfindlichen Ruine oder als allegorisches Beutestück für assoziativ hergestelltes Ruinöses behandelt werden kann, sondern dass ‚Fragment‘ als Strukturierung der Dif­ferenz in der aktiven Destrukturierung des geschlos­ senen Systems ausgearbeitet werden muss. Solche Konstellationen müssen einem An­ deren etwas mitteilen wollen können, damit dieser Andere sich für die autonome Sicht eines Künstlers auf die von ihm interpretativ erschlossene und rätselhaft dargebotene Realität interessiert. Die bloße Tatsache, dass andere Planeten exi­stieren, verfängt nicht.

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Das zeigt sich in der Erinnerung an Marcel Duchamps Objektbestimmungen, welche die Objekte in keiner Weise für symbolisierungs- oder allegoresefähig halten, sondern sie als letzten uns kulturell verbleibenden Wahrheitsbegriff einsetzen. Deshalb eignen sich nur banalste Objekte für die Bezugnahme auf die Wahrheit. Die Pointe Duchamps ist nicht die Erzeugung einer Realität, sondern das Abschaffen des prätendierten Rea­ litätsbezugs der Zeichen dadurch, dass Reales als Bezugnahme auf die Darstellung ih­ rer selbst anstelle einer Banalisierung der tradierten Wertigkeit von Zeichenträgern üb­ rig bleibt. Mit der konkreten verflüchtigt sich auch die metaphysische Welt ästhetischer Verrätselungen und Scheinhaftigkeiten. Virnich will wieder Künstler werden, um Künst­ ler zu bleiben. Duchamp wollte Kunst begreifen am Grenzpunkt der durch sie aktiv pro­ duzierten Abschaffung des Kunstsektors. Die historische Bewegung dieser Beispiele lässt sich fassen als Wandel von der Pointierung einer ästhetischen Wahrnehmung zu einem begriffsleeren Dingfetischismus. Beispiel 3: Lexikalismus. Die Annäherung von Design an Kunst vollzieht sich prinzipiell unter dem Zeichen einer Subjektivierung des Ausdrucks und der Wahl der Ausdrucks­ mittel. In der italienischen Tradition des Radikaldesigns, des Banaldesigns und des un­ ter dem Namen ‚Memphis‘ bekannt gewordenen Versuchs einer designstrategischen Aufwertung der massenkul­turell erfolgreichen Übersteigerungsästhetik des Billigwa­ renhauses12 hat sich das mittlerweile zu einem eigentlichen Massenritual ausgewach­ sen, dessen Objekte Luxus und neue Heiterkeit konnotieren. Der wesentliche (neben Alessandro Mendini) Propagandist eines Designverständnisses der Transformation be­ liebiger, alltagskulturell etablierter Zeichensysteme, Ettore Sottsass, hat sein Leben lang versucht, Gestaltung als Lebensform zu entwerfen, die Einheit von Person, Leben und Werk als tragende Ebene des Gestal­tungsentwurfs zu vermitteln.13 Das hat ihn nach der Phase der radikalen Kritik an der Konsumgesellschaft, ausgedrückt durch Analogien zur minimal art mittels Reduktion des Formaufwands, und nach dem praktischen Indus­ trial-Design für Olivetti dazu geführt, die Sprache des Supermarktes und der anonymen Massenproduktion zu untersuchen, um das Niveau der etablierten Gewohnheiten als Objektbereich für das elaborierte Styling eines ambitionierten Designs, als Transforma­ tion der Artefakte auf einer veredelten Ebene des Massengeschmacks zu nutzen. Das Vorgehen war zunächst konzeptuell: lexikalische Verzeichnung der bisher ausgegrenz­ ten Alltagsästhetik und damit auch der ethnischen Differenzierung von Kulturen (verti­ kal in der Gesellschaft; ethnisch im transkulturellen Bezug) bis hin zu einer Art Anthro­ pologie der populären Symbole, Motive und Ornamente. Das so Verzeichnete wird auf eine neue Ebene, die industrielle Fertigung der Arte­ fakte, projiziert, wobei der ästhetische Entwurf durch eine linguistisch-strukturelle An­ ordnung determiniert wird. Mit der Produktion von in Serien hergestellten Artefakten än­ dert sich der Status des konzeptuellen Entwurfs. Waren zunächst leitend die subjektive Poesie, die Theorie der Wahrnehmung, die Verstärkung der zeichentheoretisch bedeut­ samen Brüche zwischen den verschiedenen Zeichensystemen und der lexikalischen Op­ tik ihrer Registratur, so markiert die Massenproduktionsphase von ‚Memphis‘ (zugleich der Erfolg dieser Markenbezeichnung als kulturelle Attitüde) einen erneuerten Positi­

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vismus, für den der übliche Mechanismus des Delegierens kennzeichnend ist: Was der lexikalische Konzeptualist an differenziellem Reichtum durch seine Erfahrung entwi­ ckelt, das ist dem abstrakten Käufer als dingliche Oberfläche verfügbar. Das Konzept verschwindet, die lebendige Struktur erstarrt, der Prozess gerät in einer Sackgasse ins Stocken. Der Impuls wird in einer erneuerten Mystifikation aufgesogen, die kennzeich­ nend ist für den Luxusbedarf der 1980er-Jahre. Vergleicht man die seriellen Produkte von ‚Memphis‘ (für die paradigmatisch auch die Umwandlung der Produktprospekte in Kunstkataloge steht; überhaupt ist die Ununterscheidbarkeit vordem ­kategorisch und kategorial geschiedener Bereiche für die Lifestyling-Ästhetik typisch; beliebte Illusio­ nierungsbeispiele für die Ununterscheidbarkeit eigentlich heterogener Funktion sind: Film/Clip, Werbung/Redaktionsteil einer Zeitschrift, Kunstzeitschrift/Galerienverkaufs­ prospekt, Kunstzeitschrift/Künstlerselbstdarstellung, Kunstkritik/Kunst­propaganda, De­ signprospekt/Ausstellungskatalog, Performance/Promotion) mit dem singulären Bei­ spiel eines re-designten Stuhls von Giacomo Balla aus dem Jahre 1918,14 dann zeigt sich, dass das Vorgehen von Sottsass weder originell noch in seiner Struktur neu ist.15 Die Objekte sind zwar ebenso verschieden wie der Verwendungskontext und die Darstellungsintention. Erstaunlich ist nicht die Annäherung von Sottsass an die Mas­ senproduktion, erstaunlich ist die durch ‚Memphis‘ retrojektiv nutzbare Beobachtung eines unzeitgemäßen und gegen-programmatischen Objekts eines Futuristen, der sich mit vorindustriellen Gegenständen und vortechnischen Fertigungsweisen hinsichtlich von Gebrauchsgegenständen eigentlich nicht zu befassen pflegte. Sieht man von den, allerdings wesentlichen Bestimmungsgrößen des Erscheinungsbilds, der Herstellungs­ technik und der Materialwahl ab, so fügt Sottsass’ Konzept dem singulären Verfahren Ballas in seiner Struktur nichts hinzu. Im Rückgriff auf eine utopisch differenzielle Qua­ lität der Vergangenheit wird erst die Formulierung eines Gegenwartsproblems möglich. Wo das Konzept des Banaldesigns anspruchsvoll auf eine Wahrnehmung mit den Mit­ teln subjektiver poetischer Artikulation abzielte, dort geht in einem seriell produzierten Massenritual als Verwertung der lexikalischen Registraturleistung und der konzeptuel­ len Poesie Wesentliches verloren. Der Lexikalismus arbeitet einem Stilismus vor, eröff­ net er doch vom Prinzip her vordem nicht ausgeschöpfte Anwendungsbereiche. Damit wird der Grundkonflikt, aus dem modernes Design als sozial-ästhetische Reforminten­ tion hervorgegangen ist, reproduziert: die Aporie zwischen schrankenloser Massenver­ wertung und der Erzeugung eines Luxusgutes mit der Konsequenz der Verteuerung, der markenstrategischen Abgrenzung und Elitenbildung. Beispiel 4: Manierismus. Der geschichtliche Kontext liefert die Semantik für den Unter­ schied zwischen Kunst und Design. Das betrifft nicht nur die Bestimmungen des Verfah­ rens, sondern das geschichtliche Verhältnis. ‚Manie­rismus‘ ist eine operative Kategorie für die an Vorprägungen bewusst sich anlehnende Bezeichnung eines Zeichenbezugs an der Stelle historischer Formulierungen. Typisch für das Lifestyling ist die Origina­ ritätsbehauptung anstelle eines bewussten eklektischen Manierismus, der in der Vari­ abilität der vorgefundenen Formen aufklärerisch einen Begründungszwang für abwei­ chende Gestaltungen, ‚Neuerfindungen‘ formulieren könnte. Es scheint auf der Ebene

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der ­Designinnovationsbehauptung der 1980er-Dekade nicht die Originarität der Ein­ fallslosigkeit und der Verzicht auf die Verschwendung von Neologismen leitend zu sein, sondern traditionell die liberal-kapitalistische Überzeugung, ausreizende ­Innovation eröffne über den Marktmechanismus ästhetische, kulturelle, soziale Zustimmungsfä­ higkeit. Deshalb ist der zeitgenössische Manierismus nur kritisch zu fassen: als Nach­ weis der Differenz zum Innovationsanspruch durch den Hinweis auf die Präfigurationen, die ein nicht anspruchsvoller Stilismus gegen die manieristische Lektüre zu verbergen trachtet. Innovation als prätendierte Erinnerungslosigkeit wird zur Designstrategie. Das ließe sich für viele etablierte Designstars nachweisen. Ein gutes Beispiel ist das Stuhldesign Mario Bottas, hier von Seconda (1982). Vermeintlich natürliches Mate­ rial ist kontextabhängig: Es ändert je nach Bezugspunkt der Wahrnehmung seine Be­ deutung. Die Glätte des Metalls, die Aura des beherrscht Machbaren, die unberührbare Reinheit der aseptisch erzwungenen Formen zum Beispiel haben über lange Zeit eigent­ liche Design-Ikonen geliefert: Endgültigkeit der Formen als Materiallogik, als plasti­ sche Transformation der immanenten Gesetzlichkeiten; Dauerhaftigkeit, Zweckhaftig­ keit und Zugänglichkeit als Ausdruck einer zweckrationalen Vernunft. In einer zweiten historischen Phase liefert die Glätte den Vorwurf der Kritik: Entfremdung von Gefühlen, Verweigerung der Berührbarkeit, Trennung von organisch differenzierenden Tasterfah­ rungen. In einer dritten, aktuellen Phase wird dasselbe Material zum Spieldekor eines Selbstbezugs, der sich sozialer Funktionalität entledigen zu können behauptet. Bottas Stuhldesign vereint den rhetorisch umspielten Code des Funktionalen außerhalb des Funktionalismus mit dem zusätzlichen ästhetizistischen Code einer betont Lässigkeit konnotierenden Rhetorik, eines Formspiels der ästhetischen Verzeichnung. Was immer ein Stuhl zu leisten hat, bezieht sich nur noch auf eine stilstrategische Sicherung der äs­ thetischen Anerkennung, die sich den Lebensformen übergestülpt hat16 und den Funk­ tionsbegriff strategisch entleert, ja: ihre Geltung nur kraft dieser Entleerung reali­siert. Bottas äußerlich zurückhaltende, insgesamt ‚Edelkeit‘ konnotierende Entwurfsarbeit hat mit den Aufdringlichkeiten der neuen Buntheit gemein, dass Bedeutungen in Ob­ jekten verlegt werden, die in die Sphäre der Bezie­hung zwischen Subjekt und Objekt ge­ hören, also durch die Konstruktion einer Bezugnahme und nicht durch einen Selbstaus­ druck konstituiert werden. Der zeitgenössische Manierismus der 1980er-Jahre ist die stilistisch-ästhetizisti­ sche Negation der manieristisch verdeutlichten Re-Montage angeeigneter, historisch differenzierter Zeichensysteme. Die dritte Phase, eine eigentliche Rückkehr zur Zau­ berwelt der Dinge, nutzt die Abnutzung von Form und Material, materialisiert einen feststehenden Zeichenzusammenhang in einer Variabilität, die auf die Organisation der Ressourcensicherung für beliebige Materialwahl verweist. Der sich selber negie­ rende Manierismus wird notwendig von den Präfigurationen eingeholt, deren Existenz er verdrängt. So auch bei Botta: César Domélas Reliefs aus den 1930er-Jahren, mit Me­ tall und Plexiglas arbeitend (z. B. Komposition Nr. 11, 1932), haben Bottas strukturelles Entwerfen antizipiert. Die Wirkung der Form- und Struktursprache ist bei Doméla stär­ ker akzentuiert, weil seine Elemente nicht Formelemente eines Dings, sondern plasti­ sche Wertigkeiten einer künstlerischen Komposition und deshalb für Übersteigerungen

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noch geeigneter sind. Metall, Perforation, Plexiglas, Rahmen, Überlagerung, Arrange­ ment, die Raumfaktoren lassen die Industriematerialien, die Aura der Naturalisierung der durch den subjektiv-poetischen Prozess erzwungenen Verzeichnung der Wertigkei­ ten eingehen in das formale Kompositionsprinzip von Gleichgewichts- und Dysharmo­ niewerten. In dieser künstlerischen Kontextbildung werden Materialien wahrnehmbar, deren Aura sonst im Dinglichen und im Gebrauch sich erschöpft. Bottas bemühter Ver­ such, Designobjekte als Skulpturen zu setzen, weil der funktionale Glanz die Semantik einer Teilhabe an den avan­ciertesten Produkten der industriellen-positivistischen Ge­ stalterelite nicht mehr gewährleistet, ist ein Denkfehler. Man kann zwar den Stuhl durch Deklaration funktionslos machen. Aber die dargestellte Funktion der Funktionslosig­ keit gelingt auf der Ebene solcher Objekte nicht. Die künstlerische Funktion der ästhe­ tischen Selbstreflexion ist dieser im Objekt erschwerten Dysfunktionalitäts-Deklaration wahrnehmungstheoretisch überlegen. Bottas Konsequenz zielt auf die poetisch-künst­ lerische Funktion, die sich nicht mehr als Designvorwand behaupten kann: Als ob, wenn die poetische Realisierung scheiterte, man doch im Besitzstandsdenken zur ‚noch‘ er­ haltenen funktionalen Wertigkeit eines Dings, eines Stilguts zurückkehren könnte, falls die ästhetische Behauptung eines Stuhls als einer Skulptur sich abnutzt. Beispiel 5: Animismus. Es gibt nichts ernsthafter Ambitioniertes im Designbereich als Scherze. Das betrifft einen Hauptteil der vorgeblich als Lust am Dekorativen pro­ pagierten Animismen der Designkultur der ‚Memphis‘-Phase (so auch Martine Bedins Lämpchentier unter dem Namen Super, 1981) und des durchschlagenden, auf indust­ riekulturellem Populismusdefizit beruhenden Erfolgs der ‚Memphis‘-Produktion in Deutschland. Was diese Produkte vom gewöhnlichen Lebensbereich sondert, ist nicht Qualität oder Ästhetik, sondern rhetorische Propaganda und die Medialisierung der Ob­ jekte durch Aufwertungsstrategien, die nicht allein auf kunstwerthafte Veredelung ab­ zielen, sondern den Käufern der ‚Memphis‘-Objekte die Zugehörigkeit zum Lebens­ stil ihrer Designer zu sichern scheint. Ein ‚Memphis‘-Produkt benutzt die linguistische Struktur der auf Designstrategien projizierten massenkulturellen Kaufhaus-Banalitä­ ten nur als Vorwand für die Etablierung eines Lifestyling-Bezugs. Man kauft sich in eine Gruppe ein, deren kollektive Aktivitäten durch Originalität, Eigenwilligkeit, Unbeirrbar­ keit, Extravaganz, Unberührbarkeit durch äußere Einflüsse konnotiert werden. Würde man einen analogen Gegenstand im Warenhaus oder einem vergleichbaren Ort der Zir­ kulation der anonymen Massenästhetik kaufen, dann wäre der Charme gebrochen: zwar wahrhafter, fehlte ihm doch die alles entscheidende rhetorische Sphäre der konnotier­ ten eigenwilligen Individualität. Die perverse Unschuld der vorfindlichen Trivialität vermag selbst dann nichts ge­ gen die artifizielle Rhetorik – die mittels der Objekte in einer neuen Struktur realisiert wird; Lifestyling besteht im Wesentlichen darin, die Objekte als Medialisierungen und Zirkulationsgrößen der Rhetorik zu verwirk­lichen; die Profitabilität liegt auf der Ebene der Differenzierung der Mar­kenhierarchie und der originären Markenzeichen –, wenn man die irreduzible Trivialität gegenüber der hochkulturellen Fiktion des ‚good design‘ für eine ebenso autonom ästhetische wie moralisch subversive Qualität hält: nämlich

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die Verweigerung der Veredelung. Die Hochkultur rächt sich daran mit der projektiven Denunzierung, gerade das bezeuge die Manipulierbarkeit des Gewöhnlichen. Die Domi­ nanz der rhetorischen Verzeichnung belegt die Tatsache, dass die Spitzenleistungen der Banaldesigner in einer formalen Werkanalyse nicht gegen den Vorwurf einer erneuerten Biedermeierlichkeit geschützt werden können, die auf dem Niveau der High-Class- und Lifestyling-Verbraucher en vogue gebracht wird. Man kann die Argumentation be­züglich der Designobjekte – medialisierende Faktoren der Zirkulation der Bezeichnungszughö­ rigkeit – umkehren: Nur die Tatsache, dass ein Objekt Produkt eines formspezifischen hochkulturellen Designvorgangs – die hochkulturelle Verzeichnung der Massentriviali­ tät verbleibt im Reflexionssektor – ist und nicht ein anonym von unten auf Supermarkt­ regale geworfenes Ding, entwertet Objekt und Design. Die Massenproduktion ist unter der Strategie der Metaphysik des Banalen allen ex­ pliziten Designbemühungen überlegen. In der rhetorischen Verzeichnung der Massen­ ästhetik durch die ‚good-design‘-Tradition spielt sich für Design ab, was Kunst längst er­ litten hat: Kunst der Kunstnegation, Design der Designnegation. Das lässt sich an einem Kunstwerk darstellen, das als Produkt der technisch-wissenschaftlichen Kul­tur und ei­ ner sich zu deren Strategien rechnenden Poesie das Problem formuliert. Moholy-Nagys Licht-Raum-Modulator (1923–1925) und der dazugehörende Fünfminutenfilm weißschwarz-grau zeigen, wie eine Designmaschine künstlerisch den Impetus der industri­ ellen Härte und die entsprechende Konsistenz der Materialien ausdrücken kann, deren Prinzipien sich auf die Populärkultur ebenso beziehen wie auf die Forderung einer mas­ senkulturellen Neuformulierung von ‚Kunst‘. Dabei eröffnet die ‚Memphis‘-Produktion keineswegs aus sich heraus eine solche Aktualisierung der Tradition, sondern steht zur Bedeutung der Vorprägungen im Verhältnis historischer Bewusstlosigkeit. Anders Aldo Rossi, der nicht nur Präfigurationen verzeichnet, sondern Strukturen der Moderne und des Klassizismus an den Urrsprungsobjekten selber neu schafft. Moholy-Nagys Modu­ lator geht es um die Sequenzbildung von Raum-Zerlegungen und die Analyse von Licht­ wirkungen, die skulptural wie objekthaft Wahrnehmung formen. Ein Kunstwerk, für bestimmte Gegenstandsbereiche (z. B. experimentell-konzeptuelle Bestim­mung des Entwurfs), aber auch eine Designmaschine, ein experimenteller Apparat für die Simula­ tion von Abläufen, die an einem maschinellen Programm zur Erzeugung kontrollierba­ rer Effekte ausgerichtet werden. Beispiel 6: Additismus. Im Bereich der künstlerischen Produktion spielt für die analy­ tische Methode die Dialektik/Opposition zwischen Dichte und Leere eine große Rolle. Das markiert das Problem einer Annäherung von Skulptur und Design z. B. an der documenta 1987, an welcher die Skulptur als Versatzstück benutzt wurde für die skulpturale Aufwertung von Design und Architektur im Kontext einer Fixierung auf die neueste BauAufgabe: den Museumsentwurf17. Unter zahlreichen sich anbietenden Beispielen für die Formulierung des zeitgenössischen Problems der Skulptur belegt neben Kiecol, Klingel­ höller, Prinz, Cragg, Stefan Huber besonders das Werk von Jörg Renz (z. B. La noblesse artistique, 1983/8418) einen Hang zum Additismus anstelle einer komplexen Durchar­ beitung des Bezugs von plastischer Linie, Materialausdruck, Skulpturbegriff und Raum­

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organisation. La noblesse artistique ist ein typisches Beispiel für die ins Bild gesetzte, gestisch-rituell auf Künstlerattitüden verweisende Bedeutungslosigkeit, die nicht Aus­ druck der Deregulierung ist, sondern subjektiver Aufweis des ästhetischen Selbstbe­ zugs. Solche Bedeutungsverschiebung ist heute weitverbreitet. Das ist der Besetzung der skulpturalen Verzeichnung des Raumes durch Transport-, Medien- und Beschleu­ nigungsstrategien ebenso zuzuschreiben wie der in Zirkulationssteigerung abgenutz­ ten theoretischen Behauptung der Bedeutungsverschiebung auf die nur noch subjektiv strukturierbare Wahl semiotischer Ausdrucksmittel. Der Künstler bezeugt sich in der Neigung und Wahl bestimmter Formen, Themen, Ma­ terialien und Kompositionsstrukturen. Aber er kann mit diesen die ästhetische Relation seiner Wahl, Arbeit und Theoriekonzepte zum kulturellen Kontext weder angeben noch ausdrücken. Er reagiert mit der Zurückweisung der Relationsforderung überhaupt, wozu das Terrain der Subjektivierung mittlerweile ausreichend gesichert scheint. Das Beispiel von Renz – es gibt bessere, es gibt schlechtere – verweist auf ein gegenüber einem diffe­ renzierten Bezug zwischen Werk, Bedeutung, Material und Form radikal verändertes äs­ thetisches Wollen. Die Absicht zur Kunst tritt an die Stelle der künstlerischen Intention, welche Kunst als eine spezifische Weise der Bearbeitung von ‚Realitäten‘ innerhalb der Beziehungsstruktur von Bewusstsein und Welt, d. h. mittels Überlagerung und Transfor­ mation von artikulierten und auf Kommunikation abzielenden Bildern bestimmt. Kunst kann um den Preis der iterativen Uninteressantheit nur als diejenige Aneignung von Wirklichkeit verstanden werden, welche die inneren Formen artikulationsfähig macht im Zugriff auf die ästhetische Differenzbildung, auf die explikativ jede Unmittelbarkeit im Prozess der ästhetischen Interpretation überwindende Nicht-Identität der Bilder gegenüber den objektiv gesetzten Bedeutungen. Es geht in der ­Verbindlichkeit dieser skulpturalen Thematik nicht um die Divergenz von Innen und Außen, die ein Hauptmo­ tiv der jüngeren Generation in der Zuspitzung auf private Wahl der Ausdrucksmittel zu sein scheint: nach den individuellen Mythologien nun die individuellen Verzeichnungen, ein Wechsel zu Zeichenmodellen, deren be­griffliche Struktur wenig Sinn ergibt, wenn sie nicht in der differenzierenden Bezugnahme auf ‚Anderes‘ entwickelt wird. Der Bedeu­ tungsanspruch der Bilder kann sich als immanentes Resultat der künstlerischen Tätig­ keit auf andere Tätigkeitsformen beziehen. Hier spielen konzeptuelle Theorien der Be­ wusstseinsbildung und ihre ästhetische Konstruktion, die Etablierung des Ästhetischen als Medialisierung einer autonomen Wahrnehmung eine heausragende Rolle. Deshalb ist die konstruktivistische Tradition nicht eine unter vielen, sondern der Durchbruch zur verbindlichen Formulierung der Re­lation von Skulptur und ästhetischen Prozessen. Das zeigt das Werk Naum Gabos. Seine Säule von 1923 beansprucht, Bedeutung als Ästhetik der Verdichtung nachvollziehbar zu machen für das Interesse an der Abstraktion. Er arbeitet mit den Materialien und Formen des instrumentellen Wissenschaftsprozesses, deren Resultate er in die Struktur des Bewusstseins miteinbezieht. Elemente werden in Nutzanwendung für die plastische Formulierung von Bildern transformiert. Genauigkeit gilt noch nicht als poesiezerstörende Objektivation, sondern als k ­ on­struktives ­Medium zur Visualisierung verallgemeinerbarer Formen der Bewusstseinsbildung. Kunst hat

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v­ ornehmlich die Aufgabe, Medialisierungsmöglichkeiten für die Selbsterfahrung der äs­ thetischen Differenz zu schaffen. Die artistische Noblesse von Renz hält nichts mehr von der Zuspitzung solcher Bedeutungen, sondern belegt eine erbarmungslose historische ­ ründen der Territoriumssiche­ Dialektik: je subjektiver die Wahl, je begrenzter der aus G rung ohnehin eng gezogene Wirkungskreis der künstlerischen Absichten, je übersteiger­ ter das Bedürfnis subjektiver Selbstbezüglichkeit, umso austauschbarer hinsichtlich der Kultur und der sozialen Sphäre von Kunst die Werke. Es ist eine der dialektischen Spitzfindigkeiten der technischen Medienkultur, dass das subjektiv-handwerkliche Schaffen im Namen einer Subjektivierung des Ästhe­ tischen nichts bewirkt als eine Kulturindustrie der repetitiven Formeln. Renz geht es nicht mehr um Dichte, nicht mehr um die Artikulation einer subjektiv zusammenfas­ senden synthetisch entgrenzenden Poesie, in deren Brennpunkt sich eine reflektierte Umgebung hinsichtlich ihrer nicht-identischen Potenzen fassen lässt. Es geht um den Selbstvollzug der Geste, die leere Bewegung eines subjektiven Entscheids, der sich an Privatsprachen und punktualisierenden Bezugnahmen auf ‚Kultur‘ erschöpft. Die äs­ thetische Erfahrung, die auf Kosten des totalisierten Selbstausdrucks nicht mehr bean­ sprucht wird, gerinnt zur Geste, die sich selbst darstellt und in immer engeren Kreisläu­ fen in sich selber dreht. Hielt Georg Simmel die Divergenz von subjektiver und objektiver Kultur für ein als Entfremdung und Irritation artikulierbares Problem des Indiviuums, so hat die künstlerische Entwicklung diesen Prozess19 nicht nur zu­gunsten der schein­ haften Dominanz der subjektiven Kultur umgewandelt, sondern die Subjektivierung auf eine Art und Weise perfektioniert, die eine neue Begrifflichkeit für geboten erscheinen lässt. Die Subjektivierung ist zur Punktualisierung und Atomisierung fortgeschritten; die Semantik einer objektiven Kultur dagegen in beliebige, allseitig disponible, immer neu recodierbare Additivität aller Bedeutungen zerfallen. Das Spiel um Spielregeln, artifizielle Strategien innerhalb gesteigerter ästhetizis­ tischer Willenshandlungen, wird immer schneller, immer verwirrender gespielt. Gegen den Rückzug auf bereits etablierte Formalisierungen – einer der Schwachpunkte des sei­ ner ursprünglichen sozialen Intention beraubten Funktionalismus – setzen verschie­ dene Phasen in den letzten 30 Jahren – beginnend mit dem Haus, das Robert Venturi für seine Mutter entworfen hat (1960) – auf eine Intensivierung des Spiels um die Regeln des Regellosen, der Abgrenzung vom ursprünglichen Spiel. Das Spiel hat sich abgenutzt. Es verliert, formalisiert, auf der Ebene der Regelbeherrschung seinen Witz; die Regellosig­ keit des Spiels wird witzlos, wenn es nicht mehr als Spiel zur Darstellung kommt, son­ dern als Realität suggeriert wird. Die heutige Tendenz, Architektur als Kunst im Wort­ sinn zu betreiben, zehrt entsprechend vom Mystizismus der 1970er-Jahre. Skizzen von Frank Lloyd Wright werden zu Kunstpreisen gehandelt, Architekturzeichnungen von Aldo Rossi, Ungers und anderen erscheinen als selbstgenügsame ästhetische Werke. Die Manie des zeichnerischen Collagierens grassiert, sei dies bei Archigram oder beim Wettbewerb um die Re-Historisierung des Ponte dell’Accademia in Venedig (1983).20 Die berechtigte Angst vor den realen Folgen des Entwurfs, die untergründige Verweigerung eines emphatischen Anspruchs auf Eingriffe in die Realität, verführen zu einem Ästheti­ zismus, der die Architektur nicht auf der Ebene des Baus als Kunst propagiert, sondern

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bloß noch der Zeichnung huldigt. Zugleich indiziert die Verschiebung auf immer delika­ tere Darstellungsmittel einen Zuwachs an zeichentheoretischem Bewusstsein. Die Problematisierung der Funktion entfaltet sich dialektisch in einen dekorati­ ven Ästhetizismus einerseits, eine durch Verzeichnung von Zeichenmodellen eröffnete Chance der Bewusstseinsklärung für ästhetische Entwurfsstrategien andererseits. Aller­ dings ist zu beobachten, dass die Komplexitätssteigerung durch konzeptuell angelegte Unausführbarkeit, durch einen Entwurfsbegriff, der Nicht-Brauchbarkeit intendiert, da­ mit die praktische, durch Produktion geleistete Kritik in ein formalistisches Überlegen­ heitspathos, eine wirklichkeitslose abstrakte Idee zurückgenommen wird, wann immer der Markt ästhetizistische Architekturkonjunkturen und -attitüden erlaubt.21 Hier ist nicht mehr das Bewusstsein leitend, dass Pläne durch problematisierende Entgegenset­ zung zum Realen eine kritische Funktion haben, die sie dem Wirklichkeitstest transfor­ mationeller Abweichungen unterzieht, sondern die Meinung, das Reale sei der Realisier­ barkeit der ästhetizistisch veredelten Pläne gar nicht mehr wert. Die Künstlichkeit führt zum Abbruch der zeichentheoretischen Dialektik, zu Einzonung und Reduktionismus. Der Gestus des Spielerischen bis hin zur semiotischen Selbstreflexion ist für Design und Architektur der Gegenwart bestimmender geworden als die konkrete Nutzung. Was hat Bestand, wenn am Ende des Spiels eine Beschleunigung des Verschleißes und der struk­ turellen Erzeugbarkeit von Recodierungen resultiert, eine Transparenz des Komplexen, ein Bezugssystem, das weder im System der Künste aufgehoben ist noch in der Summe immer spektakulärer ineinander verschränkter Bilder, Diskurse: Beispielen eines poly­ morphen Bildzaubers von Design, Architektur, Kunst, Performance und Ritual?22 Hatte Duchamp auf der Irrelevanz alles Dargestellten bestanden, so wird heute als Aussage wieder der Positivismus des Dargestellten, das Werk, das Behauptete und Vor­ findliche veranschlagt. Dass solche Haltung, die vom transzendenten Wahrheitsglanz des Klassizismus, der Unerreichbarkeit der Darstellung von Versöhnung zehrt, sich zur ‚Ent-Täuschung‘ aller bisherigen Kunst und Kunstgeschichte aufschwingt, verfängt nur, wenn ästhetische Verdinglichung als problemlose Substitution der ästhetischen Selbst­ wahrnehmung anerkannt wird. Nicht-Identität von Kunst und Wirklichkeit wird als Ver­ schönerungsdekor, als Koketterie der Lüge propagiert, aber nicht als mediale Eigendif­ ferenz der Darstellungsmittel entwickelt und aktiviert. Damit erscheint die Deklaration der ironischen Stoßrichtung eines neuen Klassizismus und der Hinweis auf habituelle Mythologien auf dem angestammten Feld der Moderne, der Konstruktion der geometri­ schen Selbstreferenz der ästhetischen Strukturen, als wenig mehr denn als eine Selbst­ inszenierungsgeste. Die These vom neuen Pluralismus und dem damit verbundenen Äs­ thetizismus lässt sich nur behaupten, wenn ‚Moderne‘ als Kohärenz stilisiert wird, die sie nie gewesen ist. ‚Moderne‘ in der bildenden Kunst umgreift so heterogene Bildfor­ meln wie die Transparenzschichtungen Ad Reinhardts oder die ästhetische, zeichenthe­ oretische Generierung von wahrnehmungsspezifischen Differenzfiguren auf dem Bild­ träger bei Cy Twombly. Die geometrisierende und die individualisierende Radikalität sind ebenfalls Elemente einer Situation, die sich pluraler gar nicht denken lässt. El Lis­ sitzky zum Beispiel geht es um ‚Wirklichkeit‘ im Sinne der kategorialen Dimensionie­ rung von Mathematik und Naturwissenschaften.23

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Paradigmatisch modern daran ist die bewusste De-Zentrierung von Raum- und Bildmitte als über Nichtdarstellbarkeit aktivierte Einsicht in die Bestimmung des Wirklichen durch analog nicht be­gründbare Mehrdimensionalität, die für den Men­ schen nicht mehr wahrnehmbar ist. Damit strukturiert Lissitzky den Bildraum kon­ trär zu Male­witsch, dessen Geometrisierung als intellektuelle Intensivierung radikali­ sierter Naturerfahrung24 Aura innerhalb der Moderne behauptet. Solche Auratisierung wird von Duchamp durch die Immanenz eines persönlich durchge­arbeiteten Zeichen­ systems negiert: Ausgangspunkt der Interpretation ist die Erhaltung und Verstärkung der Erfahrung, dass in jeder Aneignung der Bruch mit der Poesie des Werks erhalten bleiben muss. Das Paradigma der Kunst beruft sich auf ein Hervorbringen, das sich auf sich selber bezieht.25 Entsprechend ist Duchamp nicht mehr an dem interessiert, was die Dekor­sucht der neueren Kunst pflegt: an Ironie. „Meine Ironie ist die Ironie der In­ differenz, ist Meta-Ironie… Das große Ziel meines Lebens bestand in der Reaktion gegen den Geschmack.“26 Duchamp interpretiert seine Poesie nicht als Kunst, nicht als Diffe­ renzbehauptung von Wert und Unwert, auch nicht als Anti-Kunst, denn diese besteht in der Negation des Kunstanspruchs einer bestimmten Tätigkeit. Duchamp behauptet die kategoriale Struktur des Ästhetischen als Erkenntnisdimension durch die objektive In­ transingenz der Objekte, des Dinglichen. Er versucht sich ästhetisch im Leerlaufenlas­ sen kultureller Bestimmungsmechanismen. Es gibt unter den Tendenzen der Gegenwart auch einige, welche eine Kontinuität zum hier verhandelten Konzept einer kritischen Ästhetik bewahren, ohne auf Innovation, Zitation, Re-Codierung, historische Ironisierung und verzeichnete Indifferenz zu verzich­ ten. Darin spricht sich eine geschichtlich erneuerte Perspektive der als kritische Ästhetik differenzierten Einheit von Kunst und Design aus. Das bisherige Werk von Peter Fischli und David Weiss z. B. bezieht sich nicht nur auf die ikonografischen Alltagsgegenstände eines solchen Bezugs, sondern exemplarisch auf die mediale Wirkung einer Einheit, die als Repräsentation der Bedeutungsaneignungen der Dinge nicht mehr auf dem Sektoren­ unterschied von Kunst und Design beharren muss, der aus der Suggestivität der künst­ lerischen Produktion als Kehrseite ihrer gesellschaftlich erzwungenen Ohnmacht her­ vorgegangen ist. Fischli/Weiss nehmen den sinnvollen künstlerischen Standpunkt eines radikal aufklärerischen Relativismus ein. Wahrheit gilt ihnen als Interpretation von In­ terpretiertheiten. Der Verlust der ontologischen Bedeutung von Wahrheit – welcher sich im Wortsinn hemmungslos der Verfügbarkeit der alltäglichen Dinge einschreibt – wird verstärkt als Bruch mit der Fiktion, Authentizität verbürge den ästhetischen Prozess. Je­ des Objekt, jeder Zeichenträger verweist auf eine mögliche V ­ eränderbarkeit, auf Abwei­ chung und Negation als kategoriale Bedingungen seiner Existenz, die in nominalisti­ scher Besonderung die Bezugnahme auf Versprachlichung erzwingt und damit Einsicht auf die Künstlichkeit unserer natürlichen Wahrnehmungs-Ausstattung gründet. Media­ lisierungen dienen zur Kennzeichnung der Akzentuierung durch die Wahl von Materie und Regularität. Das findet einen konzeptuellen Ausdruck in der Endlosverfilmung der­ jenigen ‚Tücken des Objekts‘, für die die Störung der Abläufe konstitutiv ist. Das Spiel der Regulierung der Deregulierungen, der Regeln der Regelstörung wird nicht ästhetisch im engeren Sinne, sondern mittels einer Philosophie des physikali­

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schen Experiments durchgeführt, welche die Künstlichkeit der Bezeichnungen durch die materielle Fasslichkeit der Regelabläufe entkräftet. Die Ordnung ist eine des Arran­ gements und belegt einen Umgang mit technischen Medien, der in der Gegenrichtung zur Re-Auratisierung und zum bezeichnungsstrategischen Lifestyling verläuft.27 Das Ar­ rangement wie die ikonografischen Motive der skulpturalen Arbeit, die technische Re­ gistratur eines einmaligen, merkwürdigen Ablaufs und die Verzeichnung der Regelhaf­ tigkeit des Arrangements von physikalischen Unwahrscheinlichkeiten gehorchen der für das Fischli/Weiss-Œuvre kennzeichnenden Logik des Überschusses. Wohl am nach­ haltigsten haben diese Logik die 250 Figuren aus ungebranntem Ton dargestellt, die un­ ter dem Titel ‚Plötzlich diese Übersicht‘ präsentiert worden sind. Der physikalisch auf Unwahrscheinlichkeiten ausgerichtete Stoffbegriff, die ästhetische Konzeption einer Systematisierung des Spiels von Regelvermögen und die Fiktion einer überschaubaren Konstruktion der Welt drapieren sich in der Plötzlichkeit als paradigmatische Typolo­ gie, die bei der Motivwahl banalisierend verfährt, um die aus der Indifferenz entwickelte Vorliebe für den nächstliegenden Gegenstand als größtmöglichen Spielraum für Bilder, Konzepte, Assoziationen zu realisieren. Übersichtlichkeit einer subjektiven Konstruk­ tion von Realität – im phänomenologischen Sinne als Bezugnahme auf beispielgebende ‚Welthaltigkeit‘ – und ein anarchistisch perfektioniertes Spiel, nicht eine zusätzliche Handlung, sondern die Verwandlung der Realität in einen Spielgegenstand werden so kombiniert, dass das Poetische an keinem Punkt seiner Herausarbeitung dem Abbil­ dungszwang, sei’s der Selbstbehauptungskraft eines Bildes, sei’s der Entäußerungs­ zwänge des Künstlers, unterliegt. Die Figuren spielen von vorneherein ein alogisches Spiel in einer imaginären Welt. Die Repräsentation des A-Logischen als Konstruktion und Bedingung der Heraus­ bildung aller Signifikanz bestimmen den Gestalt- und Poesiebegriff. Reflexion und kon­ krete Erfahrung beschwören keine Unmittelbarkeit und plädieren nicht für bloß ‚kyni­ sche‘ Haltung und kindliche Gelassenheit,28 sondern werden als Einheit bezeichnet für die Entfaltung von Bewusstsein, die der Teilung in Denken und Ästhetik vorausgeht: die Aktivierung der synthetischen Imagination als Anthropologie der Nicht-Identität. Die Figuren von Fischli/Weiss sind ästhetische und er­kenntnistheoretische Gebilde, nicht mehr in der Art derjenigen Moderne, die ihre Formerfahrungen in großer Nähe zu den Parametern wissenschaftlichen Forschens entwickelt hat. ‚Plötzlich diese Über­ sicht‘ indiziert eine Transformation der Wissenskultur in eine Kultur ästhetisch-spie­ lerischer Differenzierung. Ironisch-skeptischer Nominalismus und Naivität konnotie­ rende Fabel liefern ein Denkbild des Merkwürdigen, eine subjektiv-lexikalische Poetik, die sowohl literarische Textur der Spontaneität bedeutet wie auf Aneignung der vorge­ prägten und wohldefinierten Gegenständlichkeit und der gewöhnlichen Motive hinein­ wirkt. Die A-Logik der Repräsentation einer rei­nen Poetik bestimmt die Selektion der Zeichenträger. Das Spiel der Regelhaftigkeiten, das System der Regelsysteme, eröffnet die Darstellung eines besonderen Systems, das für Regelverletzung, genauer: für Regel­ verletzungsbeschreibungen zuständig ist. Der melancholische Indeterminismus eines ruhelosen Universums29 erlaubt die in alle Richtungen zielende, kreisende, aspekthaft wirkende Relativierung zentralistisch-ästhetischer Selbstbehauptungsversuche und

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transformiert die Fixierung des ästhetischen Prozesses der Kunst auf die Selbstbehaup­ tung der Autorschaft. Das erscheint als zeitgemäßer Umgang mit den Zeichenstrategien zwischen einem ästhetizistischen Lifestyling, der Buntheit der neuen Dingrhetorik und den Transzen­ denzgebärden in der Malerei. Das Ringen um den Gegenstand ist bestimmt durch die Konsequenz, die gewählten Konzeptionen einer Selbstkritik auszusetzen, sodass in der Strukturierung der künstlerischen Gegenstände die Bedeutungsstruktur der Zeichen als Exemplifikation und Symbolisierung begründet werden. Diese analytisch getrennten Ebenen sind im Werk nicht voneinander zu lösen; für die Bedeutung der Gegenstände, die Funktion des Gegenständlichen in der Tradition der reflektierenden Selbstwahr­ nehmung autonomer künstlerischer Mittel, die für die Moderne das Paradigma abge­ ben, ist entscheidend, dass die Gegenstände durch die Ordnung der Bedeutung konsti­ tuiert werden, auch wenn diese gegenständlich formuliert ist. Das belegt eine Arbeit wie ‚Plötzlich diese Übersicht‘, in der die sorglos geformte Welt miniaturisierter alltäglicher Mythen, Modelle und Situationen, Gegenstände und Instrumente als Lexikalik verzeich­ net wird, de­ren Verdeutlichung auf die Bezugnahme der Ausdrücke auf den durch sie in­ dizierten Gebrauch hinweist. Das Gegenständliche an diesen Dingen und an Vorprägun­ gen wie Claes Oldenburgs Maus-Museum an der documenta 5 von 1972 sowie zahlreicher Werke von Diter Rot30 ist nicht der Begriff oder der sprachliche Ausdruck, sondern sein Funktionieren für die Anleitung von alltagskulturellen Handlungen. Der poetische Entwurf muss so schnell, vorläufig und fragmentarisch sein wie die Beschreibung des Umgangs mit komplexen und widersprüchlichen Sprachspielen. Der Indeterminismus eröffnet eine ästhetische Bezugnahme auf die Konstruktion der Be­ deutung. Deshalb lassen sich für eine ästhetische Vereinheitlichung der Wahrnehmun­ gen Bilder und Dinge ebenso wenig trennen wie die mystische Instanz der inneren Bil­ der von den Prägungsmedien der äußeren Bilder. Dinge und Bilder stehen unter dem Druck einer Ent-Äußerungs-Bedürftigkeit. Vom Ding zum Bild fortschreitend, müssen Bilder entäußert werden, wenn sie als existierend sollen gelten können. Dieser Zwang ist nicht der der Vergegenständlichung. Gegen die erneuerte Instanz der Innerlichkeit von Ideen, Bildern und Visionen beinhaltet er keineswegs einen instrumentellen Begriff von Kommunikation, nach dem nur existiert, was für andere dargestellt wird. Er verweist vielmehr auf die ästhetische Notwendigkeit der Herausbildung der Differenz zwischen Erfahrung und Interpretation als Ausdruck der Wahrnehmung von ‚Wirklichkeit‘. Da­ mit diese Differenz Gestalt gewinnt, muss sie dargestellt werden in überpersönlicher Art. Vergegenständlichung gilt als Symbolisierung der Bezugnahme auf Bedeutungen. Dass, was ist, interpretiert werden können muss, nicht einfach behauptet und in Beschlag ge­ nommen werden kann, wirkt sich für die poetische Differenzierung des Bewusstseins als Ausformulierung der Bilder aus. Modernität ist, auf diesem Hintergrund, nicht das Produkt eines Kulturwandels, der auf den Reflexionszuwachs durch Einsicht in die äs­ thetischen Darstellungsmittel verweist. Modernität ist die Wahrnehmung der Komple­ xitätssteigerung der Bedeutungen und Bezüge durch die explizite Konstruktion von Dar­ stellungsmedien. Die Bewegung zur Einsicht in die konstruktive Kraft der Medialität und zur Herauslösung der Erkenntnisse aus dem Bann des schönen Scheins ist unhin­

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tergehbar. Medialisierung der Bezugnahme bestimmt das Prinzip der modernen Kunst als Aneignung der gesamten Kulturansprüche. ‚Modern‘ ist insofern bloß ein Wort, ein Kennzeichen und kein emphatischer Begriff, keine auratisierte Sphäre einer eigentlich­ keitsmächtigen Wirklichkeitssemantik. Viele der Plädoyers in der neueren Kunst- und Designszene beziehen sich zwar auf Rhetoriken des Lebens, auf Stile und Einstellungen, Empfindungen und Selbstbe­ findlichkeiten. Diese entspringen einem zu den Medialitäten der Kulturkonstruktion gegenläufigen Subjektivismus, wenn auch im Sinne einer Weigerung, Erkenntnisgren­ zen anzuerkennen. Deshalb gilt es, auf der Ebene der Strukturierung von Regeln im äs­ thetischen Strategiespiel von Kunst und Lifestyling-Kampagnen dieses substanzielle Problem angemessen zu behandeln. ‚Modernität‘ ist hinter dem Begriffsreiz, der zu­ sammen mit vielen kulturellen Ausdrucksformen dieses Jahrhunderts problematisch geworden ist, ein aus dem begrenzten Erkenntnisvermögen des Menschen folgender Zwang, Grenzüberschreitungen der hypothetischen Interpretationen von Nicht-Iden­ tität in Richtung einer identitätslogischen Wahrheitsbehauptung explizit und in allen Aspekten zu begründen. Dieser Begründungszwang ist keine Erfindung der Moderne, sondern ein um den Preis des Überlebens akzeptierter Zwang zur Vergesellschaftung des Individuellen. Nur durch grundsätzliche Unverfügbarkeit, Nicht-Identität von Den­ ken und Wirklichkeit, ist das Ästhetische als Aneignungshandeln legitimiert. Wenn solches ein Kennzeichen von ‚Modernität‘ sein soll, dann ist Leben in mindestens die­ ser Hinsicht immer schon ‚modern‘ gewesen. Dass im 19. Jahrhundert die Begriffs­ semantik ‚modern‘ selbstreferenziell wird und sich vom Bezug auf ‚Antikität‘ ablöst, belegt einen Wandel zu einem gesteigerten Zeichenbewusstsein hin. Ob diese gestei­ gerte Wahrnehmung der Konstruktionsbedingungen von Aussagen, ‚Medialität‘ rück­ gängig gemacht werden soll durch Öffnungen gegenüber fundamentalistischen Erfah­ rungen, ist kein Phänomen von ‚Modernität‘, sondern eine Kulturkampf-Position, die sich hinsichtlich ihrer interessegeleiteten Prätentionen begründen muss; es sei denn, man verzichtet überhaupt auf Begründungen zugunsten einer Selbstbehauptung des Ästhetizismus. Bloße Kulturkampf-Rhetorik ist in sich aporetisch: Sie kehrt zu einem Determinismus zurück, zur Identität von Idee und Realität aus der Sicht der ästheti­ schen Selbstbehauptung und der subjektiven poetischen Macht. Der Indeterminismus und das offene Spiel eines Werks wie ‚Plötzlich diese Übersicht‘ legen nahe, die ästhe­ tische Struktur der Modernität zu radikalisieren, ohne einem abstrakten Gestaltungs­ ideal oder Dogmatismus zu huldigen. Die Komplexitätssteigerung der Einsicht in Me­ dialisierungssysteme erfordert keine ästhetische Transformation der Erkenntniskritik in einen neuen Transzendentalismus. Es ist aufschlussreich, wie in einer Analyse der Tendenzen der Gegenwartskunst, die aktuelle Bemühungen klassifiziert und nach Leitmotiven ordnet,31 dieses Problem der Begrenzung und die Kampfrhetorik des erneuerten Fundamentalismus eingeschätzt wird. Eine der Hauptthesen in Schmidt-Wulffens Arbeit ‚Spielregeln‘ ist das Zugeständ­ nis der Transzendenz als Gegenstands­bereich. „Nur in der Arbeit am Transzendenten kann Transzendentes aufscheinen.“32 Das entspricht in etwa dem prämodernen Motiv einer ontologischen Indifferenz gegenüber dem Erscheinen der Idee. Befragt werden

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müsste, was für ein Interesse dem mythischen Erscheinen des Transzendenten für die Konstruktion eines poetischen Systems zugesprochen werden soll, wenn das ­Ästhetische vom Bruch zwischen Metaphysik und Darstellung auszugehen hat. Und wie soll das In­ teresse an der Transzendenz dazu dienen, das Subjekt durch die Dinglichkeit der Bedeu­ tungen tendenziell auszuschalten,33 wenn die Struktur der Bedeutung auf Medialität ver­ weist, die nicht mehr dinglich, sondern nur über Exemplifikation konstruiert wird, wobei zwar Subjektivität keineswegs getilgt ist, sich aber nur auf die Relation des Individuel­ len zum Übergreifenden der Kultur stützen kann? Sie wird zum Modell für die Bezug­ nahme auf die Bedeutungsregulierung durch die Massenkultur. Die ‚Abschaffung des Subjekts‘ erinnert an die Suggestivität einer entschwundenen Macht und beschwört eine Identität vor jeder Krise. Typisch selbst für eine anspruchsvolle Darstellung der Gegen­ wartssituation der Kunst ist der Kurzschluss zwischen einigen vermeintlich modernitäts­ kritischen Mo­tiven. Geradezu stereotyp wirkt die Koppelung eines formalen Wahrheits­ begriffs mit einem dogmatischen Realismus und der Behauptung, Kommunikation sei technisch degeneriert. Es ist analytisch falsch, das heutige Kommunikationsmodell auf die überholte Struktur der Adäquation des Begriffs an die Sache zu beziehen, nur um da­ von (am Beispiel der religiösen Malerei Jan Knaps) einen ‚substanziellen Wahrheitsbe­ griff‘ abzusetzen, der kritikimmun gemacht werden soll durch eine Behauptung emoti­ ver Innerlichkeit, die a priori die Welt der ‚technologisch verstandenen Kommunikation‘ transzendiere.34 Ist das einmal akzeptiert, dann feiern alte Figuren eine fröhliche Wieder­ geburt: Existenzialismus, die Zeitlosigkeit der Kunst35, die Reauratisierung der Gegen-in­ tellektuellen Erlebniskunst,36 die Resurrektion des ästhetischen Scheins als Ästhetik der Verführung im bereitwillig akzeptierten Simulationszeitalter, die Agonie des Realen,37 die in merkwürdig vielen Zügen der antifeudalistischen Kampfparole der bürgerlich-auf­ klärerischen Indifferenzforderung des interesselosen Wohlgefallens sich a ­ ngleicht. Neu ist zwar der Versuch, Kunst als Oberfläche gegen Tiefe abzuschotten und da­ mit den ästhetischen Ernst des moralistischen Bildungsdrucks der Bilder zu lockern.38 Es ist aber fraglich, ob die Einstimmung ins Dekor der Verführungen auf Dauer den Ge­ wichtsverlust des Individuums ausgleichen kann, der sich druckvoll als Beanspruchung der Tiefe am individuell Eigenen und Einzigen einzuklagen pflegt. Die Lust am schö­ nen Schein ist nie erstaunlich. Begründungsnotwendig wäre, weshalb erst die neue Oberflächlichkeit (eines Bernhard Prinz oder Stefan Huber) die Aussagekraft des In­ szenatorischen entdeckt haben soll.39 Wahrscheinlich lässt sich eine klassifikatorische Beschreibung nicht ohne zumindest partiell unbewusste Assimilation an die Selbst­ darstellungsrituale des Gegenstands leisten. Die Umdeutung rhetorisch beanspruch­ ter Neuigkeiten, die in Tat und Wahrheit repetitive Formeln sind, in eine ‚innovative Überwindung des Alten‘, ist ein Preis, der für solche Assimilation zu zahlen ist. Kritik daran versteht sich als Hinweis auf den Kampf um die ästhetische Manipulation des Kulturwandels, der sich längst als Aussagekraft des Inszenatorischen erwiesen hat und der durch Innerlichkeit, mythische Indifferenz, entgrenztes Dekor revoziert werden soll. Kritik muss die Grenzen und Brüche eines spezifischen Interesses an spezifischen Kampfpositionen verdeutlichen. Dabei zeigt sich, dass die Beschwörung eines neuen Le­ bensgefühls teilweise angemessen interpretiert wird, z. B. im Hinweis darauf, dass die

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Autorschaftsrolle des Künstlers gegenüber der Tatsache ausgedient hat, dass unter dem Diktat der selbstherrlichen Zeichen40 der Künstler nur als Medium teilhat an den trans­ personalen Artikulationssystemen.41 Mehrheitlich aber setzt Schmidt-Wulffen auf einen dezisionistischen Kulturwandel, nach dem in einem ‚entscheidenden Umschwung‘ das Zeitalter der Simulation beginne und die ‚Agonie des Realen‘ zunehme.42 Wenn Signifi­ kanz verschwindet und mit ihr der Unterschied/Gegensatz zwischen Realem und Imagi­ närem, Wesen und Erscheinung, Energie und Determination, wenn Realität durch ein Netz sich selber kodierender Muster und Modelle in ein gesellschaftlich Umgreifendes, ein die Macht der Akteure Transzendierendes aufgesogen wird,43 dann ist nicht einzu­ sehen, weshalb differenziell gegen Unmittelbarkeit darauf hingewiesen werden muss, dass die genusssüchtige Verführung sich der Deutung entziehe, nicht einzusehen, wes­ halb der Strategie der Verführung erstmals in der Geschichte der menschlichen Symbol­ systeme die Kraft eigne, sich als Unfasslichkeit ihrer selbst zu setzen, weil sie ‚ohne Ana­ lyse und Kritik‘ auskomme.44 Die Beobachtung des aktuellen Materials in Kunst und Design gelangt schnell zur Einsicht, dass es offenbar primär um die Behauptung von Selbstdarstellungsritualen geht. Man kann die These von der ‚universalen Zitierbarkeit‘ auch weniger nobel inter­ pretieren: als Bereitschaft, gegenüber der Moral einer ästhetischen Kohärenz des Wer­ kes in den Gewässern von Kultur und der zum Trödelladen und Wohlstandskitsch ver­ kommenen Philosophie zu freibeutern, wie immer man gerade will. Bedeutung hat dann nur noch die Indifferenz der sich wechselseitig überbietenden Bedeutungslosigkeiten. Das Entertainment, an dem Kunst und Design gleichberechtigt und friedlich partizipie­ ren, hat seine wesentliche Funktion als ästhetisch veredelte Begleitmusik im Zerfall des Humanismus, der als bürgerliche Kultur Träger einer Indifferenzialisierung aller ästhe­ tischen Kritik geworden ist, die unter dem Begriff einer Organisationsmaschine ange­ griffen worden ist. Dieser Angriff entfällt in einer Ära der Verlagerung der Ökonomie auf die Kulturindustrie. Angesichts der für Zeittod, Stillstand und Systemerhaltung plädie­ renden neuen Hemmungslosigkeit des ästhetisch Punktuellen, der momentanen Über­ steigerung, kann eine Aufarbeitung der Situation und damit die Beschreibung des Life­ styling-Prinzips als des wesentlichen kulturellen Impulses von Kunst und Design nur kritisch geleistet werden. Kunst und Design erscheinen heute als Pathosformeln eines dezisionistisch gesteigerten Ästhetizismus, der sich nicht nur metaphorisch, sondern im Wortsinn als Wille zur Macht deklariert (mit Exponenten wie Günther Förg, Anselm Kiefer und Gerhard Merz). Dagegen kann und soll nicht in erster Linie kulturell argumentiert werden; das gehört in die Sphäre der diskursiven Polemik und der republikanischen Öffentlichkeit. Erkenntnisanspruch gegenüber diesen Phänomenen erhebt der viel bescheidenere Hinweis auf die Unverfügbarkeit dessen, was in ästhetische Wahlhandlung und Wil­ lensbildung gezwungen werden soll. Den Triumph eines nominellen Illusionismus mag man ruhig der Antizipation seines durch die ästhetizistische Übersteigerung erwirkten Zusammenbruchs vorbehalten. Ästhetik verzahnt sich sachlich und grundsätzlich als Wahrnehmung mit Bildern und Dingen nur, wenn und weil sie begrenzt ist und nicht identisch mit indifferenten Tätigkeitsformen, erst recht nicht mit dem ­vermeintlich aus

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der Tiefe an die Oberfläche verbannten ‚Eigentlichen‘. Es geht dem ästhetischen P ­ rozess nicht um das Ende des Designs oder die Aufhebung der Kunst im Leben, sondern um die differenzielle Herausarbeitung des Besonderen, die Wahrnehmung des Singulären. Die Wahr­nehmung des Problems als kritische Aneignung der Behauptungen beginnt mit Fragestellungen. Was leistet Kunst heute? Worin besteht das Neue und Besondere aktueller Design- und Architekturauffassungen? Womit werden die Ansprüche belegt, wie sind Umsetzungen nachvollziehbar und überprüfbar? Wie bewusst werden Ideolo­ gien, subjektive Zielsetzungen und verdeckte Hintergrundannahmen bearbeitet? Wie verhalten sich Geste und ästhetische Funktion zur Funktion der Lektüre und zur forma­ len Komplexität? Was macht ästhetische Erfahrung gegenüber den poetischen Formu­ lierungen an den strategischen Codes möglich? Wie eigenen wir uns Dinge an? Wie in­ terpretieren wir Bilder? Was ist, für uns, ein Gegenstand möglicher Erfahrung, ein Stück Weltaneignung? Was für Lebenszusammenhänge und Gebrauchsweisen entwickeln wir in Hinsicht auf Ereignisse und Beziehungen zu Dingen? Dieser etwas altertümliche Katalog legt nahe, Innovationsbehauptungen ei­nem Begründungszwang auszusetzen. Nicht, was an medialer Differenzierung vorliegt, hat sich gegen rituelle Neuigkeits- und Indifferenzbehauptungen zu rechtfertigen, sondern diese selbst. Dinge und Bilder sind nicht einfach Wahrnehmungsausdrücke. Wahrneh­ mung entsteht erst auf der Ebene der Beziehung zwischen Bilder, Dingen und wahrneh­ menden Subjekten, dort also, wo die ästhetische und operative Funktion nicht ohne Or­ ganisation ihrer Bedeutung mittels Formen gedacht werden kann. Es geht um komplexe Relationen und Wertmuster, nicht um Reduktion auf die Fiktion einer einfachen ‚orga­ nischen‘ Logik. Interessant ist nicht die polemische Feststellung, dass Novitäten immer schneller altern und sie die These vom autonomen Codierungssystem der bereits ver­ zeichneten Ausdrücke zumindest insoweit be­legen, als sie nicht als unbemerkte Kopien und damit in die ironische Entwertung durch die historische Universalsatire einbezo­ gen sind; interessanter ist die Frage, ob der Anspruch, Grenzen zwischen Kunst und De­ sign zu überwinden, Poetiken und Funktionen einheitlich und jederzeit austauschbar zu machen, über unsere Art der Wahrnehmung und die Kategorien der Inter­pretation informiert, d. h. das Gewohnte dereguliert. Lässt sich die subjektivitätstheoretische Preisgabe des Prinzips Subjektivität (Reflexion, Verdichtung, personale Moral) zuguns­ ten der Austauschbarkeit von Designkunst und Kunstdesign im Flusse neuer Medialisie­ rungen und im propagierten Spiel mit vorgefundenen, plastischen, stofflichen und for­ malen Werten und Frag­menten sinnvoll rechtfertigen? Hat solche Tendenz Bedeutung im Materialbereich selber oder nur auf der Ebene der Wahrnehmung artikulierter Be­ deutungen? Diese Fragen im zeitgenössischen Material zu beantworten ist nicht mög­ lich, weil der Anspruch auf beliebig disponible Verzeichnung medienstrategisch mit der Multiplikation immer schnellerer Produktionstechnologien verbreitet wird und weil die immer schnellere Bewegung zwischen Artikulation und recodierender Übernahme die Ordnung des Materials erschwert. Nicht der Inhalt der Behauptung, wohl aber die Struk­ tur ihrer Interesserichtung entspricht hinsichtlich eines Kulturwandels hin zur Multi­ plikation der Medienstrategien durchaus den Tatsachen. Ich kürze die Beweisführung hier durch die Umkehrung der Begründung ab. Die Kritik an Gegenpositionen wird im

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Folgenden zusammengefasst durch antiplatonische Begriffserklärungen, die als ak­ zeptabel erscheinen können, solange sie nicht durch Explikation einer mindestens so trennscharfen und komplexitätsbezogenen gegen-modernen und gegen-theoretischen Argumentation widerlegt werden. Unter Kunst verstehe ich eine poetische Tätigkeit, deren komplexer Vorgang for­ malisiert und in einem Werk verdichtet wird. Das Prinzip der Poetik (oder Poesie) besteht in der Herausarbeitung von Möglichkeiten, die einen Überschuss gegenüber dem be­ schreibbaren Realen beinhalten und deren Herausarbeitung ohne den Einsatz der Me­ dialität und ihrer subjektiven Differenzierung durch eine linguistische Strukturierung des einmal formulierten Konzepts, Darstellungs- und Handlungsanspruchs nicht mög­ lich wäre. Die Modernität der Kunst besteht nicht generell im Prinzip der Autonomie, sonst müsste Modernität in der bildenden Kunst für jede erwiesene Darstellung kraft ästhetischen Eigensinns gelten; theoretisch wird, v. a. in der Philosophie, der Fehler ei­ ner soziologischen Zuschreibung der Autonomie für den Differenzierungsprozess des 19. Jahrhunderts notorisch gemacht. Giottos Malerei bezeugt den ästhetischen Eigen­ sinn durchaus mit Wirkung auf künstlerische Autonomie, wenn auch der moderne Au­ tonomiebegriff etwas ganz anderes bezweckt: die Subjektivierung der Zeichensysteme für die disponible Deregulierung objektiver Kulturansprüche. Solches wird niemand Giotto zuschreiben. Es bleibt aber ein Theoriefehler, Autonomie institutionentheore­ tisch auf die gesamtgesellschaftliche Differenzierung einzuschränken. Modernität der Kunst gründet in einer bestimmten Autonomie, nämlich der Selbstbezüglichkeit des abstrakt nach formalen Gesichtspunkten formulierten und arrangierten künstlerischen Materials. Dieses Prinzip geht aus der Selbstwahrnehmung und Selbstkritik des moder­ nen Bewusstseins hervor und indiziert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine an Abstraktionsformen orientierte Reform der ästhetischen Ausdruckspotenziale durch Kunst und durch Design; von dieser Parallelität zeugt jede historische Betrachtung der Begründungsbewegung der Moderne. Die ästhetische Struktur des Bewusstseins gründet in der experimentellen Nicht­ delegierbarkeit der Symbolsysteme, die weder unmittelbar gesellschaftlich noch öko­ nomisch noch rechtlich noch instrumentell angeeignet werden können. Die moderne Selbstwahrnehmung, welche das Prinzip der Erfahrung einer Krise und Gefährdung zu einer stetigen Explikation aller Erfahrungen vorantreibt, beansprucht keinerlei Identi­ tät, weder im Subjekt noch zwischen Denken und Realität. Identität im modernen Sinne ist als Erfahrungskonstitution kraft Zersetzung der Identität oder, mit Hegel, durch die Einheit von Identität und Nicht-Identität bestimmt. Dieses Erfahrungsprinzip subjek­ tiver Sinnarbeit und skeptischer Selbstkritik, das exemplarisch und singulär die mo­ derne Autonomie der Kunst ermöglicht, kann ebenso wenig ‚überwunden‘ werden wie Nicht-Identität verfügbar gemacht werden kann durch Behauptung einer Totalisierung der manipulierbaren Welt durch die identitätserzwingende Handlungsmächtigkeit des Subjekts. Dieses Prinzip kann zerschlissen, preisgegeben und ignoriert, aber nicht überwunden werden. Das behaupten aber einige der unter dem Titel der ‚Postmoderni­ tät‘ aus Architektur und Design herstammenden gegen-modernen Forminteressen, die mittlerweile ein kulturelles Paradigma des Nach-Funktionalen auf allen Ebenen und

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Medialisierungen der Kultur beanspruchen. Gegen ausgereizte Ansprüche a ­ bstrakter Einführung neuer Denkweisen ver­stehe ich unter Postmodernismus die Organisation einer bestimmten Kampfrhetorik (nicht deren Ausdruck), die zum einen ein formal abs­ traktes ‚Stilwollen‘ kennzeichnet, zum anderen jene kulturelle Krise und historische Si­ tuation, die zur Selbstreflexion der Tradition gewordenen Kultur von Einstellungen, Ge­ staltungen, Formen und Theorien zwingt, die sich als Moderne zu einer geschlossenen Semantik der Lebensformen zusammengefügt hat. Die rhetorische Verfor­mung dieser Kritik durch innovationssüchtige poetische Äußerungen tendiert, im gebotenen Kampf gegen die Übermacht der historischen Präfigurationen, dazu, ­gegen Moderne Argu­ mente ins Feld zu führen, die diese überhaupt erst konstituiert haben, z. B. die Konzep­ tualisierung der Zeichenmodelle, die Denunzierung der eklektizistischen Uneinheit­ lichkeit, die nicht bewusst als Zeichensprache verwendet wird. Diese kampfrhetorisch bedingte historische Verschiebung scheint für die Einsicht in den Hintergrund des aktuellen Stilwandels entscheidend. Es wundert deshalb nicht, dass die Gegen-Moderne auf anthropologische Motive der Ordnung von Formen und Strukturen zurückgreift.45 Mein Interesse ist, ‚Postmodernismus‘ als Sinnenschärfung zu lesen und strategisch ernst zu nehmen. Diese Sinnenschärfung soll die dogmatische Ver­ fassung und utopische Unerbittlichkeit der modernen Kultur an ihren eigenen Vorausset­ zungen messen und das positivistisch verkürzte Fortschrittspathos, das im Inneren der Moderne zu einem abstrakten Stil verkommen ist – gerade im praktischen Gestaltungsbe­ reich von Architektur, Design und Urbanität – als ursprünglich utopischen Impuls zur De­ regulierung zu erinnern. Unter Design verstehe ich einen bestimmten Typus funktional orientierten Tuns, das – unter Einbezug der poetischen Aneignung des ästhetischen Pro­ zesses – den Funktionsgebrauch als Lebenszusammenhang durchschaubar macht. De­ sign zielt auf Gebrauch nicht nur von Dingen, sondern auch von Regulierungen,46 materi­ ellen und immateriellen Umweltgestaltungsprinzipien, von Szenarien und Regulierungen, Legitimitätsverteilung und Bilderwahrnehmung. Design ist ein Interpretationsmedium, durch das die Einheit von Produktion und Rezeption als Entwurf einer Bezugnahme auf Inhalt und Formen der Symbolisierungssysteme geleistet wird und das sich in die anthro­ pologische Struktur der Differenz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit einschreibt. Unter der Einwirkung des modernen Sprachbewusstseins und der sprachanalytischen Transformation der Vernunftkritik47 werden Kunst und Design zu Elementen einer me­ dial problematisierenden Kommunikation, zu Ausdrücken und Bezugsmomenten von Rhetoriken, Codierungen, Sprachspielen, Nachweisen und Behauptungsansprüchen. Sie haben eine funktionale, ästhetische, semiotische Bestimmtheit. Bedeutung ist eine Kate­ gorie dessen, was nach bestimmten kulturellen Regeln geäußert werden kann. Ein Bild hat nie nur Gebrauchswert, ein Ding kann nie in erster Linie ein Bild sein. Beide aber werden durch Bedeutungen konstituiert, die sich aus der Bezeichnung von Funktionsbezügen zum Erkenntnisvermögen herleiten, auch wenn die Funktionsbe­ schreibung in der Funktionsnutzung selber liegt und auch wenn Erkenntnisvermögen auf der Ebene einer assozia­tiven und intuitiven Organisation des Wahrnehmungsinhalts angesiedelt wird. Sprache ist nur eines der Medien, diese Bezugnahmen zu organisie­ ­ prache ren, wenn auch gewiss, unter Bedeutungsaspekten, das grundlegende Medium. S

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ist nicht, was wir sagen, sondern, was unsere Äußerungen zu Mitteilungen für andere und uns selber macht. Es gibt keine Privatsprache; was existiert, existiert nur, indem und sofern es dargestellt werden kann. Das bedeutet keineswegs das Zugeständnis ei­ nes modernen Sprach-Aprioris, dessen Universalisierung vielmehr eines der kulturel­ len Hauptprobleme (und ein Hauptangriffspunkt der gegenmodernen Rhetoriken) von ‚Modernität‘ geworden ist. Es gibt nicht Sprache schlechthin, sondern eine Vielzahl qua­ litativ verschiedener Äußerungsformen auf verschiedenen Kanälen verschiedener Me­ dien hinsichtlich verschiedener Codes. Diese Vielfalt von Ausdrucks- und Kommunika­ tionsmöglichkeiten lässt sich unter dem Druck des Informationsbegriffs als ästhetische Deregulierung48 mit den Mitteln einer entwickelten Semiotik beschreiben, ohne dass eine durchgängig verbalsprachliche Struktur oder gar die Konstituierung des Denkens durch Sprache angenommen werden müssten.49 Vielmehr geht in die Struktur des Kommunikationsbegriffs auf allen Ebenen und in allen Formen von Äußerungen die unüberbrückbare Differenz von Kommunizierba­ rem und Nicht-Kommunizierbarem ein. Nur durch Nicht-Identität ist Kommunikation als gelingende Einsicht und Bedeutung faktisch erklär- und theoretisch motivierbar. Unter Funktion verstehe ich deshalb die produktive Aneignung einer kulturell interpre­ tierbaren Aufgabenstellung und ihre differenzierende Darstellung als mögliche Bedeu­ tung für die Weiterentwicklung der Symbolisierungen. Funktion bezieht sich nie­mals auf die Generierung bestimmter Bedingungen, die technisch und instrumentell gefasst werden könnten, ohne dass im funktionalen Bedingungsgefüge nicht von Grund auf und gleich-ursprünglich ästhetische Entscheidungen mit enthalten sind. Eine bewusste Aufarbeitung des Funktionalen fördert den Komplex ästhetischer Momente als virtuelle Entscheidungshandlungen zutage. Form ist eine Funktion der Funktion: Sie verhilft zu deren Wahrnehmung. Funktion ist eine Erscheinungs- und Darstellungsweise der Form. Die innere Verschränkung von Form und Funktion macht das Problem von Technik und Ästhetik als Konstruktion von Lebensformen deutlich. Diese ist nicht ‚funktional‘ – das wäre sie allein in der Betrachtungsweise der Naturgeschichte, d. h. als Funktionsbestim­ mung der Adäquation des menschlichen an das biologische und kosmologische Leben. Sie ist in ihrer Funktionalität auf Interpretation und Wahrnehmung ebenso angewiesen, wie sie als technische Funktion Erkenntnisqualitäten aufweist. Unter Wahrnehmung verstehe ich die Erkenntnis einer Gestalt, d. h. eines dinglichen oder ideellen Zusam­ menhangs von Momenten in einer spezifischen Organisationsweise, in der ein Ganzes in einer nicht auf anderes reduzierbaren Dynamik zur Darstellung gelangt: Wirklich­ keit ist die Projektionsfläche einer Darstellung. Unter Erkenntnis seien entsprechend die unter Gesichtspunkten von Wahrheit, Geltung, Ausdruck und Wahrhaftigkeit für an­ dere geäußerten Wahrnehmungsvorgänge verstanden, die sich gleicherweise und inte­ grativ auf alle Erkenntnis- und Bewusstseinsakte (Träume, Gefühle, Vorstellungen, Er­ innerung, Gedächtnisspuren, Wahrnehmungsbilder, Kategorien und Ideen) beziehen. Solche Begriffsbestimmungen liegen nicht in der Reichweite des aktuellen Selbst­ verständnisses. Es ist deshalb sinnvoll, die Aporie bestimmter Haltungen an Selbstzeug­ nissen zu kommentieren. Die theoretische Rekonstruktion bleibt unter Wahrheitsbe­ hauptungen zwingend, auch wenn die Kulturkampf-Rhetorik der Anti-Moderne weder

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ein theoretisches Interesse noch eine Be­reitschaft zu dergleichen Erörterungen bekun­ det. Deshalb muss sich ihre Argumentation als Re-Inkarnation der Zeitgeist-Gestalt set­ zen. Nur so garantiert sie für sich ihre naturgleiche Herkunft aus der Fortschrittslogik der Evolution. Diese Konstruktion ist an sich selbst polemisch und operiert mit der kon­ kretistischen Verfügbarkeit aller ästhetischen Erfahrungen auf der Ebene der alltägli­ chen Kultur. Es gilt, die symbolischen Äußerungen in der Verkleidung der Rhetorik wie der Dinge phänomenologisch zu berücksichtigen. Der Kulturzugriff im Kunst- und De­ signbereich geschieht immer mehr nach Maßgabe medienstrategischer Unmittelbar­ keitsbehauptung und autoritärer Deklarationen. Ergibt sich eine Stringenz, wenn Äs­ thetisches und Kunst in das Alltägliche übersetzt werden? Funktioniert Kunst in diesem Sektor? Zunächst sind es mit Sicherheit die Institutionen, die Kunst funktional festle­ gen: Das Leben ist nicht das Museum. Ein übersetzender Transport funktionalisiert Kunst im Namen einer Ästhetisie­ rung des Alltags und tendiert zum Überspielen der Grenzen zwischen Kunst und De­ sign im Namen einer Ge­staltung, die sich gegen den Asketismus der modernen Avant­ garden – der von Cézanne über Kandinsky, Mondrian und Malewitsch bis zu minimal art und Konzept Kunst nichts anderes gewesen ist als eine Medialisierung mit dem Zweck, die wahre Fülle der Transparenz des Geistigen zu bilden – ebenso richtet wie das neue Design gegen den Funktionalismus und den gegen Ornamentierung gerichteten modernen Formverdacht. Mehreres ist hier im Einzelnen zu unterscheiden: künstleri­ sche Arbeit mit Designmaterial, wobei die künstlerische Autonomie sich der Gestaltvor­ gabe vorgefundener plastischer Wertigkeiten unterwirft. Designobjekte, zerfallen, ent­ wertet oder intakt, werden zum Ausgangspunkt für eine künstlerische Arbeit, die über die Zweckentfremdung die ästhetische Selbsterfahrung auf den Produzenten zurück­ wirft. Das ist eine der immer wieder aktualisierten Dimensionen der modernen Kunst: Entwertung des Materials als Reflexionsvorgabe für die Medialisierung von Bedeutun­ gen. Diese Traditionslinie führt von Duchamp über ‚informel‘ bis Diter Rot, Blinkey Pa­ lermo, Imi Knoebel, Bruce Nauman, Rainer Ruthenbeck und den stärker konzeptuel­ len Arbeiten von Richard Long, Walter de Maria und Marcel Broodthaers. Daneben gibt es wesentlich ambivalentere künstlerische Arbeiten mit Objektdesign. Dazu lässt sich eine Tradition aufbauen von El Lissitzky, Moholy-Nagy und dem positivistisch-szientis­ tischen Design der zweiten Bauhaus-Phase bis zu den Arbeiten von Tony Cragg, Mario Merz, Stephan Huber. Leitend sind funktionale wie ästhetische Argumentationen, mit denen im Namen einer übergreifenden poetischen Gestaltung Kunst und Design ver­ eint werden sollen. Viele der neueren Produkte in dieser Entwicklungslinie erscheinen nicht mehr diszipliniert und schon jenseits der Grenze zur belustigten Beliebigkeit, ge­ paart mit einer Neigung zu einem Polymorphismus ohne materiellen Widerstand, zu ei­ ner geglätteten Gestalt des Zeigbaren im Gestus subjektiver Lexikalik und zu einer nicht zuletzt durch Großformate suggerierten Selbstüberhöhung. Kulturell veredelt wird der Sprung in die Resurrektion eines naiven Kapitalismus. Eine dritte Tendenz – wieder beginnend mit Duchamp, durch Generationen von Werbern und Designern der poetischen Radikalität beraubt – zwingt den Objekten, seien das Design- oder Kunstgegenstände, die vorgeblich absolute Autonomie des poe­

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tischen Verfahrens auf. In den besten Fällen (Bertrand Lavier, Fischli/Weiss, Ian Hamil­ ton Finlay, Wolfgang Laib, Andrew Leicester, Martin Kippenberger) wird eine Differenz zwischen Kunst und Verzeichnungsmedium zunächst aufgelöst, damit die Differenzbil­ dung auf der zweiten Ebene der sprachlichen Werte und Bildpoesie die Objekthaftigkeit als ästhetische Selbstreflexion bearbeiten kann, welche die Grenze zwischen Kunst und Design weder strikt unterlaufen noch orientierend hinnehmen will. Durch Indifferenz und Indeterminismus wird die alte Antithese als dogmatische Fixierung auf eine symme­ trisch beachtete Territoriumsbehauptung entlarvt. Ihr wird die Vereinigung des vordem Divergenten entge­gengestellt. Persönliche Intensivierung und künstlerische Poesie wer­ den zunehmend mit medienstrategischen und designspezifischen Konzeptionen ver­ folgt, d. h. als Momente in einem taktischen Spiel mit der nur punktuellen Behauptung des einen oder anderen Sektors, der Verwendung der Codes von Fall zu Fall behandelt. Paradigma dafür mag ein ästhetischer Bildjournalismus sein, der medial und mediali­ tätssteigernd auf alle Bereiche der Alltagskulturen mit Mitteln reagieren muss, die nicht mehr der Hermetik der ästhetischen Kunstbehauptung entnommen werden können.50 Auf einer vierten, hier als polemische Intervention des Zeitgeist-Syndroms behandelten Ebene werden heute Versuche abgewickelt, Kunst und Design im Namen des Sty­lings oder des Gesamtkunstwerks und der ins Leben eingelagerten ästhetizistischen Schön­ heitsempfindungen aufzuheben. Phänomenologische Kategorien der Rhetorik dieses Stylings sind: Polymorphismus, Veredelung, Verkitschung, Verklärung; M ­ etaphysik und der große Ernst des Lebens im heiteren und unbeschwerten Kleinkram des neuen Luxus. Wie groß die Bereitschaft ist, entwickelte Kunst-Positionen auf die Selbstgenüg­ samkeit der insgesamt zu ‚gimmicks‘ und ‚gadgets‘ geschrumpften Ideen und Inszenie­ rungsstylings zu reduzieren, zeigen zahlreiche Beispiele. Eines der herausstechenden und wegen sympathischer Nähe zur Veralltäglichung ambivalenten davon ist das Genter Kunst-Design-Projekt 50 Künstler (u. a. Merz, Le Witt, Kosuth, Kounellis, Buren, de Ma­ ria, Panamarenko, Graham, Fabro). Diese richten unter dem Motto „Chambre d’amis“ in 50 Genter Privathäusern je ein Gästezimmer für Albrecht Dürer ein, der 450 Jahre früher dort zugegen war und die Genter Gastfreundlichkeit lobte. Der Untertitel des Unternehmens – „In Gent ist immer ein Zimmer für Albrecht Dürer frei“ – zeigt, wie austauschbar Tourismus, Public Relations, Produktedesign, Architektur und Avantgar­ dekunst geworden sind und wie sehr sich die ästhetische Behauptung auf die Ebene der Organisation verlagert hat, die für sich zu Recht Kunstcharakter kraft des Vorrangs ei­ ner konzeptuellen Idee beanspruchen darf. Dem entspricht die von immer mehr Seiten lancierte Integration von Stilismen, Formalismen und Zitationen in ein Szenario, das Li­ festyling, Alltagsästhetik, Kommerz und Design verbindet. Die mittlerweile eingestellte Zürcher Zeitschrift Magma, wie ihre kopiegetreuen Vorbilder Wiener und Tempo ein se­ miotisches Abfallprodukt der Mitt-Siebziger-Lifestyling-Pop-Kultur, bezeichnet in der Dezembernummer 1985 Läden, in denen leichthin Pop-Art und Radikaldesign, ‚inter­ vento minimo‘ und Hightech, Objets-trouvés-Ästhetik und ‚informel‘, Abfallveredelung und Luxuszerfall verschmolzen werden, mit Recht als die heute einzig wahren ‚Tempel des Zeitgeistes‘. Es geht nicht mehr um Warenästhetik im Urbanisierungsprozess, son­ dern um bewusste Manipulation der Situation, dass im Zerfall der Hochkultur eine Fülle

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von Subkulturen entsteht, die sich gegenseitig codieren und als Flüchtigkeit eines poin­ tierten anspielungsreichen Designs die Kulturtrümmer bis zur provozierten Verständ­ nislosigkeit als Momente darstellen, die der Zerfall der Hochkulturfiktion für beliebige Zugriffe eröffnet hat. In der Demokratisierung dieser Beliebigkeit liegt das gegenüber der geschmacksschützenden Moderne progressive Element. Der Inhalt der Flüchtigkeit behauptet sich als Geste einer Unterschiedslosigkeit, die Destrukturierung der Subjektivität betreiben will, um der stilistischen Selbstbe­ hauptung eine Handlungskonstitution zu verschaffen, die nicht mehr ästhetischer Dif­ ferenz ausgesetzt werden soll. Indifferenz und rituelle ‚coolness‘ sind die Merkmale der Auflösung der kritischen Differenz, deren Überalterung theoretisch gefordert und mit Hinweis auf die Lifestyling-Lebensweise suggestiv gefeiert wird.51 Ein neues Design-­ Entertainment bestimmt die Funktion des Stoffzusammenhangs als Verhinderung der Unterscheid­barkeit der Sprachen der Darstellungsmittel. Mit nie gekanntem Aufwand sollen die Brüche verdeckt werden zwischen dem Styling und dem, was gestylt wird. Life­ styling ist nicht ungebrochen ein Ereignis der aktuellen Medienkultur. Vieles deutet da­ rauf hin, dass ein solcher Anschein aus ganz an­deren Gründen gepflegt wird. Für die Ästhetik der Medialität und den Komplexitätszuwachs ist Darstellung an die Radikali­ sierung der Unterscheidung von Darstellung und Dargestelltem gebunden. Deshalb ist Medialität eine anthropologische Kategorie, deren Aktualität durch die Organisations­ struktur der technischen Zeichenproduktion bestimmt ist. Lifestyling entpuppt sich als ‚vorgeschichtliches‘ Rückzugsgefecht, als Revokation des Ornamentalen ‚avant la lettre‘ einer entfalteten technischen Medienkultur. Zwar intendiert die Rhetorik anderes. Aber bereits das Bestehen auf der sensuellen Darstellung der Zeichenmystifikationen zeigt, dass die Medialisierung zurückgehalten wird, die in der Freigabe der dispositionalen Si­ mulation nach rezeptiven und kasuistischen Bedarfslagen bestünde. Deshalb ist Life­ styling noch Ausdruck der autoritären Formulierung einer Massenkultur, die ohne die Funktion der stil- und absatzsichernden Idole nicht auskommt. Lifestyling ist das Pen­ dant zur Infantilisierung der ästhetischen Lebensversorgung für eine mittlere Genera­ tion in der Medienkultur, die zwar ästhetizistisch, aber noch nicht technisch-produktiv an der Verflüchtigung zum Uneigentlichen teilhaben kann und deshalb Surrogate kul­ turstrategisch zu Ereignissen aufbläht.52 Die Ausstellung Gefühlscollagen. Wohnen von Sinnen in Düsseldorf 1986 ist ein Hö­ hepunkt der bisherigen wechselseitig angeheizten Kunstbegeisterung einer als Banali­ tät verdrängten Banalität im hier skizzierten Sinne. Lifestyling verwandelt alles in Szene. Das erst bezeugt ja den Zeitgeist: Reagan und ‚Out of Africa‘ sind auch Szenengeschehen. Das weltumspannende Mediendesign der Unterhaltungsindustrie, die mittlerweile auf allen Ebenen funktioniert, wird im Lifestyling mit dem Schein eines Umfassenden aus­ gestattet. In der ‚Designkunst zweiter Klasse‘53 zerfällt nicht allein die herkömmliche Designmoral, sondern – aktual widersinnig – die Banalisierung alles Existierenden zu einer Kulturrevolution: zur Befreiung von Wertbehauptungen und von kulturellen Prä­ tentionen, die ‚Stil‘ meinen, wenn sie ‚Leben‘ sagen. Die mediale Banalisierung, die im Lifestyling mit herkömmlichen Markenstrategien verdrängt und als barbarisch zurück­ gewiesen wird, wäre eine sozialästhetische Utopie, die – welche Ironie – in der Utopie

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des Konstruktivismus, die auf universale Nichtwertigkeit als universale Aneignungsfä­ higkeit zielt, besser aufgehoben ist, als im Arrangement einiger vorgeblich neuer orna­ mentaler Muster und Formkombinationen. Der Triumph des Lifestyling bricht mit der aufklärerisch kultivierten Hässlichkeit in der Theorie des Banaldesigns. An der myst­ agogischen Revokation einer Kul­turrevolution, die allein in der trivialen Massenkul­ tur begründet werden kann, nimmt mittlerweile im Kontext des Gefühlstaumels auch die alte Designerelite der ironischen Banalitätssteigerung teil. So zum Beispiel Alessan­ dro Mendini, mit dessen Äußerung eine kleine Blütenlese von Selbstzeugnissen nicht deshalb eingeleitet wird, weil es um Kuriositäten zu tun wäre, sondern weil Selbststi­ lisierung und verbale Prätention kultureller Versatzstücke an sich selber einen theore­ tischen Zwang zum Zeitgeist-Ambiente darstellen und weil die Theorie der Theorielo­ sigkeit nur im Wortlaut ihren unsinnigen Theorieanspruch belegt. Mendinis Mischung aus Halbargumentation und paradoxal sich wähnender Poesie ist überaus typisch für die Manife­station einer ganzen Generation von Designern, die sich heute ziemlich un­ verfroren und umstandslos der Kunst zurechnen. „Die moderne typologische Tradition schlägt eine extreme Vereinfachung der Funktionen vor, faßt sie zu Räumen zusammen, die zum Kochen, Essen, Schlafen und Waschen bestimmt sind. Das ganze übrige Ge­ flecht der tausend Sinnes- und Denkfunktionen ist vergessen, verkrüppelt und erstarrt in diesem architektonischen Käfig von Vergleichswerten, der auf dem Konzept des ele­ mentaren Überlebens aufgebaut ist, typisch für die Produktionsschemen und Serien­ standards der zeitgenössischen Gesellschaften. Der Mensch benötigt dagegen dringend andere, subtilere Überlebensformen.“54 Abgesehen davon, dass ‚der‘ Mensch ziemlich genau Vision und Semantik der an­ gegriffenen Moderne ausmacht, scheint mir nicht plausibel, was gegen das ‚intervento minimo‘ eines sinnvoll auf Überlebenskriterien eingeschränkten Designs soll einge­ wendet werden können. Angenommen, Mendinis Analyse dessen, was überwunden wer­ den soll, ist nicht bewusst irre­führend angelegt, sondern ehrlich gemeint, dann führt sie unweigerlich zu Aporien. Ist es nicht vernünftig, viele Funktionen nicht durch Design zu verzeichnen? Ist nicht das die Freiheit vom Design, die hier als Befreiung von Serien und Standards gefordert wird? Mendini verwechselt absichtsvoll die Bezeichnung eines typisch modernen Funktionsausdrucks für die Entwick­lung einer Autonomie der Pro­ duzenten hinsichtlich eigener Funktionssetzungen – wenn überhaupt etwas, dann ist politisch und sozialästhetisch dies der Charakterzug des modernen Designs – mit dem Plädoyer, für alles, was der Mensch lebe, seien Substitutionsfunktionen zu entwickeln. Wieso braucht es ‚Formen‘, um zu überleben? Ist Subsistenz ein Formphänomen? Kann man den Funktionalismus überwinden, indem man alle, nicht nur die baulich wesent­ lichen Funktionen durch artifizielle Designmaßnahmen ausgestaltet und determiniert? Das ist offensichtlich Widersinn. Die falsche Beschreibung der Situation wird aber um­ gehend durch dezisionistische Projektionen ersetzt, wobei ich nicht sehen kann, worin sich das von der Verkümmerung unterscheiden soll, die angeblich durch neue Design­ haltungen überwunden wird; das ist ein philosophisches Problem. Ich schlage deshalb vor, davon auszugehen, dass nur nicht-determinierte und nicht-delegierte ­Eigenaktivität vor Verkümmerungen schützen und dass man Design begrifflich als ­Heteronomisierung

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solchen Freiheitsbedarfs beschreiben kann.55 „Man darf paradoxerweise das Ghetto wie­ der einführen, wenn man darunter versteht, dass damit die Existenz kleiner Gruppen mit homogener Ausdrucksweise anerkannt wird.“56 Man kann im Kontext der ‚Gefühls­ collagen‘ derartige Ansichten geballt vorfinden. Eine neue Spiritualität und ästhetische Kraft werden in Aussicht gestellt, A-Logiken und ‚neue‘ Denkfreiheiten beschworen. Personalisierung, Vergleichgültigung und schließlich dezisionistische Machtentfaltung belegen den Identitätsterror solcher homogenen Glaubensgemeinschaf­ten, die als Stil­ propagandisten ihrer selbst auftreten. Mendini gibt den Tenor für einen Kulturwandel der Designkonstruktion unserer Gegenwart: „Das Hauptcharakteristikum ist vielleicht der Gedanke an die Gegenstände, nicht in ihrem funktionalen Zusammenhang, der sozusagen als selbstverständlich ge­ geben ist, sondern als Gedanke an eine rituelle und verhältnismäßige Expressivität.“57 Da sozusagen wie selbstverständlich das heutige Kulturproblem in seinen Außenbezie­ hungen zu Umwelt und Natur ein Funktionsproblem ist und auch im Designbereich er­ staunlich wenig funktioniert, ist dafür zu halten, dass der Fortschritt im Design nicht im Zugriff auf Kulturrhetoriken liegt, sondern in der Erhöhung des funktionalen Leistungs­ profils und der Differenzierung des Funktionsbegriffs auf der ästhetischen Ebene einer Verdeutlichung der Dysfunktionen, auf die Design sich im Kontext der Kultur notwendig zu beziehen hat, es sei denn, man begnüge sich mit den Verschönerungsattributen be­ liebiger Interieurs. Wenn die Designhistorikerin Barbara Radice die Memphis-Produk­ tion von 1985 mit nachfolgenden Worten beschreibt, ist der Schulterschluss zwischen neuheiterem Verblödungstheater und großmannssüchtiger Infantilisierungslust als Pro­ grammatik des Gegenwartsdesign umfassend bestimmt und auf das genannte Triebmo­ tiv der Einstimmung in die Lust an der Apokalypse gestützt: „Die Kollektion des Jahres 1985 ruft neblige Großstadtstimmung à la Blade Runner oder Science-Fiction-Abenteuer à la Terminator in Erinnerung, in denen sich furchtlose postnukleare Helden vor dem geschwärzten, vernichteten Hintergrund eines angeblichen ‚Tages danach‘ bewegen.“58 Was ist das Ärgerliche an solchen Attitüden, die ja keineswegs in Kunst und De­ sign besonders übertrieben vorkommen, verglichen mit den politischen Verlautbarun­ gen im Bildschirmalltag? Wenn es nicht mehr sein soll als ein Hinweis auf die Moral der Ästhetik, die sich hinter den neuzeitlichen Gestaltungssystemen leitbildhaft orien­ tiert, dann ist es immerhin ein Hinweis auf den Sachverhalt, dass für jede Designinter­ vention ein Begründungszwang der Rationalität der vorgeschlagenen Maßnahmen auf­ rechtzuerhalten bleibt. Angesichts der Tendenzen eines großen Teils aktueller Kunst und heutigen Designs, lässt sich gegen die Prätention einer umfassenden Substitu­ tion menschlicher Selbstverhältnisse durch Designinstrumentarien sagen, dass ausge­ rechnet die dysfunktionalen Formulierungen im Namen einer angeblich notwendigen Verschönerung einer reizarm gewordenen Welt – eine Behauptung, die vonseiten ihrer Propagandisten nie der Last einer Beweisführung unterzogen worden ist – den durch­ schnittlichen Benutzer und Bewohner dieser Welt beleidigen. Im Namen der Fantasie wird Fantasie ausgetrocknet; die angebliche Öde der Moderne entsteht zu großen Tei­ len erst in ihrer Bekämpfung. Produkte dienen zunehmend nur noch dazu, die Fantasie der Designkunstproduzenten zu stimulieren. Das aber ist erkenntnistheoretisch falsch:

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Designwirkungen werden nicht im Hirn des Produzenten, sondern im Auge des Nutzers gemacht. Im Weiteren wird der Entscheidungshintergrund der produzierten Dinge verborgen. Bestimmend für sie ist nicht ihre mythische Leere und laute Bunt­ heit, sondern das, was sie ausgrenzen möchten: die Kompaktheit eines Funktionszu­ sammenhangs, der ohne ästhetische Aneig­nung nicht fassbar ist.59 Sie etablieren ihre Bedeutungsstruktur ohne Logik der selektiven Wertigkeiten. Ihre Mystifikation kann entsprechend durch das wohletablierte Muster der Naturalisierung von Geschichte, der Verewigung einer historisch zufälligen Kultur beschrieben werden. Das Verdecken der Brüche, das Verleugnen der Krise, die als Wahrnehmung von Nicht-Identität Bewusst­ sein bildet, der Aufwand, mit dem die Konstruktion der Dinge, Wertigkeiten und Be­ deutungen hinter dem Dekor verschwinden soll, das macht, wenn nicht einen ‚postmodernen‘, dann immerhin einen anti-modernen Zug des neuen Designs aus. Restlos abgeschottete Individualität hier,60 universal entleerte Signalsprache dort – dazwischen wird die kritische Utopie der experimentellen Konstruktion, das Leitbild der Problema­ tisierung der Bedeutungen durch Differenzierung, aufgerieben. Vor mehr als 20 Jahren konnte der Zusammenhang von Ästhetik und Massenkultur noch innerhalb der Fra­ gestellung nach der Struktur des schlechten Geschmacks untersucht werden.61 Es ließ sich zeigen, wie ein kollektiver Geschmack, eine Massenkultur eigener Art, schubartig die Formen und Innovationen sich anverwandelte, die bis vor Kurzem noch im herme­ tischen Alleingang des Künstlers, in formalisie­renden Verdichtungen, entworfen wor­ den sind. Eine solche Darstellung wäre heute nicht mehr möglich. Die Beschleunigung der Umcodierung, die zunehmende synthetische Simulierung von Zeichensystemen er­ laubt eine solche soziologische Dechiffrierung nicht mehr. Die Massenkultur ist selber zum Programm und Objekt der kulturellen Verzeichnung geworden. Sie ist in Formu­ lierungen und Fragmentierungen verwickelt und sogar ihrer Opposition, der Hochkul­ tur, integrierbar: Sie ist eine Subkultur für andere Subkulturen geworden und wird das parallel zur Telematisierung auch im Bereich der Massenmedienästhetik (Film, Design) immer endgültiger. Dem arbeitet eine ältere moderne Tendenz zur Abstraktion der Subjektivität von Kultur und Kontext zu. Die Ermöglichung einer Utopie der Entstofflichung zugunsten der Einsicht in geistige Bezeichnung kontrastiert der sozialen und politischen Kon­ struktion des Individuellen als abstrakter Moralität, die erst durch den sittlichen Staat mittels Kontrollästhetik herausgebildet werden könne – dies die Vision der bürgerli­ chen Kultur. Die Frage nach der Subjektivierung ist seither, ob solche Abstraktion auf die Logik der Funktionen baut oder auf weitere Abstraktionen verweist und beispiels­ weise Funktionsgebote verweigert, ohne ein Interesse an Dys-Funktionalität zu begrün­ den. Jedes Festhalten an ‚Subjektivität‘, und sei diese nur Kampfprinzip, belegt, dass ein Problem der Moderne und nicht ihrer Nachgeschichte verhandelt wird. Differenzie­ rungen auf der einen, Erfahrungen der Zerstörung und des Bruchs auf der anderen Seite sind Elemente eines modernen Bewusstseins. Modern ist nicht die positivistische Logik eines unbeirrbaren Fortschritts, sondern die Konstruktion des Zusammenhangs durch Irritation und Entzug, Verweigerung und Verstörung. ‚Postmodernität‘ ist weder bloß Ausdruck eines gewandelten Problembewusstseins, noch gar Beweis einer kommenden

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Kultur, sondern primär eine Recodierung von Denkweisen, deren stofflicher und struk­ tureller Gehalt von der Moderne erst eröffnet worden ist. Am überzeugendsten ist die Kritik an bestimmten Architektur- und Designauffas­ sungen, die als erkenntnisdefizitär gebrandmarkt und als Zeichenmodelle recodiert wer­ den, weil dazu kein epochaler, sondern bloß ein diskursiver Zugriff notwendig ist. ‚Post­ modernität‘ ist Kulturkampf, wenn sie für Stillstand plädiert. Die Interpretation ihrer Gleichgültigkeitsträume ist bisher ambivalent ausgefallen. Es gibt die Theorie, die Mo­ derne sei die Artikulation eines bestimmten Codes und nicht die funktionale Produktion von bestimmten Gegenstandstypen. Und es gibt die Theorie, die Moderne sei ein Typ von Ästhetik, der sich primär durch neu geschaffene Objekte äußere. Entsprechend kontro­ vers fällt die Bestimmung von ‚Postmodernität‘ aus: einmal ‚Semiotisierung der moder­ nen Produktekultur‘,62 zum anderen Re-Semantisierung aller nicht-modernen Objektbe­ gründungen.63 Mir scheint die These von der Semiotisierung plausibler. Sie erklärt den architektonischen Manierismus als sprachliche Aneignung seiner Zeichenmodelle. Die Etablierung von Codes anstelle der Signifikate legt nahe, die Semiotisierung – ganz unab­ hängig von ihrem Stilwollen im Kulturkampf – in die Weiterführung des Zivilisationspro­ zesses einzubeziehen, der sich als Zuwachs an Einsicht in Medialisierung und als Aneig­ nung der physischen Wirklichkeit durch zeichentheoretische Artefakte äußert. Bezieht man sich auf ‚Postmodernität‘ als kulturelle Semantik, dann erscheint de­ ren Wirklich­keitsanspruch außerhalb der Rhetorik reichlich diffus. Wann beginnt ‚Mo­ derne‘ als Artikulationshintergrund für ein Neues, Eigenes? Mit der Ironie des Sokrates? Mit der antiken Stadtdemokratie? Der islamischen Geldpolitik des frühen Mittelalters? Dem Verlagswesen und seiner soziokulturellen Funktion im 13. Jahrhundert? Mit den philosophischen Reduktionismen von Wilhelm von Ockham und René Descartes? Der Philosophiekritik von Marx, Kierkegaard, Nietzsche? Mit der modernen Metropole, dem Paris des 19. Jahrhunderts? Oder grundsätzlich mit Urbanisierung und Geldwirtschaft zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen? Oder, als poetische Bestimmtheit, mit der abso­ luten Poesie Mallarmés? Mit den visuellen Bildformulierungen von Cézanne bis Picasso und Mondrian? Den strukturellen Artikulationen einer Abstraktion vom semantischen Bezug der künstlerischen Ausdrucksmittel in der Vision eines neuen Kulturbegriffs, der Überwindung der autonomen Kunst und der Fiktion eines funktionalen Gebrauchs von Gestaltung? Mit der Politisierung der Künste, der Ästhetisierung des Lebens, der Totali­ sierung des Vitalen in der Dekadenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts? Unter dem Wort der ‚Postmodernität‘ werden dafür viele diskursive Suggestionen als Erklärung angebo­ ten. Die prinzipiellste Schwierigkeit, einer solchen Semantik auch nur minimale Kohä­ renz abzugewinnen, rührt daher, dass in der bunten Fülle der Stil-Ismen (bereits in der klassischen Moderne karikiert64), die sich auf antimoderne Rhetorik beziehen, gegen­ sätzlichste Positionen unter einen vagen ‚Postmodernismus‘ sich haben einreihen lassen müssen. Was hat zum Beispiel Christopher Alexanders semiotisches Entwurfsverfahren mit Aldo Rossis semantischer Regionalgeschichtsaufarbeitung, was diese mit Ventu­ ris struktureller Verselbstständigung der Fassade zu tun, die nicht mehr den Raumkör­ per abschließt, sondern eine Projektionsfläche für Zeichensetzungen darstellt? Was ha­ ben diese drei gegenmodernen Architekturkonzepte – es ist wichtig, darauf hinzuweisen,

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dass die Postmodernismusdebatte mit gutem Grund im Feld der Architektur begonnen hat und nicht ohne Weiteres auf ‚Kultur‘ insgesamt oder deren subjektive Empfindung ausgedehnt werden kann – zu tun mit neueren Tendenzen, die auf reflexionsschwaches Luxurieren angelegt sind, wozu in einer pluralistischen Kultur Berechtigung besteht? ‘Postmodernismus‘ als Rhetorik überlagert Fragen der Aktualisierung gesamtge­ stalterischer Zusammenhänge durch einzelne Stilbekundungen. Bofill und die Kriers, Hollein und Botta, Snozzi und Haus Rucker, Coop Himmelblau oder Tschumi: Sie alle ha­ ben bestimmte konzeptuelle Auffassungen hinsichtlich der Verwendung eines neu arti­ kulierten Klassizismus, hinsichtlich der Logistik der Urbanität, hinsichtlich der Stadtein­ richtung, hinsichtlich der in Schwung gekommenen ‚Stadtstrategien‘. Reiht man diese Konzeptionen in einen architektonischen Postmodernismus und diesen in eine Kultur­ befindlichkeit von Medieneupho­rie ein, dann nivelliert man das Problem des Verhältnis­ ses von Architektur und Realität auf dem Niveau der Bedeutungslosigkeit des Funktiona­ len, ver­flüchtigt die ästhetische Begründung der Aneignung von Realität und hinterlässt einen der Differenzierung unfähigen leeren Allgemeinbegriff. Dass heute kulturelle Ar­ tikulation zunehmend in ein politisches Plädoyer für die Reduktion der Demokratie im Übergang von der Arbeits- zur Kulturtechnologiegesellschaft übergeht, ist die eine Sache. Eine ganz andere, dass es Gestaltungsmode geworden ist, diese Abneigung mit dem Pa­ radigma eines ästhetizistisch reduzierten Funktionalen so zu verknüpfen, dass jede rhe­ torisch gegenfunktional erscheinende Ästhetik als zeitgenössischer Manierismus zum Modell von Fortschrittskritik erhöht wird. Blickt man genauer hinter die ästhetizistische Fassade des Innovationspathos, dann scheint der Hang zur Ästhetik durch wesentlich konservativere Ängste und Motive bestimmt als die Selbstdarstellungen dies nahelegen: als Fluchtwinkel einer subjektiven Innerlichkeit gegen Szenarien und Technologien, wel­ che die Autonomie zu über­winden drohen. Wiederum ein Rückzugsgefecht avant la let­ tre dessen, was vorgeblich gefördert werden soll. Die neuen Szenarien werden versuchen, direkt in das Selbstbewusstsein synthetisch einzugreifen, und rütteln damit an den Fun­ damenten der auch durch postmodernistische Architekturhandschrift weitergetrage­ nen philosophischen Tradition, für technische Eingriffe fähig nur die Außenwelt, nicht das Innere des Menschen zu halten. Was Postmodernismus zu entdecken behauptet, ist nichts anderes als das, was Moderne einst konstituiert hat: die Krise des Selbstbewusst­ seins, die Divergenz von äs­thetischer Artikulation und Erfahrung der Transzendenz als Irreversibilität des technisch-ökonomischen Komplexes. Was rhetorisch bleibt, sind Po­ sitionen und Stil-Ismen, weniger Differenzierungen des Problems der Realität. In den letzten 20 Jahren sind parallel zur Design-Debatte für eine Neubestimmung des Denkens einige Versuche lanciert worden, einen neuen Zugang zur Tradition der Mo­ derne zu finden. Kernpunkte der Argumentation waren die De-Zentrierung des Subjekts, die Überwindung linearer Systeme und einer ontologisch im Zentrum der Idee gedachten Handlungsmacht. Vorbereitet durch Merleau-Ponty, Bachelard und Bataille65, wurde Phi­ losophie als Vitalismus auf der Ebene der technischen Medienkultur erneuert. Spätestens seitdem Lyotard seine Philosophie mit Les Immatériaux konkret und objektbezogen visu­ alisieren konnte, ist die Grenze zwischen Lebensform, Denken und Styling auch von die­ ser Seite her überschritten worden. Das Verblüffende an diesen neuen ­Denktypologien

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ist die punktualisierende Intensität, mit der eine theoretisch gefilterte und ausgeformte Sprachpoesie zu einem neuen epochalen Denkmuster verklärt wird. Die Deklaration ei­ ner anderen Selbstbefindlichkeit eröffnet im Einzelnen einen literarischen und intellek­ tuellen Reichtum, der jeder schulbestimmten Philosophie naturgemäß abgehen muss. Gerade in ihren idiosynkratischen und verstiegenen Ausdrucksformen wird dieses Den­ ken zu einer Differenzierungskraft des Imaginären in der Sym­bolwelt einer immer stär­ ker durch technische Programme regulierten Me­dienkultur. Dazu sind Foucaults wissen­ schaftstheoretische Arbeiten, welche sich mit der Logistik der Archive und Programme historisch befassen, ebenso zu rechnen wie die Neue Philosophie der Denunzierung der politischen Ver­nunft, die vitalistische Überwindung des Strukturalismus, die Restaura­ tion des Erhabenen, die Zirkulationsbewegungen und -beschleunigungen der Zeichen­ produktion bei Lyotard, Baudrillard und Virilio.66 Die Sprachphilosophien von Lacan und Derrida fügen sich ein in das Denkbild eines Netzes, mittels dessen der gegenmoderne Mensch sich aus seiner Verstrickung in den Terror der Historisierung herauswinden möchte.67 Dass gerade Kunst und Design, Graffiti und Video-Clips, dass technische Me­ dialisierungen aller Art die buntversprochene Fülle allseitiger Simulationen und Stilisie­ rungen in solchen Philosophien ebenso anheizte wie deren Rezeption und Recodierung durch Medienstrategien, wundert nicht, weil das philosophisch versprochene Übersprin­ gen der Grenze zwischen Begriff und Realität, das Verlassen des als träg empfundenen kritisch-rationalistischen Diskurses in solchen Darstellungen geradezu exemplarisch mittels technischer Manipulation verkörpert zu werden schien. Auf der Seite der Kunst machten sich die Künstlerphilosophien ebenso breit wie die neuen Philosophiekünstler auf der philosophischen und die Lifestyling-SimulationsStrategien auf der Designseite. Diese Tendenz hat als Verdienst die Frage an die transi­ torische Selbstwahrnehmung der wesentlichen Strukturen der Moderne. Das trifft, zum Ersten, ein entmachtetes Individuum und das Plädoyer für die Überwindung seiner mo­ ralischen Fixierung. Das trifft, zum Zweiten, das Verhältnis von gesellschaftlicher Pro­ duktivität, Fortschritt und instrumentell degenerierter Vernunft, gegen die ein Plädo­ yer für die Ohnmacht der Vernunft alles andere als einen strategischen Irrationalismus verkörpert (man sollte das motivierende Verzweiflungspotenzial hinter der Buntheits­ maskerade nicht unterschätzen). Das trifft, zum Dritten, die Loslösung einer ausgrei­ fenden Ästhetik von einem Funktionsbegriff, gegen den ein Plädoyer für zeichentheore­ tisches Selbstbewusstsein komplexitätssteigernd beansprucht werden muss. Das trifft, zum Vierten, einen subjektivierten Wahrheitsbegriff, der gegen die ontologisch-dogma­ tischen Relikte der modernistischen Monokultur Wahrheit als Differenzierung morali­ scher Maximen setzt, deren Ausdrucksformen der Utopie der Reversibilität und der In­ terpretation ihrer Voraussetzungen verbunden sind. Wahrheit kann auch diesseits des Dezisionismus zersetzt werden durch Aspektierung und Fragmentierung, durch die Ak­ tualisierung der Zeichensetzung gegen die Geschlossenheitsbehauptung der Systeme. ‚Postmodernismus‘ lässt sich also im Kern für eine Selbstkritik des modernen Lebens beanspruchen. Zumindest bis zum Punkt eines stilherrschaftlichen Umschlagens einer grenzüberschreitenden Vernunft in den Ästhetizismus suggestiver Vergleichgültigung bleibt die kritische Intention durchaus erhalten.

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Jenseits dieses Punkts allerdings etabliert sich weniger ein ‚Postmodernismus‘ des Zugriffs auf eine andere Kultur als vielmehr eine bloße Variante des fanatisierbaren Fundamentalismus in Gestalt einer ‚objeklosen Erweckungsbereitschaft‘.68 In diesem Fall wird Fiktionales unbesehen als Realität imitiert. Dagegen ist die Stilisierung des Zei­ chenhaften als Ausdruck des Arrangements von Zeichensystemen eine ästhetische Auf­ klärung der Fixierungen auf Eigentlichkeit, welche in der heutigen Medienkultur leicht auf der Seite der schwarzmagischen Suggestion zu Buche schlagen. ‚Postmodernis­ mus‘ indiziert gegen einen ästhetischen Positivismus, erst recht gegen den instrumen­ tellen Ornamentalismus einer abstrakten Kultur-Rhetorik den Zwang zum zeichenthe­ oretischen Fortschreiten des Fiktionalen. Er könnte ein zynischer Anti-Zynismus sein, der das Undurchschaubare und Pervertierte der praktischen Handlungsvernunft in der bürgerlichen Aufklärung radikal zur Anschauung bringen würde. Nicht, dass ‚Postmo­ dernismus‘ nicht mehr den ontologischen Ernst der Moderne teilt, ist ihm anzukrei­ den, sondern dass er auf dem Weg zum Durchschauen der Logik des Fiktionalen noch nicht weit genug fortgeschritten ist, sich selber als Ernstfall und nicht als fiktionale In­ terpretation setzt. Es reicht nicht, gegen die Differenzierungskraft der Kultur der Mo­ derne bloß formale Verfahren der Recodierung als neues ästhetizistisches Lebensgefühl zu behaupten. Es müsste die Indifferenzkraft des Indifferenten als Paradoxie einer Kon­ struktion der Differenz auf der Ebene nicht der Kultur, sondern des ästhetischen und strategischen Zugriffs auf Kulturmanipulation erwiesen werden. ‚Postmodernismus‘ als aktivierende Indifferenzleistung ist vermittelnd und fortschrittlich; ‚Postmodernis­ mus‘ als Zugriff auf das totale Lebensgefühl oder die Gestaltungsfreiheit des zynisch Funktionalitätsgebote verletzenden Designers ist, wie alle Unmittelbarkeitsbehaup­ tung, reaktionär. Die ästhetische Fiktion als Selbstdifferenzierung der kulturellen Sym­ bolisierungsakte verstärkt Handlungen, die sich auf subjektive Maximen stützen. Das macht sie ästhetisch als Besonderungen einsehbar. Wäre alle Wahrheit subjektiviert, dann wäre ein Bedeutungsanspruch nur auf dem Weg der Interpreta­tion zu stützen. So geartete Aufhebung der Differenz zwischen Realität und Begriff verkehrte subjektivierte Wahrheit in den Zwang, die Stilisierung ästhetischer Techniken zur subjektiven Un­ wahrhaftigkeit zu überhöhen. Damit entstünde eine neue Inszenierungsform von Sub­ jektivität, ein erneuerter Mythos. Die Liquidation seiner symbolischen Sprengkraft liegt heute, konträr zum Selbstempfinden, in der individuellen Fiktionalisierung, im macht­ strategischen Lifestyling. ‚Postmodernismus‘, der solches stützt, transportiert weiter­ hin den Bedarf an Subjektivität.

Geschrieben Anfang 1986; eine erste, hier redigierte und geringfügig erweiterte, mit einer zusätz­lichen ­Exposition versehene Fassung wurde publiziert unter dem Titel „Das Ringen um den Gegenstand: ­Design zwischen Kunst, Kult und Lebensform – Eine Kritik der Neuheiten in drei Teilen“ in der Zeitschrift Kunstnachrichten, Zürich, N° 6/1986, 1/1987, 2/1987.

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Der Titel ist einem Werk Daniel Spoerris von 1964 entliehen; es ist z. B. abgebildet in: Peter F. Althaus (Hrsg.), Die Metamorphose des Dings. Kunsthalle Basel, Katalog 1971, S. 121. Vgl. Diedrich Diederichsen/Dick Hebdige/Olaph-Dante Marx, Schocker. Stile und Moden der Subkultur. Reinbek bei Hamburg 1983. Utopische Visionen dazu liefern: Norman O. Brown, Love’s Body. München 1977; Herbert Marcuse, Marxismus und Feminismus. In: Wolfgang Dressen (Hrsg.), Jahrbuch Politik 6. Berlin 1974, S. 86 ff.; ders., Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 27 ff., 129 ff., 179 ff.; der psychoanalytische oder psychophilosophische Text ist aber nur ein Modell der Androgynen-Beschwörung; andere sind bestimmt als ekstatisches, schamanistisches oder klandestines Spiel mit Maske und Schminke, ritueller und symbolischer Verwandlung, die mit der Auf­hebung der Ausdrucksformen beginnt, deren erste die Geschlechtsbestimmung darstellt; dazu: Stephan Oettermann, Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa, Frankfurt a. M. 1979; Alfred Bühler, Die Maske – Gestalt und Sinn, Basel 1960; ­Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen a. a. O.; Mircea Eliade, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Zürich/Stuttgart 1957; Karl Kerenyi, Mensch und Maske, Zürich 1949; es ist nicht weiter erstaunlich, dass im Kult der Wildheit die Figur des Androgynen – eine Inversion der Tätowierung: Umkehrbarkeit der Körperschrift, Korrektur, Verwandlung auf Zeit – als Hauptfaszination der Pop-Kultur entwickelt wurde, von Mick Jagger über Alice Cooper, David Bowie bis zu Boy George und Michael Jackson, dieser mit der ja nur vorgespielten Akzentuierung der Geschlechtslosigkeit. Vgl. Paul Virilio, Ästhetik des Verschwindens. Berlin 1986. Bazon Brock, Vom kommerziellen zum kulturellen Videoclip. In: ders., Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978–1986. Köln 1986, S. 447 ff.; Veruschka Body/Peter Weibel (Hrsg.), Clip, Klapp, Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo, Köln 1987; Peter Weibel, Die Beschleunigung der Bilder in der Chronokratie, Bern 1987; Martin Burckhardt, Digitale Metaphysik, in: Merkur 472, Juni 1988, S. 528 ff.; Veruschka und Gabor Body (Hrsg.), Axis, Köln 1986. Vgl. Jean Baudrillard, Agonie des Realen. Berlin 1978 Das war in den 1960er-Jahren noch nicht heutiger Evidenz ausgeliefert; ebenso wenig war beispielsweise ablesbar, dass die radikale ‚linke‘ Kritik am Ästhetizismus eines Le Corbusier, die Leon Krier und andere unter dem Kampfprogramm „Wider die weiße Kalkschmiede“ vorgetragen haben, später diesseits der sozialen Impulse zur Schwundstufe einer Pseudo-Klassik degenerieren würde. So in der Werbung für das Antigone-Projekt; vgl. die Abbildung in: Hans Ulrich Reck, Imitationen. Von der echten Lust am Falschen, in: Zeitschrift für Semiotik 3/1988, Tübingen, S. 288 (Abb. 9). Vgl. François Burkhardt (Hrsg.), Joze Plecnik. Architecte 1872–1957, Katalog CCI Centre Pompidou, Paris 1986. Vgl. François Burkhardt, Vlastilav Hofmann. Architektur des böhmischen Kubismus, IDZ Berlin 1982; dies./Milena Lamarova, Cubismo cecoslovacco. Architetture e interni, Milano 1982; Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930, Katalog Wien 1985; Josef Hofmann, Ornament zwischen Hoffnung und Verbrechen, hgg. v. Peter Noever und Oswald Oberhuber, Wien 1987. Vgl. Harald Szeemann, Spuren. Skulpturen und Monumente ihrer präzisen Reise, Katalog Kunsthaus Zürich 1986; dieses Konzept hat Szeemann seither international mit einer Reihe ganz ähnlicher Ausstellungen variiert, ‚Aperto‘, ‚Zeitlos‘; zuletzt, November 1989, zur Neueröffnung der Hamburger Deichtorhallen unter dem Titel ‚Einleuchten‘; Thomas Virnich in: Szeemann, Spuren … a. a. O., S. 133 ff. Vgl. Barbara Radice, Memphis. Ricerche, Esperienze, Risultati, Fallimenti e Successi del Nouvo Disegn, Milano 1984. Vgl. Kontinuität von Leben und Werk. Arbeiten 1955–1975 von Ettore Sottsass, IDZ Berlin [Design, ­Materialien und Dokumente], 1976; François Burkhardt, Wie ein Stil ent­steht. Am Beispiel von Ettore Sottsass, in: Bazon Brock/Hans Ulrich Reck/IDZ (Hrsg.), Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, ­Lebensform oder Systemstrategie, Köln 1986, S. 153 ff. Vgl. Giacomo Balla, Werke von 1912 bis 1928, Katalog Turske & Turske, Zürich 1985, Abb. S. 65. Vgl. Gert Selle, Es gibt keinen Kitsch – es gibt nur Design. Notizen zur Ausstellung ‚Das geniale Design der 80er-Jahre‘, in: Kunstforum International Bd. 66, Köln 1983, S. 103 ff.; als Gegenposition bezüglich der Folgerungen aus demselben Sachverhalt: Bazon Brock: Modern ist’s, wenn man es trotzdem macht, in: ebda. S. 84 ff.; Hans Ulrich Reck, Müll. Abfall. Chaos – eine Möglichkeit, mit Relikten der Gütergesellschaft umzugehen, in: Tages Anzeiger Magazin 45/1984, S. 30 ff. Vgl. Mario Botta, Objets récents, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstge­schichte, Band 45, 1988 Heft 1, Zürich S. 43 ff. In eine problematische Richtung konzipiert von Michael Erlhoff, kopfüber, zu Füssen. Prolog für Animateure, in: Katalog documenta 8, Kassel 1987, Bd. 1, S. 107 ff.; s. die kritischen Betrachtungen in ‚Kunst-

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nachrichten‘ 5/1987, Zürich, bes. Harry Zellweger, Kunst im Kunstbetrieb, ebda. S. 147 ff.; Hans Ulrich Reck, Die Kunst der Sprache. Verkleidungsenthüllungen an der D 8, ebda. S. 140 ff. Abgebildet in: Tiefe Blicke … a. a. O., S. 401, Abb. 176; als philosophische, am konkre­ten Werk entwickelte Reflexion von Plastizität und skulpturaler Form im zeitgenössi­schen Kontext, Hans Ulrich Reck/Ludwig Stocker. Arbeiten 1956–1986, Basel 1986. Vgl. Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin 1983 S. 183 ff. Vgl. Henrich Klotz (Hrsg.), Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion, München 1986, S. 316 ff.; Terza Mostra Inter­nazionale di Architettura, 2 Bde., Venezia 1985, v. a. Bd. 1, S. 325 ff.; systematisch und methodisch, Colin Rowe/Fred Koetter, Collage City, Basel u. a. 1984. Vgl. Typisch dafür Zaha M. Hadid, die als trendbildende Architektin gilt, praktisch ohne ge­baut zu haben (ihr erstes und bisher einziges Werk wurde im Mai 1993 vollendet, das Feuerwehrhaus der Firma ‚Vitra‘ in Weil a. R.); die Verschiebung auf das Visuelle illustriert also in diesem Bereich des Funktionszusammenhangs eine Abstraktion, die den Zwängen der technischen Medienkultur entspringt und konträr zur Tradition der Architektur-Selbstinterpreta­tion steht; vgl. Zaha M. Hadid, Die Moderne im späten 20. Jahrhundert, in: Lucius Burckhardt/IDZ (Hrsg.), Design der Zukunft, Köln 1987, S. 1987; mit ‚Moderne im späten 20. Jahrhundert‘ meint Hadid sich selbst, und zwar exklusiv; an die Stelle der Kulturgeschichte tritt die Utopiezeichnung; wie andere Beispiele aus der jüngeren Vergangen­heit – Buckminster Fuller, die Metabolisten, Paolo Soleri, Archigram – entwickelt diese Zeichnungsvision sich zwar nicht außerhalb aller Realisierungsansprüche, Bauen verschwindet aber dennoch zunehmend in der Verschiebung der Wertschätzung auf ästhetische Strategien des Entwerfens. Tatsächlich sind technisch-reproduktive Perfomances solche Synthetisierungen; bei Laurie Anderson oder den Talking Heads (‚Stop making Sense‘) wird die Bühne als Welt­raum-Sphären-Projektionsschirm aufgebaut für die Multivision von Architektur, Design, Theater, Lyrik, Mathematik, Computertechnologien; in den verschiedenen Medien – Schallplatte, Film, Buch – lässt sich so die Konzeption neuer Bildsysteme und Rhetoriken erproben; vgl. von Laurie Anderson, United States, New York 1983; dies., Home of the Brave, 1986. Vgl. El Lissitzky, Proun und Wolkenbügel, hgg. v. Sophie Lissitzky-Küppers, Dresden 1977; ders., Ausstellungskatalog, Galerie Gmurzynska, Köln 1976; ders., Maler, Architekt, Typograph, Fotograf. Erinnerung, Briefe, Schriften, hgg. v. S. Lissitzky-Küppers, Dresden 1967; Kenneth Frampton, The Work and Influence of El Lissitzky, in: Architect’s Year Book 12, 1968, S. 253 ff.; zum Kontext u. a., Hubertus Gassner/Eckhard Gillen (Hrsg.), Zwischen Revolutionskunst und sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979. Vgl. Larissa A. Shadowa, Kasimir Malewitsch und sein Kreis. Suche und Experiment. Aus der Geschichte der russischen und sowjetischen Kunst zwischen 1910 und 1930, München 1982, S. 282 ff., 287 ff. [autobiografisch-reflektierende Texte von Male­witsch]. Solche Immanenz der Zeichen belegt nicht nur die Binnenwidersprüchlichkeit der Moderne, sondern auch die Ambivalenz ihrer neuerlichen, kulturkämpferisch angelegten Kritik; es wundert deshalb nicht, dass die Werke von James Joyce in der US-amerika­nischen Literaturkritik seit Langem als paradigmatisch ‚postmodern‘, d. h. als nicht mehr hierarchisch-zentralistisch strukturiert gelten; dazu kursorisch, Umberto Eco, Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, München 1984, S. 76 ff. Marcel Duchamp. Dokumentation, Kunstgewerbemuseum, hgg. v. Max Bill, Zürich 1960, S. 24. Peter Fischli/David Weiss ‚Der Lauf der Dinge‘ wurde an der documenta 8 1987 in Kassel gezeigt, vgl. Kurzbeschreibung in: CINEMA. Jahrbuch Schweizer Film 33, Basel/Frankfurt a. M. 1987, S. 149 f. Fischli/Weiss sind hier, nicht zuletzt aus medienspezifischen Gründen, zwar weniger raffiniert, dafür aber sozusagen naturalistisch evidenter als Sloterdijk. Vgl. Patrick Frey, Ein ruheloses Universum. Zu den gemeinsamen Arbeiten von Peter Fischli und David Weiss, Katalog Basel/Groningen 1985; in visueller Darbietung des ver­bindlichen Indeterminismus, Peter Fischli/David Weiss, Plötzlich diese Übersicht, Zürich 1982 Vgl. Claes Oldenburg, in: Katalog documenta 5, Kassel 1972, S. 13.7 ff. [Abt. 13, Seite 7 ff.]; Dieter Schwarz, Ein langes Interview mit Diter Rot, in: Kunstnachrichten Zürich, 4/1986, 5/1986, 6/1986. Vgl. Stephan Schmidt-Wulffen, Spielregeln. Tendenzen der Gegenwartskunst, Köln 1987. Ebda. S. 39. Vgl. ebda. S. 84. Vgl. ebda. S. 90. So ebda. z. B. S. 132. Vgl. ebda. S. 141.

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Vgl. ebda. S. 194 f. Vgl. ebda. S. 202. Vgl. ebda. S. 236. Vgl. ebda. S. 26, 96. Vgl. ebda. S. 74. So ebda. S. 143 f. Vgl. ebda. S. 194. Vgl. ebda. S. 227. Vgl. Rob Krier, Der Stil, das ist die Hirnfigur – Architektur zwischen Stilprotzerei und Ohnmachtsritualen, in: Brock/Reck/IDZ (Hrsg.), Stilwandel … a. a. O., S. 238 ff.; ders., Stadtraum in Theorie und Praxis an Beispielen der Innenstadt Stuttgarts, Stuttgart 1979, 3. Aufl. Vgl. Christopher Alexander, Pattern Language, a. a. O.; Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigungen und Tabu, Frankfurt a. M. 1988; Michael Thompson, Theorie des Abfalls, Stuttgart 1981; Richard Sennett, The Uses of Disorder, New York 1970. Vgl. Roman Jakobson, Semiotik … a. a. O.; Karl-Otto Apel, Transformation der Philoso­phie, Frankfurt a. M. 1973, 2 Bde., bes. Bd. 1, S. 106 ff.; Bd. 2, S. 157; Josef Simon, Philoso­phie und linguistische Theorie, Berlin/New York 1971, S. 1 ff., 13 ff., 50 ff., 81 ff.; Roderick M. Chisholm, Erkenntnistheorie, München 1979; Ernst Tugendhat, Vorle­sungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 1976, S. 35 ff., 127 ff., 197 ff., 472 ff. Vgl. im Kontext von Ecos Theorie des offenen Kunstwerks, Hans Ulrich Reck, Grenzzie­hungen. Ästhetiken in aktuellen Kulturtheorien, Würzburg 1991, Kap. 2.7. Zum semiotischen Problem der Priorität von Sprache oder Denken, Hans Ulrich Reck, Grenzziehungen … a. a. O. Kap. 2.9; paradigmatisch stehen die Theorien Jakobsons (Sprache konstituiert Denken) und Piagets (Denken liegt der Sprache voraus, bzw. geht über sie hinaus oder ‚hinab‘) in einem unvereinbaren Widerspruch. Vgl. Bazon Brock, Martin Kippenberger. Bildjournalismus als ästhetische Macht, in: Brock, Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit a. a. O., S. 524 ff. Das markiert z. B. den Schritt von Rainer Wicks ‚Zwischen Kunst und Design‘ (Kunst­forum Band 66) zu Christian Borngräbers ‚Das deutsche Avantgardedesign‘ (Kunst­forum Band 82; vgl. auch die Darstellungen Borngräbers in: Les Avant-Gardes de la fin du XXe Siècle. Nouvelles Tendances, Paris 1987, S. 79 ff.; ders., Berliner Design-Hand­buch, Berlin 1987); in seiner Collage-Edition bunter Möbel – ‚Design III, Deutsche Möbel. Unikate, Kleinserien, Prototypen‘, Kunstforum 99, Köln 1989, S. 63 ff. – entwickelt Borngräber seine Argumentation als Denunzierung meiner Überle­gungen, die – so Borngräber – nach einigen hoffnungsvollen Ansätzen voll­kommen ins Renegatentum frühmodernen Moralterrors regrediert hätten; unverändert drastisch in Inhalt und Tonlage wiederholt Borngräber seine äußerst rudimentären Betrachtungen zu meiner designtheoretischen Position in: Volker Albus/Christian Borngräber, Design-Bilanz. Neues deutsches Design der 80er-Jahre in Objekten, Bildern, Daten und Texten, Köln 1992 S. 16 f. Borngräber und Albus beziehen sich weder auf meine einigermaßen ausgreifende und ausgearbeitete Designtheorie noch auf die entsprechenden Fachbeiträge u. a. in den Editionen des Internationalen Design Zentrums Berlin. Borngräber verwendet meine Argumente, nachdem er sie radikal verdreht hat, nach ausschließlich selektiven und polemischen Gesichtspunkten. Zu seiner pauschalen Verurteilung meiner Theorie zieht er nur Teile einer Abhandlung bei, die in Auszügen im ‚Kunstforum‘ erschienen ist, sowie einen eher journalistischen Magazinbeitrag. Die Qualität der Argumentation scheint in etwa der Sorgfalt und Verweisgenauigkeit der beiden Autoren zu entsprechen, die sich keine Mühe geben, elementare Gebote wissenschaftlicher Arbeit einzuhalten, das Magazin „des Basler ‚Tagesanzeigers‘“ erscheint wie die gleichnamige Zeitung nicht in Basel, sondern in Zürich. Ein typisches Produkt der je dezisionistisch-subjektiven Lifestyling-Fixierung, die als Eigentlichkeit und Einzigartigkeit noch dort zu behaupten sich trachtet, wo Origina­rität und Urheberschaft längst abgeschafft sind, stellt dar, Diedrich Diederichsen, Sexbeat. 1972 bis heute, Köln 1985; das Problem ist nicht die durchaus nachvollziehbare und kompe­tente Darlegung des Autors; das Problem ist, dass in derartigem Zugriff gar nichts außerhalb des eigenen subjektiven Blicks mehr als Kulturthema dargestellt werden kann. Vgl. Bazon Brock, Design-Kunst 2. Klasse?, in: Volker Albus u. a. (Hrsg.), Gefühlscollagen. Wohnen von Sinnen, Köln 1986, S. 96 ff. Alessandro Mendini, Im Februar 1983, in: Rolf-Peter Baacke/Uta Brandes/Michael Erlhoff (Hrsg.), Design als Gegenstand. Der neue Glanz der Dinge, Berlin 1983, S. 88; vgl. außerdem die Statements von Mendini in: Wohnen von Sinnen … a. a. O., S. 72 ff. sowie die Darlegungen von François Burkhardt, ebda. S. 55 ff.

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55 Vgl. Oswald Wiener, Design für Unbewußte, in: Hans Ulrich Reck/IDZ Berlin (Hrsg.), Design im Wandel, Berlin 1985, S. 21 ff. vgl. weiter neben den Positionen von Lucius Burckhardt/Michael Thompson und Christopher Alexander ist speziell ge­meint, Helmuth Gsöllpointner u. a. (Hrsg.), Design ist unsichtbar, Wien 1981; als Kritik weiter, Hans Ulrich Reck, Gefrässige Kinder. Ironie als Planungskritik, in: Werk, Bauen + Wohnen, Zürich Nr. 6/1985, S. 12 f. 56 Alessandro Mendini, Im Februar 1983 a. a. O., S. 89. 57 Wolfgang Schepers, Neues Design und Dekor. Ein Gespräch mit Alessandro Mendini und Paolo Navone, in: Wohnen von Sinnen … a. a. O., S. 72. 58 Barbara Radice zu neuen Modellen von Ettore Sottsass, in: Wohnen von Sinnen … a. a. O., S. 258; dass solche armseligen Mystifikationen an vorderster Front die Hirne der zeit­genössischen Künstler faszinieren, belegt die allseitige Verfügbarmachung aller mögli­chen Mythen im Sinne eines ästhetizistischen Universalismus bloß subjektiver Künst­lerbezeugungen und Realitätssuggestionen im Vorbereitungsgespräch zu einer Aus­stellung über die Mythen Europas, welche sich allerdings schnell als Individualmythologien von vier separierten Künstlern herausstellten, Joseph Beuys/Jannis Kounellis/Anselm Kiefer/ Enzo Cucchi, Ein Gespräch, Zürich 1986. 59 Das Gegenteil ließe sich als Abwesenheit aller Gestaltung behaupten; eine solche naturge­schichtliche These reinen Funktionierens dazu trägt vor, Isolde Schaad, Der Un­gebrauchsgegenstand. Assoziationen zur Heimatlosigkeit der schönen Dinge von heute, in: Museum für Gestaltung Zürich (Hrsg.), UnbekanntVertraut. ‚Anonymes‘ Design im Schweizer Gebrauchsgerät seit 1920, Zürich 1987, S. 189 ff., v. a. S. 189; es handelt sich dabei um eine folgenschwere Mystifikation, Form erscheint als Funktionsgebot der Naturgeschichte; jede Interpretation erübrigt sich; die Welt erscheint als zuhan­dene, deren Ontologie sich im Gebrauchsdiktat der kulturellen Bewusstlosigkeit durchsetzt; dass Schaads Intentionen auf anderes zielen, ist anerkennenswert; mit diesem Ansatz aber wird ‚Naturform‘ nicht wahrnehmbar, d. h. ästhetisch nicht begreifbar. 60 Dafür schlägt Bazon Brock den Terminus der Gottsucherbande vor; vgl. ders., Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande, a. a. O. [Schriften Bd. VI, Die Gottsucherbande, ebda. S. 22– 100]; besonders klar herausgearbeitet in: Bazon Brock, Selbstfesselungskünstler zwischen Gottsucherbanden und Unterhaltungs­idioten – für eine Kultur diesseits des Ernstfalls und jenseits von Macht, Geld und Unsterblich­keit, in: documenta 8, Katalog, Kassel 1987, Bd. 1, S. 21 ff.; vgl. weiter Hans Ulrich Reck, Design, Kunst, Styling. Gestaltungsvisionen und Kulturkampf in der Ästhetik von Lebensformen im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Zürich 1/1988, S. 13 ff.; ders., Design als Macht. Gestaltung als ästhetisch verzeichneter Gebrauch, in: Hermann Sturm (Hrsg.), Ver­zeichnungen. Vom Handgreiflichen zum Zeichen, Essen 1989, S. 59 ff. 61 Vgl. Umberto Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks, in: ders., Apokalyptiker und Integrierte, ­Fischer Ff. 1984, S. 59–115. 62 Vgl. Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M. 1985, bes. S. 115 ff.; Lucius Burckhardt, Die Kinder fressen ihre Revolution, Köln 1985; Burghart Schmidt, Postmoderne. Strategien des Vergessens, Darmstadt und Neuwied 1986; zum Kontext der Weltbild- und Kunstdebatten, Dietmar Kamper/Willem van Reijen (Hrsg.), Die unvollendete Vernunft. Moderne versus Postmoderne, Frankfurt a. M. 1987; Hans Holländer/Christian W. Thomsen (Hgg.), Besichtigung der Moderne. Aspekte und Perspektiven, Köln 1987; Manfred Frank, Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt a. M. 1988. 63 Vgl. Burghart Schmidt, Postmoderne … a. a. O., S. 140 ff. 64 Vgl. El Lissitzky/Hans Arp, Die Kunstismen, Zürich/München und Leipzig 1925. 65 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Signes, Paris 1960, S. 158 ff.; ders., Le Visible et l’Invisible, Paris 1964; ders., Sens et Non-sens, Paris 1966, S. 145 ff.; ders., Die Struktur des Ver­haltens, Berlin 1976, S. 145 ff.; ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 244 ff.; Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt a. M. 1978; ders., Epistemologie, Frankfurt a. M. u. a. 1974; ders., Poetik des Raumes, Frankfurt a. M. u. a. o. J. [München 1975]; Georges Bataille, Das theoretische Werk. Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975, S. 33 ff. 66 Vgl. neben den einschlägigen, als Zeitgeisteruptionen jeweils umfänglich gewürdigten Werken von ­ André Glucksmann, Bernard Henri-Lévi, Maurice Clavel und Jean-Marie Benoist die Darlegungen bei ­Angèle Kremer-Marietti, Michel Foucault. Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. u. a. 1976; Günther Schiwy, Kulturrevolution und ‚Neue Philosophen‘, Reinbek bei Hamburg 1978; Nicolas Born/Jürgen Manthey/Delf Schmidt (Hrsg.), Der neue Irrationalismus. Literaturmagazin 9, Reinbek bei Ham­burg 1978. 67 Dazu kritisch Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a. M. 1984, v. a. S. 356 ff., 376 ff., 541 ff. 68 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985, S. 361.

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DESIGN UND SPRACHE Dinge gelten als Gebrauchsgebilde, aber Design ist zweifellos eine Sprache. Es produ­ ziert eine Sprache der Dinge für Benutzer. Aber das ist eine Oberfläche, und die Oberflä­ che erträgt keine Rekonstruktion einer Sprache als eines Bedeutungszusammenhangs. Ob Dinge eine Bedeutung über den Gebrauch hinaus haben, ist ungewiss und lässt sich kaum klären. Diese Schwierigkeit entspricht der anderen, nämlich, ob Bilder Bedeutung haben und wie denn die Gebrauchsformen von Bildern begreifbar werden. Offensicht­ lich gibt es eine Bildebene oder einen Bildbogen zwischen Bildern und Gegenständen als eine Art Schnittfeld durch Gefühle, durch ihre Kompositions- und Äußerungsweisen. Affektive, kognitive Beziehungen, Kraft und Macht der Gefühle, die sich im Gebrauch von Bildern und in der Sprache von Dingen äußern. Sprache und Design ist die eine Be­ ziehung, die andere, die in Dingen nur angeschnitten auftaucht, die zwischen Bild und Gegenstand. Gibt es einen inneren Mechanismus, der Bilder und Objekte steuert, ist es denkbar, dass die Spezies Mensch auf der einen Seite Bilder sich macht, denkt, imagi­ niert und auf der anderen Seite produziert, handelt und dass beides nichts miteinander zu tun hat? Oder gibt es einen äußeren Mechanismus des Unterschieds, der sich genau beschreiben lässt? Oder ist die Gefahr größer, einen Mechanismus zu suchen, um ihn nicht zu finden, weil wir das Leben für ein zu komplexes Argument halten, als dass wir uns einen Mechanismus denken möchten, der unsere Beziehung zu Gegenständen als Selbstbeziehungen liest und damit den Mechanismus unserer Bildproduktion als Be­ dürftigkeit klärt? Es gibt in jedem Falle eine erkenntnistheoretische Dimension in der Beziehung von Design und Sprache, das ist die Beziehung von Bild und Ding und die Beziehung von Subjekt und Objekt. Erkenntnistheoretisch ist diese Beziehung deshalb, weil offensicht­ lich unsere Redeweise und den Handlungszusammenhang, den sie ausdrückt, von ei­ nem Gebilde abhängt, in dem einige Grundaspekte und Entitäten den gesamten Zugang zu unserer Dingwelt und damit zu unserer Rezeption, unserer Aneignungskapazität er­ klären. Es kommt, kurz gesagt, darauf an, wie viele grundlegende Orientierungspunkte und Strukturelemente man annimmt. Nun ist die abendländische Weltanschauung auf der Dualität und Exklusivität zweier, und nur zweier Realitätskomponenten aufgebaut: auf Spiritualität und Materialität, auf Geist und Materie, auf der völligen Trennung von einem Ich-an-Sich und einem Ding-an-Sich. Nun allerdings sehen wir heute, dass die Einrichtung von Informations- und Nutzungssystemen zwischen Subjekt und Objekt und zwischen Bild und Gegenstand und zwischen Sprache und Dinge ein System von Kommunikation und Information setzen, das sich nicht auf eine der zwei Komponenten reduzieren lässt. Information ist weder Materie noch Energie (Norbert Wiener). Die ky­ bernetische Realität, die Überwindung des mechanischen Zeitalters, der mechanisier­ ten Arbeit, des maschinellen Produzierens und auch der Mechanisierung von Freizeit und Konsum – das ist, was heute sich äußert als eine Kultur, ablesbar an Moden und Kunsterzeugnissen, Gewohnheiten und neuen Jugendkulturen, an der Computerisie­

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rung des Lebens und auch der Perspektive, die Dinge, die man braucht, über Computer direkt an die Produktionsstätte anzuschließen. In diesem ‚kybernetischen Zeitalter‘ wird das vorangehende Zeitalter in seiner Me­ chanik durchsichtig, aber auch der Zusammenhang von Bildern und Dingen. Es ist, wie wenn nun die Bilder aus den Dingen treten und die Dinge Funktionen von Gebrauchs­ weise, die primär über Bilder sich konstruieren und als Bilder Realität haben. Damit aber muss man den Bereich der Bilder, der Informationen und Kommunikationen erst­ mals auch erkenntnistheoretisch ernst nehmen im Sinne einer nach-aristotelischen Lo­ gik. Hier sind wichtig die Arbeiten von Gotthard Günther1. Produktion von Information erscheint als Freiheit, sich im Gebrauch von Symbolen zu betätigen. Man muss also zwi­ schen den Subjekten und den Dingen diese Eigendynamik der Bilder und Symbole ernst nehmen. Wichtig ist diese dritte autonome Ebene, die Erkenntnis einer dreiwertigen Metaphysik und der neue Reflexionsprozess. Dreistellig Logik bedeutet: Neben die Ordnung der Dinge und die Selbstgewissheit des Subjekts tritt die Ordnung der Symbole, Zeichen, Bilder, Bedeutungen, der Elemente einer Information – und Kommunikation, die eine neuen Modus von Reflexionsbildung und von Reflexionsidentität ermöglichen. Der abendländische Dualismus hat hier Ein­ sichten verstellt. Das klingt heute nach in der Debatte um jene Modelle nachgebauter Erkenntnisse, die unsere menschliche Existenz zu gefährden scheinen: Simulationsmo­ delle von Information, die mit Bewusstsein ausgestattet werden können, Denkmaschi­ nen, die dann schöpferisch sind, wenn die Konstrukteure in ihrem Programm definieren könnten, was schöpferisch denn eigentlich meint. Aber es gibt ein altes Problem, das im Dualismus der zweiwertigen Logik und besonders der platonischen Lehre von den zwei getrennten Welten verschwunden ist, obwohl es von Platon selber mitbezeichnet worden ist: die Frage nach einem Medium, einem Dritten, das die Sichtbarkeit der Dinge in die Einsehbarkeit von Sachverhalten, Ideen etc. verwandelt.2 Dinge sind irgendwie sichtbar. D. h. wir verbinden mit den Dingen das Sichtbare, Greifbare. Was aber ist denn sichtbar daran? Nicht der Gegenstand als solcher und nicht das Sehen als solches sind sichtbar, sondern Dinge und Blicke. Ist das Unsichtbare sichtbar, das es doch gibt, zum Beispiel als Plan, als Disegno, als Entwurf? Platon: „Wenn wir in unseren Augen auch Sehkraft ha­ ben und sie anwenden wollen, und wenn an den sichtbaren Dingen auch Farbe ist, so weißt du doch, dass das Gesicht nichts sieht und die Farben unsichtbar bleiben, wenn nicht noch ein Drittes dazukommt, das eigens dafür geschaffen ist.“3 Und Sokrates, der an dieser Stelle in Platons Polylog das Wort führt, meint mit diesem Dritten das Licht. Es gibt zwei Arten von Dingen: die sichtbaren und die einsehbaren, zwei Arten von Wahr­ nehmungsmodi: das Sichtbare und das Einsehbare. Dinge sind sichtbar, Ideen sind ein­ sehbar, das Sichtbare ist eine Abbildung des Einsehbaren, auch sein Schatten. Das Nachgebildete ist wie das Meinen gegenüber dem Erkennen: eine ungewisse Angelegenheit. Dieses Ungewisse ist nach Platon grundsätzlich charakteristisch für die Welt der Gegenstände. Nur die Urbilder, die Ideen sind klar erfassbar, aber nicht mehr im Modus der Sichtbarkeit, sondern des Einsehens. Platon sagt nicht, dass die Ideen die Substanz der Dinge bedeuten würden, er sagt nur, dass die Dinge es nie zu einer ­relevanten Aussage bringen können. Warum also soll man sich Gedanken machen über

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die Dinge? Die Bedeutungen liegen doch auf der Ebene der Dinge nicht vor, sie schei­ nen nur als Bilder vorzuliegen. In genau diesem Sinne ist die Sprache des Designs oder die Sprachform der Dinge trügerisch – was soll damit gemeint sein? Dass die Dinge For­ men haben, reicht dazu nicht. Denn die Idee als Bedeutungszusammenhang selber exis­ tiert nur als abstrakte Entität, nicht als Ding, sondern als Bewegung des Einsehens, mo­ derner und klarer gesagt: als Bewegung der Aneignung, des Flusses, der Wahrnehmung und Wirkung der Dinge hinsichtlich von Bildern, die wir an sie herantragen. Die Dinge verwandeln sich also gerade wenn wir sie als Sprache ansehen in Bilder – sie verlassen den Raum des Dinges und verflüssigen sich. Dinge, die geschaffen sind, unsere Bedürf­ nisse zu befriedigen, sind exakt Dinge, die wir uns nicht bewusst machen. Bewusstsein und Bedürfnisbefriedigung schließen sich aus – das eine bedarf einer Bewegung, die an­ dere zielt einzig auf Ruhestellung und Mattheit. Werden uns die Dinge bewusst, dann sind sie Bilder, Abstrakte, und dann ist ihre eigentliche dingliche Gestalt ein Betrug an diesem Bild. Und als Dinge, die bestimmte Bilder einlösen, haben die Dinge nicht die Funktion, diese Bilder bewusst zu halten, sondern im Gegenteil, sie zu stoppen und ihre Dynamik einzufrieren. Es gibt eine Grenze von Dingen und Bildern überhaupt, nicht nur eine zwischen ihnen: jene Bedeutungen, die gar nicht mehr wahrnehmbar sind, sondern nur noch denkbar. Ein Ding ist wahrnehmbar, eine Güterproduktionsgesellschaft auch, eine Ver­ wandlung der Gesellschaft nicht mehr. Es gibt Dinge, die nicht mehr wahrnehmbar sind, sondern nur noch denkbar. Und es gibt etwas, das man auf keine andere Weise erblicken kann als mit einem vernünftigen Nachdenken.4 Dieser Unterschied zwischen Sichtbar­ keit und Einsehbarkeit ist für den Zusammenhang von Theorie und Praxis wichtig, und damit auch für den besonderen Fall einer Sprache der Dinge und einer Logik der Ge­ staltung. Das Konzept der Gestaltung ist ein Ideenzusammenhang, etwas Abstraktes, et­ was Nichtgreifbares, etwas, das artikuliert, erläutert werden muss. Eine Gestalt des Kop­ fes. Die Dinge sind zuerst im Kopf, bevor sie in die Welt kommen. Jedes Ding enthält einen Plan, ein Konzept, ob es das nun zeigen will oder nicht. Die Sprache der Dinge, die Sprache des Designs – das ist zunächst eine rekonstruierende, reflexive, eine philoso­ phische Sprache, die mit verschiedenen Methoden Unterscheidungen zu erzielen ver­ sucht am Stellenwert der Dinge, den ausdrücklichen rhetorischen und den impliziten semiotischen Bedeutungen eines Dinges. Diese Sprache siedelt sich im gesellschaftli­ chen Feld zwischen Bedarf und Bewusstsein an – sie zielt auf eine Unterscheidung zwi­ schen der Realität und dem Versprechen der Dinge. Und dann gibt es diese andere Spra­ che, die der Rationalisierung des Konzepts, des bewussten Erzeugens der Dinge gemäß dem Profil einer Idee, eines Ideenzusammenhangs. Diese Sprache würde ich die produ­ zierende nennen, im Unterschied zur rekonstruierenden. Offenbar meint die Überlegung der Sprache des Designs, die Untersuchung der gesellschaftlichen Rechenschaft der Gestaltung, die Verantwortung, die Meinung, erst der Designer liefere Theorie und Gegenstände für die schlecht luxurierende, instru­ mentelle und zugleich allein im Modus der Zerstörung verschwenderische Gesellschaft, meint die Rede vom Design als Sprache die rekonstruierende Sprache. Die Methoden dieser Sprache: Hermeneutik, Rezeptionsästhetik, Reflexion. Die produzierende Spra­

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che der Dinge meint aber anderes, meint die scharfe Bezeichnung des Umwandlungs­ punktes einer Idee in eine Gestalt, meint also die Bewegung der Vorstellungen auf der Hirnrinde. Die produzierende Sprache des Designs meint das Problem des Verhältnis­ ses von Argumentation und Intuition, meint die Rationalität des Selbstbezugs eines Ent­ werfers, der mit Idee auf seine eigene Vision reagiert, meint das Verhältnis des Entste­ hungszusammenhangs von Bild und Idee zur Rationalisierung der Dinggestaltung als Ausdruck einer wohlgeordneten und der sozialen Interaktion vermittelten Idee. Das ist eine unklärbare Angelegenheit. Lassen wir das Problem der inneren Konstruktion der Umwandlung von Bildern in Ideen, aus denen dann Dinge entstehen können. Wenden wir uns dem Verhältnis von Argumentation und Intuition zu. Ein Dimensionierungspro­ blem. Beispielsweise ein Tisch. Beispielsweise ein Handlungsablauf. Beispielsweise Ge­ genstände als Ikonen in einer Biografie, einem komplexen Handlungsablauf. Kriterien der Intuition können nur argumentativ sein. Zeigen, dass die Vision als Intuition disku­ tierbar sein muss. Die Intuition meint zunächst eine Entgrenzung vom reflektierenden Verstand, meint ein Treiben in Gefühlen und Bildern, meint einen Schöpfungsvorgang, der eben nur zustande kommt, wenn er dem zergliedernden analytischen Verstand ent­ gehen kann. Aber die Intuition erhält kein Gefäß, wenn sie nicht einer Argumentation nicht nur zugänglich ist, sondern sich öffnet, indem sie ihre Resultate sich selber vor Au­ gen bringt. Die Argumentation ist die Form der Wahrheit der Intuition, und die Wahr­ heit meint eben die Sprache der Gegenstände. Die wohlverstandenen Gegenstände, die Dinge, die wahr sind, sind die Gegenstände, die wir zu brauchen meinen. Es geht nicht um die innerästhetische Sprache der Dinge als Bilder, sondern um die Aussage der Dinge als Bilder und diese Aussagen hängen ab von ihrer Formulier­ barkeit. Für Gestalter bedeutet das: Bildschöpfungen zu finden, die aussagekräftig sind. Das sind zunächst Bilder, die ihn vital ansprechen auf der Ebene eines Nicht-Artikulier­ ten. Dann muss die Prüfung erfolgen, ob diese Bilder sozial und ästhetisch relevant sind. Und wie geschieht das? Aufgrund eines weiteren Bildes: des Weltbildes von der Struktur der Gesellschaft. Ich nehme hier diesen extremen Fall, der nichts mit der Berufsrealität zu tun hat. Dort geht es auch um eine Prüfung von Bildern und Visionen, aber nicht im Modus der Bedingung der Einsehbarkeit des Angezeichneten – der Gegenstand ist im­ mer eine Bezeichnung von etwas anderem, was soll denn sonst die Sprache der Dinge heißen oder meinen? –, sondern im Modus der Verkäuflichkeit. Erkenntnistheoretisch kollidieren die Verkäuflichkeit und die Einsehbarkeit der Dinge. Die Brauchbarkeit ist ein begrenztes Kriterium. Denn einsehbar ist, was begründ­ bar ist, und brauchbar, was der Begründung nicht bedarf. Brauchbar ist, was für sich steht, der Explikation nicht bedarf und was zum Erfolg seines Versprechens führt. Das Resultat ist das Verschwinden des Dings, das gebraucht worden ist. Es gibt dafür zwei Formen, entsprechend dem Unterschied von haltbaren und konsumierbaren Dingen. Die haltbaren Dinge des Brauchens verschwinden im dunklen Fleck der Gewöhnung, die konsumierbaren Dinge verschwinden als Dinge, die ausgesaugt, verzehrt und ange­ eignet sind, sie werden Abfall. Abfall wie Gewohnheit ist, was nicht wahrgenommen wer­ den kann. Aber was geschieht mit der Sprache, wenn die Dinge ihr Kriterium darin fin­ den, auf Dauer angelegt zu sein, die nur funktioniert, wenn sie nicht wahrgenommen

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wird oder als Abfall zu verschwinden im Maße der Dienstbarkeit? Nun, es gibt zum Ver­ hältnis von Argumentation und Intuition andere Bereiche der Erläuterung. Ich greife zwei davon heraus: die Entwicklung der Informationsgesellschaft, d. h. die Ablösung der schriftlich orientierten Gesellschaften durch neue bildproduzierende Medien zum ei­ nen und zum zweiten die Veränderung der Berufsrealität des Gestalters am Ende der mechanisierten Arbeit und der maschinisierten Güterproduktionsgesellschaft.5 Dann ist in diesem Kontext wieder aufzugreifen: die dritte Sphäre der selbstgesteuerten Sys­ teme, der zweiten Epoche der Kybernetik. Die Eigenbedeutung der Informationskultur, das exterritorialisierte kollektive Bildgedächtnis. Entscheidend ist hier der platonische Bezug: Es gibt Dinge, die erreichbar sind nur über ein vernünftiges Nachdenken. Und prinzipiell: Es gibt ein begriffliches und ein anschauliches Denken. Die These von der Sprache des Designs lässt sich deshalb stützen, wenn man zeigen kann, dass es keine Anschauung gibt, die nicht eine Denkform ist. Reine Anschauung, reine Intuition, das wären dann: Konzepte, die sich nicht explizieren lassen wollen, Argumente, die Evidenz behaupten, wo sie sich begründen müssten. Die Vision der Bilder und der Gegenstände in ihrer Unmittelbarkeit ist eine, die auf Mystifizierung hin angelegt ist. Ein Mythos, der Rationalität vernichten will und soll. Unterschied mythisches und modernes Bewusst­ sein. Status der Bilder für das moderne Bewusstsein; die Grundthese: Aus Dingen wer­ den Bilder für den symbolischen Diskurs, für die Notwendigkeit der Symbolisierung, des Verständigungsvorgangs. Das bedeutet: Die Dinge treten zurück. Wichtig werden erneut die öffentlichen Dinge, der dingliche Charakter der Bilder. Aber die Dinge treten zurück. Und hier wä­ ren endlich neue Kriterien der Gestaltung einsehbar: Gestaltung von Szenarien, von Ein­ richtung der Benutzbarkeit, vom Fluss, von der Inszenierung, aber nicht mehr der Dinge. Interessant dazu ist die Diskussion um die Leistungen der guten Form. Und zwar auf dem Hintergrund der sozialen Einrichtung von Bildwelten, die auf die Symbiose von an­ schaulichem und begrifflichem Denken hinauslaufen, die den Status von Bildern klä­ ren, die Hierarchie der Denkfunktionen und der Modalitäten etc. Platon, nochmals: Ver­ stand (‚nous‘): Einsicht, Ruhe; Vernunft (‚dia-noia‘): Erörterung, Unruhe. Was Wahrheit stiftet, ist nicht mehr dem essenziellen Modus der Wahrheitsfindung, d. h. der substan­ ziellen Konsistenz unterworfen. Was Wahrheit IST, stiftet Wahrheit, indem es ist, aber nicht mehr im Modus des Reflektierbaren, sondern der Anschauung, des ruhigen Den­ kens. Es gibt bestimmte Dinge, die auf keine andere Weise erreichbar sind als über ver­ nünftiges Nachdenken. Das aber bedarf der Erörterung und der Auseinandersetzung, also der Dialektik. Design ist eine Denkmethode, das ist der Schluss aus der Überlegung über den Sta­ tus der Dinge. Uns beunruhigt ja mehr der Verschleiß an Bildern als der Verschleiß an Dingen. Das Beispiel gute Form. Was sich mit Dinge überhaupt machen lässt. Dazu ist auszuführen: Die Reinheit der Formen, das Paradiesthema, der Zeitkontext heute: die neureligiösen Bewegungen, die stille Apokalypse der Produktesprache, die geläuterten Formen. Das erreichbare profane Paradies, durch die geläuterten Formen hindurch.6 Strittig ist nicht so sehr das Verhältnis von Intuition und Argumentation als viel­ mehr das Verhältnis von Theorie und Design. Macht das Formulieren einer Theorie die

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Herstellung von Dingen immer korrumpierbar? Theorie wäre dann die Programmerläu­ terung für die Produktionseinheit, die jeweils diese Dinge herstellen kann/will. Aber die Grenzen der Theorie liegen woanders: Machbarkeit IST immer eine Theorie, aber diese Theorie ist unzureichend. Man beachte den Zusammenhang der positivistischen Er­ kenntnistheorie und der Produktionsformen; und die Aporien einer guten rationalen Form. Weiter das Problem der Neutralität: Güter als Projektionsmöglichkeit auf der ei­ nen Seite. Das Gefühlsdefizit auf der anderen Seite. Vision der guten Form als einer po­ sitiven Technologie, die das Lebensnotwendige ermöglicht und damit ein Paradigma zu Ende bringt: das der Güterproduktionsgesellschaft. Denn: Wenn irgendwann END­ LICH die Herstellung der Güter eine funktionsgerechte, haltbare, dienstbare etc. Form findet, dann ist das doch unerlässlich: Denn die Abdeckung/Realisierung/Schaffung/Er­ zeugung der elementaren lebensnotwendigen Güter ist eine Angelegenheit nicht einer Gestaltungssprache, sondern einer Notwendigkeit. Die gute Form indiziert sinnvoller­ weise das Ende der Güterproduktionsgesellschaft überhaupt. Wenn die Dinge dinglich die gute Form erhalten haben, DANN können wir uns doch endlich um Substanzielle­ res kümmern – Zusammenhang einer guten Form, der industriellen Form, mit der In­ dustrieform der Förderung des Verkaufs einer Nationalwirtschaft. Die Ethisierung der Produkte ermöglicht die spezifische Industrie. Ist Technisierung immer ein Fortschritt? Veränderung im Berufswert der Professionalisierung: anstelle der Qualifikation die so­ ziale Betroffenheit. Das aber ist nur möglich durch eine falsch verstandene Ethisierung der Gestaltungstätigkeit. Warum haben die Gestalter Verantwortung und nicht die Pro­ duzenten? Weil wir in einer Gesellschaft leben, die ungeheure Ästhetisierungsbedürf­ nisse hat, einer Gesellschaft, für die Funktionen ein Hebel sind und Dinge nur gut, wenn ihre Gestalt schön. Deshalb der Verdacht gegen Gestalter, sie als Formende hätten ein Bewusstsein von Form und Ästhetik als Verführung. Weiter ginge es mit dem Verhältnis von Produkteform und sozialen Tugendty­ pen. Hier bleibt zu fragen: Lässt sich ein Kriterienkatalog abschließend, umfassend, ko­ härent formulieren oder beschreiben/bezeichnen die Kriterien eben nicht gerade im­ mer nicht-exemplifikationsfähige, intuitive Haltungen, ein spezifisches Vorwissen um gut und schlecht und dass man schon immer genau weiß, was gut ist und was schlecht. Was sind exemplifikationsfähige Kriterien der Gestaltung? Man muss das erkenntnis­ theoretisch klären, kann das nur so, und muss deshalb unterscheiden zwischen: 1. der Rekonstruktion einer Produktesprache, 2. der Symbolisierung von Weltbildern, 3. der deskriptiven Klärung von Geltungsansprüchen. Nur der Punkt 3 ist im strengen Sinne explikationsfähig. Was können inszenierte Gegenstände vermitteln? Um das weiter zu klären, ziehe man die Mythentheorie bei Roland Barthes zurate. Weitere auszuführende Punkte wären: Ebenen der Machbarkeit; Entscheidungsmodelle/­Entscheidungsebenen zwischen Strukturen und Gegenständen; Diskussion unserer Lebensweise; Sachver­ stand (analytischer Kopf) und Entscheidung; Fortschritt, lineare Machbarkeit; nicht-­ triviale Rückkoppelungen.

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Geschrieben, ohne direkten Publikations- oder Vortragsbezug, am 24. Juni 1984. Der Charakter der hier f­ estgehaltenen Notate beinhaltet zuweilen Abkürzungen, ja pauschale Nennung von Bezügen in Kürzeln, was hier absichtlich nicht geglättet oder eliminiert worden ist.

Vgl. Gotthard Günther, Das Bewußtsein der Maschinen, Baden-Baden 1963; ebda. S. 23 zur „­Sich-Selbstgewissheit des Erlebnisichs“, S. 34 zu Information als Freiheit. 2 Vgl. Platon. Der Staat, Buch VI., 509 ff. 3 Ebda. 4 Vgl. ebda. Buch VI, Abschnitt 21. 5 Vgl. dazu André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a. M. 1980. 6 Erkenntnistheoretisch wäre dies weiter zu erörtern entlang von Gotthard Günther (s. o.), Maschinen­ theorie, Thompson, Abfall. Gadamer: Sprache und Dinge. Marx: Fetischismuskritik. 1

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7  Nach der und trotz der Moderne – ­Exempel und Diskurse

7  Nach der und trotz der Moderne – ­ Exempel und Diskurse Vorab: Diverse Beispiele und Beispielgebungen sind hier maßgebend. Sie können nicht zu einem kohärenten und monolithischen Großgebilde zusammengefügt werden. Als Beispiele markieren sie aber, dass eben modernes Leben eine evidente und habituelle Selbstverständlichkeit darstellt die nicht ohne Weiteres als disponibel betrachtet oder für überwunden ­angesehen werden kann. Spielräume in Räumen, Rhythmen der Zeit in der Zeit, Muster von Erfahrungen, modellierte gesellschaftliche Wahrnehmungsformen, also spezifische Einrichtungen des Imaginären machen sich geltend. Sind typisch oder atypisch für bestimmte Tendenzen, auf deren Valenz man sich, ebenfalls eher intuitiv, geeinigt hat. Wohnmodelle, persönliche Initiativen sind hier zum Beispiel relevant. Aber auch Muster der Nachbildung, Nachfolge, Prozesse des Imitierens, Klischeebildungen, die hier als Formen rückbezüglicher Differenzierung, also Ausgangspunkt für weiterreichende Veränderungen und nicht als hinderliche, abgelegte und abgewertete Formen eines allzu Bekannten und B ­ ehäbigen betrachtet werden sollten.

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ABWEISUNGEN, VAGE ERINNERUNGEN: GEGEN GESTALTETE ZEIT 1 Erinnerungen besetzen immer einen Raum des Gegenwärtigen. Ihre Intensität bemisst sich nicht an der Spiegelungskraft eines verlorenen Selbst, zunehmend verzweifelt in den Verästelungen seiner eigenen Geschichte. Intensität bildet sich als reine Präsenz. In der Augenblicklichkeit ihres Gelingens bricht die beruhigende Vorstellung homogener Zeitlichkeit zusammen. Damit wird eine Unmittelbarkeit suggeriert, die der Ordnung der Chronologie entzogen ist. Gestaltung indessen arbeitet auf die Linearität des Überdauerns hin; sie schließt präsentische Intensität aus. In ihrem Herrschaftsanspruch über die momentanisierende Zeit und punktuelle Intensität erweist sich die Geschichte der Gestaltung deshalb als Technik der Macht: Erinnerung soll in gestalteter Umwelt aufgehen. Die Naivität solcher Gestaltungsdoktrin ist weit verbreitet. Es scheint psychisch beruhigend zu sein, eine aus allen Rudern gelaufenen Wirklichkeitserfahrung mit Ordnungskorsetten zu stützen, welche die Figurationen des Wahren identisch nach außen verlagern. Solche Suggestion kümmert sich nicht um die Folgen einer identitätsbildenden Auslagerung der Zeitkontrolle, sondern bloß um die guten und wahren Ausdrucksbilder – im Unterschied zu den falschen, nostalgischen und ideologischen. Wen aber interessiert eigentlich, als lebendiges Wesen, die Gestaltung der U ­ mwelt? Bedeutet solches Interesse mehr als nur eine moralische Zuwendung zu Verirrungen ästhetischer Ausdruckspsychologie, die jede Intensität und Unwillentlichkeit e­ iner nicht an stoffliche Ausdrucksträger gebundenen Erinnerung verfehlen muss? Dies ist kein Plädoyer für einen wie immer aus Enttäuschungen genährten Nihilismus in der v­ italistischen Nachfolge Nietzsches. Der Versuch, die Alltäglichkeit der Erinnerung als einen ästhetischen Ausdrucksmechanismus genau zu beobachten, versteht die Abwehr aller Verführungen zu Intensität und Taumel und somit einer präsentisch fragmentierten und ausgedehnten Zeit als Verdrängungen. Solcher Verdrängung fügen sich viele Gestaltungspraktiken ein, denen offensichtlich jede Erfahrung des ungeheuren Schmerzes im Zeitpunkt des Intensiven fehlt. Ihre Ästhetik – im Namen welcher guten Form auch immer – ist das Instrumentarium einer eigentlichen Moral-Dressur. Gestaltung, die sich derart gegen die Zeitverfallenheit des Momentanen immunisiert, behandelt die Wirklichkeiten als linear zu erobernde Territorien, als Addition verfügbarer Punkte auf einem der Zukunft verpflichteten Zeitstrahl. In dieser Perspektive erscheinen die ästhetischen Kontrastpunkte moderner Gestaltung – Avantgarde und Kitsch – nicht alternativ, sondern strategisch kongruent. Beide operieren verdeckt in derselben positivistischen Logik, die das Wirkliche der homogenen Form überwältigter und gebannter Zeit unterwirft. Deshalb ist mittlerweile nahezu alle Gestaltung imperial und insofern immer pan-ästhetisierend. In diesem Gestus eliminiert sie Erinnerung: Denn Zeitintensität sprengte das Kontinuum historischer Homogenisierung.

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Panästhetisierung aber will – ob in moderner oder postmoderner Ästhetik spielt keine Rolle – die Differenz zwischen Konzeption und Erfahrung heilsgeschichtlich neutralisieren. Ohne Einbezug dieser Verdrängungsbewegung kann man von Gestaltung nicht mehr sprechen. Die kleinteiligen Gefechte um Teilwahrheiten lassen ihren eigentlichen Verzweiflungsgrund, den Kampf um eine lineare Zeit, in den Lächerlichkeiten ästhetischer Selbstbehauptung untergehen. Wenn es aber einen Zusammenhang zwischen dem vorläufigen Ende der Ost-West-Antagonie und dem Triumph der Kultur­gesellschaft als inszeniertem Design gibt, dann gründet er in der alltäglichen In­ strumentalisierung der aus Politik, Ökonomie, Metaphysik und Wissenschaft längst entschwundenen Heilserwartung.

2 Erinnerung ist eine Konstruktion wie das ‚Ich‘, das ihr Ereignisse zuordnet, sie erzeugt und bildet. ‚Ich‘ versteht unter Erinnerung den Bruch mit der verwalteten und disziplinierten Zeit. Deshalb halte ich Gestaltung immer dann für eine Katastrophe, wenn sie Qualitäten des Lebens zu Objekten verstofflicht. Dann nämlich tritt die gestaltete Umwelt an die Stelle der gelebten Zeit. Und darum betreibt jede Behandlung der Umwelt als Ausdruck der in Bildern verfügbaren Erinnerung und jede Inszenierung des Historischen als des sogenannt Gegenwärtigen deren Zerstörung. Beleg dafür ist unendliche Leere der wohlgestalteten Umwelt in so zahlreichen Dörfern und Städten, genauer: in jenen Randzonen der Agglomeration, in denen eine naturhaft überwältigte Architektur auf eine längst historisch neutralisierte Natur trifft. Ich plädiere demnach nicht für ‚wahre‘ Erinnerung und ‚richtige‘ Geschichte. Zu leisten wäre vielmehr eine ästhetische Konfrontation mit der Unmöglichkeit, der Gestaltung Geschichte aufzubürden, ohne die Erlebniskonfigurationen des Präsentischen zu zerstören. Im besten Fall veranschaulicht Gestaltung, die Erinnerung konstruieren will, ihre strikte Selbstwidersprüchlichkeit: Sie steht für etwas, das sie braucht, um es auszuschließen.

3 Erinnerung soll diesem ‚Ich‘ entgegen methodisch angeleitet sein. Sie wählt beliebige Ausgangspunkte: einen Text, ein Buch, einen Film – Bilder und Metaphern, aus der Evokation eines Gesehenen, zuweilen bloß Vermuteten. In diesem Raum des Imaginären schreibt sich methodisch angeleitete Erinnerung ein. Ihr Spiel mit den Metaphern vollzieht sich nach einem eigenen Muster, geht jedenfalls in Bilder ein. Möglicherweise erklärt das die Obsession, welche Bannkraft des in die Imagination Verwobenen freisetzen mag. Im Falle von Werner Schroeters Film Malina, nach Ingeborg Bachmann, hat

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diese Obsession mit der Ungeheuerlichkeit vor allem eines Gegenwärtigen zu tun: mit dem Spiel von Isabelle Huppert, den Selbsteinkreisungen der Beschreibenden. Zu leben bedeutet hier, dem Skandal des Bleibenden, des Überdauernden ausgesetzt zu sein. Nichts mehr übrig außer den Wünschen, im Unbeweglichen dem Wahn des ‚Ich‘ entfliehen zu können, Stein zu werden. Wäre doch alles eine Sequenz von Bildern, die wir uns vom Leben erträumen, dann reichte der engste Raum, um zu leben. Was aber, wenn in den Bildern bereits das Leben unerträglich wird und das Wirkliche zum Erlittenen, das zum Verschwinden zwingt? In die Wand sich einsenken. Nochmals sagen: Es war Mord. Oder: Hier hat keine dieses Namens je gewohnt. Was aus zwei Mündern so verschieden spricht, ist der Inhalt des Lebenskampfes. Die eine Sicht: Was vorübergegangen ist, trägt in sich die Unermesslichkeit unüberwindbaren Leidens. Die andere: Nach dem Verschwinden richtet sich der Triumph des Überlebens schonungslos gegen alle Spuren des Gewesenen. Der letzte Blick aus der sich schließenden Ritze eines Gemäuers gibt so eine Wirklichkeit preis, die immer Aufhebung des anderen ist. Selbstauslöschung zahlt den Preis der Selbstvergessenheit als Tribut an das Überdauern. Nachdem alles vorübergegangen ist, bleibt nichts, von dem sich plausibel sagen lässt, es ist, was da gewesen ist. Keine Verzeichnung, keine Bewegung bleibt, es sei denn, Halluzinieren würde wieder zum Text, der doch einzig um die Notationen des Todes sich dreht.

4 Das Problem des Lebens lässt sich als Versuch der Verbildlichung jener Erinnerung lesen, die kein Objekt kennt, sondern nur die Erfahrung einer stetigen internen Bewegung zwischen der Klarheit der Gegenstände des Sehnens und den Undeutlichkeiten der Bilder. Nicht die Verstofflichung der Erinnerung allein zähmt Geschichte im äußerlichen Idyll, sondern ebenso die innere Bereinigung der Drohungen zu Bildern. Das Problem des Lebens als Problem der Bilder. In jedem Moment, in beiden Richtungen. Erdrückt von der Fülle des Lebens noch im Banalsten. Entrückt das andere Mal in den Worten, die, je näher zum Leben sie sich versprechen, es umso deutlicher verfehlen. Dazwischen die Permanenz der Verzweiflung. Erinnerung ist immer ein Zwang zur verschiebenden Wiederholung, zur Durcharbeitung, die ihren Stoff nicht meistert und das Drohliche nicht bezwingt. Erinnert werden muss alles. Überlagerungen, Verschiebungen. In Malina, dem Film, flackern zum Schluss in einem irrsinnig gewordenen Raum Feuer. Zerrissene Kleider liegen herum wie zerstückelte Körper. Was aber bedeutet Verzweiflung anderes denn als Innehalten in der Anordnung des Erinnerns? Wenn wir stetig in die Erinnerung gezwungen sind und die illusionäre Gegenbehauptung eines Unmittelbaren in der Unerbittlichkeit der Zeit zerfällt, wenn ein Nach-Erleben des Versprechens eines ‚Jetzt‘, Echtheit bloß wiederholt unterm ewig gleichen Mondschein an gleichen Orten, überall – wenn solches zu leben ganz und gar unsinnig ist, dann gibt es keinen Grund mehr, dem Leben und seinen Erinnerungen nachzutrauern. Dann nämlich können wir dazu übergehen, im klaren Bewusstsein der Bedeutungslosigkeit jene Geschichten zu

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erzählen, die wir kennen und in deren Banalität wir uns vom eschatologischen Bann des Verzweifelns befreien, der ja doch nur, Sartre und Camus zeigen es wie viele andere, den Diskurs einer heillos allmächtigen Metaphysik ex negativo bekräftigt. Offenbar ist das Wirkliche immer auch eine mythologische Erzählung, die außer der Begegnung mit dem durch sie Erzählten keine weitere ontologische Referenz zulässt. Wie sonst wäre zu erklären, dass Geschichtsschreibung als ausdeutend erzieherische Formung der Mythen sich aus jener Erinnerung begründet, die mit der magischen Rache schuldsuchender Vernichtungsmacht belastet ist? Jeder hat ein Anrecht auf diesen Fluch: Fortschreiten der Kultur bedeutet, nur noch die lächerlichsten Geschichten, aber keine Bluträusche mehr hervorzurufen. Wenn kein Raum mehr existiert, dann müssen Geschichten erzählt werden. Ende der Metaphysik, Ende des Traums vom guten Menschen, der die Eroberungspolitik der neuzeitlich-abendländischen Gesellschaft begleitet und die Tabuisierung der Machtpolitik bruchlos ans Design unserer Gegenwart weitergegeben hat. Nicht erst die Designkritik erweist, dass Design zum Kompensationsspiel geworden ist und zum Synonym für die selbstangestrengte Unbewusstheit jener Geschichtsphilosophie, als welche die Gestaltungsdogmatik sich zu behaupten trachtet.

5 Unter der Vorgabe einer Identitätsverweigerung wird das ‚Ich‘ zu einer Idee des Vagen. Es reflektiert ein geliehenes Selbst, das aus der vorgegaukelten Sicherheit seiner Erinnerung den Stoff des Erinnerten gerne in einer Weise ordnet, dass die Schrecken des Präsentischen handhabbar werden. Daraus entstehen Erzählungen, die bedeuten, was sie meinen, aber keineswegs im Sinne von Beschreibungen des Wirklichen. Dies umso mehr, als das gewesene, erfüllte ‚Jetzt‘ sich zwangsläufig im Vorgriff auf die Zukunft setzen möchte. So erinnere ich mich eines Platzes in Basel, der seit vielen Jahren nicht mehr besteht. Eine Mauer trennte unterschiedliche Bereiche. Die Barfüsser-­Kirche, ­damals schon Museum, schloss den Platz hinter der Mauer ab. Sie war noch nicht neu verputzt, und die unterirdische Verbindung zum Theater bestand ebensowenig wie der kultur­ geschichtliche Lehrspaziergang entlang der Grabsteinfragmente. Dieser Platz wurde traditionellerweise von einer bestimmten Generation, im Zeichen der Bewahrung einer Gleichzeitigkeit unter verschiedensten Akteuren also, in Beschlag genommen. Noch unberührt von späteren In-Stand-Stellungen, dieser ästhetischen Notstände amtlicher Planung, war nichts wichtig außer dem Vorhandenen, dem Momentanen: ein simples So­-Sein, das simpel wurde nur durch die Aneignung. Die Vorstellung, es so zu belassen, wie es war, hätte die schlichte Ausblendung jedes Gedankens an eingreifendes Handeln verlangt. Realität schien hier das zu sein, was nicht anders gedacht oder gesehen werden muss, weil jede Abweichung ohnehin bedeutungslos bliebe. Die Entropie-Drohung eines solchen Raums der Zeitenthobenheit im kulturellen, nicht im physikalischen Sinne, schreckt nur den, der an die metaphysische Konsistenz des Selbst glaubt und ‚ich‘ sagt, wo nichts Derartiges gemeint sein kann.

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Die in aller Öffentlichkeit vollzogene Heimlichkeit mache ich, erinnernd, als die Unvergleichlichkeit dieses Platzes aus: ein dunkler Fleck im Licht des Allgemeinen. Da aber diese Erinnerung durch die Unzulänglichkeit alles Erinnerns geprägt ist, kehrt sich die historische Evidenz um. Kontur erhält nur, was dereinst gewesen sein wird, und nicht das, was war. Die Vollkommenheit des Platzes erscheint damit als ein ‚Jetzt‘, das aus post-präsentischer Sicht verkörpert, was dem nachholenden Resümee als unveränderlich erscheint. Für alle Design­-Gläubigen vermag deshalb nur die historisch getreu bewahrte Geschichte durch wahrheitsfähige Konsistenz die Identität des Selbst zu sichern. Fetischismus heißt das bei Karl Marx: eine Praxis undurchschauter Handlungen, die sich mythologisch als stoffliche Natur setzen. Aus solcher Sicht war der Platz unansehnlich für die, die in ihm nichts sehen konnten. Irgendwann wurde umgekrempelt. Stadtmöblierung und Puritanismus bezeugen nun den Ordnungsgeist der immer aggressiver auftretenden restaurativen Ästhetik, die bloß der Alltags-Allegorie der Früchte des guten Regiments den passend kleidsamen Historismus liefert. Ein neues Verhaltensdesign dehnt sich auf den urbanen Raum aus. Was nicht dem reichtumsästhetischen Gepräge entspricht, muss wegsaniert werden. Das sah zunächst harmlos aus, geriet aber bis heute flächendeckend. Solche ‚Austrocknung der Sümpfe‘ verrät den Triebgrund der Maßnahmen: ein libidinös erzwungener Krieg gegen das subjektiv Unausdenkliche, gegen die Negation des Wertsystems des Eigenen, festgemacht als das Böse des anderen in der Erscheinungsweise des Dreckigen. Diese Reinigung gelingt aber im Grunde nicht wegen der Gleichgültigkeit der Vertriebenen oder der Macht der Planer. Sie gelingt wegen der sich unweigerlich gegen sich selbst richtenden Reinigungskraft der Mnemosyne. Erinnerung funktioniert aufgrund der Unerbittlichkeit einer durch Grenzverletzung in Gang gebrachten Entsorgungslogik. Kurze Momente einer Irritation: Wie hat das früher ausgesehen? Verschwimmende Bilder und abgrundtiefes Misstrauen gegen die Erinnerungsfähigkeit bleiben zurück. Die Anpassung an das so Veränderte steht in geheimer Komplizenschaft mit der Unfähigkeit zur präzisen Erinnerung. Nichts ist demnach korrupter als ein Bewusstsein, das von der Bedeutung von Geschichte immer dann spricht, wenn das Präsens des Intensiven mit Bann belegt werden muss. Jede Geschichte erzählt von der Unfähigkeit, sich dem Diktat der vergehenden Zeit bedingungslos zu unterwerfen. Wer sie einklagt, möchte innehalten, wo nicht aufgehalten werden kann. Die Identitätssuche, nicht ihre planerische Zersetzung, ist das eigentliche Problem. Aus der Bewegung des Erinnerns geht ein anderes ‚Ich‘ hervor. Ich bilde mir einen eigenen Raum gegen die Herrschaft der Zeit. Meine hypothetische Geschichte – das sich erinnernde ‚Ich‘ als Konstruktion seiner früheren Erlebniszeit – bemüht die lockende Erzählung, sie finde in den fixierten Räumen keinen Platz mehr. Ich wünsche mir gegen das tatsächlich Erinnerte, meine Geschichte besäße Raum, weil sie keines Raumes mehr wirklich bedarf. Raum wird zu einem Denkbild der Hinterlassenschaft von Zeit, an die ich das Unwiederbringliche der Geschichte verweise. So träume ich mir den Wunsch eines Glücks, das nur ich habe, obwohl ich nie dar­ über verfügen kann. Einmal im Nachklang eines Glücks nochmals in dessen beiläufig intensivierte Zeitfülle eintauchen, bis Zeit überhaupt aufgesprengt wird und innehält. Vergeblich – wie immer ich mich wende, die äußeren Räume, Fassaden, Angesichte, die

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Gesichtspunkte und Physiognomien: Unerbittlich wird alles sich gleich bleiben. Ich erfahre daran, dass gewiss nicht ich es bin, der gegen solche Kontinuität von Generationen bis hin zu Jahrhunderten angehen könnte. Was ich mir als Raum und das mir Zugehörige denke, ist letztlich nur, was mich triumphal negiert. Zwischen dem Handlungstraum und dem steinern-tödlichen Triumph der überdauernden Instrumente, der ‚longue durée‘, besteht eine zwingende Verbindung. Deshalb kann nur in einer Zeit bemühter Nervosität und darin scheinhaft kompensierter Handlungsunfähigkeit von Identität und Heimat gesprochen werden, von Permanenz und ‚genius loci‘, vom Kollektiv und den anmutigen Einzigartigkeiten unverwechselbarer Baugestalt. Fernand Braudel beschreibt eindringlich, dass nicht die Ästhetik der eingreifenden Ereignisse urbane Lebensformen prägt, sondern das Alltagshandeln des Immergleichen, unterhalb der Darstellungswürdigkeiten von Geschichte und Politik. Deshalb liegt die kollektive GeistesVerfassung in der Designsphäre am offensten zutage. Geltung und Überflüssigkeit der Thematisierung bedingen darin einander: Wo von Geschichte und Heimat als von sinnstiftenden Orientierungsgrößen gesprochen wird, die Zurückzugewinnen wären, da sind sie unwiederbringlich verloren. Der Triumph der Kulturgeschichte rechnet mit der Unlesbarkeit der jeweiligen Präsenz. Deshalb die Strategie-Diskussion: in Geschmack wandert ab, wor­über sich nicht verfügen lässt. Der ethnologische Blick tötet, stellt Fremdheit her, wo er von außen meint, Eigenes als Selbst-­Zurechnung identifizieren zu müssen.

6 Gerade die wirkliche Erfüllung rechnet zur Hölle des Täuschungsverdachts, der wächst, je länger ein Gewesenes darauf insistiert, wieder anwesend zu sein. Terror des erfüllten Augenblicks; ewig gesucht, um ihn immer dann preiszugeben, wenn er sich einstellen könnte. Sisyphos stößt den Stein selber in die Tiefe, zurückschreckend vor dem Moment, in dem es ihm gelänge, ihn auf dem Gipfel ruhend zu halten. Ich erinnere mich an die wirklichen Orte nur, weil sie das Mitnehmen meiner Geschichte überdauert haben. Die Verstörung ist nicht das schreckliche Ende, sondern die Voraussetzung des Erinnerns. Was war, ist aufgehoben, und wird ganz anders als es je gewesen ist. So zeigt sich an der Vermessenheit meiner ‚mémoire involontaire‘, die mich zuverlässig allein im Glücksversprechen betrügt, dass es keine Geschichte gibt, kein damals, sondern nur eine komplex geschichtete Konstruktion des Jetzt. Zeit tritt an die Stelle des Raumes: Erzählzeit nicht als Erlebniszeit, sondern als Selbstverteidigung gegen die Versteinerungen einer geordneten, chronologischen, am roten Faden verfolgten Geschichte. Wie es gewesen ist? Es ist vergangen. Einen zurückbleibenden Raum: ich fände ihn nur durch die Geschichte, verliere also die Geschichte wieder, häufe als Gegenwart die künftig wirksamen Lasten einer besetzenden Historie an, die ich erneut erzählen muss, um ein weiteres Jetzt zu besetzen. Zunehmend stelle ich mir selbst dann, wenn ich die Möglichkeit stetiger Eingriffe ­ ntlitz‘ voraussetze, unter Geschichte etwas Unveränderliches vor. Das ‚geschichtliche A der Städte wäre eines vor und nach diesen Eingriffen zugleich: eine transzendentale

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Idiotie. Genau das aber möchten die langweilig gewordenen Konzepte vom Primat der Wahrnehmung oder vom kleinstmöglichen Eingriff festschreiben. Eine Metaphysik des Nicht-Gestalteten lässt sich nur dem errichten, der die Welt schon besitzt. Kritik muss demnach gelesen werden als Kompensationsfigur der akzeptierten Ohnmacht, die auf Gestaltung von außen setzt, weil sie anders kein Eigenes hätte. Es scheint besänftigend zu sein, Ohnmacht zu externalisieren. Dass sich dafür der Platonismus anbietet, liegt auf der Hand: Seine Wirklichkeitsversagung sichert dem Primat der Ideen ein unbeschränktes Herrschaftsrecht schon dadurch, dass es Wirklichkeit als Verrat an dieser idealen Eigentlichkeit schlicht immer gibt. Gewiss: Seit Gestaltung exzessiv triumphiert, um Geschichte zu erzeugen, die sie dadurch verhindert, zieht sich Geschichte in sich zusammen. Immobilien für den historischen Ort können nicht mehr länger als Aktien eines platonischen Schlaraffenlands gehandelt, sondern müssen als Spieleinsätze gesetzt werden. Das noble Außerhalb zeigt, dass die Rede vom unsichtbaren Design sich letztlich der Guten-Form­-Religion unterwirft: Reinheitswahrung durch Tabuisierung des Eigentlichen unter Eliminierung des Widerstands. Definieren wir Wirklichkeit als das, was sich diesem Entzug verweigert, dann wird Geschichte am meisten dort verfehlt, wo ihre Inszenierung im Namen der Identität stofflich werden soll. Geschichte abzubilden und zu inszenieren gelingt nicht. Darüber hinaus müsste erst noch gezeigt werden, was solches, gelänge es, anderes zutage fördern würde als die Selbstvergessenheit eines Terrors, der in Identität zwingt, was – eben da und insofern es Geschichte ist – darin gar nicht gefasst werden kann.

7 Geschichte demnach als Lebenszeit ohne Raum. Die Vorstellung, Erinnerung hänge vom Existieren bestimmter Räume ab, ist die Vorstellung einer Kultur, deren Tätigkeiten sich zu lange über das Denkmodell kontinuierlicher, ausmessender Koordinaten definiert haben. Dabei sind Koordinaten gerade nicht Ortsbestimmungen, sondern bloß Namen: Sie liefern dem identifizierenden Denken einen Erinnerungsgegenstand und der Ortsfixierung eine mathematische Funktionsformel. Ich erinnere mich, in Bern einmal, es war im Winter 1978/79, in einem Lokal gewesen zu sein, dessen Aura sich mir präzise aufbewahrt hat und das mir dennoch Vorstellungsbilder verweigert. Bewegungen und Worte erschienen mir genau und indifferent zugleich, verschwenderisch und darin nicht mehr zeitgebunden. Die intensive Gegenwärtigkeit verschiebt sich nachträglich in eine ‚nature morte‘, die mit unerschütterlicher Genauigkeit das Gepräge noch des Beiläufigsten physikalisch festgehalten und in ihr ­Tableau integriert hat. Das gelang, weil das Reale ungreifbar wurde und wie die Imagination seiner Differenz, d. h. als tagträumend Unwirkliches erschien. Woran ich mich erinnere, kann ich nie mehr finden. Was davor und danach sich eingeschrieben hat, ist eingegangen ins Vorgestellte, erfahren als Irgendwie eines Existierens, das weder besteht noch verschwindet. Gegenüber solch durchaus realem Tag-Träumen erscheint der

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­städtebauliche Anspruch von Architektur als Versuch, alles Unwägbare und Ambivalente von Inszenierungen zurückzunehmen in vergleichsweise dumpfe Formen einer Anmutungsmaschinerie. Hat man die Intensität des Jetzt und die Dichte des Präsentischen im Auge, dann wird die Erfahrung auch des Metropolitanen zu einer Sinnenleistung. Dem sich selbst überlistenden Bewusstsein, das die Szenarien historisierender Inszenierung auf undurchschaute Verhaltensmechanismen zurückzuführen vermag, ist metropolitan, wer für das Metropolitane einen Riecher hat. Damit aber rechnet jede Agglomeration und selbst die vorgebliche Provinz zum Metropolitanen, geht es doch um die Poetik des Augenblicklichen, um Kategorien des Bruchs, nicht um ästhetische Messlinien. Erführe einer an den Rändern die Zurückgeworfenheit seiner selbst auf Unruhe: Er erkennte das Metropolitane anderswo und würde einfach weggehen. Metropole beginnt demnach dort, wo Planungen ein Scheitern zugestanden haben. Im Triumph der Gleichgültigkeit, in der Feier des Unnützen, in verstreuten Momenten, als ob die Tage, Morgen, Nächte ineinandergeschoben, rückwärts und zu gleicher Zeit sich vollziehen. Solchem Aufbruch wird selbst der Gang entlang von Bauten, die die Notwendigkeit einer moralischen Herrschaft übers Ästhetische zu belegen scheinen, zu einem Schritt in die Verweigerung der Zuschreibung. Welche Poesie doch Orte haben können, an denen alles falsch ist, gesichtslos, unsorgfältig, hässlich. Denn dieses Hässliche hat als einziges die Kraft, zeitgemäß angepasste Schönheit zu verkörpern, als unendliche Banalität der gleichlautenden Erfahrungen, wiederholbar nur in der Wiederholung, sie reproduzierend, eine reine Form der Bewegung. Nur in der Ekstase der Indifferenz bliebe das Echte zu retten, das nicht erst im Nachhinein, sondern gegenwärtig und vor sich selbst schon lächerlich wird. Sich dort einzurichten, in dem was keine Überhöhung mehr erträgt, das wäre der selbst verschuldete Nullpunkt der Gestaltung und zugleich der Ort, an dem alle erzieherische Ästhetisierung als geschichtsphilosophische Onto-Logik der Lebensangst gelesen werden könnte. Dieses Indifferente ist das sich als Wirkliches Setzende. In dieser Erinnerung als dem gleichzeitigen Erleben solcher Erfahrung verlieren sich, neben den Gesten des immer Gleichen, die erinnerten Stoffe, die Lebensspuren und Physiognomien. Eine neue Form des Unterscheidens wird ermöglicht: diejenige Radikalität des Augenblicklichen und Einzelnen, das bloße Ästhetisierung als Fremdbeschreibung zurückweist. So ist mir der Raum jenes Lokals, innen und außen, wahrlich einer der unansehnlichsten und banalsten, einer der eindringlichsten geblieben. Weil er nichts war und nichts enthielt, schien er fähig, der Geschichte der damaligen Augenblicke eine Form zu geben. Solche Bewegung treibt, verallgemeinernd, Geschichte über ihren Bestand hinaus.

8 Geschichte gilt mir als das, was ich vorfinde und was ich, vorgreifend, meinen Nach-Erzählungen unterordnen kann. Das Tiefste im Leben kann nur das Banalste eines solchen ‚objet trouvé‘ sein. ‚Gestaltung‘ wird zu einer Denkfigur des Merkwürdigen, brauchbar

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nurmehr als Beschreibung eines Selbstwiderspruchs: ‚Wahre‘ Gestaltung wäre doch nur die peripherste Erfahrung des Profanen, vergehend, zerfallend, unhaltbar, etwas, das Leben nicht in Dinge, Zeit nicht in Raum, Zerfall nicht in Dauer, Poröses nicht in Geschlossenes, anderes nicht in Eigenes verwandelte. Raum schaffend Raum belassen – solches Gewähren-Lassen ist entscheidend, und entschieden im Einklang mit dem, was ohnehin nicht aufzuhalten ist. Die Verklärung des Tatsächlichen kann niemals Leistung von Geschichte werden in jenem Sinne, den Identität von der Empirie fordert. Der ästhetischen Legitimation hergestellter Identität ziehe ich das Lob des hemmungslos Gewöhnlichen vor.

9 Eine Wohnung an der Grenze des Brauchbaren ist mir wichtig geworden. Billig, nur das Allernötigste; es hat nicht hineingeregnet, das war schon alles. Funktional und im Übrigen von Zwängen gefüllt, die ich zunehmend als bewusstes Training an mir selber einrichtete, mit Arrangements, die ich mir dadurch erträglich zu machen suchte, dass ich ihre Absurdität laufend steigerte und die Auswirkungen meiner Kollision mit dem Realen zu komplizieren trachtete. Verschiedene Wohnungen und Geschäftsräume zweigten aus einem großen Treppenhaus ab, Stationen und Knoten ineinander verschachtelter Räume. In meine Wohnung drang wenig Licht. Das gegenüberliegende Haus lag in wörtlich zu nehmender Griffnähe. Ich kannte mich aus in seiner Physiognomie, den Rissen und Windungen, Geräuschen und Jahreszeiten, die ich synästhetisch meist über Geruchsqualitäten wahrzunehmen lernte. Manchmal fielen einige Sonnenstrahlen direkt in den zweigeteilten Raum. Das war im Frühsommer. Ansonsten sah ich Licht nur als Streiflicht und in geometrisierenden Schattenwürfen. Die Wohnung lag außerhalb der Zeit. Das ist mir wohl ebenso entgegengekommen wie die Tatsache, dass sie seit Langem verbraucht war und auch so wirkte. Das ‚dort‘ war kein ‚damals‘. So etwas lässt sich einrichten durch schuldige Beobachtungen, durchzogen von der Unruhe des unwissenden Sehnens, das sich präventiv Verletzungen und Widersinnigkeiten einrechnen muss. Tägliche Handlungen sprachen noch im Nebensächlichsten von der Wahrheit des Inszenierten: Nie hätte sich solche Neigung zur Mythologisierung einlassen dürfen auf den suggestiven Ernstfall, selber und aus sich heraus Geschichte zu werden. Beruhigend wurde, dass der Raum davon merkwürdig unberührt zurückblieb; vielleicht war er zu alt, solchen Vitalismen Tribut zu zollen. Der Wohnung eignete – mit einem dazu verschobenen Ausdruck – Geduld. Das machten Pausen und Leerheilen möglich. Es ging nicht um Rückzug, sondern darum, sich an das zu gewöhnen, was da war, wie es war. Erst die Belebung verschob den Raum ins Gegenstandslose, Unfassliche. Entgegen dem Selbstverständnis der Moderne, die der Welt geistige Radikalität aufzwingen will, formt einzig das subjektgleichgültig Physische – ohne Anstrengung – Leben. Ich lernte, eine Wohnung zu gebrauchen, ohne auf sie aufmerksam werden zu müssen, nutzte sie wie eine bewährte Formel, deren Begründung und Herleitung ­unbezweifelbar

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und im Übrigen von mir gar nicht zu beurteilen waren. Die Wohnung wurde zunehmend zur Stadt, mit ihr verwoben, ein diskontinuierliches Feld beliebig gestreuter Geräusche. Der Lärm des Spielsalons drang bis um Mitternacht von der einen, derjenige der Kneipen-­Gänger von der anderen Seite in die Wohnung. Am Klang vermochte ich Tages- und Nachtzeiten auf die halbe Stunde genau zu schätzen. So war der Raum unter der Hand zur Entzifferung der Zeit geworden. Zeit war mir gleichgültig, eine Uhr brauchte ich damals nicht. Vieles häufte sich an, das bis heute keiner besonderen Begründung bedarf. Außen lagen Räume und Orte wie Inseln, unnütz, voller Müßiggang. An die Stelle des ‚Ich‘, das mir damals auf immer verdächtig wurde, trat der Raum in Korrespondenz zu anderen, meist halluzinierten und dennoch fasslichen Räumen. Ihr Gebrauch kondensierte sich, unerbittlich erschöpfend, in einer intensiven Gegenwart, die sich bei ähnlichem Schmerz immer wieder einstellt – was gibt es Zeitloseres als den Moment empfindenden Schmerzes? Der Schmerz der Erfüllung reicht weiter als der ängstliche Wunsch und garantiert das Scheitern aller Mühen um Erfüllung. Bauten und Eingerichtetes dürften solchem Scheitern nie im Wege stehen, sondern müssten ihm ein Maß bieten. Begriffene Geschichte lässt einen sich nie einrichten. Räume auf Zeit, mit wechselnden Zustimmungen, sind alles, was bleibt. Alles Gebaute determiniert die gleichzeitig bloß geliehene Zukunft; zu ihr selbst aber ist nie zu gelangen.

10 Bilder einer leeren Weite, welche die Zeit stilllegt im permanenten Aufruf, aufzubrechen. In dieser Weite wird Raum wieder Zeit, zerstreute Intensität überall. Bruce Chatwin beschreibt in seinem Buch In Patagonien diese Zerstreuung als Form einer Präsenz, die an kein Ich, keine Chronologie, aber auch an keine Gestaltungsmöglichkeit mehr gebunden ist.

Eine erste Fassung wurde geschrieben am 25. Juli 1991; Redaktion und letzte Korrekturen am 14. Januar 1992; veröffentlicht unter dem identischen Titel „Abweisungen, vage Erinnerungen: gegen gestaltete Zeit“, in: Überall ist jemand. Räume im besetzten Land, Publikation zu einer Ausstellung im Museum für Gestaltung, Zürich 1992. Der Text hat einen ausgreifenden Kontext, der sich u. a. in zwei längeren, bisher nicht publizierten, nicht endredigierten Abhandlungen Ausdruck gegeben hat: „Avantgarde und A ­ gonie. Kommentare aus einem besetzten Land“ sowie „Ausschluss und Selbsttäuschung. Die Schweiz als ästhetisches ­Phänomen und Exempel“ (Arbeitstitel). Im September 1995 habe ich zwei Stücke aus diesem Typoskript für einen Katalogbeitrag ausgearbeitet. Dieser Text ist unter dem Titel „Avantgarde und Agonie. Zwei Dekonstruktionen“ erschienen im Katalog zur Ausstellung Sicherheit und Zusammenarbeit des Museums für Gestaltung Zürich; vgl. Ulrich Binder/Martin Heller (Hgg.), Handbuch über Sicherheit und Zusammenarbeit, Museum für Gestaltung Zürich, Stroemfeld/Roter Stern Verlag, Zürich/Basel/Frankfurt 1995.

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MÜLL, ABFALL, CHAOS – EINE MÖGLICHKEIT, MIT RELIKTEN DER GÜTER-GESELLSCHAFT ­UMZUGEHEN Vorspann Unter ‚Design‘ versteht man üblicherweise eine industriell verwertbare Entwurfsarbeit, eine Technik der Gestaltung von Dingen. Produktionsfähige Gegenstände erhalten ein endgültiges Gesicht, ihr ‚Styling‘. Die Hamburger Designerin Claudia Rahayel macht ein Design, das sich davon unterscheidet. Sie erfindet nicht neue Objekte, die in Serie produziert werden könnten, sie bietet keinem Produzenten Prototypen an. Jeweils zu den ‚Sperrmüllterminen‘ streift sie mit dem Auto durchs nächtliche Hamburg und sammelt Ausgeschiedenes, aber Brauchbares. Abfalldinge, von Menschen als nicht mehr passend aus der Wohnung verbannt, sei’s aus einer Laune, sei’s aus einem Geschmackswandel heraus. Claudia Rahayel baut diese Dinge um, kombiniert Versatzstücke verschiedener Herkunft, oft unvereinbar im Stil. Was dabei herauskommt, unterscheidet sich von den auf Luxus getrimmten Restaurationen und den nostalgischen Objekten z. B. der 1950erJahre. Die Dinge funktionieren zwar, aber sie bedeuten mehr, sind eine Art Installation von Gegenstand, Raum, Licht, Gebrauch, Belustigung. Das nennt sich ‚Re-Design‘ und stellt auch eine Möglichkeit dar, mit den Energie- und Arbeitsproblemen der Überflussgesellschaft umzugehen. Im umgebauten Abfall werden zugleich Spuren sichtbar einer neuen, mehr an der Inszenierung von Ereignissen interessierten Kultur.

Haupttext In Hamburg ist, wie in jeder Großstadt, die Abfuhr von Sperrgut, oder, wie das dort heißt, ‚Sperrmüll‘ ein Alltagsphänomen. Die verschiedenen Quartiere werden in einem Zyklus von drei Monaten bedient. Aber irgendwo findet sich täglich eine Strecke Sperrmüll die Straßen entlang. Wer will, kann dem nachgehen und jeden Abend suchen und wühlen – Kitsch, Dreck, Brauchbares, manchmal Funde, im Überdruss weggeräumt, früher verehrt, heute gehasst. Es gibt genügend Sperrmühlwühler, die auf Funde hoffen, die sich antiquarisch verhökern lassen. Jemand, der die Suche im Sperrmüll systematisch betreibt, ist Claudia Rahayel, Absolventin der Hamburger Hochschule der Künste, Abteilung Design, nur halb interessiert an der professionellen Designszene, in der sie eigentlich nicht arbeiten möchte. Monatelang fuhr sie dem nächtlichen Chaos nach, das in vielfältiger Form auf den Bürgersteigen zu finden ist. Zuerst im Zusammenhang mit einem Studienprojekt, dann aus Lust am Ungewohnten und später mit wachsendem gestalterischen Interesse. Also einem sowohl ästhetischen als auch sozialen Interesse. Die Berge von Müll wurden schnell sichtbar als verkannte Dokumentationen des gesell-

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schaftlichen Lebens. Es gibt kaum etwas Intimeres als der eigene Abfall – ein ganzes Leben bis in seine dunklen Winkel ließe sich daraus rekonstruieren. In der Häufung auf der Straße machen gerade das Zufällige, das achtlos Angehäufte auch das Abseitige und Verdrängte der Industriegesellschaft und ihrer Zeichen sichtbar. Müll ist nicht gleich Müll – das lerne sehr schnell, wer regelmäßig die geografischen Besonderheiten des Abfalls in verschiedenen Gebieten bei der Suche nach Brauchbarem wahrnehme. „In den bekannteren Stadtteilen wie St. Pauli, Altona oder auch Eimsbüttel sieht es so aus: große Haufen, viele Interessenten, die vor Ort wohnen. Sie holen von der Straße rein und stellen wieder raus. Sehr müllig. Ich bevorzuge die Gegenden mit spendablen Rausholern und uninteressierten Nachbarn, wie Wandsbek, Bahrenfeld, St. Georg, Hohenfelde und Eppendorf. Nichts zu holen ist in der Alsternähe und in den gesamten Randbezirken.“ Am liebsten fährt sie nachts los, zu einer Zeit, da weder Menschen noch Autos zu sehen sind. Wichtig sei, dass die Haufen noch nicht zerlesen sind. Wie jede Phase ihrer Arbeit, dokumentiert Claudia Rahayel auch den Vorgang des Suchens und Findens. Dabei ist die Fotografie nicht einfach ein dokumentarisches Mittel, sondern ein erster Versuch, auf dem Wege der Wahrnehmung, ästhetisch also, etwas aus diesem Abfall herauszuschälen, ein Aspekt, wie der Abfall gesehen wird. Sie fährt die Straßen und Haufen entlang. Wo sie etwas sieht oder etwas vermutet, hält sie, blendet die Scheinwerfer auf, richtet sie auf den Müll und fotografiert. Das zufällige Arrangement der Dinge, aufgebaut von vielen anonymen Händen und scheinbar ohne Plan, in verschiedenartigster Umgebung, weit am Straßenrand oder mehr im Hintergrund an Fassaden – das ergibt Bilder, die faszinieren, schillern. Das soziale und zugleich ästhetische Material findet in der flüchtigen und doch komponierten Fotografie einen Ausdruck. Wegwerfbilder, die von Wegwerfgeschichten erzählen. Die Dinge sind an ihrem Nullpunkt angelangt, am Punkt ihres höchsten Unwerts. Ein neuer Rohzustand wird sichtbar, eine Rückverwandlung der Formen in reine Materie, diffus, ungestaltet, für unser Empfinden ‚hässlich‘. Das ist die erste Phase der Arbeit: die Auswahl der Dinge zunächst durch’s Auge, dann das Aufladen, der Abtransport, das Hoffen auf in den Dingen verborgene Geschichten. Die Studien in den skurrilen nächtlichen Landschaften sind der Beginn des Augenmerks. Eines streunenden Augenmerks: Die unbewussten Inszenierungen von Abfall enthalten in ihrer Dramaturgie des Wegwerfens und Abräumens die Handlungen einer Gesellschaft, die Art, wie mit Dingen umgegangen wird. In der Kunst, besonders der Avantgarde seit den 1960er-Jahren, nennt sich so etwas ‚Environments‘ und setzt am gleichen Angelpunkt an: am Werteverhältnis zwischen Alltag und Museum, Abfall und Ewigkeit. In der zweiten Phase werden die Müllgüter im Depot der Designerin angehäuft. Sie lässt sich Zeit, räumt um, kombiniert einmal so, einmal anders, mal konzentriert, mal fahrig, manchmal aufmerksam, manchmal achtlos. Die Bearbeitung eines solchen Materials braucht eine andere Einstellung als z. B. bei Kunstwerken üblich. Irgendwann wird eine Idee sichtbar. Manchmal ist es, als brächen sie direkt aus den Dingen heraus. Diese Phase ist der Ruhezustand des aufbewahrten Abfalls, der zur Neutralisierung der alten Bedeutungen und Funktionen führt. In der dritten Phase, der Neu-Kombination und Umwertung, wird das Material verformt, zergliedert. Claudia Rahayel nimmt hier etwas ­Brauchbares,

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dort etwas Interessantes und macht daraus Gegenstände, die funktionieren, die es aber in dieser Form und Gestalt nicht gibt. Die verschiedenartige Herkunft der Materialien ermöglicht und erzwingt zum Teil harte Schnitte zwischen untereinander nicht harmonierenden Stilen. Vier schwarz lackierte Chippendalebeine tragen eine Mosaiktischplatte, deren Fläche ein verschobenes Rechteck ist. Diese Platte wird umleimt. In die Vertiefung der Tischoberfläche setzt Rahayel eine Plexiglasscheibe mit UV-Birne. Es ist ein Tisch daraus geworden. Aber noch mehr: ein Leuchtobjekt, ein Gebilde ironischer Stilzitate, eine Studie über Einklang und Dissonanzen in einem Montagevorgang. Die Dinge leben von einer doppelten Verformung. Die erste Verformung ist die Verwandlung der Güter in Abfall. Die zweite verformt wiederum den Abfall und macht daraus etwas Neues, Intaktes. Nicht mehr der Gegenstand, sondern der Müll ist das Reservoire der Zeichenschöpfung. Die Verwandlung der Dinge wird zu einer Inszenierung der Nutzbarkeit von Müll. Diese Re-Designarbeit knüpft an neue Überlegungen in der Designtheorie an. Und an Berufsprobleme in der Designpraxis. Immer mehr Studenten drängen in Gestalterberufe, nicht zuletzt aus Misstrauen gegen Wissenschaftlichkeit und Verbeamtung. Die Arbeitslosigkeit nimmt denn auch im Gestalterbereich entsprechend zu. Und besonders im Design. Denn hier wirkt sich die ökonomische Krise nachhaltig aus. Gerade die spezialisierten, mittelständischen Unternehmen, die eigenwillige Dinge in kleineren Serien produzieren könnten, haben Ertragsprobleme und leisten sich kaum fest beauftragte Designer. Die Krise der Arbeitsgesellschaft, das gestiegene Energiebewusstsein, das gegen das Produzieren neuer und modisch erneuerter Dinge spricht, die Verknappung an Forschungsplätzen und in der Industrie, der Rückgang an Innovation, die Überbelegung in der Gestalterausbildung, das wachsende Interesse am kreativen Ausdruck auf Kosten eines ungebrochenen Verhältnisses zum industriellen Fortschritt – all das führt zu einer Veränderung im Selbstverständnis und der Berufsrolle der Designer. Gefragt sind heute nicht allein selbstständige und wendige Personen. Gefragt sind in erster Linie Arbeitsleistungen, die nicht notwendigerweise in den üblichen professionellen Bahnen zustande kommen. Gesucht sind Ideen und Entwürfe, aber kaum Anstellungsinteressen. Das Pilotbild des aktuellen Gestalters enthält denn auch eine Berufsbereitschaft, die an Qualität ausgerichtet ist. Der Gestalter heute versteht sich zunehmend als kulturell interessiertes Subjekt, das sich in Trends auskennt. Und das weiß, dass viele dieser Trends heute nicht in den Entwurfsetagen großer Firmen und auch nicht in Modehäusern stattfinden, sondern auf der Straße, im Film, in der Musik, im städtischen Ereigniszusammenhang. Das Selbstverständnis von Claudia Rahayel entspricht dem. Ihr Geld verdient sie mit Jobs, zurzeit als Buffetdame im Hamburger Thalia-Theater. Sie hat nie ernsthaft versucht, als Designerin fest angestellt zu werden. Am liebsten würde sie Rauminstallationen machen, „Wandgeschichten“. Ihr ist die Vorstellung, weiterhin „Tische zu schminken“, wie sie die mögliche kommerzielle Seite ihrer Aufbereitungen nennt, ein Gräuel. „Ich bin nicht daran interessiert, irgendeine ‚Idee‘ zu illustrieren. Ich versuche, in der Auswahl und der späteren Kombination der einzelnen Teile, unter Berücksichtigung oder totaler Ignoranz ihrer einstigen Bestimmungen, eigenständige und funktionierende Möbelstücke zu schaffen.“

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Mit der Tradition des italienischen ‚Banal-Design‘ (Ettore Sottsass, MEMPHIS, Alessandro Mendinis ‚Studio Alchimia‘; vieles von den aktuellen Tendenzen ist in der Monatszeitschrift DOMUS dokumentiert) teilen Rahayels Objekte die ironische Zitierweise, die Montage eines Stilpluralismus. Das Funktionieren ist wichtig, aber nicht ausreichend. Das Funktionieren wird selber zum Zitat früherer Funktionen. Die Umwertung, die mit Recycling-Material gemacht wird, nennt die Theorie ‚Re-Design‘. Alessandro Mendini hat als Promotor des Banal-Designs Kommoden aus den Vierzigerjahren mit abstrakten Motiven von Kandinsky übermalt oder einen Abfallsessel mit pointillistischen Elemente in der Manier von Seurat überzogen. Es gibt in dieser Tradition auch Schuhe und Kleidungsstücke, die mit artfremden Dekorationen versehen sind, mit Fähnchen und Kugeln zum Beispiel. Im Banal-Design werden Objekte sogenannter ‚niedriger Herkunft‘ durch das Zitat einer sogenannten ‚Hochkultur‘ zugeordnet – ein Trend, der sich massiv in der gesamten Modewelt breitmacht. Dabei kommt zum Zug, was gegenüber Kunstwerken und schönen Dingen verpönt ist: die Fälschung als kreatives Verfahren. Beim Re-Design von Claudia Rahayel dient die Verfremdung nicht zuletzt dazu, die übliche Restauration und die Pseudokultur nostalgischer Antiquitäten als eigentliche Fälschungen sichtbar zu machen. Das gilt vor allem für die zurzeit grassierende Verklärung des Güterstils der 1950er-Jahre, die Umwandlung dieser Dekade in ein Reservoire an historischer Verlogenheit, die Stilisierung einer widersprüchlichen aktuellen Zeit in eine epochale Stilisierung zu etwas, wo ‚noch mehr losgewesen sei‘. Hier wird das Re-Design zu einer Kulturtechnik. Die ist natürlich nicht ohne Risiko. Gerade mit der Aufbereitung der 1950er-Jahre-Möbel ließe sich heute viel Geld verdienen. Bourgeoise Selbstdarstellungsbedürfnisse stürzen sich heute darauf. Schon immer stand der Abfall nahe am Exotismus. Mit unbegrenzter Exotik und stilisierter Hässlichkeit lässt sich immer wieder ein Avantgardegeschmack in Luxusboutiquen bedienen. Was Claudia Rahayel findet, steht dieser Neigung nahe: Nierentische, Blumentopfständer, Sessel, Fassadenkachelungen, Mosaikpflaster von Aquarienuntersätzen, Lampen in allen Variationen, Tischreste. Es ist derselbe Fundus wie der für den neureichen Geschmack und das Abgrenzungsbedürfnis einer neuen Elite. Geschmack ist definiert durch elitäre Verknappung. Und außerhalb der Boutiquenlandschaft ist von schlechtem Geschmack ganz einfach das, was durch eine falsche Minderheit gebraucht wird. Noch werden massenhaft Dinge aus den Fünfzigerjahren weggeworfen – vor allem in den von Claudia Rahayel als ertragreich angesprochenen Arbeitersiedlungen –, als Inbegriff einer geschmacklosen, verachtenswerten oder ganz einfach unbedeutsam gewordenen Zeit und der Erinnerung an sie. Und schon werden die gleichen Dinge gesammelt, restauriert, ausgestellt – Zeugnisse eines kommenden Geschmacks. Eine solche Umwertung wird leicht korrupt, wenn nicht eben der Vorgang der Umwertung zitierbar und als Zitat einsehbar würde. Der Italiener Ugo La Pietra hat den Begriff des ‚Re-Designs‘ erfunden, um eine Art von Kunst zu bezeichnen, die auffindet und wiederfindet, für die aber nicht kennzeichnend ist, dass sie erfindet. Der deutsche Ästhetikvermittler und Kunsttheoretiker Bazon Brock schreibt zur Aktualität der Kulturtechnik ‚ReDesign‘: „Re-Design ist zeitgemäß, weil es auf einer Mülltheorie aufbaut, die zu zeigen

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vermag, dass k ­ ulturelle Wertschöpfung immer eine Umwertung darstellt. Wichtigste Voraussetzung der Umwertung ist aber die Entwertung im Müll. Erst danach landet der Müll im Museum, das heißt, es repräsentiert aus dem Müll neu geschaffene Werte.“ Diese Mülltheorie hat formuliert: Michael Thompson, Soziologe, Mathematiker, Philosoph, Berater bei der UNESCO und nebenbei Besteiger diverser Achttausender im Himalayagebiet, weist in seiner Rubbish Theory1 nach, dass Stilentwicklungen nicht in den Dingen, sondern in menschlichen Köpfen zustande kommen. Abfall meint nicht allein: Dreck, Müll, Schmutz, Tabuisiertes, Ekelerregendes, sondern ein Reservoire für den gesamten Aufbau einer Kultur und eines kulturellen Selbstverständnisses zwischen den Dingen und den Weltbildern. Abweichungen und Dreck sind im sozialen Bereich Angriffsflächen einer Ausbalancierung zwischen der Vermeidung von Verunreinigungen und der leidigen Tatsache, dass Neuschöpfungen immer aus vordem Unsichtbarem hervorgehen. Unsichtbarkeit ist die Kategorie des kontrollierten Abfalls. Abfall wird erst sichtbar als Materie am falschen Ort. Aber dann meint er nicht nur einen alltäglichen Vorgang, sondern auch Material für kulturbindende Verdrängungsarbeiten, ein sozialpsychologisches Phänomen. Aber Thompson geht noch weiter. Abfall müsse auch als wenig beachteter erkenntnistheoretischer Vorfall betrachtet werden. Zu entdecken ist seiner Meinung nach neu der Stellenwert von Diskontinuitäten, im Denken und in der Lebenswelt. Thompson stellt die kulturellen Grenzen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Grenzen, die traditionellerweise verdrängt werden. Die Verdeutlichung der Grenzen ist am Umkehrungsvorgang interessiert: an neuer sozialer Vereinbarkeit von Haltungen, die vordem über die Verdrängung der Grenzproblematik für unvereinbar gehalten werden. Es sind nicht physikalische, sondern soziale Eigenschaften, die den Status von Dingen definieren. Thompson unterscheidet als soziale Konstruktionen neben dauerhaften und vergänglichen auch die dritte Kategorie der unsichtbaren Dinge. Unsichtbare Dinge, die einmal dauerhafte Dinge waren und es vielleicht, mit einem Schlag und nach einer langen Zeit, wieder werden können. Es sind die gesellschaftlichen Regelungen, das Training der Gewohnheiten, die unsere Blicke auf das Einspielen, was gesehen, und das, was nicht gesehen werden soll. Mit der Zeit werden natürlich auch die Regelverletzungen zu einem Regelsystem. Aber grundsätzlich beruht das Denkmodell unserer Kultur als einer Ordnung – gegenüber einer ungeordneten Natur – auf dem Training der Verunreinigungsvermeidung. Thompson zieht daraus die Konsequenz: Gerade im Untergrund, im Ungeordneten, Unsichtbaren, im Gebrauchten und Verfallenen, Wertlosen und Dreckigen, Weggeworfenen und Kaputten können wir die kulturbildende Kategorie ‚Abfall‘ studieren. Die Hin- und Herbewegung zwischen verschiedenen Wertigkeiten, Wertphasen und Wertverwandlungen von Dingen hat aufklärerische Wirkungen. Es entsteht eine Einsicht in das Funktionieren sozialer Kontrollen und in die Konflikt­ fähigkeit einer Gesellschaft, das Kräfteverhältnis zwischen Konsens und Dissens und damit den Chancen einer Balance zwischen Schöpfung und Zerstörung. Diese demokratische Qualität des Abfalls spielt bei den Objekten von Claudia Rahayel eine große Rolle. Sie sind nicht nur mehr oder weniger gelungen, ansprechend, schön, listig-ironisch oder einfach zweckdienlich. Sie machen Spuren unserer Gesell-

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schaft im Abfall lesbar. Und sie verkörpern eine Möglichkeit, wie mit den Problemen der Güterproduktionsgesellschaft umgegangen werden kann für die ästhetische Formung von Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten. Die Objekte sind auch Zeichen für die aus dem Abfall herausgeformte Fantasie. Eine Fantasie, die weder alternative Sparsamkeit meint noch modischen Schnickschnack. Zum kulturellen Zusammenhang ihrer Arbeit, dem Gestalter/Nutzer-Verhältnis, dem Zeichenwert der Dinge, ihrer Ausweitung zu Installationen sagt die Designerin in einem Gespräch mit dem Autor: „Die eigentliche Qualität ist nicht im Einzelnen zu ­suchen. Sie entsteht vielmehr aus dem konfliktreichen Zusammenspiel zwischen Adaption, Reflexion und Transformation. Eigenständigkeit und Vielschichtigkeit könnten durch den Einbezug dieser verschiedenartigen Vorgänge entstehen. Die Möglichkeit, das Entwerfen als einen endlosen Prozess des Re-Designs des Stylings und der Fantasie aufzufassen, die von im Handel gängigen Objekten ausgeht, um wieder bei denselben Objekten anzukommen. Die Erscheinung ist sicher gewandelt. Und durch meinen persönlichen Eingriff vielleicht kritischer und kritisierbarer geworden.“ Das ist nicht wenig. Ideen können ohnehin endlos zirkulieren. Mit der materiellen Seite dieser Zirkulation steht es aber in Hamburg bald schlecht. Ein ‚Arbeitsvorschlag‘ der Stadtreinigung sieht nämlich vor, ab 1985 den ausgedienten Hausrat nicht mehr regelmäßig, sondern nur noch bei Bedarf abzukarren. Ein Telefonanruf genügt, und spätestens nach drei Wochen kommen die Müllwerker ins Haus und transportieren ab. Die Pauschale für die Gerümpelbeseitigung bleibt allerdings in den Stadtreinigungsgebühren weiterhin enthalten. Die geplante Neuregelung hat aber eine andere Pointe. Der abgefahrene Sperrmüll soll nämlich keineswegs direkt den Verbrennungsanlagen, sondern flinken FlohmarktGroßorganisatoren zugeführt werden, die den angelieferten Bruch zu Geld machen dürfen. Dann ist es aus mit den Funden. Und Schluss auch mit solchen Umformulierungen und Zitierkünsten.

Texte zum Bildmaterial2 Phase 1: Nächtliche Müllhaufen in Hamburg. Anonym aufgebaut, zufällig, mit vielen Händen. Eine Mischung von Dreck, Abfall, Schmutz, Kaputtem. Darunter auch Brauchbares, selten sogar noch Wertvolles, achtlos oder misslaunig Verbanntes. Claudia Rahayel, Hamburger Designerin, fährt wochenlang durch dieses nächtliche Chaos. Auf der Suche nach Brauchbarem, ganzen Stücken oder einzelnen Teilen für ihr Re-Design: einer Neu-Montage von Teilen verschiedenster stilistischer Herkunft. Auf den Streifzügen sammelt sie nebenbei auch Eindrücke einer Art gesellschaftlicher Archäologie der Gegenwart – Handlungen, Einstellungen, verschiedene Kulturen werden mit der Zeit lokalisierbar. Abfallhaufen – kulturelle Landschaften – Fantasieberge. Der Müll wird zum Lehrstück. Bevor sie Brauchbares einsammelt, fotografiert sie das ‚anonyme Gesamtkunstwerk‘ Müllhaufen, ‚objets trouvés‘. Halten, Scheinwerfer aufblenden, Ablichten, Weiterfahren.

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Phase 2: Sammlung des Abfalls. Der Abfall wird auf andere Art sichtbar. Allein durch die Auswahl für eine spätere Bearbeitung erhält er neue, kunstvolle Dimensionen. Sein Charakter wandelt sich. Die einzelnen Dinge werden zu Einsprengseln der Einbildungskraft. Was kann man mit ihnen machen? Vielleicht von hier ein Bein, von dort ein Gestell und das Ganze mit jener Tischplatte montieren, obendrauf einen Spiegelrest und eine Glühbirne? Oder etwas anderes? Einen Tisch kippen, eine Tischplatte an die Wand hängen, Sichtweisen aus dem gewöhnlichen Ablauf herauskippen. Einen Tisch zu einem Stehpult machen? Oder zu einem banalen Altar mit Leuchten? Oder zum Ständer für Blumentöpfe? Aus den Dingen Bezüge schaffen, Brücken schlagen, Fäden spinnen. Kombinieren. Umstellen, bis ein Arrangement gefunden ist. Eine Ordnung im Kopf erwirken. Die räumliche Phase der Sammlung, in der Fabrikhalle oder im Atelier, ist eine Phase der vorbereitenden Neuaufladung der Dinge mit anderen Wertigkeiten. Die ursprünglichen Funktionen sind im Müll untergegangen. Phase 3: Ein Tisch, ein Metallständer mit Vierkantgummis, in unterschiedlicher Länge. Als Auflage eine Windschutzscheibe. Zwei seitlich montierte Lampen. Als Verzierungen, als Lichtquellen. Das Ganze kann ein Stuhl sein, oder als Tisch dienen. Aber auch einfach als Lichtinstallation, als Verzierung. Oder eben auch als Leuchtpult für die Betrachtung von Filmnegativen und Dias. Ein solches Objekt lässt ganze Serien von Nutzungen zu. Verschiedene Funktionen – verschiedene Sprachen. Die ästhetische und ökonomische Wiederverwertung ist auch eine soziale Technik. Sie macht die Abfalldimension des Lebens sichtbar. Und auch die Qualität des Abfalls als eines unsichtbaren, stillen, schweigsamen Reservoires für Umnutzungen. Aber ‚Abfall‘ ist auch eine Kategorie. Der sichtbare Abfall drückt das Konfliktpotenzial einer Gesellschaft aus, ihre Verdrängungsleistungen, ihren Hang zur Vermeidung von Verunreinigung. Den Blick kanalisieren: vorbei an Schmutz und Ekel, hin zum Haltbaren. Das dann doch vergänglich ist. Die Dinge werden hier sichtbar als Zitate von Stilen und Funktionen. Eine ökologische Nutzung als ästhetisches Recycling. Der Gestaltungsprozess wird zum Exempel einer Bilderarbeit im Kopf, die demokratische Sensibilität befördert. Als lustvolle Bearbeitung des eigenen Lebensbereichs. Als Wahrnehmung kultureller und gesellschaftlicher Zusammenhänge zum Beispiel.

Textzitate zur Bildillustration Michael Thompson: „In unserer Kultur sind Gegenstände entweder ‚vergänglich‘ oder ‚dauerhaft‘. Gegenstände der Kategorie des Vergänglichen verlieren im Zeitablauf an Wert und haben eine begrenzte Lebensdauer. Gegenstände der Kategorie des Dauerhaften nehmen im Zeitablauf an Wert zu und haben (im Idealfall) eine unendliche Lebensdauer. Die Barock-Kommode zum Beispiel gehört der Kategorie des Dauerhaften an, das gebrauchte Auto der Kategorie des Vergänglichen.“3 Michael Thompson: „Der Übergang vom Abfall zum Dauerhaften geschieht, anders als der Übergang vom Vergänglichen zum Abfall, nicht allmählich, sondern abrupt.

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Der Übergang umfasst das Überschreiten zweier Grenzen, derjenigen, die das Wertlose vom Wertvollen trennt, und derjenigen zwischen dem Verborgenen und dem Sichtbaren. In der Versenkung verschwinden können Dinge allmählich, aber sichtbar werden sie mit einem Schlag.“4 Michael Thompson: „Die Tatsache, dass Objekte sozialen Prozessen unterliegen, bedeutet, dass, wenn wir selbst erst einmal sozialisiert worden sind, wir Objekte nicht mehr in ihrem Rohzustand vor der Beeinflussung durch soziale Prozesse sehen können. Diese menschliche Fähigkeit, nicht das rohe, sondern das sozial bearbeitete Objekt wahrzunehmen, wird ‚Kognition‘ genannt: Sehen plus Erkennen. Da alles Erkennen Wissen einschließen muss, ist jeder, der behauptet, Zugang zu Objekten im Rohzustand zu haben, verdächtig.“5 Michael Thompson: „Wir machen Dinge wichtig, indem wir andere Dinge unwichtig machen. Das, was wir wegwerfen, meiden, verabscheuen, von dem wir unsere Hände säubern oder was wir mit Wasser wegspülen, überantworten wir der Abfallkategorie. Doch das ist nicht ganz richtig. Wir bemerken Abfall nur, wenn er sich am falschen Ort befindet. Etwas, das ausgeschieden worden ist, aber niemals zu stören droht, beunruhigt uns nicht im Geringsten. Zum Beispiel sind wir uns der Küchenabfälle in unseren Mülleimern und des Schleims in unseren Taschentüchern bewusst, aber wir machen nicht viel Aufhebens davon. Diese negativ bewerteten Dinge befinden sich am richtigen Ort, und wir können sie im großen Ganzen ignorieren. Nicht so den Tropfen an der Nasenspitze eines Freundes oder die Exkremente des Hundes auf dem Wohnzimmerteppich. Das ist Abfall am falschen Ort: deutlich sichtbar und höchst bestürzend.“6 Michael Thompson: „Im Gegensatz zu Dingen, die, mittels der Abfall-Reaktion (‚das ist Abfall!‘) vom falschen Ort entfernt, schließlich am richtigen Ort landen, gibt es Dinge, die überhaupt keinen Platz haben. Zigeuner zum Beispiel werden in weiten Teilen der britischen Gesellschaft als sozialer Abfall betrachtet, und sie brauchen sich mit ihren Wohnwagen nur den Rändern der Vorstädte zu nähern, um die wütenden AbfallReaktionen der sesshaften Anwohner hervorzurufen.“7 Michael Thompson: „Das Ausgeschiedene, das noch sichtbar ist, weil es immer noch stört, bildet eine echte kulturelle Kategorie einer besonderen Art – eine Abfallkategorie. Das, was ausgeschieden, aber nicht sichtbar ist, weil es nicht stört, ist überhaupt keine kulturelle Kategorie, es ist einfach ein Reservoire des ganzen Kategoriensystems.“8 Bazon Brock: „Das Re-Design ist zeitgemäß, weil es auf einer Mülltheorie aufbaut, die zu zeigen vermag, dass kulturelle Wertschöpfung immer eine Umwertung darstellt. Wichtigste Voraussetzung der Umwertung ist aber die Entwertung im Müll. Erst danach landet der Müll im Museum. Re-Design ist zeitgemäß, weil jede Aneignung stets Anverwandlung sein muss. Nur Geschichte ist wahrhaft gestaltbar. Jede Gegenwart wird sich, wenn sie stark und anspruchsvoll genug ist, ihre eigene Vergangenheit verschaffen durch Re-Design des historischen Materials.“9

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Geschrieben 13. August 1984; gedruckt erschienen im Magazin des Tagesanzeigers TAM, Zürich, am 10. ­November 1984 unter dem Titel: „Müll – Abfall – Chaos. Eine Möglichkeit, mit Relikten der Gütergesellschaft umzugehen“. Der Beitrag verband den Text mit den Fotos der Werke, ihrer Voraussetzungen sowie der Genese der Werke aus der Umwertung der Stoffe, also dem Prozess von der Müllphase an durch Claudia ­Rahayel, die den gesamten Prozess selber fotografiert hat.

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1979, deutsch bei Klett-Cotta, Stuttgart 1981, als Theorie des Abfalls. Der Originalbeitrag, erschienen im ‚Das Magazin‘ des Zürcher ‚Tages-Anzeiger‘, enthielt zahlreiche ­Abbildungen, welche illustrativen Charakter hatten und in dieser Edition entfallen. Ebda. S. 21. Ebda. S. 46. Ebda. S. 117. Ebda. S. 137. Ebda. S. 39. Ebda. S. 137. Bazon Brock, Zwischen Kunst und Design, in: Kunstforum International, Bd. 66., Köln, Oktober 1983.

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PARTEILICHKEIT HAT AUSGEDIENT: BLOSS WAS NÜTZT DAS? KRITISCHE ­BEMERKUNGEN ZUR ZEITSCHRIFTEN-­ÄSTHETIK DER 1980ER Dass die Modellierung des visuellen Sinnes unser Alltagsleben beherrscht, ist eine Plattitüde. Dass visuelle Reizformeln aber, losgelöst von Inhaltsansprüchen, unseren allgemeinen Umgang mit Informationen bestimmen: Zu dieser Erfahrung verhelfen erst die 1980er-Jahre. Der Gang zum Kiosk, der plebejischen Enzyklopädie der Wünsche, ist seither anders. Die neueste Errungenschaft, der Reklame-Affe Jimmy (Firma AdExchange von Henry Whitfield) als erstes Beispiel für den wiederverwendbaren Werbespot, die vorfabrizierte Bildkonserve, mit beliebigen Texten kombinierbar, bezeugt nicht nur die perfekte Durchdringung (hier mittels Kuleschow-Effekten) des Alltagslebens mit avantgardistischer Kunst. Sie erklärt, übertragen, auch das Modell, nach dem in den 1980erJahren Zeitschriften produziert werden. Die Reklame als ästhetische Haupt-Botschaft anstelle des Bild-Journalismus, Product-Placement anstelle von Nachrichten, redaktionelle Kommentare als emblematisches Füllmaterial fürs Styling sind wesentliche Stichworte: Magazine für alle, jederzeit, insofern alle gleich. Die strategische Sicherung von Marktsegmenten hat die ästhetischen Ausdrucksmittel ruiniert. Inhalte sind austauschbar geworden durch die Definition ihrer medialen Darstellung. Dabei zehren die marktorientierten Magazine schamlos von der Plünderung der subkulturellen Interventionen, die nicht für alle, sondern nur im eigenen Namen sprechen. Das Jahrzehnt des bunten Lifestylings funktioniert also nach dem Modell der Verwüstung. Da die Ironie-Ansprüche selbst den Nullnummern vorauseilen, ist es nicht ausreichend, analytisch zu werten. Die alltägliche Wahrnehmung ist nicht bloß subjektiv geprägt, sondern neigt zum Widerstreit gegen das angebotene Niveau. Widerstreiten bedeutet, selbst das zu akzeptieren, was dem Rezipienten unnütz erscheint. Es heißt aber nicht, etwas schon deshalb bedeutsam zu finden, weil ein paar junge, dynamische und nicht selten verwöhnte junge Leute beweisen wollen, dass ohne ihre kreativen Selbstempfindungen die Kulturentwicklung Schaden nimmt. Als Rezipient ziehe ich der ideologiekritischen eine ethnologische Betrachtung vor. Die Magazine der 1980er-Jahre erscheinen mir als Instrumente von Selbstdarstellungsritualen, in denen nach Clanregeln Stammesfehden ausgetragen werden. Deshalb ist es die Hinwendung zum Segment, welche die Ähnlichkeit der Magazine gerade dann erzwingt, wenn sie stur uns sagen: „Siehe, ich, zumindest ich bin ganz anders.“ Wurden früher immerhin gelegentlich Zeitschriften von Autoren gemacht, so scheint das heute nicht mehr möglich, weil die Produktion immer stärker von den PR-­ Abteilungen gesteuert wird. Ein Trend, der auch für die Design- und Gebrauchsgüterbranche gilt. Die Verwaltung des Anzeigenmarktes und der permanente Umlauf von Druckmaterial bedarf der Magazine allenfalls noch im Sinne der Image-Pflege eines geistigen Kompensationsanspruchs. Wo die Kreativität medienkulturell auf dem Niveau dummdreister PR-Agenturen eingefroren wird, dort triumphiert heute ein verän-

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derter Kreislauf: von der Werbung zum Produkt, nicht umgekehrt. Zuerst werden Marktanalysen erstellt, dann Marktsegmentstudien entworfen und ihre Sicherung überprüft. Nach den errechneten PR-Einnahmen wird ein Erfolgsprofil simuliert, anschließend ein darauf zugeschnittenes Design konzipiert. Erst dann tritt eine Crew auf den Plan, die dieses Design füllt. Diese Gruppe kann man nennen, wie man will: ‚brain trust‘, ‚think tank‘, ‚kreative Entwurfsgemeinschaft‘ oder ‚Redaktion‘. Wie kann das interpretiert werden? Der Hinweis auf den rüder werdenden Medien-Imperialismus bringt, wiewohl Tatsache, nicht viel. Dass Unterhaltung Bildung kolonialisiert, weil längst unterm Zugriff technischer Medien Erfahrung in Information verwandelt worden ist, erfährt jeder ständig an sich selber. Authentizität ist eine Umschreibung für das individuelle Restrisiko aller Erfahrungen. Dass redaktionelle und Werbeteile einer Zeitschrift kaum mehr unterscheidbar sind, ist bloß deshalb kein offensichtlicher Skandal, weil das intellektuelle Niveau der redaktionellen Kommentare in der Regel diese Ununterscheidbarkeit erzwingt. Nicht die Produkte, die Strategien sind verschieden. So gibt es neben dem Affen Jimmy-Modell das Swatch-Modell: Einheit in der äußerlich aufgemotzten Vielheit. Oder das Corporate-Identity-Infrastruktur-­ Modell: Magazine als Auslastung der verfügbaren Druck-Kapazität. Dass Marktsegmente ästhetisch ebenso imitiert werden wie die Mittel ihrer Eroberung – das Wiener-Tempo-Magma-Modell –, zeigt, dass die Medien fest in der Hand der PR-Strategen und ihrer Rhetorik sind. Zwei Stichworte bezeichnen darüber hinaus eine Richtung der Antwort auf die obige Frage: die Dialektik der bürgerlichen Kultur und die avantgardistischen Medienspekulationen der 1960er- und 1970er-Jahre. Wenn es eine Dialektik der Kulturindustrie gibt, dann wird sie in der Magazin-Landschaft der 1980erJahre fassbar. In dem Ausmaß, wie eine Verwirklichung der im Archiv der Freiheit eingeschriebenen Texte des Bürgertums durch dessen Rückzug aus der Alltagskultur verhindert worden ist, entsteht aus der zerfallenen Utopie die triviale Alltagskultur, von deren Verachtung die bourgeoise Ideologie, von deren Totalverwertung die bourgeoise Ökonomie lebt. Eine Klagemöglichkeit dagegen existiert nicht. Die bürgerliche Kontinuität in der hilflosen Selbstzersetzung eines globalen Kulturanspruchs erzwingt dessen Aufhebung auch bei forciertem Einsatz, diesen doch noch, als Gleichförmigkeit, einzuklagen. Insofern lässt sich fordern, dass die Magazine noch bunter und ‚origineller‘ werden. Von den Akteuren wird der Anspruch aber nicht bürgerlich, sondern subkulturell oder elitär durch einen Rückgriff auf avantgardistische Medientheorien vorgetragen. Ästhetisch, semantisch und ­kommunikativ ist das Bildrepertoire der Dekade innerhalb weniger Monate 1980/81 von der ‚Bewegig‘ entwickelt worden, bloß ironischer, schärfer, präziser. Kann die egozentrische Genuss-Sucht der Yuppies noch in Kontinuität zum Hedonismus der 68er-Rebellen gesehen werden – von denen nicht wenige im Kreis der Ersteren als Redakteure von ZeitGeist-Magazinen ihre Wiedergeburt feiern –, so kann eine solche Kontinuität zwischen Lifestyling und ‚Bewegig‘ nicht hergestellt werden. Subkulturell wurde von dieser das Lifestyling-Geschrei ironisch aus den Angeln gehoben, gerade weil es um eine soziale, nicht eine ästhetische Intervention in die Medienkultur als einer politisch festgelegten ging.

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Da seither von den PR-Agenturen und den Redaktionen alle Subkulturen mit einem Dauer-Überwachungsapparat auf eine Art beobachtet und registriert werden, die jeden kalten Krieger von der Berner Taubenstrasse in rasende Begeisterung versetzen würde, darf deren Recodierung im Lifestyling natürlich nicht dem Faktor zugeschrieben werden, der sie möglich macht: der unbegrenzten eigenen Fantasielosigkeit. Die 1980er-Jahre-Magazine sind zwar nicht viel mehr als Momentaufnahmen im Zyklus der Endlosverwertung multiplizierter Bilder. Mit dem Trick eines Rückgriffs auf Theorien werden sie aber als originäre Leistungen behauptet. Eines der plünderungsresistentesten Konstrukte stammt von Marshall McLuhan. Auf dem Hintergrund einer anthropologischen Kontinuität – Medien als ‚extensions of man‘ – versprach er alles nur denkbar Neue. Zum Beispiel den simultanen Menschen, der mit allen ganzheitlich verkehre, der Sprache nicht mehr bedürfe, Bilder absolut selbstverständlich entziffere und an Wahrheit nicht mehr interessiert sei. McLuhan macht das fest am ‚new journalism‘, den er wegen seiner subjektiven Sicht auf das vermeintlich Periphere lobt. Heute triumphiert platter neuer Journalismus gerade in den hier angesprochenen Magazinen. Undenkbar, dass man noch direkt zur Sache spricht. Nicht mehr über etwas soll geschrieben werden, sondern über das, was dieses Etwas ermöglicht an Selbstformulierung. Gab es eine bestimmte Zeit, in der die Darlegung aus subjektiver Sicht ein wichtiges Korrektiv am falsch verstandenen Objektivismus war, so ist das Insistieren auf dem Persönlichen längst zur Floskel verkommen. Die Hülle dieses Anspruchs, beliebt bei den Redaktionen wegen der saloppen Redundanz der Texte, entspricht in Sachen Narzissmus exakt dem vorgeblich interaktiven, real monologischen Denken und Fühlen der Yuppies. Der neue Journalismus ist redaktionell abgesegnetes, ästhetisches Pfingsten: die unaufhörliche Selbstbefruchtung des Heiligen Geistes auf der Reise durch ein Ich, dem jede Welt längst abhandengekommen ist. Wer so beredt von sich schreiben kann, dass er nichts zu sagen hat, tut das mit dem Hinweis darauf, dass die Leute das mögen. Wie immer, so ist auch hier der Hinweis auf die angeblich intime Vertrautheit mit dem Volksmund – lang nach Rühm­korfs Einsicht in das obszöne Vermögen – das Dekor für eine Selbstzensur. Mehr-Werte? Minder­-Gehalte. Das Verschwinden des Gehalts aus den Magazinen der 1980er-Jahre kann kommunikationswissenschaftlich nachgewiesen werden. Schwärmte ein Majakowski von einer PR-mäßig amerikanisierten UdSSR, einem visuellen Alltag unter dem Zugriff futuristischer Beschleunigung und poetischer zerstückelter Sprache, der Transformation der Worte in Bilder, so ist heute das Problem bloß, wie wir aus dem lauen Bad wieder herauskommen, das McLuhan als Gebrauchsform des Nach-Gutenberg- Zeitalters feiert. Sprache als Reizform und der Autor als Produzent haben sich längst verwandelt in die Sprache (von Text und Bild) als Reizwäsche und den Verkäufer als Urheber. Das wäre nur dann diskutabel, wenn die Lifestyling-Drastik die im Selbstlauf sich entwertenden Modelle wären und nicht die ihnen notorisch unterstellte Gewichtung als Leben selbst. Hinter der Betriebsamkeit tendiert die Entwicklung dennoch unweiger­lich zur eigenen Zerrüttung, zur zeichenstrategischen Provokation des weißen R ­ auschens: Funktionieren als Störung des Kanals. Jede übersteigerte Ästhetisierung p ­ rovoziert ihre

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eigene Entropie: Gleichverteilung. Dagegen mühen sich Redaktionen mit der Festlegung der Regeln, was ‚mediengerecht‘ sei. Redaktoren als Fische im Wahrheitsfluss des Volkes? Ein heiteres Bild. Dass Mediengerechtheit immer Restriktionen am Gehalt bedingt, haben die Populisten von rechts wie von links nie verstehen mögen. Das Resultat davon ist, was in mythologischer Rede, der Naturalisierung von Kultur, ‚Medien­ landschaft‘ der 1980er-Jahre heißt.

Erschienen unter dem Titel „Parteilichkeit hat ausgedient. Bloß: was nützt das? Kritische Bemerkungen zur Zeitschriften-Ästhetik der 80er“, in: A. M. Müller/K. Gantenbein (Hgg.), Mehrwerte. Schweiz und Design: die 80er, (Museum für Gestaltung) Zürich 1991, S. 46–47.

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VOM BEFREIENDEN UNWERT DER ­KLEINEN DINGE, MIT EINEM SEITENBLICK AUF DIE ­UTOPIEN DES KONSTRUKTIVISMUS – ­ERWEITERTE VERSION Exposition: Selbstanpreisungen Die Komödie der Eitelkeiten, als die Politik zu Recht in den Gazetten erscheint, welche Politik allererst popularisieren, der Empfang bei der Welt, den die Akteure des kulturellen Lebens, ebenfalls in Postillen für das Volk, in Daueraufführung geben, verweisen auf alltägliche Modelle der Selbsteinschätzung: Heiratsannonce, Stellensuche und Steuererklärung. Wer hier nicht weiß, wie weit Wahrheit in Lüge überführt werden kann, der wird nie zu seiner Wahrheit kommen. Es ist dabei keineswegs so, dass die Lüge nur zuträglich bleibt, wenn sie nicht allzu weit von der Wahrheit wegführt. Dieses Bild einer Entgegensetzung von Lüge und Wahrheit kommt den alltäglichen Handlungsformen weder tatsächlich noch hinsichtlich des Selbstverständnisses der Handelnden bei. Vielmehr ist die Lüge das Konstruktionsmodell für jene Wahrheit, als die die Ökonomie der Wünsche sich für andere wirklichkeitsgemäß noch darstellen kann. Der Pendelschlag geht zum Wünschbaren hin, um die Stoffe des Wirklichen so weit umzubauen, dass sie deren Wahrheit verkörpern. Mehr als Typenähnlichkeit in den Heiratsannoncen, biografische Großzügigkeit bei den Stellengesuchen und zerknirscht zugestandene Vergesslichkeit bei den Steuererklärungen ist hier nicht zu erreichen. Mehr aber muss ja gar nicht erreicht werden. Denn der aktuelle Alltag ist eingespannt in ein umgreifendes Kalkül vertragsähnlich angelegter, suggestiver Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlich wahr ist, was der Bildschirm liefert, wahrscheinlich sind dessen Darstellungen wahrheitsgemäß. Wahrscheinlich richtig ist, was Politiker sagen, wahrscheinlich wissen sie es im Zustand der jeweiligen Noch-nicht-Enthüllung nächster Peinlichkeiten einfach noch nicht besser, wahrscheinlich ist ihr Gewissen rein und ihr Kenntnisstand für uns annehmbar. Und so weiter. Dieses ständige Kalkulieren postuliert eine Vertragsäquivalenz. Der Alltag fordert hier eine juristische Raffinesse auf Schritt und Tritt, die rational beizubringen den höheren Gerichtshöfen leidlich schwer fallen dürfte. Deshalb ist der Erkenntnisvorsprung der Menschen vor den Institutionen eine ihnen völlig durchsichtige Wahrheit. Zu Recht: Ist nicht das alltägliche Auskommen in den bürokratisierten Gesellschaften des gelenkten Konsums die wirklich philosophische Lebenskunst? Ist nicht das Sich-Durchmogeln in den Fallstricken eines Staatskapitalismus, der trotz der systemtheoretischen Beschwörungspoesie, er möge automatisch auf Reduktion seiner Komplexitätsmanie hinwirken, an Vereinfachung seiner selbst nicht im Traum denkt, ist nicht das sich entziehende, selber versorgende Leben unterhalb der Schau-Rituale des Politischen und Kulturellen die einzige Handlung, die Wertschätzung als Kunst verdient? Wer sich umhört, den wundert die Scharfsichtigkeit des Urteils von unten nicht.

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Denn, was heute an Erfordernissen der Zeit – von der Ökologie über den Grenzverkehr bis zur Rückgewinnung der Demokratie – zum Thema geworden ist, ist es gerade nicht, wie üblicherweise dargestellt, als Resultat eines Transports nach unten. Nicht die Politiker machen klar, was nottut. Es ist das öffentliche Bewusstsein, das die Politiker zwingt, ihren Kenntnisstand zu erweitern. Der Grund dafür liegt in einer Abspaltung des Politischen und Kulturellen vom Gesellschaftlichen, einer Unüberschreitbarkeit der Grenzen zwischen diesen voneinander abgeschotteten Bereichen. Die oben wissen nicht, dass die unten wissen, dass die oben zu wenig wissen. Einige Ausnahmen bestätigen das: Politiker, die oben das Gegenteil von dem tun, was sie unten den Leuten sagen, wenn sie skatspielend durch die Lande ziehen und das Gefühl vermitteln, dass ihre Vertrauenswürdigkeit generalisierbar ist ohne Festschreibung irgendeiner konkreten Aufgabe oder Versprechung. Mögen sie auch denken, dass die Komplexität internationaler Machtbalancierung unten gar nicht mehr vermittelbar ist, so tun sie für ihre Wahrheit doch genau das, was jeder unten täglich macht: subtil die Vertragswahrscheinlichkeit, die im Anschein der Ehre jeder vorbringt, zu seinen Gunsten umlenken oder ausweiten. Deshalb ist die Heiratsannonce das umfassende und grundlegendste Modell für das alle Lebensbereiche bestimmende taktische Handeln: eine Selbstanpreisung mit dem Einschlag des Eigentlichen unter der Bedingung möglicher Realisierbarkeit. Die Vereinheitlichung auseinanderstrebender Charakterzüge zur Einheit von Individuum und Typ, Einzelnem und Rollenträger für Wünsche anderer, macht die Heiratsannonce zu einer Leistung transzendentalkritischen Bewusstseins: Bedingung möglicher Erfahrung dessen, was ‚wirklich‘ sein soll.

Ausführungen, Erörterungen Der Konstruktivismus ist der radikalste Versuch einer ästhetischen Selbstbegründung moderner Lebensformen. Die utopische Durchdringung einer kollektiv erneuerten Gesellschaft wird mit einem ästhetischen Wirklichkeitsbegriff verbunden, dessen Kraft existenzialer Interpretation die Konstruktion des Realen an die intensivierte Wahrnehmungsfähigkeit der bildnerischen und geistigen Elementarkräfte, die Grammatik der Symbolisierungen und die der Selbstreflexion verpflichtete Handhabung von Zeichensystemen bindet. In dem Maße, wie die bildnerisch-konstruktiven Utopien an die Stelle der überlieferten Strategien zur Veränderung der Gesellschaft treten, findet nicht eine einfache Zentralisierung neuer Codes und Rhetoriken statt. Die Verschiebung des Geistigen auf den Umgang mit bildnerischen Elementarisierungen und imaginären Aneignungsbedingungen setzt Traditionen als Ausdrucksgrößen der rezeptiven Selbstdifferenzierung ein: Hermeneutik der situativen Interpretationsweisen. Aus dem ästhetischen Zugriff auf utopisch deregulierende Eingriffs- und Wirkungsabsichten gehen neue kulturelle Einstellungen hervor. Eine gewandelte Mentalität wird in den sozial engagierten Richtungen der europäischen Konstruktivismen zu einem hochkulturellen Bildungssystem und zu einer neuen Hierarchie sozio-­ästhetischer

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Valeurs ausgebaut. Die bereits als Modernität etablierte Feindschaft gegen Natur als Motiv wie als sich entbergender Horizont harmonikaler Einbindung in eine Totalität wird zum heimlichen Positivismus der neuen Ingenieurkunst und sich übersteigernder Träume vom konstruktiv Machbaren weiterentwickelt. Das ergibt das spezifisch ambivalente Gepräge nicht allein des Konstruktivismus, sondern seiner Beispielhaftigkeit und Funktion für den hochkulturellen Diskurs, die Kultur einer kontinuierlichen Weiterbildung des humanistisch-anthropologischen Menschenbildes. Die Abwertung der Natur, der Ausbruch aus der romantischen Einheit von Mensch und Natur, die Absage an die ästhetische Theorie der Korrespondenzen zu einem Umgreifenden, die Herleitung der Poesie aus der Entmächtigung der Natur beispielsweise bei Baudelaire werden zu einem Kulturkonflikt ausgebaut. Der utopistische Kampf gegen die Kapitalisierung der Lebens­verhältnisse und die Verdinglichung der rezeptiven Fähigkeiten versucht, in ­dialektischer Spannkraft den bürgerlichen Humanismus der technischen Realität des industrialisierten Massenalltags sowohl strategisch wie erzieherisch zu implantieren.1 Dabei sollen die hochkulturellen Werte nicht transformiert, sondern gerettet werden. Demokratisierungskonzepte sind selbst im revolutionären Russland nach 1917 für ein Jahrzehnt in erster Linie der Vorstellung von einer gesamtgesellschaftlichen Ausdehnung der endlich gefundenen, wahren Prinzipien verpflichtet. Die Konzeptualisierung dieser Vorstellungen unter dem Namen des Konstruktivismus erzwingt deshalb als den durch Projektion die eigenen Semantik leitenden Feind die Horrorisierung alles Banalen. Sozialästhetische Aufklärung als mit Produkten realisierte Erziehung und Verbesserung der Lebensweise baut nicht auf die Möglichkeiten eines Kulturwandels durch Rehabilitierung des Banalen, sondern auf Auslöschung der Trivialisierung durch Verlebendigung der sozialästhetischen Valeurs, die aus der Hierarchie der Wertepyramide herausgelöst, in ihrer Substanz aber nicht nur nicht beschränkt, sondern gar übersteigert werden. Nachstehendes Beispiel zielt auf eine ganz andere Bewertung. Was soll man von einem Schokoladenherz halten, auf dem mit Zuckerguss YES steht? Was lässt sich damit anfangen? Der Sinn dieses Dings besteht wohl nicht darin, dass man die Materie verzehrt, die Träger eines sprachlichen Ausdrucks ist. Sein Sinn ist nicht, was es ist, sondern was es sagt: durch seine Form und besonders durch die Aufschrift. YES, JA. Ja wozu? Die Frage, die hier, vielleicht vorgreifend, beantwortet wird, bezieht ihre Deutlichkeit nicht zuletzt aus der Tatsache, dass sie gar nicht gestellt werden muss. „Das Herz spricht für sich.“ In der Bildhaftigkeit des Motivs, mit der Rhetorik der unveräußerlichen Herzenssprache ergeben sich Aussageketten mit verschobenen Bedeutungsträgern. Die Symbolik der Rosen gehört ebenso dazu wie die Anatomie des Flirts, die Metaphysik der Frühlingsknospen ebenso wie der ornamental umrankte Sinnspruch des beschützenden Haussegens und Treueversprechens, das Gimmick, sinnlose Lustigkeiten des Kleinen ebenso wie der Schleier. YES ist darin jenes Gut, das allein durch Mitteilung geschaffen wird; das materielle Herz ist nur Transport- und Verpackungsmittel für dieses Gut. Das eigentliche Ding ist immateriell. Das Herz verschwindet in der Lieblichkeit seiner Zitierwürde. Verfolgt man einen Strang der Zuneigungsrhetorik durch bildliche Übertragungen,2 dann steht die Aussage YES für den verdichteten AugenBlick, für das sprachlose Sich-Einversenken in den Blick des herbeigesehnten Anderen.

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Ein Herz kann vieles sagen, seine Unbestimmtheit ist seine Klarheit, seine Undeutlichkeit ein Faktor seiner jeweiligen Präzision. Was ein Herz sagt, ist deshalb immer in der Rhetorik einer beredten und bezeugten Sprachlosigkeit begründet. YES wird zu einem Mittel der Überschreitung der Grenzen, welche die regulierende Sprache den emotionalen Sprachen, der Intensität, den Sprachen der Sprachlosigkeit, dem Nicht-Wörtlichen setzt. Die nicht-wörtliche Bedeutung ist die immaterielle Bedeutung: Sie hängt allein vom intimen Gebrauch der Sprachbenutzer und Betroffenen ab, die sich mit Gesten und Blicken einen Sonderraum, Ausschließendes wie Ausschließliches, schaffen. Ein Herzchen, verniedlicht zur Schokoladeninszenierung, steht für das Unaussprechliche des Gemeinten ebenso wie für die Unmöglichkeit, für das wirklich Gemeinte überhaupt eine stoffliche, dingliche, materiell beständige Basis finden zu können. Diese Rhetorik legt die Vermutung nahe, es könnte sich als unmöglich herausstellen, große Bedeutungen durch große Dinge, Wert durch Sichtbarkeit, Sinn durch Größe auszudrücken. YES, das immaterielle, das knappe YES, aber auch das endlos fortlaufende JA, in das der träumerische Monolog Molly Blooms im Ulysses von James Joyce mündet,3 ein YES, das Variations- und Anspielungsmöglichkeiten der Liebe wie in einem Brennpunkt bündelt, ein solches JA sagt etwas aus über das Funktionieren des menschlichen Sprachund Wahrnehmungsvermögens und damit: über dessen Grenzen. Zumindest im abendländischen Kulturraum hat sich Bedeutung immer so dargestellt, dass Wert, Stoff und Qualitätsbegriff als einheitliches Bedingungsgefüge, als Struktur erscheinen, mit der die Elemente als voneinander gegenseitig abhängige unter den Zwang einer Einheit gesetzt werden. Das gilt mit Sicherheit für das Europa der letzten 2500 Jahre, hat mit dem Aufbruch aus den homerischen Epen und den Mythen eines Hesiod begonnen, sich über empirische Welterklärungsversuche, bei Thales von Milet oder Anaximander, fortgesetzt und eine prinzipielle Formulierung in der Ontologie des Aristoteles erhalten, für den der Weg zu den Bedeutungen ein Weg des empirischen Studiums der vorfindlichen Lebensgestaltungen, eine Analyse der Aktualisierung von Formprinzipien und Möglichkeiten (Potenzen) sein muss.4 Bedeutsam ist aus Gründen einer Theorie des Seins, was Wert hat; was Wert hat, ist zumindest als Ausdehnung beobachtbar und an Größe gebunden; Größe wird zum Aufweis einer Idee, sie sei Träger zumindest zuschreibbarer oder für natürlich gehaltener, also naiver Kostbarkeit. Quantitatives ist ein Indiz für Ausgestaltetes, für das, was seine Auffälligkeit an Materiellem bedingt, sie begleitet oder deren Beobachtbarkeit erzwingt. Was bedeutsam ist, das kann als unsichtbar gar nicht gedacht werden, solange man nicht den Entmystifikationsdruck der Philosophie zugunsten einer neuen Mythologie oder Religion5 preisgeben will, für deren Behauptung das Nicht-Sichtbare eine geradezu strategische Bedingung darstellt. Das gilt für den Anwendungsfall eines demonstrativ zeigbaren Wesens von Dingen. Kindern erklärt man Worte zunächst, indem man auf ein Ding zeigt, das jene Worte ‚sein‘ sollen. Selbst da, wo philosophische Erkenntnis auf die Einsicht ins Immaterielle, rein Geistige, ins gerade Unsichtbare abzielt und sich mit der Erreichbarkeit eines solchen Gutes das Ethos anstrengender Betrachtung und konsequent meditativer Lebensführung verbindet, selbst in einem solchen Zusammenhang ist immer von ‚Anschauung‘

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die Rede. Angeschaut werden kann aber nur, wessen Realität nicht rein begrifflich erfasst werden kann und was in gewisser Weise mit materieller Bildhaftigkeit ‚verunreinigt‘ ist. Selbst für abschließende Höhepunkte des erkannten Schönen, Guten und Wahren entsteht ein Darstellungszwang, der auf Evidenzbehauptungen und damit auf Sichtbares ausgerichtet ist.6 Wie immer bildlich – metaphorisch oder gar visuell – das Problem der geistigen Anschauung interpretiert werden soll, es besteht kein Zweifel, dass Bedeutung als Wert und Wert als Orientierungsmaßstab über-individueller, kultureller Anerkennung auf überpersönlich, also notwendig Sichtbares, auf zwingende Evidenz, auf Daseiendes angewiesen ist. Hinter dieser abendländischen Ontologie des Sichtbaren als des Wahrheitsträgers steht eine Lebensweise, deren philosophische Momente sich deutlich von anderen Kulturen abgrenzen lassen. Es gibt andere Denksysteme, welche Bedeutung nicht an Prinzipien stofflichen Daseins binden. Typischerweise hat unsere Kultur der Verstofflichung des Wesentlichen eine Kehrseite, die auch schon in einer unüberschaubaren Fülle rhetorischer Behauptungen angesprochen worden ist: dass die Sprache gerade – und dies immer – vor dem Eigentlichen, dem Absoluten, dem Nichtberührbaren, dem zu schützenden Kostbaren versage. Das wird an der Sprache des Herzens, der Herzensneigungen und -vermutungen deutlich: Sie ist der privilegierte Sektor des Nichtantastbaren, der erzwungenen, aber auch ermöglichten Fluchten in die Sprachen des Unaussprechlichen, in das Überfließen der Bildbegierden und Poetiken. Geht es aber hart auf hart, dann gilt: Wahr und werthaft bedeutsam ist nur, was erwiesen, gezeigt, tastend ergriffen werden kann. Immaterielle Bedeutungen werden vom Objektivismus des auf stofflicher Plausibilisierungen angewiesenen Denksystems als Verstiegenheiten, Privatsprachen, individuelle Mythologien oder schlicht als pathologische Verrücktheit denunziert. Was nicht dem Darstellungsdruck der Bedeutungshaftigkeit gehorchen kann, ist bereits entwertet. Solches bedeutungslos Gemachtes, das durch seine, oft erzwungene, Unsichtbarkeit seine Bedeutungslosigkeit ständig unter Beweis stellt, erscheint wegen des Materialitätszwangs des Existenzerweises notwendig als ein Kleines, das tendenziell aus dem Reich der Materie verschwindet. YES als Schokoladenherz ist über die Trivialität der Liebesrhetorik hinaus ein Beispiel für die komplizierte Bedeutungslosigkeit, die dem unsichtbar Gemachten so lange anhaftet, als Wert nur ist, was andere als für uns mit sich selbst Identisches demonstrieren können. Unsere vermeintlich feste Identität im Sinne einer stofflich verdichteten, abgrenzbaren Substanz hängt ab von der Sich-Selbstgleichheit des von anderen für uns Gesehenen ab. YES heißt: Es gibt den Zuwachs an Ausdrucks- und Sprachfähigkeit nur unter dem Bann eines Unaussprechlichen. Erst das Unaussprechliche stiftet Bedeutungen. Das ist die Bedingung auch für ein, unter ethischen Aspekten immer wieder beklagtes, Auseinanderbrechen von Zielen und Mitteln, Bedingungen und Resultaten einer Ästhetik der Werte. Das belegt die Geschichte der positiven Utopien, jener Gestaltungsvisionen einer Zukunft, die durch das abschließend Ausgemalte charakterisiert sind, durch die Elimination jeglicher Leerstelle, allen Niemandslandes, aller Unverhofftheiten und Störungen, Unsicherheiten und Vorläufigkeiten, Unreglementiertheiten und Unordnungen. Solche Utopien wollen perfekt durchstrukturierte, homogene und konstante Lebensent-

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würfe sein. Gäbe es Unvorhergesehenes und müsste man Unvorhersehbares als Dimension einrechnen, dann würde das vorgeblich Offene ganz einfach unter irgendeiner Bezeichnung dem System umfassender und determinierter Planung eingeordnet. Solche Utopien zeugen nicht bloß von platter Machtgier oder dummem Positivismus; gerade in der geschichtlichen Zentrierung in der Renaissance,7 die ja nicht nur Epoche der Selbstermächtigung, sondern auch Epoche der Affektsteigerung magischer Drohungen und intuitiv-mythischer Wissensformen gewesen ist, zeugt das von einem problematischen indirekten Glaubensdruck: zwanghafter Ausschluss des Nichtmachbaren, Entwertung des noch nicht Formulierbaren; Ausschluss des noch nicht Gewussten, noch nicht Benennbaren aus der Summe positiv orientierender Fakten, mit denen die Ordnung des Geplanten benannt und Zukunft ausgelegt wird. Bedeutung hat demnach nur, was gesagt werden kann. Das andere, der Rest, endet im Schweigen.8 Reine Formen, eine reine Sprache entstehen als Ideale. Lebenspraktisch betrachtet ist dies eine Unmöglichkeit, eine Fiktion, aufrechterhalten um den Preis einer bloßen Selbstbehauptung universaler Wahrheiten gegen alle Erfahrung. Solche Utopien zeigen, dass die Differenz des Machbaren zum auferzwungenen Schweigen über das Unbekannte kaum zu einem positiven Leitbild umgeschrieben werden kann. Es entsteht die Unmöglichkeit, die Verbindung des Gehaltvoll-Bedeutsamen mit dem Gehaltvoll-Stofflichen umzukehren: das Nicht-Stoffliche rutscht in das Bedeutungslose ab: es greift nicht; es kann nicht begriffen werden. Als bloß moralisches Beschwörungsgut versagt es seinen positiven Dienst und kann das Sagbare nicht mehr korrigierend der Dimension des Problematisierenden, Vorläufigen, des Unsicheren und Offenen zuführen. Wir leben heute in einer Epoche, die sich ernüchtert von den Utopien zurückge­ zogen hat.9 Allerdings ohne dass solches als Anti-Utopie verstanden würde. In der neuen und übersichtlichen ökologischen Katastrophe erscheint das Anti-Utopische geradezu als letzte, abschließende Utopie. Es scheint, wenn man denn diese zum aktuellen finalen Totalverschleißgebot gegenüber Fragen von Technologie und Ökologie gegenläufige Sichtweise einnehmen will, als verzichte man vorgeblich voller Reue auf alles, was Zukunft einschränkt, auf alles, was Natur nicht verschont; auf alle Konstruktionen, die durch ihren Anspruch an Überdauern künftig Änderungen und Umgestaltungen verhindern. In solchen Hoffnungen bleibt allerdings ein Kernproblem ausgespart: dass Bedeutung und Wert restlos außenbestimmt sind, solange das oben beschriebene Paradigma von Wahrnehmung und Sichtbarkeit existiert. Bestimmte Formen der Grenzüberschreitung hin zum Bedeutungslosen, bestimmte Strategien der Erkenntnis möglicher Bedeutung des Wertlosen, von Unfasslichkeit im immateriellen Bereich, sind nie genau erfasst worden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: In unserer Kultur sind immaterielle Werte, die ja immer wieder als ideologisch übergeordnetes Wertesystem sozialhygie­ nisch propagiert werden, an die Leistungen der Anhäufung von Sichtbarem, von Fassbarem gebunden. Es herrscht nach wie vor der eindimensionale Zwang der Vergegenständlichung, ein Zwang zur Verdinglichung und Veredelung. Statt dass die Dinge immaterialisiert werden, werden die Menschen vermehrt in Medien zur Darstellung von anderem, Luxus und Marken beispielsweise, von Erotisierung und Warenästhetik, umgebaut. Diese

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­ egression sichert dem sogenannten semiotischen Zeitalter, in dem vorgeblich alles nur R noch als Bedeutung wirklich ist und nicht mehr als Objektträger von Bedeutung, eine Überfülle materieller Bedeutungseinheiten wie nie zuvor. Die Überlagerung der Dinge mit Namen und die Verwandlung beider in ein System von Illusionen zeigt, dass die Stilisierung des Lebens mit Abstraktionen erkauft wird, die keineswegs nach vorne weisen müssen. Was sie immerhin wirklich bedeuten können, ist, so scheint es, die Realität der Bedeutung, das heißt die Bedeutungsbedeutung. Ist diese gesichert, so sind die Dinge nebensächlich geworden. Der Mensch als Medium der Selbstverwertung von Dingen als Dingzeichen wird hinterrücks mit der Tatsache seiner universalen Bedeutungslosigkeit konfrontiert, die durchaus gegen den stilisierten Wert des Materiellen ausschlagen kann, und das in einem unerwünschten Sinn. Die vollkommene Austauschbarkeit und Beliebigkeit, die heute in allen Sparten und Äußerungsformen des Lebens deutlich werden, sind nichts anderes als der Triumph der Bedeutungsbehauptung im Zeitalter ihres erwiesenen Funktionsüberdrusses. Erweist sich nämlich, dass die katastrophische Existenz von Natur und Kultur heute das Resultat von formierten Vergegenständlichungen ist, dann versagt das Utopische gerade vor solchem Bedeutungsdruck. Nicht ein Zuwenig, sondern das erdrückende Zuviel an Bedeutungsansprüchen ist, was unsere Existenz und die Sicherung des Realen bedroht. Angesichts von Appellen, der Mensch sei das Wesen des Bedeutsamen und Bedeutung sei der Schlüssel zur Interpretation der anthropologischen Auszeichnung der Schöpfungsgeschichte und des Verhältnisses des Menschen zur Schöpfungslogik, erscheint Bedeutungslosigkeit einer Reihe schlimmer Assoziationen zugeordnet: Abfall, Unwert, Zufall, Unbeständigkeit, Unsorgfältigkeit, Entartung, Fehler. Solange Reichtum an Tauschmittel und an die Zwänge einer indirekten Aneignung wie einer abstrakten Verwertung gebunden ist; solange Bedeutungsdauer ein positives Leitbild ist; solange Wert überhaupt als anstrebenswertes dingliches Gut angesprochen wird: solange ist Bedeutungsbedeutung für den Aufbruch aus geschlossenen Systemen unbrauchbar. Nicht-Bedeutungen könnten durchaus eine aktivierende Kraft haben, aber nur, wenn sie nicht als Bedeutungsloses diffamiert werden. Warum etwas sei und nicht etwa nichts – diese alte Frage des Parmenides (um 500 v. Chr.) erweist unter Bedeutungsaspekten die Gestalt des abendländischen Dualismus überhaupt, welcher den kulturellen Bereich mit dem Subjekt an dessen Spitze vor Gefahren sichern möchte und auf der anderen Seite Natur in rücksichtsloser Instrumentalisierung als rein technisch bearbeitbares Gut opfert.10 Was ist, hat Wert. Der dingliche Objektivismus ist dem Bereich der Kommunikation als einer auf keine andere reduzierbare eigene Größe jederzeit übergeordnet. Deshalb wird, was nicht sein soll, als Unwertgut so behandelt, dass Wert ein territorialer Besitz, Wert­ sicherung, Territoriumssicherung werden kann. Der leitende Wertmaßstab aber – Geld – ist reine Abstraktion. Selbst die Illusion wird vom Sog abstrakter Wertanhäufungen auf­ gesogen. Subversive Illusionskraft, als angewandtes Misstrauen, wäre ein Schritt ins Wertlose. Würde er konsequent getan, dann zeigte er, dass Reichtum nur außerhalb der Abstraktionen sich entfalten kann als Unermesslichkeit und Unmessbarkeit des Konkreten; als Differenz des Einzelnen zu anderem; als unüberschreitbare innere Differenzierung jedes Einzelnen in der Gestalt der Einzelheit.

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Wertlosigkeit als Wertjenseitigkeit gegen alles Abstrakte müsste noch im Kleinen sich dem Verwertungszwang bloß vorgespielter Wertlosigkeit entziehen. Das tun kleine Dinge, die als Gimmicks und Lustigkeiten heute nicht-funktional und tendenziell wertlos sind, nicht. Sie sind unsichtbar nur, weil sie von geringem Wert sind; sie sind noch nicht unsichtbar, weil sie immaterielle, wesentliche Bedeutung hätten. Ihre scheinbare Wertlosigkeit macht durchaus noch in einem materiellen Sinn ihren Wert aus. Ihre Handhabung als Warenbegleitanreizsortiment zeigt, dass der Wert des Wertlosen durchaus mit Verwertung und Kalkül vereinbar ist. Wenn allein die Konkretheit sub­ stanziellen Werten entspricht, dann kann die Verwertung des Unsichtbaren aus reinen Ökonomiebetrachtungen und deren Grenznutzentheorien heraus nicht gelingen. Verwertungsgrößen im Unsichtbarkeitsbereich können ökonomisch noch als wertlos berechnet werden, ohne dass in solchem Rechnen das qualitative Problem eines systematischen Bruchs zwischen Wert und Wertlosigkeit auftaucht. Zumindest so lange nicht, als externe Bedingungen das Rechnen überhaupt noch möglich machen. Das könnte sich dann ändern, wenn sich herausstellt, dass auf eine gefährliche Art falsch gerechnet worden ist: nämlich ohne Einrechnung aller Voraussetzungs- und Folgekosten von psychischer Zerstörung durch inhumane Arbeit über Regeneration und Reparatur der Umwelt bis hin zum globalen Wiederaufbau- und Synthetisierungszwang im Bereich der Ressourcen. Das nebensächlich Kleine, Unwerte, das aus ökonomisch gesetzter Unwertigkeit heraus Nichtgestaltbare, Nichtgestaltungswürdige bewirkt nicht die Befreiung vom Positivismuszwang der klassischen Utopien. Im Gegenteil, das wertmaßstäbliche Kleine ist ein Beleg für die Unfähigkeit zum Utopielosen im Sinne eines Verzichts auf Heilserwartungen durch Wirklichkeitsbeeinflussung. Die Ökonomie der Verwertung des potenziell Wertlosen, die Ausschaltung der Zugriffsmöglichkeit auf andere Wertsysteme sind nicht nur ökonomische, sondern öffentlichkeitsprägende ästhetische Strategien. Das Unermessliche des Konkreten wird in alltäglich ritualisierte Wegwerf- und Nichtwahrnehmungsgesten zurückgebogen.11 Auch dort, wo wertlose Dinge perfekt funktionieren, unterliegt die Qualität des Kleinen dem Bann des Vergessens und der Verdrängung, wird von ritueller Wahrnehmungsverhinderung ausgesondert. In Betracht zu ziehen sind aber die Wertekollisionen, die entstehen, wenn das Kleine als utopischer Sprengsatz das Konkrete gegen das Abstrakte wirken lässt. Interessanterweise sind die Handlungsutopien, die Visionen des Machbaren, der Druck, an Visionen alles Machbare auch zu realisieren, in der Epoche der Eroberung der Neuzeit und der Selbstbehauptung der theoretischen Neugierde entstanden, und nicht innerhalb der schließlich weit stärker ausdifferenzierten Moderne des 19. Jahrhunderts. Das Utopia der Antike – überliefert auch durch Platons Berichte über das untergegangene Atlantis – ist nie auf Machbarkeit ausgerichtet gewesen. Es ist ein Denk-Korrektiv geblieben und verkörpert die Kategorien des Möglichen gegen das Wirkliche, führt also zu einer anderen Wahrnehmung des Wirklichen, aber niemals zum Beweisnotstand, die Wahrheit der Vision durch ihre Realisierung zu erzwingen. Die Griechen wussten noch: Eigentliches wird nicht wahr dadurch, dass man es wenn nötig, wirklich macht. Das wird in den Utopien seit Thomas Morus und Tommaso Campanella (16. und

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17. Jahrhundert) vergessen, erst recht in der Umsetzung utopistischer Konstruktionen in die Städtebaupläne Vincenzo Scamozzis (Palma Nova, 1593) und Filaretes (Sforzinda, ein Architekturfantasieentwurf, 1461–64).12 Erst recht vergessen ist die bloß skeptische, wahrnehmungsintensivierende Denkfunktion des Utopischen in den direkt als realisierbare Lebensbaupläne verstandenen Konzeptionen Charles Fouriers, Robert Owens und anderer Frühsozialisten.13 Diejenigen Utopien, die wirklich – zeitgleich, gleichzeitig und in gesetzter, visionärer Ungleichzeitigkeit – im Brennpunkt der ästhetischen und sozialen Moderne stehen, haben eine andere Struktur, sind nicht Utopien als Wirklichkeitserwartungen, sondern Konzeptionen als Möglichkeitsbestimmungen. Man kann sie am besten unter dem Begriff des ‚Konstruktivismus‘ zusammenfassen. Damit sind nicht nur die Bewegungen gemeint, die sich selber als konstruktivistisch haben behaupten wollen: die russische Richtung14 mit Kasimir Malewitsch, Iwan Punin, Alexander Rodschenko, Alexandra Exter, Natalia Gontscharowa, Gustav Kluzis, Michail Larionow, El Lissitzky, Alexander Drewin, Wladimir Tatlin; die holländische Gruppe ‚De Stijl‘15 mit Theo van Doesburg, Piet Mondrian, Jacobus Johannes Pieter Oud, Georges Vantongerloo, Gerrit Rietveld, Piet Zwart, Jan Wils, Hans Arp, Sophie TäuberArp, Hans Richter, Bart van der Leck, Robert van’t Hoff, César Domela; das Bauhaus (1919–1933),16 das maßgeblich von den ersten beiden, historisch früheren und dann parallelen Richtungen beeinflusst gewesen ist, mit Wassily Kandinsky, Paul Klee, Walter Gropius, Lyonel Feininger, Joost Schmidt, Oskar Schlemmer, Marianne Brandt, Herbert Beyer, Georg Muche, Marcel Breuer, Josef Albers, Johannes Itten, Laszlo Moholy-Nagy, Lothar Schreyer, Hinnerk Scheper, Gerhard Marcks, Hannes Meyer, Ludwig Mies van der Rohe. Mit Konstruktivismus ist eine theoretische Auffassung17 angesprochen, deren Leitwerte für Struktur, Form und Ausdruck moderner Gestaltung so benannt werden können: Transparenz; Wahrnehmungsvollzug durch Einsicht in das Hergestellte, wobei die Einsehbarkeit des Gemachten zugleich Einsicht in die produktive, wirklichkeitsverändernde Tätigkeit des Menschen ist; Funktion als Einheit von Funktion und Form; Funktion als Wahrnehmungskonzept wie als Formprinzip der sozialen Befreiung von Fremdbestimmung. In dritter Linie kann man in den Konstruktivismus als Leitthematik der modernen Ästhetik alle Bildfindungen und Formulierungsansprüche einreihen, die aus der Transformation natürlicher Vorgaben die Prinzipien einer autonomen plastischen Darstellung herausarbeiten. Konstruktivismus, als Leitthematik systematisch, wenn auch unter anderen Bezeichnungen bei Paul Cézanne entwickelt, heißt: Darstellung jener elementaren Beziehung einer Gestalt als Struktur, die nichts anderes ist als die Selbstdarstellung der Elemente (Mittel), aus denen die Struktur erarbeitet wird.18 Diese Figur der Selbstbezüglichkeit erweist, dass Bedeutung nur haben kann, was sich seiner selbst als eines Geschaffenen, Konstruierten nicht allein bewusst ist, sondern dieses Bewusstsein auch wieder in unmittelbarer Gestalt zeigen kann. Die Bedingungen der Funktionsfindung werden zu Objekten der Formfindung, die Formäußerung zum Bedeutungssystem für die Herausarbeitung der Elemente, mit denen eine Aussage – beinhalte sie Nutzung oder ästhetisches Objekt – vorgetragen wird. In vierter und entscheidender Linie meint Konstruktivismus eine Vision modernen Lebens, die ästhetische, ökonomische, kommunikative

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und soziale Formfindungen auf der Basis der Werte einer ebenso gesellschaftlichen wie geistigen Emanzipation vereint.19 Dabei steht nicht allein das problematisierende Verhältnis von Wirklichkeit und Utopismus im Zentrum, sondern die Fülle von gestalterischen Überlegungen im Rahmen einer vielgliedrigen Avantgarde, wie sie aus späterer Sicht als für ‚Moderne‘ typische hochkulturelle Struktur zur Wirkung gelangt ist. Um die in neuem Sinne utopisch beanspruchte Vereinigung eines handlungskritisch kontrollierten Konstruktivismus und einer Rehabilitierung des Banalen überzeugend skizzieren zu können, bedarf es der summarischen Skizzierung einiger Argumentationsbrennpunkte und Leitmotive des Konstruktivismus. 1.  Der Elitarismus der bildnerischen Avantgarde-Kräfte kann als Bruch mit dem überlieferten Ideal des Kunst-Könnens interpretiert werden. Die visuelle Form der Malerei löst sich vom idealisierenden Illusionsdruck, Kunst daran messen zu können, dass ihr Produkt natürlicher wirken müsse als Natur selbst. Der Bruch mit solchen Übersteigerungsansprüchen und dem Paradigma einer Vergleichbarkeit von ‚natürlicher‘ und imaginativer Realitätsebene, einer figurativen Ordnung des Visuellen, verunmöglicht z. B., Mondrians Abstraktionen aus einer Reihe ursprünglich gegenständlicher und naturalistischer Motive herauszuleiten, die in graduellen Verformungen und einem kontinuierlichen Übergang schließlich zu einer reinen Abstraktion von allem ‚Natürlichen‘ führen würden. Diese wohletablierte Interpretation erscheint als populistische Rettung der naturalistischen Ordnung, als Suggestion einer wie Natur kontrollierbaren Ordnung rein geistiger Kräfte. Die Radikalität der konstruktiven Richtungen besteht demgegenüber in der Problematisierung aller alltagskulturell eingespielten Assoziationsmöglichkeiten, einer Kritik an thematischer Vergegenständlichung solcher abstrakten Figurationen. Der Bruch zwischen Bild und Begriff, die Unmöglichkeit einer direkten assoziativen Übertragung der visuellen Neu-Ordnung auf die Kontinuität der gegenstandsbezogenen Erfahrungen, der Erkenntnisanspruch, der in diesem Bruch begründet liegt, ist Ausgangspunkt nicht allein einer De-Naturierungs-Philosophie bei Mondrian,20 sondern Hinwendung zu einer viel universaler sich behauptenden Bildsprache. Auch die tendenzielle Auflösung des Bildhaften im und (noch) als Bild, steht in diesem Zusammenhang der Einführung einer neuen Ebene. Kunst zielt auf Erkenntnis, mit spezifischen Mitteln gar auf die eines Absoluten. Konfigurationen des Subjektiven, in der Transformation zur Darstellung des Nicht-Darstellbaren ergeben sich die wesentlichen Kennzeichen eines neuen visuellen und kulturellen Darstellungsmusters. 2. Hauptsächliches Kennzeichen des durch künstlerische Reflexion veränderten Darstellungsparadigmas ist die Herausarbeitung autonomer und selbstbezüglicher Elemente und Formen. Der ästhetische Eigensinn, der mit der Abwendung von der mittelalterlichen Zeichenkunst sich als Paradigma naturalismusfähiger Illusion entwickelte, wird nun in den Dienst der Darstellung des malerischen und künstlerischen Ausdrucksmaterials gestellt. Diese Elementarisierung als Reflexionsform bestimmt das Paradigma der modernen Kunst, die Kompositionstheorie, Farbtheorie, Bildphilosophie und das ­gesamte kulturelle Selbst- und Sendungsbewusstsein der Künstler von Klee bis Tapies,

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Kandinsky bis Pollock, Mondrian bis Rothko. Vermittelt ist die Elementarisierung der ästhetischen Formen verbunden mit einer ästhetischen, wenn auch keineswegs in erster Linie sozialpolitischen Vision der Totalisierung künstlerisch angeeigneter Lebensformen. Die ästhetisch autonomisierte Form verweist als Vermittlungszwang auf den sozialen Impuls im Rahmen einer allgemeinen Konzeptualisierung der kulturellen Entwicklung.21 Gerade die intermittierende Verbindung radikalisiert den ästhetischen Zweifel und ermöglicht die soziale Wirksamkeit einer subversiven Verunsicherung. 3.  Die Selbstbezüglichkeit der Elemente, die Transparenz ihres Arrangements, ihre Verbindung zu einer technisch vorstellbaren räumlichen Gesamtstruktur, ihre Weiterentwicklung zu einer modellhaften Vorstellung des gesellschaftlichen Handlungsraums entwickeln den aufklärerischen ästhetischen Impuls als Wahrnehmungsideal, das die Konstruktion idealer Lebensformen mit einer Dezentrierung des bloß Individuellen verbindet. In verschiedensten Formen wird das Transpersonale und Universale als Zielgröße formuliert.22 Mit der Aufnahme futuristischer Formeln zielen die Ausprägungen des radikalen ästhetischen Konstruktivismus auf eine temporalistische und libidinöse Ethik der Lebensformen. Trotz eines positivistischen Einbezugs der technologischen und ökonomischen Apparate zur Herstellung von Modulen, Rastern, Vorfabrikaten ist der ethische Entwurf aber bestimmt als ästhetische Universalisierung derjenigen Zeichensysteme, an denen ein individuelles Subjekt den historischen und systematischen Zwang zur Selbst-Transformation in aussagekräftigere, objektivere Systeme als unumgänglichen Tribut an die vorgeordneten Bedingungen des Kollektivs und der Geschichte erfährt. 4.  Die ästhetische Idealität der universal begreifbaren und erlebbaren Konstruktionsformen, ihre Elementarität wie ihre Allgemeinheit bestimmen die ästhetischen Formen als Emanzipationsmittel. Diese sind Vorbedingungen einer geistigen Befreiung. Erst die geistige Befreiung füllt den sozialen Entwicklungsprozess mit Substanz. Die Fixierung auf die Erbschaft an der utopischen Entwurfsdimension der bürgerlichen Hochkultur ist systembildend für die Modernisierung der materiellen und symbolischen Kultur sowie für ihre Vereinigung im Gedanken einer auf dem ‚Bauplatz‘ des Gesamtgesellschaftlichen vollzogenen Vereinigung der freien mit der angewandten Kunst. Die soziale Befreiung äußert sich ästhetisch mit dem Kampfmittel und Leitmotiv der Befreiung vom Ornament und vom Historismus.23 Dahinter steht eine philosophische Kritik am Dualismus, die besonders bei Mondrian als Kritik am Cartesianismus geführt wird.24 Er beschwört die Universalität einer sich in Modifikationen erhaltenden Substanz, einer ‚natura naturans‘ in den Manifestationen der ‚natura naturata‘.25 Visuell lässt sich ein pantheistisch universalisiertes Weltbild als Einheit von Realität und Konstruktion, von Stoff und Form, an der Symmetrie von spontaneistischem Chaos (Kandinsky) und kristallinster Ordnung (Mondrian) darstellen. Das bedeutet grundsätzlich, dass Rezeption und Interpretation von einem Komplexitätsüberschuss der kunstvollen Universalität auszugehen haben und die ihr System bedingende Abwertung des Banalen reproduzieren müssen. Am Erziehungsanspruch gegenüber einem horrorisierten Banalen gerät die Nachvollziehbarkeit des Konstruktivismus in die Krise.

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5.  Die geschichtliche und gesellschaftliche Entwicklung, die heute eine Revision der Geistigkeit als einer Feindschaft gegen das Banale erzwingt, hat damals konstruktivistisch ästhetischen Fortschritt als Gesellschaftsutopie bestimmt. Keineswegs herrscht ein technologischer Zwang zum Funktionalismus vor. Die ästhetische Radikalität bestimmt den Begriff des Utopischen durchaus als Zwang zur permanenten Interpretation eines nie auflösbaren Handlungsdefizites. Wirklichkeit als Erfahrung des Unverfügbaren ist durchaus eine Rezeption der Herausarbeitung der und zugleich Forderung nach Transparenz. Deren Konstruktion erzwingt mit der ästhetischen Selbstreflexion die Vision einer alltagskulturellen Einbindung von Kunst und damit ein Anerkennen des Banalen als Grundlage für die Vereinigung der Künste im Leben, als Transformation der ‚hohen‘ in eine ‚niedrige‘ Sphäre. Utopisch vorherrschend ist die Kritik am naturalistischen Ideal und der illusionistischen Ordnung. Die für diese Ordnung handlungsleitende Suggestion des Unmittelbaren ist, was in der Transformation selber zu stetigen Neuvermittlungen der auseinandergebrochenen Elemente führt. Die ästhetisch-rezeptive Grunderfahrung führt zur Transformation des Utopischen und zur Kritik aller handlungsprogrammatischen Unmittelbarkeit. Gerade deshalb muss die den Konstruktivismus zu lange bestimmende Abwertung des Banalen revidiert werden. Das ist aus heutigen massenkulturellen Erfahrungen heraus wohlmotiviert möglich. Es geht dabei um den Ausgleich mit dem ästhetisch begründeten Funktionalismus, um die Einheit von funktionsbestimmter Transparenz und den seriellen Momenten der Massen- und Konsumkultur. Serielles Handeln ist auch ästhetische Aneignung; Wahrnehmung erscheint als sozialrelevantes Handeln. Deshalb haben die Konstruktivisten – unbeschadet der Verschiedenheit ihrer gesellschaftlichen Ideologien – darauf bestanden, dass die Vision einer modernen Gestaltung notwendig die Überwindung aller Wertmaßstäbe beinhaltet, die – ökonomisch oder ästhetisch – auf die Veredelung einzelner, vom Leben isolierter Dinge ausgerichtet sind. Gegen die gute Form des Bedeutungslosen setzen die Konstruktivisten auf die Bedeutung des Lebenszusammenhangs, welcher ökonomische Messbarkeit und Verwertung des Abstrakten nicht zulässt. Die Vision denunziert bloße Abstraktionen. Es geht um konkrete Vermittlung von Kunst und Gestaltung. Gelten können deshalb nicht mehr: isolierte ästhetische Phänomene, Genialität, Kunstheroismus, Kreativität, Progression der Werte mit dem Gipfelpunkt von Parnass und Olymp. Aber auch bloßes Kunsthandwerk, bloßer Nutzen, bloß äußerliches Dekor haben ausgedient. Wenn das Bauhaus 1919 als erste Gestalterbewegung den Unterschied zwischen freier und angewandter Kunst zur aufzuhebenden Schranke und Behinderung erklärt, dann meint die Orientierung auf den praktischen Gedanken des Baus in der Gesellschaft nicht die Architektur von Häusern, nicht Funktionen, erst recht nicht ästhetische Formfindungen für instrumentell verstandene Funktionen. Sie meint die Idee der Konstruktion der Gesellschaft als eines immateriellen, in den Werten Transparenz, Demokratie, Rationalität Gestalt findenden Gesamtbaus, als eines Ortes der Entfaltung von Teilhabe, Kritik und Kommunikation, eines Zusammenwirkens produzierender und geistiger Kräfte. Der Konstruktivismus setzt auf die Zerschlagung jeglichen FetischDenkens: nicht mehr magisch beseelte Dinge sollen als schön, wirksam und wertvoll

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gelten. Schön ist in erster Linie die Selbsterfahrung der produzierenden Aneignung, die Wahrnehmung der schöpferischen Rolle der Menschen. Kurzum: Die damaligen Kon­ struktivismen etablierten ausnahmslos den idealen Terror einer alles umgreifenden und durchformenden Vernunft als ästhetische und sozialpädagogische Leitgröße. Konstruktivistische Utopien sind keine vorrangigen Ingenieursleistungen, sondern Paradiestechniken. Es sind Utopien postulierter Erfahrung, die sich vom Fetischismus der Dinge zugunsten der reinen Herrschaft der Ideen befreien wollen. Sie behaupten gegen jede Verdinglichung, besonders gegen objektiv falsche gesellschaftliche Sicherungsfantasien, eine kritische Differenz. Sie halten nicht an Gestalten fest, sondern versuchen, deren Potenz prozesshaft herauszutreiben, auch über das jeweilige konzeptuelle Bewusstsein konstruktivistischer Gestaltungsaussagen hinaus. Sie zersetzen im Namen einer Reales überholenden Dynamik die Ökonomie verdinglichter Werte. Darin erreichen sie – blind und absichtslos – ihren dialektischen Umschlagpunkt. Sie schaffen Abstraktion ab – die Suche nach der großen Abstraktion im Sinne der geistigen Konzentration ist ein begriffliches Problem, denn diese Abstraktion ist nichts anderes als das von innen heraus gebildete Konkrete –, damit auch den Fetisch der allgemeinen Potenz ‚Geld‘26 und erst recht die Bedeutung des gesellschaftlich anerkannten Wertes. Was Wert hat, hat Wert nur noch als Fluktuieren, Fließen, als Vergängliches, Momentanes. Dinge, die wenig kosten, sind aber nicht einfach in diesem utopischen Sinn wertlos. Ihr kalkulierbarer Nicht-Wert ist keine Qualität, sondern bloße Größe, und wird in das ökonomische Prinzip des kapitalistischen Materialismus eingebunden. Als Objekte haben sie immer eine materielle Ökonomie und den Schritt zur Befreiung als wirkliche Nicht-Werte, oder: als Wertjenseitigkeit noch nicht getan. Als reine Bedeutungen, als YES, als Bestimmtheit wären sie Vorwegnahmen eines nicht-ökonomisierbaren Bedeutungsbegriffs. Der Überfluss wäre eine Verschwendung an Bedeutungen, an Einsicht in Fetischbildungen, wäre souveränes Überschreiten der Verbotszonen, die Arbeit und Ökonomie, Abstraktionsgewalt und Mangelgröße um die Drohung der Souveränitätsansprüche seit Menschengedenken gezogen haben. Ein so dialektisch intensivierter Konstruktivismus will nicht das Paradies als Überfluss, nicht Utopie als Himmel, nicht Ewigkeit als Jenseits; er will gegen abstrakte Werte und fetischhafte Dinge das Bewusstsein entwickeln, dass Reichtum immer eine Dimension des Konkreten und der Wahrnehmung ist. Nur Einzelnes, Besonderes ist unermesslich. In diesem Sinne sind Abstraktionswerte niemals bestimmungsfähig. Solche konstruktivistische Vision ist keine Veredelungsstrategie. Modernes Leben wäre ein von Ökonomie und abstrakten Werten befreites Leben. Es geht um die Außerkraftsetzung des Diktats solcher Wertmaßstäbe. Die ökonomischen Werte kleiner Dinge sind immer noch dem Bedeutungsprinzip dinglicher Anhäufung untergeordnet. Der Unterschied ist nicht prinzipiell: Sie eignen sich einfach nicht als Objektträger für Aura und Prestige, es sei denn in den Fällen, die ohnehin der ökonomischen Vernunft nicht zugänglich sind: den individuellen, rein intimen Mythologien. Gerade in dieser Hinsicht schlummert in ihnen ein subversives Potenzial: reiner Nutzen. Es gibt nichts, was subversiver wäre als eine nicht-ökonomisierbare Nützlichkeit, ein Nutzen, der die Kraft der Dinge nicht kolonialisiert, ihren Eigenwert, das Nichtreduzierbare nicht tilgt. Viele der billigen, kleinen, gewöhnlichen Dinge sind über

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Jahrzehnte unverändert in Gebrauch, sind also durchaus Leitfossilien für ein perfektes Design, für Nützlichkeit und Funktion, für unüberbietbare Lösungen. Nicht-Verbesserbares aber kann nur im Bereich des Kleinen bestehen. Die billigen, kleinen, nichtwertfähigen Dinge sind selbst im entwickelten Kapitalismus Zonen eines ungebrochenen Gebrauchsverständnisses. Zweckbindung, gepaart mit Unauffälligkeit und Beharrlichkeit bis hin zur sturen Regression auf das Immergleiche eines funktionstüchtigen Designs, das zusätzliche Stilisierungen ausschließt und sich gerade deshalb mit willkürlichstem ästhetischen Reizdekor, Zierden und Verunzierungen verträgt, eine solche Zweckbindung ist resistent gegen ihren Einbezug in die Manipulation künstlich erzeugten Prestiges, künstlich geschaffener Werte und Bedürfnisse. Aber solches soll nicht gelten. Was unsichtbar gemacht wird durch das Diktat der Wertminderung, hinterlässt so etwas wie eine Dialektik der Billigkeit. Prinzipiell ist billig, was sich vom Diktat der abstrakten Werte befreit hat; der andere Pol: Billig ist, was unsichtbar ist, hergestellte Nicht-Qualität. Damit ist ein wichtiges Thema in Zusammenhang mit der Bedeutung wertloser Dinge angesprochen: die Tatsache, dass eine Wertetheorie immer eine Kulturtheorie ist und dass jede Wertetheorie mit dem Phänomen der Residualkategorien, d. h. den unsichtbaren Bedingungen positiver Wertsetzungen konfrontiert ist. Residualkategorie – oder Gödel’sche Wahrheitsgrenze – ist alles, was ein Begriffsystem ermöglicht, aber selber nicht innerhalb dieses Systems begründet werden kann. Axiome sind Residualkategorien. Ihrer Bedeutung wegen stehen sie aber sichtbar an der Spitze eines Aussagesystems. Die Residualbedingungen der Wertsysteme sind dagegen unsichtbar und nicht axiomatisch, sondern indirekt begründend. Jeder Wert setzt Wertlosigkeit voraus. Überakzentuierte Wertewahrnehmung ist nur möglich durch Verdrängung der Hinfälligkeit von Wertsetzungen im Verlauf der Geschichte, von Dauer und Ausbleiben der Dauer. Vor­ ausgesetzt ist immer die Unsichtbarkeit der Bedingungsgründe für Wertsetzungen. Es gibt unter Wertgesichtspunkten verschiedene Arten von Dingen. Es gibt wertvolle Dinge, sie erscheinen als ewig. Es gibt vergängliche Dinge. Es gibt unsichtbare Dinge. Letztere können als Abfall oder Müll gelten. Dieser Abfall ist unsichtbar nur, solange er sich am richtigen Ort befindet. Umgekehrt ist störender Abfall Materie am falschen Ort. Nun gibt es Übergänge, die aus der Wertetheorie eine Kulturtheorie machen. Vergängliche Dinge können Müll werden, dauerhafte Dinge in den Bereich der Vergänglichen absteigen. Es lässt sich auch leicht nachweisen, dass es kein Ding gibt, das nicht irgendwann einmal die Phase des Mülls durchlaufen hat. Tauchen plötzlich ehedem unsichtbare Dinge als dauerhaft wertvolle in hochkultivierten Sphären auf, was auf einen Schlag zu geschehen pflegt (wohingegen der Abstieg kontinuierlich vonstattengeht), dann tragen sie Spuren ihres Mülldaseins an sich. Wertlose Dinge von Design und Alltagsgebrauch bilden dazu eine Kehrseite. Sie sind weder ewig noch vergänglich, und ihre Unsichtbarkeit rührt nicht daher, dass sie auf dem Müll gelandet sind, wo sie als mögliche Kostbarkeiten aufgegriffen werden. Ihre Unsichtbarkeit ist ganz im Gegenteil einer entwickelten Entscheidungstechnik geschuldet: einem erreichten perfekten Funktionieren in der Erfüllung eines bestimmten Zweckes. Ihre Unsichtbarkeit beruht einzig auf einer durch gesellschaftliche Geschmacksstrukturen und ihren Hierarchien bedingten Nicht-Wahrnehmung, einer sozialen Prestige- und Aufmerksamkeitsverteilung, welche

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für Unwertes keine Aufmerksamkeit haben kann, weil Aufmerksamkeit schon über Aura und Prestige für einen unermesslich überdehnten Wertzuwachs selektionierter Objekte ausgeschöpft ist. Die Nichtwahrnehmung neuer, brauchbarer, aber wertloser Dinge verrät einiges über das Funktionieren von Geschmack und der Ästhetik der Wertauswahl in unserer Gesellschaft, die nach wie vor auf Elitebildung hinwirkt. Sie verrät aber auch etwas über die Unabgegoltenheit der konstruktivistischen Utopie, die in erster Linie auf die Selbsterkenntnis der Wahrnehmungsleistungen aufbaut. Sie verlegt Wahrnehmung in den primären Bereich von Konstruktion, den der Aneignung. Das heißt hier: Wahrnehmung des Überschusses einer gesellschaftlich erzwungenen, ästhetisch durchgesetzten Unsichtbarkeit sogenannter wertloser Dinge. Dinge, die gewöhnlich sind; Gestaltung, die gewöhnliche Gestaltung ist, anonymes Design; Dinge, die in alltäglicher rituell geübter Unsichtbarkeit Bedeutungen und Werte verschwinden lassen; Dinge, deren Gestaltung ein anonymes technisches Funktionsdesign zur Erzeugung banalen Wegwerfnutzens ist – solche Dinge sind alles andere als veredelt in die Kunst zurückgeführte ‚ready mades‘. Trotz des Gebrauchswertes entfalten sie ihre Kraft nicht aus Recycling-Prozessen. Es handelt sich bei ihnen auch trotz der teilweise unerbittlichen Banalität unkeuscher Verunzierungen und Trivialitäten nicht um Folklore oder Nostalgie. Gewöhnliche, billige, wertlose Dinge sind nicht nur Techniken für Alltagshandlungen und Systembedürfnisse; sie bilden auch einen Grenzfall zwischen Design und Nicht-Design. Ihr Ziel ist nicht: Erhöhung, Überdeutlichkeit, sondern: Unsichtbarmachen und Erniedrigung zugunsten von Reibungslosigkeit. Die ständige Rezeption billiger Dinge läuft im Einzelnen leer und endet in Langeweile, obwohl Langeweile durchaus als konzeptuelle, künstlerische Intensivierung und Wertsteigerung zugelassen wird. Es geht nicht um Dinge, es geht um Wertlosigkeit als aktivierendes Vermögen einer Entsagung gegenüber verdinglichten Glücksversprechen und Heilserwartungen. Diese Dinge eignen sich weder als Statussymbole noch als Fetische. Daraus erhellt, mit welcher Gewalt warenästhetische Überhöhungsstrategien eigentlich Unbedeutendes in das kapitalistische Reich der Marken zurückholen. Nach dem ‚Das Medium ist die Botschaft‘ heißt es nun: ‚Die Leute sind das Medium‘, nämlich das Medium für den Fortlauf der Bezeichnungen, Clanbildungen, Prestigemarken und Zugehörigkeitserklärungen. Diese Trägerschaft von Bezeichnungen gründet in der Gegenstandslosigkeit erwarteter oder angezielter Werte, die mittels aufwendigen Wertzusätzen den Träger der Bedeutungen verselbstständigen und damit die Befreiung vom Dinglichen wieder rückgängig machen. Es ist dann, was scheint: dass diese oder jene Marke prinzipiell Höheres ist. Die mögliche subversive Kraft der Abkoppelung vom dinglichen Wert wird in Life­ styling-Total-Programmen und der gnadenlosen Verselbstständigung des bloßen Anreizes gestalterischer Simulation wieder rückgängig gemacht. Gegen den neuen Luxus ist aus aktueller Sicht die Gewöhnlichkeit der Dinge, ihre rohe Form das Freiheitsträchtige. Denn sie huldigt keiner Designmoral, keiner ästhetischen Selektion, keiner verkunstenden Geschmacksabsicht. Das gilt aber nur für die rohe Form. Sie wäre Träger einer Philosophie der Wertlosigkeit. Hier treffen sich Konstruktivismus und Billigkeit: Stofffülle hat Reichtum nur außerhalb der Abstraktion; beide verstehen mögliches Glück als Ent­

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lastung des Menschen vom Wertzwang dinglicher Überhöhungen, überhaupt von der technischen Beziehung zwischen zielgerichtetem Arbeitsaufwand und berechenbarem ökonomischem Ertrag. Die immer wieder neu entdeckten gewöhnlichen Dinge sprengen unser festgefahrenes, pervertiertes Wertverständnis. Was an ihnen gemacht und was nützlich ist, soll einsichtig werden. Jede konstruktivistische Gestaltung zeigt ihren Aufwand, ihre Gefügtheit. Dadurch wird die Bewunderung des verbergenden, stilisierten Aufwandes, des Aufwandsverbergungsaufwandes, verhindert. Wahrnehmung setzt einen Bruch im Wertesystem der Unsichtbarmachung des dinglich Wertlosen voraus. Das gelingt nicht ohne Entwertung des nur behauptet, bloß gesetzt scheinenden Schönen und Bedeutsamen. Die gute Form des Bedeutungslosen wird abgewertet und erscheint als das, was sie ist: Fetisch, der aus undurchschauten Herkunftsbedingungen sich verselbstständigt hat. Zeugen gegen Verdinglichung und Undurchschautheit sind vorrangig aber nicht die Werke in den Museen unseres Jahrhunderts, sondern minderbemittelter Wertträger, Wertlosigkeiten, Banalitäten aus dem Fundus des Alltäglichen, an deren Unsichtbarkeit wir die Unerkanntheit unserer Lebensweise einsehen können. Das Mindere, Geringe als Vision auf die Zukunft verkürzt Zukunft nicht auf die Planung des Machbaren, sondern versteht sie als Resultat einer Handlung, die Realisierungszwänge, Einengungen und gesetzte Lasten vermeidet. Die kleinen Dinge eignen sich dazu als Wahrnehmungstraining. Der befreiende Unwert der kleinen Dinge wird zu einem Paradigma für die Gestalt einer zukunftsfähigen Kultur. Für das Verhältnis zwischen stilisierten und rohen, überhöhten und erniedrigten Bereichen der kulturellen Wertsphären wie für das Verhältnis von trivialem Massenalltag und elitären Gestaltungsansprüchen wird die Wahrnehmung der Wertigkeit des Wertlosen und Banalen eine große Rolle spielen. Die Rückgewinnung kommunikativer Fähigkeiten durch neue Wahrnehmung banal-trivialer Gegenstände führt nicht nur zu Werten des im Alltag Unbeobachteten. Die Leistung des Banalen ist die Einsicht in ein Autonomieproblem von Bedeutung, das Dinge nicht mehr den Lasten abstrakter Wertkörper aussetzt. Autonomie ist die Zielrichtung der Verbindung von Alltag und modernem Konstruktivismus. Das Aufgreifen des Banalen wird zu einem beispielhaften Fall der Aneignung von Kultur. Der befreiende Unwert der kleinen Dinge zeigt, dass sich das Banale unvergleichlich gut für ein befreiendes Sinnentraining und für das Spiel des Erkenntnisvermögens eignet.

Eine erste Fassung wurde geschrieben Anfang 1987 unter dem Titel „Vom zwingenden Unwert der kleinen Dinge. Mit einem Seitenblick auf die Utopie des Konstruktivismus“ für die Ausstellung des Museums für Gestaltung, Basel Keinen Franken wert – Für weniger als einen Franken (Gewerbemuseum/Museum für Gestaltung Basel vom 23. Mai bis 16. August 1987). Zum Katalog beigetragen haben: Bruno Haldner, Theodor Scherrer, Guido Bachmann, Florian Blumer, Martin Roda Becher, Jakob Tanner, Werner Jehle, Johanna Gisler, Reto Locher, Ueli Mäder, Hans Ulrich Reck. Die hier vorgelegte, nochmals bearbeitete Fassung entstand, um eine Exposition erweitert, bearbeitet, ergänzt, redigiert und revidiert, im Kontext der und für die Habilitationsschrift „Zugeschriebene Wirklichkeit. Alltagskultur, Design, Kunst, Film und Werbung im Brennpunkt von Medientheorie“, publiziert bei Königshausen & Neumann in Würzburg 1994 (hierin Kapitel 11). Geschrieben 1991.

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Vgl. Bazon Brock, Popkultur – kaum bemerkt und schon vergessen?, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim/Zürich/Wien, o. J.; Karl Heinz Bohrer, Die drei Kulturen, in: Jürgen Habermas (Hgg.), Stichworte zur ‚geistigen Situation der Zeit‘, Frankfurt a. M. 1979, Bd. 2, S. 636 ff.; Designreform im Industriekapitalismus fällt historisch mit diesem Erziehungstext zusammen; vgl. dazu: N. Pevsner, Wegbereiter moderner Formgestaltung von Morris bis Gropius, Köln 1983; Gert Selle, Die Geschichte des Design in Deutschland von 1870 bis heute. Entwicklung der industriellen Produktekultur, Köln 1978. 2 Diese metaphorisch-analogisierende Bildübertragungstechnik ist der Schlüssel zum Verständnis der ­Wirkung populärer Rhetoriken; vgl. Herzblut, Populäre Gestaltung aus der Schweiz, Katalog Museum für Gestaltung Zürich, 1987; Bernward Deneke, Europäische Volkskunst. Propyläen Kunstgeschichte Supplementband V, Frankfurt u. a. 1980; Gottfried Korff (Hgg.), Volkskunst heute?, Tübingen 1986; Dieter Kramer, Freizeit und Reproduktion der Arbeitskraft, Köln 1975; Claude Grignon/Jean-Claude Passeron, A propos des cultures populaires, Marseille 1986; Katalog ‚Ich male für fromme Gemüter‘. Aspekte der religiösen Schweizer Kunst im 19. Jahrhundert, Katalog Kunstmuseum Luzern 1985; zu einer vergleichenden Untersuchung solcher Bildformeln: Hans Ulrich Reck, Schöne Schrift gegen fromme Bilder? Zur Philosophie von Bild und Schrift in der islamischen und der christlichen Kunst, in: Kunstbulletin, Bern 7/8, 1985, S. 3 ff. 3 Vgl. James Joyce, Ulysses, Frankfurter Ausgabe 3.2, Frankfurt a . M. 1975, S. 940 ff.; vgl. Umberto Eco, Das ­offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973; ähnliche Techniken bringt in derselben Interesserichtung an ­Banalisierungsmodellen zur Anwendung, William Gaddis, The Recognitions, New York 1983. 4 Vgl. Günther Patzig, Theologie und Ontologie in der ‚Metaphysik‘ des Aristoteles, in: Kantstudien Bd. 52, 1961, S. 185 ff.; Karl Ulmer, Wahrheit, Kunst und Natur bei Aristoteles, Tübingen 1953; Ernst Tugendhat, Ti Kata Tinos. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg/ München 1958. 5 Vgl. Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, 1. Teil, Frankfurt a. M. 1982; ders., Gott im Exil. Vorlesungen über Neue Mythologie, 2. Teil, Frankfurt a. M. 1988. 6 Vgl. zum Platonismusproblem in der Kunst des 20. Jahrhunderts neben den Primärdokumenten der ­Konzeptkünstler: Paul Maenz/Gerd de Vries (Hgg.), Art & Language. Texte zum Phänomen Kunst und Sprache, Köln 1972. 7 Vgl. Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt a. M. 1981. 8 Nicht nur Konzeptionen Ludwig Wittgensteins zielen auf diese unbewusste Selbstregulierungskraft von Lebensformen, deren Handlungswirklichkeit die Kenntnis der diese steuernden Regeln ausschließt; auch ästhetische und sozialphilosophische Spekulationen von Herbert Marcuse zielen auf die Erfahrung eines anderen, dessen Radikalität in der Unverfügbarkeit seiner Darstellungsmöglichkeit gipfelt; diese Erfahrung ist für Marcuse eine aus der emanzipierten Entsublimierung hervorgehende erotisch-künstlerische Dimension; vgl. Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1965, S. 171 ff., 195 ff., 221 ff.; ders., Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft, in: ders. u. a., Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft, Frankfurt 1968, S. 7 ff., hier S. 24 ff.; ders., Versuch über Befreiung, Frankfurt 1969, S. 44 ff., 54 ff., 64 ff.; zur Kritik der bürgerlich-pädagogisch als instrumentelle Sprache vereinnahmten Kunst- und Kulturkonzeption u. a.: ders., Kultur und Gesellschaft II, Frankfurt a. M. 1965, S. 329 ff.; ders., Psychoanalyse und Politik, Frankfurt a. M. 1968, bes. S. 50 ff.; ders., Konterrevolution und Revolte, Frankfurt a. M. 1973, S. 95 ff.; ders., Existenzialistische Marx-Interpretation, Frankfurt a. M. 1973, S. 85 ff.; ders., Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik, München 1977, S. 61 ff. 9 Das ist selbst unbestritten zwischen sonst antipodischen Lagern, z. B. zwischen Spaemann, Lübbe, Habermas; dagegen Utopie als Theorie der fabrizierten Künstlichkeit: Lars Gustafsson, Utopien. Essays, München 1970, S. 82 ff.; zum Gesamtkontext der Debatten: Wilhelm Vosskamp (Hgg.), Utopieforschung, 3 Bde., Stuttgart 1982. 10 Vgl. Parmenides, Vom Wesen des Seienden, hgg. v. Uvo Hölscher, Frankfurt a. M. 1986; dazu: Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Band 1, Frankfurt a. M. 1978, S. 311 ff.; Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur ­Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 1976, S. 24 ff., 50 f. 11 Als Gegenstrategien der Differenzierung des Nichtwahrgenommenen zum Bedeutungsvollen: Friedrich Friedl/Gerd Ohlhauser, Das gewöhnliche Design, Ausstellung Darmstadt, Köln 1976; Bazon Brock, Zur Archäologie des Alltags, ebda. S. 22 ff.; ders., Was ist ein ‚musée sentimentale?‘, in: Barbara HuberGreub/Stephan Andreae (Hrsg.), Le musée sentimentale de Bâle, Basel, Katalog Museum für Gestaltung, 1989, S. 10 ff.; Eckhard Siepmann (Hgg.), Alchimie des Alltags, Gießen 1987. 12 Die Konzeption solcher Idealstadtgrundrisse, bis hin zur Realisierung von Palma Nova, ist das Paradigma einer formalen Totalisierung, mit der eine Abstraktion als ausgemaltes harmonikales Lebensgemälde

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der Realität aufgezwungen werden soll; zur systematischen Kritik aller solchen Ansprüche, Bazon Brock, Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande, Köln 1986, S. 176 ff.; ders., Die Ruine als Form der Vermittlung von Fragment und Totalität, in: Dällenbach/Hart Nibbrig (Hgg.), Fragment und Totalität, Frankfurt a. M. 1984, S. 124 ff. Als Übersichten: Werner Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegung, Berlin 1974; Frits Kool/Werner Krause (Hgg.), Die frühen Sozialisten, 2 Bde., München 1972; Helmut Swoboda (Hgg.), Der Traum vom besten Staat. Texte aus Utopien von Platon bis Morris, München 1972. Vgl. Selim Mogademow, Alexander Wesnin und der russische Konstruktivismus, Stuttgart 1986; Rainer G. Grübel, Russischer Konstruktivismus. Künstlerische Konzeptionen, literarische Theorie und kultureller Kontext, 1981; Hubertus Gassner/Eckhard Gillen (Hgg.), Zwischen Revolutionskunst und sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979. Vgl. De Stijl 1917–1931. Visions of Utopia, Minneapolis/New York, 1982; Hans L. C. Jaffé, De Stijl 1917– 1931. Der niederländische Beitrag zur modernen Kunst, Frankfurt a. M./Berlin 1965; ders., Mondrian und De Stijl, Köln 1967; Piet Mondrian, Neue Gestaltung – Neoplastizismus – Nieuwe Beelding, Eschwege 1925, reprint Mainz 1974; ders., Plastic Art and Pure Plastic Art and other Essays, New York 1945; Hans L. C. Jaffé, Die niederländische Stijl-Gruppe und ihre soziale Utopie, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, X/1965, S. 25 ff. Vgl. Hans M. Wingler, Das Bauhaus, Bramsche, 1975, 3. Aufl. [mit ausführlicher Bibliografie]. Vgl. Eine gute Übersicht zum politischen Anspruchsniveau und Kontext weiterhin: Konrad Farner, Der ­Aufstand der Abstrakt-Konkreten, Neuwied und Berlin 1970; weitere einführende Übersicht: Rainer Wick, Bauhaus Pädagogik, Köln 1982; G. Rickey, Constructivism. Origins and Evolution, London 1968; Willy Rotzler, Konstruktive Konzepte. Geschichte der konstruktiven Kunst vom Kubismus bis heute, Köln 1977. Vgl. Mary Louise Krumrine, Paul Cézanne. Die Badenden, Katalog Kunstmuseum Basel 1989; Meyer Schapiro, Cézannes Äpfel, in: ders., Moderne Kunst, Köln 1982, S. 7 ff.; Max Raphael, Kunstwerk und Naturvorlage, Cézanne, Mont Sainte-Victoire, in: ders., Wie will ein Kunstwerk gesehen sein?, Frankfurt a. M. 1984, S. 11 ff.; Max Imdahl, Bildautonomie und Wirklichkeit, Mittenwald 1981, S. 9 ff. Vgl. Hans Jaffé, De Stijl … a. a. O. S. 65 ff., 135 ff.; El Lissitzky, Rußland. Rekonstruktion der Architektur [Wien 1930], Neuausgabe unter dem Titel, Rußland. Architektur für eine Weltrevolution, Berlin u. a. 1965; Christina Lodder, Russian Constructivism, New Haven/London 1983. Vgl. Piet Mondrian, Neue Gestaltung … a. a. O. bes. S. 54 ff. Am deutlichsten formuliert das, wenn auch mit einer spürbar vom Übermenschentum des fin de siècle geprägten Konkretisierung: Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst [1912], Bern 1952. Vgl. El Lissitzky, Rußland … a. a. O. Vgl. Adolf Loos, Ornament und Verbrechen [1908], in: Ulrich Conrads (Hgg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig 1981, S. 15–21; diese Kritik ist zu wesentlichen Teilen erst im Kontext der praktischen Emanzipation, d. h. den Utopien der 1920er-Jahre als Denunzierung des Formkomplexes ‚Historismus‘ geführt worden; die breiteste auszugsweise Sammlung der damaligen ­Debatten und Positionen, Tendenzen der Zwanzigerjahre. 15. Europäische Kunstausstellung Berlin: ­Katalog, Berlin 1977. Vgl. für den Anfang der Reflexion dieses Bezugs: Beat Wismer, Mondrians ästhetische Utopie, Baden 1985, S. 36 ff., 46 ff., 59 ff. Vgl. das daraus abgeleitete Ideal der vollkommenen Selbstkontrolle und Zustimmung zu der Einheit von Ursachen und Wirkungen als durchgängig geformte Parallelität von Körper- und Seelenwelt findet sich in dem für den Neoplastizismus entscheidenden Kontext abschließend formuliert in: Baruch de Spinoza, Ethik. hgg. von Friedrich Bülow, Stuttgart 1966, S. 269 ff.; dazu, Antonio Negri, Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin 1982, S. 62 ff., 150 ff., 250 ff. Vgl. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6, hgg. v. David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt a. M. 1989, S. 424 ff.

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IMITIEREN? KLAR, IMMER. ABER WIE? Wir alle imitieren ständig. Und dies durchaus zu unserem Vorteil, auch wenn wir um den Verlust der Möglichkeit trauern, die Welt neu erfinden zu können. Imitieren verweist auf ein Spannungsfeld menschlichen Handelns. Zwischen dem gefährlichen und blinden Nachahmen und der jederzeit bewussten Selbsttäuschung mittels zusätzlichen Modellbildungen leben wir zunehmend in einer zum Imitieren verdammten, auf Imitieren verpflichteten Kultur. Was wäre geschehen, wenn Hitler nicht als Gralsfinder und Offenbarungsprophet, sondern als Schauspieler interpretiert und anerkannt worden wäre? An die Stelle der Unheilspolitik im Namen einer fanatischen Heilsgeschichte wäre die Darbietung von Schauspielerei – noch besser: Schaustellerei – getreten. Die Rezeption hätte sich entsprechend geändert: An die Stelle von Gefolgschaft wäre ästhetische Kritik, an die Stelle von Unterwerfung das befreiende Gelächter, an die Stelle des kollektiven Selbstmords die bewusst in einem künstlichen Rahmen gehaltene Fasziniertheit durch artifizielle Handlung, an die Stelle des Bannfluchs des Realen wäre die Befreiung durch Einsicht in das Fiktive getreten. Gewiss: Die Deutlichkeit des Beispiels ist problematisch. Menschliches Handeln ist in unübersichtliche Bedingungen und Verflechtungen eingebunden. Der Appell, Handeln möge jederzeit vollkommen durchsichtig und damit vernünftig darstellbar sein, ist idealistisch und zeugt von der moralischen Übersteigerung eines bildungsbürgerlichen Weltbildes. Aber gerade dieses Weltbild hat am Eigentlichkeitsbegriff des Realen festgehalten. Die Verwandlung der Welt in ein ästhetisches Theater mit Eigengewicht, die Faszination an der Lebendigkeit der künstlichen Rollen, an den Verwicklungen in stilisierten Abläufen, die Suggestion einer ästhetischen Verwandlung des Wirklichen ist dieser Moral immer als suspekt erschienen. Zu deutlich reihen sich in der Lust am Künstlichen der erotische Schein und die Kunst des Flüchtigen an einer Lebenswelt, in der Verbindlichkeit im Kontext eines Arbeitsbegriffs gefordert wird, der solche Haltungen nicht zulassen kann. Industrielle Produktion verbannt die Lust am Scheinhaften aus der nüchternen Realität der Produktionsrechnungen und überschreibt die Wünsche und Fantasien, Sehnsüchte und Begierden der Grauzone dessen, was in hochkulturellem Eigendünkel als ‚Kitsch‘ denunziert wird. Die heutige Medienkultur zeigt, dass diese Verunglimpfung auf deren Urheber zurückfällt. Wir leben im Zeitalter nicht allein der Fälschungen, sondern der Einsicht, dass diese unsere letzte Möglichkeit sind, Wahrheiten zu diskutieren, ihre Ansprüche zu verdeutlichen. Es ist paradox gerade die Falschheit des Falschen, die – sofern sie bewusst ausgedrückt wird – als letzte zeitgenössische Konzeption von Wahrheit übrig geblieben ist. Damit wird gerade nicht die Gleichwertigkeit, oder Gleichgültigkeit der Dinge und Sichtweisen behauptet. Vielmehr steht auf neue Weise zur Debatte, wie mit Verblendung und Entfremdungen, Lüge und dem Falschen in Kultur und Gesellschaft kritisch umgegangen werden kann.

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Rekonstruktion einer Kultur: Liebe aus der Bildkonserve Wir leben in der Epoche technischer Simulationen. Von der Naturwissenschaft über die Werbung bis zur Computerisierung der für die Identifikation von Volksschädlingen vorgesehenen Datensammlungen werden identische Techniken verwendet. Deshalb wundert nicht, dass digitale Programme auch im Bereich der vermeintlich außertechnischen Gefühle verwendet werden, in Bereichen also, für die unser herkömmliches Weltbild die technische Manipulation als Skandal behandelt. Jeder Eingriff in ‚Geist‘, ‚Gefühl‘ oder ‚Seele‘ wird gerade deshalb, zumindest ideologisch, abgelehnt, weil umgekehrt unter ‚Natur‘, der äußeren Welt der Dinge, also unter Mit- und Umwelt, ein Ensemble technische verformbarer und instrumental nutzbarer Größen verstanden wird. Zwar sollte der Begriff der Simulation nicht schrecken, denn er bedeutet einfach eine schöpferische Setzung. Jede Modellbildung, deren Auswirkungen auf Wirklichkeit gerichtet sind, ist eine solche Simulation. Wird aber technische Simulation für die Manipulation von seelischen Regungen eingesetzt, für die metaphysisch nur eine innere und eigene, aber keine außengelenkte Wirklichkeit angenommen wird, dann ist eine kulturgeschichtlich wirksame Differenz zwischen Zeichen und Wirklichkeit aufgehoben, an der alle Programme von Aufklärung orientiert sind. Das ist der Fall beim Video Baby, das als Träger von Zuwendung und ‚Liebe‘, Affekten und Neigungen, nun in einem elektronischen Modellbeispiel kommerziell in den USA angeboten wird. In der Verlaufsschachtel befinden sich: Videoband, Manual, Geburtszertifikat, Gesundheitsattest. Das etwa acht Minuten dauernde Band liefert nicht einfach Bilder aus dem Leben eines Modellkinds, sondern arbeitet mit der Formlogik der elektronischen Aufzeichnung, preist also gerade unter Einsatz der künstlichen Medienmittel die unverfälschte Echtheit und Wahrheit des Gezeigten. Das Programm ist in Ansätzen interaktiv aufgebaut. Der Benutzer, die Benutzerin – gedacht ist wohl in erster Linie an frustrierte Noch-Nicht-Großmütter aus der gehobenen Mittelschicht – können und sollen Sätze zum Video Baby sprechen: ‚Iss den Brei‘, ‚nimm den Löffel‘, ‚wink Papi‘, ‚krieche zu Oma‘, ‚lächle Mammi an‘. Höhepunkt dieser Texte, die als Sätze wie im Sprachkurs vorgegeben und dann auf die entsprechend nachgelieferten Bilder angewendet werden, ist die Zusprechung eines Namens und, zum Schluss, das In-den-SchlafSingen des Video Babys. Soweit sich das aus der Perspektive eines externen Betrachters vermuten lässt, ist das keineswegs ironisch gemeint. Aber gerade das provoziert Widerspruch und eine Erkenntniskrise: Wo hätte Aufklärung einzusetzen, wenn Menschen hemmungslos in künstlichen Bildern, deren Künstlichkeit für sie unzweifelhaft feststeht, eine neue, wahrere Wirklichkeit als die bisher bekannte, lästige äußere erfahren wollen? Jede ironische Brechung, auch jede Möglichkeit, mit den Mitteln der Verformung und Karikatur bestehende Verhältnisse, politische und soziale Handlungen bloßzustellen und zu verändern, würde an der neuen digitalen Mechanik, an einer unerbittlichen Oberfläche, einer vollkommen geschlossenen Realität abprallen. Exakt so wird das Video Baby angepriesen. Auf der Verpackung steht: „Die volle, reiche Erfahrung der Elternschaft ohne das Durcheinander und die Lästigkeit der wirklichen Dinge!“ „Lieben Sie Kinder, haben aber keine Zeit, sich um sie

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zu kümmern? Haben Sie Angst wegen der Enkel? VIDEO BABY ist für Sie!“ Offensichtlich ist das schlagende, betörende Argument, das immer wieder genannt und gezeigt wird: Video Baby macht nicht in die Windeln, wirft keine Dinge aus dem Laufgitter, produziert keinen Dreck, stinkt nicht, ist nicht lästig, meldet sich nicht zur Unzeit, hat überhaupt keine eigenen Ansprüche. Ist aber dazu da, die volle Wirklichkeit der elterlichen Affekte erlebbar zu machen. Gewiss hat so etwas mit der Tatsache zu tun, dass die US-amerikanische Kultur stark televisuell geprägt ist. Television ist ein Schlüssel für die symbolische Ordnung und damit die Rezeption von Kultur. Es wäre aber falsch, über vermeintlich typisch USamerikanische Exzesse der Kulturlosigkeit zu spotten. Vielmehr kann an Video Baby gelernt werden, dass die Realität als solche zynisch geworden ist. Dagegen die Kraft der Differenzen, Widerspruch und die Lust an Alternativen aufzubauen, verweist auf die Notwendigkeit, das Wirkliche über die symbolische Darstellung auf eine neue Art zu erschließen. Eine alternative und wesentlich interessantere Nutzung digitaler und technischer S ­ imulationsprogramme ist die von IBM für die italienische Regierung in den letzten zehn Jahren durchgeführte Bearbeitung der römischen Antike, wie sie in Spuren in Pompeji, als archäologisches Trümmerfeld, aufbewahrt ist. Technische Simulation steht hier nicht im Dienste einer ergänzenden Imitation, d. h. einer bloßen Nachbildung der im Computer gespeicherten und klassifizierenden Daten, für die Veranschaulichungen gesucht werden. Es geht um weit mehr: Das Simulationsprogramm liefert nicht visuelle Hilfsmodelle, sondern Interpretationen des gesamten Rekonstruktionsprozesses. Was als antikes Leben dargestellt wird und in welchem Kontext historische Aussagen gemacht werden, kann mithilfe dieser Programme bewusster durchgespielt werden als wenn ein Expertenwissen auf bloße stilgeschichtliche Veranschaulichungen zurückgreift. Damit werden technisch-simulativ Zugänge zu einer in Interpretationsvielfalt erst geschaffenen neuen historischen Realität eröffnet. Verkürzt kann man einen solchen Mediengebrauch als schöpferisch bezeichnen. Nicht zuletzt deshalb, weil er klarmacht, dass Geschichte nicht ein Faktum oder eine bloße Überlieferung ist, sondern die je aktuelle Interpretation einer Vorgeschichte aus dem Blick einer Gegenwart. Was historisches Interpretieren methodisch und sachlich beinhaltet, wird gerade wegen der Künstlichkeit des simulativen und medialen Darstellungsprogramms deutlich. Was sonst hinter Wissen verborgene ideologische Fixierung – auf bestimmte Bilder von Kultur, z. B. die Winckelmann’sche Beschwörung von edler Einfalt und stiller Größe bei den Griechen – bleibt, wird nun als Verführungskraft bildlicher Anschaulichkeit selber, zusätzlich, erfahrbar. Solche Programme schaffen eigentliche Modelle für eine alltägliche Aneignung von Geschichte. Sie sind deshalb das genaue Gegenteil zum blinden, leeren Nachahmen von rituell formalisierten seelischen Affekten, wo der Bildschirm zum magischen Zentrum des Auslebens von elterlichen oder liebessüchtigen Affekten überhöht wird.

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Gesellschaftliche Reinigung mittels Imitationstechniken Video Baby ist kein Einzelfall, sondern ein Modell. Es steht für eine Kulturauffassung, derzufolge abgeleitete Realität nicht mehr als Fiktion verstanden, sondern als unmittelbar wirkende Wirklichkeit, als Wirklichkeitserzeugungsinstrument erfahren werden muss. So lächerlich der Inhalt dieses Modells, so konsequent dieses Verfahren. Das helvetische Beispiel für das, was mit Video Baby in Eigensuggestion und hypnotischem Erleben einer künstlichen als einer wirklichen Wirklichkeit erreicht werden kann, ist das Arsenal zum Schutz des gesunden Volksganzen, des funktionierend eines auf Gesundheit verpflichteten Gesellschaftskörpers. Die zurzeit geläufige Unterbringung von Asylsuchenden, die andauernd aller Menschenrechte, erst recht der moralischen Humanität beraubt werden, die all dies verspottende verächtliche Behandlung alles Fremden, der Flüchtlinge und um Aufenthaltserlaubnis Ersuchenden, ist eine Dimension des Imitierens. Weitere wesentliche Beispiele: die latent drastische Kontrollformen fordernde Eingrenzung von AIDS-Kranken sowie, gesamtgesellschaftlich, Zivil- und Katastrophenschutz. Was soll das nun mit dem Imitationsproblem zu tun haben, lässt sich zu Recht fragen. Wieso verwenden wir falsche Materialien zur Vortäuschung von echten? Weshalb veranstalten die Zeitung ‚Blick‘ und andere Organe hämischer Selbstgerechtigkeit Doppelgängerwettbewerbe? Weshalb spielen Bankdirektoren für ‚Wetten Dass‘ Punks? Weshalb können die sogenannten Terroristen von anständigen Buchhaltern visuell nicht mehr unterschieden werden? Weshalb hat Andy Warhol zu Vernissagen einen ‚Dummy‘, einen Doppelgänger, geschickt? Offensichtlich, weil es in all diesen Fällen um mehr und anderes geht als darum, das Echte für einen wirklichen Stoff, für eine materielle Qualität zu halten. Offensichtlich, weil nicht die Dinge von Bedeutung sind, sondern das, was wir mit ihnen tun. An die Stelle der materiellen tritt die symbolische Realität. Nicht die Dinge gilt es zu studieren, sondern die Rollen ihrer Träger und Nutzer. Was ist der Stoff der Wirklichkeitsspiele ‚Asylanten‘? Nicht die Fremden, sondern die helvetischen Rituale, alles Andere als möglicherweise bösartig, vernichtend und krank zu halten. Was ist der Stoff des Katastrophenszenarios ‚Zivilschutz‘? Nicht die Katstrophe selber, sondern die Einübung in die Wehrhaftigkeit und den damit verbundenen Lohn, zum auserwählten Kreis der auch in Zukunft schützenswerten Schweizer zu gehören. Der Unterschied macht deutlich, welcher alltäglich bedeutsame Rassismus sich hinter den vorgeblich objektiven Szenarien verbirgt. Jüngst haben zwei Redakteure der Zeitschrift ‚Tempo‘ untersucht, wie es um die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Realität und Simulation in gesellschaftlichen Szenarien zur ‚Behandlung‘ oder ‚Versorgung‘ AIDS-Kranker beschaffen ist. Sie präsentierten zehn Gemeindepräsidenten Grundrisse zur Versorgung der AIDSKranken mit der Zusicherung, dass Bundesgelder für den Bau dieser Einrichtungen und die Schaffung von Arbeitsplätzen bereitgestellt würden. Nur einer von zehn Gemeindepräsidenten wollte mit den offensichtlich ein Ghetto zeigenden Plänen nichts zu tun haben. Nur wenige der anderen empfanden das Ghetto als problematisch. Die erdrückende Mehrheit war hemmungslos begeistert und noch schamloser willig, mitzutun.

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Die ekelerregende Pointe: Die vorgelegten Pläne waren die von NS-Konzentrationslagern. Anders, angepasst, war nur die Beschriftung. Auch hier: Durchschnittliches helvetisches Seelenleben hat kein Recht, das als typische ausländische Verwirrung abzutun. Tägliche Äußerungen – zum Beispiel im Umgang mit der Drogensucht, der tendenziell die Entfernung des Abfalls und Schmutzes aus der Gesellschaft fordert – belegen das Gegenteil. Es steht zu befürchten, dass eine unvermeidliche Zunahme der AIDS-Kranken und der Drogensüchtigen mit dem Ruf nach solchen Szenarien beantwortet wird. Das Imitationsproblem lässt sich hier genauer benennen: Die bürgerliche Aufklärung ist von der Vernunft der Menschen und der Vorstellung ausgegangen, Staat und Gesellschaft ließen sich im Modell eines gesunden Körpers, eines Organismus fassen. Ein solches Bild wirkt deshalb so stark, weil es Vorstellungen einer vernünftigen, umsorgenden ­Natur in sich enthält. Historisch war der Aufklärungsprozess aber nur als Erziehungsprozess durchsetzbar. Das schöne Bild vom Organismus und der graziösen Lieblichkeit einer freiwillig zur Richtgröße des Handelns gekommenen Vernunft ist verlogen, wenn nicht der Gegenpart, das Züchtigungsinstrumentarium der schwarzen Pädagogik mit dem ganzen Arsenal der Begradigungsinstrumente, bis hin zu Masturbationsverhinderungs- und Kopfformanpassungsapparaten mit im Auge behalten wird. Die helvetische Konstruktion von Feindbildern – im Zentrum die Figur von ‚Fremdem‘ schlechthin, früher die kommunistischen Russen, dann, zu Zeiten des unsäglichen Zivilschutzbüchleins, die barbarischen Asiaten, heute die Türken und Tamilen – bezieht sich tiefenpsychologisch auf diesen Komplex einer hygienesüchtigen Interpretation des gesunden Volksganzen als eines wohlgefügten organischen Körpers. Das lässt sich an der Übersteigerung der Affekte und Emotionen (meist einer ­beschämend niedrigen Art) absehen, mit denen auf die vermeintliche Bedrohung des gesunden Eigenen reagiert wird. Der Zivilschutz, erst recht die Umrüstung vom militärischen zum industriellen Katstrophenschutzszenario, ist bloß die öffentlich rituelle Regelung dieser tief liegenden, durch Erziehung radikal eingeübten affektiven Besitzung der Heimat mit der Vorstellung des Gesunden, Organischen. In dem Maße, wie Pro­ blemlösungen aus diesem Modell abgeleitet werden, wird das Handeln zu einer Imitation des Szenarios perfektioniert. Die Realität verschwindet darin oder daraus. Sie bleibt einzig fassbar noch als Störfall der so wunderbar, wiederum organisch geregelten Szenarien. Was, wenn die Gift- und Chemieunfälle sich nicht an die Bürozeiten derer halten, welche die Schutzkeller zu öffnen haben? Was eigentlich bedeutet die Forderung nach der ‚Säuberung‘ des Zürcher Platzspitz oder der Basler Rheingasse? Die Sprachmetapher zeigt, dass hier das Wörterbuch des Unmenschen weiter als volks- und hygienepolitisches Tugend-Verzeichnis genutzt und gepflegt wird. Säubern und Ausmerzen ließen sich ja alleine die Menschen. Worum geht es in der Logik dieser simulativen Schutzprogramme, den Ritualen der öffentlichen Hygiene des Volkskörpers, dem offenbar mehr als ökologisch regenerierbare zehn Prozent an ‚Fremdem‘ nicht zugemutet werden sollen? Es geht um die Immunisierung gegenüber einer Wirklichkeit, die nicht mehr als Problemlösungsgröße definiert werden kann. Gesellschaftspolitik als Imitation dieser ästhetischen Verführung zum volkshygienischen Organismus tritt an die Stelle einer Aufarbeitung und Aneignung des Realen. Deshalb werden in der Schweiz mit Vorliebe

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Modellszenarien und nicht die Realitäten imitiert. Damit aber löst sich Handeln von Erfahrung ab. Im Ernstfall wird deshalb dieses imitierende Handeln, wird gerade der Zivilschutz, werden Drogensäuberungspolitik und Fernhaltungspolitik des Fremden zu Unordnung und Zerstörung, zu Scheitern und Katastrophe führen. Deshalb bewährt sich der Volksköper nicht am Realen, sondern den Ritualen: Bloß aufgesetzte Selbstdarstellungen müssen offenbar unentwegt eingeübt und repetiert werden. Diese materielle Kraft hängt von der Regelung des Symbolischen ab. Aktuell wissen wir, dass die Debatte um die Abschaffung oder Beibehaltung der Armee nicht von der militärischen Realität bestimmt ist, sondern von der je unterschiedlichen Einschätzung von Unerlässlichkeit, Nutzen oder Gefahr der rituellen Männlichkeitsrollen, die einen helvetischen Konsens gerade dort sichern, wo im Chaos der dezentralen Eigenständigkeiten ein Föderalismus niemals zu gesamtnationalen Bildern, Traditionen und Symbolen hätte führen können. Gerade im gesellschaftlichen ­Zusammenhang lässt sich die Gefährlichkeit der blinden Nachahmung beschreiben. Dies umso mehr, als die Neigung, an die Stelle der unerbittlichen Erfahrung des Realen die simulativen Surrogate und Ersatzbildungen zu setzen, psychologisch gut begründet ist. Alle Forschungen zur kindlichen Psyche und zur Adoleszenz belegen, dass Imitieren grundlegende Bedingung nicht nur für Traditionsbildung, sondern auch für deren innovative Veränderung ist. Allerdings gelingt dies nur, wenn Imitationskonzepte aktiviert werden. Imitieren muss zu einer schöpferischen Aktivität entwickelt werden. Das verweist auf einen doppelten Anpassungsprozess: Eigenanpassung an externe Bedingungen und verändernde Aneignung der äußeren Wirklichkeit. Dem steht gesellschaftspolitisch eine Moralisierung der Gesundheitsfiktion entgegen: Ausländer dürfen nicht auffallen, sondern haben sich bis zu dem Punkt anzupassen, an dem sie schweizerischer sich gebärden als die Schweizer selbst. Die Angst um die Bedrohung des Eigenen ist ohne Misstrauen in die Wirksamkeit des hygienischen Selbstschutzes des gesunden Volkskörpers nicht denkbar. Die folkloristische Behauptung des Eigenständigen ist dabei oft nur die Kehrseite einer Unfähigkeit zur wirklichen Erfahrung einer anderen Kultur und zu einer wirklichen Kommunikation mit dem Fremden. Entgegen allen Imitationen der isolierten, Schutz klinisch und künstlich behauptenden Szenarien gesellschaftlicher Regenerierung hilft nur die Inte­gration der unbegreiflichen Realität zur Entwicklung einer lebendigen und lebensfähigen Kultur. Letztlich dient gerade das Verständnis der Widersprüchlichkeit des Imitierens zwischen blinder Nachahmung und aktivierendem Modell dazu, einen Wirklichkeitsbegriff zu entwickeln, der zukunftsorientiert ist. Die Eigenständigkeit je verschiedener Kulturen hängt davon ab, dass die für sie nicht mehr schematisch verständlichen Grenzpunkte, d. h. die Andersartigkeit des anderen, als ständige Provokation anerkannt werden können, ohne dass sie mittels Feindbilder oder militärischer Aktionen verteufelt und bekämpft werden. Das wird weiterhin nicht zuletzt deshalb schwierig bleiben, weil die neuzeitliche abendländische Medizin an einem logistisch-militärischen Modell von Gesundheit mitgewirkt hat, das alles, was überhaupt als ‚Krankheit‘ bedrohlich erscheint, tendenziell in der Bildhaftigkeit feindlicher Invasoren und militärischer Eroberungen dämonisiert. Was wir aber seit Aristoteles wissen, dass Gesundheit und K ­ rankheit ­graduelle Erscheinun-

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gen desselben sind, gilt es, auf das gesellschaftliche Leben anzuwenden. Die Suche nach toleranten Formen der Kulturbegegnung gelingt nicht ohne Radikalisierung der Geltung des Anderen als eines notwendigen Anderen.

Natur als Sprache? Das Problem, dass die gängigen Behauptungen des notwendigen Imitierens von der durchgängigen Gleichbeschaffenheit von Modellvorgabe und Nachbild ausgehen, ist aber keineswegs nur für die soziale Alltäglichkeit, die Konflikte zwischen dem Eigenen und dem Fremden zentral. So ist beispielsweise auch der in den letzten Jahren zunehmende Hang nach Musealisierung und vorgeblich originalgetreuer Restaurierung von Gebäuden und Kulturgütern aller Art in diesem Zusammenhang zu sehen. Erst recht bieten die ‚Hollywoodisierung‘ Europas, die grassierende Erlebnissucht in Disneylands aller Art, die Perfektionierung des Konsumismus in der Freizeit Belege für die zunehmende wirtschaftliche Verwertung eines blinden Hangs zum Imitieren des Nostalgischen, einer nach rückwärts in die Geschichte projizierten Illusion. Immerhin sollten die Naturwissenschaften vor einer unreflektierten Imitationsbehauptung gefeit sein, denkt man. Bei näherer Betrachtung allerdings kommt diese Meinung arg ins Wanken. Zweifellos wird jeder Naturwissenschaftler von der Meteorologie bis zur Gentechnologie behaupten, die Wissenschaftlichkeit bewähre sich daran, was von ‚Mutter Natur‘ imitiert werden könne. Modelldarstellungen, Experimente, Versuche und Simulationshilfen würden sich bloß auf ein besseres Verständnis der natürlichen Ordnungen abstützen. Unabhängig von einer ethischen Diskussion von Grenzproblematiken – Umprogrammierung der Genetik, künstliche Aufzuchten, synthetische Schädlingsbekämpfer, Retortenbabys – ist eine Voraussetzung dieser Auffassung im Rahmen eines materialistischen Naturverständnisses, dass Natur wie Sprache strukturiert sei, dass sich ihre Ordnung in Ordnungen der sprachlichen Beschreibung ohne Verlust darstellen lasse und dass unser Weltbegriff wissenschaftlich weiterhin vom Ausschluss der Widersprüche und Zufälle bestimmt sei. Die Auffassung, Natur eigne eine Sprache, wiederholt die seit Jahrhunderten ausweglos debattierten Widersprüche eines philosophisch-theologischen Denkens, das unter Strafe der Verzweiflung die Möglichkeit, Welt und Wirklichkeit seien unbedeutsam und nicht zwingend geordnet, mit allen suggestiven Mitteln ins Vergessen bannen möchte. Deshalb ist es kein Wunder, dass die medizinischen Versprechungen – die Verlängerung des Lebens, die Heilung vom Unheilbaren, die stetige Verbesserung der Erbmasse – von etwas ganz Unwissenschaftlichem geprägt sind, nämlich von der Ethik des Übermenschen. Geschichtlich ist spätestens mit Platon das Problem dieser Ethik umschrieben als Suggestion, eine kulturell verfeinernde Auswahl natürlicher Fähigkeiten führe zum Vorrang einer Herrschaft der Klugen, an deren Vorrecht die Schwächeren die gesellschaftlichen Geschicke abzutreten hätten. Gerade die aktuelle Diskussion zeigt, dass die erkenntnistheoretische Voraussetzung, Natur sei als Sprache lesbar (schon die Bibel spricht vom

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Buch der Schöpfung, als welches der Kosmos lesbar sei), immer in Zusammenhang gesehen werden muss mit den Träumen eines mächtigen Übermenschen, dessen Handeln nicht mehr von den Schäden und der Relativierung unserer bisherigen Existenz bestimmt ist. Die Behauptung, in den Labors werde nur ‚Mutter Natur‘ imitiert, ist eine Schutzbehauptung, die darauf zielt, die Diskussion über Rahmenbedingungen eines keineswegs naturgeschichtlichen Handelns der Korrektur zu entziehen und der Regie der ‚Natur schlechthin‘ zu unterstellen. Da gerade die Naturwissenschaft eine Geschichte hat, die auf die Probleme der Neuzeit verweist, aber nicht auf ‚Natur‘ schlechthin, beinhaltet das behauptete Imitieren eine bewusste Mystifikation. Deutlicher gesagt: eine systematische Täuschungsabsicht. Das ließe sich an der Motivation der Naturwissenschaftler feststellen. Es wäre falsch, ihnen die Figur des bösartigen Monstrenerzeugers und Weltenherrschers zu unterstellen. Dass für sie ethische Überlegungen unwesentlich sind, zeigt gerade die Geschichte der Erfindungen in diesem Jahrhundert ebenso wie die Analyse der unentwirrbaren Verflechtungen mit dem militärisch-technologischen Apparat. Ohne Probleme einsehbar aber ist die Faszination, die von der Vermutung ausgeht, man könne als Wissenschaftler die universale Sprache der Natur verstehen. Test des Verstehens ist – analog zu Computerprogrammen – die Fähigkeit, andere Codes einzuführen. Dass Natur umprogrammiert werden könne – vorgeblich aus Gründen einer präventiven Medizin –, ist also gerade die Bewährungsprobe für das, was Voraussetzung ist: Natur als Sprache zu behandeln. Solche Visionen stammen letztlich aus der modernen Sprachwissenschaft, die auch einer der methodischen Anreger für die digitalisierten Programme der Computer gewesen ist. Nimmt man die philosophische Erkenntniskritik im Prozess der Neuzeit ernst, dann besteht kein Zweifel, dass solche universalen Aussagen über ‚Natur‘, erst recht über ihre abschließend bestimmende Tiefenstruktur, haltlos sind. Ihrer Behauptung eignet aber eine Faszination, die nicht zuletzt in der Beschaffung von Finanzierungsmitteln zu Buche schlägt. Es ist noch nicht abzusehen, aus welchem Bereich kulturell die größten Gefahren drohen: aus der stofflichen Wirklichkeit des Hantierens mit artifiziellen und synthetisch programmierten Keimen, Bakterien, oder aus der irreführenden Imitationsbehauptung. Interessant an den technologischen Prozessen ist – spätestens seit der stetigen Erfahrung, dass als sogenannte Nebenwirkungen immer die nächsten Probleme allergrößten Ausmaßes entstanden sind – nicht die Behauptung, sie würden sich aus Natur ableiten, sondern die nicht eingestandene Konstruktion. Imitiert wird keineswegs ‚Natur‘, sondern ein Szenario, das einen kulturell bestimmten Begriff von Natur unbesehen unterstellt hat. Haben denn die Alchemisten nicht in anderer Zeit genau dasselbe behauptet? Ist nicht das medizinische Versprechen eines Schutzes vor genetischen Fehlern eine Suggestion wie die von der Verwandlung von Dreck in Gold? Ist nicht bedrohlich, dass dieses Versprechen mit der Ausmerzung (präventiv) eines ‚unwerten Lebens‘ operiert? Werden nicht die Universalprogrammierer der ‚Sprache der Natur‘ zu globalen genetischen Selektionspolizisten, die sich selber einen sozusagen göttlichen Auftrag erteilt haben? Diese Frage leitet sich nicht aus einem Verdacht her, sondern aus dem Bewusstsein, wie anspruchsvoll schöpferische Imitationsprozesse bearbeitet werden müssten. Gerade vorgeblich objektive Wissenschaften fallen nur hinter das Problembewusstsein

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der poetischen Sprache zurück. Wo sie Wirklichkeit verspricht, sind wir längst auf die Interpretation von Symbolen, auf Sinnbilder, angewiesen. Die ‚Sprache‘ oder ‚Grammatik‘ ‚der Natur‘ ist nur eine nützliche Fiktion, wenn sie als Fiktion anerkannt wird. Sie zwingt uns dann, unsere Handlungen eigens zu rechtfertigen. Die gentechnologische Suggestion einer korrigierenden Manipulation der Erbmasse (wie ernsthaft auch immer in Aussicht gestellt oder stehend) muss als Plädoyer für eine bestimmte ästhetische Sicht auf die Natur verstanden werden. Das Modell dafür ist einfach und altbekannt: der bildungsbürgerliche subjektive Geschmack, der am interesselosen Wohlgefallen an Kunst vorgeblich die natürliche Ordnung seiner Sinne harmonisch erfährt. Nichts Neues also? Immerhin eine erstaunliche Konsequenz: die naturwissenschaftlichen Methoden nähern sich den linguistischen und geisteswissenschaftlichen an. Wissenschaft wird zur Interpretation unserer Kultur. Dazu muss sie die blinden Imitationsbehauptungen überwinden. In dem Maße, wie ihr das gelingt, trägt sie zur symbolischen Differenzierung bei und trägt die wissenschaftlichen Erörterungen von der Isoliertheit der mächtigen Expertenkulturen in die Alltagskultur zurück.

Alltäglichkeiten Diese demokratische Hoffnung – vielleicht auch bloß eine Illusion – setzt auf ein alltagskulturelles Wirken des bewussten Imitierens. Das Nachdenken über spezialisierte wissenschaftliche Tätigkeiten kann sich nur auf deren Methode, nicht die Daten selbst beziehen. Dafür liefert aber die Alltagskultur des Imitierens einen entsprechenden Schlüssel: die Selbstbeobachtung der Verführbarkeit durch ästhetische Spekulationen, deren Eigentlichkeitsversprechen sich immer als Täuschung verrät. So parallelisiert Bazon Brock die Leistungen der Kunst mit denen einer Echtheit des Falschen, wie sie im Ersatzkaffe und den Placebo-Effekten zum Vorschein kommen. Tatsächlich praktizieren gegenwärtig Künstler der sogenannten ‚appropriation art‘ einen abschließenden Zusammenbruch der Originalitätsbehauptung. Wenn Ellen Sturtevant oder Mike Bidlo oder Sherry Levine identisch Bilder und Objekte anderer Künstler nachmachen, sie aber als eigene Werke signieren, dann verschiebt sich nicht allein die Originalitätsbehauptung vom Inhalt auf die Methode. Dann wird vor allem gezeigt, dass der Mechanismus des Imitierens nur dann ästhetisch wirksam wird, wenn Imitieren sich bewusst auf den Kontext der Vorprägungen und Modelle bezieht, wenn also deren Problemstellungen jeweils neu in historischen Bezügen angeeignet werden. Dann aber erfährt der Rezipient sich als produzierender Mensch: Er beobachtet sich bewusst als Objekt solcher Modelle und dechiffriert die Imitationsprozesse als solche, aus denen er Bedeutungen und Zeichen sowohl im künstlerischen wie im alltäglichen Handlungsbereich schöpft, denen er aber keineswegs einfach gehorsam und willig nachzufolgen hat. Der ästhetische Mechanismus der Aneignung des Zwangs zum Imitieren wird also zu einem Schlüssel für alle Belange und Beeinflussungen des Alltags in der technologisch-wissenschaftlichen, technologisch-militärischen, politisch-mediatisierten Lebenswelt der Gegenwart.

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Es gibt eigentlich keinen Bereich des Alltags, der nicht von Imitationen bestimmt und durchdrungen wäre. Doppelgängertum und das Vortäuschen einer prominenten Persönlichkeit sind stetige Sehnsuchtsformeln. Der ‚echte Heino‘ ist der wahre falsche Heino, gegen den der echte Heino zwar gerichtlich vorgehen, aber nicht verhindern konnte, dass er als blasse Kopie seiner selbst denunziert wurde. Fälschungen von Antiquitäten ist eine der vielen Wachstumsbranchen. Überhaupt scheint die Verwertung des Falschen gegenüber der Erfindung eines Neuen gnadenlos im Vorsprung zu sein. Wer erinnert sich nicht an die kulturgeschichtlich bedeutsamen Probleme der Anerkennung echter Kunstwerke, Ausdrücke der Einzigartigkeit unvergleichlicher und originärer Schöpfungskraft, die sich als falsche Zuschreibungen erwiesen haben? Wer kann einen echten von einem gefälschten Modigliani unterscheiden? Was bedeutet die Unterscheidung dann, wenn ein Gesamtwerk vorliegt, das umfassend als originär auch dann gilt, wenn wir wissen, dass zahlreiche, wenn nicht gar die Mehrheit der ‚echten Modiglianis‘ nicht eigenhändig sind? Und was geschieht mit Rembrandts Goldhelm-Bild, dem über lange Zeit auratisch wachsenden Inbegriff Rembrandt’scher Originarität, das kein eigenhändiges Werk ist? Sind hier die Werke falsch oder die Zuschreibungskriterien? Gibt es nicht auch eigenhändige Werke, die falsch sind, Falsifikate, Imitationen einer nicht durchgearbeiteten Sicht oder Ideologie? Das vorgeblich Echte fungiert heute in erster Linie hierarchisch und geschmackspolitisch: Schaffung von Knappheitsgütern für die beglaubigte Zugehörigkeit zu einer Elite. Gerade deswegen werden zum Beispiel Verpackungen in der Parfumindustrie kopiert. Wer an Echtheit interessiert ist, muss über eine höchstentwickelte Wahrnehmungs- und Unterscheidungsfähigkeit verfügen. Die Firma ‚Tecnolumen‘ produziert nicht nur, qualitativ hochstehende, Replikate von Bauhaus-Objekten, sondern rekonstruiert sogar verlorene Originale. Wenn sich der Wassili-Sessel von Marcel Breuer vom Möbel ‚Wasty‘, den ein Warenhaus vertreibt, nur noch durch eine ins Leder geprägte Signatur und einen mindestens dreifachen Preis unterscheidet, dann bedeutet das nicht bloß eine massenkulturelle Verwertung von Prestige­dingen als Billigprodukte, sondern auch die Realisierung des dem Original zugrunde liegenden sozialästhetischen Demokratisierungsprogramms. Eine solche Wachstumsbranche setzt auf die Verbilligung des Identischen außerhalb einer Unterscheidungsnotwendigkeit zwischen echt und falsch. Selbst die zunehmend kopierten Medikamente und Arzneimittel aller Art lassen sich nicht hinsichtlich ihrer Wirkung qualifizieren; hier wird das Echte nur über die kontrollierten Absatzbedingungen der Industrie bei den Ärzten definiert. Nicht was der Arzt verschreibt, sondern nur noch die Tatsache, dass er und kein anderer das tut, beglaubigt die Echtheit der verschriebenen Stoffe. Mit dieser Aura wird allenthalben geworben, wenn beispielsweise Gemäldekopien als „unvergleichlich Echtheit des Originalen ausstrahlende“ Werke dargeboten werden, die ihre Echtheit als Kopie gerade dadurch behaupten, dass sie sich als „Originale von den Originalen“ herleiten. In solchen ästhetischen Wendungen steckt ein Potenzial der Aufklärung: Wer den Täuschungsabsichten des vorgeblich Echten zu misstrauen gelernt hat, der wird seinen sozialen Status nicht länger als imitativen denunzieren und blinden Gehorsam üben. Wer bewusst Einwirkungen von außen an sich selber zur Erfahrung bringt (wie die

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­ ünstler, die identische Vorbildungen methodisch nachstellen), der leistet eine ErfahK rung, die dem Originalen schon deshalb misstraut, weil dieses als Prätention des Fremden behauptet wird, das es bloß aufzunehmen, zu entdecken, zu bewundern gelte. Bewusstes Imitieren ist ein Modell der Veränderung und Verformung des Wirklichen. Dieses wird durch ästhetische Differenzierung selber als Differenz bestimmt. Imitieren sprengt kritisch und lustvoll die Durchgängigkeitsbehauptung des Realen auf und zeigt, stetig und in jedem Fall, dass nicht bloß eine Wirklichkeit existiert. Imitationen sind schöpferische Handlungen. Sie setzen gegen die großen Zeiten und Geschichten auf die kleinen Handlungen. Deshalb sind sie zersetzend gegen Großmachtfantasien. Nur Wahrheitsbehauptungen um jeden Preis führen in den Untergang. Das aber mit Sicherheit.

Informationskasten zur Übersicht Imitieren als Kulturmodell Das Kunstgewerbemuseum Zürich präsentierte vom 22. November 1989 bis zum 28. Januar eine Ausstellung unter dem Titel Imitationen. Nachahmung und Modell: Von der Lust am Falschen, begleitet von einer Publikation, in der die Recherchen, Überlegungen und Ausführungen zur Vorbereitung der Ausstellung in einem breiten Rahmen dargestellt werden (Konzept und Realisation: Hans Ulrich Reck, Jörg Huber, Martin Heller). Ein klassisches Gestaltungsthema? Gewiss, aber ein ganz neuer Zugriff. Die in den letzten Jahren breit verwerteten Aspekte von Fälschung und ‚Fake‘ sowie die klassischen Domänen des Metiers, das Vortäuschen falscher Materialien, die Unterstellung von Surrogaten oder der Aufweis der im Design grassierenden Plagiate und Kopien, spielen nur eine Nebenrolle. Im Zentrum steht der individuelle und gesellschaftliche Umgang mit Chance und Gefahr, Notwendigkeit und Zwang des Imitierens. Es geht um die Modellierung von Körper und Seele, die immer schnellere Annektierung fremder Kulturen, um gesellschaftliche Säuberungsmodelle, die Eliminierung von Abweichung, die Verselbstständigung künstlicher Szenarien wie Zivilschutz, Gentechnologie und Krieg. Am Beispiel der Erinnerungsinszenierungen des Gestapogeländes in Berlin wird den Widersprüchen historischer Dramatisierungen nachgegangen. Die Moral der Politik in einem so exponierten Zusammenhang verweist auf alltäglichere Formen imitierenden Handelns: Doppelgängertum, Gier nach Ersatzwelten, Restaurierung einer nostalgisch verklärten ‚originalen‘ Architektur, Nachbildungen eines vermeintlich Echten bis hin zu selbstverblendeten Allmachtsfantasien. Diesem gefährlichen Imitieren wird der Modellaspekt entgegengestellt: bewusste Aneignung von Voraussetzungen und Vorprägungen. Imitieren erscheint gerade dann als schöpferisch, wenn es in einer Zeit vorgeblicher Wahrheiten zeigt, dass nur das sich selbst bewusste Falsche als Wahres begriffen werden kann. Die Ausstellung selber nutzt diese verändernde, aktivierende Art des Imitierens als Präsentationsform: Boxring, Arsenal/Depot, Kaiserpanorama sind Stationen unter anderen in einem Warenhaus der Kulturangebote, das die Heiligung des All-

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täglichen mit einer Achsenbildung als Kirchenbau vollzieht. Anliegen ist nicht bloß ein Zeigen, sondern die Wahrnehmung selbst geleisteter Zusammenhänge. Wichtig ist den Initianten der Bruch mit der üblichen Verdoppelung von Ausstellung und Katalog. Die Publikation hat wesentlich andere Inhalte, Formen und Aufgaben. Sie dient zum Aufbau eines Untersuchungsfeldes zwischen den Disziplinen und zwischen Alltag, Kultur, Medien und Wissenschaft. Damit wird mit dem gebotenen Aufwand und vergleichsweise geringen Mitteln eine andere Aufgabe für Kunstgewerbemuseen in ­Anspruch genommen als die traditionelle Vermittlung der materiellen Gebrauchskultur. Es geht um die Notwendigkeit von speziellen Recherchen und um einen Kultur­ begriff, der weder den Alltag verklärt noch einer überholten Hochkultur huldigt. Es geht um Fallstudien und Tests innerhalb der Differenzierungskraft der aktuellen Massenmediengesellschaft. Die Dinge haben Bedeutung als Handlung. Die Ausstellung erörtert die Darstellung solcher Handlungen. Sie befragt symbolische Wirkungszusammenhänge. Ein aktueller Designbegriff muss sich auf diese Symbole beziehen. Die Kultur der Dinge wird in eine Kultur der Handlungen umgeformt. Das von Michael Schirner entworfene Plakat bezieht sich entsprechend mit seiner Vermutung „ALLES FALSCH“ nicht auf die Ausstellung, sondern mit deren Hilfe auf die allzu nahen, allzu vertrauten Phänomene unserer alltäglichen Wirklichkeiten im Ganzen. Die Publikation enthält Beiträge der ­Herausgeber Hans Ulrich Reck, Jörg Huber, Martin Heller sowie von Martin Brauen, Bazon Brock, Lucius Burckhardt, Bernhard Decker, Stefanie Endlich, Ursula Gillmann, Hans G. Helms, Dieter Hoffmann-Axthelm, Konrad Hoffmann, Hans Christoph von Imhoff, Eva Meyer, Werner Oeder, Mark Pieth, Claire Rast, Martin Roda Becher, Urs Ruckstuhl, Michael Schirner, Liliane Weissberg (Verlag Roter Stern/Stroemfeld, Frankfurt/ Basel, 304 S., rund 350 Abb., Fr 38.-).

Informationskasten zu den Bildern von Doppelgängerinnen Wirklichkeiten? Träume? 1988 erschien im ‚Blick für die Frau‘ eine Serie. „‚Blick für die Frau‘ erfüllt Träume“. Einmal jemand anderes sein können und prominent: Eveline (22) wird dann zu Steffi Graf. Wo die naturgemäß mitgebrachte Ähnlichkeit nicht reicht, wird mit Schminke und Retousche, Kleidung und Accessoires entsprechend nachgeholfen. Das Team, das für die Verwandlung besorgt ist, wird jeweils vorgestellt. Ein Interview mit der Prominententrägerin rundet die Sache ab. „Möchten Sie auch einmal aussehen wie ein Superstar, wie Ihr Idol, Ihre eigene Traumfrau werden?“ Der Wunsch, endlich jemand anderes zu sein, ist ein Schlüsselthema gegenwärtiger Kultur. Nur Ersatz? Am liebsten in die Steinzeit reisen, Kultur nochmals, von innen her, entwickeln? Oder bloß ein synthetisches Medikament, das vom normalkolonialistischen Tourismus über Disneylands und Europaparks bis Ballenberg und den Museen der 1980er-Jahre als Euphorie der Kulturkonsumwirtschaft ausgereizt wird? Mitnichten. Ein Blick in die Geschichte der Philosophie zeigt, dass gerade das der kitschsüchtigen Wegwerfgesellschaft vorgehaltene Reizthema des Falschen und Unwirklichen im Zentrum des Realitätsbegriffs

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des abendländischen Denkens gestanden hat. Wirklichkeit wird im Verdacht gebannt, die Welt sei bloß ein durch einen bösen Geist vorgespiegeltes Wahngebilde, eine irrlichternde, verführerische – grässlich schöne – Täuschung. Das Leben: ein einziger, nie endender Traum, der sich selber träumt? Einige Blüten – dargebracht im Folgenden als Zitate/Auszüge – aus der Geschichte des Unwirklichkeitsverdachts zeigen die Macht der imitierenden absichtlichen Eigentäuschungen. „Wenn einer Vernunft hätte, so würde er bedenken, dass durch zweierlei und auf zwiefache Weise das Gesicht gestört sein kann, wenn man aus dem Licht in die Dunkelheit versetzt wird, und wenn aus der Dunkelheit ans Licht.“ (Platon) „Welchen Grund habe ich jetzt, da ich meine Zehen nicht sehe, anzunehmen, dass ich fünf ­Zehen an jedem Fuß habe?“ (Ludwig Wittgenstein) „So ist auch die Blindheit nichts Reales, obwohl Steine nicht allein deshalb blind genannt ­werden können, weil ihnen der Gesichtssinn fehlt.“ (Thomas Hobbes) „Wenn ich nicht weiß, ob Einer zwei Hände hat (z. Bsp., ob sie ihm amputiert worden sind oder nicht), werde ich ihm die Versicherung, er habe zwei Hände, glauben, wenn er glaubwürdig ist.“ (Ludwig Wittgenstein) „Man glaubt auf Grund eines schändlichen Missbrauchs, andere Dinge zu sagen, obgleich man nur andere Wörter oder Laute ausspricht, mit denen man weder eine Idee noch einen wirklichen Unterschied verknüpft.“ (Julien Offray de La Mettrie) „Also ist alles relativ. Auch wer sagt, dass nicht alles relativ sei, bestätigt, dass alles relativ ist. Denn durch die Argumente, mit denen er uns widerspricht, beweist er, dass auch die Behauptung selbst, dass alles relativ sei, nur für uns gilt und nicht allgemein.“ (Sextus Empiricus) „Die Erde stöhnt unter der Vielfalt von Tempeln, die dem Irrtum geweiht sind. Es gibt keine ­Religion, die mehr als die Religion einiger Gegenden wäre.“ (Claude Adrien Helvétius) „Das Träumen ist eine weise Veranstaltung der Natur zur Erregung der Lebenskraft durch ­Affekte, die sich auf unwillkürlich gedichtete Begebenheiten beziehen, indessen dass die auf der Willkür beruhenden Bewegungen des Körpers, nämlich die der Muskeln, suspendiert sind.“ (Immanuel Kant) „Die Reihe der Erinnerungen besteht vergebens weiter, und die Urteile vollziehen sich umsonst, wir haben eine Halluzination; genauer gesagt, wir wissen, dass wir von einer Halluzination besessen sind, aber das Bild erscheint darum nicht weniger äußerlich.“ (Hippolyte Taine)

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„Damit ergibt sich wiederum zugleich, dass nichts wahr ist, wenn doch auch eben dieses (nämlich, dass nichts wahr ist) ein Etwas und damit wahr ist. Wenn das Etwas sowohl falsch als auch wahr ist, dann muss jedes einzelne sowohl falsch als auch wahr sein. Daraus folgt, dass nichts von Natur wahr ist. Denn was von solcher Natur ist, dass es wahr ist, kann keinesfalls falsch sein. Wenn das Etwas weder wahr noch falsch ist, gesteht man ein, dass dann auch alles einzelne weder falsch noch wahr genannt wird und daher nicht wahr sein kann. Deswegen also bleibt uns verborgen, ob es etwas Wahres gibt.“ (Sextus Empiricus) „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft.“ (Friedrich Nietzsche) „Wenn es also eine Welt gibt, dann gibt es viele, und wenn viele, keine.“ (Nelson Goodman) „Denke ich einmal aufmerksamer hierüber nach, so sehe ich ganz klar, dass niemals Wachen und Traum nach sicheren Kennzeichen unterschieden werden können, – so dass ich ganz betroffen bin, und diese Betroffenheit selbst mich beinahe in der Meinung bestärkt, dass ich träume.“ (René Descartes) „Die Urteilskraft ist es, die zwei Welten erschafft, die des Imaginären und die des Realen; und dieselbe Urteilskraft entscheidet nach der Erschaffung dieser zwei Welten, ob dieser oder jener psychische Inhalt zum einen oder zum anderen gehört.“ (Jean Paul Sartre) „Wenn ich über Sprache rede, muss ich die Sprache des Alltags reden. Ist diese Sprache etwa zu grob, materiell, für das, was wir sagen wollen? Und wie wird denn eine andere gebildet? Und wie merkwürdig, dass wir dann mit der unsern überhaupt etwas anfangen können.“ (­Ludwig Wittgenstein)

Geschrieben 26. ff. Oktober 1989 im Kontext und als Bekanntmachung der Ausstellung „Imitationen. Nachahmung und Modell. Von der Lust am Falschen“ im Museum für Gestaltung Zürich (Publikation der Recherchen, Hintergründe, diskursiven Erörterungen unter dem identischen Titel im Verlag Stroemfeld, Basel/ Frankfurt a. M. 1989); erschienen unter dem identischen Titel „Imitieren? Klar, immer. Aber wie?“, Basler Magazin – Politisch-kulturelle Wochenend-Beilage der Basler Zeitung, N° 47/89, 25. November 1989, S. 1 bis 5). Die dem Text beigegebenen Abbildungen umfassten einige Motive, Werke und Bilder, die im Prozess der Erarbeitung der Ausstellung eine wichtige Rolle spielten und dort auch als Exponate wirkten. So zum Beispiel die Architektur des Himmelsbogens als eine Pathosformel von der Antike bis zu McDonald's. Weiter: Typografische Verzeichnungen, bewusst gesetzte Fakes, politische Umwendungen und mediale wie medienstrategische Enteignungen von Bildmotiven bis hin zu juristischen Emblemen durch Akteure der Zürcher Jugendbewegung. Als Vertreter der Appropriation Art neben einem Duchamp von Elaine Sturtevant wurde gezeigt ein von Mike Bidlo gemalter Proto-Picasso (Mike Bidlo, „Not Picasso“, 1983). Die Echtheit alltäglicher Situationen vortäuschenden Kunstwerke entlehnten wir echten Kunstwerken von Duane Hanson und Guillaume Bijl. ­Ergänzt wurde dies durch echte Kunstkopien als vorgetäuschte falsche Kunst der Kopie.

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NACH DER ORDNUNG DES GESCHMACKS: FÜR EINE ÄSTHETIK DES EXPERIMENTELLEN Wie komplex die Beziehungen zwischen einer Demokratisierung ästhetischer Formen und der Fixierung auf die kulturelle Ohnmacht eines erzwungenen Ausgangs aus der subjektiven Geschmackstheorie, d. h. einer banalisierend beanspruchten Transformation der hochkulturellen Sphäre, sind, belegt eine Attacke, die Donald Judd – dessen Werke für die rationalistische Herrschaft der Kunst über ihre Aneignungsmitte1 eintreten – zu einem Rundschlag gegen aktuelle Kunst und die, wie er sagt, ‚Mode des Postmodernismus‘ motiviert hat. Interessiert am unverfügbaren Wert einer individuellen Urheberschaft plädiert Judd gegen den pluralistischen Zerfall des Ideologischen und gegen eine totale Ausdehnung des Ästhetischen auf das ganze Leben für ein ‚wirkliches Urteilsvermögen‘, das die geschmacklichen Wertigkeiten filtert, sichert und bestimmt, was in der aktuellen Kultur hinsichtlich der Komplexitätssteigerung künstlerischer Formzusammenhänge überhaupt darstellungsbedürftig sei. Judds Forderung ist eine altvertraute, von ihm mit anrührend ehrlicher Empörung eingeklagt. Es geht ihm um die Macht der Vernunft, wie sie der Begründungsmodus der reflektierenden Urteilskraft an der Ästhetik der Erfahrungen als Kunsttheorie einerseits, Sinnlichkeitsausdruck des funktionierenden kategorialen Urteilsvermögens andererseits durchspielt. Erreicht werden soll ein Diskurs unter Verständigen, an Auseinandersetzung ­interessierten, sich kohärent unter den Bedingungen der ‚Als-ob- Zweckhaftigkeit‘ der Natur verhaltenden Menschen, die mit ihrem Wissen und der Klärung der Harmonie ihrer Erfahrungen auf die Ungebildeten erzieherisch einwirken. Judds Forderung ist die nach dem Weltgerichtshof ‚Vernunft‘ und findet im ästhetischen Feld den klassischen Ort ihrer symbolisch-öffentlich regulierenden Bewährung. Rationalität bewährt sich an solcher Ordnung interpretationsnotwendiger Erscheinungen: Das Reale unterliegt der ästhetischen Selbstbehauptung; diffuse und fließende Bilder werden in die Ordnung der Schrift, des Kontinuierlichen, der Sukzession und Hierarchie transformiert. Ästhetisches Vermögen gilt Judd als Durchsetzung einer Ordnung, die Prämissen, Erörterung, Deduktion, Überprüfung, Selbstbegrenzung dialektischer Erkenntnisüberschreitung und Darstellung unterscheidet und in ein Klassifikationssystem rationaler Urteilsäußerungen eingliedert, deren Erfahrungsprinzip in der Ästhetik der Totalität aller möglichen Erfahrung beruht. Die Prämissen solcher Darstellung sind der Geschmack, die Ausgrenzung des Unerwünschten und Wertlosen, die erwiesene Nicht-Verführbarkeit durch niedrige Motive und Affekte, die kategorial geklärte Selbstkontrolle, die Überprüfung der Ekelkontrolle und die Darstellung der öffentlichen Erziehung der ungebildeten Mehrheit. Diese Konstruktion eines ideal widerstandslosen und unbegrenzten Publikums erweist die kategoriale Deduktion zugleich an der ästhetischen Evidenz jener Objekte, die sich dialektischem Schein entziehen. Diese Objekte, welche den so bestimmten Filterungsprozess visueller Erfahrungen und kulturbildender Ästhetik sichern, lassen sich in dieser Tradition einer Objekti-

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vierung des Erhabenen als Kunstwerke denken. Diese Auffassung zeugt auf ihre Weise von einer an ein Ende gelangten Dialektik von Geschmack und Ekel, deren Erschütterungskraft heute in der Indifferenz des Sozialen gegen das Ästhetische, des Politischen gegen die fließenden Zeichensysteme der individuierten Lebensstile leerläuft. Judds Konstruktion dient heute nicht mehr zur Rekonstruktion der ästhetischen Kritik an welcher Kultur auch immer. Denn diese Konstruktion arbeitet mit einer längst überholten Entgegensetzung von Welt und Selbstbewusstsein (dass diese Grenze von der traditionellen gegen die technischen Medialisierung ausgereizt wird, liegt auf der Hand, sind doch technische Medialisierungen durch die Auffassung einer Manipulation von Selbstbewusstsein definiert). Nur in solcher Absetzung haben wir ein Interesse an Ekel: Die Zerstörung des Geschmacks lässt sich als Geschichte einer Eliminierung des Metaphorischen lesen, das einer unbeschränkten Herrschaft der Logik Grenzen setzt. Heute wird aber deutlich, dass weder die Vernunft noch das Metaphorische sich in einer strikten Differenz der qualitativ geschiedenen Sphären von Welt und Selbstbewusstsein begründen lassen. Es wird ein Modus der Indifferenz durch die avancieren technischen Erfahrungen im ästhetischen Prozess konstituiert, die einen Umbruch im anthropologischen Selbstdifferenzierungsprozess anzeigt: eine wachsende Bereitschaft zur Des-Identität und zur Besetzung der fiktional denunzierten Selbstbezüglichkeit mit einer inszenatorisch multiplizierten Vielzahl sich überlagernder, experimentierender Szenarien und Programmierungen. An diesem Punkt bewegen sich die technischen Bildsimulationsmedien trotz ihrer Öffentlichkeitszersetzung durchaus in der Tradition der metropolitanen Ästhetik einer von Personalitäts-Vorstellung abgekoppelten Punktualisierung von Ereignisreizen, d. h. von systematisch simulierten Projektionen der Identitätskategorien auf Fremdbezüge und Deregulierungen; eine Wahrnehmung, deren Formensprache leichter von den technischen Bildproduktionsmedien als von den vorindustriellen, handwerklichen Kunstformen aufgegriffen werden kann. Es besteht immer weniger ein Bedürfnis nach dem Status des Subjekts, das traditionell den moralischen Selbstdruck einer funktional interpretierten Erfahrungsästhetik konnotiert. An solcher Indifferenzbildung aber haben Moderne und ‚Postmoderne‘ gleicherweise teil. Die Selbstkritik der Moderne findet darin End- und Ruhepunkt, aber keineswegs einen Sachgehalt ihrer emphatischen Überwindung durch eine nachgeschichtliche Wahrheit höheren Grades. Die ‚postmoderne‘ Kritik des Rationalismus löst sich in dem Maße in Rhetorik auf, wie mittels historischer Inszenierungen die Struktur der Zeichensetzungen insgesamt gleichgültig und beliebig wird. Es ist die Wahrheitsbehauptung der als Unmittelbarkeit gesetzten Indifferenz, die direkt in ihre Falschheit umschlägt. Die Bildung von Geschmack beinhaltet nicht nur eine Rhetorik, mit der soziale Qualifikationen verteilt werden. Sie hat auch ein eigentümliches und widersprüchliches Verhältnis zum Bild. Das Training eines verbindlichen Geschmacksmusters nämlich spielt sich nicht so ab, dass man sich gegen die Ausgrenzung des Hässlichen für die sicheren Güter des Schönen entscheiden würde. Eher umgekehrt bewährt sich die Etablierung eines solchen Musters durch die Kraft zur Integration und Bearbeitung von Abfall, Ekel, Unbedeutetheit, Beliebigkeit, Verletzung des ästhetischen Empfindens, durch die spezifische Negation des Schönen

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als eigentliche Verallgemeinerung der ästhetischen Selektion nicht nur hinsichtlich von institutionell zirkulierenden Werken, sondern hinsichtlich der Konstruktion des sozialen Geltungsanspruchs von ‚Person‘. Dieser Vorgang kann als Signatur der Moderne, als ihr ästhetischer Kern verstanden werden. Dazu gehört das Spiel mit unbewussten Formalismen, das den diffusen Geschmack (der nur als diffuser die Bedingung für das InGang-Kommen der ästhetischen Verallgemeinerung sein kann) nicht der ästhetischen Ordnung des Benennbaren unterwirft, sondern dem Vitalismustest des Polymorphen, Perversen und Verborgenen, den Miasmen des Nicht-Geordneten aussetzt. Jenseits einer Kritik der gesellschaftlichen Urteilsfunktionen im Rahmen einer kulturellen Pyramide und der Hierarchie moralisch instrumentierter Geschmacksbildung (Prestige, Eleganz, Repräsentativität, Exemplarität, Exemplifikation, öffentliche Geschmacksdemonstration etc.) ist jeder Träger von Geschmackswerten Verkörperung und Verdeckung zugleich. Mit den Kategorien einer linguistischen Kulturtheorie: Der polymorphe Geschmack wird durch eine Rhetorik gebildet, die mit Metaphern und mit Metonymien arbeitet, d. h. mit Verähnlichung und Assimilation an einen semantischen Bruch zwischen ab­ strakteren Bezugsmöglichkeiten. Die Metapher ist ein Prototyp jener Zeichen, die sich kraft Ähnlichkeit tauschen lassen. Die Metonymie ist ein Prototyp von Zeichen, deren Sinn sich überlagert, wenn sie nebeneinanderstehen und sich gewissermaßen gerade durch ihre – mehr oder minder epidemische oder monströse – Fremdheit anstecken. Es ist diese Ansteckung, die Berührung, das Eindringen, es sind Verletzung und Verseuchung, ein stetiger Prozess des wechselseitigen Verzehrs und der anschließenden Recodierung der so freigesetzten Fragmente oder Aspekte, die zeigen, weshalb es der moderne Geschmack nicht vorrangig mit dem Bewusstsein von Stil noch der Differenz von ‚schön‘ und ‚hässlich‘ zu tun hat. Das Prinzip der Metonymie ist eine Bewegung, durch die Sinn entsteht, aber nicht Signifikate ausgedrückt werden. Aus dem Wirklichen gehen ständige Evokationen hervor: ein Ort von Sinn, eine Repräsentation der vielfältigen medialen Bezugnahmen auf schon geleistete Repräsentationen. Dieser Sinn erzeugt ein Geschehen durch Zerstörung und Überwindung der Signifikate: Er wird zum Kulturmodell eines Kulturzerfalls, weil nur die Transformation der Signifikate Einsicht in zeichenstrategische Problematisierungen ermöglicht. Die Unmittelbarkeit dieser Bewegung (unmittelbar kraft der sozial einwirkenden technischen Bildproduktionen, Fotografie, Film etc.) bindet die Avantgarde an spezifische Techniken einer oppositionellen Bezugnahme auf Geschmack: Moderne als Formzerstörung und Sicherung ästhetisch pervertierter Materialien ermöglicht die Überlagerung der Metaphern durch Metonymien. Es dominiert der Fluss der Zeichen die Aussagekraft, die benennbare Struktur ihrer Ordnung. Ein in sich selber als Zitation erscheinender Fluss von Bedeutungen entsteht, die nicht mehr durch einen Autor geschaffen, sondern von ihm bloß freigesetzt erscheinen. Der angesprochene Ort des Sinns ist die Konstruktion dieser Einheit sich selber bewegender Zeichensysteme, in der die Differenzierung der Wertmuster in einen guten und einen schlechten Geschmack aufgehoben ist. Was bleibt, ist der Prozess des Absinkens der künstlerischen Autorität in die technische Urheberlosigkeit eines Flusses von Zeichen, Fragmenten und Bruchstücken. Deshalb haben die Demontagen und Decolla-

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gen wie überhaupt die Fragmentästhetiken der mittels Abfall gefertigten ästhetischen Einheiten – dadaistische, kubistische, surreale Verformungen; ‚ready mades‘; autode­ struktive Maschinen; körperverformende Happening- und Fluxustechniken; intensivierter Minimalismus; Verzeichnung von Spuren und Zuständen als zufällig vorfindlicher Gegenstände – ihren Sinnort nicht im Metaphorischen, sondern im Umbau der Sprache. Ihre lexikalische Dimension erscheint nicht mehr als Grundlage der Semantik, d. h. der Erfahrungen, sondern als Spielmaterial syntaktischer wie grundsätzlich deregulierender Strategien. Deshalb sind noch die bedeutungsleersten Materialien, reine Fundstücke, ‚Natur‘ selber oder eine privatmythologische Lexikalik einmal gefundener patterns, subjektive Poetik nicht mehr im stofflichen Sinne Träger von Signifikaten, sondern Zerfallsprodukte der Versprachlichung und Sprachausdrücke zugleich, nicht Begriffe, sondern poetische Zeichenmodelle. Die lange und missverständlich als moralische Provokationen ausgespielten und heute ausgereizten Ekeltechniken sind im Grunde Techniken der metonymischen Provokation: des Umkreisens eines Nicht-Ortes, an dem die Metaphern sich immer wieder auflösen und sich Sinn nur von Fall zu Fall behauptet. Dieser Sachverhalt ist, was auf dem Hintergrund der Beobachtung der technischen Mediengesellschaft den Blick geschärft hat für die ‚katastrophische‘ Dimension der Zeichensysteme. Aber auch für die Entwicklung neuer Sprach- und Malerei-Dispositive, in denen das Werk als Landschaft dient für die Notation von Gesten und Spuren, die nicht mehr autoritär und dinglich, sondern als Öffnung auf den Fortgang der Interpretationen hin funktionieren. ‚Modernität‘ gründet ästhetisch nicht im autonomen Geschmack oder im Kult des subversiv Geschmacklosen, einem Kalkül der Kalkülverletzung, einer Deregulierung selbst der Erwartung der Erwartungsverletzung. Der autonome Geschmack ist eine historische Voraussetzung der modernen Lebensweise. Mit ihm hat sich das Bürgertum gegen feudal-luxuriöse Verschwendung und gegen den Unernst der ästhetischen Darstellung gewendet. Der autonome Geschmack – noch nicht belastet mit der durch die politische Herrschaftsübernahme erzwungenen Veröffentlichung eines neuen Luxus und der aus dem Arbeitsprinzip gefolgerten neuen Symbolisierung des Tauschwertbewusstseins – setzte eine freie, letztlich bilderlose Imagination in Gang, förderte das ästhetische Bewusstsein von den inneren Dispositionen der Visualisierung und Darstellung, bekräftige das ikonische Zurückdrängen der Darstellungsebene (Strategien des Klassizismus) und wertete zunehmend den Werkkörper zugunsten der subjektiven ästhetischen Spurensicherung ab. Die hier ansetzende Ästhetik subjektiver Erfahrungsreflexion ist ein paradigmatisch bürgerliches Modell. Wird die Suggestion dieses Subjektiven und die seine Ästhetik tragende Geschmacksordnung überwunden, wird eine neue, kritische Aneignung der aktuellen Kultur möglich. Dazu ist der Verzicht auf Subjektivitätsbehauptungen notwendig. Es gilt, die dialektische Kraft der Indifferenz zu aktivieren gegen die geschmacklich-ästhetizistische Vergleichgültigung. Hochkulturelle Selektionsmuster haben ebenso ausgedient wie die Abwertung des Ästhetischen zum Wahrnehmungsmaterial und bloßen Arbeitsstoff für beliebige mediale Zugriffe. Lyotards Akzentuierung der Künste als Erkenntnisformen und die Überschreibung der experimentellen Poiesis von der philosophischen auf die

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ästhetische Aneignung von Geschichte weist einen wichtigen Weg. Der Begriff des ästhetischen Experiments steht in der Tradition einer kritischen und radikalen Aneignung der Kultur der Moderne und argumentiert in keinem Fall an der Grenzlinie der begrifflichen Operationen welches Postmodernismus auch immer. Seine Theorie macht einen zu lange durch diskursive Strategien verdeckten latenten Kulturkonflikt und Selbst­widerspruch der bürgerlichen Ästhetik deutlich. Sein Plädoyer für die poetische Erkenntniskraft des Einzelnen, Fragmentarischen und Zerstreuten setzt die praktische Kritik an Ontologien fort, die Bewusstsein auf diskursiv-operative Klassifikationsordnungen und Kunst bilderfeindlich auf Belege dieser Ordnung reduziert haben.

Geschrieben 27. ff. September 1989 für „Die Moderne redigieren – Materialien zum Hamburger Symposion zu Jean-François Lyotard“, Zeitschrift Spuren in Kunst und Gesellschaft der Hochschule der Künste Hamburg, Heft 30/31, Hamburg Dezember 1989 (dort aber nicht publiziert). Verfasst zur Vorbereitung des Forschungskolloquiums zu und mit Jean-François Lyotard Zeit der Ästhetik, mit Vorträgen u. a. von Jean-François ­Lyotard, Wolfgang Welsch, Albrecht Wellmer, Hermann Danuser, Hans Ulrich Reck, Bernhard Taureck, Jean-Pierre Dubost, Josef Früchtl, Jörg Zimmermann, Elisabeth Weber, Walter Reese-Schäfer, Josef Vogl, Birgit Recki, Georg Christoph Tholen; Hochschule der Künste/Institut français/Universität Hamburg, 16. Dezember 1989. Mein Vortrag „Der Betrachter als Produzent? Zur Kunst der Rezeption im Zeitalter technischer Medien“ wurde als neu eingerichteter und überarbeiteter Text gedruckt in: W. Welsch/C. Pries (Hrsg.), Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard, Weinheim 1991.

1

Vgl. Donald Judd in: Art in America, September/Oktober 1984, Auszüge auf Deutsch unter dem Titel ‚Nestbeschmutzung. Ein polemischer Ausfall des amerikanischen Künstlers Donald Judd‘. In: Wolkenkratzer 2/86, S. 28 ff.

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VOM ENDE DER DIFFERENZ: ÄSTHETISCHE PERSPEKTIVEN AUF EINEN MOTIVZUSAMMENHANG DER MODERNE – ERWEITERTE VERSION Exposition: Autorschaftsklage Donald Judd setzt unentwegt und unbeirrt seine Polemik gegen falsche Sachwalter der Kunst, Ausstellungsmacher, Vermittler, Galeristen, Museumsdirektoren fort. Noch sind seine kritischen Ausführungen gegen Mammutausstellungen wie „Bilderstreit“, die dessen Initianten Gachnang und Gohr nicht in den Katalog aufnehmen mochten, in frischer Erinnerung, da zerrt Judd ein notorisches Unverständnis des bisher makellosen Förderers der neuesten Kunst, des Grafen Panza di Biumo aus Varese, ins grelle Licht seines umfassenden Strafgerichts. Man mag dabei die Schärfe des angeschlagenen Tones schon deshalb begrüßen, weil er einen kleinen Gegen-Pendelschlag gegen die Referenzrituale anzeigt, welche die Gefälligkeitsprosa der Katalogeinleitungen in den letzten Jahren bis zum Brechreiz unterwürfiger Heldenverehrung überdehnt haben. Man mag sich weiter wundern, mit welcher Verbissenheit Judd die Schändung seiner Kunst in Millimetermaßen anzugeben bereit ist und in welcher Kleinteiligkeit er künstlerische Urheberschaft für eine Kunst an der Gestaltung des Einzelnen festmacht, in der die schematisierende Anleitung der Wahrnehmung, d. h. nicht die Individualität, sondern die Typologie des Sehens, wesentlicher ist als das je Unwiederholbare des Einzelstücks. Aber darüber lässt sich rechten und Judd sei zugestanden, dass er den Ernst der Kunst an solchen Details bemisst. Was dagegen kaum wundert, ist die Verallgemeinerbarkeit der Judd’schen Diagnose, Künstler verfügten nicht einmal über einen Ansatz zur Kontrolle ihrer Produktionsmittel. Da er zu denen die Agenturen der Zirkulation und die Herrschaft über Symbol- und Diskurssysteme wesentlicher rechnet als die meist ohnehin vor-industriellen Fertigungsgeräte, fällt der Befund auf die Künstler zurück, zu deren Charakteristik und Habitus gehört, sich um dergleichen Profanitäten nicht zu kümmern, weil die praktische Handhabe des Geschäfts allzu leicht rufschädigend von denen ausgelegt werden kann, die sich gegen die Überlegenheit des Genialen mit der Unerforschlichkeitserklärung allen künstlerischen Tuns schützen möchten: die Möchte-gern-Helden der Kunstgeschichte von morgen, die, wenn nicht ein entsprechendes Werk, dann immerhin den entscheidenden Habitus dafür einzuwerfen haben. Der Kerngehalt der Überlegungen Donald Judds ist ebenso faszinierend wie problematisch. Faszinierend, weil, was ‚Kunst‘ genannt werden soll, eindeutig definiert, umrissen und festgelegt werden kann. Problematisch, weil die Optik, aus der ‚Kunst‘ beschrieben wird, einzig die des Kunstproduzenten ist. Damit verteidigt Judd die idealistische Ontologie poetischer Selbstentäußerung. Er trennt die Stoff-Findung einer Idee von den Zuschreibungen derjenigen Bedeutungen, durch die eine soziale Handlung in ihrem Radius zur Definition derjenigen Sachverhalte, Ereignisse und Objekte festgelegt wird, die ihrem Geltungsbereich eingegliedert werden. Die Angriffe Judds sind nicht ­zufällig

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gegen die Manipulatoren des Kontextes, der sozialen Symbolik, gerichtet. Es gibt dazu nicht nur Anlässe eines aus seiner Sicht verbrecherischen Versagens, sondern eine erkenntnistheoretische Notwendigkeit: Judd leitet die Bestimmungskategorien von Kunst sämtlich aus den als ‚Kunstwerke‘ monadisch sich zeigenden Einzelfällen ab. Insofern verläuft die Existenz der Kunst immer außerhalb der sozialen Nachfrage, der Manipulation und Herstellung von ästhetischen Wertschätzungen, Bedeutungen und Diskursen. Folgerichtig kann Kunst dann nur in der Millimetergenauigkeit der Ausführung ­einer vom Künstler autoritativ gesetzten Idee oder Maß-Angabe gemessen werden. Judd kämpft rigide gegen Künstler, die einen anderen Kunstbegriff und einen anderen Habitus ins Spiel bringen: Modelltheoretiker, Konzeptualisten, Sensualisten, Ekeltechniker, Subkulturästheten und viele andere. So wichtig Judds Invektive als Beitrag zur Sozialgeschichte künstlerischer Selbstbehauptung der Gegenwart auch ist: Seine Position ist wohl chancenlos, weil er einen Kunstbegriff fordert, der nur normativ und dogmatisch durchzusetzen ist und der in einer atemberaubenden Schein-Unschuld und Hartnäckigkeit das Persönlichkeitsbild der humanistischen Aufklärungskämpfe als Versuch einklagt, abschließend verbindliche Systeme des Denkens als Propädeutik ästhetischer Genussrechte durchzusetzen. Insofern verkörpert Judds Kunst das letzte Paradox einer Autorschaftslosigkeit der Werke kraft Selbstüberformung der Idee; ein letztes Zeugnis des alteuropäischen Kunst-­ Urhebers.

Erörterungen/Ausführungen Wie komplex die Beziehungen zwischen einer unter dem Appell an Anti-Modernität vollzogenen Demokratisierung ästhetischer Formen und der ästhetischen Fixierung auf die kulturelle Ohnmacht eines erzwungenen Ausgangs aus der subjektiven Geschmackstheorie, d. h. einer banalisierend beanspruchten Transformation der hochkulturellen Sphäre sind, belegt eine Attacke, die Donald Judd – dessen Werke für die rationalistische Herrschaft der Kunst über ihre Aneignungsmittel eintreten, d. h. auf dem Selbstverweis ihrer sich jeder Interpretationsschlüssigkeit entziehenden Rekursivität bestehen – zu einem Rundschlag gegen aktuelle Kunst und die, wie er sagt, „Mode des Postmodernismus“ motiviert hat1. Interessiert am unverfügbaren Wert einer individuellen Urheberschaft plädiert Judd gegen den pluralistischen Zerfall des Ideologischen und gegen eine Ausdehnung des Ästhetischen auf das Leben für ein ‚wirkliches Urteilsvermögen‘, das die geschmacklichen Wertigkeiten filtert, sichert und bestimmt, was in der aktuellen Kultur hinsichtlich der Komplexitätssteigerung künstlerischer Formzusammenhänge überhaupt darstellungsbedürftig sei. Judds Forderung ist eine altvertraute, die von ihm mit anrührend ehrlicher Empörung eingeklagt wird. Es geht ihm um die Macht der Vernunft, wie sie der Begründungsmodus der reflektierenden Urteilskraft an der Ästhetik der Erfahrungen als Kunsttheorie einerseits, Sinnlichkeitsausdruck andererseits, durchspielt. Erreicht werden soll ein

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Diskurs unter Verständigen, an Auseinandersetzung interessierten, sich kohärent unter den Bedingungen der ‚Als-ob-Zweckhaftigkeit‘ der Natur verhaltenden Menschen, die mit ihrem Wissen und der Klärung der Harmonie ihrer Erfahrungen auf die Ungebildeten erzieherisch einwirken. Judds Forderung ist die nach dem Weltgerichtshof ‚Vernunft‘ und findet im ästhetischen Feld den klassischen Ort ihrer symbolisch-öffentlich regulierenden Bewährung. Rationalität bewährt sich an der Ordnung interpretationsnotwendiger Erscheinungen: Das Reale unterliegt der ästhetischen Selbstbehauptung; diffuse und fließende Bilder werden in die Ordnung der Schrift, des Kontinuierlichen, der Sukzession und Hierarchie transformiert. Ästhetisches Vermögen gilt Judd als Durchsetzung einer Ordnung, die Prämissen, Erörterung, Deduktion, Überprüfung, Selbstbegrenzung dialektischer Erkenntnisüberschreitung und Darstellung unterscheidet und in ein Klassifikationssystem rationaler Urteilsäußerungen eingliedert, deren Erfahrungsprinzip in der Ästhetik der Einheit aller möglichen Erfahrungen beruht. Die Prämissen solcher Darstellung sind der Geschmack, die Ausgrenzung des Unerwünschten und Wertlosen, die erwiesene Nicht-Verführbarkeit durch niedrige Motive und Affekte, die kategorial geklärte Selbstkontrolle, die Darstellung der öffentlichen Erziehung der ungebildeten Mehrheit. Diese Konstruktion eines ideal widerstandslosen und unbegrenzten Publikums erweist die kategoriale Deduktion an der ästhetischen Evidenz jener Objekte, die sich dialektischem Schein entziehen. Die Objekte, welche den so bestimmten Filterungsprozess visueller Erfahrungen und kulturbildender Ästhetik sichern, lassen sich in der Tradition einer Objektivierung des Erhabenen als Kunstwerke denken. Diese Auffassung zeugt auf ihre Weise von einer an ein Ende gelangten Dialektik von Geschmack und Ekel, deren Erschütterungskraft heute in der Indifferenz des Sozialen gegen das Ästhetische, des Politischen gegen die fließenden Zeichensysteme des individuierten Lebensstils leerläuft. Judds Konstruktion dient heute nicht mehr zur Rekonstruktion der ästhetischen Kritik an welcher Kultur auch immer. Denn diese Konstruktion arbeitet mit einer längst überholten Entgegensetzung von Welt und Selbstbewusstsein. Dass diese Grenze von der traditionellen gegen die technischen Medialisierung ausgereizt wird, liegt auf der Hand, sind doch technische Medialisierungen durch die Auffassung einer Manipulation von Selbstbewusstsein definiert. Nur in solcher Absetzung haben wir ein Interesse an Ekel: Die Zerstörung des Geschmacks lässt sich als Geschichte einer Eliminierung des Metaphorischen lesen, das der unbeschränkten Herrschaft der Logik Grenzen setzt. Heute wird deutlich, dass weder die Vernunft noch das Metaphorische sich in einer strikten Differenz von Welt und Selbstbewusstsein begründen lassen. Es wird ein Modus der Indifferenz durch die avancierten technischen Erfahrungen im ästhetischen Prozess konstituiert, die einen Umbruch im historischen Fortgang der anthropologischen Selbstdifferenzierung von Erfahrungen anzeigen: wachsende Bereitschaft zur Des-Identität und zur Besetzung der fiktional denunzierten Selbstbezüglichkeit mit einer inszenatorisch multiplizierten Vielzahl sich überlagernder, experimenteller Szenarien und Programmierungen. Die technischen Bildsimulationsmedien bewegen sich trotz ihrer Öffentlichkeitszersetzung durchaus in der Tradition der metropolitanen Ästhetik der von Personalitäts-Vorstellung abgekoppelten

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Punktualisierung von Ereignisreizen, d. h. von systematisch simulierten Projektionen der Identitätskategorien auf Fremdbezüge und Deregulierungen; eine Wahrnehmung, deren Formensprache einfacher von den technischen Bildproduktionsmedien als von den vorindustriellen, handwerklichen Kunstformen aufgegriffen werden kann. Es besteht immer weniger ein Bedürfnis nach dem Status des Subjekts, das traditionell den moralischen Selbstdruck einer funktional interpretierten Erfahrungsästhetik konnotiert. An solcher Indifferenzbildung aber haben Moderne und ‚Postmoderne‘ gleicherweise teil. Die Selbstkritik der Moderne findet darin End- und Ruhepunkt, aber keineswegs ihre emphatische Überwindung durch eine nachgeschichtlich sie denunzierende Wahrheit. Die ‚postmoderne‘ Kritik des Rationalismus löst sich in dem Maße in Rhetorik auf, wie mittels historischer Inszenierungen die Struktur der Zeichensetzungen insgesamt beliebig wird. Es ist die Wahrheitsbehauptung der als Unmittelbarkeit gesetzten Indifferenz, die in ihre Falschheit umschlägt. Die Bildung von Geschmack beinhaltet nicht nur eine Rhetorik, mit der soziale Qualifikationen verteilt werden. Sie hat auch ein eigentümliches und widersprüchliches Verhältnis zum Bild. Das Training eines verbindlichen Geschmacksmusters spielt sich nicht so ab, dass man sich gegen die Ausgrenzung des Hässlichen für die sicheren Güter des Schönen entscheiden würde. Umgekehrt: Die Etablierung eines solchen Musters bewährt sich durch die Kraft zur Integration und Bearbeitung von Abfall, Ekel, Unbedeutetheit, Beliebigkeit, Verletzung des ästhetischen Empfindens, durch die spezifische Negation des Schönen als Verallgemeinerung der ästhetischen Selektion nicht nur hinsichtlich von institutionell zirkulierenden Werken, sondern hinsichtlich der Konstruktion des sozialen Geltungsanspruchs von Person überhaupt. Dieser Vorgang kann als Signatur der Moderne, als ihr ästhetischer Kern verstanden werden. Dazu gehört das Spiel mit unbewussten Formalismen, das den diffusen Geschmack (der nur als diffuser die Bedingung für das In-Gang-Kommen der ästhetischen Verallgemeinerung sein kann) nicht der ästhetischen Ordnung des Benennbaren unterwirft, sondern dem Vitalismustest des Polymorphen, Perversen und Verborgenen, den Miasmen des Nicht-Geordneten aussetzt. Jenseits einer Kritik der gesellschaftlichen Urteilsfunktionen im Rahmen einer kulturellen Pyramide und der Hierarchie moralisch instrumentierter Geschmacksbildung (Prestige, Eleganz, Repräsentativität, Exemplarität, Exemplifikation, öffentliche Geschmacksdemonstration) ist jeder Mensch Träger von Geschmackswerten, Verkörperung und Verdeckung zugleich. Mit den Kategorien einer linguistischen Kulturtheorie.2 Der polymorphe Geschmack (als Interaktionsritual in den Metropolen wie als Konfrontationsgrenze innerhalb der anonymen Massengesellschaft) wird durch eine Rhetorik gebildet, die mit Metaphern wie mit Metonymien arbeitet, d. h. mit Verähnlichung und Assimilation an einen semantischen Bruch zwischen abstrakteren Bezugsmöglichkeiten. Die Metapher ist ein Prototyp jener Zeichen, die sich kraft Ähnlichkeit tauschen lassen. Die Metonymie ist ein Prototyp von Zeichen, deren Sinn sich überlagert, wenn sie nebeneinanderstehen und sich gewissermaßen gerade durch ihre – mehr oder minder epidemische oder monströse – Fremdheit anstecken. Es ist diese Ansteckung, die Berührung, das Eindringen, es sind Verletzung und Verseuchung, ein stetiger Prozess

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des wechselseitigen Verzehrs und der anschließenden Recodierung der so freigesetzten Fragmente oder Aspekte, die zeigen, weshalb es der moderne Geschmack weder vorrangig mit dem Bewusstsein von Stil noch der Differenz von ‚schön‘ und ‚hässlich‘ zu tun hat. Das Prinzip der Metonymie ist eine Bewegung, durch die Sinn entsteht, aber nicht Signifikate ausgedrückt werden. Der Sinn ist nicht der, ohnehin problematische und der Metaphysik verdächtigte, Referent.3 Aus dem Wirklichen gehen ständig Evokationen hervor: ein Ort von Sinn, eine Repräsentation der vielfältigen medialen Bezugnahmen auf schon geleistete Repräsentationen. Dieser Sinn erzeugt das Geschehen durch Zerstörung und Überwindung der Signifikate: Er wird zum Kulturmodell eines Kulturzerfalls, weil nur die Transformation der Signifikate die Einsicht in den Prozess zeichenstrategisch problematisierter Artefakte ermöglicht. Die Unmittelbarkeit dieser Bewegung (unmittelbar Kraft der sozial einwirkenden technischen Bildproduktionen wie Fotografie, Film) bindet die Avantgarde an spezifische Techniken einer oppositionellen Bezugnahme auf Geschmack: Moderne als Formzerstörung ästhetisch pervertierter Materialien ermöglicht die Überlagerung der Metaphern (samt den hermeneutischen Allegorien und Moralitätszwängen, die als paradigmatische Vorbildungsforderungen für den künstlerischen Prozess ausgereizt werden) durch Metonymien. Es dominiert der Fluss der Zeichen die Aussagekraft, die benennbare Struktur ihrer Ordnung. Ein in sich selber als Zitation erscheinender Fluss von Bedeutungen entsteht, die nicht mehr durch einen Autor geschaffen, sondern von ihm bloß freigesetzt scheinen. Der angesprochene Ort des Sinns ist die Konstruktion dieser größeren Einheit sich selber bewegender Zeichensysteme, in der die Differenzierung der Wertmuster in einen guten und einen schlechten Geschmack aufgehoben ist. Was bleibt, ist der Prozess des Absinkens der künstlerischen Autorität in die technische Urheberlosigkeit eines Flusses von Zeichen, Fragmenten und Bruchstücken. Deshalb haben die Demontagen und Decollagen wie überhaupt die Fragmentästhetiken der mittels Abfall gefertigten ästhetischen Einheiten – dadaistische, kubistische, surreale Verformungen; ‚ready mades‘; autodestruktive Maschinen; Happening- und Fluxustechniken; intensivierter Minimalismus; Verzeichnung von Spuren und Zuständen als zufällig vorfindliche Gegenstände – ihren Sinnort nicht im Metaphorischen, sondern im Umbau der Sprache. Ihre lexikalische Dimension erscheint nicht mehr als Grundlage der Semantik, d. h. der Erfahrungen, sondern als Spielmaterial syntaktischer wie grundsätzlich deregulierender Strategien. Deshalb sind noch die bedeutungsleersten Materialien, reine Fundstücke, Natur selber oder eine privatmythologische Lexikalik einmal gefundener patterns, subjektive Poetik,4 nicht mehr im stofflichen Sinne Träger von Signifikaten, sondern Zerfallsprodukte der Versprachlichung und Sprachausdrücke zugleich: nicht Begriffe, sondern poetische Zeichenmodelle inmitten einer Unterschiedslosigkeit zwischen Bezeichnungsbezug und Sprachausdruck. Die lange missverständlich als moralische Provokation ausgespielten und ausgereizten Ekeltechniken sind im Grunde Techniken der metonymischen Provokation: des Umkreisens eines Nicht-Ortes, an dem die Metaphern sich immer wieder auflösen und sich der reine Sinn von Fall zu Fall behauptet. Dieser Sachverhalt ist, was auf dem Hintergrund der technischen Mediengesellschaft den Blick geschärft hat für die katastrophische Dimension der Zeichensysteme.

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Aber auch für die Entwicklung neuer Sprach- und Malerei-Dispositive, in denen das Werk als Landschaft dient für die Notation von Gesten und Spuren, die nicht mehr autoritär und dinglich, sondern als Öffnung auf den Fortgang der Interpretationen hin funktionieren.5 Modernität gründet ästhetisch nicht allein im autonomen Geschmack oder im Kult des subversiv Geschmacklosen, dem Kalkül der Kalkülverletzung, der permanenten Deregulierung der Erwartung der Erwartungsverletzung. Der autonome Geschmack ist eine historische Voraussetzung der modernen Lebensweise und damit Konstitutionsmotiv eines Abstraktionszuwachses in der wechselseitigen Bezeichnung von Zeichen. Mit ihm hat sich das Bürgertum gegen feudal-luxuriöse Verschwendung und gegen den Unernst der ästhetischen Darstellung zugunsten des Spiels der Inhalte gewendet. Der autonome Geschmack – noch nicht belastet mit der durch die politische Herrschaftsübernahme erzwungenen Veröffentlichung eines neuen Luxus und der aus dem Arbeitsprinzip gefolgerten neuen Symbolisierung des Tauschwertbewusstseins – setzte eine freie, letztlich bilderlose Imagination in Gang, förderte das ästhetische Bewusstsein von den inneren Dispositionen der Visualisierung und Darstellung, bekräftigte das ikonische Zurückdrängen der Darstellungsebene und wertete zunehmend den Werkkörper zugunsten der subjektiven ästhetischen Spurensicherung ab. Die Ästhetik subjektiver Erfahrungsreflexion ist eine paradigmatisch bürgerliche. Dieser Vorgang der Automisierung hängt mit der geschichtlichen Emanzipation des Bürgertums zusammen und spiegelt dessen Anti-Feudalismus als politische Kulturbestimmung: Subjektivität, Arbeit, Poetik der Erfahrungsangleichung an das instrumentelle (teleologische) ‚Als-ob‘ der Naturzwecke sind Ausdruck des Wandels. Er wertet die unvollkommenen Dinge auf: Gerade das unbedeutendste und unbezeichnetste Gut eignet sich als moralisch anzueignendes Objekt im ästhetischen Prozess. Damit machte das Bürgertum nicht allein den neuen ‚wahren‘, sondern erstmals einen ‚guten‘ Geschmack geltend. Der feudale ist deshalb der schlechte Geschmack, weil er nicht auf poetisch stofflicher Formung, sondern auf Standesprivilegien und zufälligen Vorrechten der Herrschaft beruht. Der feudale Geschmack – das ist Würde und Pflicht zu ihrer Repräsentation. Der bürgerliche Geschmack – das ist das moralische Spiel der Imagination, ästhetisches Selbstbewusstsein, durch und als Arbeit gerechtfertigte Projektion der Zwecke und Bedürfnisse auf eine technisch regulierbare Natur, damit eine Tendenz zur Immaterialisierung der Objekte, die der ästhetischen Spurensicherung, dem harmonischen Zusammenspiel des synthetisch verbundenen Erkenntnisvermögens zu folgen haben. Zwangsläufig geht daraus Semiotik als Zeichenmodell des modernen Geschmacks hervor; umgekehrt sichert die zunächst widerständische Semiotik den Prozess der Moderne als Artikulation ihrer Selbstaneignung und als ästhetisches Modell. Der immer wieder ins Unbewusste abgesenkte Geschmack (der den Fortgang des ästhetischen Zeichenbewusstseins sichert: die Artifizialisierung der Zeichen bleibt einem idealtypischen Bürgertum überschrieben, nicht dem historischen des Privateigentums) ist, da er den Mechanismus des Bewusstseins unterläuft, kein Wertmodell für ästhetische Differenzierungen, sondern die Abarbeitung der historischen Fiktion, dass das Bewusstsein, das historisch mit dem Anspruch auf Weltgeschichte die Herrschaft der aufgeklärten Vernunft nicht nur als Aufklärung durchsetzt, sondern auch als ­Moment

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dieser Herrschaft instrumentalisiert, hinsichtlich der ontologischen Erwartung eine autonome Größe sein könne. Wenn von heute aus gesehen etwas den Vorgang einer an Metonymien interessierten Avantgarde – nicht allein der traditionellen Künste, sondern auch der subkulturellen, sozialen und technisch-medialen Strategien (der Video-­Clip ist die metonymische Bewegung in reiner Form) – wichtig macht, dann gerade nicht das (unter der Drohung eines unterbotenen Erkenntnisniveaus) mögliche Durchspielen erneuerter Ekeltechniken, auch nicht das romantische, immer eines utopischen Terrors zu verdächtigende Programm der Einheit von Leben und Kunst, sondern die Etablierung von Automatismen und Mechanismen in der ästhetischen Arbeit, welche die territoriale Unterscheidung von Bewusstsein und Unbewusstem auflöst. Kommt die historische Geschmacksüberzeugung des ästhetischen Bürgertums in der Etablierung solcher Techniken zum Ende – deshalb die Versuche, die Position des Geschmacks über die Intensivierung des Ekels noch lebendig zu erhalten –, so bricht die ästhetische Differenz als Medium der Geschmacksbehauptung in sich zusammen, z. B. gegenüber den Aporien des ‚art brut‘ und der Unverfügbarkeit des Polymorphen als einer negativen Ästhetik des naturphilosophisch Ungeformten. Es beginnt ein Prozess der De-Subjektivierung wichtig zu werden, gegen den die Rituale des Ekels leerlaufen. Die geschichtliche Tendenz zu solcher Des-Identität hin kennt keinen Unterschied zwischen verfügbaren und erfindbaren Codes. Die Codes existieren in dem Moment, in dem sie erfunden werden. Sie wenden sich gegen nichts. Sie bringen bestimmte Auffassungen vom Wirklichen zur Darstellung und eröffnen dem nicht mehr zentrierten Subjekt die Einsicht in das Spiel der Imagination und in die Mechanismen ästhetisch-­libidinöser Objektbesetzungen, die zeichentheoretisch simulierbar werden. Dieser Prozess der Dezentrierung ermöglicht eine Reartikulation des genetisch bedeutsamen Übergangs der Wahrnehmungsoperationen zu den symbolisch-semiotischen und schließlich den operativen, wobei das ästhetische Spiel integrativ auf den späteren Stufen erhalten bleibt. Aber er erlaubt nicht mehr die Etablierung von Werturteilen geschmacklicher Distinktion. Das Subjekt bedarf ihrer nicht mehr. Umgekehrt sind die technologischen Zeichenschöpfungsprozesse nicht so beschaffen, dass sie ein (modern) konsistentes Subjekt überhaupt noch zulassen. An die Stelle der Hierarchie tritt die Vielheit, an die Stelle einer antagonistischen Dialektik das Verschiedene, an die Stelle der Objekte und Objektfelder das Erzählbare, die Konstruktion der Sprache als Ausdruck von Sprachstrategien. Die Vertikale zerfällt; mit ihr die hierarchischen Systeme zugunsten einer Ökonomisierung der Zeit. Das Rationale verliert das Zentrum und wird zu einer ausschweifenden Tätigkeit, die sich nicht mehr vom Chaos abgrenzt. Der Zerfall der Pyramide – der Handlungen, Privilegien, der Interpretationsformen institutioneller Kulturvorherrschaft – führt zu einer Verflüchtigung des Geschmacks. Das, was dieser zu unterscheiden hatte, zerfällt an ihm selber. Er wird zum Material, ist aber nicht mehr die Form der Bewegung der Dinge. Der Geschmack hat die Sprache verloren, weil er nicht mehr die Bewegung der (metonymischen, substitutiven) Sprache wiedergeben kann. Die Vielheit gegeneinander versetzter, einander durchdringender, sich pulsierend vermischender Sprachen strukturiert die Dinge neu. Sprach Pasolini zu Beginn der 1970er-Jahre

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noch davon, dass aller Hedonismus (auch die faschistische Variante) vom kapitalistischen Konsumismus abgelöst und Alterität zu einem Moment ‚innerhalb der kapitalistischen Entropie‘ gemacht werde; kämpfte Pasolini noch für die mythische Qualität einer ersten Wirklichkeit – allerdings nicht mit dem Gegensatz von simulatorisch bewirkter Aura und semiotischer Aktualisierung der mythischen Denkmodelle und des Mythos als Denkmodell6 –, so sind heute Alterität, Apokalyptismus und Hedonismus weitherum verfügbare Stilisierungsrhetoriken, Repertoires neben anderen Repertoires, bestimmte Arten, kulturelle Phänomene zu rubrizieren neben anderen Rubrizierungen, und vor allem Verfahren, alternative Konnotationen derselben Phänomene durch anders gerichtete Medialisierungen zu gewinnen. Was aus dem Dualismus der 1970er-Jahre – Fundamentalismus versus neuzynischer Ökonomismus; Hyperrealismus einerseits, konzeptuelle Zersetzung der an Dinge gehefteten Wahrnehmung andererseits – hervorgeht, ist nicht allein der Pluralismus der Stilisierungsrhetoriken, von Sub-Stilen und Stilfragmenten.7 Wichtiger erscheint noch die gebotene Konsequenz, den ruhenden Ort nicht außerhalb des Strudels des Chaotischen zu suchen, sondern ins Schweigen innerhalb des vagen Taumels der Ereignisse einzutauchen, um deren Unterschiedslosigkeit mit den sie beschreibenden Sprachen festzustellen, die sie durch ihre Bezeichnungsausdrücke erzeugen. Die Ambiguität der Dinge, die von den Avantgarden der herkömmlichen Kunst lange gesucht worden ist, wird technisch zur Voraussetzung des ästhetischen wie des sozial-subkulturellen Verhaltens. Darin leiten nicht mehr Dinge, sondern aktualisierende Verknotungen von Ausdrücken das Paradigma einer rezeptiv wirksamen Sprachbildung. Nachdem das Metaphorische von den Metonymien zurückgedrängt worden ist, entsteht eine neue Poesie: nicht mehr Bilder (Sprachbilder, Bildausdrücke in Worten), sondern strukturierte Erscheinungsformen destrukturierender, auf Momentanisierung angelegter Zeichensysteme im Fluss von Zeichensetzungen, die ständig neue Sinnorte produzieren (das lässt sich an der neuen urbanen Musik, den Techniken des ‚rapping‘, ‚sampling‘ und der Elektrifizierung, respektive der Instant-Produktion von Zeichen, Klängen, Bildern zeigen8). An der Tatsache der Vorherrschaft des Diskursiven (unabhängig von der medialen Form der diskursiven Darstellung) scheitert jeder Versuch einer Erneuerung der Ästhetik der Abweichung, aber auch jede nur auf Subjektivität eingeschworene Kunsttheorie. Indifferenz ist der Wahrnehmungsmodus einer Epoche, die ihre Identität nicht mehr in der Differenz zwischen dem Guten und dem Wahren, dem Schönen und Hässlichen, dem Geordneten und Chaotischen, dem Kultivierten und Rohen, dem Zentralen und Peripheren, dem Signifikanten und Signifikaten, den Bildern und Sequenzen, den Gehalten und Medien bildet und die überhaupt weniger Bedarf an subjektivitätstheoretischer Identität zu haben scheint. Entgegen den allzu schnellen Erwartungen, man könne das Indifferente als Gehalt einer restlos desubjektivierten Welt technischer Artefakte preisen, bleibt das Indifferente ein Wahrnehmungsmodus, kein Wahrnehmungsinhalt (auf deren Verwechslung beruht ein großer Teil sogenannten ‚neuen‘ zeitgenössischen Denkens, das sich zur Universalität noch jenseits des als erreichbar versprochenen Totalen poetisiert9). Die Zunahme an Indifferenz hat die ästhetischen Möglichkeiten des Revoltismus und Spektakels, von Zersetzung (Surrealismus der ­realen, ­Transzendenz

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der wahren Sprache) und Restitution der vertikalen Diskurse überholt. Zu Beginn der 1970er-Jahre – deutlicher in der Pop-Musik als in der bildenden Kunst – entwickelte sich eine Auffassung von Zeichen, die nicht mehr in der Sprache, sondern analog zu ihrem System gewonnen und mit künstlerischen Zeichen anderer Sparten sowie außerkünstlerischem Material ergänzt, durchformt und ausgeweitet werden.10 Der Triumph der wachsenden Künstlichkeit als Transformation des Zwangs zur historischen Referenz wird selber als historisches Produkt lesbar. Alterität als Außerhalb, als Schweigen: Das kann, wenn die Differenz der eigenen Künstlichkeit zu der der anderen nicht mehr aussagekräftig genug ist, auch als Befreiung vom Hierarchiezwang der traditionellen Diskurse und als Herausbildung neuer Sprechweisen verstanden werden. Deshalb verschwinden der Traum vom revolutionierenden Spektakel, der Situationismus und der Protest gegen das Wort mit der technisch entkräfteten und fiktional demaskierten mythischen Autorschaft. Mit der Zersetzung dieses Mythos könnte der beengende Zwang zur Innovation eines ästhetischen Scheins und zur abstrakten Illusion eines vermeintlich ‚Neuen‘ (das immer ununterscheidbarer vom Alten wird; allenfalls strittig sind die Ironieansprüche einer recodierten Malerei wie der von Jean Frédéric Schnyder, der keine Einheit des Werks, der Motive oder der Techniken mehr pflegt11) gegenstandslos werden. Wörter und Zeichen drehen sich über die Eckpunkte des Referenzzwanges hinaus. Darin wird die Selbstaufhebung des Avantgardeanspruchs perfektioniert. Das Ende eines moralischen Unmittelbarkeitsprotests von Künstlern hat damit zu tun, dass er in der Zerstörung des Metaphorischen sich selber überwindet. Aus dem grundlegenden Wandel im Selbstverständnis der ästhetischen Funktionen entstehen Darstellungs- und Sprachkonzepte, die das Imaginäre durch poetische Indifferenzbildung der bezeichneten Inhalte analysieren. Die Ent-Persönlichung der ästhetischen Schöpfung und die Behauptung einer absoluten Beliebigkeit und Indifferenz des Imaginären bewirkt dialektisch eine über Bildeuphorie angekurbelte Wiedererstehung der Herrschaft des Textes in anderer Form. Seine Kontinuität wird dadurch auf einer tiefer liegenden Ebene noch verstärkt. Nichts bricht mehr ein in dieses stabile Reich der Zeichen und ihrer Kreisläufe – keine Höhe, kein Schatten, keine Ungewissheit, kein Irrtum, keine Ambiguität. Nicht wenige der neueren Medientheorien huldigen einem Platonismus, der die Strahlkraft der Sonne ebenso beansprucht wie die Inversion der Erkenntnis in der selbstgenügsamen Höhle der ‚doxa‘, der Konventionalisierung undurchschauter Irrtümer. Leicht zu sehen, dass hier der Punkt erreicht ist, an dem die Avantgarden sich klassizistischen Formeln nähern, auch wenn über den Säulen und Stilen nicht mehr das Erhabene, sondern Neonlicht strahlt. Alles ist machbar von allen – dies zumindest in der Vision, die ihren Ausdruck im totalen Lifestyling, aber auch in der Verweigerung der Übernahme von Lebensstilen findet. Ein technoid perfektionierter Polymorphismus auf der einen Seite, eine Äquivalenz von momentanen Verdichtungen und formalen Indifferenzbildungen auf der anderen Seite ermöglichen die Vision des jederzeit Machbaren wenigstens für einen kleinen Moment. Dieser kleine Moment ist der punktualisierende Ort des ursprünglichen Erhabenen, verdichteter noch als der Moment der Moderne Baudelaires, der am Flüchtigsten die Poesie des Ewigen durch die trainierte Präsenz der Überraschbarkeit zu gewinnen trachtete.

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Die Idee der Erhabenheit wird auf der Ebene der verdichtenden Medialisierung des Momentanen repräsentiert, wobei sich die Erinnerung an die Konturen des naturgleich Erhabenen mit den technischen Simulationen von Affektsteigerungsformeln verbindet, in denen das Erhabene als medial produzierter Schock perfektioniert wird. Diese Medialisierung fordert die Vorherrschaft der Bilder nur scheinbar. In dem Ausmaße, wie die Idee des Erhabenen rekonstruiert wird, fordert sie – als Relikt der Kant’schen Ästhetik, dessen Bilderskepsis als Vorprägung der konzeptuellen Avantgarde angesprochen werden kann12 – die Vorherrschaft des Denkens gegen Bilder. Aber gerade die Darstellung des Absoluten, des vorgeblich Nicht-Relationierbaren ist von Relationen und damit von Relativem abhängig. Ein weiterer Schritt in Richtung einer Indifferenz findet historisch im konzeptuellen Werk statt, d. h. in der Destrukturierung der Idee durch die ästhetischen Materialien, die das Werk erzeugen: Vergleichgültigung der Komposition; Einfügung der Elemente in iterative, repetitive, additive Strukturen; Verselbstständigung der einzelnen Teile; Dominanz des Zufälligen. Die ästhetische Indifferenz als deklarierte Zielgleichgültigkeit und Intentionslosigkeit übernimmt zwar die Richtungslosigkeit des älteren Erhabenen, ist aber wie dieses auf Inszenierung, auf Verdeutlichung angewiesen und wird durch den immer noch kommunikativen Vermittlungsdruck an sich selber paradox: Das Interesse an der Interesselosigkeit lässt sich nicht durch ein Konzept der Konzeptlosigkeit ausdrücken. Es bedarf dazu einer Bewegung, die über stoffliche Objektivierungen verfügt: Absicht der Absichtslosigkeit, Ziel, Ziele anzuhalten, Absichten zu entäußern. Viele Versuche, an den Vitalismus anzuschließen, erscheinen deshalb als nur halb gelungene, da noch nicht an Metonymien interessierte, sondern Metaphorismen behauptende Bewegungen: écriture automatique, informel, action, painting, Fluxus, Performance.13 Die Metaphern des Vitalismus, das Bild eines reinen, strömenden Flusses, der poetisch den Übergang zur Indifferenzbildung immer schon besetzt gehalten hat, lassen vergessen, dass dieser Fluss Geröll und Abfall mit sich führt. Der Fluxus der ästhetischen Indifferenz verändert unseren gesamten Wahrnehmungshorizont, weil er die Phantasmagorie der Ware und ihren Körper zersetzt, atomisiert, vernichtet. Der Zuwachs an Indifferenz vergleichgültigt die libidinöse Besetzung der Sprachkörper als der Modelle poetischer Selbstbehauptung. Versteht man die Behauptung des ‚Postmodernen‘ als Hinwendung zu neuen Wahrnehmungstechnologien, dann ist evident, dass Identität im modernen Sinne ‚zerfließt‘. Identität ist nicht länger eine Art Gefäß, das Unterscheidungen von Relevanz und Unbedeutsamkeit aufbewahrt. Bereits Paul Valérys ‚objets ambigus‘ sind Zeichenträger des Nicht-Relationalen: Sie lassen sich auf alles, nur nicht auf etwas Bestimmtes beziehen. Sie verkörpern Ununterschiedenheit und Beziehungslosigkeit auch dann, wenn mittels ihnen Unterschiede getroffen, Beziehungen hergestellt werden. Der Zuwachs an Unbestimmtheit lässt sich nicht mehr als Gefährdung von Identität verstehen. Diese überwindet das vertikale Paradigma der zentralistischen Ordnung menschlicher Erfahrungen – interpretiert als Kampf gegen das Chaos, das mit dem Hinderlichen, Irreführenden, Unbegreiflichen identifiziert und damit zur negativen Bedingung einer Homologiebehauptung wird, ‚Welt‘ sei Ausdruck einer Setzung, der Abbildung der ontologischen Denkbarkeit von ‚Sinn‘, ‚Welt‘, ‚Sachverhalt‘. Wenn Rationalität

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sich auf Bewusstseins- und Wahrnehmungsakte ausdehnt, die nicht mehr an der Universalbehauptung der Identitätsfähigkeit sich ausrichten, dann lässt sich diese Ausdehnung auch nicht mehr in ein fiktive Dichte beanspruchendes Krisenmodell der Gefährdung von Identität integrieren. Rationalität greift in das Feld gleichgültiger Vermutungen, eine gewisse Interessantheit des Spekulativen, das sich seiner denkerischen Ausfaltung bewusst ist ohne homologes ontologisches Substitut ‚Welt‘; sie zirkuliert und kehrt zur reinen Wahrnehmung, zu Valérys ‚regard pur‘ zurück. Ästhetische Indifferenz heißt: Die Wahrnehmung wird von Vorprägungen, Wert- und Bedeutungszusammenhängen gereinigt und verwandelt sich in den Vollzug einer Spontaneität, die an Herstellung deshalb nicht mehr interessiert ist, weil sie nicht naturgeschichtliche Zu­ fälligkeit ausdrückt. Heute lassen sich die verschiedenen Diskurse und Stile, Techniken und Sprachformen, Epochen und Bezüge zunehmend in ein und demselben Werk verknüpfen. Natürlich haben widersprüchliche Diskurse schon lange nebeneinander existiert. Aber bisher galten sie als unversöhnlich. Aktualisierend, den Moment des Aktuellen s­ elber erzeugend, werden bis vor Kurzem für unvereinbar gehaltene Konzepte und Formen mitein­ander verschmolzen: Gestik mit Geometrie, Programmatisches mit S ­ pontanem, Automatismen mit Kalkülen, Figuration mit Abstraktion. Die Avantgarden der ­Moderne haben diese Bereiche meist scharf gegeneinandergesetzt. Der Postmodernismus tut das nicht mehr, sondern lässt sie in einer Diversität wirken, die auf komplexerer Ebene eine Einheit ermöglichen, die nicht mehr nach dem einem prinzipiellen Dogmatismusverdacht unterzogenen Muster von Differenz und Dissidenz gedacht ist. Sprachformen und Sprechweisen, Farbe und Raum, Blick und Ton, Leinwand und Fotografie, Skulptur und Müll, Spuren und Verletzungen werden ent-objektiviert.14 Sie kehren dennoch nicht zur Unmittelbarkeitsbehauptung der modernen Autorschaft zurück, sondern bewirken eine an den Regeln der massenmedial zirkulierenden Kunst ritualisierte Autorenrolle. Obwohl von Personen erzeugt und durch Personen vermittelt, sind selbst expressive Qualitäten, von der Theorie der Moderne als ästhetischer Eigensinn und ausdifferenzierte gesellschaftliche Sphäre bestimmt,15 nicht mehr urheberschaftliche Selbstdifferenzierungsakte. Sie sind Faktoren in einem Spiel, das die Differenz von Subjekt und Objekt, Idee und Werk, Wille und Resultat überwindet. Die reichlich prätentiöse Rede vom ‚posthistoire‘ – prätentiös, weil sich hier geschichtlich eine Rede der Geschichtsjenseitigkeit zu behaupten trachtet, deren historische Interessenbedingungen mit theoretischen Mitteln leicht nachweisbar ist – meint, dass die Avantgarden, weil sie die Moderne in Material verwandeln, an Mythen, an das Aufstöbern des anderen der Geschichte, an Mythologisierungen anschließen können, die nicht Leistungen des mythogenen Systems der Massenkultur sind. Dass bestimmte Beziehungen zwischen Form und Inhalt unbedeutend werden, ermöglicht den Triumph einer pompösen Rhetorik, wo es bis vor Kurzem noch großer Anstrengungen und einer entwickelten Ekeltechnik bedurfte, um die Insignifikanz der Geschmacksrituale und des Sozialprestiges nachzuweisen. Der Indifferenz des Geschmacklichen ist zu danken, dass konstruktive, geometrische und konzeptuelle Sprachen und ihre geistige Ordnung als eine Metaphysik

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des ­Realen austauschbar geworden sind mit gestischen, expressiven und fantastischen Ausdrucksformen: An die Stelle der Behauptung von Stilwertigkeiten, die mit Kunstwerken getauscht werden, treten die Tauschformen selber als Form der Sprache. Das neuluxuriöse Relevanzgehabe gegenüber Kunst ist ein Rückzugsgefecht gegen diesen Prozess, der die Liebhaber zur Reflexion zwingt. Objektivität und Bedeutung können nicht mehr eindeutig abgegrenzt werden vom Unbewussten und Emotionalen, vom Ungeordneten und aus der Sicht des operativen Bewusstseins Nicht-Strukturierten. Es entstehen Mischkonstruktionen. Die Entwicklung der lebensweltlichen Einstellungen, die Formen der Selbstbezüglichkeit alltagskulturellen Handelns schließen an das Wissenschaftsproblem der neueren Physik an: an die Einsicht, dass feststrukturierte Realität eine Illusion ist, deren Realität die Bestimmtheit des Imaginären als Interpretationszwang am Selbstbezug abbildet, dass man es mit chaotischen Zuständen der Materie und nicht mit messbaren Phänomenen zu tun hat, ja: dass Realität nicht anders fassbar ist denn durch die Selbstabbildung des Denkens, das im Lichte theoretisch bewusster Einstellungen seine Beobachtungsphänomene erzeugt.16 René Thoms Katastrophentheorie, Benoît Mandelbrots Theorie des Fraktalen17 sind etablierte Versuche, diese Einsicht in eine Theorie des Wissens vom Sozialen umzusetzen. Michel Serres hat eine eigentliche Philosophie der Mischung durch die polylektische Denkfigur des Parasitären18 entwickelt, die für die Erkenntnistheorie die ethnologisch schon länger etablierten Austauschprozesse nutzbar macht und das Ontologieproblem auf die Komplexitätssteigerung der Selbstbeobachtung verschiebt. Das bestätigt, dass Geschmack immer auch eine erkenntnistheoretisch relevante, als Kategorie nicht eigens begründete Disposition im abendländischen Dualismus gewesen ist: Konstruktion einer Grenze zwischen identifizierbarer Materie und der sie bedingenden Ausgrenzungsmaterie, die als intern bestimmte nicht fassbar ist. Die Rettung des Konsistenten beansprucht den Modus der Unterscheidung im Sinne dieser Striktheit. Deshalb muss das Konsistente als das Wertvolle erscheinen. Die Wirklichkeit ist aber nach Serres nicht in dieser Weise ‚vernünftig‘, nämlich gegenüber den Tauschlogiken reduktiv, sondern ein Chaos, ein unübersichtliches Feld zahlloser Informationen, Interdependenzen, Restrukturierungen und Demontagen. Darum ist es ihm um eine vorurteilslose Wahrnehmung von Signalen als Symbolmaterie in Tauschvorgängen zu tun, die von den Dingen und der Natur ausgehen. Es ist kein Widerspruch, dass die Technisierung der Zeichenflüsse erkenntnistheoretisch mit einem neuen Empirismus verbunden wird. Der ästhetische Sensualismus ist in der subjektivitätstheoretischen Reduktion des Erhabenen nur die Kehrseite gewesen einer aus dem Identitätsdruck folgenden instrumentellen Abgrenzung von ‚Natur‘ als dem Objekt beliebiger menschlicher Zwecksetzungen. ‚Postmodernismus‘ findet an der Kritik am Instrumentalismus der Moderne sein stärkstes Argument. Ein Setzen auf den in Tauschformen erfahrbaren Reichtum des Empirischen ergibt Sinn gerade für die technische Simulation derjenigen Zeichenmodelle, durch die Subjektivität sich als ontologisches Pendant zu außermenschlicher Natur setzt, ohne die Zeichenstrategien zu begründen. Die Theorie der Wahrheitsfunktionen ist eine

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­Strategie der positiven Wissenssicherung durch die Substitution einer absoluten Wahrheit, die als stetig wachsende Rationalität in der szientistischen Forschergemeinschaft diesseits aller Sinnfragen gesichert wird;19 die technisch simulierbare Indifferenz unterzieht die verdinglichten Logiken der Forschung einer kommunikativen Kritik, indem sie deren Identitätsmodell denunziert. Das Verständnis des Wirklichen als eines Chaos produziert horizontal neue Verbindungen, die an den Bildsimulations- und Automations­ apparaten verfolgt werden müssen. Erst aus dieser Sicht lässt sich die Etablierung der bürgerlichen ästhetischen Theorie im 18. Jahrhundert als Geschmackstheorie verstehen, was unweigerlich das Missverständnis produziert, ästhetische Erfahrung verweise naturgeschichtlich auf die Behauptung aufgeklärter Subjektivität in einem nicht nur metaphorischen, sondern ordnungsregulierenden Sinne. Im ganzen 18. Jahrhundert ist entsprechend das die Reflexion der Kunst dominierende Motiv die Unbestimmtheit, die dem Sublimen und Erhabenen zukomme. Mit der Darstellung des Unbestimmten nimmt das Bürgertum die antike Rhetorik wieder auf: Verfügen über das Repertoire von Formeln, mit denen Überzeugung strategisch durchgesetzt werden kann. Das Erhabene wird durch eine unreine Rhetorik konstituiert. Das Erhabene als Stil: Das ist Geschmacksirrtum, Verzerrung und Überdehnung des richtigen und ausbalancierten Stils. Die Größe des Erhabenen, an das die Avantgarden anknüpfen,20 ist wahr, wenn sie von der Unvergleichlichkeit des Denkens zeugt, das in keiner Form der Versprachlichung, keinem sprachlichen Akt mehr eingefangen werden kann. Denken und Wirklichkeit sind unermesslich verschieden. Denkt das Denken die Verschiedenheit, dann, so die Konstruktion, denkt es erhaben, muss aber dazu das Wirkliche so verzerren, dass Denken als Denken des Nicht-Vorhandenen konstituiert werden kann. Das Erhabene ist daher, was den richtigen Gebrauch der Techniken verletzt; es ist Deregulierung des Harmonischen. Die kantische Unermesslichkeit der Ideen, die Auffassung, die Einbildungskraft sei ohnmächtig, den Mechanismus der Ordnung des Mannigfaltigen zu verstehen oder dafür ein homologes Bild zu finden (Bilder wären Bilder der Abweichung von solchem Bild und seiner Funktion), beinhaltet eine Abstraktion, die eine nicht-relationale Kunst befördert. Jedes positive Bild wird Zeugnis der Ungenügsamkeit der Vorstellungskraft gegenüber den Ideen und damit Ausdruck des Ästhetischen als einer Begründung der ontologischen Differenz zu Identitätsansprüchen aller Art: Nicht-Identität ist die anthropologische Voraussetzung aller Symbolisierung, die auf der Ebene der ästhetischen Artikulation historisch, genetisch und strukturell differenziert wird, ohne dass die Symbolisierungen mehr beanspruchen könnten als die iterativ interpretierende Verdeutlichung dieser Nicht-Identitätsvoraussetzung. Natürlich widerspricht Kants positive Ästhetik (das interesselose Wohlgefallen am Gegebenen) dieser Konsequenz. Aber das Abstraktionsproblem ist in seinem Modell unausweichlich: dass nämlich gegen das wohlgeordnete Schöne – eine naturgeschichtliche wie philosophische Naivität des vorkritischen Denkens – die eigentliche ästhetische Leistung in der darstellenden Schöpfung des Maßlosen und Maßstablosen, des Verzerrten und Nicht-Schönen bestehe. Ein semantischer Rekurs auf die Vorfindlichkeit des Erhabenen kraft eines diffusen Naturschönen, das die Zwecksetzung an der erscheinenden Natur deformiert,

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wird zwar bei Kant immer nahegelegt, ist aber in seiner Theorie ein Ding der Unmöglichkeit und nur als historisch arbiträrer Geschmackstribut an eine durch klassizistische Überzeugung künstlerisch vorgeformte Gestalt des ‚Überragens‘ zu erklären. Schon Burke hat 1757 das Sublime als die Wirkung von Schrecken und Drohung bestimmt21 und den Weg der Moderne als den einer Formalisierung dieser Einsicht, einer Habitualisierung von Verzeichnungsvarianten skizziert: Der Schrecken zweiten Grades, der auf Privation beruhe und deshalb auch den ersten Schrecken seiner Wirksamkeit beraubt, müsse immer neue Gestalten seiner Drohung (er)finden. Diesen Zwang zur Asymmetrie würde ich als Deregulierungsprinzip des Geschmacks bezeichnen. Aus dieser Deregulierung geht notwendig die Indifferenz zwischen Geschmack und Geschmacklosigkeit hervor. Die verzerrten und immer wieder aufs Neue monströsen Ekelgestalten begeben sich ihres Inhalts an dem Punkt, an dem der sozial in Gang gesetzte Mechanismus des Schrecklichen zu einem innerlichen Vorgang, zur Deregulierung am Subjektmodell geworden ist (und als Fasziniertheit an Destrukturierung der Denkbilder in Form einer Faszination an körperlicher Zerstückelung vor den Bildschirmen erscheint). Dieser Punkt ist der in diesen Jahren historisch erreichte Punkt einer medial suggestiven Identifikation von Realität und Medialität. Realität geht der Formalisierung des Realen nicht mehr voraus, sondern entspringt seiner Verselbstständigung. Das Reale wird zur Nichterfahrbarkeit und zur Spur einer auto-suggestiv realisierten Imagination, zur synthetisch simulierten Konstruktion eines bloß Gemeinten, das nichts mehr zeigt und gerade deshalb das nichtverfügbar Eigentliche als das bloß Künstliche markiert: Tod, Schmerzen, Gewalt und Brutalität, Unfälle, Entführung als mediale Life-Show, das Sterben in den Stadien als bloße Programmpanne; kurzum: die Imitation der Imitationsformeln der Brutal- und Kriegsfilme als einer unkenntlichen Realität, die sich in ihrer Unfasslichkeit tarnt und zur Simulation verflüchtigt. ‚Obszönität‘ eine Verschleißformel wie jede andere im ästhetischen Prozess der autosuggestiven Ritualisierung des Imaginären,22 ist die technisch-mediale Praxis,23 die durch die Pervertierung der Einsicht in die Simulation von Wirklichkeit kraft Indifferenzbildung deren aufklärerische Entfaltung behindert. Alle etablierte Medienpraxis besteht als Politik der Obszönität. Lange haben westliche Avantgarden versucht, daran zu partizipieren, um die Suche nach anderen Intensivierungen zu entwickeln oder für Nicht-Orte und Nicht-Darstellbares zu plädieren, obwohl doch gerade das Nicht-Darstellbare die Erzeugung verzerrender Monstren für die bürgerliche Theorie des Erhabenen begründet hatte, gegen welche die Avantgarden sich wandten, ohne – vor John Cage – der Dialektik des Erhabenen noch in den Niederungen aktionistischer Primitivität entgehen zu können. Das Unbestimmte scheint erstmals als Indifferenz angesprochen werden zu können. An die Stelle des Herausbringens der Differenz treten Maschinen und Automaten. Triumph der Gedächtnismaschine: Dauer verwandelt sich in Augenblick. Was leerläuft, ist die Information. Information wäre Störung. Wir leben im Zeitalter der Desinformationsmaschinen: keine Störung mehr, keine Geräusche. Das wird sich zweifellos ändern. Aber das Spiel mit der Des-Identität ist noch nicht über den Punkt hinaus gediehen, wo das Subjekt ständig sich seiner verblassenden Konturen erinnert und immer wieder Spiele spielt, die es von diesen unterscheidet. In diesem Unterscheidungs- und Erinnerungszwang leben mehr als bloß Spu-

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ren des klassischen modernen Subjekts, nämlich die simulatorisch erneuerte Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Selbstmodellierung im Zivilisationsprozess: Nicht-Identität ist nicht verfügbar. Vorerst noch bricht sich das Schöpferische, das ‚Irrationalität‘ gegen den Zwang zur Formalisierung des Selbstbezugs retten möchte, an leerlaufenden Intensitäten. Im selben Ausmaß wachsen die Beschwörungsgesten der Legitimation. Der Griff aufs Transzendente soll in der bildenden Kunst noch einmal das ästhetisch Subversive der Moderne, die Identität von Verstümmelung und Heiligkeit, ermöglichen, sei’s auch nur als undurchdringliche Beliebigkeit des Selbstempfindens. Das erscheint als letzte Bastion gegen den erzwungenen Funktionsverlust der Kunst,24 der sich durch das Abwandern der Darstellungs- und Deutungsfunktionen in Wissenschaft, Massenregie, Design und alltagskulturelle Interpretationsleistungen auszeichnet, welche inmitten der Trivialisierung immer komplexere Aneignungen und Selbstwahrnehmungen produzieren. Was sich abzeichnet, ist ein Umbruch im menschlichen Selbstverständnis: Bildnerisches Denken und soziale Wahrnehmung lösen sich vom Metaphorischen, damit vom Paradigma der rhetorischen Lenkung hierarchisch und zentralistisch durchgesetzter Verführungsintentionen, die sich als Unmittelbarkeit der erschlossenen Symbolik setzen und das Angewiesensein auf Vermittlung kurzschließen. Die Metapherntechniken beginnen, im Zeichen einer technisch-simulatorischen Aufklärung leerzulaufen. Das Ästhetische selber wird zur Metapher und zum abstrakten Objekt medial verselbstständigter Tätigkeiten. Früher Hüter des Geschmacks wie des Prinzips seiner ekelhaften Zerstörung, kündet bildende Kunst von Überforderungen, aber immer weniger von Leistungen. Die suggerierte Lebendigkeit, die sich in das Unvollkommene, Schlupfwinkel des beschworenen Menschlichen, zurückzieht, scheitert an der Ohnmacht selbst der Geschmackszerstörung. Die bildende Kunst wird konservativ. Es gilt, aus dem soziologischen Tatbestand gewachsener Rezipientenfähigkeiten und der Verlagerung der ästhetischen Differenzierungen auf die Binnenbeziehungen zwischen Wahrnehmung und Zeichenmodellen die Konsequenzen nicht nur für die institutionell regulierten empirischen Künste, sondern auch für die Theorie des Ästhetischen in der aktuellen Kultur zu ziehen. Das Ästhetische eignet sich nicht mehr für Grenzüberschreitungen. Deshalb steigt der Bedarf an Wildnis und an ethnologisch schöpfbaren Gebieten des wilden Wissens. Bloß beschwörende technisch-simulatorische Diskurse wähnen diese Wildnis im Inneren der Simulationsprogramme und verdunkeln die Tatsache, dass Aufklärung nicht als Revokation der mythologischen Strukturen und ihre projektive Abbildung auf ‚Modernität‘ behauptet werden kann.25 Selbst hier dominiert die Angst, im Innersten des Kreativen säße ein mechanischer Apparat, Imagination würde sich als Automatismus entpuppen, als Reflex spezifischer Traditionen, von Unbegriffenem und Vorprägungen, die in der Überzeugung gipfeln, das Kreative könne nur als schweigende Inversion gegen den beschworenen Anti-Mechanismus behauptet werden. Wir leben noch im geschmacklosen Zeitalter, an der Schwelle zur Indifferenz, welche die Ästhetik nicht mehr als Substitution der Nicht-Identität missbrauchen würde. Mit dem guten Geschmack hat sich das Bürgertum historisch gegen den feu­ dalis­tischen Luxus behauptet. Mit den Ekeltechniken und der Behauptung des Anti-­

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Geschmacks hat der dissidente bourgeoise Künstler in diesem Jahrhundert dem Individuum das Recht genommen, sich kraft Geschmacks zu interpretieren. Die ästhetische Moderne beginnt mit der Verstümmelung dieses Geschmacks. Das Erhabene war nur durch Perversion, Sünde und Zerstörung wirksam. Heute, so scheint es, wären Techniken zu entwickeln, mit denen die ästhetische Individualität sich kraft Indifferenz behaupten könnte. Sie würde die Divergenz von Geschmack und Ekel als symmetrischen Irrtum zurückweisen. Sie lebte am Ende der Differenz. Der Differenzanspruch würde nicht zurückgewiesen durch die Sehnsucht nach dem simulatorischen Bann indifferenter Bildschirmprogramme, sondern durch die Entwicklung der ästhetischen Kritik an der historischen Subjektivierung der Wahrnehmung mit Werten, die sich hochkulturell behaupten, sich gegen die Einsicht in den Zerfall aller universalistischen Weltdeutungen sperren und künstlerisch reaktionär werden. Es gilt, den Mythos von den Evidenz sichernden kulturellen und künstlerischen Werten zu kritisieren, der sich hinter solch scheinbarer Differenzbehauptung identitätsphilosophisch verbirgt. Die Frage nach der Signifikanz der Kunst und der monadischen Bedeutungskraft des einzelnen Werkes führt zwangsläufig zur Reflexion des konjunkturell sich wandelnden Verhältnisses von Kunst und Design. Es soll plausibel werden, weshalb das Design im 20. Jahrhundert Suggestionen entwickelt, das durch Fragmentierungen zerstörte Feld sinnorientierter Totalitätsbehauptungen mit zahlreichen, vorgeblich stofflichfunktionalen Innovationen, in Tat und Wahrheit rhetorischen Eindringlichkeitsfiguren und Anmutungsgrößen wieder zu besetzen. Die Fragmentierung der Systemvernunft und die moralische Disziplinierung des Ästhetischen verhalten sich symmetrisch und korresponsiv zum historischen Folgeproblem eines solchen propagandistischen Ringens um den Gegenstand.

Eine erste Fassung ist erschienen unter dem Titel „Vom Ende der Differenz/Ästhetische Perspektiven“ in der Zeitschrift Kunstforum International, Bd. 85, Köln 1986, S. 68–74; auf französisch als „Fin de la Différence“ in der Zeitschrift Traverses Heft N° 37 mit dem Hauptthema „Le dégoût“, Paris: Éditions du Centre Georges Pompidou/Centre de la Création Industrielle CCI, Paris: Éditions de Minuit 1986; die hier vorgelegte, nochmals bearbeitete Fassung entstand, um eine Exposition erweitert, bearbeitet, ergänzt, redigiert und ­revidiert, im Kontext der und für die Habilitationsschrift „Zugeschriebene Wirklichkeit. Alltagskultur, Design, Kunst, Film und Werbung im Brennpunkt von Medientheorie“, publiziert bei Königshausen & Neumann in Würzburg 1994 (hierin Kapitel 4). Geschrieben 1991.

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Donald Judd in: Art in America, September/Oktober 1984. Vgl. Roland Barthes, Elemente der Semiologie, Frankfurt a. M. 1979, S. 50 f.; Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a. M. 1979, S. 192 ff.; Wilhelm Köller, Semiotik und ­Metapher. Untersuchungen zur grammatischen Struktur und kommunikativen Funktion von Metaphern, Stuttgart 1975. Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987, S. 88 ff.

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So lässt sich der Kontext der anlässlich der documenta 5 1972 behaupteten, später zur ‚Arte Chifra‘ ­ausgebauten Universalisierung des individuellen künstlerischen Schaffens unter der Parole der ‚Individuellen Mythologien‘ bezeichnen; Harald Szeemann, Individuelle Mythologien, Berlin 1985; auf dem Weg dorthin, ders., Das Museum der Obsessionen, Berlin 1981. Vgl. Jean-François Lyotard, Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986; ders., Über Daniel Buren, Stuttgart 1987; ders., Die Transformatoren. Duchamp, Stuttgart 1987; zum Status des erneuerten und radikalisierten ästhetischen Urteils, ders., Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989, S. 50 ff.; Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973; ders., Über Spiegel und andere Phänomene, München 1988, S. 128–180; Hans Ulrich Reck, Grenzziehungen. Ästhetiken in aktuellen Kulturtheorien, 1989, Kap. 2.7. Zur dafür wichtigen Position Pier Paolo Pasolinis, Hans Ulrich Reck, Mythische Verweigerung und totale Person. Zu Werk, Leben und Rezeption Pier Paolo Pasolinis, in: Merkur 424/1984, Stuttgart S. 165 ff., bes. S. 167 f.; zu Mythos als Denkmodell, Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979; ders., Wirklichkeitserfahrung und Wirkungspotenzial des Mythos, in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11 ff. Vgl. Hans Ulrich Reck, Stilnotate zwischen Lebensform/Subversion und Funktionsbegriff, in: Bazon Brock/Hans Ulrich Reck/IDZ Berlin (Hgg.), Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode, Köln 1986, S. 100–151. Theoretisch hat aus philosophischer Sicht solche Phänomene Jean Baudrillard skizziert, z. B., Kool Killer. Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978. Im Wortsinn lexikalisch sitzt diesem Irrtum auf, G. J. Lischka (Hgg.), Alles und noch viel mehr, Bern 1985. Diedrich Diederichsen/Dick Hebdige/Olaph-Dante Marx, Schocker. Stile und Moden der Subkultur, ­Reinbek bei Hamburg 1983; Diedrich Diederichsen, Sexbeat. 1972 bis heute, Köln 1985. Vgl. Jean-Frédéric Schnyder, Katalog, Kunsthalle Basel 1988. Vgl. Jean-François Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 424/1984, Stuttgart S. 151 ff.; ders., Streifzüge … a. a. O., S. 80 ff. Zum paradoxalen Status der ‚écriture automatique‘ im surrealistischen Programm: Hans Ulrich Reck, Serge Brignoni. Eine Auseinandersetzung mit dem Surrealismus, Basel 1985, v. a. S. 23 f. Vgl. die Analysen im Darmstädter Katalog ‚Tiefe Blicke. Kunst der 80er-Jahre‘, Köln 1985; Stephan Schmidt-Wulffen, Spielregeln. Tendenzen der Gegenwartskunst, Köln 1987. Dies ist immer wieder der Ansatz von Jürgen Habermas; z. B. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981, S. 321 ff. Vgl. John Gribbin, Auf der Suche nach Schrödingers Katze. Quantenphysik und Wirklichkeit, München 1987. René Thom, Paraboles et Catastrophes, Paris 1983; ders. in: Jan Bialostocki u. a., Über die Krise. IWM Castelgandolfo-Gespräche 1985, Stuttgart 1986; H. O. Peitgen/P. H. Richter (Hgg.), The Beauty of Fractals. Images of Complex Dynamic Systems, Heidelberg/New York/Toronto 1986. Vgl. Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a. M. 1981. Das vollendet in der positivistischen, kritische Impulse Wittgensteins verkürzenden Tradition Carnaps und Tarskis Karl R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1971, 4. verb. Aufl.; die im Kontext des Positivismusstreits in der deutschen Soziologie u. a. von Habermas durchgeführte Kritik an den Interpretationsbedingungen gerade der Protokollsätze hat die späten Vertreter der kritischen Theorie nicht durchgängig vor einem sinnorientierten Universalismus und einer Rückkehr zur Transzendentalphilosophie geschützt. Vgl. z. B. Karl Otto Apel (Hgg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a. M. 1976; ders., Die Erklären/Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt a. M. 1979, S. 289 ff.; ders., Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988, S. 154 ff., 306 ff. Vgl. Jean-François Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde …, a. a. O.; zur Anknüpfung der Avantgarde an die antike Ontologie, Ernesto Grassi, Die Macht der Fantasie, Frankfurt a. M. 1979, v. a. S. 51 ff.; ­weitere Perspektiven, Nelson/Goodman, Kunst und Erkenntnis, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hgg.), Theorien der Kunst, Frankfurt a. M. 1982, S. 569 ff.; Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt a. M. 1984, bes. S. 252 ff Vgl. Edmund Burke, Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, deutsch von Werner v. Strube, Hamburg 1980 [1757]; S. H. Monk, The sublime. A study of critical theories, in: XVIII-Century England, Ann Arbor, Michigan 1960, S. 38 ff. Vgl. dazu, Hans Ulrich Reck, Zeichen, Zeit, Symbolzerfall. Philosophisch-poetische Streifzüge durch drei imaginäre Landschaften, Basel 1986, S. 12 ff., 75 ff., 113 f.

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23 Vgl. Jean Baudrillard, Das Andere selbst. Habilitation, Wien 1987, S. 50 ff., 75 ff.; ders., Die fatalen ­Strategien, München 1985, S. 59 ff., 220 ff. 24 Pointiert und kurz, Zur Neuen deutschen Kunst, Positionen eines Gesprächs zwischen Oswald Wiener, Gufo Reale und Friedrich Heubach, in: Kasper König (Hgg.), von hier aus. Zwei Monate neue deutsche Kunst in Düsseldorf, Köln 1984, S. 227 ff. 25 Dazu neigt Karl Heinz Bohrer; vgl. u. a. Vorwort in: Mythos und Moderne, Frankfurt a. M. 1983; als ­Gegenposition, Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, bes. S. 291 ff., 607 ff., 679 ff.

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8  Nach der Postmoderne – Design, Designpolitik und ­Medien

8  Nach der Postmoderne – Design, Designpolitik und ­Medien Vorab: Stilfragen und besonders subjektive Empfindungen bezüglich des Reizes von testenden Spielformen, mehr oder minder exzentrischen Ausgriffen auf ein Jenseits des ausgedienten Funktionalen, reichen schon lange nicht mehr. Die angeblich ungetrübte, reine Unschuld des postmodernen Empfindens hatte eine sehr kurze Periode nur erlebt, um sich exzessiv seiner Lust hinzugeben. Eine Theorie des Re-Designs geht ebenso einen Schritt weiter wie generell die Auffassung, Zukunftsperspektiven des Designs seien immer theoretisch verfasst. Die Meta-Theorie der Designerwartungen eröffnet Begründungsperspektiven nur im komplexen Anspruch und Argumentationsgang. Die Zeiten der Setzungen und Konzepte, erst recht der Manifeste, auf einer primären Ebene sind vorbei. Zur Meta-Ebene gehört auch die Auseinandersetzung mit Bedingungen einer nicht-eurozentrischen Ästhetik. Dies nicht deshalb, weil es um Fragen der Ästhetisierung von Gerechtigkeitsempfinden und schon gar nicht um die Selbstautorisierung desjenigen geht, der ausgleichende Gerechtigkeit nach Bedingungen eines universal Korrekten überprüft. Sondern weil das Konzept der Ästhetik, die besondere Koppelung von Kunst mit Schönheitsempfinden und der Frage nach der Valenz des ‚niedrigen‘, nämlich ‚sinnlichen‘ Erkenntnisvermögens eine spezifisch europäische Konstruktion ist. Es handelt sich um ein selbst erzeugtes Problem. Eben solche selbst erzeugten Probleme, Modellabwägungen und Handlungserwartungen, sind auch dem Prozess wie dem Diskurs, der Moral wie der Ideologie des ‚Postmodernen‘, seine spezifischen Erwartungen und Geltungsansprüche eingeschrieben.

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DAS PLÖTZLICH POLEMISCHE AUFSCHEINEN DES ZEITGEISTES – EINE KRITIK DER NEUHEIT Ergibt sich bereits eine Stringenz, wenn man Kunst ins Alltägliche übersetzt? Funktioniert Kunst in diesem Sektor? Zunächst ist es tatsächlich der Ausstellungsbereich, der Kunst als Funktion definiert: Das Leben ist nicht das Museum. Auf der anderen Seite erlaubt dieser Transport nicht nur die Funktionalisierung von Kunst als orientierende alltägliche Wahrnehmung, sondern ein Unterlaufen der Grenzen zwischen Kunst und Design im Namen einer Gestaltung, die sich gegen den Asketismus der modernen Avantgarden – von Picasso, Kandinsky, Mondrian und Malewitsch bis an die Schwelle zur Pop-Art – ebenso richtet wie das sogenannte ‚neue Design‘ gegen den formalisierten Funktions­verdacht in der Zurücknahme zusätzlicher, ornamentaler Sinnenanreizungen. Mehreres ist zu unterscheiden: künstlerische Arbeit mit Designmaterial, wobei die künstlerische Autonomie stringent sich beliebige vorgefundene plastische Wertigkeiten unterwirft. Designobjekte, zerfallen, entwertet oder intakt, werden zum Ausgangspunkt für eine künstlerische Arbeit, die über die Zweckentfremdung Selbstreflexion und Selbsterfahrung auf den Künstler zurückwirft. Das ist eine stetig aktualisierte Dimension der modernen Kunst. Es lässt sich eine komplexe Traditionslinie ziehen von Duchamp über Informel bis hin zu Dieter Rot, Blinky Palermo, I. Knoebel, Bruce Nauman, R. Ruthenbeck und den Konzeptualisierungen bei R. Long, Walter de Maria, Chamberlain. Daneben allerdings gibt es das mehrdeutigere Arbeiten mit Objektdesign. Da lässt sich eine Linie ziehen von Lissitzky, Moholy-Nagy, dem positivistisch-szientistischen Design in der zweiten Phase des Bauhauses bis hin zu Arbeiten von Tony Cragg, Mario Merz und Marcel Broodthaers. Hier sind sowohl funktionale wie ästhetische Argumentationen leitend, mit denen im Namen übergreifender Gestaltung oder Stilisierung Kunst und Design aufgehoben werden sollen. Stephan Hubers Arbeiten, von Lenins Schreibtisch über den übergroßen zerbrochenen Fayenceteller bis hin zu den Kristalllüstern in Bauplatz-Schubkarren, gehören in diese Tradition. Sie erscheinen noch diszipliniert und sind doch schon an der Grenze zur belustigten Beliebigkeit mit einer seltsamen Neigung zu einem Polymorphismus ohne Materie, zu einer geglätteten Form des Zeigbaren im Gestus des subjektiv Gesetzten und ungeheuer Wichtigen. Ein Sprung in eine Art naiven Kapitalismus der wieder verschönerten Dinge. Eine dritte Tendenz – wieder beginnend bei Duchamp, unzählige Male beraubt und beerbt von Generationen von Werbern und Designern, jedoch unter Zerstörung der poetischen Radikalität – zwingt den Objekten, seien das designte oder künstlerische Gegenstände, die reine Autonomie eines poetischen Verfahrens auf, das die Selbstreflexionswerte bearbeitet, sich keineswegs gegen Kunst richtet, sich für die Auflösung der Differenz auf einer ersten und die Erarbeitung einer Differenz auf einer höheren Ebene interessiert, diese auf der Ebene der sprachlichen Bedeutungswerte der Bildpoesie die Objekthaftigkeit wiederherstellt und insgesamt die Grenze zwischen Kunst und Design weder unterlaufen noch als Orientierung hinnehmen will für die Entwicklung der ästhetischen Geste.

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Es geht um die Präzision eines Indeterminismus, der überhaupt die alte Antithese als unzeitgemäße Haltung gegenüber den Fragen an die persönliche Intensivierung der Reflexion im Medium der künstlerischen Selbstbetätigung und der Konsequenz ihrer Begründung zurückweist. In diesen Sektor – den radikalsten, der entsprechend im Namen der Kunst Design überhaupt zurückweist – gehören die Arbeiten Bertrand Laviers an der documenta 7, aber auch die Filme und Objektserien von Fischli/Weiss oder die Unbezwingbare[n] Berge Wolfgang Laibs und einige Arbeiten Andrew Leicesters. Bei Weitem am intelligentesten, radikalsten und präzisesten entwickelt in dieser Tradition eine nicht auf Kunstbehauptung orientierte Bild- und Werkautonomie in letzter Zeit Martin Kippenberger, der heute als einer der wenigen sich auf den Weg macht, eine Bildästhetik des nächsten Jahrzehnts umfassend zu entwickeln. Auf einer vierten Ebene werden heute all diejenigen Versuche abgewickelt, Kunst und Design im Namen eines Stylings und Gesamtkunstwerks der Lebensinszenierung aufzuheben und zu integrieren. Das ist die gefährlichste und ärgerlichste Tendenz, die sich sowohl im Design- wie im Kunstbereich breitmacht. Polymorphismus, Verklärung, Veredelung, Verkitschung zugleich; Metaphysik und der große schwere Ernst des Lebens, verpackt in den heiteren und unbeschwerten Kleinkram an der Ecke des überflüssigen Lebenssupermarktes. Wie groß die Bereitschaft ist, die entwickelten Positionen der Kunst in eine solche Theatralik selbstgenügsamer Inszenierungen einzubeziehen, zeigt ein Kunst-­DesignProjekt in Gent: 50 Künstler – u. a. Mario Merz, Sol LeWitt, Joseph Kosuth, Jannis Kounellis, Daniel Buren, Nicola de Maria, Panamarenko, Dan Graham, Luciano Fabro – richteten unter dem Motto Chambre d’amis in 50 Genter Privathäusern je ein Gästezimmer ein, und zwar für Albrecht Dürer, der vor 450 Jahren dort zugegen war und die Gastfreundschaft lobte. Der Untertitel des gesamten Unternehmens – „In Gent ist immer ein Zimmer für Albrecht Dürer frei“ – zeigt, wie austauschbar Tourismus, Fremdenverkehr, Public Relations, Produktedesign und Avantgardekunst geworden sind. Dem entspricht die andere Seite: die Integration sämtlicher künstlerischer Aspekte als Stilismen, Formalismen und Zitate in ein Szenario, das Lifestyling, Alltagsästhetik, Kommerz- und Design verbindet. Die Zürcher Zeitung MAGMA, ebenfalls ein semiotisches Styling- Abfall-Produkt der zweiten Generation, bezeichnet in der Dezembernummer 1985 Läden, in denen leichte Pop-Art und Radikaldesign, ‚intervento minimo‘ und Hightech, Informel und Objet-trouvé-Ästhetik eine Verbindung eingehen, zu Recht als die „wahren Tempel des Zeitgeistes“. Es geht hier längst nicht mehr um Kommerz oder Warenästhetik im gewohnten Sinne. Solche Läden drücken eine andere, bewusster gehandhabte Realität aus: dass im Zerfall der Hochkultur eine Fülle von Subkulturen entstehen, die sich gegenseitig codieren können und in der Flüchtigkeit eines pointierten Designs zugleich die Wahrheit der Kulturtrümmer beanspruchen, die der Zerfall der Hochkultur beliebigen Zugriffen geöffnet hat. Der Punkt, der solches Kunstdesign oder solche Designkunst zum Ärgernis macht, ist ein doppelter: einmal der Anspruch, das heutige Styling sei die Lebensweise von morgen, und zum anderen die Haltung, was der romantische Strauß der bunten Subkulturen ausmache, sei jene Totalität von flüchtigen Ereignissen und Szenen, welche die Frage nach der Unterscheidung verschiedener Arten, Bedeutungen darzustellen, völlig ungegenständlich mache.

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Höhnisch wird behauptet, man könne in cooler Destrukturierung des Subjektiven zugleich die wahrnehmungs- und handlungskonstituierende Unterscheidung von Ästhetik und Realität, Kunst, Design und Lifestyling wegschieben. Im Oktober 1983 hat Rainer Wick, der Bauhaus-Spezialist, einen Kunstforumsband herausgegeben: „Zwischen Kunst und Design. Neue Formen der Ästhetik“. Dort ging es um neue Formen von Design, um die Aufarbeitung der anonymen Massenproduktion ebenso wie um die Differenzierung einer Kommunikationsbefähigung über spezifische Designprozesse. Alles argumentativ und reflektierend, ohne Dogma, vielleicht etwas bieder, aber kritisch interessierend angelegt. Zwei Jahre später legte Christian Borngräber in derselben Zeitschrift einen Band vor über „Möbel, Mode, Kunst und Kunstgewerbe: Das deutsche Avantgardedesign“. Der Wechsel ist frappant und findet in Borngräber eine neue Figur, von der man nicht mehr ausmachen kann, wo sie sich inszeniert, wo sie kommentiert, aufarbeitet, wo sie feiert, wo sie propagiert oder ironisiert. Das Ganze hat großen Aufschlusswert insofern, als hier bewusst Diffusion, Polymorphie und totales Lifestyling in Szene‘ gesetzt werden. Hauptsache: bunt, wild, notfalls pervers und obszön, aber nie so, wie man meinte, man hätte es früher schon gehabt. Wie immer natürlich, wenn es an die Totalität der Inszenierung des rein Neuen geht, kommt einem alles vertraut vor, wenn man die Künstlichkeit der aufgesetzten Anreizungen von der Logik des Dargestellten unterscheidet. Dann wird auch klar, dass der Aufwand dieses neuen Design-Entertainments (so bezeichnet Michael Andritzky die neue Heiterkeit und Buntheit der prätentiösen ‚Designkünstler‘) die exakte Bestimmung einer Materiallogik darin findet, die Aufschlüsselung der Unterscheidbarkeit zu verhindern. Das Maß des Aufwands ist das Verbergen der Brüche zwischen dem Styling und dem, was da überhaupt gestylt wird. Je bunter und merkwürdiger, desto klarer die Dominanz des Dekors über das, was dargestellt wird. Die Ausstellung Wohnen von Sinnen – ‚Gefühlscollagen‘ in Düsseldorf (als Katalog vertrieben bei DuMont 1986) ist der bisherige Höhepunkt einer wechselseitig angeheizten Kunst- und Originalitätskunstbegeisterung, die unter dem Vorwand, Kunst zu betreiben, Zeugnis ablegt von der neuen Euphorie des Designs, dieses wiederum als Spiegel einer Generation neuer Hemmungsloser, die ihre Aufgeschlossenheit als Kultur des Luxus betreiben, um in der Gefühlswelt der großen Ganzheit sich selber wieder ein Leben nach der Beendigung der Moralgesellschaft zu eröffnen. Insofern reiht sich dieses Design etwa auf dem Niveau des Politentertainments eines Reagan (Politik als simples Showbusiness erhält dort eine neue Qualität) ein zwischen die dämlichen Obszönitäten der neuen Szenen- und Subszenenfilme (es handelt sich um ‚Liquid Sky‘ oder ‚Out of Africa‘) und das weltumspannende Mediendesign einer Unterhaltungselektronik, die Inhalte nivelliert durch die Verwandlung der Inhalte in Lifestyling. Dessen Vorzug liegt auf der Hand: Es fordert die Permanenz der Drapierung und Verkleidung. Wohnen von Sinnen aber ist noch unter anderen Gesichtspunkten interessant. Es repräsentiert einen neuen Typus von Ausstellungen: nicht mehr Vermittlung oder Information, sondern Bühne für die grenzenlose Selbstdarstellung all derer, die es geschafft haben, sich für andere als dazugehörig zu erklären (dazu gibt es in Zeitschriften wie ‚Parkett‘ auf dem Kunstsektor ein Äquivalent). Auch hier ist durch die

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­Skrupellosigkeit, mit der die Selbstdarstellung zum Kriterium des Zeigbaren und Relevanten gemacht wird, eine neue Qualität erreicht. Dass das Design – je origineller, umso mehr – die Grenzen zu einer Art konzeptueller Debilität in den meisten Fällen überschreitet und einem durchschnittlich intelligenten Mitglied der modernen Kultur abverlangt, sein Gehirn im Urstöhnen gegenüber wilden Tieren, schrägen Stühlen, unbrauchbaren Tischen, wuchernden Pflanzen, Totemismen, Symbolismen aller Art, Pseudo-Mystizismen und Pseudo-Geilheiten aufzuweichen und in eine matschige Masse simulierter Begeisterungsdispositionen zu verwandeln, ist nicht ein simples Ärgernis. Es legt Zeugnis ab von einem neuen faschistoiden Triumph, der heute über eine unideologisch sich prätendierende Gestalteravantgarde verbreitet wird. Insofern ist Bazon Brocks kluge Beurteilung der ‚Designkunst zweiter Klasse‘ noch einem Ernst verpflichtet – Design prinzipiell als sozialer Impetus, Kunst als personale Verantwortung –, der längst nicht mehr, aus der Sicht dieser Designer, auf so etwas wie den Ansatz zu einer Gesamtvision der Gestaltung angelegt ist, sondern genau diese Arbeit mit der geschlossenen Präsenz der prätendierten, sensationierenden Reize im kurzgeschlossenen Gehirn der Nutzer und Betrachter eliminieren will. Diese neuen Designer – in der Haupttendenz, Ausnahmen sind zu verzeichnen (das ist weiterhin eine Qualitätsfrage) – führen sich aber bei Weitem nicht dumm, sondern als systematische Behavioristen einer neuen Lebenswelt auf. Immanent geht es um ein Reinemachen, dessen Logik zwar Dummheit transportiert, aber durchaus nicht auf eine dumme Art. Hier kommt, leider, wieder einmal ein Zeitgeist zu sich selber. Und d ­ ieser Zeitgeist beerbt hier selbst die Krise der autonomen Kunst. Das lässt sich leicht an einigen Auszügen aus Statements hüben und drüben belegen. Beginnen wir mit Aussagen des ‚Altmeisters‘ Alessandro Mendini, die wegen der Verbindung von Herausgeberschaft (u. a. Domus) und Sorglosigkeit in der direkten Propaganda für schnelle Einfälle (das war in der Phase der kultivierten Hässlichkeit innerhalb der Theorie des Banaldesigns bei Mendini noch nicht der Fall) besonders gefährlich sind. Außerdem falsch. „Die moderne typologische Tradition schlägt eine extreme Vereinfachung der Funktionen vor, fasst sie in Räume zusammen, die zum Kochen, Essen, Schlafen und Haschen bestimmt sind. Das ganze übrige Geflecht der anderen tausend Sinnes- und Denkfunktionen ist vergessen, verkrüppelt und erstarrt in diesem architektonischen Käfig von Vergleichswerten, der auf dem Konzept des elementaren Überlebens aufgebaut ist, typisch für die Produktionsschemen und Serienstandards der zeitgenössischen Gesellschaften. Der Mensch benötigt dagegen dringend andere, subtilere Überlebensformen.“ Immerhin, obzwar und wider besseres Wissen falsch in der Beschreibung der modernen Funktion, wird hier immer noch argumentiert. Doch selbst Mendini macht sich auf den Sprung ins Paradoxale. „Man darf paradoxerweise das Ghetto wieder einführen, wenn man darunter versteht, dass damit die Existenz kleiner Gruppen mit homogener Ausdrucksweise anerkannt wird.“ Eine merkwürdige Umschreibung für ‚Ghetto‘ von jemandem, der mit Jahrgang 1931 eigentlich direkt beobachtet haben könnte, was ein Ghetto ist. Im Weiteren schwafelt Mendini davon, dass man Gärten machen könnte, exklusive selbstverständlich, in denen „starke spirituelle und ästhetische Ströme stecken“. Personalisierung ist der nächste, Beliebigkeit der

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übernächste, dezisionistische Machtentfaltung der dritte Schritt. „Das Hauptcharakteristikum ist vielleicht der Gedanke“, so wiederum Mendini, „an die Gegenstände, nicht in ihrem funktionalen Zusammenhang, der sozusagen als selbstverständlich gegeben ist [was immer das heißen mag angesichts der miserablen Designqualität der neuen Designkunst; Anm. H. U. Reck], sondern der Gedanke an eine rituelle und verhältnis­ mäßige Expressivität (Ausdrucksfähigkeit). Es geht um den Bezug zwischen Person und Objekt.“ Einige Auszüge dazu, aus Wohnen von Sinnen, wie das alles weitergehen kann. „Jemand versteckt sich hinter einem Paravent; ein Auge schaut suchend hindurch – ein im Profil ausdrucksloses, gefeiltes, ausgeschnittenes Auge. Wartet. Nichts bemerken. Die Initiation geht langsam voran.“ (Olivier Gagnère) Nichts dagegen. Was aber als einzige Information bleibt, ist die Frage, weshalb heute Designer einen so bemüht verkrampften Hang entwickeln, sich mit einer absichtsvoll als barbarisch intendierten Halbpoesie profilieren zu wollen. Wenn das – wie im Katalog Wohnen von Sinnen zum Beispiel beim dumm-spätpubertär gespreizten Text einer Claudia Schneider-Esleben – groteske Züge annimmt, fällt die Antwort leicht: Diese Designer wollen allen Ernstes als Künstler wahrgenommen werden, wollen über Design die Avantgarde der Kunst von morgen sein. Da die Poesie, die autonome Wertigkeit der frei geschöpften Sprache, das Paradigma der reinen, absoluten Kunst ist und bleiben wird, profilieren sich diese Designer als gnadenlose Poeten auch dann, wenn es ihnen an den elementarsten Voraussetzungen einer solchen Tätigkeit gebricht. Frank Groß: „Gleich dem Pfannkuchen, der den drei alten Weibern entläuft, haben sich meine Möbel in aller Stille davongemacht. Unbemerkt verließen sie die Vorherrschaft der Trinität des Codes, der Objekt, der Form. Das alte Schlachtfeld verlangt nach ewiger Ruhe. Reaktualisierung käme der Verlängerung seines Todes gleich.“ Das ist jene Art von Erhabenheit, welche eine Forderung nach der systematischen Vernichtung der Juden nicht für eine ideologische Forderung, sondern für ein offensichtliches Gebot der Natur hält. Also nicht für diskutabel. Vernehmt es, all Ihr Fußvolk und hört und staunt … An Wahrheiten könnte Ihr nicht rütteln, also gehorcht. Benjamin Pfalzer: „Dann schon lieber 25 Funktionen auf einmal: Was heute mein Tisch ist, benutze ich morgen als Lampenschirm, der alte Schirm dient als Entwicklerschale, der alte Hocker leuchtet in der Ecke, so dass die jeweilige Anordnung nicht mehr zu wiederholen ist. Da halten sich Faulheit und Suchen nach Schönheit die Waage. Das ist Wohnen, das verlange ich.“ Wer Faulheit schon immer für eine Ausrede derer gehalten hat, die uns mit dem Schwachsinn ihres Tuns nicht verschonen können, wer die Suche nach Schönheit schon immer als Ausrede der ‚schwachen Seelen‘ gehalten hat, nicht auf Rituale ihrer Selbstbezeugung verzichten zu können, der kann hier nicht in den Jubel ausbrechen, der die Begeisterung für Medienjetztzeit und altes, beschauliches Biederzimmer, für Feierarbendkaminwohnsinn und mystische Erhabenheit des fernen Schönen bruchlos zu verbinden trachtet. Imperative Worte, so folgt „denn endlich dem, was ICH verlange“. Barbara Radice zu Ettore Sottsass und Memphis 1985: „Die Kollektion des Jahres 1985 ruft neblige Großstadtstimmungen à la Blade Runner oder Science-Fiction-Abenteuer à la

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‚­Terminator‘ in Erinnerung, in denen sich furchtlose postnukleare Helden vor dem geschwärzten, vernichteten Hintergrund eines angeblichen ‚Tages danach‘ bewegen.“ Das ist leider eine durch und durch pränukleare Prosa. Das psychotisch-profilierte Programm des neuen, polymorph-perversen Narzissmus gibt Marie Vivaldi: „Mein Gestaltungsprinzip ist eine Symbiose aus Ästhetik, Funktionalität und Symbolik, in der ich meine Persönlichkeit entfalten kann und ohne die es mir nicht möglich wäre, individuell den Menschen anzusprechen und anzuregen.“ Was erlaubt eigentlich Menschen, die ein merkwürdiges ‚Ich‘ ins Zentrum der Welt stellen, andere überhaupt ‚anregen‘ zu wollen? Was man von Design wünschen kann, ist, in Ruhe gelassen zu werden mit solchen Problemen. Kunst immerhin ist hier nicht auf diesen Äußerungszwang angewiesen. Allerdings sind dort zunehmend ähnliche Tendenzen zu einer schwammig mystizistischen Ich-Sucht zu beobachten, die ‚Kultur‘ sagt, wenn sie die Selbstermächtigung des ästhetisch entgrenzten Willens zur Macht meint. Paradebeispiel ist die Diskussion zwischen Jannis Kounellis, Anselm Kiefer, Enzo Cucchi und Joseph Beuys, die dokumentiert und als Buch der unter dem (dann nicht eingehaltenen) Programm einer Bestandsaufnahme der Mythen in Europa und Europas als Mythos zu einer Ausstellung 1986 in der Basler Kunsthalle erschienen ist. Joseph Beuys sei – weshalb, ist in diesem Band nachzulesen – ausdrücklich von der Stoßrichtung dieser Äußerungen ausgenommen. Was jedoch Kounellis, Kiefer und Cucchi verlauten lassen, schlägt jedem untiefen Fass der Feierabendmetaphysik und der schwadronierenden Gemütlichkeit selbstgenügsamen Pseudo-Groß-Denkens den Boden aus. Einige Kostproben Kounellis: „Alles scheint unmöglich und ohnmächtig. Man kann alles tun, weil man nichts tun kann. Es fehlt ein ruhiger Standpunkt, eine sinnvolle Auseinandersetzung, eine Zentralität. Es gibt die Klasse, die die Normen setzt, nicht mehr. Man weiss nicht, seit wann sie fehlt, wann sie gestorben ist und wo vermutlich das Gemetzel stattgefunden hat. Man kannte sie noch vor dem Zweiten Weltkrieg, aber nachher hat man sie vollständig verloren. Das ist das große Rätsel.“ Ob wohl etwas geschehen ist im Zweiten Weltkrieg? War da nicht etwas? Wenn es heute einen Grund gibt, vom Ende der Ästhetik zu reden, von der Überflüssigkeit und vom Stören der Kunst, dann ist es die Schwachsinnigkeit der Künstler. Man darf dem Verlag dankbar sein, dieses Dokument vorgelegt zu haben, das in 100 Jahren kulturgeschichtlichen Stellenwert erlangen könnte. Ungeschnitten wird folgende Passage zu einem Beispiel für eine Haltung, die sich nicht einmal mehr kommentieren lässt. „KIEFER: Don Giovanni erreicht natürlich das Niveau, das ich meine. Da kippt es eben um. KOUNELLIS: Auf einem bestimmten Niveau ist es Kunst, unter einem bestimmten Niveau ist es keine Kunst. KIEFER: Bei Wagner ist es genauso: Erst durch die Präzision des Einsetzens von an sich stumpfem Material, wie Marschmusik, Wirtshausqualm, Männerchöre, schlägt es um ins bedrohlich Schöne. Das Stumpfe wird poliert, kann so zurückstrahlen; ein Umschlag in eine andere Qualität. KOUNELLIS: Die Hälfte von Wagner ist d’Annunzio-artig. CUCCHI: Italien bleibt ein Ort der Selektion, ein Ort der Kenntnis des Geschmacks. Dieser Geschmack existiert, du kennst ihn, weil es einen kleinen Ort gibt, wo der Geschmack ausgewählt wird, und es ist ein sehr präziser Ort.“ Das ganze Buch (betitelt Ein Gespräch) ist voll solchen Stumpfsinns, leeren Geschwätzes, von Uninformiertheiten, die im Design seit

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­ ängerem gepflegt, in der Kunst nun ebenfalls grassieren, aber für die Kunst gefährliL cher sind als fürs Design. Was soll man an Kunstwerken überhaupt wahrnehmen, wenn man weiß, dass künstlerische Autorschaft heute in wesentlichen Teilen (Hommage an Beuys, der eine große Ausnahme bleibt; Hommage an andere, die nicht nur nichts derartiges, sondern überhaupt nichts verlauten lassen, Cy Twombly beispielsweise) sich auf eine Art von Philosophie beruft, die außerhalb jeglichen Anspruchs an Informiertheit und Kompetenz im Pathos des absoluten Geistes zu Allem Alles äußert und letzte Argumentationskraft beansprucht, es handle sich nun um Gentechnologie, Armut, Kapital, Zukunft, Geschichte, Vergangenheit, erste Welt, zweite Welt, dritte Welt, Musik, Literatur, Denken, Fühlen, Überzeugtsein? Was ist denn das besonders Ärgerliche an diesen Attitüden und den neuen Produkten, den neuen Tendenzen eines großen Teils von Kunst und Design? Es gibt dazu zwei ganz einfache Antworten: Einmal beleidigen sie im Namen der notwendigen Verschönerung einer reizarm gewordenen Welt – eine Aussage, die nie einer Beweisaufnahme unterzogen wird – den durchschnittlichen Bewohner und Benutzer dieser Welt. Sie reizen an, was er zu sehen hat, übertreiben mit allen Mitteln die Hinweise auf Brauchbarkeit. Im Namen der Fantasie schränken sie die Fantasie ein, im Namen des Kampfes gegen die Öde veröden sie die Landschaft der Imagination. Die Produkte möchten die Fantasie der Designkunsterfinder machtvoll beweisen. Das ist erkenntnistheoretisch falsch: Designwirkungen werden nicht im Hirn des Produzenten, sondern im Auge des Nutzers und Betrachters gemacht. Zum anderen verbergen sie, auf welchem Entscheidungshintergrund sie ihr Aussehen entwickeln. Es findet eine Interessenüberlagerung statt: Wunder nehmen würde einen angesichts der lauten Buntheit und mythischen Schwere nicht, was im Werk enthalten ist, sondern alles, was weggelassen worden ist. Der Abfall bestimmt die Logik der Wertigkeiten, das Ausgegrenzte die Struktur der Bedeutung. Das wird angesichts solcher Beispiele nur noch deutlicher, allerdings auch zu einem Problem. Denn diese Beispiele lassen eine Rekonstruktion in dieser Richtung nur schwer zu, und oft scheint es, als sei diese Erschwerung alles andere als zufällig, sondern geradezu Bestandteil des neuen Designer- Selbstverständnisses. Das Verdecken der Brüche, das Verleugnen der Krise, die über die Wahrnehmung der Distanz Bewusstsein erst bildet, der Aufwand, mit dem die Konstruktion der Dinge, der Wertigkeiten und Bedeutungen hinter dem Dekor verschwinden soll, das macht, wenn nicht einen postmodernen, so gewiss einen strikt anti-modernen Zug des neuen Designs und der neuen Kunst aus. Restlos abgeschottete Subjektivität hier, universal entleerte Signalsprache der individuellen Pose dort – dazwischen wird das Projekt der modernen Erfahrungsform, die Herausarbeitung einer Ehrlichkeit der Konstruktion und Aneignung, einer testenden und tastenden Haltung der Annäherung, Überprüfung, von Experimenten im Dienst einer Kontrolle aufgerieben. Vor wenig mehr als zwanzig Jahren konnte Umberto Eco den Zusammenhang von Ästhetik und Massenkultur innerhalb der Fragestellung nach der Struktur des schlechten Geschmacks noch auf mehreren Ebenen untersuchen. Er zeigte vor allem, wie schubartig der kollektive Geschmack, d. h. eine Massenkultur eigener Art, sich plötzlich Formen und Innovationen einverleibt, die bis vor Kurzem noch im hermetischen Alleingang des Künstlers, in f­ ormalisierenden,

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­verdichtenden Experimenten entworfen wurden. Eine solche Unterscheidung ist heute nicht mehr möglich. Die Beschleunigung der Umcodierung, die zunehmende, rein synthetische Simulierung abgehobener Zeichensysteme erlaubt diese Dechiffrierung innerhalb sozialer Zeichenflüsse ebensowenig mehr wie Tatsache, dass heute von einer solchen Massenkultur nicht mehr gesprochen werden kann. Sie ist längst ihrerseits in Formeln und Aspekten in die Hochkultur integriert, d. h. sie ist Subkultur für andere Subkulturen geworden. Das belegen neue Denkweisen. Neue Denkweisen können nicht herbeigeredet werden. Dass Subjektivität ab­ strakt geworden ist, ist eine moderne, keine nachmoderne Tendenz. Die Frage ist nur, ob diese Abstraktion im Fortgang der Vernunft, dem Fortschritt der Geschichte oder im Gestus des diskontinuierenden Bruchs mit der gestuften Logik des Sinnvollen aufrechterhalten, preisgegeben, überwunden oder einfach weggeschoben wird. Aber bereits das Festhalten an einer Intention ‚Subjektivität‘ zeigt, dass hier die Moderne, nicht eine Nachwelt zur Sprache kommt. Differenzierungen, bis zum Auf- und Aufbruch, bis zu Zerstörung und Zerriebenwerden, sind genau, was modernes Bewusstsein ausmacht. Nicht das Ansetzen an der positivistischen Logik des kontinuierlichen und unbeirrbaren Fortschritts, sondern das Bewusstsein der aktualisierten, radikalisierten Gefährdung, des Nicht-Identischen, von Abweichung, Irritation, Entzug, Verweigerung und sprachloser, nicht mehr bannbarer Verstörtheit ist ‚modern‘. Postmodern ist nicht ein neues Problembewusstsein, sondern ein Panorama von Denktypologien, deren stofflicher Gehalt insgesamt von der Moderne diktiert worden ist. Postmodern ist ‚cool‘, das ist alles. Merkwürdigerweise gibt es schon auf der Ebene der Darstellungen konträre Zugänge. Es gibt die Theorie, die Moderne sei die Artikulation eines bestimmten Codes und nicht die funktionale Produktion eines bestimmten Typus von Gegenständlichkeit. Und es gibt die Theorie, die Moderne sei gerade ein Typ von Ästhetik, der sich primär an neu geschaffenen Objekten bemessen lasse. Entsprechend unterschiedlich fällt natürlich dann die Umschreibung des ‚Postmodernen‘ aus: einmal als ‚Semiotisierung der modernen Produktekultur‘, zum anderen als Re-Semantisierung aller nicht-modernen Objektquellen. Mir scheint die These von der ‚Semiotisierung‘ plausibler, denn sie erklärt die Manierismen einer architektonischen Formsprache dadurch, dass sie den Manierismus als Verfahren einer sprachlichen Aneignung der Dinge, als Etablierung eines Codes anstelle der Signifikate wirklich durchschaubar macht. Es geht nicht nur um die Eroberung einer neuen Dinglichkeit, sondern um die komplexe rhetorische Darstellung dieser Dinglichkeit in einem immateriellen Zusammenhang, letztlich in einem Kulturkampf. Und doch ist die Rede von der Postmoderne nicht nur auf philosophischem und ideologischem Hintergrund reichlich diffus. Wann beginnt die Moderne? Mit der Selbstreflexion des Sokrates? Mit den antiken Stadtdemokratien? Mit der islamischen Geldpolitik des frühen Mittelalters? Mit dem Verlagswesen des 13. Jahrhunderts? Mit der politischen Kultur der italienischen Städte? Mit dem philosophischen Reduktionismus von Wilhelm von Ockham und René Descartes? Mit der Ding- und Bewusstseinskrise von Kant? Mit der Philosophiekritik von Marx, Kierkegaard und Nietzsche? Mit der modernen Metropole, dem Paris des 19. Jahrhunderts? Mit der absoluten Poesie Mallarmés? Mit visuel-

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len wie strukturellen Bildformulierungen von Cézanne bis Picasso und Mondrian? Mit der Politisierung der Künste, der Ästhetisierung des Lebens, der Totalisierung des Vitalen seit den Décadents des ausgehenden 19. Jahrhunderts? Wir haben unter dem Titel des ‚Postmodernen‘ eine Fülle von Antworten und lassen uns in Rhetoriken, Diskurse, Debatten ein. Stellt man aber diese Fragen einmal anders und genauer, dann bleibt – weit davon entfernt, dass das in jener Debatte Gemeinte gegenstandslos sei – wenig von den Vokabeln der Semiotisierung und der Nachmoderne. Dazu kommt aber, dass in der bunten Fülle der Stil-Ismen, die sich auf die antimoderne Rhetorik beziehen, sich gegensätzlichste Positionen unter einen vagen Postmodernismus haben einreihen lassen müssen. Diese Nicht-Präzision ist, was die aktuellen Ideologien unbrauchbar macht. Was hat denn Christopher Alexanders semiotisch-technisches Architekturverfahren mit Aldo Rossis Geschichtsaufarbeitung, Venturis vorgehängter Fassade und was haben diese drei postmodernen Strategien zu tun mit den neuesten Tendenzen, die ganz einfach auf reflexionsloses Luxurieren angelegt sind und deshalb von kritischer Aufarbeitung der architektonischen Lokalsprache des frühen Rossi und dem kritischen rhetorischen Verfahren eines Venturi nichts mehr wissen wollen? Der Postmodernismus, schon nur in der Architektur, überlagert also ganz harte Fragen der Aktualisierung bestimmter gesamtgestalterischer Zusammenhänge. Bofill und Krier, Hollein und Botta, Snozzi und Haus Rucker – sie alle haben bestimmte konzeptuelle Auffassungen hinsichtlich der Verwendung eines neu artikulierten und veränderten Klassizismus, hinsichtlich der Militarisierung der Stadtgestalt (in der grassierenden Rede von den ‚Stadtstrategien‘), hinsichtlich der Bedingungsverhältnisse urbanen Lebens und urbaner, politischer und kulturpolitischer Entscheidungen. Reiht man diese Konzeptionen umstandslos in den Postmodernismus der Architektur ein, dann nivelliert man das Problem des Verhältnisses von Architektur und Realität auf dem Niveau der Bedeutungslosigkeit des Funktionalen insgesamt, unter Einschluss der ästhetischen Aneignungsfragen. Dann bleibt eine Stilstrategie, welche die Maßnahmen zur Entdemokratisierung im Übergang von der Arbeits- zur Kulturtechnologiegesellschaft einfach flankieren. Dass heute mehr und mehr bestimmte Leute etwas ­ ache ist, gegen Demokratie haben, ist die eine, nachdenkenswerte, Sache. Eine andere S dass es Gestaltungsmode geworden ist, diese Abneigung mit dem Paradigma des Funktionalen so zu verknüpfen, dass jede rhetorisch nicht-funktional erscheinende Ästhetik auch als neuer Modernismus, nämlich als Argument gegen Vernunft, Fortschritt, Geschichtsbewusstsein und Demokratie ausgelegt werden kann. Diese ä ­ sthetizistische Bereitschaft wiederum hat wenig vom beabsichtigen Pathos der neuen Ästhetik an sich. Blickt man etwas genauer hin, dann äußert sich darin bloß ein ewiger, konservativer Konflikt: nämlich die Irritation des Selbstbewusstseins gegenüber neuen Szenarien und Technologien, die einen vermeintlich heiligen und autonomen Innenraum menschlicher, würdevoller Entscheidung gefährden. Ob Architektur das überspielt oder die Angst verstärkt, ist unwichtig: Es handelt sich letztlich um ein rein philosophisches Problem: die Auseinandersetzung des modernen, krisengeschüttelten, unsicheren Selbstbewusstseins mit den vom Menschen geschaffenen künstlichen Technologien, die beginnen – drohend oder versprechend –, in das Selbstbewusstsein synthetisch und

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manipulativ einzugreifen. Der Postmodernismus verdeckt also selbst in der Architektur die Differenzierung des eigentlich aktuellen Problems (sieht man von Positionierungen innerhalb der Stil-Ismen ab, die mich hier nicht interessieren, weil sie substanzlos sind). Und er verdeckt außerdem die Tatsache, dass das, was er zu entdecken behauptet, nichts anderes ist als das, was das Paradigma des modernen Menschen überhaupt erst konstituiert hat. Was bleibt, sind Positionen. In den letzten zwanzig Jahren sind unter der Thematik neuer Denkströmungen neben ökologischen und alternativen Moden einige Beispiele philosophischen Denkens aufgetreten, die einen neuen Zugang zur Tradition der Moderne suchen. Kernpunkt war die De-Zentrierung des Subjekts, das Aufbrechen linearer Systeme, die Überwindung von zentralisierter Handlungsmacht und Kontinuität. Vorbereitet durch Merleau-Ponty, Bachelard und Bataille wurde eine ganze Reihe philosophischer Arbeiten beispielhaft populär für so etwas wie ‚Lebensweise‘ im Ganzen. Spätestens seitdem Lyotard seine Philosophie mit Les Immatériaux konkret, objekthaft visualisieren konnte, ist die Grenze zwischen Lebensform, Denken und Styling auch von dieser Seite her überschritten worden. Das Verblüffendste an diesen neuen Denk­ typologien ist die punktuelle Intensität, mit der eine neue Sprachpoesie zu einem neuen epochalen Denkmuster verklärt wird. Das begann mit den komplizierten wissenschaftstheoretischen Untersuchungen Michel Foucaults (der nicht zufälligerweise parallel zur Irrationalisierung des Denkens zu eher konventionellen Auffassungen von Philosophie und Geschichte zurückgekehrt ist), die den Menschen als Zentrum aller Bedeutungen überflüssig machen wollten, und ging über die sogenannte Neue Philosophie weiter zum vitalistischen Angriff auf den Strukturalismus, zur Restauration des Erhabenen bei Lyotard, zum Zeichenstrudel Baudrillards, zur Beschleunigungstheorie Virilios. Daneben blieben die autonomen Sprachphilosophien Lacans und Derridas ebenso leitend wie das Bild vom Netz, mit dem der Mensch aus den Panzern seiner deformierten Wunschkörper sich herauswindet, das Deleuze/Guattari folgenreich entwickelt und besungen haben. Dass gerade Kunst und Design, Neue Wildheit, Graffiti und Video-Clips, dass eine bunte Fülle allseitig lauernder Simulationen und Stilisierungen diese Philosophien anreizte, die traumatische Grenze zwischen Begriff und Realität, kurzum: das Paradigma kritisch-rationalen Denkens, zu überspringen, wundert nicht. Auf der Seite der Künstler machen sich die Künstlerphilosophien ebenso breit wie die Philosophenkünstler auf der philosophischen Seite und die Design-Lebens-Metaphern-Helden auf der Designseite. Was von diesen ganzen Bewegungen bleibt, ist zweifellos die Frage an die wesentlichen Strukturen der Moderne. Das trifft einmal ein entmachtetes Individuum, die Preisgabe des Individuellen. Das trifft, zum zweiten, das Verhältnis von gesellschaftlicher Produktivität, Fortschritt und instrumenteller Vernunft, gegen die – mit einer anderen Rückkoppelung – die Ohnmacht der Vernunft ausgespielt wird. Das trifft, zum dritten, die Loslösung einer entgrenzten Ästhetik vom Funktionellen. Das trifft, zum vierten, auf einen subjektivierten Wahrheitsbegriff. Wahrheit wird identisch mit moralischer Maxime, mit Konzept, Dezision, subjektiver Setzung, mit dem Herausnehmen bestimmter Aspekte, bestimmter, aktualisierter Sets von Zeichen und Systemen. Postmodernis-

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mus, als Stil genommen – man kann ihn auch als Phase einer, vorerst allerdings bloß angezeigten, Selbstkritik des modernen Lebens verstehen –, ist ein dialektisches Umschlagprodukt. Er bezeichnet den Grenzübertritt der von Vernunft sich abarbeitenden Ästhetik zum Triumph des ästhetisch Fiktionalen. Die daraus resultierende „objektlose Erweckungsbereitschaft“1 trifft allerdings nur die Ebene der Imitation des bereits fiktional Dargestellten. Zwar führt der Postmodernismus auch eine revozierte Romantik, mit schwarzmagischem Einschlag, mit sich. Aber die Stilisierung zum fiktional nur noch Zeichenhaften geht weiter; konsequent würde sie sich von jeder unterstellbaren Realität abkoppeln, würde nichts mehr meinen und bedeuten. Dann wäre Postmodernismus ein radikal zynischer Anti-Zynismus und würde das Undurchschaute der Handlungsappelle und der Perversionen einer tätigen Vernunft radikal zur Anschauung bringen. Nicht, dass der Postmodernismus nicht mehr den Ernst der Moderne meint, wäre ihm anzukreiden, sondern dass er auf dem Weg zum vorurteilslosen Durchschauen der Logik des Fiktionalen noch nicht weit genug fortgeschritten ist, d. h. immerhin noch sich ernst meint und nicht als weitere Fiktion behandeln lassen möchte. Dieser Ernst macht den Postmodernismus unglaubwürdig. Es reicht nicht, gegen die Differenzierungskraft der Moderne die Selbstbezüglichkeit reichlich formaler Verfahren (Collage, Zitation, Kontamination etc.) zu behaupten. Es müsste die Indifferenzkraft des Indifferenten bewiesen werden – und das ist paradox, weil damit einfach eine weitere Ebene der Differenz entwickelt wird. Postmodernismus als zeigbare Indifferenzleistung ist fortschrittlich; Postmodernismus als bombastischer Zugriff auf das totale Leben oder die Gestaltungsfreiheit des zynisch entbundenen Designers ist reaktionär. Nimmt man die Bedeutung der ästhetischen Fiktion ernst – das wäre vielleicht der Kernpunkt einer akzeptablen postmodernen Position –, dann müssten alle Handlungen verstärkt werden, die – außerhalb auch ästhetischer Wertmuster – einer rein subjektiven Maxime folgen. Wäre alle Wahrheit subjektiv, dann gäbe es keine moderne Differenz zwischen Realität und Begriff. Aber damit verkehrt sich die subjektive Wahrheit in den Zwang, die Stilisierung der ästhetischen Techniken zur subjektiven Unwahrhaftigkeit zu überhöhen. Damit entsteht eine neue Inszenierungsform von Subjektivität. Aber es ist auch bloß eine neue Form für einen erneuerten Mythos. Individuell und subjektiv sich als Fiktion zeigen und verhalten – das ist Thema des aktuellen, ‚postmodernen‘ Lifestylings. Der Angriffspunkt aber transportiert weiterhin den Bedarf an Subjektivität. Die Haltung des Postmodernismus verharrt aktuell denn auch zwangsläufig bei der Beschwörung neuer Bedeutsamkeit. Der Postmodernismus erreicht die ästhetische Freiheit nicht, die er im Namen eines seiner selbst bewussten Nihilismus einmal versprochen hat. Was bleibt, sind Relikte, Abfälle, sind Dinge, die als Dinge aufgeladen worden sind, weil jenes neue Paradigma offenbar doch nicht so einfach herbeigeredet werden kann.

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Geschrieben ca. 1985 bis 1986 im Kontext der theoretischen, ästhetisch-medialen und kunstphilosophischen Erörterungen des Verhältnisses von Kunst und Design, also in den Jahren einer Wahrnehmung der postmodernistischen Anstrengungen des Designs in Berlin, Düsseldorf und anderswo, beruhend auf eigenen Beobachtungen und zahlreichen Diskussionen am Internationalen Design Zentrum IDZ Berlin. Der Text ist eine erste, ja die früheste Fassung später umgearbeiteter, modifizierter, aber gleiche Materialien und Denkfiguren verwendenden Texte, die als Rezensionen, Polemiken, Essays konzipiert waren und die teils publiziert worden, teils unveröffentlicht geblieben sind, jedenfalls, aus meiner Sicht, Gültigkeit behalten haben als prozessuale Erörterungen von Denkfiguren zu einer Kritik des „Zeitgeistes“. Vgl. in dieser Abhandlung im Kapitel „Zur Symbolizität der Zeichen“ den Text „Das Ringen um den Gegenstand: Design zwischen Kunst, Kult und Lifestyle“. Eine erste, redigierte und geringfügig erweiterte, mit einer zusätzlichen Exposition ver­ sehene Fassung wurde publiziert unter dem Titel „Das Ringen um den Gegenstand: Design zwischen Kunst, Kult und Lebensform – Eine Kritik der Neuheiten in drei Teilen“ in der Zeitschrift Kunstnachrichten, Zürich, N° 6/1986, 1/1987, 2/1987. Der vorstehend präsentierte Text weist also Doppelungen auf mit dem o. g. Text dieser Anthologie „Das Ringen um den Gegenstand: Design zwischen Kunst, Kult und Lifestyle“; zahlreiche Passagen sind identisch dem Sinn, nicht aber der Sprachgestalt nach; da dieser Text die Fassung ist, die 1988 bis 1991 für die Habilitationsschrift erarbeitet worden ist, stellt er auch die spätere, geglättete Fassung dar. Verglichen mit dieser frühesten Fassung fehlen etliche Referenzen und v. a. viele Zuspitzungen, anderes ist erhalten geblieben wie z. B. die Mendini-Zitate und -Kommentare; aber natürlich entfallen leider, verglichen mit den Abbildungen aus dem dreiteiligen „Das Ringen um den Gegenstand“ in den Kunstnachrichten (Zürich) 1986/87, mit den zahlreichen dort gesetzten Abbildungen auch die Anschaulichkeiten, die doch ihrerseits oft so orientierend zu sein vermögen.

1

Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985, S. 361.

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REFLEXIONEN ÜBER DIE ZUKUNFT DES DESIGNS Exposition: Erzählen Wer erfindet, der leistet Endgültiges und Beispielhaftes. So zumindest stellen wir uns die entsprechenden Höchstleistungen menschlicher Denk- und Fantasiekraft vor. Zwar sprechen wir von Findungen auch im poetischen Bereich. Ein Kunstwerk zeigt uns, was wir bisher noch nie haben sehen, um dessen Existenz wir bisher nicht haben wissen können. Findung entbirgt einen Aspekt des Unerkannten, fügt der Welt etwas hinzu. Erfindung enthüllt, profan, die Mechanik ihrer Gesetze. Die poetische Rede lebt von einer Mythisierung: Unerhörtes teilt sich aus dem unergründlichen Reich des Geheimnisvollen mit. Das tabuisierte Territorium des Geheimnisses – ursprünglich ‚Templum‘ – ist die archaische Grundlage all unserer späteren Vorstellungen vom Erfinden. Neuzeitlich heißt das: rational kontrollierte, wiederholbare Experimente mit einer vorab formulierten Versuchsanordnung, Hypothesen, Rahmenbedingungen. Der Schritt vom Finden zum Erfinden wird methodisch aufgerüstet, seine Etappen werden vom Ganzen getrennt. Etwas durchaus Militärisches – Eroberung der Natur – eignet diesem Modell. An die Stelle des ausschweifenden Poeten oder des archaischen Priesters tritt der Ingenieur und Mathematiker. Er verkörpert nicht nur Rationalisierung und Technisierung unseres Wissens, sondern auch der Verbesserbarkeit unserer Lebenswelt. Indem wir Denken und Fantasie im Zivilisationsprozess vernünftig bändigen, stellen wir die Instrumente des Erfindens mehr dem präzisen Fleiß und dem Distanzvermögen zur Verfügung als einer magischen, improvisierenden Einbildungskraft. Dass wir heute verstärkt den archaischen Bastler an den Nahtstellen der Verstrickungen zwischen einer sichtbaren und einer unsichtbaren Welt als letzten möglichen ErfinderTypus sehen, hat nicht allein mit den ins Unermessliche gewachsenen Bedrohungen einer zerrütteten Mit- und Umwelt zu tun. Viel mehr noch wissen wir: Die Zeit der großen Würfe ist vorbei. Es geht um den Abschied von Unbedingtheiten aller Art. Selbst die besten Erfindungen – und das gilt für das Design wie für irgendeine Sparte – haben ihr Versprechen, Probleme zu beseitigen, nicht halten können. Die instrumentell verkürzte Vernunft der Neuzeit – die heute in der Telematisierung der Datensammlungen und Rechenoperationen einen letzten Triumph feiert – hat sich als unhaltbar erwiesen. Die Hoffnung auf Erfindungen ist ein Traum von gestern, mit den Mitteln eines bereinigten Heute die Probleme einer vermeintlich berechenbaren Zukunft zu lösen. In einer Zeit, in der ‚Revolution‘ gerade noch als tägliches Transportmittel für neue Waschmittel und Schminke erträglich ist, tauchen die Erfindungen ins Zwielicht einer Amoralität ab, die im Ausmaß der globalen ökologischen Selbstvernichtung bloß noch die destruktiven Neigungen des Menschen bestätigt. Die Erfahrung des Scheiterns der Versprechen zwingt uns, der Geschichte erfinderischen Heldentums gründlich zu misstrauen.

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Wir müssen das Problem anders stellen. Vielleicht ist jede, gerade die präzise durchgerechnete Lösung, nur deshalb als Lösung formulierbar, weil sie ihre Alternativen ausschließt? Abschied zu nehmen wäre deshalb auch von einem ökologischen Hochleistungsingenieur und einem ‚grünen‘ Mathematiker. Wenn die ökologische Globalkrise einen Sinn wird eröffnen können, dann wird er nicht so sehr manipulativen, als vielmehr Erkenntnischarakter haben. Wir brauchen Erfindungen, die ihre eigenen Alternativen, ihre Negation als ihr eigentliches Bedingungsvermögen denken können. Die großen Erfindungen gehören auf den Schrottplatz der Geschichte. Wir leben immer schon in den kleinen Erfindungen. Ihre sinnliche Nähe zu den Widersprüchen des Realen gilt es zu verstärken. Der erneuerte Schritt zu den Findungen löst die Erfindung ab. Ziel dieses Gehens ist eine neue Qualität des Widerstreits mit dem ‚Ausweglosen‘.

Ausführungen, Erörterungen zu den Reflexionen über die Zukunft des Designs Die Geschichte des modernen Designs ist immer mehr eine Geschichte der Auseinandersetzung mit Ausdrucksbedingungen des modernen Lebens allgemein geworden. Die Ansprüche funktionaler Problembewältigung im engeren Sinne, die jeweilige Verhältnisbestimmung der Formen, die Wechselverhältnisse zwischen Technologie, Produkteorganisation und ästhetischem Eingriff und schließlich die öffentliche Problematisierung der naturwüchsigen Gestaltungsvorgaben der industriellen Massenproduktion, einer insgesamt immer stärker technisch beeinflussten Kultur, sind nicht berechenbare Faktoren für einen auf Produkte zielenden Entwurfsprozess. Sie sind umgekehrt Bezugspunkte für ein Design, das die Frage nach der modernen Lebensform als ästhetische Provokation gegen die Weiterführung überkommener Traditionen zu entwickeln versucht. Es entstehen neue Nahtstellen zwischen Industrie und Wissenschaft, Kunst und Design. Die Geschichte des modernen Designs provoziert einen Designbegriff, der sich von den Fragen der Produktgestaltung im engeren Sinne immer weiter entfernt und neue Felder der Legitimationsbeschaffung erschlossen hat.1 Wie immer die Ausgriffe auf Fragen der Gesellschaft, des sozialen Handelns, der Regulierung von Erfahrungen eingeschätzt werden können: dass Design beansprucht, anhand der eigenen historischen Bedingungen wesentliche Fragen einer Ästhetik der Moderne zur Diskussion zu stellen, bezeugt die Verschiebung der praktischen Gestaltung auf Fragen der Bedeutung. Der Nutzungszusammenhang ist das übergeordnete Erfahrungsprinzip für eine Ästhetik moderner Selbstbegründung. Die Provokation der Traditionslosigkeit verschiebt primäre Funktionsüberlegungen auf die Funktion der Formwahrnehmung und des Formausdrucks für die problematisierenden Funktionen. Die gesamte Ausein­ andersetzung mit Designfragen ist geprägt vom Zwang zur Radikalisierung der ästhetischen Mittel. Und dies ganz unabhängig von der Gewichtsverteilung zwischen Funktion und Form, Problemlösung und Zeichensetzung. Design kann als Paradigma gelten für die Kontroversen um die vermittelnde Anwendung einer modernen Ästhetik von

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Lebensformen.2 Der Kulturwandel, der auch Vermutungen über den Wandel der Einstellungen und Mentalitäten ausdrückt, besteht nicht in einem abstrakten Zuwachs an Selbstbezüglichkeit der künstlerischen Gegenstände oder einer Festlegung der ästhetischen Darstellung auf Expressivität kraft Bearbeitung der primären, universalen künstlerischen Darstellungsphänomene. Diese immer wieder vorgetragene These ist primär an abstrakten Darstellungsphänomenen ausgerichtet oder an einer Regulierung der Orientierungsprinzipien verschiedener Handlungsformen. Die strikte Unterscheidung zwischen moralischem, instrumentellem, ästhetischem und, beispielsweise, kommunikativem Handeln teilt Gebiete durch Auszeichnung formaler Verfahren zu. Die Tendenz, Gebiete durch Zurechnung jeweils besonderer, eindeutiger Handlungsformen und Semantiken der Beschreibung der Verfahrensregeln festzulegen, reduziert die ästhetische Provokation und den Darstellungsanspruch von ‚Design‘ für die Problematisierung moderner Lebensformen. Als Designgegenstand ist immer mehr zu verstehen die Aufarbeitung der historischen Weiterentwicklung von Gebrauchsansprüchen zu ästhetischen Setzungen, die im Sinne einer kritischen Reflexion des Funktionsgebotes generell ästhetischen Momenten einer gestaltenden Einwirkung in Lebensformen nachfragen. Es geht um die Einschätzung des künstlerischen Anteils an der Organisation der Moderne. Deshalb ist Design in den letzten Jahren zunehmend zum exemplarischen Streitfeld um Anspruch, Konzept und Begriffe von ‚Modernität‘ geworden. Die programmatische Neu-Bewertung des Funktionsanspruchs, die rhetorische Neu-Gewichtung der ästhetischen Selbstgenügsamkeit zeigen, dass Designobjekte als verdichtete Stellungnahmen hinsichtlich neuralgischer Begründungspro­bleme der modernen Kultur verstanden werden können. Zu diesem Problemstand und Kulturbegriff gehört die Differenzierung dreier Momente, die in nicht wenigen anti-­modernistischen Polemiken zu wenig auseinandergehalten werden: • die Neufassung eines Kitschbegriffs, der nicht mehr Ausdruck ist einer sozialästhetischen Geschmackspyramide, sondern an der Zirkulation von Zeichenmodellen einerseits,3 am Problembestand der wechselseitigen Deformation in der Opposition zwischen Hoch- und Trivialkultur andererseits4 orientiert ist; • die Neuinterpretation der ästhetischen Provokation, die den ­Anspruch an die traditionslose Selbstbegründung moderner Lebensgestaltung nicht auf ein abstraktes künstlerisches Formproblem reduziert;5  • die erneuerte Aneignung des Bruchs zwischen Konzept und ästhetischen Auswirkungen als Modellvorgabe für die Funktion eines Designbegriffs, der die historischen Probleme in der Organisation der künstlerischen Ausdrucksformen grundsätzlich gegen den Problemlösungsanspruch ihrer technischen Indienstnahme zu sichern bestrebt ist und auf Designthematiken die rezeptionsästhetische Leitfigur der Interpretationsnotwendigkeit aller, gerade der instrumentellen Funktionsbehauptungen anwendet.

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Aus diesen und nicht aus Gründen der Geschmacksbehauptung, des Setzens auf emotive gegen intellektuelle Konzeptionen, ist Design zu einer technisch manipulierbaren Anwendungsforum für mediale Kulturstrategien geworden. Das ist der Hintergrund der wechselseitigen Übergriffe und Auflösungsansprüche zwischen praktischem Weltbildappell, Besitzinszenierung, Rollendramatisierung, Design, Kunst, Subkultur und institutionellen Darstellungsgewohnheiten. Die Annäherung des klassischen philosophischen Diskurses an die metaphorische Medialisierung des Denkens durch technische Simulation, die Verschiebung in den Selbstempfindungsweisen des zeitgenössischen philosophischen Bewusstseins, die immer schnellere und stärkere Verbindung der philosophischen Diskurse mit inszenierten Medienstrategien – Architektur, Urbanistik, die Welt des Immateriellen, Monumentalisierungsprojekte –, all diese Tendenzen belegen von der Seite der ernsthaften Diskurse neu den provokativen Umgang mit den etablierten Designkonzeptionen. Insgesamt kann die Stilbehauptung heutiger Tage als Ausreizung medial intensivierter Verfügbarkeit interpretiert werden, wobei strategisch die Vorgabe eines Verzichts auf utopische Differenzierungen notwendig zu sein scheint, denn die Funktionalismuskritik, die durch den neuen Hang zum emotiven Dekor und Ornament vorgetragen wird, reduziert die utopistische Kritik auf die positivistische Gestaltung stofflicher Größen. Dagegen ist zu bestehen auf der modernen Radikalität der ästhetischen Infragestellung aller vormodernen Ausdrucksweisen. Denn in ihr wird nicht die utopistische Realisierung eines positiv Vorgestellten unmittelbar behauptet, sondern die Kritik durch das Utopische als Bewusstsein der Differenz zwischen Handlungsanspruch und Verwirklichung, d. h. als Verstärkung der prinzipiellen Differenz und damit als Verlust aller Unmittelbarkeitsbehauptungen entwickelt. Der hier skizzierte Designbegriff ist bestimmt als Paradigma von spezifischen Handlungen. Die ursprünglich utopistische Ingenieurvision ist ebenso einer Kritik unterzogen worden wie die industrielle Zulieferung von ästhetischen Formvorgaben an eine arbeitsteilige Massenproduktion, für die der Designer Anmutungsqualitäten unter klaren technologischen Vorgaben zu entwickeln hat. Es geht um das Funktionsganze der Lebensformen, das immer wieder als Debatte zwischen Design und Styling, Orientierung der Reflexion, künstlerischer Suggestion und spontaner Formulierung verhandelt wird. Die wachsende Euphorie, mit der Design zu einem zentralen Code heutiger Kulturbestimmungen geworden ist, markiert eine Ausweitung von Begriff und Handlungsfeld ‚Design‘ in einem vordem unbekannten Ausmaß. Der Glanz transzendierender Inszenierungen, der Hang zum Neo-Barocken, die ästhetische Entgrenzung eines Sensualismus, der in historischer Entsprechung zur Krise des Manierismus im 16. Jahrhundert den Designkünstler in vertikale Autoritätshierarchien eingliedert: All dies verweist darauf, dass die selbstgenügsame Lust am illusionären Schein sich tendenziell als Scheitern der Aufklärung, als Demokratieverlust avant la lettre, begründet. Denn Aufklärung als Wahrnehmung der Wahrnehmungsbedingungen verschiebt die Lust am Schein auf die Lust an der Einsicht in die illusionierenden Täuschungen: Die Zersetzung des Scheins als Steigerung der Wirkung des begriffenen Scheins ist, was die sensuelle und suggestive Unmittelbarkeit eines bloß dekorativen Designs zertrümmert. Der Umgang mit Design ist heute durchsetzt von einem exemplarischen sozialästhetischen und -politischen Konflikt.

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Die rhetorische Wirkung des funktionalismuskritischen Designdiskurses ist dar­ n zu bemessen, dass Design erstmals seit Langem nicht mehr unter der Vorgabe utoa pisch deregulierender Gesellschaftskritik wahrgenommen wird. Gerade die sozialästhetische Innovation, die den modernen Konstruktivismus bestimmte, wird vehement zurückgewiesen. Entsprechend werden Bezüge zur anonymen Massenkultur wieder als hochkulturelle Differenzierungen – z. B. ‚Radikaldesign‘, ‚Memphis‘ – behauptet und der Kreislauf der benutzten Zeichenrepertoires zugunsten der etablierten semantischen Hierarchien gelenkt. Plausibel daran ist die Kritik an der praktischen Vernunft einer instrumentell verkürzten Moderne. Denn zweifellos lässt sich der Vorwurf nicht von der Hand weisen, dass die sozialästhetische Innovation des kritisch-utopischen Gedankens positivistisch beansprucht und damit Reflexion zur Offensichtlichkeitsbehauptung degradiert worden ist. Die kritische Aufarbeitung des Konstruktivismus6 belegt, wie mit einer selektiven Geschichtsschreibung die Vorherrschaft einer instrumentellen Auffassung, des ‚weißen Funktionalismus‘ von Corbusier und Gropius, als Herrschaftsanspruch symbolischer Form, nicht als Designleistung, durchgesetzt worden ist. Die Frage der Ästhetik ist in der Moderne nie die Frage einer utopischen Technologiekritik allein gewesen. Aber ebenso sicher kann der Begründungsdruck des Utopieanspruchs nicht mit dem Verweis auf den Ästhetizismus eines wachsenden Teilmarktes, des neuen Dekors, als haltlos zurückgewiesen werden. Die Grenzlinie der Designauffassungen verläuft zwischen der ästhetischen Kritik und einer Paradigmenbehauptung, Design habe im Zeitalter der Mikrochip- und Telematisierungsrevolution erst recht auf die Sperrigkeit stofflichen Widerstands zugunsten der Erklärung einer handhabbaren Zukunft zu verzichten. Die Telematisierung wird zunehmend als kulturelle Voraussetzung neuerer Designansätze akzeptiert. Die rhetorische Aufwertung der Programmiermöglichkeiten drückt sich als Stilbehauptung aus. Das Abrücken vom Funktionalismus ist das die Argumentation leitende aktuelle Credo noch dort, wo die ästhetische Primärfunktion z. B. im russischen Konstruktivismus auf Problemlösungsbehauptungen eines technizistischen Gesellschaftsmechanismus reduziert wird, wo also Designgeschichte verfälscht und ihre Komplexität durch Wunschprojektionen eliminiert wird. Dieser Reduktionismus, verbunden mit sensualistischer Dekorbehauptung, ermöglicht die heute geltende spezifische Modellierung der Sinne. Ihre kulturellen Deutungsmuster sind an eine nicht nur graduell wachsende, sondern qualitativ veränderte Ausstattungslust gebunden. Eigentliche seelisch-mentale Topografien der Existenzformulierung werden mit Zugehörigkeitsattributen, Stilgütern und Prestigegegenständen verwirklicht. Narzisstische Selbst-Stilisierungen werden abgelöst von apparativen Selbstdressurexperimenten. Selbstdisziplin ist nur noch Voraussetzung für das Erproben einer Logistik, mit der ein Selbst sich zum Gegenstand seiner Experimente macht. Der neue Luxus und die Tendenz der Corporate-Identity-Strategien – nicht nur im ökonomischen, sondern im mental-seelischen Bereich – besetzen das gesamte Feld der Existenzinterpretation und ­damit das Symbolische. Bezeichnend dafür ist die Tatsache, dass die Diskussion von Designgegenständen sich weder publizistisch noch hinsichtlich der öffentlichen Gewichtung, weder instituti-

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onell noch semantisch von den massenkulturell verwerteten Kunstdebatten unterscheidet. Wesentlich scheint der Inszenierungsakt zu sein, der Aufwand, mit dem im Geflecht der öffentlichen Symboliken und Rezeptionshandlungen ein Ereignis zu einem Ereignis gemacht werden und sich als Kristallisationspunkt zugeschriebener Bedeutsamkeit behaupten kann. Deshalb treten die permanenten Versuche, Kunst-Großausstellungen als Verletzungen der bisherigen Klassifikation zu lancieren, im Design als Befragung der künstlerischen Maßstäblichkeit7 zutage. Die Deklarierung der Kunstvermittlung zum selbstgenügsamen Kunstwerk, zum Moment reiner, abstrakter Produktion, zeigt, wie sehr die Angst vor der differenzierten Rezeption die Wirkungsansprüche eines symbolischen Zusammenhangs besetzt, in dem Erwartung als Erwartungsverletzung, Erfahrung als Schok, Sensibilisierung als Bereitschaft zur Anerkennung des Unbegreiflichen eingeübt worden ist. Diese neue Befindlichkeit setzt auf die industrielle Verwertung einer nach-industriellen Kultur. Telematisierung wird zur Metapher universaler Verfügbarkeit und zur Hoffnung, Freiheit jenseits industrieller Form- und Produktionsvorgaben dingfest zu machen. Ökologie erscheint deshalb als problemlos vermarktbar. Wenn überhaupt, dann hat die suggestive Aufforderung des ‚anything goes‘ – die Atmosphäre, nicht die Analytik dieses Ausdrucks – im Designbereich eine Evidenz erzwungen. Theoretisch am genauesten wird die additiv gemischte Ausdrucksform in der These vom Neo- oder vom ‚Bauhaus-Barock‘8 gefasst. Die Behauptung, dass nach-industrielle Kultur jede Einheitlichkeit überwinde, dem Subjekt einen bisher unbekannten Spielraum eröffne, gleicht – wenn hinter der Rhetorik die Struktur des Arguments betrachtet wird – im Wesentlichen dem universalen Analogismus und Synkretismus des wilden Denkens. Darin spricht sich die Mystifikation einer technisch überwundenen technoiden Lebensform aus. Die Telematisierung erzeugt sich als zeitgemäßer Animismus. Die analogische Behauptung des auf alle Seiten hin machbaren Additiven unterstellt mit der Vereinbarkeit von Avantgarde und kapitalistischer Produktion die Fortschrittlichkeit einer Industriekultur, die Programme zur perfekten Individualisierung abstrakt zu erzeugen in der Lage sei. Offensichtlich lässt sich das nur behaupten durch Ausblendung der Vermittlungsleistungen, die jede Bedeutung an die Einsicht in die symbolische Darstellung der Differenz zwischen Programm und individueller Bedürfnisentwicklung (wenn man will: deren scheiternde Selbst-Programmierung) binden. Die wachsende Selbstgenügsamkeit solcher ästhetischen Strategien behauptet für Design die Vereinnahmung der Form als Produktion von Kunst durch Ökonomie. Nicht zu übersehen ist hier die Renaissance einer Wertehierarchie als soziale Pyramide mit wechselnden Hochleistungsträgern. Der Hoffnung auf künstlerisch innovative Möglichkeiten intelligenter Programme – die gleichsam über die Zwänge des technisch-industriellen Machens kraft Illusion hinauszuführen versprechen – steht die durch Telematisierung verschärfte Grundsituation von Designeingriffen entgegen. Der extremen Miniaturisierung des Funktionsanspruchs – beispielsweise eines Mikrochips – lässt sich mit dem ästhetischen Gebot der ornamentalen Verdeutlichung der ‚Intelligenz‘ von Gegenständen nicht mehr beikommen. Die materiell messbare Immaterialisierung führt dazu, dass Design wieder zu einer Domäne der Erfindung – diesmal der Akzentuierung der Erklärung des Gegenstandsgebrauchs –

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werden könnte. Die zeichenhafte Ausführung der künstlerisch gepriesenen Mikro-­ Architekturen wiederholt nur ein historisch bereits vielfach erprobtes Programm: die Entwicklung der Formensprache von der ‚Arts-and-crafts‘-Bewegung bis zu den Wiener Werkstätten. Die heutige Zustimmung zu Designs als einem Kulturmodell verweist nicht länger mehr auf Besitz und Luxus, Gegenstände und Stilabsichten, auch nicht nur auf die Umcodierung von Medienstrategien mittels Produkten des Designs; sie verweist noch viel mehr auf die veränderte Rolle der Persönlichkeit in den ausklingenden 1980er-Jahren. Personale Entwürfe, Anerkennungsleistungen, am Wechselverhältnis der sozialen Einwirkungen dialogisch interessierte Konzeptionen, allesamt kommunikative Versuche, werden medialen Eigentrainingsansprüchen ausgesetzt, die, obzwar mit einem Differenzierungszuwachs an Wahrnehmung verbunden, keineswegs zur Vertiefung der kommunikativen Fähigkeiten führen. Die Absage an die personale Integration der gesellschaftlichen Bedingungen dafür, was ein ‚Ich‘ als Person sein kann, die wachsende Fremdheit gegenüber dem Kontext, die zunehmende Isolierung der Lebensbezüge in einem atomistischen Versuchsfeld für Entsagungsleistungen, die Unfähigkeit, vertieft auf die artikulierte, herausfordernde Fremdheit anderer sich einzulassen: Dies alles zeigt nicht einfach einen wachsenden Narzissmus an. Es scheint sich viel eher um eine Intensivierung von ‚autonomen Fremdbestimmungen‘ zu handeln. Was zunächst widersinnig klingt, wird deutlicher im Blick auf die simulatorischen Medienthesen. Was Baudrillards philosophische Medienpoetik wenn nicht fordert, so doch nahelegt,9 trifft die Tendenz einer inneren, apparateähnlichen Modellierung des älteren narzisstischen Selbst. Die vordergründigen Selbstbehauptungen sind einem viel riskanteren Spielverhalten gewichen, sieht man einmal von den sozialdarwinistisch-traditionalen Selbstinterpretationen der ‚Yuppies‘ ab. Es geht keineswegs um die psychologische Sicherung einer erfahrbaren Lust, der im Konfliktfall die kritische Integration der für Identität unerlässlichen Fremdeinwirkung, d. h. Rückwirkungen des Sozialen auf eigene Handlungen und Dispositionen, geopfert werden. Es geht um eine experimentelle Trennung dessen, was bisher ‚Ich‘ hieß – ein Bündel von Vorstellungen, Konzepten, Dramaturgien –, von dem, was dieses Ich gegenständlich machte: Selbstkontrolle über Grenzziehungen von außen und über Kontroll­fähigkeiten, d. h. Vermittlung von Autorität und rationaler Libido im inneren psychischen Aufbau. Nicht nur die Bereitschaft, Ergebnisse solcher Trennung zu akzeptieren, wird wichtig. Vielmehr wird das ‚Ich‘ zunehmend zum Kraftzentrum für methodische, experimentelle Versuche, diese Trennung durchzuführen und als Bestimmung der Selbstnegation auf höherer Ebene, sozusagen als ästhetisches Spiel mit der Dekonstruktion, einem Genuss zuzuführen, der die Zertrümmerung des alten Ichs zur Voraussetzung hat. Die Isolierung der Lebenspraxis, die Punktualisierung des Lebenszusammenhangs, die zunehmend problemlose Gewöhnung an nur momentane Interventionen zur Deckung des jeweils akuten Lust- und Konsumbedarfs bezeugen diesen aktuellen Wandel der psychohistorischen Dynamik ebenso wie die hochwertig anerkannten Gestaltungsversuche, die solche Dekonstruktion visualisieren. Die wirkliche Aktualität des Dekonstruktivismus in der Architektur ist nicht bestimmt durch die Radikalisierung einer semiotischen Erfahrung und eine ästhetische

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Unterrichtung in der Visualisierung der Darstellungsmittel architektonischer Raumformulierung. Er ist tiefer als Aktualität bestimmt durch die Spannungen, die solche Dekonstruktionen gegenüber der früheren Identitätserwartung liefern. Diese Spannungen bilden Kräfte, die der experimentellen Divergenz des Ichs von seiner Leidensfähigkeit, der Begründung des prospektiven Entwurfs durch die Fähigkeit des Umgreifens von Bedrohungen und Brüchen, überaus genau entsprechen. Konnte gegen den älteren Narzissmus noch mit der kritischen Notwendigkeit argumentiert werden, als ‚Ich‘ müsse das zugleich integrierende wie distanzierende Ertragenkönnen des Unverfügbaren, des Unaussprechlichen und Fremden gelten können, so entwickelt der fordistische Sozialcharakter10 im Übergang zur Selbstmediatisierung zunehmend die Bereitschaft, nur die Erfahrung der Macht des Unverfügbaren noch als wertvolle Erfahrung gelten zu lassen. Damit wird mentalitätsgeschichtlich und epochentypisch eine Grenze überschritten, die massivere Auswirkungen haben dürfte als die stärker beobachteten Probleme der Telematisierung, des Verlusts des Arbeitsprinzips und der Verstärkung der Bereitschaft, Unerträglichkeiten mit dem Rekurs auf physische Gewalthandlungen zu bearbeiten. Es scheint gelten zu können: Nur noch die experimentelle Vergegenständlichung des Unverfügbaren, die Erzwingung von Wirkungen allergrößten Ausmaßes liefern dem postindustriellen, mediatisierten Subjekt Sinnbilder seiner Existenz. Es geht um die Erreichung von Transzendenzerlebnissen – was immer der Inhalt der Erlebnisse sein mag. Es geht um die Verrückung der Gefahren- und Verunreinigungstabus,11 um die Radikalisierung der Möglichkeiten epidemischer Selbstverseuchung,12 in der die Ignoranz gegenüber den Mechanismen gattungsgeschichtlich-ökologischer Selbstvernichtung programmatisch mitgesetzt ist, es geht schließlich um die Bereitschaft, Themen gesellschaftlicher Gefährdung und Risikoverwaltung13 nur noch dann für relevant zu halten, wenn sie zur Steigerung der individuellen Handlungsmacht dienen. Das bedeutet, dass die gesamte Tradition der bürgerlichen Gesellschaft als einer Konstruktion des gesunden Organismus und der entsprechenden Handlungsvernunft14 einerseits radikalisiert, andererseits in haltlose Paradoxien vorangetrieben wird. Radikalisiert, weil Vorstellungen von Gesundheit im Ausgang aus den Katastrophen durchaus im Sinne des Überlebens der Stärksten ohne Rücksicht auf die dialogisch geformten Widersprüchlichkeiten des Angewiesenseins auf andere interpretiert werden. In haltlose Paradoxien vorangetrieben, weil sich mit dieser Vorstellung des organisch Gesunden, des Handlungsfähigen gerade nicht mehr die List der Vernunft, die automatisierte Sittlichkeit des Ganzen, die Interaktion als Zwang zur begründeten Solidarität der Lebenden verbinden, sondern umgekehrt die Logik des Bösen, die Maschinerie des Dämonischen. Der zeitgemäße Gesellschaftsorganismus tendiert zur phantasmatischen Vorwegnahme eines Zustandes Hobbes’scher Konkurrenz, einer Rehabilitierung der Naturgeschichte des vorbürgerlichen Menschen. Seine Kontur wird hier als nachgeschichtliche interpretiert. Die Vision vom gesunden Volksganzen und vom antimechanistischen Organismus der sozialen Vernunft wird pervers, wenn die Atomisierung und Apparatisierung des einzelnen Ichs zur Auflösung jener Beziehung von Individuum und Gesellschaft15 geführt hat, in der Ansprüche des Ichs überhaupt erst begründungsfähig, d. h. potenziell vernünftig werden. Es ist künftig gerade die Realisierung der Relikte von Vor-

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stellungen des organischen Ganzen (in der Version der Simulierbarkeit des Ganzen16 im technischen Panorama artifizieller Handlungsräume), die immanent in die Repräsentation des gewalttätigen Bösen umschlagen wird. Denn die mediale Zersetzung des Sozialbezugs wird als Stählung des Ichs – nichts Bezeichnenderes für den hier angesprochenen Zusammenhang als Marie-Jo Lafontaines ‚stählerne Tränen‘ – so lustvoll benutzt, dass die individuelle Sicherung des Handlungsraums als perfekte Realisierung dieser Gesundheitssüchtigkeit in Implosion und Atomisierung zwangsweise zum Verlust gesellschaftlicher, politischer und damit öffentlichkeitsspezifischer Kompetenz führen wird.17 Bestimmend ist nicht mehr das latent gewaltträchtige Modell des Wechselverhältnisses zwischen einem Subjekt und einem Objekt, sondern das rhizomatische18 oder libidinöse Fließen19 in einem Netz sich verselbstständigender Darstellungsformen, d. h. von Zeichen und technischen Bildmedien. Deutlich ist das alte Beziehungsgeflecht von apparativen Versuchen der Selbstentäußerung und Selbstübersteigerung bestimmt. Deshalb das gesteigerte Konsumbedürfnis medialer Leerbildformeln, der Inszenierungs­ bedarf einerseits, das Bedürfnis nach den die Grenzen des Zumutbaren übersteigenden Selbstversuchen, z. B. im Bodybuilding andererseits.20 Ging die ältere kritische Theorie von der Erfahrbarkeit der Differenz zwischen Ich und Gesellschaft, vom treibenden Defizit aus, so die medientheoretischen Simulationen von der vorgeordneten Verwertung dieser Differenz. Nicht um affirmatives Erreichen eines bewusstlosen Zustandes ist es zu tun, sondern um neue Formen einer kritischen Beschreibung der gesellschaftlichen Realität. Was die neuere Simulationsphilosophie mit der älteren sozialpsychologischen kritischen Theorie teilt, ist die Beschreibung der kollektiven Psyche am und durch den Stand der technisch in Imagination einwirkenden, die Sinne modellierenden Apparate. Es sind diese Produktivkräfte, die als mimetischer Spiegel für die Beschreibung der Differenzierung und Modellierung dienen. Diese zunächst methodische Kontinuität hat ein substanzielles Moment: das Interesse an der Beschreibbarkeit des Aufbaus von Lebensgeschichte durch Fremdbestimmungen. Hinter den ideologischen und rhetorischen Abgrenzungen – die insgesamt einfach einen Zynismus-Zuwachs als Voraussetzung des analysierenden Begreifens erzwungen haben – ergibt sich in den Simulationsphilosophien eine medientheoretische Fortsetzung der Identitätsbegriffe der hermeneutisch-kritischen Sozialpsychologie der Frankfurter Schule.21 Dieser Hintergrund ist entscheidend zur Kennzeichnung der Designperspektive der Gegenwart. Denn ganz offensichtlich führen veränderte Dispositionen zur Anerkennung von Zeichenstrategien nicht nur zu veränderten Semantiken, sondern über diese auch zu neuen mimetischen Ausdrucksmitteln. Umgekehrt sind die mimetischen Inszenierungsapparate des aktuellen urbanen Medienlebens als archäologische Segmente der Modellierung einer in Zukunft virulenten Handlungsfähigkeit, d. h. also strategisch lesbar.22 Die wachsende Bereitschaft nicht nur zur Selbstübersteigerung, sondern dazu, Kontrollbedingungen den Experimenten selber zu überschreiben, ohne prinzipielle Grenzziehungen von vorneherein, bezeugt eine aktuelle Umwandlung zivilisatorischer Affektmodellierung. Wenn deren Ziel die Rede von einem ‚neuen Narzissmus‘ b ­ eglaubigt, dann muss von der Selbstermächtigungssemantik des neuzeitlichen Subjekts abgesehen

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werden. Die Selbstübersteigerung tritt an ihre Stelle; potenziell werden Selbstermächtigung und Selbstauslöschung, Selbstrettung als permanente Selbstgefährdung und Selbstrealisierung als Selbstvernichtung, abstrakte Unumkehrbarkeit, austauschbar. Nicht mehr die unendlich gefräßige Neugierde23 bestimmt die Gegenwart als Neuzeit. Die Gier nach Selbstauslöschung tritt an deren Stelle. Die punktualisierte Gegenwärtigkeit dieser Handlungen löst den historischen wie den chronologischen Zusammenhang auf. Die Neugierde, wie differenzielle Neugierde ausgelöscht werden kann, wird immer gefräßiger. Methodisch sind solche Aussagen Extrapolationen, die in Vermutungen umgewan­ delt werden. Sie haben heuristischen Wert und beanspruchen, gegen den Reduktionismus von Design auf Produktgestaltung wie gegen die Universalität der Behauptung, Design falle mit allem zusammen, was Regulierungskraft für beliebige Handlungsabläufe hat, Design als sozialpsychologisch wirksame Auffassung über die Geltung von Subjektbehauptungen zu rekonstruieren. Es geht um die theoretische, nicht zuletzt auch identitätsphilosophische Dimension, weshalb der aktuelle Kulturwandel im Modell ‚Design‘ einen ebenso starken Ausdruck findet wie in den sozial-psychologischen Zersetzungen der kommunikativen Selbstwahrnehmung und den medientheoretischen Dekonstruktionen des älteren symbolischen Bilderdenkens. Die Ausrichtung eines atomisierten Erwerbs- und Liebeslebens auf neue Formen der Konkurrenz, in der nicht die Erträge, sondern die experimentierenden Grenzverletzungsmöglichkeiten narzisstisch besetzt werden, verweist weniger auf spekulative Ausweitungen des Designbegriffs, mit dem neue Formen der Legitimation beschafft werden, als vielmehr auf Möglichkeiten, einen medial geformten Kulturwandel widersprüchlich zu interpretieren. Noch ist unausgemacht, ob sich die Wandlungen zivilisationstheoretisch w ­ erden bewähren können als durch Zeichenerkenntnis gesteigerte Fähigkeit zur Skepsis oder ob nicht die zunehmende Apparatisierung der Lebensinterpretation eine neue Gier nach jener Affirmativität freisetzen wird, die schon immer die Hoffnung auf Fortschritt mit der Reduktion von Komplexität verbunden hat. Offenkundig ist das Verhältnis von Reduktion und Komplexität ein ebenso zentrales wie genuines Thema von Design, sofern man nicht die Vergegenständlichungen, sondern die praktisch einwirkenden Größen einer Problemformulierung betrachtet. Letzteres ist hier die Begründung für einen Designbegriff, der den Perspektiven des Kulturwandels nachfragt. Dazu gehört die sozialpsychologische Modellierung ebenso wie die Beobachtung der Zentralisierung und Dezentralisierung von semantischen und semiotischen Codes und Medien, die um die Herrschaft über Ausdruckshierarchien und damit die entsprechenden Sinndeutungsmuster kämpfen. Deshalb gehen in die Designdebatten auch Einschätzungen über Notwendigkeit und Grenzen, Formen und Inhalte der wesentlichen, sozial regulierenden Symbolsysteme ein. Damit nicht genug: Designtheoretische Leitbilder lassen sich nicht objektivieren, sondern sind wesentlich bestimmt von vorgeordneten und selten ausdrücklich ausgewiesenen Auffassungen, wie das symbolische Vermögen des Ausdrucks, der Imagination und der Bedeutungs-Setzung anthropologisch begründet und kulturell bestimmt werden kann. Die meisten der vordergründigen Argumente – zwischen neuem Sensualismus, Ornamentik, Kunstanspruch, Aufklärung –

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sind gesteuert von verborgenen Wirkungsansprüchen. Deshalb ist es sinnvoll, entsprechende Tendenzformulierungen auf den Zusammenhang kultureller Deutungsmuster mit den Anspruchstraditionen bereits etablierter gesellschaftlicher Symbolsysteme zu ­gründen. Erst mit einer solchen methodischen Wendung können zeitspezifische Diagnosen und der Anspruch der Beschreibbarkeit kulturgeschichtlich bedeutsamer Veränderungen, die nicht dem künstlerischen Ausdruck, sondern der rezeptiven Interaktion, d. h. der Modellierung bereits anerkannter Symbolsysteme entspringen, als Provokationen eines designtheoretischen Anspruchs geleistet werden. Die Tatsache, dass bis jetzt keine überzeugende Designtheorie hat formuliert werden können – was wären beispielhafte Gegenstände dafür, wie sehen Klassifikationssysteme aus; gibt es abschließend eigenständige Handlungsformen, Bedeutungsgrößen, Zuschreibungssemantiken, Repräsentationsmodelle? –, ist nicht merkwürdig. Historisch lässt sich die Komplexitätssteigerung der Designaufgaben nicht bestimmen ohne Einbezug zahlreicher divergenter Symbolfelder. Vom technischen Fertigen von Vorlagemustern John Flaxmans für die Wedgewood-Manufaktur zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu den ästhetischen Antworten auf das Panorama der Industriekultur, der Divergenz von Eliten- und Massenkulturen, dem Konflikt der Lebensformen, kann ‚Design‘ gerade nicht als Funktion eines Anwendungsbereichs und einer spezialisierten Berufstätigkeit, nicht als Zunahme an technischer Kompetenz und Überschaubarkeit einer immer deutlicher werdenden Aufgabe angesehen werden. Im Gegenteil: Die historische Entwicklung erzwingt, über Designfragen Fragen an den Zusammenhang der immer weiter auseinanderdriftenden Bereiche z. B. von Kunst und Wissenschaft, Technologie und Alltagskultur erst zu entwickeln. In der Präzisierung dieser Fragen, im Eröffnen einer nur ästhetisch leistbaren Vermittlung der wesentlichen Bereiche moderner Lebensgestaltung ist die historisch unverfügbare Komplexitätssteigerung des Designbereichs begründet. Dass nicht selten massive Revokationen der Komplexität, Mystifikationen der Reduktion zur widerspruchsvollen Geschichte des Designs gehören, liefert theoretisch noch keine Alternative zur Voraussetzung, dass jede konkrete Frage einer Detailgestaltung in ein Muster von Verflechtungen führt, die zunächst berücksichtigt sein wollen, ohne dass die Systemdefinition eingespielter Mechanismen als Reduktion der Komplexität an der Grenze von Systembereich und Umwelt (Sub-System und Teilsystem, Teilsystem und Systemverbindung) plausibler würde. Die systemtheoretisch gesetzte Grunddefinition, dass ein System bestimmt ist als Nahtstelle zwischen Systemintegration und Umweltselektion und dass diese Nahtstelle zunehmende Überschaubarkeiten liefert, ist im Designbereich nicht anwendbar. Sie ist nicht anwendbar, weil die in anderen Handlungsformen und Wissensbereichen (Technologie, Philosophie, Wissenschaften, Unterhaltungsindustrie, Kunst-Institutionen) regulierten Auftrennungen des Bedeutungsanspruchs hier definitionsgemäß nicht greifen dürfen. Insofern ist ‚Design‘ die Konstruktion eines umfassenden Gesellschaftsmodells als einer Virtualisierung und Problematisierung der Differenzierungen aller Symbolsysteme. Das ist bereits in wesentlichen Teilbereichen von Design akzeptiert: den urbanistischen Reflexionen, im Städtebau, Fragen des Wohnens und dem Verhältnis von

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Wohnen und Arbeiten.24 Weshalb sollte das nicht für das gesamte Gebiet und den paradigmatischen Begriff von Design gelten können, der sich substanziell mit Fragen der ästhetischen Formung, d. h. den Problemen der Umsetzung von Konzepten in Realität, den Wirkungen von Handlungen, den Exempeln einer Struktur von Effekten als grundsätzliche Ausdrucksformen symbolischer, kommunikativer und technisch-instrumenteller Aneignung von Wirklichkeit befasst? Die dargebotene Fülle der Möglichkeiten, die ästhetische Wahl, suggeriert nicht allein einen Zuwachs an Kultur-Pluralismus, sondern indiziert einen Kulturwandel in der Geschichte der Geschmacksdogmatik: Die Relativierung ist Ausdruck einer Anerkennung der gesellschaftlich erzwungenen Komplexitätssteigerung. In dem Maße, wie Design sich mit den prinzipiellen Fragen der Umsetzung von Konzepten beschäftigt, in dem Maße also, wie überhaupt Denken und Handeln als ästhetisches Vermögen, als Bezugnahme auf die Probleme von Repräsentation, Bedeutung und Begreifen, als kritisches Potenzial des Arbeitens mit den aus der Differenz hervorgehenden Symbolisierungen gefasst wird, in dem Maße also, wie das ästhetische Reflexions- und ­Darstellungsvermögen nicht auf Probleme der Schönheit und die Wirkung von Effekten reduziert, sondern als Schlüssel zum Verstehen aller Denk- und Handlungsstrukturen anerkannt wird, in dem Maße wird im Pluralismus heutiger Tage nicht eine Rückkehr zu Sentiment und Ornament sichtbar, sondern eine Emanzipation von instrumentellen Verkürzungen der modernen Mono-Kultur. Dieser Zusammenhang allerdings liegt nicht in der Struktur von Modernität begründet, sondern ist an einigen spezifischen ­Verkürzungen ihres Emanzipationsanspruchs nachweisbar. Insofern nähert sich Designtheorie perspektivisch einer historischen Anthropologie ebenso an wie einer Hermeneutik symbolischer Handlungen innerhalb der jeweiligen sozialen Institutionen, in denen die wesentlichen Fragen der Bedingungen und Umsetzungen von ideellen Ansprüchen diskutiert werden, Realität zu formen und das Unverfügbare zu modifizieren, Handlungsspielräume auszuweiten. Designtheorie hat, mit dem Interesse einer Komplexitätssteigerung auch in Zukunft, Äußerungen nach den internen handlungsleitenden Momenten zu rekonstruieren. Sie bezieht deshalb diskursive Analysen ebenso mit ein wie nicht-designspezifische Argumentationen. Als Frage nach den zentralen Formen und Funktionen der sozial regulierenden Symboliken kann sie weder Artefakte noch Instrumente, weder Texte noch Institutionen, weder zentralistische noch periphere Semiotiken ausschließen.25 Hauptsächliches Interesse ist, Komplexitätssteigerung im Design als Produkt der organisierten Symbolsysteme in der Industriekultur und der Semantik von Modernität nachweisen zu können. Designerörterungen bauen auf theoretischen Überlegungen zu symbolischen Formen auf, die soziale Differenzierungen in der Entwicklung der Zivilisationen als nicht-identische Aneignungen des Zwangs zur Künstlichkeit plausibel machen. Gerade deshalb haben Designfragen das öffentliche Symbolbewusstseins geschärft. Gerade deshalb sind die historischen Symbolbildungen Ausdruck eines meta-theoretischen Bewusstseins der eigenständigen Behandlung der Fragen, wie eine Ästhetik der Lebensformen als kulturtheoretische und gleichermaßen gestaltungspraktische Dimension aufgebaut werden könnte.

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Eine kritische Designtheorie durchdringt das Material des aktuellen Luxurierens kulturgeschichtlich. Der Einbezug fortgeschrittener Fragestellungen aus anderen Wissensbereichen ist deshalb ebenso unerlässlich wie die Verbindung von Designtheorie und interdisziplinären Stilerörterungen.26 Seitdem Imitation als Kreativkopie für künstlerische Entwicklung und als Modell für Künstlerbiografie, seitdem die Anverwandlung von Vorbildern und Vorprägungen im Sinne einer präzisen Imitationsfähigkeit kunsthistorisch, kunsttheoretisch und sozialpsychologisch letztgültig anerkannt worden sind,27 muss eine Lektüre des in den letzten Jahren aufbereiteten zeitgenössischen ­Designmaterials den Komplexitätszuwachs als Provokation gerade dort einklagen, wo Designansprüche als historisch übergreifende und überdauernde Inszenierungs­ modelle mittels künstlerischen Formulierungen lanciert werden, die ihren Funktionsanspruch nicht mehr unter Beweis stellen möchten.28 Die historische Entwicklung des Industriedesigns29 schiebt sich immer weiter in symbolistisch intensivierte Aktualität einerseits,30 typologische und metaphorische Motivbereiche andererseits31 vor. Zusätzlich signifikant erscheint die geschichts- und quellenkritische Aufarbeitung von Fälschungen als Modell der Aneignung von Traditionen, in denen Echtheitsansprüche als Regulierung einer verweigerten Skepsis durchgesetzt worden sind.32 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Semiotisierung der Designstrategien als problematische Verzeichnung des Formgebrauchs diskutiert werden kann.33 Weiterhin bleibt das Defizit an Theoriebemühung eine Voraussetzung für aktuelle Beispielgebungen, die künstlerisches Modellverhalten in immer größerem Ausmaß typologisch dem funktionalen Design zur Seite stellen.34 Das ist schon deshalb nicht einsichtig, weil die Verlagerung technologischer Aspekte auf theoretische, nämlich auf Programmfragen der Telematisierung, nahelegt, das äußere Erscheinungsbild von den überlieferten Anmutungen und Dekorstrategien zu trennen und als Funktions-Gesichtsfeld neuer Möglichkeiten zu selbstständigen Ausdrucksformen weiterzuentwickeln. Das vorrangige Theorieproblem wird heute wieder zu einem technologischen Basisproblem. Design wandelt sich vom ästhetizistisch beanspruchten zum ästhetisch-praktischen Wissen. Nicht zuletzt wirken sich andere Technologien der Entwurfsformulierung über die Typisierung der Modellbilder, bis hin zu den Mythen der Natur, auf die Wahrnehmung und damit die Ausdrucksform des Zugriffs auf gesellschaftliche Bezugsgrößen aus. Dass Design im Zeitalter der Telematisierung heute sich dem Kunstbetrieb annähern möchte, belegt eine Schwäche, die dem Verzicht auf Theorie entspringt. Die Flucht ins Kulturempfinden und Styling einerseits, das Ingenieurtum an Simulationsmaschinen andererseits, wird sich zu einer Negation des kulturellen Pluralismus weiterentwickeln, wenn und sofern dem sozialutopischen Impuls der ästhetischen Reflexion ausgewichen wird. Wie immer Schlüsse aus dieser Vorgabe gezogen werden: Die sozialästhetische Provokation einer Komplizierung bloß gegenstandsbezogener Designkonzepte muss bearbeitet werden. Andernfalls bleiben Designbehauptungen wie die vom wachsenden Reiz polykultureller Werteleitbilder möglicherweise nur Ausdruck institutioneller semantischer Regelungen, Anhängsel eines Kulturbetriebs, der Design wie Kunst zu behandeln beginnt, weil damit präventiv eine Kontrolle über das ästhetische Widerstandspotenzial und die Deregulierungskraft in modernen Designfragen erreicht werden kann.

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Die simulatorische Bearbeitung technologischer Systeme wertet zwar Design auf, koppelt es aber – im Ausmaß seiner technischen Komplexität – zunehmend von ästhetizistischem Styling und bloßer Stilpräsentation ab. Es kann deshalb erwartet werden, dass die mit Adolf Loos’ Zurückweisung eines nicht-zeitgemäßen Ornamentalismus programmatisch gewordene Problematik einer zunehmenden Selbstreflexion des Designs als eines spezifischen Handlungsanspruchs wieder aktualisiert werden wird. Die ästhetische Qualität der Telematisierung und die Verwertung des Technologieschubes liegten nicht in den Suggestionen eines neuen Design-Sensualismus, nicht in der Veredelung des anonymen Designs, nicht in den traditionellen Bereichen einer Ausstattung mit Objekten. Sie verweisten auf Anstrengungen zur ästhetisch-konzeptuellen Selbstverdeutlichung ihrer Brauchbarkeit, den sowohl ästhetischen wie semantischen Anspruch, Bedeutung als Gebrauchsform, als Repräsentation des Nutzens, als Interpretationsmöglichkeit des angezielten Zwecks aus der Perspektive der Interaktion mit den Dingen zu entwickeln und vielwertig zu machen. Ein möglicher Fortschritt in Richtung Herausarbeitung einer eigentlichen Designtheorie ist absehbar, wenn Handlungen und Ansprüche durch spezifisch auf Designkategorien bezogenen Zeichengebrauch charakterisiert werden. Die Krise der Wirklichkeit, die spätkapitalistisch auch auf den Bereich einer Ästhetik des Imitativen auszudehnen wäre,35 problematisiert den komplexen Bezug zwischen Zivilisationsprozess, vorherrschenden Zeichenstrategien und der Gebrauchsästhetik der Güter. Die selektive Zuschreibung von Geschmacksmustern wird zum interpretierenden Ausgangspunkt einer Rezeptionstheorie des Designprozesses. Dessen relevante Gebrauchsformen und Kategorien verweisen nicht auf einen objektiven Prozess, nicht auf einen Mechanismus ‚Kultur‘, sondern auf die Problematisierung von Ansprüchen. Die ästhetische Geltung der Aneignung der die Designkategorien strukturierenden Bedeutungsmomente ist eingespannt in die Pole eines bloßen Wiederholens, einer historischen Repetition einerseits, prospektiver oder propagandistischer Vorgriffe auf beabsichtigte nachindustrielle Lebensformen andererseits. In dieser Spannung ist der grundlegende Anspruch an Designtheorie die Reflexion der als Design in die Realität übertragenen Wirkungsabsichten. Die Struktur der Effekte hat neben die Logik der Forschung zu treten. So würde Designtheorie zu einer permanenten Instanz der Interpretation des gesellschaftlichen Lebens. Das Ringen um Gegenstände und Bedeutungen legitimiert Designtheorie als kommunikative Verwandlung der positiven und gegenständlichen Erfahrungen zur komplexitätssteigernden Problematisierung daran, dass mittels designstrategischen Interventionen – bis hin zur Steigerung der sogenannten ‚Lebensqualität‘ – sich gesellschaftliche Verwicklungen und Probleme als gelöste darstellen ließen. Die heutige heterogene und pluralistische Situation deutet weniger auf Libertinage kraft anti-dogmatischer Entfesselung der Kreativität hin als vielmehr darauf, dass nur über ein gesteigertes Zeichenbewusstsein die Strukturen der Bedeutung aus einem Rezeptionsbewusstsein hervorgehen. Die theoretische Beschreibung dieses Kommunikationskreislaufs repräsentiert Design als symbolische Tätigkeit. Die Gegenstände werden nicht in Bilder aufgelöst, Dinge nicht als ästhetische Werte transformiert. Vielmehr fungieren die Dinge qua Dinge als Metaphern. Die symbolische Struktur wird als gegen-

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ständliches Arrangement der Lebenswelt erfahrbar. Deshalb sind die Aufarbeitung der Gegenwart und die Aneignung der Aktualität nach dem Modell einer rekonstruierenden Vermittlung und der Interpretation des Metaphorischen in den Gegebenheiten des Alltäglichen36 eine theoretisch-symbolische, nicht in Unmittelbarkeit mündende Arbeit an Produkten. Design würde zu einer utopisch befähigten Reflexion von Handlungsansprüchen gegen neobarocke Formulierungssucht ebenso wie gegen die Behauptung einer Macht der Bilder als Transzendenz des Realen. Die Tendenz, Design als Bildkraft nicht kritisch zu rekonstruieren, sondern propagandistisch als Unmittelbarkeitserleben auszuwerten, verweist auf ein grundlegendes Phänomen der Mentalitätsgeschichte der Neuzeit. Dass Designtheorie als sich entwerfendes Kommunikationsmodell gefasst werden muss, beschreibt ihren Zukunftsbezug. Ihm steht eine Verankerung in der Tradition zur Seite, die auf die Dialektik der neuzeitlichen Strukturierung des visuellen ­Sinnes verweist, seine technische Bewaffnung einerseits, seine Horrorisierung, der Verdacht einer Strafe für solche Selbstermächtigung andererseits. In der Mentalitätsgeschichte des neuzeitlichen Augensinnes geht es dialektisch um Bildmachtbehauptungen. Design verspricht heute zunehmend, solche Bildmacht – Eroberung der Natur, Illusionierung eines Scheins, der stärker als Natur zu sein vorgeben kann – zu erneuern und gegen die Verschleißformen der Kunstaneignung das Künstlerische als handhabbare Anwendung, als praktische Gestaltung zu besetzen. Solche Bildermächtigungsansprüche gilt es, kritisch zu reflektieren. Zurückzuweisen sind Strategien einer kulturellen Bemächtigung von Bildern, deren Sprache als natürliche mystifiziert wird, wenn sie Design und Kunst als selbstgenügsame Lust am Bild behaupten. Die Weltbild-Debatten besetzen die Krise der Wissenschaften auch von dieser Seite her mit holistischen und harmonikalen Ordnungssuggestionen, mit Behauptungen einer Kongruenz zwischen den Mustern des denkenden Empfindens und dem System ‚Natur‘. Solche ­Visionen einer Unmittelbarkeit, die aus anthropologischen Bedürfnissen direkt herge­ leitet wird, blenden aber die Bedeutungen erst begründende Dimension des Nicht-Identischen aus. Das Auseinanderbrechen von Bild und Bezug, Denken und Realität, idealer Konzeption und Wirklichkeit, die Tatsache des Nicht-Übereinstimmens, die Erfahrung der Reibungen und Brüche, das Gezwungensein zu Erfahrungen des Entzugs, des Unverfügbaren und Widerständischen des für Denken geltenden ‚Wirklichen‘ ist der Ausgangspunkt nicht alleine der Einsicht in die Anthropologie der nur vermittelt darstellbaren Symboliken, sondern in deren im Vermittlungszwang gründenden Kraft, Bedeutungen entwickeln zu können. Das gelingt einer holistisch-homologen Auffassung von der Einheit des Denkens als Natur nicht. Symboliken werden hier zur Naturgeschichte gerechnet, ohne dass ihr aus dem Widerstand des Nicht-Identischen gegen die Ansprüche hervorgehendes Bedarfsmoment geklärt worden wäre. Homologe Auffassungen müssten den Mechanismus der Natur und die Unmittelbarkeit von Identität aus der Bewusstlosigkeit der Kultur, aus der Ortlosigkeit des Denkens und der Überflüssigkeit allen Erfahren- und Begreifen-Wollens herleiten können. Der Nachweis eines wirklichen Bedarfs setzt die in solcher Optik nicht akzeptable Nicht-Identität, den natürlichen Zwang zur Künstlichkeit und zur öffentlichen Darstellung dieser Künstlichkeit voraus.

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Der technisch-instrumentelle Vernunftbegriff, der den Exponenten der Moderne mehrheitlich durch das aktuelle Design angelastet wird, kommt an solchen Reizfigurationen positivistischer Unmittelbarkeit klar zum Ausdruck. Der mittels Eigenständigkeit des Bildes behauptete Ausstieg aus dem Vermittlungszwang zeigt, dass gegenwärtig Aporien der Mentalitätsgeschichte der Neuzeit wiederholt werden. Er belegt, dass isolierte Bildmachtbehauptung, die Positivität des sich zeigenden Unverfügbaren, die erfahrungslose Erfahrung des Absoluten (nicht die moderne Darstellung des Nicht-Identischen im Bezug auf solches Absolute), das als gegenständlich erlebbar dargestellt wird, Suggestivität nur entfalten können, indem sie die Kontrollierbarkeit der Angst vor realen Bildwirkungen dadurch verdecken, dass sie Bildwirkungen ins Nichtmessbare steigern. Die Suggestivität der Bilder ist ohne Suggestionen des Reizes an der Angst und der damit in Gang gesetzten Kontrollbedürfnisse nicht aufrechtzuerhalten. Die Dialektik der abwertenden Bildverehrung, der Kontrolle der Bildwirkungen bestimmt heute die Versuche der Ausreizung neu-ornamental erweckter Empfindungen und animistisch belebter Designgegenstände. Gerade die bildintensive Entgrenzung des vorgeblich auf Kontrollstrukturen reduzierten Bewusstseins ist ein Instrument zu dessen Reduktion auf die Kontrolle ästhetischer Dissidenz. Designtheorie müsste dagegen auf die Erarbeitung eines relativistisch geschärften Bewusstseins setzen. Das Beharren auf der sozialästhetischen wie sozialpolitischen Intervention als einer theoretischen Zielgröße bedeutet nicht, diese Intervention als verfügbares Handlungsinstrument zu betrachten. Hinsichtlich der Zeichensysteme, der Rezeptions- und Produktionsweisen, der Gesellschaft und den Erwartungen an die Entwicklung der kommunikativen Strukturen in den technischen Zivilisationen lassen sich einige Thesen formulieren.37 1.  Auch wenn Designtheorie immer mehr von gesamtkulturellen Konzepten und damit der Bedeutung der Kommunikationssysteme bestimmt wird, kann es nicht darum gehen, auf eine umfassenden Kommunikation hinzuarbeiten; Kommunikation ist nur begründbar durch Nicht-Kommunikabilität, Unverfügbarkeit der Voraussetzungen der Kommunikation, im Wesentlichen also durch die Systeme der Interpretation von Erfahrungen, die keine Evidenzkraft beanspruchen können, da durch sie erst ‚Realität‘ als Vorgabe semantischer Differenzierung erzeugt wird. 2.  Der Funktionalismuszwang ist für alles Design unaufhebbar; das gilt auch für die meta-theoretischen Verschiebungen auf Wahrnehmungsfunktionen oder künstlerische Inanspruchnahmen der Zwecklosigkeit von Zwecken, der Funktion der Funktionslosigkeit; nicht weniges in den Theorien der Immaterialität verweist auf die Eröffnung der für Erfahrungen simulatorischer Strategien notwendigen Spiel- und Darstellungsräume, ohne dass diese ein anderes kulturelles Paradigma besetzen. 3.  Design als Gesamtkunstwerk, die positivistische Realisierung einer Vorstellung homologer Identität, einer abschließenden Problemlösung, die Lösbarkeit m ­ enschlichen Funktionsbedarfs würde für Design Widerstände bis hin zur Aufhebung des Unterschieds von Natur und Kultur, von Natur und Nicht-Natur eliminieren. Design würde

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Identität als restlose Akkulturierung von ‚Natur‘ erzwingen und Natur zum instrumentellen Rohstoff für ihre kontinuierliche Unterwerfung unter Ziele des Menschen degradieren. Der vorgebliche Design-Triumph unserer Tage liefert keine Alternative zum Vernunftinstrumentalismus der Moderne, sondern übersteigert ihn ins Grenzenlose. Der Kulturprozess, beschrieben als Aneignung von Natur, würde synonym mit der Verfügbarkeit sämtlicher Gegenstände als Konsumobjekte. Es gäbe nur noch Gestaltung, keine Natur (verstanden nicht im naiven ursprungsphilosophischen Sinne, sondern als Synthese, d. h. als Erfindung der Technik), nur noch die homolog abgebildete Totalvernunft des menschlichen Planens, keine Realität, welche Fremdmaterial zur Regenerierung der Eingriffskategorien und damit zur Verlebendigung des Systems liefern würde. Ohne solche Nicht-Identität bräche die Welt der Bedeutungen in sich zusammen. Gestaltung total: Das wäre wie Technik als Natur, aber nicht mehr: Gestaltung als Differenz. 4.  Wenn Design immer mehr eine Domäne der Selektion von Stilisierungsangeboten, Inszenierungsansprüchen und symbolischen Ausdrucksträger wird, dann muss die Ordnung des Überflusses sich den Bedingungen der Kritik aussetzen, die alle Geltungsansprüche der Selbstreflexion unterzieht. Deshalb tritt an die Stelle eines geschlossenen Weltbilds die Einsicht in die Unmöglichkeit eines absoluten Anfangs von Denken, Handeln und Wirklichkeitsaneignung. Realität wird – in der Begründung des die Designtheorie leitenden Grundprinzips des Nicht-Identischen – zu einer revisionsfähigen Vorgabe, zu einer Erfahrungsvoraussetzung für theoretisch begründbare Handlungen, die nicht Evidenz, sondern Identifizierbarkeit ihrer Voraussetzungen verkörpern. 5.  Die Utopie der Moderne erzwingt nicht einen totalen Positivismus, sondern muss als Irritation und Widerstand gegen die utopistischen Versuchungen, Identität zu erzwingen und Realität abstrakt zu verformen, differenziert werden. Es bedarf eines methodischen Selbstwiderspruchs, um die Grenzen des Planbaren als Korrektur am Planungsanspruch zu formulieren. Damit könnten an die Stelle der Evidenzbehauptungen oder suggestiver Offenbarungswerte Relativismus und Krise treten, die zu Revisionen verhelfen. 6.  Die vorherrschende Tendenz im aktuellen Design ist an ein Theoriedefizit programmatisch gebunden. Die nicht selten antifunktional begründete Re-Vitalisierung der Objekte bis hin zu sensuellen Aufladungen und einem eigentlichen Animismus lässt hinter den Inszenierungsattitüden auf einen problematischen Bezug zum Zivilisationsprozess schließen. An die Stelle eines Zuwachses an Affektkontrolle und Distanzierung von primär affektiv-emotionalen Weltdeutungen tritt das Versprechen, Glück sei nur durch Annäherung an Emotionswerte zu erreichen. Das Ausreizen prätentiöser Moden und Attitüden ist ohne Zweifel ein interessantes Objekt für die Weiterentwicklung der Kulturindustrie, die ohnehin auf neue Leitbilder in der immer schnelleren Aufsplitterung von Subkulturen angewiesen ist. Die Ausrichtung auf diese bezeugt mit der Propaganda für Vitalismus eine Rückkehr zu fundamentalistischen Affektsteigerungen, in denen ein manichäisch-duales Weltbild auf suggestive Endzeitkämpfe zu hoffen beginnt.

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7.  Ein sich verselbstständigender Vitalismus als Spiegel einer Ästhetik der Macht38 propagiert die Ökonomie des Lifestylings mittels Bildverehrung, die gegen die Distanzierungstendenz der Moderne auf Enthüllungskonzepte einer ihrem rationalen Selbstbild äquivalenten und symmetrischen Neigung zur archaischen, vormodernen Expression setzt. Als ‚postmodern‘ darf zu Recht ein Hang zur Re-Mystifizierung der Differenzierungsimmunität der Emotionen mit dem Ziel bezeichnet werden,39 Fähigkeiten zur Distanzierung abzubauen und Handlungskontrolle als Fremdzuschreibung zu eliminieren: Der neue narzisstische Charakter muss Kontrollprozesse als Genuss an Experimenten mit der Selbstübersteigerung erleben, aber nicht als Distanzierungsleistung durch den Zwang zur Reflexion erfahren können. Das neu erschlossene Engagement an Formen des Austauschs von Selbst- mit Fremdbestimmungen, verbunden mit Experimenten der Transzendierung subjektiven Verarbeitungsvermögens von Grenzerfahrungen (Drogen, Seuchen, Körperanspannungen), wirkt auf den regressiven Abbau der Befähigung zu einem zivilisierten Leben hin. Der neue Animismus als designtheoretische Provokation und der inflationäre Gebrauch von ethnischen Symbolen aus einem beliebigen Von-überall-Her zeigen, dass eine Intensivierung der Emotionen mythische Kräfte aktualisiert, welche Geschichte in Schicksal, von Menschen Gemachtes in außermenschliche Natur zu verwandeln trachten. Gegen solche Vision einer ‚Zukunft‘ als reinem Leben muss ‚Zukunft‘ als Konstruktion eingesetzt werden, Kontinuitäten der Kulturentwicklung zu verweigern. 8.  Die Hinwendung designtheoretischer Fragestellungen zu immateriellen Regulierungs­ systemen ist nicht rückgängig zu machen. Keineswegs gilt, dass diese Hinwendung automatisch polykulturellen Gestaltungsauflagen genügt. Der Zuwachs an fiktionalen und fiktiven Zeichensystemen in Symboliken verweist darauf, dass eine Gelenkstelle zwischen Design und zukünftiger Kultur in Kalkülen einer immer technischer handhabbaren Kommunikation zu erwarten ist. Das gipfelt in einer Art ‚Medienverbund‘ zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen künstlicher Intelligenz und Kreativität, Programmierung kreativer Maschinen und Deregulierungen bereits adaptierter Muster von Lernverhalten, zwischen der Darstellung von Programmen in universalen Rechenmaschinen, ästhetischer Hermeneutik und technisch bearbeiteten neuronalen und imaginativen Leistungen.40 Gegen apokalyptisch eingefärbte Erwartungen in dieser Richtung – seien sie utopisch-positiv oder dystopisch-negativ – muss die Technologievorgabe als Provokation ästhetischer Reflexion angeeignet werden. Kein Design kann sich außerhalb der Selbstkritik als Problemlösung behaupten. Die Aktualisierung der kritischen Differenz zwischen unverfügbarer Realität und planender Verfügung über Wirklichkeit muss an allen Punkten des Planungs-, Handlungs-, Realisierungs- und Darstellungsprozesses ‚Design‘ Ansprüchen der Steigerung von Komplexität, nicht der Vision ihrer automatisierbaren, ‚auto-poetischen‘ Reduktion, ausgesetzt werden. Die Aufsplitterung des Wissens, die als Krise des Erkennens kulturdiagnostisch anerkannt ist, kontrastiert dem technischen Positivismus solcher Perspektiven. Wenn nicht nur das System des ­Erkennens, sondern auch die Ordnungen des Wissens dezentriert und für Subjekte als zerfallende erscheinen, dann muss nicht nur vom fragmentierten und behinderten

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Wissen-Können, sondern erst recht davon ausgegangen werden, dass Eingriffe prinzipiell als subjektiv motivierte Wahlhandlungen reflektiert werden müssen. Design als theoretische Beschreibung solcher Wahlhandlungen – technisch gesprochen: als Beschreibung der Codierungsbedingungen von ‚Funktionen‘ – muss in jedem Konzept die Planung noch des Nicht-Planbaren der Irritation aussetzen, wenigstens diese Meta-Theorie sei planbar. Design muss das ‚Andere‘, den Entzug und das Scheitern thematisieren. Die Funktion des Designs wird zur Funktionsinterpretation entwickelt. Konsequent ist eine Designtheorie nicht als Sonderfall des semiotischen Klassifizierens, aber auch nicht als Stofflichkeitsbehauptung der einmal gefundenen Problemlösungen, der Realität der Konzeptionen ein-eindeutig entsprechenden Dinge zu realisieren. Sie kann nur in Perspektiven einer stetigen Annäherung an soziale und individuelle Aneignung von Werten verstanden werden. Der Funktionswandel des Kategorienbereichs im Gefälle der ästhetischen Werte ist ein tendenziell theoretischer Vorgang, erzwingt die technologische Revolution der Bedeutungsformulierung doch eine telematische Ausbildung der Rezipienten. Sie werden zu wertschöpfenden Faktoren. Die Geschichte der Autorschaft wird von dieser Seite her fortgesetzt, allerdings in der Form einer Destruktion und radikal skeptischen Zersetzung.

Geschrieben 1988 bis 1991 für die Habilitationsschrift, publiziert 1994 unter dem Titel „Zugeschriebene Wirklichkeit. Alltagskultur, Design, Kunst, Film und Werbung im Brennpunkt von Medientheorie“ im Verlag Königshausen und Neumann in Würzburg (Habilitation mit venia legendi für „Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaften“ an der Gesamthochschule/Universität Wuppertal 1991). Eine erste, hier wesentlich umgearbeitete und erweiterte Fassung erschien unter dem Titel „Unüberwindlicher Materialismus oder Ironie des Luxurierens? Reflexionen über die Zukunft des Designs“ in der Zeitschrift Kunstforum International, Bd. 92, Dezember 1987 – Januar 1988, Köln 1987, S. 142–147 und 304 f. (s. vorangehender Text in dieser Anthologie) und beruhte auf einem Vortrag „Reflections on the Future of Design“, gehalten als Inspirational Session/Special Lecture am Weltdesignkongress ICOGRADA ICSID IFI in Amsterdam, Kongresszentrum am 18. August 1987.

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So Oswald Wiener, Design für Unbewusste, a. a. O., S. 22 f.; neben den Positionen von Lucius Burckhardt, Michael Thompson und Christopher Alexander ist speziell gemeint, Helmuth Gsöllpointner u. a. (Hgg.), Design ist unsichtbar, Wien 1981; als Kritik weiter, Hans Ulrich Reck, Gefrässige Kinder. Ironie als Planungskritik, in: Werk, Bauen + Wohnen, Zürich Nr. 6/1985, S. 12 f. Vgl. Hans Ulrich Reck, Design, Kunst, Styling. Gestaltungsvisionen und Kulturkampf in der Ästhetik von Lebensformen im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Zürich 1/1988, S. 13 ff.; ders., Design als Macht. Gestaltung als ästhetisch verzeichneter Gebrauch, in: Hermann Sturm (Hgg.), Verzeichnungen. Vom Handgreiflichen zum Zeichen, Essen 1989, S. 59 ff. Umberto Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks, in: ders., Apokalyptiker und Integrierte, Frankfurt a. M. 1984, S. 64 ff. Vgl. Norbert Elias, Kitschstil und Kitschzeitalter, in: Der Alltag, Zürich 1/1985, S. 4–12. Vgl. Historisch bleibt der Futurismus der Prüfstein für alle modernen Gestaltungsansprüche; er bezeichnet in der Radikalisierung seiner eigenen Unmöglichkeit, eine sinnvolle Antwort auf die von ihm aufgeworfene Frage zu finden, deren Brisanz mit unüberbietbarem Nachdruck; als Dokumentation, Pontus

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Hulten (Hgg.), Futurismo e Futurismi, Mailand 1986; zum Kontext, Reyner Banham, Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im ersten Maschinenzeitalter, Reinbek bei Hamburg 1964; eine gute Darstellung des Modernitätsgefälles der futuristischen Frage liefert Leo Trotzki, Der Futurismus, Zürich 1971. Vgl. Heinrich Klotz, Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion, München 1986; entscheidend, absichtsvoll und zielgerichtet hat aus der Geschichtsschreibung der Moderne den russischen ästhetischen Konstruktivismus ausgeschaltet, Siegfried Giedion, Raum. Zeit. Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Zürich/München 1976. Vgl. Volker Fischer (Hgg.), Design heute. Maßstäbe, Formgebung zwischen Industrie und Kunst-Stück, München 1988. Vgl. Matteo Thun, in: ebda. S. 197 ff. Vgl. Jean Baudrillard, Cool memories, München 1989; Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 2. Aufl., Weinheim 1988, S. 149 ff. Vgl. Rudolf M. Lüscher, Henry und die Krümelmonster. Versuch über den fordistischen Sozialcharakter, Tübingen o. J. [1989]. Vgl. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigungen und Tabu, Frankfurt a. M. 1988; Susan Sontag, Krankheit als Metapher, München 1980; dies., AIDS und seine Metaphern, München 1989. Vgl. Themenschwerpunkt ‚l’épidémie‘ der Zeitschrift ‚Traverses‘ N° 32, Paris, CCI/Centre Pompidou 1984. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986; Hans Saner, Identität und Widerstand. Fragen in einer verfallenden Demokratie, Basel 1988. Vgl. zum gesellschaftspolitischen Kontext der Vorstellungen vom gesunden, organischen Volkskörper: Hans Ulrich Reck, Bewusstseinsfälschungen. Eine gesellschaftstheoretische Skizze, in: Hans Ulrich Reck/Jörg Huber/Martin Heller (Hgg.), Imitationen. Nachahmung und Modell. Von der Lust am Falschen, Basel/Frankfurt a. M. 1989, S. 86 ff.; die beste argumentative Übersicht zum Gesellschaftsvertragsmodell, John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975; zum rationalen Individualismus als Korrektur- und Leitstelle des Sozialorganismus, Robert Nozick, Anarchie. Staat. Utopia, München o. J. [1981]; das moralisierende individuelle Einklagen der sozialen Vernunft – sei es in der Variante der Konstruktion eines ideellen und idealen gesamtgesellschaftlichen Subjekts (Horkheimer), sei es in der Variante formaler, die Kommunikation steuernder Universalien (Apel, Habermas) – ist eine Fortführung des bürgerlichen Organismuskonzepts mit anderen Mitteln. Vgl. Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a. M. 1971; Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971, z. B. ebda., Luhmann, S. 11, programmatisch, selbst unter Einrechnung der kybernetischen Vernunft, sind soziale Systeme Organismen vergleichbar; zur älteren Literatur, E. T. Towne, Die Auffassung der Gesellschaft als Organismus, ihre Entwicklung und ihre Modifikation, 1903; Erich Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, Gesammelte Schriften Bd. 3, Göttingen 1960, S. 46 ff.; außerdem: Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a. M. 1978. Vgl. Angela Schönberger/IDZ Berlin (Hgg.), Simulation und Wirklichkeit, Köln 1988. Vgl. Burkard Sievers, Work, Death and Life Itself, Arbeitspapiere des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Universität Wuppertal, Nr. 98, Wuppertal 1987; Jean-François Lyotard, Apathie in der Theorie, Berlin 1979, S. 59 ff.; ders., Intensitäten, Berlin o. J., S. 77 ff. Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Rhizome, Berlin 1977. Vgl. Jean-François Lyotard am Beispiel der ‚ästhetischen Lust‘, in: ders., Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989, S. 64 ff. Mit der non-ironischen Leitikone der ‚Stählernen Tränen‘ von Marie-Jo Lafontaine, s. Katalog documenta 8, Bd. 2, Kassel 1987. Als Brücken von Marcuse, Horkheimer und Fromm zu Baudrillard und Lyotard lassen sich zwei anti-­ polare, dennoch symmetrische Varianten nennen, der Theorieansatz von Negt/Kluge einerseits, die ­Diskursanalyse Foucaults andererseits; vgl. dazu: Manfred Frank, Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt a. M. 1988; Bernhard Waldenfels, Michel Foucault. Ordnung in Diskursen, in: Spuren. Sonderheft Michel Foucault. Materialien zum Hamburger Kolloquium, 2.-4. Dezember 1988, Hamburg 1988, S. 45 ff. An Beispielen wie ‚Blade Runner‘ wären diese Überlegungen zu entwickeln; dazu kursorisch, Oswald Wiener, Design für Unbewusste, a. a. O., S. 26 ff. Vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966.

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24 Vgl. Peter F. Althaus/Aldo Henggeler, Denkmodell Stadtraum, Planung Mensch – Umwelt, Teufen 1969; dies., Die Stadt als offenes System, Basel 1973; Heide Berndt/Alfred Lorenzer/Klaus Horn, Architektur als Ideologie, Frankfurt a. M. 1968; Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a. M. 1965; ders., Thesen zur Stadt der Zukunft, Frankfurt a. M. 1971; Hans Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 52 ff.; Thomas Maldonado, Umwelt und Revolte. Zur Dialektik des Entwerfens im Spätkapitalismus [Originaltitel, ‚La speranza proggetuale. Ambiente e Società‘, 1970], Reinbek bei Hamburg 1972. 25 Roland Posner, Was ist Kultur? Zur semiotischen Explikation anthropologischer Grundbegriffe in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hgg.): Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt a. M. 1989. 26 Neben den Dokumentationen für das Internationale Design Zentrum Berlin – ‚Design im Wandel‘, ‚Stilwandel‘, ‚Design der Zukunft‘, ‚Simulation und Wirklichkeit‘ – sowie dem Gesamtwerk von Bazon Brock sind zu nennen: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hgg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, Frankfurt a. M. 1986; Hans Ulrich Reck (Hgg.), Kanal­ arbeit Medienstrategien im Kulturwandel, Basel/Frankfurt a. M. 1988; Hans Ulrich Reck/Jörg Huber/ Martin Heller (Hgg.), Imitationen …, a. a. O.; Helmuth Gsöllpointner u. a. (Hgg.), Design ist unsichtbar, Wien 1981; jüngere Beispiele aus dem Zeitraum nach Abschluss der vorliegenden Arbeit, Hans Ulrich Reck/Martin Heller (Hgg.), Euphorie und Elend. Visuelle Gestaltung, (Kat. Museum für Gestaltung), ­Zürich 1992; Georg Christoph Tholen/Michael Scholl/Martin Heller (Hgg.), Zeitreise. Bilder-MaschinenStrategien-Rätsel, Frankfurt a. M./Basel 1993. 27 Vgl. Egbert Haverkamp-Begemann, Creative Copies. Interpretative Drawings from Michelangelo to Picasso, New York 1988; Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1973; Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974; Hans Ulrich Reck, Imitationen. Von der echten Lust am Falschen, in: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 10, Heft 3, Tübingen 1988, S. 283–290. 28 Vgl. Provokationen. Design aus Italien – Ein Mythos geht neue Wege, Hannover 1982; Centre Georges Pompidou (Hgg.), Nouvelles Tendances. Design, Les Avant-Gardes de la Fin du XXe Siècle, Paris 1986; Volker Albus u. a. (Hgg.), Gefühlscollagen. Wohnen von Sinnen, Köln 1986; Rolf-Peter Baacke u. a. (Hgg.), Design als Gegenstand. Der neue Glanz der Dinge, Berlin 1983. 29 Vgl. z. B. Bernd Meurer/Hartmut Vinçon, Industrielle Ästhetik. Zur Geschichte und Theorie der Gestaltung, Gießen 1983. 30 Vgl. Beleg einer nicht explizit legitimierten Sinnbeschaffungsstrategie des Designs, das in immaterielle, nicht produktbezogene Bereiche vorstößt, Lucius Burckhardt, Die Kinder fressen ihre Revolution, Köln 1985; zur Kritik, Hans Ulrich Reck, Über Ironie und Planungskritik. Rezension eines Buches von Lucius Burckhardt, in: Werk, Bauen + Wohnen Nr. 6/1985, Zürich. 31 Vgl. Vittorio Gregotti, Il Disegno del Prodotto Industriale. Italia 1860–1980, Milano 1982; Albrecht Bangert, Italienisches Möbeldesign, München o. J. [1987]; Werkbund (Hgg.), z. B. Stühle. Ein Streifzug durch die Kulturgeschichte des Sitzens, Gießen 1982. 32 Vgl. Karl Corino (Hgg.), Gefälscht! Betrug in Literatur, Kunst, Musik, Wissenschaft und Politik, Nördlingen 1988. 33 Vgl. Hermann Sturm (Hgg.), Der verzeichnete Prometheus. Kunst, Design, Technik. Zeichen verändern die Wirklichkeit, Berlin 1988; ders., (Hgg.), Verzeichnungen. Vom Handgreiflichen zum Zeichen, Essen 1989. 34 So die Darstellung der Designobjekte als ‚Kunststücke‘, vgl. Volker Fischer (Hgg.), Design heute. Maßstäbe – Formgebung zwischen Industrie und Kunst-Stück, München 1988; Christian Borngräber (Hgg.), Das deutsche Avantgarde-Design, in: Kunstforum International, Bd. 82, Köln 1986; ders., Deutsche Möbel III. Unikate/Kleinserien/Prototypen, in: Kunstforum International, Bd. 99, Köln 1989. 35 Solches Vermittlungs- und Ausdrucksmedium fehlt bei Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973; Habermas tendiert auch sonst dazu, Kunst und Poesie als öffentliche Institution oder philosophische Verbürgungsinstanz von Identität zu vereinnahmen, z. B. in: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985, S. 110 f. 36 Neben der Soziologie des Alltagslebens, mit dem Kronzeugen Henri Lefebvre, der Ethno-Methodologie und der, allerdings erst später im deutschen Sprachraum entdeckten, ‚histoire de la longue durée‘ und der Geschichte der Mentalitäten – Fernand Braudel, Lucien Febvre u. a. – ist die Aufarbeitung der Rollendramaturgien alltagsästhetischen Ausdrucksverhaltens ein hauptsächliches Verdienst der Reflexionen und Darstellungen von Bazon Brock; s. v. a. Brock, Ästhetik als Vermittlung, Köln 1977. 37 Ausführlicher: Hans Ulrich Reck, Unüberwindlicher Materialismus oder Ironie des Luxurierens? Reflexionen über die Zukunft des Design, in: Kunstforum International, Bd. 92, Köln 1987/88, S. 142 ff. (s. voran­ gehender Text in dieser Anthologie).

REFLEXIONEN ÜBER DIE ZUKUNFT DES DESIGNS  289

38 Vgl. Hans Ulrich Reck, Design als Politik. Reflexionsverlust auf allen Seiten, in: Kunstnachrichten 3/1988, Zürich. 39 Postmoderne Pluralität als Sensibilität für neue Problemlagen, Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 2. Aufl., Weinheim 1988, S. 7, weiter, ebda. S. 39 ff., 53 ff., 60 ff., 79 ff. 40 Vgl. z. B., W. R. Ashby, Design for a Brain. The Origin of Adaptive Behaviour, London 1952; Alan M. Turing, Kann eine Maschine denken?, in: Kursbuch 8/1967, Frankfurt a. M.; P. J. Courtois, Decomposability, Queueing and Computer System Applications, New York u. a. 1977; Brian Randall, The Origins of Digital Computers, Berlin/Heidelberg/New York 1975; Steve J. Heims/John von Neumann/Norbert Wiener, From Mathematics to the Technologies of Life and Death, Cambridge 1981; Rolf Herken (Hrsg.), A Half Century Survey. The Universal Turing Machine, Berlin 1988.

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„JEDES NEUE DESIGN IST RE-­DESIGN“ – ZUR ‚THEORIE DES DESIGNS‘ VON MICHAEL ERLHOFF Einer eher gedankenlosen Konvention nach rezensiere man keine Bücher von Freunden – was dann doch alle ‚hinter den Kulissen‘ tun, allerdings ohne den Sachverhalt zu benennen. Da im vorliegenden Fall das Buch eine Freundes nicht eine externe Beigabe parallel zur Freundschaft ist, sondern einen Diskurs vorantreibt, der seit Jahrzehnten untrennbarer Bestandteil eines freundschaftlichen, kollegialen und offenen, also eines verbindlichen Denkens und Handelns ist, sei nicht nur der verpönte Sachverhalt benannt, sondern er auch mit einer gegenteiligen Behauptung versehen: Man rezensiere nur Bücher von Freunden … sofern die Freundschaft in genannte Weise den Diskurs trägt. Michael Erlhoff legt nicht vor, was man in Betracht seines reifen Arbeitsalters und seiner Position im Bereich des Designs erwarten könnte, eine resümierende Summe seiner über Jahrzehnte immer theoretisch reflektierten Theoriepraktik in der DesignVermittlung und damit Thematisierung aller Belange von Design. Sondern er setzt, in gewohnter Frische, immer wieder neu und an neuen Herausforderungen an. Immer wieder und immer erneut erneuernd, durchläuft er Problemstellungen, die jeder Designtheorie aufgegeben sind, auch die, die man meint gelöst zu haben.1 Design erscheint so als in sich durchgängig theoretisch gegründete Sphäre von Problemwahrnehmungen. ‚Problem‘ meint hier, wie im alten griechischen Wortsinne, Aufgaben, die, wie Erlhoffs Theorie erörtert, nicht zu lösen, sondern nur immer wieder zu verschieben und aufzubewahren sind. So wird die ‚Theorie des Designs‘ zu einer Abwägung von Designtheorien mitsamt ihren poetischen, erzeugenden Praktiken aller Art. Design gestaltet somit nicht weniger als die Beziehungen zwischen Menschen, Menschen und Gegenständen und den Gegenständen selber. Man könnte auch von einer Sphäre stetigen Durchdrungenseins reden, von einem Ensemble von Dynamiken und Situationen. Und erst recht davon, dass – vom Städtebau bis zur Informationswelt, von der Maschinensphäre bis zu den Kommunikationsmedien, von der Robotik bis zum Wohnen, vom Besteck bis zum Föhn, vom Kondom bis zur Modellierung von Leiblichkeit überhaupt, vom Theater bis zur Kunst, von der Fortbewegungstechnik bis zur Zeitung, vom Reisen bis zum urbanen Raum – die theoretische Grundierung nicht Vorwegnahme oder bloß nachbewertende Reflexion ist, sondern dynamisch sich organisierendes Probehandeln ist. Das heißt: Ohne ihre je eigene Praktik gibt es Design nicht. Michael Erlhoffs zentrale Prämisse für Designtheorie ist denn auch, dass dieser Theorietypus spezifische Aufgaben und auch Grenzen hat. Nichts darf nämlich je ausgeklammert oder vergessen, nichts aufgelöst oder schematisiert, nichts erledigt oder diffamiert werden. Es geht um den Möglichkeitssinn, um Überschuss und noch Unausgestaltetes, um ein Noch-Nicht, nicht um die platte empirische Wirklichkeitsprüfung. Design ist also kraft theoretischer Erhellung in seiner Praktik virtuell und real zugleich. Man könnte auch sagen: Es ist die Wirklichkeit, die so wahrgenommen wird, die in sich

„JEDES NEUE DESIGN IST RE-­DESIGN“  291

s­ elber theoretisch vermittelt ist. Darin stellt Design prozessuale Formen, Mittel und Vorstellungsmöglichkeiten zur bewusst entwerfenden Gestaltung all dieser Beziehungen zur Verfügung. Und Theorie wiederum ermöglicht erst die Abwägung von Konzepten für solches Entwerfen. Design ist also eine eminent theoretische Sphäre für die Wahrnehmung der stetigen Beziehungsnahmen und Verknüpfungsaktivitäten. Designtheorie wird zur notwendig immer praktisch testenden, verstofflichenden Kundigkeit konzeptueller Beziehungseinrichtungen und testender Umsetzungen jeweils veränderter Situationen. Deshalb ist Designtheorie die privilegierte Sphäre praktischen Designentwerfens und damit ein Theorietypus, der flexibler ist als Kunsttheorie, Medientheorie oder generelle Ästhetik, auch wenn dies ebenfalls Bereiche bezeichnet, in denen designspezifisches Handeln jederzeit gegeben ist. Fern liegt solchem Verständnis die Figur der dialektischen Aufhebung, viel näher der Gedanke einer rettenden Kritik, die in allem durchaus zu verzeichnenden Fortschritt daran festhält, dass jede Konstellation immer wieder neu angeeignet werden muss. Eben weil Design immer Re-Design ist. Erlhoff zieht nicht Resümees, entfaltet seine Überlegungen nicht in Gestalt einer zusammenfassenden Theorie, sondern gibt ihnen Raum für ein lebendiges Denken. Das heißt, es geht um Reflektieren, Argumentieren, um Vollzug und Verlauf, nicht um Erkenntnisgewinn für Anwendungen und epistemischen Fortschritt. Das Buch von ­Michael Erlhoff lässt an der Verfertigung der Gedanken beim Reflektieren teilhaben. ­Damit ermöglicht der Gedankengang in der Rezeption, das zu erleben, was ihn beim ­Autor antreibt: eine stetige Vergegenwärtigung, Präsentation und Repräsentation der Problemlagen dieser überaus vielfältigen, rekombinatorischen Verknüpfungskunst. Das meint eine Technik und Rhetorik des Denkens und der Problemerfassung, die keine eingegrenzten Territorien akzeptieren. Erkundungen werden vollzogen im dichten, animierenden Prozess des betrachtenden Redens, das im Schreiben eine durchaus vorläufige und im Fragmentarischen sich vollendende Dichte erlangt. Das ist mehr und besseres als jede Entwurfsmethodologie der Gestaltung oder Entwurfslehre und jede auf neue Paradigmen wie Wissensgenerierung und lebenswissenschaftlichen Fortschritt abzielende Designtheorie ermöglicht. Zu schweigen von den methodologischen Verkürzungen, die allenthalben zu bedauern sind, von der Semiotik bis zur letztlich aus der Geschichte der Künste abgezogenen Argumentation. Michael Erlhoff widmet sich den Gestaltungsformen oder dem Decorum der Einrichtung des gesamten Lebens. Und dies ohne Totalitätsanspruch, d. h. ohne ins Totalitäre umschlagende Utopie. Aber eben auch ohne jeden Formalismus eines optimierenden, designtheoretisch geleiteten Entwerfens, das sich ja doch nur an Tageskonjunkturen von Marktsegmenten orientiert. Solche Designtheorie bedarf und bezeugt kundiges Navigieren in den Verknüpfungen zwischen allen Faktoren, in denen die gestaltete Umwelt zur Mitwelt kraft entworfener Relationen wird. Darin fließen nahezu alle Sparten und Disziplinen eines Nachdenkens über das gegenwärtige Leben ein. Und so verbindet Erlhoff Erörterung zum Design von Waffen mit den Erfahrungen der professionellen Erotikarbeiterinnen, Exkursen zu Kondom und Latex. Das Theater wird gewürdigt, ebenso der Städtebau, Mode und Sexualität, aber auch psychoanalytisch

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vorgeprägte Erörterungen zum Komplex der Schuld. Denn diese geht als ‚Theodizee des Designs‘ in seine Theorieansprüche ein: als Rechtfertigung formenden Handelns in einer Welt, die nicht von alleine die Begründung einer ‚guten Form‘ beweist. So gewinnt jede Designtheorie etwas Kontrafaktisches für die Selbstvergewisserung von entwerfendem wie symbolisierendem Handeln. ‚Die Theorie des Designs‘ könnte zu Recht auch ‚Philosophie des Designs‘ heißen. Sie macht in allem Mäandern und allen animierten Spaziergängen durch interessante, vorhandene wie erfundene Landschaften deutlich, dass es nicht um Anspruch an optimierendes Wissen vermittelnde Methode, sondern um ein lebendiges Verstehen des komplexen und widersprüchlichen Reichtums des Realen geht. Kein Wunder, weshalb als einer der hauptsächlichen Kronzeugen immer wieder Immanuel Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ auftaucht, wird doch dort das Wundersame eines verbindenden Schließens vom einzelnen auf anderes als Mechanismus eines schöpferischen Verstehens gedeutet, das auf keine Ableitung oder keinen Beweis sich stützen kann. Man muss ausprobieren, was sich ‚dabei‘ ergibt. Die Erlhoff’sche Designtheorie eröffnet solcherweise eine Konturierung lebendigen Denkens, das von Probehandeln nicht getrennt werden kann. Man muss sich auf dieses stete selbstkritische und verschärft wahrnehmende Verstehen einlassen um wiederum zu begreifen, weshalb solches Denken immer experimentierendes Probehandeln ist. Im gesellschaftlichen Engagement radikalen selbstkritischen Denkens eröffnet sich so die Einsicht, dass es nicht um die Aufhebung der Trennungen zwischen freien und angewandten Künsten geht, sondern darum, zu verstehen, wie und weshalb solche Trennungen seit Langem den lebensweltlichen Reichtum des Umgangs mit entwerfenden Prozessen, Symbolen und Artefakten unterbietet. Ebendeshalb betrachtet Erlhoff Design im Hinblick auf die substanzielle Notwendigkeit seiner stetigen Transformationsleistungen. Es ist diese beschwingte Dynamik, die das Buch – ich scheue mich nicht zu sagen – weise macht und das es ermöglichende Denken geschmeidig. Jede Theorie des Designs wird künftig die Bewährprobe der lebendigen Insistenz auf der Wahrnehmung gegenwärtiger Prozessvermittlung menschlicher Ansprache machen müssen. Es ist eine reiche, souverän Vorgabe, die anstelle des mit Fußnoten bewaffneten Brimboriums wissenschaftlicher Schutzbehauptungen direkt die Reflexion stellt und diese durch Schautafeln mit, teilweise wörtlichen, teilweise durch Gebrauchsinteressen ebenso sanft wie bestimmt abgewandelten Zitaten Dritter unterbrechen lässt. Auch hier wirkt der montagekundige Dadaismuskenner, der weiß, dass nicht die Auflösung, sondern die Artikulation das Entscheidende ist. Die Reflexion der Probleme des Designs macht aus Erlhoffs Designtheorie ein Organon der belehrten Lust an der Wahrnehmung von Aufgaben und der Erörterung von Problemen. Erlhoff tut dies in einer Weise, die überaus freundschaftlich ist – für jeden Leser, nicht nur für Freunde, mit denen ­solcher Diskurs immer schon das Nachdenken und das persönliche Ethos im konkreten Erleben verbunden hat.

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Geschrieben am 8. Juni 2013; der Text wurde in einer späteren Fassung durch den Autor gemäß den im ­ orfeld korrekt und deutlich benannten Vorgaben der Redaktion erheblich gekürzt; gedruckt unter dem Titel V „Zur Theorie des Designs von Michael Erlhoff“, in: form. Design Magazine, Ausgabe N° 249 („The Making of ­Design“), form Verlag, Frankfurt a. M., September/Oktober 2013, S. 98/99.

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Michael Erlhoff, Theorie des Designs, München 2013.

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STILFIGUR. AUSZÜGE FÜR MICHAEL IN ­DIVERSEN STÜCKEN Das Thema und seine Durchführung entspringen in ganz offenkundiger Neigung und selbstverständlicher Vertrautheit gewissen Eigenheiten und bestimmenden Eigenschaften des in Sprache stehenden Jubilars und bedürfen keiner weiteren, erst recht keiner extern motivierten Herleitung. Gibt es, so die heutige, dem Anlass und Freund angemessene Frage, eine dadaistische Designtheorie und was wäre ihr Nutzen? Letzteres kann, wenigstens auf einen schnellen ersten Blick, leicht beantwortet werden. Aber zunächst muss die Urszene vergegenwärtigt werden, die sich hinter der Frage verbirgt und damit auch das unvermeidliche Schicksal beleuchtet, dass wir alle in bezeichnender Weise vor den Herausforderungen des Dadaismus versagen und unser Leben nur dem andauernden und hartnäckigen Erhalt der diesem zugrunde liegenden heiteren Resistenz gegen alle ideologischen Verführungen widmen können. Der Dadaismus wird nämlich substanziell erst dort, wo er zur wahren Selbstbeschreibung der Unmöglichkeit geworden sein wird, die er an sich selber immer schon ist, war und blieb. Der Dadaismus ist erbarmungslos heiter. Und alles andere als naiv. Die Ausprägung einer heiteren Nicht-Naivität als Programm zu ertragen, stellt wohl auf lange Zeit weiterhin eine der größeren philosophischen Herausforderungen menschlicher Lebensorganisation dar. Nun also die knapp erinnerte, da gut bekannte Urszene. Hans Arp schreibt zur Zeit des Ersten Weltkriegs in einem Haus an der Zürcher Spiegelgasse an einem Gedicht, notiert Wörter auf ein Stück Papier in der Hoffnung, es möge aus der Sprache auch ein Einfall werden. Nichts gelingt ihm, wobei ihm selber unklar bleibt, was denn überhaupt gelingen könnte oder gar sollte. Er zerreißt das Papier, wirft die Schnipsel auf den Boden, achtlos zunächst, dann in interessierter Betrachtung verweilend. Diese sich ergebende, so überaus zufällige, nicht-beabsichtigte Anordnung scheint ihm nun auf einen Schlag überaus reizvoll. Genau dieses hätte er doch gewollt, wenn er denn gewusst hätte, was zu wollen sei. So scheint es ihm nun und erweist sich ihm schlag- oder überfallartig ein Neues, Kostbares, Überraschendes.

Absichtslosigkeiten und ihre Indienstnahme Nun kann man das auch wieder in die Figur einer Stilisierung ummünzen: dass das nicht-intentionale Wollen zur wahren Überraschung führt. Wir wissen, dass leichthin auch vom ‚nicht-intentionalen Design‘ die Rede ist, wobei wohl vielen Beteiligten unklar bleibt, ob darin eine blinde Sau eine Eichel gefunden oder nur ein listiges Künstlersubjekt eine lebensweltlich erweiterte Bewährprobe sich erschlichen hat. Sofort jedenfalls wird einsichtig: Das nicht-intentionale Design ist eine theoretische List, die man als eine ästhetische Pirouette beschreiben darf. Also schon wieder: ein Stilempfinden,

STILFIGUR. AUSZÜGE FÜR MICHAEL IN ­D IVERSEN STÜCKEN  295

­ hnlich dem, mit dem der Blick von Hans Arp auf den Fußboden zu einer glücklichen Erä scheinung führt. Soweit die hier leicht ausgemalte Urszene all solcher, dadaistisch apostrophierter Bemühungen. Man kann dieses Wollen rechtfertigen, in welcher Hinsicht man auch immer mag – das Nichtgewollte bleibt resistent dagegen und immer ‚außerhalb‘. Es bliebe störend. Bevor man nun die Rechtfertigung des Ungewollten als Rettung einer defizitären Empirie veranschlagt, um sie in irgendeiner theoretischen Figur zu komplettieren, soll die Frage nach dem Nutzen beantwortet werden, wenn es ihn denn in solch erstem Durchlauf durch eine unkontrollierte Wirklichkeit mittels Gewahrwerden eines Überhangs nicht-gesteuerter Prozesse überhaupt gäbe: Er schützte die Erhaltung der jeweiligen auf eine Theorie bezogenen Monstrositäten (gebildeter geredet: deren ‚Anathema‘), ihre Auszeichnung und Verdeutlichung vor der Hypertrophie der Rezepte und Normen, der Gewissheiten und Eitelkeiten, die ja so oft insgesamt den Bereich der theoretischen Erörterungen im Design durchdringen und prägen. Was sicher auch ein Grund ist, weshalb eine dadaistische Designtheorie niemals unternommen worden ist, zumindest ist mir kein ernsthafter Versuch dazu bekannt. Der dadaistisch Herrschaftsträume zersetzende Nutzen einer solchen Erhaltung der kontrafaktischen Theoriemonster kommt nun gewiss auch dem zugute, der sich vor solchen Versuchungen zu schützen versteht. Es bedarf dazu einer besonderen Feinfühligkeit (und damit auch wieder eines bestimmten charakterlichen Stils). Keineswegs indizieren sich hier vermeidbare Untugenden, sondern scheint es allem Designdiskurs extrem schwierig, solchen Rezepturen zu entgehen. Alles, so scheint es, verwandelt dem Designdenken sich in ein Muster, eine Regularität, ein dann vernünftig zu dekretierendes Abwägbares – und dies erst recht, sofern das Irreguläre, Spontane, Chaotische, Ungeplante und dergleichen mehr beschworen wird. Es ist hier, wie sonst kaum jemals, wirklich so, dass der Diskurs durch die Autoren hindurchdenkt und nicht umgekehrt Medium oder Stoff von deren Artikulation ist. Da dies unvermeidlich ist und schlechterdings jeden trifft, kommt es vorrangig nur noch auf die Art und Weise an, in welcher sich die Autoren dieses Sachverhaltes vergewissern, um sich, mit Eleganz oder eben ohne eine solche, die Verführungen wie die Drohungen dieser so durchgreifenden ‚pattern language‘ vom Leibe zu halten. ‚Eleganz‘ ist nun schon mehrfach zu verzeichnen gewesen in unseren vorläufigen Betrachtungen. Wir merken also auf: Offenkundig geht es nicht um die Privilegien des Gehalts und die Verschontheiten eines schlechterdings nicht mehr vermeidbaren und auch nicht mehr überwindbaren Rechtfertigungsnotstands im und des Designs – die Theorie des Guten und Richtigen unterliegt hier jederzeit der schieren, spöttisch, zuweilen gar höhnisch anmutenden Realität, die niemals den Voraussetzungen der Designentwürfe zu genügen vermag –, sondern es geht um Haltung und Prägung, Inkorporation und Ausdruck dieses Wissens. Es geht also um Stil. Um jenen Stil, der im Achtlosen und Ungeplanten ein Gewolltes entdeckt, nicht um es in einer mehr oder minder entzückenden theoretischen Figur als ein eigentliches Wollen des Uneigentlichen, als bewährten Willen zur Formung außerhalb der Beschränkungen des Subjekts und der restriktiven Ordnungsneurose zu preisen, in welche in der Regel die Beschwörungen des Irregulären im Design münden. Reden wir also aus gegebenem Anlass im weit aufgespannten Sinne einer

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geschichtsphilosophisch gefährdeten Diskursivität der Designtheorie von ‚Stil‘, mit und in dem jede Theorie zur reflexiven Figur wird. Es handelt sich hierbei für heute natürlich nur um erste Andeutungen und Verdichtungen, um Auszüge eben.

Fragen an eine Theorie der Theorie Was lässt sich über theoretische Voraussetzungen der Gestaltung oder über Voraussetzungen von Gestaltungstheorien aussagen? Gibt es, streng genommen, nicht bloß eine einzige Theorie, wenn wir darunter den Orientierungszusammenhang der Menschen in der Welt verstehen? Gibt es außer dieser einen Theorie noch besondere Theorien, jene der Gestaltung – nicht ein, sondern mehrere, jeweils für einen Einzelfall zurechtgestutzte und zurecht improvisierte? Gibt es die Theorie im Kopf des Gestalters, Theorie in den Köpfen der Gestalter, gibt es Theorien in den Köpfen der Benutzer? Decken sie sich? Sind die Codes identisch? Liegen die Dinge als mit sich selber deckungsgleiche, demnach unberührte, irgendwo in der Mitte? Gibt es dazu auch Antworten? Nur indirekt, so scheint es. Eine Theorie muss mehr sein als eine Rechtfertigung dessen, was man – aus welchen Gründen auch immer – tut; mehr sein als eine Technik zur Absicherung technischer Prozesse. Die Theorie könne, so ist immer wieder zu hören, keine mehr sein, in der alles, was theoretisch bedeutsam ist, also nicht sinnlich, sondern nur abstrakt fassbar, vereint werden kann mit dem, was uns an Inhalten von Dingen und Handlungen eben gerade sinnlich, wenn nicht greifbar, dann immerhin erfahrbar geworden ist. Worin bestehen die konstruktiven Leistungen der vorschnellen und unbedachten ‚Sinn‘-vermutungen? Was geschieht, wenn wir Grund genug haben zu sagen, die ‚Vernunft‘ unserer Begriffe raube unseren Sinnen ihre eigene Welt und werde blind, wenn sie nicht instinktiv mit den praktischen Leistungen eines nützlich gemachten Lebens gekoppelt sei, wie dies das Stichwort ‚Abstraktion‘ in Fritz Mauthners Wörterbuch der Philosophie – Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache berichtet? Und so münden überaus schnell die Antworten in neue Fragen. Versuchen wir zwischendurch einen Ausweg über Geschichten.

Handgreiflichkeit. Eine erste Geschichte Eine kleine, gut bekannte, immer wieder erzählte, deshalb bis heute lebendig gebliebene, ja für viele designtheoretische Fragen gar prototypisch wirkende Geschichte berichtet in Gestalt einer mythologischen Erzählung über den legendären Wettstreit zwischen dem Gott der Künste, dem strahlenden Apoll, und dem hässlichen, haarigen Satyren ­Marsyas. Der ahnungslose Marsyas hebt einmal eine Flöte auf, die er als offenbar verlorene irgendwo liegen sieht. Es ist aber die von Athene erfundene und mit e­ iner Verfluchung weggeworfene Flöte. Marsyas lernt darauf spielen und wird wegen seiner

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­Kunstfertigkeit berühmt. Apoll fordert ihn zu einem Wettstreit. Es sieht so aus, als würde Apoll den Streit verlieren. Da greift er zu einer List. So wie er, Apoll, sein Instrument von der anderen Seite her spielen wolle, so solle auch Marsyas seine Flöte von der anderen Seite her bedienen. Natürlich verliert Marsyas den Streit wegen dieser Wendung und erleidet als Strafe eine Folter, die mit seinem Tod endet. Damit ist die Ordnung wieder hergestellt. Die mit aufgefundenen Sachen arbeitende niedere Kunst (anders: die auffindende Kunst) unterliegt der Oberherrschaft der klassischen Kunst. Die Hochsprache der Kunst triumphiert – sie hat sich gelöst von den niederen und zufälligen Verunreinigungen. Auf der anderen Seite versinken die Fundstücke wieder im Schweigen. In den Metamorphosen des Ovid wird uns berichtet, wie aus den Tränen von trauernden Bauern und Satyrn ein Strom wächst, der Schicksal und Lied des Marsyas in alle Welt trägt. Nicht so sehr als Melodie um den geheimen Namen des leidenden Marsyas, sondern als Trauerklage und flüchtige Erzählung über den Verlust der einmal gefundenen wahren, schönsten Kunst – der Wendung nämlich des Lebens als Ordnung, die für den Menschen die Form des Zufalls annimmt. Eine Stelle aus Epikurs (341–270 v. Chr.) Anweisungen zum glücklichen Leben liest sich wie ein Fazit des Verlustes, den die Konfrontation zwischen den Fundstücken und den Kunststücken erzwingt. Es sei, so heißt es dort, besser, den Fabeln der Göttergeschichte zu glauben als sich unter die Schicksalsidee des Gelehrten zu beugen, denn die Ersteren lassen Hoffnung und Gnade durchblicken, die Letztere aber bestehe in eherner Notwendigkeit. Man sieht auch hier wieder: Prägende Stilfigur ist die des achtlosen Wegwerfens, des Sich-Entledigens. Die Treue zur Stilfigur lässt sich beschreiben mittels eines zweiten Blicks, als ein erneutes Hinschauen. Erst hier entfaltet sich eine weitertreibende Neugierde, die nicht dem Wahn des Produzierens oder der Hysterie und der Panik der intentionalen Modellierung des Realen verfällt.

Zweifel. Eine letzte Geschichte „Meine Suche fängt an bei dem Sichtbaren um mich herum. Was umgibt mich? Nichts als nackte Wände, dürftiges Mobiliar, ein Fenster, eine Tür. Sandkörnchen, sicherlich, im Vergleich mit der grenzenlosen Welt, von der ich ausgeschlossen bin. Es genügt aber, um bei mir ein minutiöses, anhaltendes Kontrollbedürfnis und eine außergewöhnliche Besitzeslust gegenüber diesen paar Dingen zu erwecken. Das Zimmer ist klein und kahl, die Zeit, um es auszuloten, unbegrenzt; infolgedessen ist mein Blick zum scharfen Beobachter ganz weniger Gegenstände geworden. Lange Pausen des Nachdenkens spannen sich über ein enges Gesichtsfeld, dringen ein in den winzigen Raum zwischen Feldbett, Tisch und Strohstuhl. Aus der Form dieser Gegenstände versuche ich, die Absichten meiner Aufseher zu erschließen. Offensichtlich haben sie aus dem Raum, der mich einschließt, jegliche Spur häuslichen Lebens getilgt. Es besteht kein Zweifel: die mich hier eingesperrt haben, wollen, dass ich nur erinnerungslose Gegenstände sehe, bar jeder Eigenschaft, die vielleicht früher einmal eine Geschichte um sie spann, reduziert allein auf ihren Gebrauchswert und eine Nummer der Serie, zu der sie gehören. Die

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Form des Stuhls soll nur auf sich selbst verweisen: eine Form also, die das Dasein des Gegenstandes und dessen Namen anzeigt, aber keine Nachricht darüber gibt, was in der Vergangenheit mit ihm und auf ihm geschah. Ich habe Angst, aufs neue, ich weiß nicht wann und nicht wie, von den Auswüchsen meiner selbst überfallen zu werden, die noch geraume Zeit im Zimmer auf und nieder wogen, auch nachdem ihr Bild schon vorbei ist oder sich lediglich meinem Blick entzogen hat. Mag sein, dass jedes Verschwinden unglaublicher Dinge ein Aufzucken aus der Mitte meines Denkens ist und nicht ein Erwachen aus dem Schlaf: eine brüske Zäsur, die mein Denken immer dann abbrechen lässt, wenn es einen für mich unerträglichen Grad an Intensität erreicht hat und mir so mit einem Schlag die Energie für das Warten an der Tür und den Kontakt mit den Dingen wiedergibt, die wirklich und unwiderruflich da sind. Ich hatte den Eindruck, als würde ich durch einen gewaltigen Schlag wieder mit den Gegenständen verbunden, als würden mir Licht und Wärme wiedergegeben. Vielleicht war ich auf dem tiefsten Punkt der Verworfenheit angekommen. Seither hat mein Körper keinen Frieden mehr. Ich sage immer noch mein Körper. Schildere die Phänomene im Zimmer als wäre ich, der ich zusehe und zuhöre, auf der einen Seite und auf der anderen die in Aufruhr geratene Materie. Aber das ist ungenau. In Wirklichkeit befinde ich mich selbst mitten in dem bunt zusammengewürfelten Haufen und dem Zusammenfließen der Dinge, ich bin ihrem Kampf einverleibt. Seit einiger Zeit bin ich in den Dingen, die ich beobachte. Anstatt mich auf jenen einzigen Punkt zu konzentrieren, der keinen Namen bat, schweife ich ab. Trotzdem spüre ich, dass diese Annäherung nicht zufällig ist. Indem ich die Dinge beschreibe, kann ich sie noch eindämmen, ihrem Chaos und ihrer Herrschaft eine Grenze setzen; indem ich sage, dass mein Aufseher oder das Armband wie Regen auf mich niedertropfen, dass das Fenster oder der Tisch in Stücke gehen, habe ich den Beweis, dass mich diese Geschehnisse noch nicht überwuchert haben.“ Das schreibt Carmelo Samonà 1983 in einer (1984 auf Deutsch erschienenen) Erzählung mit dem Titel „Der Auf­ seher“. Es handelt sich um die Geschichte einer Entleerung des menschlichen Kopfes von den Namen und Benennungen, die sich über die Anwesenheit von Dingen zu dem Zwecke in den Kopf einschleichen, dass sie den Blick auf das Wesentliche verstellen. Man könnte mindestens zum Zwecke einer Hypothese vorschlagen, unter Design genau den Vorgang der Inszenierung dieser Verstellung zu verstehen. Dann würde es darum gehen, die Dinge so lange wahrzunehmen, bis ihr Name verschwindet und umgekehrt, die Namen so lange zu erinnern, bis sie sich von den Dingen lösen. Dinge und Namen würden von da an irrelevant und austauschbar.

Zum Ausklang leihe ich mir aus Laurie Andersons ‚Talk Normal‘ (auf der LP Home of the Brave, 1986) ­einige Zeilen:

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„I don’t know about your dreams / But mine are sort of hackneyed. / Same thing, night after night. / Just … repetitive. / And the color is really bad / And the themes are just infantile. / And you always get what you want – / And that’s just not the way life is.“

Design ist wie Schreiben aus dem Gefühl der unvermeidlichen Zertrümmerung der darstellenden Sprache und ihrer Stoffe. Aus dieser entwickelt sich glücklicherweise erst recht ein Störrisches an den Dingen. Der Rest bliebe eine Arbeit am Unersetzlichen, das sich für den anspruchsvollen Diskurs eines planenden Umgangs mit Dingen nicht eignet, wohl aber für die Pflege der Stilfigur, in der diese eine flüchtige Heiterkeit erlangen, die einzig ihrer Bedeutung angemessen ist.

Geschrieben am 26. und 29. Dezember 2005; revidiert am 31. Dezember 2005 für eine Festschrift aus Anlass des 60. Geburtstages von Michael Erlhoff; publiziert auf Deutsch und Englisch in: Uta Brandes (Hgg.), ­„Michael Erlhoff & Friends, Txt & Img“, Basel: Birkhäuser Verlag, S. 96–102/103–109 („Figure of Style“).

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DESIGN DER ZUKUNFT IN DEN KÖPFEN DER DESIGNER HEUTE Die gegenwärtige Situation des Designs ist dadurch gekennzeichnet, dass die Legitimation von Designleistungen immer stärker an der Lösung erwartbarer Zukunftsprobleme gemessen wird. Das gilt für das Verhältnis des Designs zu den neuen Medientechnologien wie für das Verhältnis des Designs zum gesamten Bereich der gestalteten Umwelt, ihre materiellen wie ihre immateriellen Faktoren. Gleichzeitig drängt die Verwertbarkeit der Designleistungen immer noch in die traditionellen Produktionsformen und zielt auf die Herstellung erfolgreicher, absetzbarer Güter – Produkte und Dienstleistungen. Dennoch kann aktuelles Design heute nur heißen: bestimmte Formulierungen für die Gestaltung der Zukunft zu finden. Die Öffnung von Innovation und Fantasie betrachtet Zukunft nicht als Entwicklung, die abläuft und der gegenüber Reaktionen zu finden seien, sondern als einen Prozess, der durch aktive, eingreifende Gestaltung erst in der und als Gegenwart ermöglicht wird. Das gilt für den Bereich von Architektur und Stadtgestaltung wie für Produkte und Dienstleistungen, für den öffentlichen wie den privaten Bereich. Es ist zu erwarten, dass der steigende Bedarf an Designkonzepten und an visueller Kommunikation neue Formen des Zusammenlebens schaffen oder auch verhindern wird. Damit muss neben den Produkten der weitere Bezugspunkt in Betracht gezogen und in ästhetischer, sozialer, moralischer, ökonomischer und kommunikativer Hinsicht geprüft werden. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass ein Design der Zukunft die unflexibel gewordenen heutigen Designleistungen entscheidend verändern wird. Es gilt, eine Antwort auf die durch die neuen Technologien (CAD, CAM, Heimdesign per Bildschirm) gesetzten Herausforderungen zu finden. Sei es im engeren Sinne als Produktgestaltung, sei es im weiteren Sinne einer Einrichtung der Umwelt, ihrer sichtbaren und unsichtbaren Faktoren: Design wird sich neue Produktions-, Vertriebs- und Nutzungsformen suchen. Es scheint, als hätten flexiblere mittlere Produktionsformen und Technologien eine große Chance. Sie scheinen am ehesten in der Lage, den konzeptuellen Bereich der Herstellung und Nutzung von Gütern auf neue Bedürfnisse einzustellen und umgekehrt die bestehende Nachfrage und das schlummernde Potenzial durch neue Konzepte zu überprüfen und aktiv neuen Darstellungen und Lösungen zuzuführen. Ein wesentlicher Akzent von Überlegungen zur Funktion des Designs der Zukunft liegt bereits heute auf einem veränderten Designverständnis und Experimenten mit Modellcharakter. Dabei lässt sich immer weniger auf die Abklärung verfügbarer Bedürfnisse abstellen. Immerhin lassen sich einige Leitlinien für ein Design der Zukunft bereits heute ausziehen: Ökologisch zusammenhängende Produkte und Dienstleistungen sollen einen Zuwachs an Kommunikation ermöglichen. Die Beantwortung der Frage, was überhaupt als verbesserungswürdig angesehen werden soll, wird gegenüber der ­Variation etablierter Güter und Gestaltungen immer mehr ins Zentrum rücken. Das

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Aufsuchen von Spielräumen im Produktedesign wird geleitet sein von Überlegungen zu möglichen neuen Herstellungs- und Nutzungsformen. Mit dem Druck der Probleme wächst die Sinnkrise im Design. Es gilt, für das noch unübersichtliche Verhältnis von Arbeits-, Freizeit- und Kommunikationsgesellschaft konstruktive Lösungen ästhetisch, sozial, ethisch zu skizzieren. Dazu sollen die Visionen und Überlegungen von praktischen Designern, Designtheoretikern und Kulturschaffenden im weitesten Sinne befragt werden. Um die Erweiterung von Theorie und Praxis im gestalterischen Bereich geht es in dieser Ausschreibung, um die Suche nach Modellen, Produkten, Definitionen, Vorschlägen, die uns ermöglichen, die Sicht auf die Zukunft gestalterisch zu erfassen, zu kategorisieren, Theorien und Konzepte zu entwickeln. Gefragt wird nach Stationen in einem offenen Prozess. Es gilt nicht, ein neues Geschmacksdiktat durchzusetzen. Es geht nicht um das große Pathos prophetisch vorgetragener Ideale, nicht um die Präsentation restlos definierter und ausgemalter Designleistungen und Lebensentwürfe, nicht um Festsetzungen und Fortschreibungen. Es geht um gedankliche und praktische Öffnungen, um Versuche, das traditionelle, veraltete Entwurfsdenken abzulösen. Konzentrieren wir uns auf Entwürfe, die mehr Identifikation zulassen, unsere Sinne stärker ansprechen, die eine allseitige Entfaltung der Persönlichkeit ermöglichen. Gestaltung verstanden als Ausbildung von Lebensräumen, Gegenständen und Einstellungen, die dem Einzelnen, der Gruppe und der Gesellschaft dienlich sind. Die Fortschrittlichkeit einer Kultur, auch in Architektur und Design, beruht auf der Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten und lebt von der Auseinandersetzung mit dem Andersartigen. Im Rahmen der 5. Forum-Ausschreibung des IDZ Berlin werden Beiträge erwartet, die diese sehr allgemeine Fragestellung mit Beispielen konkretisieren. Es kann sich um theoretische Beiträge sowie Entwürfe handeln, die die Diskussion um dieses Thema erweitern und vertiefen helfen. Gesucht werden: Produkte, Entwürfe, Modelle, Szenarien, didaktische Konzepte usw.

Geschrieben am 27. September 1985 in meiner Funktion als Vorsitzender des Arbeitsrates des Internatio­ nalen Design Zentrums Berlin (IDZ) als erste Fassung für die dann modifiziert erfolgte öffentliche Ausschreibung des nächsten, des 5. IDZ-Forum-Wettbewerbs.

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VOM ‚UNSICHTBAREN DESIGN‘ ZUM ­UNSICHTBAREN DESIGN – MEDIALE ­HERAUSFORDERUNGEN EINER AKTUELLEN ­DESIGNTHEORIE Nichts ist aufschlussreicher für Designtheorien als der Einbruch neuer Medien in Gestaltungsanstrengung und ihre historische Reflexion. Knappe, also zugespitzte Stichworte zur Lage eines aktuellen Theoriedesigns bieten sich an: Eine neue Aura-Süchtigkeit im Umgang mit Kunst zelebriert Abschottung und Sterilität, welche bestimmte vitale Themen nur noch als gegen solche Kunstpraxis gerichtete möglich werden lassen. Wenn Körper ein solches Thema ist, dann erscheint Kunst marginalisiert und auf Opposition verpflichtet, während die maßgeblichen Regulierungsmedien des Imaginären vorrangig mit ausgebufftem, visuellem Design zu tun habe. Das allerdings spielt sich eher am Rand der Gestalterdiskussion ab. Körper-Bilder zirkulieren in Permanenz, konformistisch, heiß und schnell. Mediale Artefakte schlagen direkt ins Innere der Menschen durch, kaum mehr abgeschirmt durch Filter eines Selbst, das zum Projektionsraum und Vakuum geworden ist. Die Behandlung der Körper und ihrer Bilder in Sport und Krieg ergänzen die Atemlosigkeit eines quälenden Umgangs mit dem eigenen Leib. Das Imaginäre hat sich im Reich des Medialen als ein Leitsystem verselbstständigt, dem gegenüber keine einzelne Existenz sich selber mehr genügen kann. Hochleistungssport ist – mit unverändert atavistischer Grausamkeit – an die Stelle älterer Rituale getreten, in denen, unterm Druck einer Gefolgschaft gegenüber der Autorität der Mythologien, ältere Generationen die leistungsfähigsten Vertreter nachstoßender Kräfte als Konkurrenten ausschalten. Das vollzieht sich im Grunde in einer schamlosen Liquidierung des Körpers und des daran anhängenden Lebens. Die lastenden Drücke der Selbstkontrolle und des Selbstzwangs, die täglich strikte Kontrolle erfordern, werden jeweils nur knapp entschädigt durch momentane, flüchtige öffentliche Inszenierungen. Die gesteigerte Grausamkeit in der Behandlung des Körpers – nicht nur im Hochleistungssport: Theater und Ballet sind derzeit eine Fortsetzung der sportlichen Quälerei mit anderen Mitteln – verrät nicht wenig über die Militarisierung unserer Symbolwelt, die wohl nicht so sehr einem absichtsvollen Handeln als vielmehr den Automatismen und der Logik phantasmatischer Bildmedien und ihrer Einwirkung ins Imaginäre entspringen. Die Indienstnahme der Produkte der Kunst für Marken- und Logo-Techniken in Öko­nomie und Kulturbetrieb propagieren einen Kunstbegriff, der Kunst als Werbung von vorgestern behandelt und die künstlerische Intervention auf das Konzeptuelle, die unplastische Ebene der Text-Bild-Beziehungen reduziert.

VOM ‚UNSICHTBAREN DESIGN‘ ZUM U ­ NSICHTBAREN DESIGN  303

Einblick Die Design-Euphorie der 1980er-Jahre ist – das zeigt der kurze Problemkatalog – verflogen. Und mit ihr auch die Vehemenz und Öffentlichkeit der Designtheorien, die sich als Zentrum der Erklärung der Gesellschaft im Ganzen wähnen konnten. Das ist aber kein Grund zum Jammern. Das avantgardistische Selbstverständnis der 1980er-Jahre, das alles als Designform betrachtet hat, teilt nämlich das Schicksal aller Avantgarden, die bekanntlich durch ihren Erfolg, nicht durch Scheitern und äußere Hindernisse zugrunde gehen. Kunst und Design in ihrem utopischen Kern setzen darauf, im Leben aufzugehen. Ihr Verschwinden ist der Ort, an dem ihr Erfolg sichtbar wird. Es ist die Absenz der Kunst und des Designs, an der sich ihr Erfolg im Hinblick auf ihre eigene, sie treibende Utopie vermuten lässt. Die Selbstaufhebung der Avantgarden ist das letztgültige Medium ihrer Verwirklichung. Ihr unvermeidliches Unsichtbarwerden erzwingt diejenige Gegenstandslosigkeit, die das Ende der Avantgarde als Erreichen ihres einzig möglichen Anspruchs auszeichnet. Ganz anders präsentiert sich zunächst die Lage bei den elektronischen Medien, den Instrumenten der international durchgesetzten neuen Kommunikationstechnologien. Hier greifen die für die Diskussion der 1980er-Jahre so hilfreichen Theorien vom ‚unsichtbaren Design‘ oder vom ‚intervento minimo‘, der Kultivierung des minimalen Eingriffs, schon deshalb nicht mehr, weil die physikalisch-technische Basis dieser Medien mindestens für menschliche Wahrnehmungszusammenhänge prinzipiell und ohne zusätzliche gestalterische Eingriffe den beiden Theoriemotiven auf das Präziseste entspricht. Wenn aber Gestaltungsnotwendigkeit nicht mehr aus der Indifferenz des Gestaltbaren erfolgen kann, sondern sich jenseits dieser abspielen muss, weil anders gar nichts entstehen könnte für Sichtbares, dann unterläuft das unsichtbare Design seine eigene Theorie. Das ‚unsichtbare Design‘ wird dann identisch mit dem, was einige der prominenten Medientheoretiker die Determinierung der Medien durch die aus der Kriegswissenschaft kommenden Logistiken und eine Vorherrschaft der Apparate über die Manipulationsmöglichkeiten der Programme genannt haben. Das Zauberwort der ‚Immaterialien‘ ist – so wenig es brauchbar ist für das, was es zu leisten behauptete: den Nachweis eines kulturellen Wandels im Ganzen – bezeichnend dafür, dass die Designkonzepte der 1980er-Jahre stehen geblieben sind. Das hat nicht nur mit einer sloganorientierten Publizistik zu tun, die erst in den 1990er-Jahren die neuen, telematisch-elektronischen Kommunikationsmedien entdeckt hat. Das hat im Kern auch zu tun mit der Substanz derjenigen Designtheorien, die sich – von den archetypisierenden ‚pattern languages‘ über Öko-Design, unsichtbares Design, minimaler Interventionalismus bis hin zur Neo-Expressivität als antifunktionales Formprinzip, Neo-Animismus und dem methodologischen Kult des Hässlichen im Kontext von ‚alchimia‘ und ‚Memphis‘ – als wesentliche Agenten einer endgültig aus dem Bauhaus-Trauma ausbrechenden neuen Legitimation des Gestalters erwiesen haben, obwohl bisher trotz des allgemeinen Booms systemischer Selbstreferenz ausgerechnet eine systemtheoretische Designtheorie ausgeblieben ist.

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Rückblick Die beiden herausragenden und für das neue Legitimationsprofil entscheidenden Theorien der 1980er-Jahre – wiewohl schon wesentlich früher angedacht – waren das ‚unsichtbare Design‘ und das ‚intervento minimo‘. Diese beiden Theorien haben zwei Seiten, von denen die eine in ihrer Problematik deutlicher geworden ist als die andere, auf die sich gerne berufen hat, wer die Macht und Legitimation von Gestaltern nicht auf die Herstellung nützlicher Dinge beschränken, sondern auf die Einrichtung machtrelevanter Kernbereiche von Hochtechnologie und Gesellschaft – Kommunikation, Technologie, Planung insgesamt – ausdehnen wollte. Nützlich war gewiss, Design als Regulierungsgröße von Handlungssystemen und nicht als polytechnische Sparte oder gar als ästhetische Formgebung von Natur-Ressourcen zu verstehen. Das hat aber überdeckt, dass sowohl die theoretische Beschreibung des Existierenden wie auch die minimalistische Veränderung des Gegebenen voraussetzen, dass Welt und Wirklichkeit bereits einmal, und zwar vollständig, geformt, eingerichtet, erobert und genutzt worden sind. Beiden Theorien fehlt also die Notwendigkeit eines vitalen Zugriffs auf eine defizitäre, als ungenügend oder schlicht auch als nicht-existierend empfundene Wirklichkeit. Beide Theorien sind insofern luxurierende Wiederholungen einer Wirklichkeitsaneignung, welche wie selbstverständlich vom Übermaß des Gegebenen ausgehen kann. Genau das hat diese Theorien für die 1980er-Jahre nicht nur erfolgreich gemacht, sondern auch mit den neo-expressiven Genialitätskulten des experimentellen Designs dieser Dekade verbinden können, die nur vordergründig ganz anderen Ziel gehuldigt haben. Ist nämlich einmal der Vorrang der Manipulation der Zeichen-Systeme vor den physikalischen Erscheinungsmöglichkeiten der im engeren Sinne als Design gefertigten Gebrauchsgegenstände anerkannt, dann lässt sich der Spieß auch umdrehen: Die Handlung, deren Muster vermeintlich die Physis der Dinge deshalb beherrschen kann, weil sie Bedeutungen für Menschen erst möglich und mitteilbar macht, sucht sich ein beliebiges Material, das Träger des vordem Unsichtbaren wird, wenn auch meist nicht gemäß den Kriterien des ‚intervento minimo‘.

Ausblick Nach der Designwelle der 1980er- und der philosophischen Ästhetikwelle der frühen 1990er-Jahre ist die Medienwelle als bisher letzte der designtheoretischen Paradigmenbehauptungen angesagt. Grundsätzlich sind natürlich Paradigmen(selbst)behauptungen nicht identisch mit den Paradigmen selber. Sie sind Reflexe des Imaginären, ein Spiegel medialer Wirkungen und somit Effekt ihrer eigenen Wirkungsmacht. Die mediale Wirkung erzeugt die Verbindlichkeit des Imaginären durch sich selbst. Die schiere Präsenz weltweit standardisierter, Sprachformen nivellierender, Abweichungen sanktionierender, alternative Bildentwürfe marginalisierender Kommunikations- und Imaginationsmedien erzwingt eine Beispielhaftigkeit, die das Medienparadigma durchaus plausibel erscheinen lässt. Die Designtheorie der 1990er-Jahre, dafür gibt es gute

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Gründe, kann nur Medientheorie sein. Diese wird fälschlich oft als letzte Möglichkeit aktueller Kulturtheorie, Geschichtstheorie, Philosophie etc. behauptet, was wenig plausibel ist. Designtheorie ist Medientheorie in herausragendem Maße, insofern Designtheorie auf die sozial dominanten Einflussgrößen bezogen bleibt und deshalb immer schon an Medien, wenn auch nicht unbedingt an einem konzeptuellen Medienbegriff orientiert gewesen ist. Die Medienfrage ist untrennbar von der Frage nach den theoretischen Rahmenbedingungen, die Designkonzepten – für die Einrichtung von Handlungen, Dingen, Kommunikationsformen, Räumen etc. – zugrunde liegen. Die Aktualität der Designtheorie in der Gestalt einer Medientheorie wirft ein zentrales Problem auf. Design und herkömmliche Designtheorie beschäftigen sich primär mit den Nahsinnen, Medien mit Telepräsenz, mit Fernanwesenheit. Design orientiert sich an der Vorhandenheit von Wahrnehmungen, Sinnen und Räumen ‚hier‘ und ‚jetzt‘, Medialisierungen nurmehr an einer Präsenz, die den Raum aufgehoben oder hinter sich gelassen, Zeit zu strikter Präsenz instrumentalisiert hat. Wo ein Späteres nicht mehr in Spannung zu einem Früheren stehen kann, sondern sich nur noch an den technisch banalen Abweichungen von Echtzeitübertragungen reibt, dort gibt es auch kein ‚jetzt‘ mehr. Die Abtastung der Signale folgt nicht mehr der zeitlichen Sukzession, sondern dem binarisierten Unterschied von Präsenz versus Absenz, in welcher Umwandlung auch die Differenzleistungen des Körperlichen in Abstraktionen gezwungen werden und der Körper zunehmend ausfällt, ohne allerdings wirklich zu verschwinden. Er zerfällt als Signifikat, nicht als Ding an sich, vor aller Augen und in aller Öffentlichkeit. Er zerfällt durch seine Funktionslosigkeit, aber auch an der Gewalt der verpflichtenden Leitbilder, dem umstandslosen Durchschlagen des Imaginären ins Innere der Menschen. Das Beschwören des zerfallenden Körpers ist zunächst, wie wir spätestens seit Lacan wissen, eine Metapher für die Vorherrschaft der Schrift, also dasjenige Reich des Symbolischen, das besonders widerstandslos dem Zugriff der Apparate ausgesetzt ist, oder, anders betrachtet, aus freien Stücken gerade auf diese hinarbeitet. In aktuellen Medientheorien, die an dieser Stelle die Grenze zum unverhüllt Metaphysischen schnell überschreiten, tritt ebenfalls die Denkfigur der Obsoletheit oder des Zerfalls des Körpers auf. Verschiedenes ist damit gemeint, das an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden muss. In Abgrenzung zu solchen Theorien wird ein Ausdruck wie ‚zerfallender Körper‘ hier nicht mit empirischem Anspruch gebraucht, sondern im Hinblick auf seine metaphorisch-diskursive Funktion. Der zerfallende Körper ist ein Element des rhetorischen Feldes, das Bilder und Funktionen der natürlichen Leiblichkeit einschreibt, um damit spezifische soziale Regulierungen am inszenierten, nämlich zur Sprache und in Bilder gebrachten Körper vorzunehmen.

Medienblick Für eine Designtheorie, welche die entschiedenen Postulate von ‚pattern language‘, ‚intervento minimo‘ und ‚Design ist unsichtbar‘ für eine Dekade rückhaltloser telematischer Mediatisierung weiterentwickelt, sind die in den drei Positionen als gemeinsamer

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Nenner benannten Aspekte der Immaterialisierung und der Vernetzung der Problemstellungen nicht mehr Ausdruck einer strategischen Intervention oder eine Leistung der Anwendung eines Theoriebewusstseins auf die Empirie, sondern schlicht ein technologisch erzwungener Sachverhalt. Was gegenüber den ökologischen, funktionalen und politisch-ökonomischen Systementwicklungen der 1970er- und 1980er-Jahre noch Ausdruck eines transformierenden Bewusstseins war, erscheint nun auf die Ebene eines Aprioris verlagert, das gerade nicht mehr die Aufhebung der Expertenkulturen verspricht, sondern eine neue, intensive Spaltung zwischen Programmierern und Anwendern zementiert. Nur für kompetente Programmierer stehen die alten theoretischen Postulate zur Disposition, nicht mehr für die Sicht der Nutzer. Ob diese je die postulierte frühere Nähe zur ästhetischen Kompetenz einer Systemeinrichtung ‚von unten‘ wiedergewinnen können, ist äußerst fraglich. Und ist mit der Einführung von Windows 95 gar nahezu unvorstellbar geworden. Denn mit Windows 95 wird eine Daten- und Medienkontrolle durch einen ‚Anbieter‘ möglich, wie sie vordem selbst in absolutistischen Herrschaftsverhältnissen undenkbar gewesen ist. Was im ‚intervento minimo‘, im unsichtbaren Design und der Vernetzung der Handlungssysteme zur ‚pattern language‘ zusammenläuft, ist nunmehr strikt dem Zugriff der Ingenieure vorbehalten. Das aber scheint erstmals die so lange bloß erträumte apriorische und absolute Verfügungsmacht der Experten über die Nutzer möglich zu machen, welcher Traum ‚die Moderne‘ hieß. Bei Windows 95 sind die Voreinstellungen verschwunden, in die Systemlogik eingebaut, welche Hardware und Software nicht mehr unterscheidet, weil jede Nutzung telematischer Apparaturen den vollkommen vernetzten Zugriff auf einen multi-medial integrierten Benutzer-Arbeitsplatz bereits voraussetzt. In diese Systemlogik sind die intelligenten, also anpassungsfähigen persönlichen Navigatoren schon einprogrammiert. Was derart in die System-Software eingebaut ist, die kein Programm mehr ist, sondern nichts weniger als die gesamte vermittelte Kommunikation, erfüllt also die designtheoretischen Bedingungen des unsichtbaren Designs, realisiert dieses aber ausschließlich auf der Seite einer Expertenkultur. Zwei Dinge ­allerdings sind auch in dieser Variante eines systemtheoretischen Selbstreferenz-Absolutismus nicht determiniert: die Möglichkeiten einer künstlerischen Bearbeitung der Systemprogramme und die Präsenz des, zunächst ausgesparten, Leiblichen.

Kunstblick Künstler werden jedem vorgefertigten Daten-Design – schon aus Prinzip – misstrauen und Gesichtspunkte der Inszenierung ins Spiel bringen, die gerade den Prozess der Wissensgewinnung auf freigeräumten Landkarten bisheriger Episteme mit spielerischen Neuprägungen in andere als die gewohnten Richtungen lenken können. Künstlerische Experimente sind hier durchaus in der Lage, als Vorreiter einer Designerneuerung Ansprüche eigentlicher Grundlagenforschungen zu besetzen. Denn die Kunst arbeitet mit Neuschöpfungen von Begriffs- und Vorstellungssystemen, zu denen I­ngenieure und

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Programmierer weder in der Lage sind noch zu sein brauchen. Poetische anstelle von informationeller, Sprache ausweitender anstelle der reglementierenden und standardisierenden, innovative an die Stelle von reduktiven Ausdrucksvermögen zu setzen, ist eine Aufgabe künstlerischer Arbeit auch im sogenannten Informationszeitalter. Neue Parameter in unbekannten Territorien müssen entwickelt oder, umgekehrt, alte Parameter in bekannten Kartografien verändert werden. Die Philosophie der Navigation ist keine Domäne eines Designs, das sich als Marketing vermeintlicher Trends versteht, sondern die Domäne einer Kunst, welche Designleistungen erst wieder zutage fördern muss. Diese Leistung aber vollzieht sich nicht mehr in den gewohnten Attitüden des Kreativen oder Expressiven, sondern an den Schnittstellen von Wissenschaft, Mathematik und Informatik. Gruppen wie ‚knowbotic research‘ führen exemplarisch vor, was ästhetisch-künstlerische Aneignung computerwissenschaftlicher Qualitäten für die ­ Entwicklung wissensrelevanter Programme bedeuten können. Für Benutzer, die keine andere Wahl haben als diejenige, welche hoch kompetente Ingenieure ihnen im unsichtbar gewordenen Systemdesign aufzwingen, gibt es, entgegen aller Medientheologie vom verschwundenen Körper und gegen alle digitalen Heilslehren, welche telematisch unbegrenzte Junggesellenmaschinen versprechen, eine Instanz, die zwar nicht die Information zugänglich, wohl aber ihre Unterschiedenheit von Kommunikation evident macht: Leib und Körper. Es erweist sich, dass Design eine Instanz der Nahsinne gerade im Informationszeitalter sein oder wieder werden muss. Auf Körper und Leib verlässt sich ein Urteilen, das sonst keine Instanz mehr haben kann. Mag sein, dass dieses Vermögen gänzlich individuell, idiosynkratisch und dem Willen nicht ohne Weiteres zugänglich ist. Aber es bezeichnet den einzig möglichen Echoraum konkreten singulären Handelns: die Vergesellschaftung der Nahsinne. Das ist kein Plädoyer für Aisthesis als traditionale Wahrnehmung, sondern markiert den Ansatz einer Designtheorie, welche den Durchlauf durch die Medien absolviert hat und deren Probleme nicht mehr nach dem Modell einer normfähigen Erzeugung der Dinge bewertet. Mit dem Zwang der Versprachlichung aller Produktion, gerade auch der visuellen und informationellen, ergibt sich der Zwang einer intensivierten Vergesellschaftung der Kriterien für die Nutzung der so gewonnenen Sprachlichkeit. Für designorientierten wie künstlerischen Gebrauch telematischer Medien ist deshalb jede handlungsrelevante Theorie gezwungen, hybride Konstruktionen zwischen Beschreibung und Propaganda, Theorie und Praxis, Analyse und Spekulation, Semantik und Apparate nicht nur zuzulassen, sondern intensiv zu suchen. Diskursive Praxis und poetische (also zunächst nicht-diskursive) Konstruktion verbinden sich zu einer nicht auflösbaren Einheit. Die entscheidende Provokation eines gegen restlose Mediatisierung insistierenden Leibes ist die Rückgewinnung der Eigenzeit des menschlichen Systems ‚Organismus‘ gegen die Eigenzeit des Computersystems, welche Echtzeit zwischen modellierendem Input und modelliertem Rechenprozess anstrebt. Keine Kulturtheorie bietet da einen Ausweg. Erst recht nicht die angesichts der offensichtlich zu größten Teilen erbärmlichen Medienproduktionen wieder so verführerische Bemühung einer hohen gegen eine niedrige, einer emanzipativen gegen eine konsumistische, einer humanistischen gegen eine vulgäre Kultur. Anders gesagt: eine

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Neu-Auflage der ‚guten‘ gegen eine ‚schlechte Form‘, die sich zuweilen selber als eigentliche Bestimmungsgröße, als avantgardistisches Maß ausgeben mag. Die ‚gute Form‘ wurde nämlich gerade im Kontext der Ästhetiken des Banalen und des unsichtbaren Designs von einer Apologie der hässlichen Form abgelöst. Das aber geht entschieden an den Problemen der Medienproduktion wie wohl auch generell an der Herstellung der Bedeutungen auf der sozialen Bühne der Attraktivitäten und des Spektakels, der Inszenierung und Modellierung von Körpern und Selbstbildern vorbei. Wer noch die Theologie der ‚schlechten‘ gegen den vermeintlichen Instrumentalismus der ‚guten Form‘ propagiert, der hält immer noch an einer Theodizee der willentlichen Formung der Welt und an einem modernistischen Technizismus fest. Da es ein Leichtes wäre, gerade diesen Gedanken auf die Medienrealität der Gegenwart zu projizieren, seien dazu abschließend einige Gedanken formuliert – mit dem Interesse, die heillose Verschwisterung der Pole in der Dialektik der ‚guten‘ gegen die ‚schlechte Form‘ durch die Konstruktion von Hybriden, von Gemischen und Gemengen abzulösen. Hybride kultivieren Kontingenzen. Diese haben ihren Eigenwert in sich und dienen nicht nur als Stofflieferanten für eine Didaktik des Guten oder eine Mythologie des Bösen, die beide auf die Symmetrie normativer Wertsetzungen fixiert bleiben. Moral erweist sich eben immer, wenn auch zuweilen eher hinterrücks, als unteilbar und letztlich lästig, wenn sie ausschließlich die Zwecke menschlicher Autonomie beglaubigen soll.

Formblick Das Plädoyer für die ‚schlechte‘ ist insgesamt so moralisch wie das für die ‚gute Form‘. Geändert haben sich nur die konjunkturellen Einschätzungen der Rolle des Gestalters in einer Welt, die weder Gestaltung ermöglicht noch Nicht-Gestaltung zulässt. Die Koppelung von Moral an schlechte Form reicht nicht für den Aktualitätsdruck des Ästhetischen. Zu drastisch wirkt der Abschied vom Prinzipiellen gegen jedes Moraldiktat. Wir sind, es mag schmerzlich sein, nicht über den Problemstand des 19. Jahrhunderts hinausgekommen. Das stört uns, weil wir uns diese Zeit als zunehmend fremde vorstellen möchten. Positivismus und lineare Vernunft sind auf schreckliche Weise in ihr Gegenteil umgeschlagen. Die Kippfigur von Utopie und Wahnsinn gehört längst zum etablierten Repertoire unseres kulturellen Meinungsaustauschs. Als Strandgut jüngeren Datums finden wir im Ausgang aus einem unsittlich gewordenen Prinzip Fortschritt auch die Konfiguration der ‚guten‘ gegen die ‚hässliche Form‘ vor. Die grundsätzliche Entdeckung des Hässlichen als ästhetisches Prinzip gehört jedoch bereits zu den zentralen Denkfiguren des letzten Jahrhunderts. Karl Rosenkranz unternahm in der Ästhetik des Hässlichen 1853 den Versuch, die empirische Eigenständigkeit des Gemeinen und Widrigen, Unheimlichen und Obszönen der Kategorie des Schönen und Guten prinzipiell und unbedingt unterzuordnen. Wenige Jahre nachdem – bei Chateaubriand – zum ersten Mal in der Geschichte des Begriffs ‚modern‘ von Modernität als einer reinen Selbstbezogenheit ohne Rekurs auf eine ‚Antike‘ die Rede war und

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wenige Jahre bevor – bei Baudelaire – das Hässliche, Böse und Kriminelle als gleichberechtigte Wege poetischer Ausdrucksfindung neben das Schöne treten, das seinen unbedingten Vorrang damit verliert, versucht Rosenkranz, das Hässliche als Heteronomes, als bloße Abirrung zu denken. Das wäre weiter nicht bemerkenswert, würde Rosenkranz’ Unternehmen nicht von der sichtlichen Lust und Faszination an Phänomenen des Hässlichen getragen. Zwar spricht er dem Hässlichen jede Autonomie, erst recht den Status des Absoluten ab. Es sei bloß relativ, eine ‚Negativform des Schönen‘, habe keine Kraft positiver Setzung. Im Übrigen regeneriere das Schöne sich auf dem Umweg über das Hässliche, weil dieses nur eine empirische, keine ideelle Kraft habe. Das Schöne bleibt auch bei Rosenkranz das Primäre, absolut Vorrangige. An der Moralisierung des Bösen scheiden sich die Geister seit Langem. Ob allerdings die Beschwörung des Bösen als einer absoluten und autonomen Instanz mehr ist als eine vom Schrecken des Handelns entlastende Diffamierung einer ‚didaktischen Ästhetik‘, scheint doch äußerst fraglich. Die Beschwörung des Bösen ist keine Tat, sondern eine Metapher. Allzu viele haben nicht der Obsession des Realen, sondern bloß dem metaphorischen Charme des Dekadenten gehuldigt. Aufseiten der Gestalter jedenfalls ist es längst nicht nur opportun, sondern geradezu geboten, mit dem Verweis auf den Platonismus der guten Form entweder den Stil der Moderne oder umgekehrt gerade deren Scheitern zu identifizieren. Ein Leichtes also, den mittlerweile klar aufgelisteten Ausweglosigkeiten der ‚guten Form‘ die Hoffnung auf deren Negativfigur entgegenzusetzen. In der Tat macht die ‚gute Form‘ ja nicht bloß den Konsumkapitalismus der 1950erJahre als utopistisch verbrämte Wissenschaftsgläubigkeit sichtbar, sondern auch die Vorgeschichte moderner Gestaltungstheorie als eigentliche Naturgeschichte der Naivität kenntlich. Wer die einschlägigen Traktate der Modernisten liest, kann sich nicht erklären, weshalb erkenntnistheoretische Haltlosigkeiten, die rationaler Vernunftkritik nicht zu genügen vermochten, im Bereich der Ästhetik und nicht dem einer Neurosenlehre der Zwangsmoral diskutiert worden sind. Diese Zeiten einer gepflegten Naivität sind endgültig vorbei – wer heute gegen die ‚gute Form‘ das Lob der ‚schlechten‘ anstimmt, der bewegt sich auf demselben Bewusstseinsniveau wie die ästhetischen Positivisten der totalitären Lebensplanung im Namen des Guten und Wahren. Denn er glaubt immer noch an eine konsistente Methodologie. Perspektivenreich aber sind nicht mehr Dekrete wie das Plädoyer für Banaldesign und den Kult des Hässlichen (Alessandro Mendini), das sich nicht mehr als Negativform des absolut Schönen, sondern als autarke Größe sieht. Das Problem ist nicht mehr die Selektion von ‚gut‘ und ‚schlecht‘, ‚schön‘ und ‚hässlich‘, sondern die Unvermeidlichkeit des Herstellens und seiner Produkte. Ob gut oder schlecht, methodologisch abgestützt oder nicht: dass schöne und hässliche Dinge, Häuser, Tassen, Stühle, Städte geschaffen werden, ist eine Apriori-Wirklichkeit und unvermeidlich. Das besagt, dass, unabhängig von Niveau-Anstrengungen die Herstellung der Dinge und Bedeutungen grundsätzlich nicht mehr an Unterscheidungen wie ‚gut‘ und ‚böse‘, sondern einzig in einer meta-­theoretischen Reflexion festgemacht werden kann. Zu dieser gehört nicht die Zurückweisung der ‚guten‘ im Namen der ‚schlechten Form‘, sondern die Einsicht in unvermeidliche Kontingenz und Komplexität. Kontingent ist, was weder notwendig noch

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unmöglich ist. Kontingenz verweist nicht auf binäre Codes, sondern auf Kontexte: ‚gut‘ ist ein Verweis auf Kontexte. Was Kontingenz leistet, ist leicht zu verstehen: die Formulierung des jeweils höherstufigen, eines komplexitätssteigernden Kontextes. Die Inversion der guten zur schlechten Form hat gewiss den Vorteil, Gestaltungspraktiken beliebig, meist zu recht, diffamieren zu können, wenn auch nicht mehr ganz klar ist, was Gestaltungspraktiken überhaupt noch leisten können, wenn schon die Entstehung der Welt aus der Sicht der Genesis nichts anderes gewesen ist als eine kontingenzabweisende und eher mühsame Selbstbeschwörung der guten Form. Aber diese Inversion tut so, als ob überhaupt eine Wahlmöglichkeit bestünde, als ob wir die Option hätten, zwischen der ‚guten‘ und der ‚schlechten Form‘ zu wählen. Das ist gerade nicht der Fall. Es könnte ja durchaus sein, dass auf der Ebene der Meta-Reflexion Gestaltung gar nichts autonomes ist – weder für die positive noch die negative Theologie des Geschmacks. Immerhin steht die Aufgabe an, die Theodizee-Problematik der Gestaltung grundsätzlich zu überwinden. Wenn klar ist, dass die frühere Gutgläubigkeit positiven Gestaltungsdenkens heute im Lager der ‚schlechte-Form‘-Apologeten Unterschlupf gefunden hat, weil die unendlich oft erzählte Geschichte von der Selbstblamage des Wissenschaftsdesigns der guten Form nicht einmal mehr als Witz funktioniert, dann verschärft sich das Problem einer moralischen Gängelung des Ästhetischen ein weiteres Mal. Auch die Anbeter der ‚schlechten Form‘ – also diejenigen, die wissen, wie die Säuberung von Aufgaben wirklich aussieht, weil sie den blinden Fleck der ‚guten Form‘ kennen – haben ihren, mittlerweile ebenso prominent wie obsolet gewordenen Platz in der Geschichte der Ästhetikabwertung gefunden. Den aktuell entscheidenden Problemzusammenhängen kommt die in zäher Hassliebe ihrem Gegenpart verhaftete Feier der schlechten Form und der inszenierten Hässlichkeit als der einzig zeitgemäß möglichen Schönheit jedenfalls nicht mehr bei.

Geschrieben am 19. September 1995; erschienen unter dem Titel „Vom ‚unsichtbaren Design‘ zum un­ sichtbaren Design. Mediale Herausforderungen einer aktuellen Designtheorie“ in: Michael Erlhoff (Hrsg.), Zwischen Form und formlos. Zur Not und den Grenzen von Gestaltung, formdiskurs. Zeitschrift für Design und Theorie, N° 1, (Verlag form), Frankfurt a. M., I/1996.

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‚STYLE & DESIGN‘: ÄSTHETISCHE BETRACH­ TUNGEN ZU EINEM PERFORMATIVEN ­MODELL IN DER AKTUELLEN GESELLSCHAFT DER ­SPEKTAKEL UND SEINEN WEITGREIFENDEN THEORETISCHEN VORAUSSETZUNGEN 1 Vorbemerkung Hinter den Kulissen des Zeichentheaters der heutigen Spektakelgesellschaft wird immer wieder der Leitsatz von George Louis Leclerc, Comte de Buffon, aus dem Zeitalter der klassischen Aufklärung verhandelt, Stil sei das, was der Mensch der Natur aufzuzwingen vermöge. Kürzer gesagt und Buffon als Original untergeschoben: „Le style c’est l’homme.“ Das Studium der Naturgeschichte, insbesondere der Lebensgewohnheiten der Tiere hat Buffon zur Fundierung des Entwurfs des Menschen in einer Anthropologie der Mediatisierungen und Artefakte gebracht. Der Stil als Selbstentwurf ist seither das wesentliche Medium, in welchem jeder Gestaltungsvorgang des Menschen an diesem selbst zur Reflexion wird – zwangsläufig und unvermeidlich. Jede Stilisierung ist als Entwurf ‚disegno‘ und in diesem eine theoretische Konstruktion, welche, gleichursprünglich und gleichzeitig, zur Konstruktion der Theorie zwingt. Es geht in diesem Beitrag deshalb ausdrücklich um die Tragfähigkeit einer theoretischen Typologie, welche die Zusammenhänge nicht ästhetisch oder epochal, also auch nicht phänomenal beschreibt, sondern in ihrer Exemplarik als Ausdruck theoretischer Modellierungen versteht, die ihrerseits – wegen der knappen Ressourcen menschlicher Fantasie – gar nicht so neu sein können, wie sie das behaupten oder gerne auch wären. Das zu verhandelnde Thema bedarf also nicht nur der kulturgeschichtlichen Betrachtung oder einer genauen Analyse von Phänomenen, vorzüglich solchen, die man für neu oder einzigartig hält. Auch geht es keineswegs, wie üblich, um die Akzentuierung von aktualen Bedeutungs-Schöpfungen oder reizvoll behaupteten Neuheiten. Es geht nicht um neologistische Bezeichnungen, nicht um innovative Betrachtungen und auch nicht um eine immer weiter gesteigerte Ethnografie des alltäglich Reizvollen, Interessanten und Übertriebenen, des Devianten und Skurrilen, Exotischen oder ganz einfach ‚Anderen‘. Jede Gegenwart ‚meint‘ nämlich nicht nur jeweils ‚noch eine andere‘, sondern entfaltet ihre Kraft vorrangig durch Umbau derjenigen Konstellationen, in denen die vermeintlich kausal wirkende Zeitenfolge – also die Bestimmung des Späteren oder der Effekte durch ein Früheres – sich in eine Konstellation von Ungleichzeitigkeiten verwandelt. Womit die eingeschliffene Ordnung der Zeitenfolge zumindest für eine Weile aufgehoben wird. Deshalb sind das Thema der Stilisierung und die kulturgeschichtlichen Konsequenzen einer Stiltheorie gerade für die Selbststilisierungsattitüden der aktual ange-

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heizten Epochenempfindungen zentral, auch wenn sie dem drängenden Verdacht ausgesetzt wird, sie seien veraltet, ‚démodé‘ wie Buffon, die Aufklärung, das Bürgertum, die Utopie, die ‚großen Erzählungen‘ und überhaupt alles Gewesene. Die derzeit durchaus im Geiste des bilderstürmerischen Futurismus auf einen Neuheitswert des Wortklangs setzenden Behauptungen beispielsweise des Performativen und die schon länger andauernde Debatte um die kritische Theorie der Zeichen in einer ‚Gesellschaft des Spektakels‘, erst recht aber die Debatte um Fiktion und Authentizität sind vor einem solchen typologischen Hintergrund zu betrachten. Es erweist sich bei näherem Hinsehen deshalb, dass Stiltheorie auf eine historische Anthropologie des Medialen zwecks Selbstdifferenzierung der Befähigung zum Artifiziellen hinarbeitet, die sich ihrerseits im Stilempfinden differenziert und bezüglich einer Theorie von Stil und von Design als Prozess zu erörtern ist.

2  Einleitung: Vom Stil der Authentizität: Sekundäre Stilisierung als Mystifikation einer Ursprungsbehauptung Generelle Voraussetzung des allseitig beobachtbaren, geradezu verzweifelt euphorisch herbeigesehnten Wunsches nach Steigerung des Authentischen, des Egozentrischen, Eigentlichen und Spektakulären, also nach souveräner Selbststilisierung im Zeitalter der Spektakelkultur, bildet die ganz in Opposition dazu verlaufende Tendenz einer vollkommenen Entmächtigung des Subjekts. Wenn Autos und Häuser immer ‚intelligenter‘ werden, ist es mit der Selbststeuerung des Menschen kraft eines Selbstentwurfs im Zeichen des Designs, also einer methodisch gestaltenden Technik des Artifiziellen, nicht weit her. Es gibt heute soziale Konstanz allein im Maße der Erschütterung. Anzeichen eines grundsätzlichen Wandels werden vom Wandel selber überholt, und der Wandel wiederum ist den Anzeichen seiner erschütternden Überwindung durch den nächsten Bruch immer dicht auf den Fersen. Man geht also nicht falsch in der Annahme, dass die radikale Kränkung des Menschlichen oder Subjektiven eine vehemente Dissimulierung solcher Entmächtigung geradezu obsessiv verlangt, hängt doch der Erfolg der Leugnung ganz einfach davon ab, dass möglichst viele Individuen sie praktizieren, was seinerseits von der Energie und Vehemenz abhängt, mit der sie das vor sich und den anderen tun, zwecks Legitimationssicherung mittels einfacher gegenseitiger Bekräftigung der Intention in jeweils möglichst nur einer einzigen identischen Hinsicht. Dazu liegen kulturell einschlägig codierte Erfahrungen vor. Benettons visuelle Kampagnen der 1980er-Jahre haben das Authentische auf der Ebene der Objekte erschüttert und der ‚hohen Kunst‘-Sphäre ein Privileg genommen. Es ist nicht mehr das Werk, sondern die Methode, die darin originär und originell zugleich geworden ist, auch wenn Oliviero Toscani sie zunächst der Kunstsphäre entliehen, dann aber konzeptuell eigenständig transformiert hat. Dass das Authentische aus dem Reich der Massenmedien und dem Mainstream der Popmusik in den letzten Jahren restlos verschwunden ist und nicht einmal mehr als Schein vorgespielt wird, markiert einen

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f­ olgenreichen Einschnitt, der nicht den auf ihre Imago, auf das enteignete Bild reduzierten Stars geschuldet ist, sondern der egozentrischen Entfesselung der zu nahezu jeder Selbstüberlistung bereiten Rezipienten. Alles stimmt, sofern nur der Star als Bild anwesend ist, was wiederum davon abhängt, ob genügend Gläubige unter sich und mit sich sind, die ein Hier und Jetzt als Letztes und Einziges feiern. Es ist wie mit Rom, Santiago de Compostela, Chartres, Tschentschochau und Lourdes. Madonna singt nicht mehr auf der Bühne? Kein Problem, niemand tut das und erwartet das noch: „Es gibt kein richtiges Live im falschen.“1 Das hätte sich Bill Graham, der in gewisser Weise den Authentizitätsfetisch der Live-Konzerte Mitte der 1960er-Jahre erst erfunden hat, nicht träumen lassen.2 Denn: „Ob der Star – sei es Britney, Kylie oder Madonna – singen kann oder nicht, ist den Fans im Moment des Live-Erlebens nicht wichtig; er ist für sie da, will angeschaut werden – das ist, was zählt. So verhält es sich ja eigentlich immer bei der Bewunderung von Stars, seit die weiblichen Fans der Beatles ihr Interesse an der Band durch ein ohrenbetäubendes Kreischen bekundeten, das die Musik selbst verschluckte.“3 Die Band muss überhaupt nicht mehr spielen, der Sänger nicht singen. Es reicht die glaubhafte Vortäuschung des Perfekten, sofern alle wirklich real da sind oder solche Realität täuschend echt fingieren: Kommunion und Liturgie sind allenthalben und so auch hier wichtiger als die ‚Kunst‘. Authentizität wird eine Frage der Form und der Kontrolle des Repertoires der konstitutiven Elemente von deren Inszenierung. Auch das entscheidet sich aus der Perspektive der Konsumenten und der Rezeption. Dass alles Spektakel ist, ist relativ neu.4 Dass es nur noch auf dessen Form5 ankommt, markiert eine Mythisierung und Mythologisierung auf erweiterter Stufenleiter. Die Herrschaftsverhältnisse haben sich verdreht, und so herrscht vorerst scheinbar ewiger Karneval,6 paradox, da scheinbar ‚auf Abruf dauerhaft‘. Der Star hat sich den von ihm ursprünglich imaginierten und geschaffenen Kriterien ohne Vorbehalt selber zu unterwerfen. Hat er früher sein Leben verloren, wenn er sich dem selbstinduzierten Zwang entziehen wollte, so reicht heute die perfekte Assimilation an das von ihm geschaffene Bild. Ist der Star nichts mehr als die Imitation des Bildes seiner selbst, so wird in rasender Geschwindigkeit das je neu Geschaffene von den Rezipienten auf die echte Assimiliation, also die verbürgte Echtheit der Imitation der Imitation verpflichtet, ausgeweitet und reduziert zugleich. In diesem weiten Horizont spielt sich derzeit alle Betrachtung des Authentischen ab, auch das in den bildenden Künsten, die ihrerseits zum, wenn auch immer noch marginalen, Teil der Spektakelinszenierung geworden und qualitativ dem nun entschieden zuzurechnen sind. Authentizität ist jedoch nicht nur in und gegenüber den Künsten erschüttert, sondern mehr noch durch diese. Das gilt besonders für das in den letzten fünfzig Jahren (wiederum, im weitesten Sinne, seit dem, was man man Pop Art nennen kann) drastisch gewandelte Verhältnis der Künste zu den Medien, zu Gesellschaft, Alltagskultur und Lebenswelt, um konventionelle oder gar altmodische Begriffe zu wählen. Den zahlreichen von dort herrührenden, sie selber radikalisierenden Irritationen, Revokationen und Provokationen antworten die bildenen Künste zunehmend mit Methoden und Praktiken, die nicht mehr auf die körperliche Präsenz des Kunstwerks als das Dasein oder die Spur des Rätselhaften verweisen, sondern die den Künstler ebenso wie den künstlerischen

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Prozess, also Urheberschaft, Werk und Wirkung auf den Rezipienten verschieben und zum Material des Authentischen machen. Das führt trotz aller Insistenz auf der physikalischen Evidenz nicht mehr direkt zu einem am Material greifbaren, komplexen Prozess. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang, der über keine allseitig anerkannten Figuren und Figurationen, Repräsentationen oder Inkorporationen des Authentischen mehr verfügt. Der darin zum Ausdruck kommende Wandel im Themenfeld des ‚Authentischen‘ verweist, in zeitgenössisch zugespitzter Weise, also evident akzeptiert oder vehement bestritten, auf weit zurückreichende Grundlagen des Verhältnisses von Design- und Stiltheorie. Dieses wird hier nicht in erster Linie historisch, sondern als Ausdruck einer Theoriekonstruktion behandelt, als ein Problem der, mit Kant zu sprechen, bedingenden Beziehung auf Ermöglichung von Erfahrungen, in transzendentaler Hinsicht also. Empirie erscheint hier durchgängig gestiftet durch solche typologisch zu verstehenden Kon­struktionsbedingungen eines theoretischen Verständnisses. Und zwar unabhängig davon, ob solches sich explizit ausdrückt oder nur implizit, also ohne weitere Wahrnehmung oder Begründung, bestimmend wirkt.

3  Theorie als Voraussetzung: Anthropologie der Artefaktbildung Was lässt sich über theoretische Voraussetzungen der Gestaltung oder über Voraussetzungen von Gestaltungstheorien aussagen? Gibt es, streng genommen, nicht bloß eine einzige Theorie, wenn wir darunter den Orientierungszusammenhang der Menschen in der Welt verstehen? Gibt es außer dieser einen Theorie noch besondere Theorien, jene der Gestaltung – nicht ein, sondern mehrere, jeweils für einen Einzelfall zurechtgestutzte und zurechtimprovisierte? Gibt es die Theorie im Kopf des Gestalters, Theorie in den Köpfen der Gestalter, gibt es Theorien in den Köpfen der Benutzer? Decken sie sich? Sind die Codes identisch? Liegen die Dinge als mit sich selber identische, demnach unberührt, irgendwo in der Mitte? Eine Theorie muss mehr sein als eine Rechtfertigung dessen, was man – aus welchen Gründen auch immer – tut; mehr sein als eine Technik zur Absicherung technischer Prozesse. Die Theorie könne, so ist immer öfter zu hören, keine mehr sein, in der alles, was theoretisch bedeutsam ist, also nicht sinnlich, sondern nur abstrakt fassbar, vereint werden kann mit dem, was uns an Inhalten von Dingen und Handlungen eben gerade sinnlich, wenn nicht greifbar, dann immerhin erfahrbar geworden ist. Worin bestehen die konstruktiven Leistungen der Sinndeutung? Was geschieht, wenn wir doch Grund genug haben zu sagen, die Vernunft unserer Begriffe raube unseren Sinnen ihre eigene Welt und werde blind, wenn sie nicht instinktiv mit den praktischen Leistungen des praktischen Verstandes gekoppelt sei?7 Der Konflikt zwischen der Theorie und dem Sinnfälligen ist der Streit um die Sinnzuschreibungsbedingungen gegenüber einer Mitte, in der sich jene Quellen anthropologischer Gewissheit schneiden. Diese Mitte ist traditionell das Modell der Vermittlung,

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und die gesamte Geschichte der Philosophie lässt sich als solches Modell einer anthropologischen Vermittlung lesen, die ihren Erkenntniszuwachs als Zuwachs an Krisenbewusstsein definiert. In dieser Mitte sind unsere ästhetischen, technologischen und politischen Vorstellungen immer noch geprägt von der antiken Konzeption einer Harmonie des Ausgleichs. Es ist das Kennzeichen von ‚Welt‘ schlechthin, also einer bereits bedeutsam transformierten ersten Wirklichkeit zu einer Sphäre kollektiv strukturierter Erfahrungen, dass in ihr die Menschen sich zu einer Gesellschaftsform vermitteln, in der die Weisen der Bezüge ständig mit verändert werden. Genau das hat den Reiz der dinglichen Materie, des objekthaften Andauerns als des beständigen Werts des Dinglichen verstärkt. Die Dinge, die dem Schöpfungsmythos entsprungen sind, werden für die Nutzer gerade nicht Entwürfe sinnbildender Verständigung, sondern zu Fluchtlinien der individuell verfügbaren, festen und konsistenten, beherrschbaren Materie. Das Individuum hat vorrangig vermittels der Gegenstände mit seiner gesellschaftlichen Umgebung Kontakt. Die Anwesenheit der Gesellschaft im individuellen Lebensfeld bestimmt sich dadurch, dass natürliche Objekte durch künstliche Produkte ersetzt werden. Oder umgekehrt: dass die Erzeugung der künstlichen die Darstellung der natürlichen Objekte zu einem Resultat eines synthetischen Arrangements macht. Dinge als gesellschaftliche Produkte zu lesen entzieht sich in der Regel dem individuellen Blick. Es tritt das ein, was man die Fetischisierung der Dinge nennt. Die Individuen treten gegenüber einer aus Waren und abstrakten Leistungen bestehenden mechanischen Kultur in den Hintergrund. Das kann man aber auch so lesen, dass die Individuen sich der Illusion einer festen Identität entledigen und in dem Maße an die Nutzbarkeit kultureller Ereignisse sich anschließen, wie sie selber sich nicht mehr als Individualität begreifen können. Der Anteil des Mechanischen würde dann beitragen zu einer gesellschaftlichen Einrichtung von Betätigungen, in denen die Menschen sich gewissermaßen auf dem Niveau ihrer ihnen unbewusst eingelagerten Automatismen bewegen könnten. Es geht deshalb in allen Überlegungen um Stil – Setzungen, Behauptungen, Verwerfungen, Negationen, Modifikationen – immer um das Verhältnis eines gesetzten Menschlichen zu einem Nicht-Humanen oder Außer-Menschlichen. Das betrifft herausragend Mensch-Maschine-Verhältnisse, grundsätzlich alle Aspekte einer anthropogenen Nähe oder Ferne zum Technischen. Solche Befindungen bilden immer auch eine Auseinandersetzung, die von politischer und zugleich von anthropologischer Bedeutung ist. Die historischen Konjunkturen, Schübe, Verläufe, der stetige Wechsel der Gewichtung zwischen den Polen des Natürlichen, des Historischen und des Künstlichen sind nicht nur der generelle Stoff einer nicht-biologischen, vielmehr dezidiert historischen Anthropologie, sondern eben auch eine wesentliche ihrer kritischen Ressource für Zeitgeschichte, Gesellschaft und Politik. Es geht also keineswegs um von Natur aus gegebene Konstanten, es seien denn indirekte und vermittelnd sich auswirkende, zum Beispiel solche der ‚Widernatur‘ oder eben des Artifiziellen. Es geht um eine anthropologisch denkbare Differenz, den Menschen als eines von ‚Natur aus unnatürlichen‘ Wesens, für das eben Fiktionen, Künstlichkeiten, Artefakte unabdingbar sind, sodass sich herausstellt, dass es immer der imaginativen Verschiebungen bedarf, um überhaupt ein Wesentliches in den Blick zu bekommen.

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Die flexible und auch ambivalente, nicht selten irritierende Gabe der Einbildungskraft kennzeichnet einen permanenten Zersetzungs- und Verwerfungsprozess des Natürlichen. Damit soll aber auf der anderen Seite nichts als ‚wider die Natur Evidente‘ gesetzt werden, das man mit den sozialen Konstruktionskategorien eines Subjektes in Verbindung bringt. Die derzeit unverändert wirksame modische Behauptung, es sei auch Natur eine soziale semiotische Konstruktion und Encodierung, bringt nämlich nur eine gigantische Selbstverblendung zum Ausdruck, welche von der ‚Dialektik der Aufklärung‘, also vom Zwang zu radikaler Selbstaufklärung, bisher überhaupt keine Notiz genommen hat. Die Rede von den sozialen Bedeutungskonstrukten, die angeblich bestimmend bis ins Innerste von realer Natur reichen, ist nur möglich durch einen intensivierten und ausgeblendeten Trotz, gegen alle Kränkungen des Subjekts genau dieses als omnipotent nochmals auszuzeichnen. Solche Behauptungen reden also nicht über Natur, sondern belegen einzig den unstillbaren Souveränitätsbedarf und einen Hang zu paradox gesetzter, nämlich absichtsvoll unbewusst bleibender Selbstverblendung menschlicher Wesensempfindungen.

4  Prinzipieller Entwurf des ‚Künstlichen‘ und des ‚Natürlichen‘ Es ist nicht der Humanismus, der vor den Ambivalenzen schützt, es ist die Imagination, welche zum Durchlaufen ihrer Schimären und Phantome zwingt. Und es ist ebenso die naturgeschichtlich gegründete Hominisierung, zu welcher im Falle des Menschen und seiner so weitreichenden utopischen und poetischen Entwürfe das Artifizielle wie das dann bezeichnend ‚Natürliche‘, also intentionale Entwürfe gehören. Ich nehme demnach an, dass kein Plädoyer für ein biologisches Wesen im Namen der Natur, aber auch keine Souveränitäts-Selbstverblendungen im Namen einer überdehnten kulturellen Idealität begründet werden kann. Alles ist dem skeptischen Verdacht seiner undurchschauten Uneigentlichkeit zu unterziehen. Alles ist kritisch zu betrachten im Hinblick auf ein Verkennen des Artifiziellen, das nicht nur ‚von Natur aus‘ bestimmend wirkt, sondern stets auch inmitten und innerhalb seiner poetischen, imaginativen, konstruktiven Symbolisierungen und Vergegenwärtigungsprozesse, also dem Konstruieren von Geschichte als ‚Sinngebung des Sinnlosen‘, um eine altertümlich, aber genau wirkende Formel von Theodor Lessing aufzugreifen. Das gilt genau dann, wenn man den Menschen im Sinne des Humanismus für ein Konstrukt hält, das einzig um der nach innen wirkenden Verpflichtungen auf ein Regulativ des ‚als-ob‘ aufrechterhalten wird, der praktischen Vernunft als Organon von Pflichtethik, eine Formulierung im Anschluss an Kant brauchend, die ja schon zeigt, dass das Wirkliche am Konstrukt des Humanen die es bindend leitende Fiktion, eben das Ausrichten all seiner Handlungen auf ein ‚als-ob‘ ist. Gewiss: Man mag das für ein wertvolles Konstrukt halten, und ich tue das auch, aber das Konstrukt spricht nur appellativ und transformativ zu einem Wesentlichen des Menschen und keineswegs als vorgesetztes Faktum einer zugeschriebenen Empirie, die, zum Beispiel in der historisch

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bezeichnend späten Dekretierung der Menschenrechte, deren ‚als-ob‘ so behandelt, als ob es gar keines Nachweises bedürfte, dass sie nicht nur normativ wirken sollen, sondern auch empirisch-faktisch gegeben sind, und zwar kraft schierer Geburtlichkeit der menschlichen Individuen. Wir leben längst in der Phase einer technisch fortgeschrittenen Mediatisierung nicht nur des Menschenbildes, sondern auch der Menschen selbst. Dass hierfür Bilder wirksam bleiben und demnach stetige Voraussetzung sind, kennzeichnet den massenmedialen Bilderkult entgegen aller Bilderfeindlichkeit der Gegenwartsphilosophie und ihres als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg plausibel durch Ortega y Gasset gesetzten Ausgangspunktes im ‚Verschwinden des Menschen aus der Kunst‘. Nicht nur Dekon­ struktivismus und einige Unterströme postmodernen Philosophierens tendieren dementsprechend vehement dazu, Bilder vom Menschen pauschal als obsolet zu denunzieren: Die bildenden Künste und die gewaltig einwirkenden televisuellen Massenmedien, akut verschärft zu exponierten Ritualen der Gesellschaft des Spektakels, tun dies ebenfalls. Es geht ihnen nur noch um selbstreferenzielle Zeichen und um Masken. Die politische Initiierung und mediale Vermittlung der laufenden Euphorie eines angeblich neuen Menschenbildes spielt vorrangig im Register der visuellen Persuasion und Rhetorik. Diese bilden die Kehrseite einer aktuell veschärften Bildkontrolle und eines jüngst wieder zunehmenden Ikonoklasmus.

5  Selbstgestaltung, Selbstrealisierung – Subjektkonstruktion als Schimäre und Dissimulation. Nach wie vor und in gewisser Weise erst recht legt eine hauptsächlich prägende gegenwärtige gesellschaftliche Mentalität großen Wert auf ‚Selbstgestaltung‘ von ‚Subjekten‘. In dem Ausmaß aber, in welchem die Selbstgestaltung eine apparativ (zum Beispiel medizinisch) geronnene Pflicht zu ebenderselben, also Materialisierung einer Illusion unter Aufwand ihrer Dissimulation um jeden Preis, wird, erweist sich die ohnehin seit Langem, nämlich seit der Romantik um 1800, brüchige Kategorie der Subjektivität nicht nur als eine gefährdende, sondern auch als eine gefährdete soziale Zuschreibungsgröße. Man kann an früheren Zeugnissen die strukturelle radikale Brüchigkeit der Subjektkonstruktion ermessen. Umso drastischer erscheint dann eine dem Kult des Selbst sich verschreibende gesellschaftliche Mentalität, deren Vertrauen auf die Kategorie des ‚Subjektiven‘ im direkten Gegensatz steht zur Konstitutionsgeschichte von ‚Subjektivität‘ als einer wesentlichen Kategorie der Problematisierungen. Nur appellativ und unbedingt, niemals aber empirisch oder faktisch nämlich haben Subjektivität als Kategorie und Person als juridische Grundlage ihre Kraft entfaltet. Nicht einmal die euphorischsten, aktualistisch aufgeladenen Utopien des Aufklärungszeitalters haben die Differenz zwischen dem Normativ-Kontrafaktischen und einem Empirisch-Devianten unterschlagen. Sie haben ihn nur hinter die Auffassung von der Verbindlichkeit des Utopischen gestellt, also ein Reales im Namen normativer Selbst-

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überschreitungen entwertet. Der aktuelle Selbstgestaltungsdiskurs aber geht ja gerade nicht von der Selbstüberschreitung aus, sondern, ganz im Gegenteil, von der immanenten Gegebenheit einer idealen Formung des Selbst nach eigenem Bild unter der Garantie, dass Transzendierungen gerade nicht notwendig, ihre Mühen also einzusparen und höhere Belohnungen ohne jegliche Anstrengung und Veränderung zu erwarten sind. Solches folgt natürlich immer noch den Selbstverblendungen des bürgerlichen Zeitalters. Nunmehr sind diese aber gestützt durch ins schier Unermessliche gesteigerte Simulations-Maschinerien und technische Artefakte einer apparativen Herstellung des Erwünschten – technisch ermöglichte Instantan-Verwirklichungen von Utopien geben den Regelfall ab für alles, was als Ausnahmezustand gar nicht mehr vorstellbar ist. Die Subjekt-Illusion ist als Rechtskonstruktion ebenso unverzichtbar wie als ästhetische Suggestion. Beiden scheint aber heute gesellschaftlich die Meta-Ebene der Wahrnehmung abhanden zu kommen. Die intermittierende Mediatisierung des ‚Selbst‘ wird ersetzt durch das reale Empfinden eines ebensolchen, das sich in schierer Belanglosigkeit universal gültig und verbindlich wähnt. Damit verschiebt sich das Moment der Krise. Es wird nicht mehr als Konstruktionsbedingung von Identität wahrgenommen, sondern als Problem gesetzt. Die Krise der Identität wird damit zur unverzichtbaren Dissimulationsvorgabe für ästhetische Selbststilisierung im Zeitalter des Performativen. Darin verschwindet das bisherige problematische und problemgetränkte Bewusstsein, dass Identität nichts anderes ist als dynamisches Leben inmitten der Krise. Und mehr noch: als Krise. Das Modell der Identität als Krise im Zeitalter des Bildungsromans ist dagegen nicht nur als eine historische Lehre der bürgerlichen Fiktions-Ästhetik zu erinnern, sondern bleibt das Modell eines Selbstbewusstseins, dem offenkundig mittlerweile die Gegenwart abhandengekommen ist. Und zwar nicht nur die des Geistes, sondern die jedes Selbst. Es setzt sich dafür total als der Krise enthobenes durch den Wunsch nach Identität und Konformität. Die klassischen Bildungsromane des 18. Jahrhunderts haben bis heute unüberbietbar gezeigt, was es mit dem Entwurf der Subjektivität auf sich hat. Auch wenn Subjektivität, so die sich ergebende unvermeidliche Einsicht, eine Zurechnungskategorie ist, keine empirische, sondern eine transzendentallogische Konstruktion, anders gesagt: eine radikale Fiktion, gehört zu ihr doch eine besondere Erfahrungswirklichkeit.8 Sie ist am eindringlichsten in den poetischen Konstruktionen des sich bildenden Subjektes bemerkt und beschrieben worden. Das wundert nicht, weil eben hier die Doppelcodierung und damit die Rückbindung des subjektiven Probehandelns an die MetaEbene der Fiktionalisierung, also deren Prozess selbst, am besten herauszustreichen und zu kontrollieren sind. In unserem Zusammenhang kommt es nur auf ein einziges Zeugnis an, das belegt, wie früh diese Selbsterfahrungsempirie als eine Dekonstruktion des unmittelbaren Lebens inszeniert und in verzweifelter Souveränität im Spiegel einer nur noch poetisch möglichen Verknüpfung des Eigen-Erlebens als Gegenentwurf einer zuerst und zuletzt restlos zersplitterten Seele aufgefasst worden ist. Dieses Zeugnis ist legendär nicht nur für den Bildungsroman, sondern bleibt gültig auch als ein weitverzweigtes ­Modell bis hin zur Handlungstheorie einer entfalteten fordistischen ­Wirtschaftsweise.9 Es handelt sich um Anton Reiser. Ein psychologischer Roman von Karl

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Philipp Moritz, ­besonders um die Vorreden zu den vier zwischen 1785 und 1790 erschienenen Teilen des Werks, das gattungsprägend für den Bildungsroman als solchen geworden ist.10 Im Spiegel der nur noch im Nachhinein zurechnungsfähigen Kategorie der Subjektivität erweist sich die Fiktion als einzig mögliche, erste wie letzte Authentizität der Montage von Erfahrungen aus der Sicht des konstruierenden ‚Rezipienten‘, nämlich Betrachter des eigenen Lebens, und notwendig als eine Narration, d. h. ein vermitteltes Leben auf einer zweiten, zeichengeprägten Ebene, deren Wahrheit unvermeidlicherweise der Irrealisierung eines Primären, Wahren, Eigentlichen oder eben Authentischen entspringt. Die bildungsbürgerliche Erzählung, der Werdegang der Subjektivität als einer kategorialen Entfaltung und Ordnung, der systematisierbaren Gestalten von Erfahrungen, die ihm auf seinem Weg begegnen, lassen sich insgesamt als eine Fiktion auf der Meta-Ebene deuten. Real und empirisch wahr ist nur noch ein Leben als Roman. Nur der zum Roman, einer narrativen Ordnung, im Nachhinein gefügte Gang des Lebens erweist das Leben als gegen zersetzende Skepsis gefeite Wirklichkeit. Das Leben ist deshalb authentisch nur, insofern es sich durch diese Kunst der Fiktion und die Ordnung der Narration fügen, d. h. aber: in seinem eigentlichen Vollzug restlos zersetzen, zerschlagen lässt, damit es in der Ordnung des Fiktionalen erst wirklich und neu zusammengefügt werden kann. Die Widersprüche des Lebens – nicht nur die im Leben, sondern die, welche das Leben ist – lösen sich aber nur als Fiktion des Fiktiven, d. h. als abwechselnde und wechselvolle Reihe von Setzungen und Löschungen der Subjektzuschreibung. Subjekt ist eine kontrafaktische Zurechnungsleistung von Anfang an: Subjekt setzt sich als Bewusstsein seiner Gefährdung, konstruiert eine vorläufige Identität inmitten der Herrschaft der Krisen. Sie ist Bewusstsein und Medium der Ausbildung der Krise, nicht ihre Aufhebung, ja: Identität ist nichts anderes als diese Krise oder die Kette der Verläufe ihrer Momente. Solche Erfahrung führt zu keiner Ontologie oder substanziellen (dichten, veränderungslosen) Identität mehr. Das Leben erweist sich als eine Folge von Aspektwechseln, situativen Zuschreibungen, Sprüngen und Brüchen. Und dennoch gibt es eine Einheit der Aspektualisierungen, aber eben nur auf der Meta-Ebene der sich selber erfahrenden Leistungen der Narration und insbesondere der Fiktion. In solcher existenzieller Narration wirkt als entscheidende Kraft die Fiktion. Sie darf gelten als eine Art Selbstsetzung der Subjektskepsis an der Stelle des Subjekts. Das Subjekt durchläuft seine eigenen Erfahrungen, ohne eine Auflösung zu bewirken oder eine Synthese erreichen zu können. Es verbleibt, trotz aller Bewegung und Antriebe, Umtriebigkeiten und Verwerfungen, immer inmitten des Zweifels und der Irritation. ‚Subjekt‘ ist nichts anderes als dieser Weg der Selbstvergewisserung der Irritation, also eine Bewegung in der Krise. Dennoch und gerade deshalb ist eine Akzentuierung von ‚Subjekt‘ als eine nominalistische Stilisierung von ‚Person‘ nötig. Sie wiederum ist ohne Transzendierung des Empirischen, also ohne normative Auszeichnung eines gegen die empirischen Tatsächlichkeiten gerichteten Imaginierens, also auch ohne einen Entwurf entschieden historisierter Anthropologie, nicht gerechtfertigt.

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6  Zur ‚Medienfrage‘, grundsätzlich: Historische und mediale ­ nthropologie der Artefakte – eine Skizze A Euphorische Technik-Apokalypsen, einschlägig bekannt, die in seltsamer Verdrehung als Affirmation des Negativen oder Katastrophischen auftreten, feiern die endlich technisch gestützte Erreichbarkeit des technogen wie anthropogen Bedeutungslosen, nivellieren positiv das vernichtete Leben und preisen das Verschwinden der Information, reden von der Katastrophe der Zeichen und erblicken in der Überwindung der semiotisch differenzierten Orientierung erstmals eine vollständig individualisierte Freiheit, die durch eine Serie verfügbarer und direkt abrufbarer Signale konstruiert werden könne, eine Auffassung, die sich von den heutigen Exponenten Baudrillard u. a. über Lacan direkt zu Ludwig Klages und Oswald Spengler zurückverfolgen lässt. Die technokratische Entwicklung erlaube, das Wissen vom Konsens abzulösen und sich vom Legitimationsdiskurs unabhängig zu machen. Die Veräußerlichung des Wissens durch Informatik und neue Medien würde auf die Auflösung der Einheit des Wissenserwerbs, des Geistes und der Person hinauslaufen. Die euphorische Einschätzung würde hier einwenden, das sei im Grunde immer schon so gewesen, nur sei es heute zwingend einsehbar gerade über die Technokratisierung der Bezeichnungsvorgänge. Beide Varianten weisen jedoch gleichermaßen die grundlegende abendländische Ontologie zurück – gestritten wird allein noch darüber, was mit den Trümmern anzustellen sei, die der Bruch mit der Ontologie zurückgelassen habe. Es findet sich gegen solche letztlich am Religiösen autoritativ hängenden Behauptungsfiguren, die sich gerne als ‚Diskurse‘ maskieren, leicht eine heuristische Begründung der Artefakte im Feld der ‚Anthropologie‘, die hier, regulativ wie kritisch, zugrunde gelegt wird: Anthropologisch ist alles von Belang, was Menschen zu ihrer Evolution (faktisch-teleologisch) sich aufgebaut haben als das ihnen zwar Notwendige, das sich aber gerade als solches niemals aus ihrer verfügbaren oder ‚vorliegenden‘ Anlage ergibt. Die Reflexion der Anthropologie bedarf der Artefakte und Modellbildungen (Darstellungsund Erklärungsmaschinen), um eine Einflussnahme auf Entwicklungen kraft der Tatsache zu erwirken, dass für ‚Menschen‘ kein Instinkteapparat das Entscheidende regelt. Die Situation des Menschen ist positional-exzentrisch, ja, konsequenter zugespitzt, paradoxal-exzentrisch.11 Er muss gerade auf dem Hintergrund von Angst und Neugierde ins Utopische/Offene hinaustreten. Die sattsam bekannte Nichtfestgelegtheit/Nichtfestgestelltheit des Wesenszuges des Menschen ist keine evolutionäre Gabe, sondern Errungenschaft einer exzentrisch praktizierten Paradoxie: der Steigerung des Artifiziellen zum einzig möglichen ‚Spiegel der Natur‘, der Erwirkung der Korrespondenzen eines ‚Unnatürlichen von Natur aus‘. Anthropologisch wichtig oder gegeben ist gerade nicht das unmittelbare Wesen des Menschen, sondern die Tatsache seiner permanenten, universalen, allseitigen Selbst-Transformation: Eben dass er sich das aufbaut, was sich ihm sonst entzieht und was er nur als sich Entziehendes begreifbar bilden kann mittels solcher Konstruktionen. Also nicht ein Wesenhaftes als Tatbestand, sondern die Generierung des Realen im Prozess der Transformationen, in denen gerade das anthropologisch bedeutsam ist, was

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nicht konkret vorliegt, verfügbar ist, dem menschlichen Wesen entspräche oder diesem in eigentlicher Weise zuzugehören scheint. ‚Anthropologie‘ kann also nur sein der Inbegriff oder die Summe all dessen, was Menschen sich aufbauen, weil und insofern sie es nicht sind. Es gibt einen – hier nicht weiter zu erörternden – konstitutiven Zusammenhang von Inszenierung des Imaginären, Paradoxie der Selbstthematisierung, Konstruktion von Medialität und Selbstvergewisserung der Artefakte durch eine permanent in sich und durch sich selber transformierte historische Anthropologie. In dieser ganzen Dynamik eines nicht mehr festen ontologischen Grundes, der sich in eine Matrix stetiger wechselseitiger Durchdringungen und Durchkreuzungen verwandelt hat, ist, wie am Bildungsroman verdeutlicht, jederzeit die so brüchig gewordene Souveränität des modernen Subjekts im Spiel – eine Illusion also, etwas, das sich aufs Spiel setzt. Zugleich wesentliche Tätigkeit eines Subjekts ist, das weder durch die Dialektik der Aufklärung noch durch die ultimative Gewalt der technischen Medien unbeschädigt hindurchgegangen ist. Zugespitzt zusammengefasst: Die Mediosphäre ist die nicht-anthropozentrisch fixierte Sphäre der Anthropologie. Medien sind Bereiche des Anthropologischen wie des Technischen. Damit kann grundsätzlich jede Mediatisierung innerhalb der MedioSphäre, d. h. jede Inszenierung von Imagination als mediale Verkörperung (in Sprache, Bild, Formel: was auch immer), sowohl als experimentelle Freilegung naturgeschichtlicher Funktionalität wie als mediale Differenzierung der Anthropologie gesehen werden. ‚Anthropologie‘ beschreibt die Tatsache, dass Menschen ihre Natur im Medium der Artefakte entwickeln. Anthropologie ist ein Entwurf, der von den Techniken und Medien eines vergegenständlichten Körpers – der Regungen und Organe, der Zeichen und Ausdrücke – her die Geschicke eines determiniert ‚natürlichen‘ Menschen zurückweist. Gerade dehalb ergibt es keinen Sinn, an die Stelle einer Anthropologie, die immer schon innerhalb der Mediatisierungen sich bewegt, die Instanz eines Apriori der Medien einzuführen, von denen behauptet wird, sie seien nicht mehr relational, sondern nurmehr apparativ geformt. ‚Historische Anthropologie‘ schließlich bedeutet, dass Geschichte diskontinuierlich ist und dass gerade wegen der Nicht-Geschlossenheit des Historischen die jeweiligen Vorgeschichten, die überschießenden, widerständischen Kräfte sowie deren erwirkte Ungleichzeitigkeiten bedacht werden müssen.

7  Stiltheorie, Theorie generell – Ressource für Design Wenn wir unter Theorie entsprechend der bisherigen Darlegung eine unersetzliche Fähigkeit des Menschen verstehen, Zugang zur Welt zu finden und im gleichen Akt sich selber zu begreifen, d. h. Erfahrungen so zu ordnen, dass ein Subjekt sich Rechenschaft ablegen kann über Inhalte und Formen der Bildung von Erfahrungen, dann verstehen wir unter Theorie eine anthropologisch wirksame Vereinheitlichung von allem, was die Menschen kulturell erworben haben (u. a. den Blick auf Natur) – sei es der Herstellung, sei es des verarbeitenden Wissens. Die anthropologische Auffassung vom Nutzen des theo-

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riefähigen Bewusstseins12 ist eine, die Theorie als Relation zwischen allen Akten von Bewusstsein und Handlungen definiert und nicht als Gegenpol zu instinktiven Abläufen. Unter Theorie lässt sich deshalb nicht in erster Linie das spätere Problem der Steuerung abstrakt gewordener gesellschaftlicher Zusammenhänge verstehen, in denen Theorie meist unter dem Verdacht steht, über Privilegien der abstrakten intellektuellen Verfügung sich handfestere weltliche Privilegien anzueignen. In der Formulierung eines Themas wie dem von Gestaltungstheorien steckt bereits eine theoretische Auffassung: dass nämlich Dinge und Güter, in die sinnliche und konkrete Arbeit mit ihrem sinnlichen Erfahrungszusammenhang eingegangen sind, sich gegen abstrakte Theorie sperren. Und dass sie gerade deshalb für eine Theorie wichtig sind. Also: Wofür steht Theorie? Wer fragt nach Theorie? Weiter gefragt: Was ist Stil, der ja, wie hier insistent erörtert, nicht nur eine Praktik ist, sondern immer auch eine konstruktiv-konstruierende Theorie? Gewiss ist, dass er nicht von Produzenten gemacht wird, auch wenn die ökonomischen Bilanzierungen uns das weismachen wollen. Der Stil liegt nicht in den Dingen, sondern in den Köpfen, er ist kein Ding oder Stoff, sondern ein Code und eine Zuschreibung. Die Produzenten möchten nicht Dinge allein herstellen, sondern Bedürfnisse wecken, ästhetisches Empfinden, Interesse vielleicht. Die Gestalter möchten dagegen Stil ‚machen‘. Aber da nun einmal ein Code erst in der Decodierung erzeugt wird, erscheint das konstitutive Verhältnis zwischen Produktion und Gestaltung umgedreht. Produzenten wie Gestalter sind logisch, was sie nicht sein können: Medien und Organe der Aneignung. Und exakt das für eine Aneignung Produzieren macht den Gestaltern Mühe. Denn sie möchten eine Theorie, die handlich ist: eine Leitlinie durchs Gestrüpp der sogenannten Falschheiten, nicht selten auch eine Autobahn, die gradlinig zur Wahrheit führt. Und die Produzenten möchten nicht nur Stil ‚machen‘. Sie möchten nicht selten auch noch den richtigen Stil als verbindlich setzen. Was ist der richtige Stil? Offenbar in jedem Falle einer, der an der Erscheinungsweise der Güter dingfest gemacht werden kann. Nun sind aber wie in den anderen auch in diesem Falle des Lebens die Erscheinungen ein brüchiges Fundament. Die tragenden Faktoren liegen gerade in der modernen Zeit (in der sich, wie dargelegt, das Bewusstsein verändert hat in Richtung einer Identität, die sich nur noch als Konstante in verschiedenen Nicht-Identitäten, als Sicherheit des Unzureichenden definieren lässt) in abstrakten, nicht-unmittelbar greifbaren Zusammenhängen, Motivketten, Befindlichkeiten, Wahrnehmungen und Täuschungen. Dem tritt eine Gestaltung gegenüber und oft auch entgegen, die von der vollumfänglichen universalen Verwirklichung des Wesentlichen in den Erscheinungen ausgeht. Und außerdem davon, dass das Wesentliche der gesamten in Dinge konzentrierten Qualitätsaspekte als dieses Dingliche selber hergestellt werden kann. Aus solcher Ontologie folgt zwangsläufig eine Umkehrung des geschichtsphilosophischen Positivismus zu einer Art ‚negativer Designtheologie‘ oder eben zur Theodizee, der Rechtfertigung einer hinsichtlich der apriorischen Bedingungen, die aus den vorgesetzten reinen Formen hervorgehen, restlos missratenen Welt. Man kommt also um die Umkehrung oder Umstülpung der Heilsgeschichte in eine pointiert negative,

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­dysfunktionale, ungenügende und letztlich verfemte Historie nicht herum. Denn die Vision eines reinen Stils, einer guten Form, einer universal richtigen Gestaltung setzt sämtliche Ärgernisse voraus, die die Ontologie des abendländischen Denkens als Schattengeschichte ihres Scheiterns begleiten. Die Theorie der Gestaltung als Plädoyer für einen machbaren Stil handelt gegen den Fortgang der Geschichte, die als visionärer Abfall von den Idealen definiert wird (theologisch und massenästhetisch). Sie etabliert sich im Stadium geschichtlicher Verschiebung, sie ist reaktionär. Der Begriff eines solchen Stils hat mit Erlösungserwartungen zu tun. Es handelt sich hier nicht um einfache Verweltlichungen, es handelt sich darum, dass eine Vorstellung von Erlösung, die durch einen Anklang von außen erreicht werden kann, zu einem Organisationsmoment produzierenden Handelns und damit zu einem Beispiel für ästhetische Vorgänge gemacht wird. Heilsgeschichte auf der einen, individuelle Mythologie (in der Erinnerung auf diesen Anklang von außen) auf der anderen Seite ergänzen sich zu dem, was die Psychologie eine Regressionsfantasie nennt: Fluchtlinien aus der schwer erträglichen Welt, Absage an die Auseinandersetzung mit ihr, Errichten eines Ideals an Reinheit für das Bedürfnis nach Reinlichkeit, die vor Befleckung und vor Sinnbildern des Vergänglichen abschirmen soll. Das Bedürfnis nach Reinlichkeit bezeugt zunächst den Umgang mit einer bildlichen Ausdrucksweise, einem psychologischen Behelf für das Zustandekommen von Stil als einer Ordnung von Ereignissen, die in Einklang stehen können mit noch nicht bewusst gemachten inneren Dispositionen. Was Identität genannt wird, kann man also verstehen durch die Vorstellung von einer Ordnung nicht begriffener innerer Mechanismen. Eine solche innere Disposition für Stil ist die heilsgeschichtliche Auffassung vom gestaltbaren Stil. Es gibt zwei Varianten, die mit dem verdeckten Elend dieser heilsgeschichtlichen Erwartung arbeiten. Einmal die Vorstellung von einer Welt, in der alle Menschen dieselben, richtigen, universalen Dinge benützen. Denn warum sollten sie falsche Dinge wollen, warum das Unfertige dem Perfekten vorziehen? Es gäbe nur einen, allerdings philosophischen und damit stilimmunen Grund: weil sie wüssten, dass ihr Leben im Wesentlichen nicht mit der Lösung von Problemen, sondern mit dem Gelebten des Nicht-Lösbaren verbunden ist. Paradiesvorstellungen von Unsterblichkeit und Mühelosigkeit beinhalten, dass einem die Dinge zufallen und dass sie zufallen, weil sie universal, also wahr sind. ‚Wahr‘ würde hier eine Selbstbezüglichkeit ausdrücken, nicht eine Relation, in die sich Intermedien einschieben könnten (Zweifel, Zweifel anderer, Geltungsansprüche, Behauptungen und Behauptbarkeiten). Die Heilserwartungen haben sich – parallel zur Geschichte der technischen Bemächtigung der Natur durch den Menschen – vom Religiösen gelöst, später vom Sozialen und Politischen. Sie sind zunächst eingegangen in das Feld des Pädagogischen und die Sphäre der Gestaltungen, dann in die Mediosphäre der Egozentrik, die Technologie der Aufmerksamkeitserzwingung und Attraktionssicherung im Zeichen des Kults des Performativen, schließlich und generell in die medialen Manipulationen und das Theater der Semio-Guerilla in der mediatisierten Spektakelkultur. Diese setzt als bisher letztes kollektiv bindendes Gewaltverhältnis einen neuen Zwang fest. Es handelt sich nicht mehr um den zivilisatorischen Zwang zum Selbstzwang, son-

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dern, konträr, um eine ästhetische Suggestivität von Selbstentfesselung nach Regeln der hypertrophen Inszenierung: Leben und ‚Ich‘ als Mediosphäre und als sonst nichts mehr. Es gibt aber – was an solchen Einzelfällen nur einfacher gezeigt werden kann – allgemeine, erkenntnistheroretische Widerhaken in den Gedanken darüber, was Stil sei. Der Kontext der Stildefinitionen ist nämlich – und das erlaubt uns, einige wissenschaftstheoretisch gewohnte und gewöhnliche Aspekte auch hier in Betracht zu ziehen – ein Vorgehen, mit dem die Aspekte des messbaren Stils zugleich in Bezug auf das ideelle System der Anerkennung eines Stils als Beurteilungskriterien (im Sinne der formierten Kriterientafeln also) festgelegt werden. D. h. die Stilkennzeichnung wird im gleichen Schritt zu einem normativen System über Stilqualität der im System Stil definierten Elemente ausgebaut. Der Stil, der in Gestaltungsüberlegungen – ausdrücklich oder unausgesprochen – anvisiert wird, ist immer der gelingende Stil. Aber eigentlich reden wir über Stil meist nur in Fällen eines Missbrauchs von Stil, einer Preisgabe, einer Dekadenz, nicht selten auch eines Verrats.13 Wo wird ein Stil noch gebraucht, von wo an wird er missbraucht und verstümmelt? Ist der Stil der internationalen Architektur in der Epoche einer rationalen Maschinenverehrung (nach dem Ersten Weltkrieg) als Stil ein Element des Planungsverständnisses?14 Oder ist er definiert als Resultat einer Konstruktion? Existiert er im Kopf der Konstrukteure und ihrem Weltverbesserungsanspruch? Gehören die heute verödeten oder bereits wieder auf der MetaEbene der Welt-Musealisierung restaurierten Unités d’habitation von Corbusier zu seinem Stilverständnis oder bezeugen sie den Missbrauch eines Stils? Und wäre dieser Missbrauch als Geschichte oder als einer durch Geschichte bewirkten definierbar? Was wird kenntlich, wenn etwas der Rede nach zur Unkenntlichkeit entstellt worden ist? Wenn der reine Stil der richtige ist, was machen wir dann mit den Abweichungen? Und zwar gerade wenn wir wissen, dass Formen Resultate eines mit binären Ausschlüssen arbeitenden Auswahlprozesses sind (das Binäre dieses Vorgangs, mit dem Gestaltungsformen als Planungsfaktoren im ganzen System herausgebildet werden, unterscheidet den gestalterischen vom sogenannten freien künstlerischen Vorgang)?

8  Stiltheorie als Theodizee und Heilsgeschichte Kehren wir für einen Moment zurück zur heilsgeschichtlichen Vorstellung vom Stil. Es ist dies ein universeller Begriff, der Formen von Mannigfaltigkeit unter sich befasst. Sein Gehalt hängt von der Vorstellung eines Kontinuums ab, von einer seriellen Ordnung, die durch Konstanten einer linearen Logik bewerkstelligt wird, d. h. durch eine Anordnung innerhalb eines Kontinuums, das für Elemente noch dann zutrifft, wenn diese Elemente von außen als neue Elemente dazutreten. Die heilsgeschichtliche Komponente der Stilerwartung besteht nun darin, dass die Identifikation von Stil als Vervollkommnung des Lebens und als Logifizierung des Lebenszusammenhangs verstanden wird im Sinne einer Summierung von Kulturgütern (Logifizierung unterstellt nicht, dass der Lebenszusammenhang nicht im Wesentlichen von logischen Konstanten bestimmt sein könnte;

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Logifizierung meint vielmehr die Etablierung eines Lebenzusammenhangs als Chaos durch ein modernes Rationalitätsmodell, das im Gegenzug zu dieser Unordnung erst den heilbringenden Zugriff auf rationale Gestaltung begründet). Es gibt natürlich in der Einheit des Stils, seiner Auffassung von der Konsistenz der Dinge als ästhetische Substanzen geschichtsphilosophische Vorstellungen. Für deren ­geschichtlichen Entstehungszusammenhang bürgen industrielle Tätigkeit, Technologie­ zuwachs, empirische Naturforschung, experimentelle Nachprüfungsapparaturen, Zivilisierung der Affekte, protestantische Arbeitsmoral und die darin verwirkte Aufklärungsideologie von der Entbergung der Letzverbürgungen durch das subjektive Bewusstsein der Menschen, die sich als Subjekt der Krise konzipieren, weil sie denken, ihr Denken entstehe genau dort, wo mit Bewusstsein aus Erkenntnisgründen auf jene Letztverbürgungen verzichtet werden müsse. Das Resultat ist bekannt: Vom Subjekt der Krise verwandelt das aufgeklärte Bewusstsein sich zur Krise des Subjekts. Nicht zuletzt deshalb treten an die Stelle jener Entbergungsvorgänge die Stiltheorien moderner Gestalter.15 Gerade der ästhetische Stil als Einheit und Idealität sieht so aus, als bewirke er eine simple Säkularisierung der Heilsgeschichte. Eschatologische Züge sind denn auch in der Tat nicht zu übersehen. Und doch handelt es sich im Praxisanspruch des modernen Bewusstseins als Formation von Stilereignissen nicht um jenen illegitimen Vorgang der Säkularisation, bei dem die vormals religiösen Figuren einfach eine weltliche Gestalt annehmen würden.16 Das Problem liegt tiefer: in der Überzeugung eines erkenntnistheoretischen Realismus, der eine duale Struktur aufgebaut hat zwischen dem Bewusstsein und der Realität, die koordiniert wird in einem Modell von Strukturgleichheit. Die abendländische Ontologie hat die gültige Formulierung erhalten, dass ein wahres Denken sich dem Wirklichen angleiche. Die Spannkraft der geschichtlichen Entwicklung eines säkularen, also eines areligiösen Machtbewusstseins,17 liegt woanders begründet: in der Tatsache, dass der vermeintliche Siegeszug des welthistorischen Individuums (mit einem epochalen Ausdruck Jacob Burckhardts gegenüber der Renaissance), das geschichtsphilosophische Bewusstsein der Person und überhaupt der Eintritt des geschichtsphilosophischen Denkens in die Bewusstseinsorientierung des abendländischen Menschen nicht nur ein Krisenbewusstsein sind, sondern auch das Bewusstsein schlechthin als Krise etablieren. Die vermeintliche geschichtliche Macht durch geschichtsphilosophisches Denken steht immer am Abgrund einer existenzvernichtenden Drohung: dass nämlich das Bewusstsein der Macht am Modus seiner Machtentfaltung, der Krise des Wirklichen zerbricht und von den Widersprüchen aufgerieben, über Verunsicherung in Angst und von dort in Selbstauflösung weitergetrieben werde.18 Mit dem geschichtsphilosophischen Bewusstsein entsteht ein grundsätzlicher Zweifel an der Kraft der Realität, der durch keine innerweltliche Hoffnung einfach übersprungen werden kann. Was früher vorgeordnete Sicherheit war, weil es über Begründungen in einem Letzten und Ersten zugleich seine Identität bezog, das wird nun zwar einer Heilsgeschichte überschrieben, aber eben einer, die nicht verbergen kann, dass ihre säkulare Bedeutung allein aus dem Zerbrechen der grundlegenden Sicherungen herrührt. Die Sicherheit des Bewusstseins wird zum Modell des systematisierten Zweifels. Die Krise der Geschichte als Bewusstsein wird umgemünzt in eine heilsgeschicht-

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lich korrigierte Vorstellung von einer machbaren oder zumindest beeinflussbaren Geschichte. Aber man übersieht leicht, dass es gerade nicht die Identität, sondern eine fundamentale Gebrochenheit ist, die das Bewusstsein zur machtvollen Überidentifikation seiner Formgebungen mit den Strukturen des Wirklichen zwingt. Was aus dieser Strukturangleichung entsteht, ist die Geschichte der Technik. Die Macht wird zur Krise, die Krise zur Chance der Selbstreflexion. Hebt der Stil diesen Ontologieverlust auf? Zumindest scheint das ein unreflektierter Anspruch gerade der modernen Gestalter zu sein, die sich in einem so weitreichenden wie merkwürdigen Gegensatz zum modernen kritischen Bewusstsein befinden, wenn sie ihren Visionen vom gestalteten modernen ­Leben nachhängen. Es scheint, dass in dieser Divergenz eine wesentliche Tatsache der Ungleichzeitigkeit des modernen Lebens ausgesprochen ist. Das lässt sich formal und chronologisch überpüfen: Die Avantgarde verwandelt sich in Kitsch. Gleichzeitig wird sie einem späteren historischen Bewusstsein zitierbar. Offensichtlich ist die Krise des geschichtlichen Bewusstseins als Krise der Macht auch eine Krise der Funktionen, mit denen das Bewusstsein als handelndes sich der Umwelt einprägt. Und das Elend des Funktionalismus – primär seiner Ideologie, sekundär seiner Sachlichkeit – besteht in der Fundierung durch eine verborgene Geschichtsphilosophie, die der Realität der Krise, die ja einzig Sinn ermöglicht, nicht gerecht wird. Der Mythos des neuzeitlichen Produzierens besteht nicht in einer äußerlichen Form, sondern in der Missachtung des kritischen Wertes geschichtlichen Bewusstseins. Der heimliche Positivismus der funktionalen Theorie ordnet sich einen Stilbegriff, der eine leere, homogene Zeitstruktur setzt und Freiheit als formale Erfüllung einer seriellen, kontinuierlichen Ordnung versteht. An diesem Punkt wird Gestaltung normativ. Die Grenzüberschreitung des heimlichen zum anspruchsvollen Positivismus ist nun eben als Stil definiert. Der funktional messbare Zusammenhang wird zur Ein-Richtung am Leben. Und im gleichen Maße wird Fantasie zu einer Tätigkeit des Wegräumens. Ihr Begriff müsste vom Produzieren sich lösen und eine Tätigkeit meinen, deren Typus nichts mit dem Wahn des Produktiven zu tun hat. Aber das kann keine nominalistische Bestimmung sein. Der Weg über das Abstrakte führt hier zu einem anderen Begriff von Stil. Gehen wir von einem solchen Verständnis aus und setzen, definitorisch, fest: Stil, in dem Dinge vom Produktionsverstand mit der individuellen Fantasie der modernen Schöpfungsvision zusammengebündelt werden, ist unmöglich. Unter Stil würde ich einen Begriff für die Unmöglichkeit der Realisierung von Stil verstehen. Der richtige Stil wird zum falschen Stil. Stil ist, was am Stil nicht gelingt, sondern scheitert. Die Objektivierung von Stil liegt demnach im Missbrauch des Stils, nicht in den Medien seiner Verwirklichung als mit sich selber identische Form. Stil wäre nicht missbrauchbar, sondern das Missbrauchbare an ihm selbst. Unter Freiheit könnte dann nicht mehr die Logifizierung der formalen Zeit verstanden werden. Freiheit wäre Diskontinuität, nicht mehr als Kontinuum, evolutionslogisch, geordnete Geschichte. Die Reinheit des Stils weicht den Abweichungen, seine Wahrheit etabliert sich im Medium der Differenz, Identität verflüchtigt sich. Das wäre das stärkste Argument gegen den Stil: dass er nicht den Modus der Vergeblichkeit und Hinfälligkeit einer Kultur als deren besondere, auf symbolische Ver-

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dichtungen hin angelegten Qualitäten versteht. Ein Stil hat seine Wahrheit im Scheitern. Freiheit könnte heißen: Man entledigt sich eines Stils. Er hätte dann immer noch eine Funktion: an ihm dinglich zu lernen, was man vermeiden will. Gestaltungen, die sich auf einen dauernden Stil einrichten, wirken auf ihre Produzenten, Theorien und Nutzer im Modus der Überlebtheit. Einen Stil seines geschichtlichen Scheiterns zu überführen, das wäre eine Funktion einer konsequent definierten ästhetischen Qualität. Man müsste also – ob das seinem Bewusstsein entspricht oder nicht – den Produzenten definieren als jemanden, der ausschließlich für einen Aneignungszusammenhang gestaltet. Die Zertrümmerung eines Stils als Offenlegung seiner geschichtlich bedeutsamen Gehalte durch ein Subjekt, das an dieser Öffnung gewissermaßen die Semantik des Stils erst gleichwertig erprobt. Damit wäre die Konstitution eines Stils das Resultat eines Verhaltens, wie es in der Geschichte der Bilderstürme in aggressiver Weise beschrieben worden ist. Aber eine Revolution ist keine Stilfrage. Revolutionen scheitern daran, dass sie jene Ausbrüche an Vollkommenheit propagieren, die erst durch langwierige Vorgänge ­eröffnet werden können. Revolutionen wären Lernprozesse, die so angelegt sind, dass in ihrem Verlauf die Voraussetzungen, die sie möglich machen, eingeholt werden. Ein Stil eröffnet, was ihn dereinst zu einem begriffenen Stil machen kann. Die in verschiedenen Reinheitsidealen des Stils aufbewahrten Erlösungsgehalte stehen in striktem Gegensatz zu einem Verständnis von Freiheit, das nicht dem Modell geschlossener Ordnungen folgt. Die Produktion von Dingen müsste die Beseitigung der Dinge zumindest ermöglichen. Wir haben – die Verkürzungen dieser Darstellung eingerechnet – Grund, über Stil und Form anders nachzudenken als die Form jener Szenarien uns nahelegt, in der die geltenden Überzeugungen von der Notwendigkeit des Designs nichts sind als Reflexe einer kaum begriffenen Geschichtsphilosophie, die Freiheit simpel mit der U ­ mkehrung der Richtung verwechselt, die die Vertreibung aus dem Paradies zum Paradigma der modernen Psychologie gemacht hat. Es scheint, als würde das Design mit seiner Vision jenen Platz einnehmen, den das an der Vision von der universalen Eindeutigkeit scheiternde theoretische Bewusstsein preisgegeben hat. Das zwingt uns, die Geschichte des Designs, als Plädoyer für Designideologien wiederum als Sonderfall der abendländischen Denktraditionen zu behandeln. Ich referiere dazu wiederum etwas grob typisierend einige Brüche dieser Denkgeschichte, die der Planifizierung eines geschlossenen Bedeutungssystems widersprechen und verdeutlichen, dass eine Theorie wirksam werden kann nur, wenn sie die sie konstituierenden externen (monströsen) Faktoren zu ­theoretisierbaren Bezügen ihres eigenen Diskurses machen kann. Eine Theorie, die alles, was existiert, unter einem einheitlichen Gesichtspunkt thematisiert, eine solche Theorie nennt man mit guten Gründen einen Mythos. Der Mythos unterscheidet noch nicht zwischen Sprache und Natur, Kultur und Natur, Individuum und Gesellschaft, Politik und Organisation des Gedächtnisses, Ästhetik und Erkenntnis. Der Übergang vom Mythos zum Logos findet mit der Ablösung von der Idee nicht in Erscheinungen auffindbarer Urprägungen bei Aristoteles statt.19 Aristoteles unterscheidet verschiedene Wissensbereiche, die beobachtend erforscht und jenen verschiedenen Typen methodischer Organisation zugeordnet werden können. An die Stelle der transzendenten Ontologie idealer und nicht wahrnehmbarer Urformen tritt die Potenzialität der

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Realisierung von Formprinzipien, die jene möglichen Urgestalten allein im Modus der Variation und der sinnlichen Darstellung erschließen. Das Wesen der Dinge sind nicht die Dinge selber, sondern besteht in ihrem verborgenen, noch nicht ausgestatteten Teil. Dinge sind Gebilde der Möglichkeit nach, und sie sind in Möglichkeit befindliche. Aber sie sind nicht mehr unvollkommene und prinzipiell scheiternde Abbilder von Idealitäten. Das Potenzielle, das die Dinge real macht für ein Verständnis der Dinge, überwindet den Bruch des Realen hin zu einer idealen im Gegenzug einer wirklichen Welt. Die Realität streift ihren Abbildcharakter ab und wird zur Aktualisierung von Möglichem. Sie gilt nicht mehr bloß als Medium einer transzendierenden Erinnerung an das unfassliche Vorbild und ist auch nicht mehr Verwirklichung der transzendenten Idealität des Realen, dessen scheinbare Realität allein die Folge des trügerischen Bewusstseins der Menschen sei. In der, mit der und auch schlichtweg: als Neuzeit behauptet die Subjektivität ihren Begriff als Substitution des Ontologischen durch das Säkulare – Zugriff zwar auf die Welt, aber nicht auf eine, die im Verlust des Transzendenten gefährdet wäre. Weil das Ontologische keine Evidenz im Transzendenten mehr hat, wird der Erkenntnisapparat zur Maschinerie der Hervorbringung jener Bedingungen, die seine Resultate bewahrheiten. Das neuzeitliche Prinzip des cartesianischen Zweifels tritt denn auch in dem Moment auf, in dem der Zweifel sich zum idealen und ideellen Mechanismus, zur Maschine der Bekräftigung der allein bedeutsamen reflexiven Struktur erhebt und demnach in Wirklichkeit gar nicht mehr das Prinzip Zweifel, sondern die Dogmatisierung der beweistechnischen Verwendung der Methode des Zweifelns darstellt.20

9  Stil: Reinheit und Ordnung als Letztbewältigung der Zweifelsparadoxie Der Zweifel verstrickt sich, mit und seit Descartes, auf höchstem Niveau in eine Paradoxie: Er etabliert einen unendlichen Rekurs auf immer höher gestuften Metaebenen: Kann, muss, soll am Zweifel selber, also auch am Zweifel des Zweifels, wieder und weiter, unentwegt, gezweifelt werden? Eben das wäre die Forderung der Methode: Als Apriori wie als Apodiktisches genommen, löst sich der Zweifel selber auf, zersetzt sich, streicht sich und seine Legitimität durch. Zweifeln heißt danach: Einstimmung in Unsicherheitskonstanz nicht nur zuzugestehen oder herzustellen, sondern zu verstärken. Das ist, methodisch wie substanziell, heuristisch wie regulativ, epistemologisch wie psychologisch, ontologisch wie akzidentiell, nur erträglich, wenn der Zweifel sich selber in die Sukzession der durch ihn auf den Meta-Ebenen erzeugten Paradoxien, also in eine Inszenierung verwandelt. Denn nur so sichert er, auch wenn alles Bezweifelte weiterhin oder gar endgültig Wahn, Traum und Täuschung sein sollte, eine ästhetische Realität, die als Sukzession inszenierter Fiktionen real erfahren werden kann. Es ist leichthin festzustellen, dass die Zeichensysteme der Künste in der Kultur der Moderne im strikten Sinne unphilosophisch sind: Sie setzen sich als Ordnung und

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Reinheit an die Stelle der sowohl methodisch wie substanziell unauflöslichen, zum Zweifel radikalisierten Skespis. Stil ist, wie nicht nur die Moderne, diese aber am deutlichsten zeigt, insistente und unbeirrbare Überwindung des Zweifels, Herstellung von Konstanz und Notwendigkeit. Und sei es nur als ästhetische Suggestion an der Stelle einer unauflöslichen Irritation. Hier ist zu verstehen, was die wirkliche Funktion von ‚Stil‘ ist: ontologische Substanz zu sichern durch Umlagerung der Illegitimität von Stil, der als ‚reiner Stil‘ nämlich vorerst nur eine Option oder Suggestion darstellt, auf Designstrategien, -programme, -anleitungen. Eben dies ist in zahlreichen Motiven und Begründungen der Zeichensprache, Künste, Designausformungen der klassischen Moderne zu beobachten. Dazu seien hier nur einige wenige Aspekte benannt, die in eine Betrachtung des Unbesehenen an der traditionellen Funktionalismuskritik überleiten. Das ästhetisch vorherrschende Selbstverständnis der an Reinheit des Stils orientierten Gestalter der Moderne – kulminierend in der klassischen Moderne, hier erst den Klassizismus der reinen Formen gegen die schwarze Romantik und die Polymorphien des 19. Jahrhunderts reaktivierend – geht über die Umwälzungen und Brüche hinweg, die sich in der Geschichte der modernen Erkenntnis ergeben haben: über die Auflösung der Ontologie durch die Entdeckung der ontologischen Struktur unserer Sprache, über die Unschärferelation der modernen Physik, die Vernunftkritik der Philosophie, das Scheitern des Entwurfs von Idealsprachen im Umkreis der Wiener Schule, den Weg vom Impressionismus in die Abstraktion. Der zuletzt genannte Vorgang ist besonders deshalb interessant, weil er deutlich macht, dass die sich modern und innovativ wähnende moderne Gestaltung die radikale Zeichenkritik der avantgardistischen freien Kunst nicht mitgemacht hat. Im Diskurs der modernen Kunst sind die Konsequenzen der Stilkritik des Historismus aufgehoben und nicht im funktional-konstruktiven Materialbewusstsein der modernen Transparenz. Denn der Weg von Cézanne über den Symbolismus, die Nabis, die Fauves, den Expressionismus und Kubismus hin zu den Improvisationen Kandinskys und den Versuchen der Pariser Schule gehen zunehmend nicht mehr von Bezeichnungsqualitäten aus, sondern von Bild-Prinzipien. Dieser unter dem Titel ‚Abstraktion‘ berühmt gewordene Vorgang der semiotischen Selbstuntersuchung des Bildbewusstseins überwindet die Relation der Zeichen, wie sie für die Gestaltung immer ein Argument geblieben war: als Relation zu einer Wirklichkeit, an der die Gestaltung sich misst, wogegen die Abstraktion ihre Prinzipien als Wirklichkeit des Bildes in Relation setzt zum Bewusstsein vom Eigenwert der ästhetischen Strukturen. Hier setzt die auf Design anwendbare Kritik durch eine Art ‚transklassische Logik‘ ein. Mit Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen) gesprochen: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Eine Produktion von Zeichen ist nicht ontologisch, sondern habituell und kompositionell bedeutsam. Produktion wird zu einem sinnstiftenden Vorgang der Rezeption. Die Gründe des Vergangenen werden erhellt allein durch den Vorgriff des Künftigen auf die Gegenwart. Designprobleme berücksichtigen dies meist in der schwachen Form einer innovativen Abklärungsstrategie. Empirische Befunde haben nach dieser Vorstellung die Formen des künftigen Geschmacks in den bereits erfassbaren Spurenelementen ausfindig zu machen. Bedeutungen werden durch Benutzung möglich. Das ist kein genetisches, sondern ein logisches Argument.

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Es geht hier nur um die Relationen. Bedeutungen für ein Subjekt existieren nicht ohne Vollzug der Bedeutungen durch dieses Subjekt, sind also immer Aktualisierungen. Umgekehrt kann die Produktion Bedeutungen entwickeln, wenn sie auf die Sprache und die Formen der Aneignung sich einrichtet. Das klingt banal. Ist es aber nicht. Denn die antizipierende Leistung des Designs versteht sich im Bewusstsein der eingerichteten ökonomischen Apparatur selten bis nie als Vorgabe für Formen der Aneignung, sondern meistens bis immer als Inszenierungen von Darstellungsinhalten, in denen ein Bewusstsein den dinglichen Körper der Erkennbarkeit seines Formbedürfnisses für sich erschließt. Aneignungsform und Darstellungsinhalt aber gehören nicht auf die gleiche Weise und in derselben Hinsicht dem gleichen Subjekt zu. Gegenüber den einen kann es nämlich erproben, was es durch die anderen global sich einkauft. Erst das Sitzen macht den Stuhl möglich.

10  Abstraktion: Vom Unbedingten zu den Dingen und von diesen zu den Formen Wenn man sich in den Dokumenten der Moderne, in Bezeugungen und Selbstverständnissen von modernen Künstlern und Gestaltern umsieht (vom Manifest des Symbolismus über den Werkbund zu Kandinskys Schriften, Klees Positionen, den Manifesten des Bauhauses und parallel dazu den Thesen des Futurismus, des Dadaismus), auf die Versuche einer Vereinheitlichung von künstlerischen und technologischen Errungenschaften an der Schwelle zur Massenproduktion durch eine Gestaltungselite aufmerkt – dann stellt sich die Frage deutlich, ob die im Bereich der modernen Kunst ausdrücklich entwickelten Überlegungen zur Ganzheitlichkeit des kritisch-ästhetischen Bewusstseins (in mystisch-heilsgeschichtlicher Ausprägung wie z. B. bei Kandinsky oder in sozialkritisch-revolutionärer Ausprägung wie bei Malewitsch, Eisenstein und Tretjakow, um nur diese zu nennen) überhaupt die kunstgewerblichen Gestalter beeinflusst haben. Für nicht wenige der Architekten lässt sich das zwar nachweisen, aber man weiß nicht so recht, wie sich diese Inspiration im Bauprogramm niedergeschlagen hat und inwiefern sich die ideologischen Einflüsse auf das kulturelle Selbstverständnis und den politischen Habitus der Produzenten auswirken oder in dessen bloß privater Gestalt wieder absorbiert werden. Es scheint, als wenn die wichtigen Theorien der Gestaltung vom Werkbund bis zum Bauhaus doktrinär, ontologisch und vorkritisch bleiben. Sie blenden ästhetische Vermittlungsstrukturen auf eine Art aus, die man sich wohl allein aus der programmatischen Herkunft einer erneuerten Gotik als der Baukunde und dem Persönlichkeitsbild eines kompetenten Gestalters erklären kann – als Versuch der Überwindung und Erneuerung der Maschinenkultur zugleich. Zwischen so konträren Denkern wie Muthesius und van de Velde ist die Verbindlichkeit der Maschine auch als ästhetisches Idealmodell wohl das einzig Gemeinsame. Die Verteidigung der Maschine markiert den entscheidenden programmatischen Schritt in eine moderne Auffassung von Gestaltung. Design

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wird hier notwendig zur Kritik am Luxus und der Herrschaftsstruktur der kapitalistischen ­Gesellschaft. Allein aus dem Gedanken der Maschine – ihrer Präzision und Leistungskraft, ihrer Programmierbarkeit, die auch zu ästhetischen Idealen werden – lässt sich eine Konsumgüterkultur denken, die nicht Abfall vom oder Imitation des gründerlichen und historizistischen Luxus ist. Der Gedanke einer demokratischen Ästhetik, die sämtliche Kenntnisse und Fähigkeiten der technisierten Produktion, organisiert durch die Elite der programmierenden Gestalter, miteinbezieht und nutzbar macht, gibt den Brennpunkt ab für gesellschaftspolitische Überlegungen und Vorstellungen. Die Zuwendung zur Maschine, die in den ersten Generationen der Designer die Form der Überwindung des Maschinenhasses ­annimmt, vollzieht sich aus der Einsicht, dass die gute Gestaltung vertretbar nur als Massenproduktion ist. Interessant ist dafür noch immer der berühmte Streit auf der Werkbundversammlung von 1914. Muthesius und van der Velde formulieren Thesen und Gegenthesen über das Verhältnis von künstlerischer Gestaltung und maschineller Typisierung, über das Problem der Programmierung einer Apparatur also und die ‚Ortschaften‘ der künstlerischen Ausrichtung der Befehlsformen. Muthesius vertritt die Position der Volkserziehung, konzipiert den Begriff des Stils als durch serielle Anordnungen ausführbare Einheit. Van de Velde erinnert an das künstlerische Pathos des offenen Prozesses, spricht vom Probehandeln und ewig Unsicheren der Kunst. Aber beide haben, verdeckt, mit dem Problem zu ringen, dass die Errungenschaften einer zeitgemäßen ­modernen Ästhetik gerade nicht auf dem Feld des Dinglich-Konkreten, sondern des Abstrakten erstritten worden sind. Die sogenannte ungegenständliche Kunst bezeichnet nur den konzeptuellen Endpunkt eines Prozesses, der die Dialektik von Wirklichkeit und Ansicht zum unauflösbaren Gegensatz von Natur und Abbild verkehrt und schließlich daran scheitern lässt, dass das Dingliche im Bild in einer Form erscheint, welche die Dinglichkeit selber schon zertrümmert hat (der Kubismus markiert den Übergang, an dem die konzeptuellen Relationen dieser Umschichtung der Zeichen gegenüber einem nunmehr durch die Zeichen selber, und nicht mehr durch Relata, definierbaren Wirklichkeitsbereich, sichtbar werden). Die Erfahrungsgehalte der modernen Kunst gründen darin, dass die Bedeutungen von ihren dinglich identifizierbaren Objektträgern abgelöst worden sind. Der Stellenwert der Bilder spiegelt die Veränderung im visuellen, ästhetischen Prozess. Die visuelle Ästhetik der Dinge – hier grob genommen als Beschreibung der Resultate von Design – spielt sich heute in einer stetig wachsenden Ungleichzeitigkeit gegenüber der Ästhetik des Visuellen ab. Im Rahmen visueller Lebenswelten, der Großstadt z. B. gibt es gewiss auch noch Dinge. Aber eben nur Dinge irgendwo. Die Ästhetik des Visuellen dominiert deshalb, weil sie mit selbstreferenziellen Bildern arbeitet, d. h. mit formalen Abstraktionen (die einfach mehr Inhalte zulassen), durch die Bedeutungen immer tiefer und direkter in den Kopf des Rezipienten hineinverlegt werden. Gerade die Tradition des Werk-Designs macht heute schmerzlich deutlich, dass Bilder ästhetisch bedeutsam sind allein um den Preis ihrer Un-Dinglichkeit. Das moderne Paradigma des Ästhetischen – wenn es denn überhaupt eines gibt – bedeutet, dass die Zeichen vom Natursubstrat ihrer Darstellbarkeit

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getrennt werden und dass keine ontologische Beziehung zu einer äußeren Realität ihnen die Konstitution von Sinn liefert.

11  Funktionalismus als Funktionalismuskritik In einer Rede vor dem deutschen Werkbund hat 1965 Theodor W. Adorno resümiert, woran es dem ontologischen Verständnis der ästhetischen Werte – wie Funktion, Dauerhaftigkeit, Materialgerechtheit – und der Konzeption des pädagogischen Wertes der werktreuen Gestaltung gebricht: am Bewusstsein, dass unsere moderne Gesellschaft einen überfunktionalen Komplex repräsentiert, der die Menschen verformt. Und am Bewusstsein, dass im gesamten Bereich gesellschaftlicher Vermittlung von Handlungen auch sogenannte rein pragmatische und funktionale, die überzeugend zurückhaltenden Lösungen bestimmten ästhetischen Mustern folgen, deren Geltung vom Bestand der gesellschaftlichen Unterdrückung bestimmter Erfahrungen abhängen. Der Funktionalismus erschöpfe sich nicht in der Einrichtung praktischer Funktionen. Adorno hält daran fest, dass ‚Verkunstung‘ – oder eben: ‚Styling‘ von ‚Design‘ – immer eine ästhetische Lüge sei und dass umgekehrt die Haltung einer zweckfreien Kunst in der Gestaltungspraxis sich über die gesellschaftlichen Mechanismen einer notwendig erzeugten Ungerechtigkeit hinwegsetze. Die Zweckmäßigkeit in der spätkapitalistischen Gesellschaft durchbricht die Vernunft der Mittelbeziehungen, weil die Gesellschaft als ganze irrational, ungeplant und ungerecht sich auswirkt. Es gibt keine praktische Form, deren Gebrauch nicht zugleich ein Symbol wäre. Die Angemessenheit von Mitteln als Selbstzweck ist ein Fetisch, welcher die im Prinzip ehrenwerte Gesinnung des Handwerklichen pervertiere. Formen und Materialien lassen sich nicht als Naturgegebenheiten, sondern allein als historische Phänomene betrachten. Zu Slogans kondensiert, können die Effekte der Funktionalismustheorie wie folgt formuliert werden: Lob des Funktionalismus: Funktionelle Architektur vertritt einsehbar die Möglichkeit des menschlichen Fortschritts (der auch dargestellt werden kann als wachsende Trennung von Zeichen und Benutzbarkeit). Grenze des Funktionalismus: Über die sozialen Widersprüche hat die Architektur keine Macht, erst recht nicht über jene, welche die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte in eine gesellschaftliche Form fesselt, in der die eigentlichen Produktivkräfte, die Menschen, deformiert werden. Kritik des Funktionalismus: Auch die zurückgebliebensten, konventionellsten Subjekte haben nach Adorno ein Recht auf die Erfüllung ihrer regressiven Bedürfnisse. Pathos des Funktionalismus: Menschenwürdige Gestaltung denkt besser von den Menschen als sie sind. Adorno folgert: Jeder Gestalter müsse sich Rechenschaft ablegen über den gesellschaftlichen Standort und die Schranken seiner Arbeit. Die ästhetische Überlegung müsse den verfestigten Gegensatz des Zweckvollen zum Zweckfreien überwinden, deren Trennung die Leidensgeschichte der Gestaltung in der Moderne darstellt – aufseiten des Produzenten wie des Nutzers.

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Damit wäre der Gestalter wieder bei dem angelangt, was er nur indirekt, vermittels der Resultate einer nach außen vermittelten, produzierten Arbeit thematisiert: den Grad der Vernunft seines eigenen Bewusstseins. Versteht man unter Vernunft eine kulturelle Tradition, unter Bewusstsein eine Apparatur der Identifikation von Erfahrungen und unter Arbeit einen Versuch, den unbemerkten Mechanismen eine überprüfbare Form zu geben, dann stellt die Rationalität des Gestalters nicht so sehr einen Schatz für andere dar als vielmehr eine Arbeitsthematik, einen Rohstoff für ihn selber. Aus diesem Rohstoff ließen sich Formen gewinnen. Die Funktion des Rohstoffgewinns durch die Einprägung von Formen wäre ein Zuwachs genau dann, wenn der Gestalter an seiner und nicht primär an einer nach außen delegierten Rationalität arbeiten würde. Funktionales Bewusstsein heißt nichts anderes, als dass es hinter einer Formindifferenz Fragen der Einrichtung gibt, die sich definieren lassen und die sinnvollerweise durch die Arbeit von Gestaltern definiert werden. An dieser Voraussetzung hängt ein Wertesystem, das der Gestalter heute immer noch eher verdeckt als eröffnet: dass die dinglichen Einrichtungen der Lebensversorgung nicht schon Funktionen des erfüllten Lebens sind. Man sieht also, wie viel, bei genauer Betrachtung und hartnäckiger Aufknotung, sich an Theorie in und als Design von Stilisierungen verbirgt – oder auch schlicht als Chance einer Komplexitätssteigerung gegenüber den Reduktionen der Spektakelkultur eröffnet.

Geschrieben/montiert/ediert im Juni 2005, ein Erscheinugnsort ist nicht vermerkt und derzeit nicht eruierbar.

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Vgl. Christian Kortmann, Es gibt kein richiges Live im falschen. In der Popmusik streitet man über die Verwendung von Play-back, in: Neue Zürcher Zeitung. Internationale Ausgabe, Zürich 30. Dezember 2004, S. 34. Bill Grahams postume Autobiografie liefert einem theoretisch sensibilisierten und unvorbelasteten ­Leser das entscheidende Material sowohl in großen Zusammenhängen wie in den entscheidenden Feinschnitten; vgl. Bill Graham/Robert Greenfield, Bill Graham presents … Ein Leben zwischen Rock & Roll, Frankfurt 1996, bes. S. 476–510, 622, 635 f., 663 ff., 675 ff., 722, 751, 757 ff. Vgl. Kortmann, Anm. 1, 34. Ungebrochen gültig: Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978. Roland Barthes hat die Verschiebung von Sinn auf Form als den Grundmechanismus aller massenkulturell wirksamen Mythologisierungen in der technisierten Alltagskultur herausgearbeitet; vgl. Roland ­Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt 1964, S. 96 ff. Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt, Frankfurt a. M. 1987. Deutlich z. B. in Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stichwort ‚Abstraktion‘. Vgl. zur theoretischen Kontur der Fiktionalisierungen: Umberto Eco, Fakes and Forgeries, in: Versus. Quaderni di studi semiotici, Nr. 46, Milano 1987, S. 3 ff.; Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1973; Klaus Bartels, Zwischen Fiktion und Realität. Das Phantom, in: Zeitschrift für Semiotik, Tübingen, Heft 1/2, 1987, S. 159 ff.; Gérard Genette, Diktion und Fiktion, ­München 1987. Vgl. dazu: Rudolf M. Lüscher, Henry und die Krümelmonster: Versuch über den fordistischen Sozial­ charakter, Tübingen o. J [1988].

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10 Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, Ausgabe des Insel Taschenbuchverlages, Frankfurt a. M. 1979. 11 Vgl. dazu Bernd Ternes, Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz, ­Marburg 2003. 12 Vgl. dazu: Jean Piaget, Biologie et connaissance, Paris 1967; W. R. Ashby, Design for a brain. The ­Origin of adaptive bahaviour, London 1960, 2. Aufl.; K. Goldstein, Der Aufbau des Organismus, Haag 1934; J. Huxley, Evolution. The modern synthesis, London 1942; N. Tinbergen, Instinktlehre, Berlin und Hamburg 1952; Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III, Phänomenologie der Erkenntnis, ­Berlin 1929. 13 Zur Figur des Verrats als eines erkenntnisstiftenden Motivs: Deleuze/Parriet, Dialoge, 1977; André Gorz, Der Verräter, 1955. Dem Verrat eignet ebenfalls das Element einer erkenntnistheoretisch nutzbaren ­Versicherung über die prinzipiellen Negationen einer Theorie. Sozialwissenschaftliche Theorien, gerade wenn sie angewandt werden auf die konkreten und scheinbar ephemeren Ereignisse, müssen die jeweiligen Ausschließungsmodelle einer Theorie in die Erörterung der Theorie hineinnehmen. Das bedeutet auch, die Katastrophe eines Systems als seine Konstitutionsbedingung zu verstehen. Zur theoretischen Arbeit an der Erhaltung der Monster einer Theorie: Michael Thompson, Die Theorie des Abfalls, 1981, Kap. 7. 14 Le Corbusiers ‚Charta von Athen‘ von 1943 bringt im dritten Teil, den Schlussfolgerungen, ab Nr. 71 in Form von Lehrsätzen nichts anderes als diesen impliziten Planungsrationalismus als Stiltheorie zum Ausdruck; vgl. auch die Einleitung von Thilo Hilpert zur kritischen Neuausgabe von 1984, erschienen in der Reihe der Bauwelt Fundamente. 15 Am besten markiert und analysiert ist die Auffassung vom Subjekt als Krise, wie bereits dargelegt, in Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. 16 Vgl. dazu Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Teil 1. Säkularisation und Selbstbehauptung. 17 Michael Theunissens Kommentierung von Hegels Logik, unter dem Titel ‚Sein und Schein‘, beschreibt das Konzept der säkularen Identität als Krise der Macht. 18 Diese Lesart des grundsätzlichen Problems des Funktionswandels des Bewusstseins durch die geschichtsphilosophische Orientierung gibt deutlich Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. 19 Vgl. z. B. analyt. Post. 1 33. 88 b 30; ebda. 18. 81 b 5 etc. 20 Vgl. die Meditationen des René Descartes von 1685, v. a. die sechste Meditation; methodisch analog: Thomas Hobbes, Vom Körper, 1655, Kap. 6; desgleichen: Baruch de Spinoza, Kurze Abhandlung von dem Menschen und seinem Glück, Kap. 8 und 9.

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DENK(FORM)GLEICHUNGEN. KLEINE ­MEDITATION ÜBER EIN PLÄDOYER FÜR DAS BÖSE, ­HÄSSLICHE UND UNZWECKMÄSSIGE Das Plädoyer für die schlechte ist so moralisch wie das für die gute Form. Geändert haben sich nur die konjunkturellen Einschätzungen der Rolle des Gestalters in einer Welt, die weder Gestaltung ermöglicht noch Nicht-Gestaltung zulässt. Die Koppelung von Moral an schlechte Form reicht nicht für den Aktualitätsdruck des Ästhetischen. Zu drastisch wirkt der Abschied vom Prinzipiellen gegen jedes Moraldiktat. Wir sind, es mag schmerzlich sein, nicht über den Problemstand des 19. Jahrhunderts hinausgekommen. Das stört uns, weil wir uns diese Zeit als zunehmend fremde vorstellen möchten. Positivismus und lineare Vernunft sind auf schreckliche Weise in ihr Gegenteil umgeschlagen. Die Kippfigur von Utopie und Wahnsinn gehört längst zum etablierten Repertoire unseres kulturellen Meinungsaustauschs. Als Strandgut jüngeren Datums finden wir im Ausgang aus einem unsittlich gewordenen Prinzip Fortschritt auch die Konfiguration der guten gegen die hässliche Form vor. Die grundsätzliche Entdeckung des Hässlichen als ästhetisches Prinzip gehört jedoch bereits zu den zentralen Denkfiguren des letzten Jahrhunderts. Karl Rosenkranz unternahm mit der Ästhetik des Hässlichen 1853 den Versuch, die empirische Eigenständigkeit des Gemeinen und Widrigen, Unheimlichen und Obszönen der Kategorie des Schönen und Guten prinzipiell und unbedingt unterzuordnen. Wenige Jahre nachdem – bei Chateaubriand – zum ersten Mal in der Geschichte des Begriffs ‚modern‘ von Modernität als einer reinen Selbstbezogenheit ohne Rekurs auf eine ‚Antike‘ die Rede war und wenige Jahre bevor – bei Baudelaire – das Hässliche, Böse und Kriminelle als gleichberechtigte Wege poetischer Ausdrucksfindung neben das Schöne treten, das seinen unbedingten Vorrang damit verliert, versucht Rosenkranz, das Hässliche als Heteronomes, als bloße Abirrung zu denken. Das wäre weiter nicht bemerkenswert, würde Rosenkranz’ Unternehmen nicht von der sichtlichen Lust und Faszination an Phänomenen des Hässlichen getragen. Zwar spricht er dem Hässlichen jede Autonomie, erst recht den Status des Absoluten ab. Es sei bloß relativ, eine ‚Negativform des Schönen‘, habe keine Kraft positiver Setzung. Im Übrigen regeneriere das Schöne sich auf dem Umweg über das Hässliche, weil dieses nur eine empirische, keine ideelle Kraft habe. Das Schöne bleibt auch bei Rosenkranz das Primäre, absolut Vorrangige. An der Moralisierung des Bösen scheiden sich die Geister seit Langem. Ob allerdings die Beschwörung des Bösen als einer absoluten und autonomen Instanz mehr ist als eine vom Schrecken des Handelns entlastende Diffamierung einer ‚didaktischen Ästhetik‘, scheint doch äußerst fraglich. Die Beschwörung des Bösen ist keine Tat, sondern eine Metapher. Allzu viele haben nicht der Obsession des Realen, sondern bloß dem metaphorischen Charme des Dekadenten gehuldigt. Aufseiten der Gestalter jedenfalls ist

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es längst nicht nur opportun, sondern geradezu geboten, mit dem Verweis auf den Platonismus der guten Form entweder den Stil der Moderne oder umgekehrt gerade deren kärgliches Scheitern zu identifizieren. Ein Leichtes also, den mittlerweile klar aufgelisteten Ausweglosigkeiten der ‚guten Form‘ die Hoffnung auf deren Negativfigur entgegenzusetzen. In der Tat macht die gute Form ja nicht bloß den Konsumkapitalismus der 1950er-Jahre als utopistisch verbrämte Wissenschaftsgläubigkeit sichtbar, sondern auch die Vorgeschichte moderner Gestaltungstheorie als eigentliche Naturgeschichte der Naivität kenntlich. Wer die einschlägigen Traktate der Modernisten liest, kann sich nicht erklären, weshalb solche Haltlosigkeiten, die noch nicht einmal Kant’scher Vernunftkritik zu genügen vermochten, im Bereich der Ästhetik und nicht dem einer Neurosenlehre der Zwangsmoral diskutiert worden sind. Vorbei die Zeiten der gepflegten Naivität – wer heute gegen die gute Form das Lob der schlechten anstimmt, der bewegt sich auf demselben Bewusstseinsniveau wie die ästhetischen Positivisten der totalitären Lebensplanung im Namen des Guten und Wahren. Denn er glaubt immer noch an eine konsistente Methodologie. Perspektivenreich aber sind nicht mehr Dekrete wie das vor einigen Jahren noch mögliche Plädoyer für Banaldesign und den Kult des Hässlichen (Alessandro Mendini), das sich nicht mehr als Negativform des absolut Schönen, sondern als autarke Größe sieht. Das Problem ist nicht mehr die Selektion von gut und schlecht, schön und hässlich, sondern die Unvermeidlichkeit des Herstellens und seiner Produkte. Ob gut oder schlecht, methodologisch abgestützt oder nicht: dass schöne und hässliche Dinge, Häuser, Tassen, Stühle, Städte geschaffen werden, ist eine Apriori-Wirklichkeit und unvermeidlich. Das besagt, dass, unabhängig von Niveau-Anstrengungen, die Herstellung der Dinge und Bedeutungen grundsätzlich nicht mehr an Unterscheidungen wie ‚gut‘ und ‚böse‘, sondern einzig in einer meta-theoretischen Reflexion festgemacht werden kann. Zu dieser gehört nicht die Zurückweisung der guten im Namen der schlechten Form, sondern die Einsicht in unvermeidliche Kontingenz und Komplexität. Kontingent ist, was weder notwendig noch unmöglich ist. Kontingenz verweist nicht auf binäre Codes, sondern auf Kontexte: ‚gut‘ ist ein Verweis auf Kontexte. Was Kontingenz leistet, ist leicht zu verstehen: die Formulierung des jeweils höherstufigen, eines komplexitätssteigernden Kontextes. Die Inversion der guten zur schlechten Form hat gewiss den Vorteil, Gestaltungspraktiken beliebig, meist zu Recht, diffamieren zu können, wenn auch nicht mehr ganz klar ist, was Gestaltungspraktiken überhaupt noch leisten können, wenn schon die Schöpfungsgeschichte nichts anderes ist als eine kontingenzabweisende und eher mühsame Selbstbeschwörung der guten Form. Aber diese Inversion tut so, als ob überhaupt eine Wahlmöglichkeit bestünde, als ob wir die Option hätten, zwischen der guten und der schlechten Form zu wählen. Das ist gerade nicht der Fall. Es könnte ja durchaus sein, dass auf der Ebene der Meta-Reflexion Gestaltung gar nichts Autonomes ist – weder für die positive noch die negative Theologie des Geschmacks. Immerhin steht die Aufgabe an, die Theodizee-Problematik der Gestaltung grundsätzlich zu überwinden. Wenn klar ist, dass die frühere Gutgläubigkeit positiven Gestaltungsdenkens heute im Lager der Schlechte-Form-Apologeten Unterschlupf gefunden hat, weil die unendlich oft erzählte Geschichte von der

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Selbstblamage des Wissenschaftsdesigns der guten Form nicht einmal mehr als Witz funktioniert, dann verschärft sich das Problem einer moralischen Gängelung des Ästhetischen ein weiteres Mal. Auch die Apologeten der schlechten Form – also diejenigen, die wissen, wie die Säuberung von Aufgaben wirklich aussieht, weil sie den blinden Fleck der guten Form kennen – haben ihren, mittlerweile ebenso prominent wie obsolet gewordenen Platz in der Geschichte der Ästhetikabwertung gefunden.

Geschrieben am 25. Mai 1994.

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9 Gemeinsinn und Revolte

9  Gemeinsinn und Revolte Vorab: Es geht nochmals um das Erbe der urbanen Moderne, das Versprechen der Städte für Freiheit, Selbstbestimmung, Momentanes, Ephemeres, Anarchisches, Anonymes. Damit schließt sich der Kreis der in diesen Abhandlungen erörterten Themen. Nochmals Utopie, nochmals Exzess. Es sind aber auch ständig Seitenblicke nötig auf, anfänglich immer stark störende, vielleicht gar anhaltend irritierende Erscheinungen neuen politischen Verhaltens. Neue Protestformen, ‚gilets jaunes‘ zum Beispiel, zwingen zu neuen Auffassungen vom Gemeinwesen, von der je subkulturell und gegenkulturell wirkenden Zersetzungen. Gebrauch und Einsatz von zeitgenössischen Kommunikationsmitteln, -geräten und -medien stellen eine Provokation besonders für zeitgenössische Designtheorie dar. Was macht das mit dem ‚Gemeinsinn‘? Ist er eine Illusion geworden? Was, wenn sub- und gegenkulturelle Aneignungen des Populären immer schon weiter sind als der politische Konsens und besonders die hilf- und harmlosen Selbstfindungsversuche der politischen Eliten, die zur Oligarchie der Handlungsunfähigkeit bei nicht gemeinsam teilbaren, dennoch gemeinsam aufgegeben, alle Handlungsoptionen lähmenden und überfordernden Problemen verdammt sind. Öffentlicher Revoltismus, zersetzter Gemeinsinn, je populistische Aufkündigung aller bisherigen Politik, Unterlaufen des Systems, blinde Selbstartikulation bei totalisierter Selbstorganisation markieren zugleich ein systemkonformes, angepasstes Leben in der ‚black box‘. Neue Tendenzen werden im Umriss deutlich. Allerdings nicht so, dass sie gut analysiert werden können. Sie indizieren vielmehr, dass etwas im Gange ist, das noch nicht wirklich abzusehen ist. Theorie wird hier zum vorläufigen Prozess tastender Formulierungen, von Vermutungen, Zuspitzungen, je transitorischen Ansprüchen. Jedenfalls gibt es für solche Theorie keine empirische Evidenz, ja, nicht einmal eine gesicherte Empirie. Alles hängt, so scheint es, vom Gestus und den Neigungen der je divers radikalisierten Bewegungen und Interventionen ab.

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ALLTAG ALS KULTUR? „Der Mann, der mit dem Surfbrett den Atlantik überquert, dieser Mann glaubt von sich selbst, er stelle ein Abenteuer her. Was er aber herstellt, ist nicht ein Abenteuer, sondern eine Abenteuergeschichte.“1 Der Alltag ist eine Bilder- und Geschichtensammlung. In einer Geschichte leben, sich eine Geschichte erzählen, das eigene Leben als eine ­Geschichte verstehen: Wie verhalten sich die Geschichten zur Geschichte? Der Alltag ist sicher nicht Geschichte: Die beginnt dort, wo er aufhört, wo er nicht mehr greifbar ist. Die Geschichte (als Historie) bildet nicht die Geschichten des Alltags und des Lebens ab und gibt gerade ein schlechtes Bild von den Geschichten, die ihr zugrunde liegen. Der Grund: Von ihm handelt die Vorstellung, die Oberfläche sei trügerisch, unwert, undurchsichtig und aus der Tiefe drohe Gefahr. Die Redewendungen des Alltags, die im Alltag immer auch über ihn selber reden, ihn bedeuten und ausdrücken, äußern oft diesen Anschein von Undurchdringlichkeit und Unzugänglichkeit. Der Alltag – wir kennen primär die Geschichtsschreibung, keine ‚Alltagsschrift‘ – das wäre ein schlecht erhellbares Feld, voll an Trug und Unsicherheit, Chaos und Unordnung. Die Ungewissheit, die der Common Sense (der gemeine Sinn) dem Alltag unterlegt, ist noch dort fassbar, wo ein unsicheres Leben sich mit starren Ordnungen umgibt oder zwangsweise sich ihnen unterwirft: Arbeit, Konvention, Tradition, Wohlverhalten, Moralität. Es gehört zu unserem Verständnis von Alltag, dass er in all dem nur ein Wertevermittler für anderes ist und immer auf die Bewahrung von Tradiertem hinausläuft. Trägt er diese Werte, dann ist er nichts anderes als ‚Kultur‘: die umfassende und verbindliche Art, wie gelebt wird. Kultur ist Lebensweise und nichts, was im Nachhinein aus der Veraus­ gabung von Lebenszeit herausgefiltert und als Objekt, Gut und Zeichen demonstriert, präpariert und präsentiert werden kann. Nun, wir wissen: Dieser Alltag, nicht allerdings aber seine Vorstellung, ist im Zuge der Modernisierung verschüttet worden. Die gewalttätige Durchsetzung der industriellen Arbeit (als einer Lebensweise von und zwischen Menschen) hat nicht nur die Menschen ihren Lebensgrundlagen entrissen, sondern auch einem Verständnis, dass zu den Produktionsmitteln des Lebens die Kultur, die Beziehungen, die Unmittelbarkeit (das Gegenteil von ‚Ware‘ also), die Gefühle, Sprache, das Reden, die Gesten, kurz: der verdichtete und erfüllte Alltag gehöre. Der späte Sozialstaat ist ein Korrekturversuch an dieser verlorenen Identität, an der Ent-Kultivierung und Enteignung des Lebens und der Alltäglichkeit – der ideellen und seelischen, nicht der materiellen Schutzseite wegen als Stützgeflecht aufgebaut. So zerrissen wie die Psyche, das Sozialverhalten und vieles mehr am modernen Menschen, ist auch die Sprache und das Reden über den Alltag. Der Alltag ist ein Thema geworden, weil die Bezüge, die ihn zu einer wirklichen Kultur gemacht haben, zerstört sind. Das Wort ‚Alltag‘ enthält deshalb immer auch Reste an einem Ungelebten, zumindest dort, wo es ihm nicht erschöpfend um die zerstreuende oder verkrampfte Regenerierung der Arbeitsfähigkeit geht. Dieser Alltag, der im Zuge der Industrialisierung –

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­darunter ist nicht nur eine Art des Produzierens zu verstehen, sondern eine Organisation von ‚Vernunft‘ der Mittel unter Vernachlässigung der Grundlagen, aus denen aber wiederum die regelorientierten Mittel und Funktionen schöpfen: Sprache, Beziehungen herstellen, Identität aufbauen, wissen, warum man dies und jenes tut, kurz: eine umfassende Symbolik, die einen mit glücklichen Bildern eines glücklichen Lebens versorgen kann – dieser Alltag also, der sich der Industrialisierung und Mediatisierung unterworfen hat und nun als ‚freie‘, d. h. wirklich unfreie Zeit wiederauferstanden ist, dieser Alltag kann natürlich nicht als die eine, allgemein orientierende Kultur verstanden werden. Der moderne Sinnrest am Alltag ist der städtische Alltag, ein Leben in Zentren und Institutionen, innerhalb einer tempo- und energieintensiven Urbanität. Und gerade hier gibt es nicht einen einzigen Alltag. Jede Beschreibung ist immer eine ‚ethnische‘ Verständigung über ‚fremde‘ Kulturen, oft auch ein Bedeutungskampf zwischen Kulturen, die im urbanen Raum neben- und gegeneinander leben. Die Dokumente zum Alltag, die einer modischen und oft verehrenden Forschung zum ‚Alltag‘ zugänglich sind, sind denn auch an der Beschreibung aufsplittbarer Kulturen orientiert: Industriealltag, Arbeiteralltag, Alltagsorte, Hausfrauenalltag, Sekretärinnenalltag, Frauenalltag, Alltagsmedien – alles auch kombinierbar mit ‚-Freizeit‘. Und doch gibt es verbindende und allgemeine Züge im Alltäglichen: die Prägungen durch Bilder, die Rezeption von Ereignissen, Vorstellungen, die Verhaltensweisen und Orientierungen in der Abgrenzung von öffentlichen und privaten Bereichen, von Beruf, Beziehung, Freizeit Arbeit und Abenteuer. Die Stadt dient als orientierendes Zeichensystem, definiert gewissermaßen ein Textbuch, das zwar mehrere, aber nicht vollständig verschiedene und erst recht nicht beliebige Texte enthält. Die Einheitlichkeit dieses Zeichensystems lässt sich bis zur Uniformität und den jeweils in sich uniformen einzelnen Sektoren (und Subkulturen) verfolgen. Ihnen entsprechen bestimmte Verhaltensweisen, Erwartungen, Tätigkeiten, verschiedene ästhetische Modelle und Genusspraktiken. Allerdings handelt es sich dabei nur oberflächlich um individualistische Charaktere: Es dominieren immer noch Typisierungen, die bis in die Innenräume reichen, der Seele wie der Wohnung. Der Alltag ist ein Projektions- und Produktionsfeld, das ständigen Einkreisungen und Reduktionen ausgesetzt ist: Wissenschaft, Kultur, Kunst, die öffentliche Ordnung und ihre Helfer, die Unmittelbarkeit des Eigenen – sie pendeln zwischen dem Alltag als Sensation, seiner Denunzierung als Banalität und jeweiligen Umkehrungen, Anpassungen und Regulierungen. Dazwischen steht der Kitzel des Banalen und die banale Sensation. Der Alltag als Versprechen der Kultur einerseits, als Kitschform andererseits – er bezeichnet ein Feld der Mythen, nicht der Dinge, erst recht nicht der ‚wirklichen‘ Menschen Alltag und Alltagswirklichkeit, das sind Prozesse, die Wirkliches und Unwirkliches verschieben, verbinden, trennen und neu zusammensetzen. Alltag wie ‚Alltag‘, Erfahrung und Begriff sind bestimmte Artikulationen im Umgang mit Lebensweise und Lebenszeit. Was über fünf Jahrhunderte sich entwickelt hat, von dem wissen wir, was es bedeutet, aber wir sind schwerlich in der Lage zu sagen, wo diese Bedeutungen denn jetzt wirklich greifbar sind. Der Versuch, eine durchgängige Geschichte zu erzählen,

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schaltet Unwägbarkeiten, damit aber bedeutungsschaffende Elemente aus. Er wechselt die Zeitstruktur: Der Nährboden für das, was an Objekten, Manifestationen und Werken einer Kultur exemplarisch vereinzelt wird, ist gleichsam geschichtslos. Wir können es zwar in Strukturen der Geschichte übersetzen, bewegen uns dann aber in einer anderen Zeit, die nicht mehr die ist, die den Bildraum der Bedeutungen abgegeben hat. Literatur wie bildende Kunst enthalten meistens reiche Dokumente des alltäglichen Lebens – nicht als Kolorit, sondern durch das Situieren einer Geschichte, eines Bildes, eines Affektes oder eines Symbols im Lebenszusammenhang. Diese Dokumente aber, die gleichsam die Historie ‚von unten‘ her anschaulich machen, sind wiederum Interpretation, d. h. mögliche Geschichten, die anders erzählbar wären oder anderen Geschichten Platz machen könnten. Die verarbeitende Geschichte des Lebens ist. nicht das Leben selber, sondern die Lebendigkeit einer anderen Zeit. Hubert Fichte schreibt so seine Bücher (über die afro-amerikanischen Religionen oder über St. Pauli – beide Male als ethnische Erzählung einer Lebenszeit, die in jedem Erzählen Interpretation wird), Jean Luc Godard dreht nur darum Filme. Als Kommentare und Konstruktionen einer Sinn- und Bilderkette, die vom aktuellen Alltag, seinen Grau- und Randzonen ausgeht, in Geschichte und Geschichten führt und im Zurückkehren feststellt, dass sie nur darum lebt, weil sie nie die wirkliche Darstellung dessen erreicht, worauf sie einzig zielt: das ‚wirkliche Leben‘. Der Alltag ist eine Konstruktion, die mit Mythen und Mythologien arbeitet. Das gilt für die Auffassung einer komplexen Kultur, ihre freie, müßiggehende Betrachtung wie für die Gemeinheit und den Kitsch. Der Alltag ist nicht nur voller Bilder, sondern ebenso voller Moralisierungen der Bildwelten. Das Gewöhnliche wie das Außergewöhnliche ist in eine Geschichte des Redens eingegangen, die den Alltag für kulturlos erklärt, weil er ‚Normalität‘ ist und Kultur eben der werthaften Unterscheidung bedürfe. Die utopische Auffassung teilt diese Annahme: Man misstraut der Normalität, weil sie gegen die Moralisierung der Bildwelten sich sperrt. Die Normalität entwickelt hartnäckige Strategien der Verweigerung: als Regression und als Schweigen. Nun ist aber der Kitsch, als den naturgemäß kulturelles Bewusstsein das Alltagsleben zu denunzieren pflegt, Ausdruck eines zumindest teilweise souveränen Verhaltens: die Masse der ‚Kitschmenschen‘2 mag sich um jeden Preis nicht auf das Niveau der Kulturretter emporerziehen lassen und ­verweigert stur die höheren Stufen menschlicher Entwicklung. Die ‚vorrationalen‘ Aspekte der verteidigten Normalität gründen nicht in externen Kulturwerten, sondern in der allseitigen Besetzung des Alltags mit Formeln und Funktionen. Die Bilder, die der Alltag liefert, schaffen ein vielschichtiges Bezugsnetz. Die Orientierung wiederum erobert sich über Instinkte und Wahrnehmungen so etwas wie einen Reaktions- und Erkenntniszusammenhang im anonymen Raum als Konsumentenverhalten, Klasseninstinkt, als Entzifferung von Erkennungszeichen, charakterlich aufschlüsselbaren Fassaden. Mode, Kleidung, Schreiten, Schminken, Gestikulieren, Sich-Verhalten – das ist der Horizont, in dem aus der anonymen Öffentlichkeit und der Bildwirkung des Alltags Bedeutungen herausgeschält und dem eigenen Urteilen, Vor-Urteilen und Aburteilen zugeführt werden. Edgar Allan Poe hat in Der Massenmensch (1840) den modernen Typus des urbanen Verhaltens beschrieben: den Passanten und Flaneur

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auf der Suche nach der Verführung durch Ereignisse, Sensationen, durch das Treiben und die Dichte des Gewühls, belebt in den Orten der Geschichten, nicht durch die Geschichte, sondern das innere Chaos der offenen Menge. Zu diesem urbanen ‚Code‘, zur Sprache dieser Öffentlichkeit im Anonymen gibt es Fragen, ohne die keine Alltagskultur Bestand hätte: • Ist es (selbst-)verständlich, dass es Schaufenster gibt, dass dort Waren ausgestellt werden, sich zu Objekten von Wunschbildungen verdichten, als Dekor ins Triebleben eingreifen und so ­etwas wie ‚soziale Kompetenz‘ messbar machen? • Ist es beliebig, mit welchen Aspekten das Phänomen ‚Geschwindigkeit‘ weite Bereiche von Verhaltensweisen zu Typen von Überlebenstraining umbaut? • Gib es – von Profitkulissen bis ‚Heimat‘ – so etwas wie eine ­sinnfällige Umgangsweise mit öffentlichem Raum, eine Be­ gehbarkeit der Plätze? • Gelingt es, Orte und auch Leerstellen zu sichern, die die ­Überreizung durch Bildeinwirkungen überhaupt noch zu einem ­Lebenskreis verbinden können statt zu einer abstrakten Summe verschiedener und mit unterschiedlicher Routine ­gehandhabter Rollen (Öffentlichkeit als Tarnung durch ­Rollen­vermögen)? Es gibt unzählige weitere Fragen zum Problem der ‚Urbanen Codes‘, dem Anspruch auf Öffentlichkeit und kulturelle Nutzung. Sie alle teilen eine Voraussetzung: dass Kultur in Niederungen und Schattenbereichen beginnt, die sich noch nirgends und abschließend zu einem Kunstgut verdichtet haben. Es ist der träumerische und traumatische Bereich, der hier wirkt und der neben der praktizierten Autonomie der Nutzung – und ihrer Dinge: vom Gartenzwerg über den Reiseprospekt, Lippenstift, den Geruch der Seife, Kino, Straße, Lokale, erkaufte und verkaufte Naturbilder bis zu Flipperkasten, Utopie und Glück – immer Bildungen zulässt, die Wirklichkeit als Idyllen erzeugen. Design und Werbung haben hier ihr Reich: Sie okkupieren den ‚Sinn des Schönen‘ durch die zielgerichtete Ausbeutung ‚ästhetischer Sozialschranken‘, sie machen aber auch deutlich, dass mit und in jedem Konsum immer auch ästhetisch begreifbare Entscheidungen getroffen werden. Auch die Banalität hat ihre ‚ästhetische Kompetenz‘. Der oft kompensierende Charakter der alltäglichen Bilder geht allerdings nicht auf das Design zurück, sondern auf die Arbeitswelt eines ‚kulturschöpfenden Alltags‘, der in nichts mit dem zu tun hat, was man im Ernst unter ‚Kultur‘ verstehen kann oder will. Es ist ein Reich banaler Zwänge und Niederträchtigkeiten, das Bilder einer glücklicheren Kultur nur in Resten von Früherem übrig lässt. Es gibt in der industriellen Arbeitswelt – und ihrem Nebenbei, der ‚freien‘ Zeit – keine glücklichen Bilder, sondern nur idyllische Erinnerungen. Vieles, was als Ausbeutung durch die Ikonen (Anbetungsbilder) der Kulturindustrie und der Massenverpackung von Sensation, Kitzel und Unversehrtheit wiederkehrt,

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handelt vom unzeitigen Traum des Schlaraffenlands. Seine Melancholie – von der noch jeder ­Action-Film zehrt – ist der Weltbemächtigung geschuldet, die an die Stelle sorgsamer und ungesicherter Erfahrungen im Umgang mit einer lebendigen und ‚launischen‘ Natur getreten ist. Der moderne Alltag lebt aber nicht nur aus Kompensation im Chaos ‚Stadt‘ und den punktuellen Aneignungen an ästhetischen Ereignissen, Erlebnissen und Bildern. Umgekehrt wäre ohne die chaotischen Schatten des Alltags die gesamte ‚moderne‘ Kunst nicht möglich geworden. Auch hier haben Modelle des Erzählens den Ausschlag gegeben: James Joyces Ulysses, der einen einzigen Tag im Leben Leopold Blooms schildert, die Städtebilder der Futuristen, die Poesien Mallarmés und vor allem Baudelaires, die Abfallkunst vom Surrealismus über Environments, Happenings bis Beuys und Hans Falks Containerbildern zeugen davon. Die Kultur des modernen Alltags ist parasitär und eingegrenzt, obwohl Kultur Innovation, d. h. Entgrenzung zu sein hätte. Die Ökonomie der Wünsche – die Freud konsequent unter den Titel der alltäglichen ‚Psychopathologie‘ gestellt hat – ist meist der regulierten Muße unterworfen: McDonald’s, der noch den Kunden rationalisiert, der ­Supermarkt als eine weitere Fabrik, das sich Versorgen mit kulturellen Gütern als eine industrielle Handlung, die steril zwischen seriellen Angeboten wählt. All die Bedrohungen, die hier aufgeführt zu werden pflegen, sind auch Chancen. Sie wahrzunehmen, das wäre die andere Seite der ‚Codes‘. Ihre mögliche Kultur liegt nicht im mystischen ‚Innen‘, sondern an der Oberfläche der Dinge und Ereignisse, deren zu große Nähe und zu schlechte Eingewöhnung den Blick der Wahrnehmung verstellt haben. „Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen. Vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, wie wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer Sichtweise, die das Alltägliche als Undurchdringlich, das Undurchdringliche als Alltägliches erkennt.“3 Der Alltag als Versprechen fragt nach einer Kultur, die mit dem symbolischen Werten von Freiheit und Bewusstsein ernst machen würde. Das ist immer mehr eine Frage nach den Voraussetzungen und nicht nach den ‚schönen Dingen‘ des Lebens. Und nicht zuletzt verweist die Frage nach der Alltagskultur auf die Bruchstellen zwischen Geschichte und Geschichten. Alltag und Kultur haben immer aufeinander gewirkt. Ihr Unterscheidung ist eine späte geschichtliche Errungenschaft, die das Auseinanderbrechen und die Entleerung auf beiden Seiten voraussetzt. Mit ihren träumerischen und traumatischen Elementen treibt die Alltagskultur immer auch mahnend gegen Drohungen der Moderne: Alltag und Kultur müssten erst wieder einer ‚unwerten‘ Geschichte entrissen werden. Sie rückten dann andere Kräfte (und nicht bloß deren Attitüden) ins Zentrum der Lebenstätigkeit: Imagination, Kreation, Kommunikation.

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Kasten 1 zu: Alltag als ‚undenkbares‘ Modell? „Wer nur in der Geschichte lebt und nicht in Geschichten, dessen Leben wird sinnlos. Die Geschichte ist den Menschen feindlich, und nur in Geschichten sind Menschen zu erkennen.“4 Der Alltag als Instrument – Konsum; Kaufkraft, die Wünsche gegen Objekte tauscht; Zerstreuung im Banalen als Konzentration für Arbeitsfähigkeit – wie der Alltag als wiedergefundenes ‚Terrain der Revolution‘: Beides reduziert die Lebensweise auf eine einzige Geschichte, die Historik. Das zeigt die Geschichte des Denkens, in dem der Alltag, immer eine schlechte Presse hatte. So unterschiedliche Denker wie Kant und Marx teilen zumindest eine Voraussetzung: dass alltägliches Bewusstsein immer Irrtum sei und nur wissenschaftliches Erkennen wirkliches Bewusstsein ermögliche. Alles Alltägliche gilt nur, wenn es transformiert, in eine höhere Form überführt wird. Alltag und Wissen sind aber einfach verschiedene Umgangsweisen mit Lebenszeit und Lebens­ orten. Raum und Zeit gehören zu den elementaren Orientierungsmitteln unserer sozialen Tradition. Sie ermöglichen uns Handlungen und den Umgang mit Institutionen, Positionen und Freiräumen (Grauzonen), inneren und äußeren Tatbeständen, Dingen, Bildern und Beobachtungen. Das Verständnis von Raum und Zeit ist zunehmend ab­ strakt geworden: Das abendländische Denken hat mit ihrer Synthese eine Position markiert, von der aus sämtliche Ereignisse dadurch aufeinander bezogen werden können, dass sie einem einheitlichen, allgemeinen und unveränderlichen Maßstab unterliegen. Der philosophische Zugang zum Problem der Zeit (es gibt natürlich gewichtige Ausnahmen darin: Hegel, Steiner, Nietzsche, der Existenzialismus) setzt bestimmte Wertungen fest und versucht, ‚Zeit‘ als eine Gegebenheit außerhalb des ‚Flusses der Zeiten‘ selber aufzupassen: als ewiges Gesetz der Natur oder der Vernunft. Die moderne Philosophie versucht zunehmend, den Wandel objektiver Kategorien (ohne deren Idee preiszugeben) in empirischen Bereichen zur Kenntnis zu nehmen. So hat die ‚kritische Theorie‘ die ‚Kulturindustrie‘ im Amerika der 1940er-Jahre als warenförmige Durchbildung des seelischen Lebens der Menschen verstanden. Jürgen Habermas untersucht das industrielle Verhältnis von Arbeit und Freizeit als Gewaltpotenzial unfreier Kulturen. In seinem neuesten Werk Theorie des kommunikativen Handelns5 fragt er nach der aktuellen Widerstandskraft von Lebenswelt und Lebenssphären, die von der funktionalistischen Vernunft abstrakter Systeme (Recht, Administration, Fabrik) nicht aufgesogen werden können, wenigstens nicht widerstands-, rest- oder reibungslos. Die wichtigen Arbeiten zum Problem der Lebenswelt und des Alltags haben eine vehemente anti-kapitalistische Komponente: Unter dem Zeichen philosophischer Versprechen – Glück, Freiheit, Solidarität, Würde – scheint es unmöglich, dass Lebenskultur im System von Fabrik und Freizeit, Privatleben und öffentlich-rituelle Unterwerfung unter besondere Zwänge und einseitige Interessen wirklich zur Geltung kommen können. Das Widerständische am Alltag hat auch in der französischen Philosophie eine starke Tradition. Henri Lefebvre lässt diesbezügliche Untersuchungen jeweils mit dem Revolutionspathos des endlich ‚wiedergefundenen Festes‘ schließen.6 In Mythen des ­Alltags untersucht Roland Barthes 1957 in bis heute unübertroffener – empirischer wie

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diskursiver – Weise die Sprache der modernen Ereignisse.7 Vom Fußballmatch über Striptease, Renault bis zum ‚Gesicht der Garbo‘, Beefsteaks und Pommes Frites beschreibt er den Alltag als ein Umwandlungsgeschehen von Riten und Mythen, Verhalten und Empfindungen. Der Mythos ‚Alltag‘ sei eine Sprache, ein System von Aussagen, deren Bedeutungen von Lesarten und immer veränderten Entzifferungsversuchen überlagert und durchmischt werden. Den Mythos definiert er als die Ersetzung von Sinn durch Form. Eine ursprüngliche, differenzierende und orientierende Bedeutung erstarrt. Greifbar wird, was kein präzises Bild der wirklichen Ereignisse mehr gibt und doch den einzig möglichen Begriff dieses Wirklichen bildet.

Kasten 2 zu: Zwischen Alltag und Ausbruch: Feste Feste unterbrechen den Alltag. Sie sind anders und drücken ein Anderes aus. Und doch sind sie Teil des Alltäglichen, nicht dieses Andere, sondern ein Zeichen, dass es Anderes gegeben hat. Ob in asketischer oder ekstatischer Form, ob in Konventionen erstarrend oder nach Lebenskräften gierend: Im Fest geht es immer um das Eingedenken sonst unzugänglicher Kräfte, um Beschwörung, Verehrung, Triumph, Trauer, Dank, Mahnung, Hass oder Abwehr. Im Grunde ist das Fest nicht des Themas wegen da, sondern weil es Prägungen und Konturen auflöst und eine ‚Gemeinde‘ schafft. Es braucht nicht unbedingt eine Masse zu sein, aber es sind bei einem Fest immer mehr da als sonst. Fest bedeutet – ob sakral oder profan, nach innen oder außen gewendet – immer Intensität. Selbst im christlichen Fest, einer nach innen gekehrten und individualisierten Besinnung, wirkt so etwas wie die Erinnerung an ein pralleres, kollektives Glücksversprechen nach. Feste wenden sich an den Alltag zurück und fragen nach seinem Lebenssinn. Der Massencharakter des Festes zeugt davon: Er besteht in der Fähigkeit zu Genüssen und Genusshandlungen. Seit alters her sind Feste immer ungewöhnliche, d. h. auf ‚göttliche Prinzipien‘ bezogene Akte gewesen. Das Fest diente dazu, das gleichförmige Kontinuum der Zeit aufzubrechen. Ziel ist: Materielle und profane Tätigkeiten auszuschließen. Unser Sprachgebrauch zeugt noch davon: Fest-Zeit, Fest-Spiele, festlich hergerichtete Räume etc. (Fest und Ferien haben im Lateinischen eine gemeinsame Wurzel). Das Fest bezeichnet einen mythischen Akt (durch den es auch die ‚freie‘ Zeit des modernen Alltags durchwirkt): Seine Daseinsberechtigung ist ein Geschenk und nicht durch eigene Leistung begründet. Verbindungen mit einem Übergreifenden werden in einer besonderen Weise erlebt: Götter werden zu Genossen. In vielen Zeugnissen aus verschiedenen Epochen findet sich die Freud’sche Auffassung bestätigt, das Fest sei „ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzess […] die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt“.8 Der Überschwang und die Zeremonie des Festes machen ihren Erfolg von der ständigen Erneuerung abhängig. Das Fest lebt von der ungebrochenen Zustimmung und dem unbelasteten Zugang zu dem, was Grundlagen für die jeweilige ‚Welt‘ (und ihrer Deutung) abgibt. Elias Canetti rekonstruiert in Masse und Macht (1960) Archetypen (Bilder, Metaphern, ­Abläufe,

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Motive) des Festes: „Nichts und niemand droht, nichts treibt in die Flucht, Leben und und Genuss während des Festes sind gesichert. Viele Verbote und Trennungen sind aufgehoben, ganz ungewohnte Annäherungen werden erlaubt und begünstigt. Das Fest ist das Ziel und man hat es erreicht. Man bewegt sich durcheinander und nicht miteinander fort. Die Dinge, die aufgehäuft daliegen und von denen man bekommt, sind ein wesentlicher Teil der Dichte, ihr Kern. Sie sind zuerst gesammelt worden, und erst wenn sie alle beieinander sind, sammeln sich die Menschen um sie. Man lebt auf diesen ­Augenblick hin und führt ihn zielbewusst herbei. Es spielt das Gefühl hinein, dass man durch gemeinsamen Genuss bei diesem Fest für viele spätere Feste sorgt. Ihre Tradition ist in der Gegenwart dieses Festes mit enthalten. Die Feste rufen einander und durch die Dichte der Dinge und Menschen vermehrt sich das Leben.“9 Selbst das christliche Fest, dessen heidnischer Charakter im Zeichen des asketischen Bilder-, Berührungs- und Genussverbots beklagt wird, hat solche Festkräfte bis heute am Leben erhalten. Allerdings muss – komplementär zum Alltag, der dem Fest seinen Rahmen gibt – gegen eine euphorische Auslegung gesagt werden, dass Feste heute wiederum nicht mehr als Chancen sind. Man kann sie als Korrekturarbeit am Alltag verstehen. Mehr als Möglichkeiten einer Einsicht in den Prozess und Kontext dieser Korrektur liefern sie nicht.

Kasten 3 zur Vorlesung: ‚Alltag und Kultur‘ Vom 3. Januar bis 14. Februar 1983 hält Hans Ulrich Reck im Rahmen der Volkshochschule eine Vorlesung über ‚Alltag und Kultur‘, jeweils Montags 20:15 bis 21:00 Uhr. Es geht darin um Sicht- und Verhaltensweisen, Prägungen und Bilder, Typen gegenwärtiger Kulturen im täglichen Leben und darum, warum sie – als fragmentarische Bilder – oft unbeobachtet bleiben. Folgende Stichworte dienen als Leitbilder: Alltag in der ‚hohen‘ Kunst – Kulturbereiche des täglichen Lebens – Naturbilder und der Sprachglanz der Dinge – Passanten und Passagen – Festlichkeit und Banalität – öffentliche Filter – Mythen des Alltags.

Geschrieben am 18. Dezember 1982 für das Magazin der Basler Zeitung, dort erschienen am 24. Dezember 1982 (S. 6/7) unter dem Titel „Der Alltag als Chance und Versprechen“. Der Text diente auch der Vorbereitung und Einstimmung auf einen Vorlesungszyklus an der Volkshochschule/Universität Basel, der vom J ­ anuar bis Februar 1983 unter dem Titel „Alltag und Kultur“ im zentralen Kollegiengebäude der Universität Basel am Petersplatz gehalten worden ist. Siehe dazu auch in der vorliegenden Anthologie im Kapitel 3 An der Schwelle zur Postmoderne – Wahrnehmung, Teleologie, Technologie den Beitrag „Kennwort: Grenzbe­ge­ hungen“ und darin das Kapitel ‚VII. Alltag und Kultur – Szenario für eine Bildersammlung im Spiegel der ­eingeübten Wahrnehmungskontrolle (Dia-Vorträge oder didaktische Ausstellung)‘.

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Aus: Peter Bichsel, Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1982; aktuelle Ausgabe: Peter Bichsel, Der Leser – Das Erzählen. Frankfurt a. M. 1997. Vgl. Hermann Broch, Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches. In: Gillo Dorfles (Hrsg), Der Kitsch. Tübingen 1969, S. 49–64. Walter Benjamin, Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1991, Bd. II. 1. Der Text stammt aus dem Jahre 1929. Aus: Peter Bichsel, Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1982; aktuelle Ausgabe: Peter Bichsel, Der Leser – Das Erzählen, Frankfurt a. M. 1997. Jürgen Habermas. Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981. Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., München 1974 f.; Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt a. M. 1972. Roland Barthes. Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1964. So Sigmund Freud 1913 in: Totem und Tabu; vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu (einige Übereinstim­ mungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker), Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt a. M. 1974, S. 287 ff. Elias Canetti. Masse und Macht. Hamburg 1960.

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DIE ANDERE SEITE DES UTOPISCHEN: WIEDERHOLUNGSZWÄNGE Zu den 1980er-Jahren gehören Kämpfe um die Stadt. Für subkulturelle Erneuerungsansprüche scheint wesentlich nicht allein ein Kampf um Freiräume in der Stadt, sondern um urbane Versprechen eines entgrenzenden, freien Lebens. Es fiele leicht, diese subkulturellen Bemühungen, die gelegentlich unter dem Titel der ‚alternativen Lebensformen‘ beansprucht werden, als Opfer und Objekt staatlicher Machtpolitik zu beschreiten. Dem entspricht ihre kompensatorische Überzeichnung, ihre Beanspruchung eines manifesten Widerstands als utopischer Ort und potenzielle Überwindung gesellschaftlicher Entfremdung. Die Mythologien des Opfers und die Mythologien des utopischen Aufbruchs entsprechen sich. Die so aufgebaute symmetrische Rhetorik lässt sich in den Auseinandersetzungen auf Schritt und Tritt beobachten. Was militante Suggestionen in der Verfolgung der vorgeblichen Utopien meinen, wenn sie nicht einfach die Lobpreisung des ‚Lebens allgemein‘ pflegen, ist aber eine viel banalere Suggestion: die staatliche Repression als Bestätigung eines Hangs zum kleinen Krieg. Unübersehbar, dass das ganze historische Arsenal der Führbarkeit von kleinen Scharmützeln die Fantasie des großen gesellschaftlichen Umbaus besetzt halten. Die okkupierte Fantasie scheint historisch unbewusst an die Darstellung der Welt durch Lagerbildung, die Reduktion des Politischen auf Freund und Feind, die Selbst-Stärkung an der Verweisfunktion eines Gegners anzuschließen. Die ernsthafte und spielerische Offensichtlichkeit, mit der kriegerischen Handlungsbestätigungen gehuldigt wird, die Mobilisierungskraft, die der Feind dem Eigenen zuführt, ist das eigentliche Feld des Utopischen. Dass gegen die handwerklich vorgetragenen Suggestionen eines ‚wilden freien Lebens‘ in der Stadt ordnungspolitische und polizeiliche Repression organisiert wird, ist ebenso klar beobachtbar wie die Bestätigungsfunktion, die sich selber stilisierende Opfer aus dieser Tatsache für die Reizqualität des utopischen Diskurses beziehen. Selbstverständlich wird eine Äußerung wie die hier vorgetragene umstandslos in die Lagerstruktur der Feindbildung einbezogen werden. Die moralische Rigidität war immer schon der Bodensatz des Utopischen: Die Erreichbarkeit der suggestiven Lebensversprechen ist ausgerichtet auf die Totalzustimmung zur Intention und auf die entsprechende Ablehnung bei Verweigerung einer bedingungslosen Unterstützung. Bleibt die Beobachtung, dass die gesellschaftliche Utopie einer herrschaftsfreien Intervention und Vorwegnahme freien Lebens sich bruchlos in ein vorindustrielles Lagerfeuerideal mit Verweisen bis zurück auf den apokalyptischen Bau der Arche Noah, die Individualitätsfantasie des Robinson Crusoe, den Fundamentalismus indianischen Naturerlebens, die kollektive Rührseligkeit der Wandervogelbewegung einfügt. Diese Ungleichzeitigkeit allerdings scheint von den Protagonisten weder bemerkt noch ein Problem zu werden. Im Anschluss an die Rede Carl Friedrich von Weizsäckers am europäischen Kirchenkonzil im Mai 1989 in Basel haben Vertreter der ‚Stadtgärtnerinnen‘ programmatisch den humanistischen Impuls als konkrete Pflicht zum Wi-

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derstand gegen ‚Zerstörung‘ aller Art vereinnahmt. In Äußerungen, die in der ‚Wochenzeitung‘ vom 26. Mai 1989 (auf S. 15) abgedruckt sind, tritt die symmetrische Tiefensteuerung des Utopischen durch die Suggestionen eines allgegenwärtigen Krieges und demnach die notwendige Bereitschaft, jene durch diesen hindurch zu bestimmen, offen zutage. „Wir sind keine isolierte Bewegung, sondern fühlen uns verbunden mit autonomen Bewegungen in anderen Städten. Hier in Basel, auf dem Gelände der Alten Stadtgärtnerei, setzten wir die Idee und den Traum von einem selbstbestimmten Leben und einem herrschaftsfreien Umgang miteinander in die Tat um – bis wir am 21. Juni 1988 geräumt wurden. Wer von euch zugereisten Friedenstouristinnen kann sich vorstellen, dass hier schon sehr bald wieder Krieg geführt wird? Krieg mit bewaffneten Polizisten, mit Gummi­geschossen und Knüppeln. Krieg mit einem Nervengas, genannt CS – weltweit von der UNO geächtet. Der Krieg eines raffinierten Repressionsapparates, der uns verhaftet und unsere Anliegen kriminalisiert, uns als einzelne psychisch terrorisiert.“ Nun ist nicht zu bestreiten, dass z. B. in der Schweiz abweichendes Verhalten kriminalisiert wird. Ebensowenig allerdings ist bestreitbar, dass der politische Handlungsimpuls solcher Utopie nicht gesellschaftspolitisch, sondern defensiv auf die Sicherung eines eigenen, selbstverwalteten Gärtchens ausgerichtet ist. Dafür wird bis zur Sentimentalität die Rhetorik des Opfers gepflegt. Die beanspruchte Utopie ist wenig mehr als ein verbales Anmutungspotenzial zu einer Art von Selbststilisierung, die Solidarität offensichtlich nur moralisch erzwingen kann. Was als wirkliche, gebaute Utopie dieser Bewegungen in den 1980er-Jahren erscheint – von den Chaotikons in Zürich 1980/81 über die Baumhütten der Startbahn West Frankfurt über Berns ‚Zaffaraya‘ bis hin zu den Besetzungsorten der ‚Stadtgärtnerinnen‘ in Basel (Alte Stadtgärtnerei, Kino Union, Kasernenareal)1 –, rückt aber diese Utopieansprüche in einen anders gelagerten Bedeutungszusammenhang ein: den unbewussten, imitativen Wiederholungszwang archaischer Häuslichkeits- und Ortsvorstellungen. Die Suggestion des privilegierten Überlebens und Erlebens in der Arche Noah und am Lagerfeuer dient ganz den Fixierungen auf projizierte Einzigarkeit und unmittelbare Erlebnisdimensionen. Dass solches immer noch umstandslos als utopische Intervention in die Industriekultur akzeptiert wird, hat zum Grund allein, dass derartige Utopismen von allen Seiten als vollkommen unwichtig und insignifikant gegenüber dem gehalten werden, was politische Rhetorik im Sinne der Herrichtung eines Demonstrationsgutes für Beliebiges daran instrumentieren kann: sei’s die groteske Behauptung einer bösen Gewalttätigkeit, sei’s die nicht weniger groteske Behauptung, darin manifestiere sich der ‚utopische , der ‚neue‘, der ‚ganze‘ Mensch. Die Do-it-yourself-Suggestion archaischer Träume bezeugt eine gravierende Ungleichzeitigkeit von Moral und Gesellschaft. Es handelt sich aber schwerlich um eine produktive Ungleichzeitigkeit. Eine Ehrenrettung der eingeklagten Moralität der Stadtgärtner-Utopien müsste sie als hilflosen Ausdruck einer Unmöglichkeit interpretieren, in der technischen Industriegesellschaft (erst recht ihrer kapitalistischen Ausprägung) überhaupt noch radikale Interventionen orientierend glaubhaft zu machen. Der Utopieanspruch markiert eine Tragik: wenn nichts mehr bleibt außer solchen Suggestionen, dann ­ echtszuschreibungen bleibt tatsächlich gar nichts mehr. Lässt man die abstrakten R

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­hinter sich, dann verkörpern solche Utopien nichts anderes als die abstrakte Negation der Lebensbedingungen, sie plausibel und kompensatorisch erst erzwungen haben. Die Radikalität solcher Utopien zielt auf ein einziges Gut: die Liquidation von Geschichte. Die Behauptung, der Ausstieg aus der Geschichte sei nicht nur möglich, sondern unumgänglich, ist der wesentliche Kern aller mit solchen regressiven Lebensformen vorgetragenen utopistischen Behauptungen und ein weiterhin zeitgenössischer ­Fundamentalismus.

Geschrieben am 17. Juli 1989 für eine politische Zeitung in einmaliger, tagesaktueller Ausgabe (gedruckt bei Rumzeis, POB-Druckerei) der Basler Opposition, welche parallel zur Besetzung der utopischen Aktivistin­ nen und Aktivisten seit der Okkupation des Areals der Stadtgärtnerei, erneut und wieder einmal, gegen die Zwangsräumungen protestierte und die Einrichtung autonomer Jugendzentren forderte.

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Aufnahmen vom bisher letzten Refugium der ‚Stadtgärtnerinnen‘, Kasernenareal Basel, wurden zwei Tage vor der Räumung vom 31. Mai 1989 gemacht von Edi Gysin.

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OFFENES DESIGN/PUBLIC DESIGN Anhand ausgewählter Beispiele soll mittels analytischer Dokumentation in interdisziplinären Werkstattgesprächen das vielfältige Zusammenspiel des öffentlichkeitswirksamen Designs mit politischer Kultur, Alltagsstil und Urbanität untersucht werden. Ziel ist, andere Erkenntnisformen gegenüber der Designwirklichkeit zu entwickeln. Die Erörterung praktischer Beispiele soll zeigen, dass eine veränderte Interpretation, Erkenntnis und Definition der Wirklichkeit eine veränderte Realität des Design nach sich zieht. Es geht um das Aufspüren von Querbezügen zwischen Design, Gestaltungsprozess, Konzeption und philosophischen Aspekten des Entwerfens. Das heißt nicht allein, dass anstelle der Endprodukte und ihrer formalen Darstellungsweisen die Phasen davor, der offene und noch nicht restlos determinierte Prozess in Zwischenstadien, zum Gegenstand der Erörterung genommen wird. Gemeint ist primär, dass das Aufstöbern der Umbruchpunkte einer Gestaltungsentwicklung auch die verborgene Struktur des öffentlichkeitswirksamen Designs erst darstellen kann. Die Bedingungen der Möglichkeit eines öffentlichen Designs liegen gerade nicht in den Bedingungen der Realisierung, sondern in der Selektion von Gesichtspunkten, die zwischen denkbaren und nicht akzeptierten Designkonzepten Unterscheidungen treffen. Zwar verstärken sich die Versuche einer designtheoretischen Bearbeitung der öffentlichen ‚pattern languages‘. Aber im Zeitalter eines synthetisch verallgemeinerten und totalen Lifestyle-Designs, im rasanten Zerfall der öffentlichen Kultur, in der Tendenz einer restlosen Ver-Ordnung urbanen Lebens als organisierter Verdrängung historischen Bewusstseins, in der Epoche eines neuen Narzissmus, der Tyrannei der Intimität – in dieser Situation erscheint die Aufarbeitung historischer Komplexität innerhalb von Gestaltungszusammenhängen auch theoretisch ungesichert. Hier liefert die Kunstphilosophie einen Ansatz, sowohl die ‚Verklärung des Gewöhnlichen‘ zu verstehen wie auch, das Public Design mit dem Begriff der offenen Struktur zu erläutern. Umberto Eco hat in Opera aperta1 einen solchen Begriff entwickelt. Eco beobachtet ‚informel‘ und ‚Tachismus‘ als Tendenzen, in denen die Bildform zur Erörterung der Rezeption von Materialien und ästhetischen Prozessen dienen kann. Die zunehmende Selbstreflexion des Künstlers findet Eingang in die Form seines Arbeitsresultats. Parallel dazu schreitet der Vorgang der Wahrnehmung von der Intention zur Rezeption. Die Form wird zu einem Möglichkeitsfeld, die ästhetische Bedeutung zu einem Element einer ständig fortschreitenden Kommunikation. Das Modell der Werke gibt keine objektive Struktur wieder, sondern die Struktur einer Rezeptionsbeziehung. Form ist, was Ordnungen ihrer Interpretierbarkeit beschreibbar macht. Die offene Struktur beinhaltet ein Modell, das nicht mehr unmittelbar auf die Existenz mit ihr vereinbarer Werke verweist. Es handelt sich um einen historischen Impuls. Uns scheint, Eco habe eine historische Tendenz aufgespürt, die im Design noch immer überlagert wird von veralteten Vorstellungen über die Dauerhaftigkeit von Dingen, die Wertbeständigkeit von Zwecken und die objektive Struktur einer funktionalen

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oder dysfunktionalen, in jedem Falle aber werkimmanenten Schönheit. Es bleibt der Schritt zu tun, dass die Werke durch die Permanenz von Lesarten durch den Rezipienten differenziert und abgelöst werden. Public Design wäre also die Erinnerung an die komplexen Relationen, die dem Konzept des gelungenen Designs notwendig – mit dem Hinweis auf den pragmatischen Zusammenhang der ‚angewandten Künste‘ – geopfert werden und die den Gedanken des offenen Designs als eines Forums für diskursive Interpretation nicht hinter die Zwänge der Nicht-Öffentlichkeit republikanisch bedeutsamer Umweltgestaltung zurückstellen. Historisch lässt sich an die immer wieder aufgelegte Debatte zwischen Manierismus und Barock erinnern. Dort beginnt nämlich der Kampf zwischen der offenen Struktur des Selbstbezugs und einer inszenierten Totalität eines vermeintlichen geschlossenen Werkes. Erkundungen der Darstellungs- und Interpretationsleistung stehen konträr zum Positivismus einer verdinglichten und verordneten Schönheit, die den Produzenten dem Wahrnehmenden überordnet. Nicht zuletzt strategisch: Die Geschmacksund Gestaltungselite definiert sich in diesem Zusammenhang als jene Gruppe, die nur so lange besteht, wie sie nicht auf Interpretationen der Rezipienten angewiesen ist. Oder noch deutlicher: solange sie nicht von Interpretationen anderer grundsätzlich bestritten wird. Dieses Problem des Widerstreits von Aufklärung und Gegenreformation ist bis heute dem Theoriestreit des Designs immanent: Die Etablierung des Stilbegriffs, die Begründung des Wertsystems Kunstgeschichte und die ersten Formulierungen des Funktionalismusprinzips der Schönheit (durch Lodoli und Greenough) fallen historisch alle in die Mitte des 18. Jahrhunderts und können als Antworten auf den Zusammenbruch der Renaissance verstanden werden. Es sollen hier also Beispiele interessieren, Objekte, die prozessbezogen sind, öffentliche Werke, die den Widerspruch von Nutzung, Interpretation und Werk illustrieren können. Es geht um Nutzungszusammenhänge, um Lokaltopografien, in denen Reflexion und Selbstreflexion möglich werden. Spezifische Positionen, die in Theorie und Geschichte des Designs reflektiert worden sind, sind meistens theoretischen Strömungen verbunden, die sich in Literatur, Film und Philosophie deutlicher äußern. Die Werkstattgespräche haben die Aufgabe, diese öffentliche Diskussion über offenes Design in Gang zu setzen. Das wäre Kommunikation über Public Design. Formal würde der Ablauf, immer gleich, so aussehen: 1. Präsentation eines Beispiels durch einen Analytiker/­Moderator; 2. Erörterung der Intentionen eines Gestalt-gewordenen ­Prozesses; 3. Kommentar durch verschiedene Fachleute; Widersprüche/­ Thesen; 4. Gespräch. Eine erste thematische Diskussion nennt als Erörterungsbeispiele: • urbane Platzgestaltung Barcelonas • Loos und das Sezessionismusproblem

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Nouvelles Villes/Bidonvilles in Paris russischer Formalismus italienischer razionalismo Kasseler Landschaftstheorie/Garten/Grün in der Stadt

Konkret werden folgende Themen und Sachbegleiter genannt: 1. Reichstagsgelände Berlin, Moderation: Dieter Hoffmann-­ Axthelm; 2. Wiener Initiativen, Moderation: Hermann Czech; 3. Nouvelles Villes in Paris/Bofill/Klassizismus und das ­Problem der Republik, Moderation: François Burkhardt. Durchführungsorte können sein: Berlin, Wien, Paris. Wir stellen uns vor, dass das IDZ Veranstaltungen dieser Art auch organisatorisch, d. h. unter Zurverfügungstellung des Namens und der prinzipiellen Zustimmung, im Ausland durchführen kann. Bedingung ist, dass die Veranstaltungen durch ein Mitglied der Konzeptgruppe betreut werden. Finanzielle Aufwendungen sind entsprechend Bestandteil dieses Konzeptes. Jede Veranstaltung – Rahmen: drei Mal pro Jahr – soll publizistisch festgehalten werden. Wir denken dabei an Werkbroschüren, die nicht kostenintensiv sein sollen. Wesentlich ist sowohl der lokale Diskurs, interdisziplinär, wie auch der internationale Dialog der ganzen Reihe.

Nach Gesprächen im Arbeitsrat des Internationalen Design Zentrums IDZ in Berlin, namentlich den Basler Architekten Leo Balmer, Tom Osolin und Andi Stöcklin, geschrieben von Hans Ulrich Reck am 2. Dezember 1985 als Konzept für eine international angelegte Reihe von Diskussions-Veranstaltungen (Werkstattge­ spräche, ergänzt durch Tagung, Entwurfs-Wochen, Symposien).

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Im italienischen Original erstmals publiziert 1962; deutsch: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973.

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GRAFFITI – ZEICHEN, RÄUME, KÖRPER: ­EINSCHREIBUNGEN UND VERWERFUNGEN Kürzlich notierten die Feuilletons renommierter Zeitungen, wieder einmal, dass ein neues ‚Bild‘ des ‚Graffiti-Künstlers‘ Banksy auf dessen Netz-Seite veröffentlicht worden sei. Niemand wisse, wo sich das Original befinde. Thematisch scheint es sich allerdings nicht mehr um ein Graffito, also eine insignienhaft oder emblematisch entworfene Schraffur und Kritzelei zu handeln, sondern eben wirklich um ein ‚Bild‘. Es zeige ein sich umarmendes Liebespaar, das sich aber nicht mit sich selbst beschäftige, sondern jeweils individuell und atomistisch getrennt mit dem eigenen, magisch leuchtenden Smartphone. Die Bildumgebung lasse vermuten, dass es sich um einen Ort in Großbritannien handeln müsse. Das markiert einen Endpunkt dessen, was unter ‚Graffiti‘ einmal zu verstehen war. Graffiti sind traditionell durch Gruppen intern codierte und in eine spezifische Szene hinein kommunizierte Zeichen, Embleme, Logos, Abbreviaturen, mit denen keine isolierte Referenz oder Bedeutung ausgedrückt, sondern ein Raum, ein Terrain, ein Territorium beansprucht, behauptet, bestritten oder erobert wird. Der Code des Verhaltens schreibt dabei fest, dass bestimmte Graffiti mit bestimmten Emblemen als Ausdruck von Gruppen- und Hierarchieansprüchen im Prinzip nicht angetastet, also nicht übersprayt, verändert oder gar gänzlich gelöscht werden dürfen. In der Verschonung bestimmter Zeichen drückt sich Achtung aus, wie überhaupt die ganze Praktik nicht nur Kampfzonen definiert, sondern durch einen starken Ehrenkodex geprägt ist. Man kann für die visuelle Praktik des ‚Graffito-Setzens‘ auch von je subjektiven Sprechweisen, sogenannten ‚Ideolekten‘ sprechen und merkt sofort, dass der Zeichengebrauch dieser Markierungstechnik in ein komplexes Feld von gruppenbezogenen ­Lebensstilen und kulturellen Gewohnheiten eingebunden bleibt. Ein Graffito ist Teil ­eines sich in den 1980er-Jahren entwickelnden und rasch durchsetzenden Konzeptes, das mit Lebensstil und ‚Ideolekt‘, also spezifischen, nach innen gerichteten Sprachen und Ausdrucksweisen zu tun hat. Die Geschichte ist inzwischen aufgearbeitet und gut bekannt. Auch hat sie sich in gewisser Weise erschöpft. Es wurden U-Bahn- und Vorortzüge besprayt, die als mobile Zeichenträger verwendet wurden, um abgespaltene und depravierte eigene Lebensformen in eine Öffentlichkeit zu transportieren, die auf der anderen Seite der Markierungen oder Abspaltungen herrschte und mit diesen bisher nichts zu tun haben wollte. Wäre es nur um eine Aussage, eine Referenz oder einen Bedeutungsanspruch gegangen, dann könnte man diese mobilen Zeichen-Setzungs-Formen am ehesten mit den Alphabetisierungskampagnen der experimentierenden Avantgardekünstler in den frühen Jahren der nachrevolutionären Sowjetunion vergleichen. Mit El Lissitzkys ‚Rostra‘-­ Fenstern, seinen Kiosken, mit den Bild-Zeichenschriften Alexander Rodschenkos an Hauswänden oder den als Zeitungsträgern visuell benutzten Zügen, die Wladimir Majakowski und andere konzipierten, um die neuen, noch nicht verstandenen B ­ otschaften

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an ferne Orte zu bringen. Es ging auch hier schon um ein Eindringen in eine fremde, ja feindliche Öffentlichkeit, was man zugleich begreifen kann als eine Aktion der Zukunft, die in eine als vergangen, überholt und abzulegen empfundene, eine entschieden zurückbleibende Gegenwart hineinwirkt, um diese zu transformieren. Das Eindringen in vordem verschlossene Räume ist also immer zugleich mit einer Zeitachse verbunden. Graffiti kommen nicht nur von ‚anderswoher‘ oder von außerhalb, sondern auch und gleicherweise aus der Zukunft. Das machte sie zu futuristischen Zeichen, die konzeptuell leicht für die avantgardistischen Segmente der Kunst-Szenen ästhetisiert werden konnten und können, auch wenn sie mit denen zunächst nichts zu tun haben wollten. Kehren wir noch einmal zu Banksy zurück. Der Ausdruck ‚Graffiti-Künstler‘ spricht gewiss Bände. Zwar redet man im Kunstsystem schnell von ‚Künsten‘ oder ‚Künstlern‘, wenn man die Umwertung bisher kunstferner Formen meint, die mit formalen Qualitäten ausgezeichnet werden sollen. Aber damit wird nur ein Alltagssprachgebrauch über ‚Kunst‘ im Sinne von ‚Kunstfertigkeit‘ benutzt. Tiefer greift jedoch derjenige Mechanismus, der das Kunst-System unter das Gebot von Beschleunigungseffekten, Avantgardeprämissen und unbedingter Innovation stellt. Seit der Entfaltung der künstlerischen Ansprüche von radikal autonomen Gestaltungsbedingungen durch die Generationen der Kubisten, Futuristen und Expressionisten gibt es die Notwendigkeit, in Kunst zu verwandeln oder in deren Reich zu transportieren, was bisher keine war. Kandinskys bedingungslose Umstellung des Ausdrucksschaffens von allegorischen Referenzen auf intensivierte innere Klänge öffnet 1912 auch theoretisch die bildnerischen Prozesse entschieden auf das hin, was als Praxis bereits etabliert war. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erschien, gebündelt im anti-akademischen Hasspotenzial der Aufbruchsbewegungen alles interessant, was entschieden nicht oder noch nicht Kunst im Sinne der westlichen, zumal der europäischen Zivilisation war. Man griff auf Quellen, Potenziale und Gebiete bisher als außer- oder vorkünstlerisch geltender Bereiche: Ausdruckssprachen von ‚Wilden‘, Kindern‘, ‚Geisteskranken‘ und anderes wurde von den Demoiselles d’Avignon Picassos (1907) bis zum Surrealismus und Hans Prinzhorns Bildniskunst der Psychiatrisierten (1926) kanonisiert. In nicht einmal zwanzig Jahren wurden Codes, Rhetorik, Repertoire, Kontext und Deutungsform bildnerischer Ausrücke radikal verändert. Darauf bauten dann auch Jean Dubuffets ‚art brut‘ und die zahllosen Varianten der informellen Künste in zahlreichen Ländern der Nachkriegszeit auf. Kunstwürdig und kunstwert wurde nun primär alles, was neue, ‚außen‘ liegende Sensibilitäten erschloss. Auch bisher verfemte Materialien, Körpersäfte, Dreck, Schmutz, kurzum: das Verworfene und Verpönte wurden interessant. Pop Art, Land Art, die Kultivierung und Erschließung von bisherigen Nicht-Orten und Nicht-­Formen, Nicht-Materialien der Kunst setzten diese Tendenz entschieden fort. All dies fand seinen Gipfelpunkt im System der nun nicht mehr im Blick auf Namen, sondern problemorientiert kuratierten zeitgenössischen Künste in der Gestalt von Harald Szeemann, der, von Alfred Jarrys Pataphysik und einem Interesse an Laienkünsten herkommend, schon Ende der 1960er-Jahre in einer umstrittenen, später legendären, mittlerweile nachgestellten Exposition When attitudes become form genau diesen prozessualen Zugang zu Ideolekten und Idiosynkrasien feiert, um wenig später, an

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der ‚documenta 5‘ (1972) Alltagsästhetik und bisherige außerkünstlerische Potenziale als regenerative Quellen zeitgenössischer Kunst zu adeln. Was sich in Banksys Kunstbehauptung ausspricht, hat also mit ‚Graffiti‘ überhaupt nichts zu tun, sondern bekräftigt in einem sehr generellen Sinne die Valorisierungskraft eines Kunstsystems, das in nichts anderem besteht als der Durchsetzung der Erwartung und Behauptung, bisherige Nicht-Kunst sei jetzt erst und recht eigentlich die primär ‚interessante Kunst‘. Das bezieht sich aber in keiner besonderen Weise auf den Bereich von Graffiti, sondern ritualisiert an diesem Beispiel die Formen und Tendenzen aller Kunstbehauptung eines ‚Neuen‘ und damit auch Ökonomisierung bisheriger Nicht-Kunst. Noch immer vollzieht sich diese Mechanik im Geiste Duchamps: Aus einem Alltagsgegenstand wird ein Fetisch von ‚Kunstwerk‘, dessen Stofflichkeit nicht in seiner physikalischen Eigenschaft, sondern seiner nominalistischen Verklärung zum Kunstfetisch gründet. Zurück zu ‚Graffiti‘. Parallel zur Kunstbehauptung hat sich inzwischen die ‚wahre‘ Geschichtsschreibung der authentischen Lebensformen der South-Bronx in einer eigenen Ikonografie und Historiografie entwickelt und behauptet. Graffiti und Rap, HipHop und Bandenrituale stehen im Zentrum dieser schwarzen Historiografie eines authentischen Lebensstils. Auch das ist eine Art von unvermeidlicher Institutionalisierung oder gar Musealisierung. Was aber ist mit Graffiti selbst geschehen, was aus dem wilden, illegalen, mit Mutproben verbundenen Sprayen geworden? Auch hier sind die Tendenzen bekannt. Es gibt Fortsetzungen der Vereinnahmung von Räumen in einer als feindlich empfundenen Gegenöffentlichkeit durch die eigenen, gruppenbezogenen Zeichen, Motive, Ausdrucksformen, seien sie emblematisch, semiotisch-logotechnisch oder figurativ-referenziell. Das bildet eine Konstante. Kommt hinzu, dass mit der entsprechenden zeitlichen Verzögerung in der Provinz genau die vermeintliche Nachahmung des ursprünglichen Gestus aus der Bronx sich als Transportmedium des authentischen Empfindens stetig bewährt. Was dem betrachtenden Auge als Wiederholung, zuweilen aber auch als durchaus originelle Variante und eigenständig erscheinen mag, hat Sinn und Zweck jedoch gar nicht im Repertoire ästhetischer Ausdrucksformen. Sondern bewährt sich eben im Ritus einer Initiation. Revolutionär und neu sind Sprayen und Graffiti deshalb immer für die gerade den authentischen Gestus praktizierenden nachwachsenden Generationen. Dass bisher unbeschriebene Provinzen sich gerade für den authentischen Besetzungsgestus anbieten, liegt auf der Hand. Es geht also um einen ‚rite de passage‘, wie er für Sub-, Gegen- und Jugendkulturen insgesamt, überall und zu allen Zeiten, kennzeichnend ist. Auch wenn diese für einen kontextuell gleichgültigen Blick nichts Neues ­liefern, sind sie als Erfahrungspotenzial für je authentische Praktiken interessant geblieben. Im internationalen Vergleich allerdings fällt nichts ‚Neues‘ mehr ab. Man hat zu Recht von einem krebsartig wuchernden Syndrom des Graffiti-Sprayens, ja des Sprayens überhaupt gesprochen. Dabei aber unterschlagen, dass die ganz normale Warenwerbung, die Logotechnik der Firmen, die Plakatierung, Schaufenster und -wände, ja überhaupt die ganze werbestrategische Dauer-Penetrierung aller alltäglichen Öffentlichkeiten, zumal und besonders der urbanen, eine für die Moderne typische und belästigende Ver-

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wüstung zeichenstrategisch besetzter Räume darstellen, der gegenüber es keinen Grund mehr gibt, dem wilden, verfemten, das Privateigentum an Fassaden und ähnlichem bewusst schändenden Sprayen irgendeine ästhetische Privilegierung auf der Achse eines Bösen zuzuschreiben. Graffiti und Sprayen haben schlicht teil an der modernen Mediatisierung der ­Alltagskulturen durch semiotische und besonders logotechnische Hierarchisierungen. Der Alltag der Öffentlichkeit ist immer eine Variable solcher bild-kriegerischer Auseinandersetzungen um irgendeine neue Hierarchie und Vorherrschafts-Sicherung von spezifischen Zeichenstrategien und Medien. Historisch bleibt an Graffiti interessant, dass es diese illegale wie illegitime Zeichenpraktik geschafft hat, sich für eine bestimmte Zeit in den mittleren 1980er-Jahren – diskursiv kulminierend schon in Jean Baudrillards bereits in den 1970er-Jahren verfasstem Text Kool Killer – tatsächlich an der Spitze der Zeichenstrategien, der Diskussionen und Debatten darüber zu etablieren. Ein Weiteres wäre zu überlegen, das sich hier vorrangig spekulativ aufdrängt: Gibt es nicht einen evidenten Zusammenhang zwischen dem Besetzen von Räumen durch Graffiti und dem massiven Wuchern der aktuellen totalen Bereitschaft zur Tätowierung und ihrer diversen Umsetzungen? Ist nicht das Ideal von Graffiti, in fremden Öffentlichkeiten Zeichen zu setzen, um, im Idealfall: alle Räume zu besetzen? Ist dies nicht verwandt dem Ideal, den eigenen Körper operativ oder nur semiotisch, jedenfalls restlos in ein Sammelsurium von Ideolekten, Ästhetisierungen, Bildern und Selbststilisierungen zu verwandeln? Es scheint, auch wenn man nicht sagen kann, um welchen genau es sich dabei handelt, doch schlicht einen Zusammenhang geben zu müssen zwischen diesen bildkriegerischen Praktiken, in denen sich ein Selbst entwirft und als Bild seiner selbst behauptet, das zunächst nur nach innen zu lesen und zu verstehen ist, mit der Aneignungsbehauptung der öffentlichen Räume durch Gruppen-Sprachen. Auch wenn die Geschichte der spezifischen Praktiken überaus unterschiedlich ist und hier Generalisierungen nicht helfen – zum Beispiel so: vom Graffito zurück zu den Pasquillen und Palimpsesten der Antike; von den Tätowierungen zum Südseemythos des 18. Jahrhunderts und weiter zu den Körperbemalungen aus der Sicht der Ethnologen und Anthropologen –, auch wenn also solche Verallgemeinerungen wenig besagen, scheint es nun doch für die Gegenwart einen Zusammenhang zu geben, der intimer Art ist. Worin könnte er bestehen? Ich schlage Folgendes dazu vor: Die mittlerweile mit Palimpsesten über-besetzten öffentlichen Räume verlagern sich auf und in die eigene Haut als letztem Material und Ort für unbegrenzte Selbstbezeichnungen und -beschreibungen. Der öffentliche Raum zieht sich in den eigenen Körper zurück. Umgekehrt muss der eigene Körper als Restraum öffentlicher ästhetisch kommunizierender oder bildhaft ausgerichteter Stilisierungen betrachtet werden. Und die jeweilige maximal in Anspruch genommene Autonomie behauptet genau dieses. Beides aber zeigt einen wachsenden Mangel an, dessen Ort geradezu panisch wieder-besetzt werden muss. Beides indiziert, dass die Ressourcen für solche Besetzungen extrem knapp geworden sind. Raum und Zeit scheinen drastisch zu schrumpfen, was phobische Gegenreaktionen auslöst. Die Konformitätsdrücke in beiden Lagern, welche Dissidenz in Mainstream verwandeln, sind dafür ein sicheres Indiz. Also wäre der

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Zusammenhang so zu kennzeichnen: Die Bewegung geht vom subkulturellen Code der Outcasts über einen aggressiven Zeichenkrieg im Kampf um Öffentlichkeiten in eine narzisstisch stark besetzt Selbstbeschreibung und -setzung über. Parallel dazu werden die Bildstrategien zur Kunst aufgewertet. Ist es also nicht genau – und erneut – ein Ikonoklasmus, über den eine solche soziale Etablierung läuft? Wo vorher Konflikte waren, wird nun Konsens hergestellt. Die Ideolekte (eigene Sprachen) des Körpers fallen dann mit den Idiosynkrasien (Eigenwilligkeiten) gruppenbezogener Zeichen-Artikulation zusammen und sind in ähnlicher Weise als kulturelle etablierte Sprachen ästhetisch neu­ tralisierter Dissidenz zu verstehen. Im umstrittenen, dann gebannten und zuletzt gesicherten Raum wird nun gespiegelt, dass die dynamischen Zeichencodes als kulturelle Ästhetik neutralisierter Bilderkriege konfirmiert werden. Eben das etabliert ein Medium als ein ‚Dazwischen‘, in dem die Kräfte balanciert sind. Ähnlich wie ‚punk‘, mit dem Hip-Hop und Graffiti wenig bis nichts zu tun haben, ist für beides kennzeichnend als Anfangsgrund die komplette Verweigerung von allem und jeglichem, der Umschlag von als unerträglich empfundener Coolheit in antizivilisatorische Aggressivität um jeden Preis. Kultur und Gesellschaft werden hierfür ebenso zum beliebigen Material wie der soziale Raum und der eigene Körper. Die Präsenz etabliert sich als Aktion im Vollzug. An die Stelle der Referenzen tritt die Dynamik der Verstörungen und Entgrenzungen. Was an Irritation im zivilisatorischen Fortgang der Verwandlung von physikalischer Körperlichkeit in Zeichen bleibt, soll abschließend mit folgendem herausragenden Beispiel erinnert werden, das allerdings hier nicht angemessen erörtert und gewürdigt werden kann. Polemische Schärfungen im Kunstäußern und -rezipieren bilden nie einfache Transformationen von Zirkulationsenergien, die von hier nach dort verpflanzt werden, sondern radikalisierte Aneignungen eines Zeichenphänomens in einem anderen Kontext. Hierfür beispielhaft, lehrreich und großartig bleibt Valie Exports Body Sign Action von 1970, in der sich die Künstlerin auf offener Bühne einen Strumpfbandhalter auf den Oberschenkel tätowieren ließ, um daran einen überaus luziden Kommentar anzuschließen, dem gemäß es für künstlerische Selbsterfahrung aus feministischer Sicht stets um das Verhältnis von verfemtem Ritual, machtstrategischen Abspaltungen und eine allgemeine zivilisatorische Kontrolle geht. Das Verhältnis von Ritual und Zivilisation markiert eine Leerstelle in der Geschichte der Zivilisation selbst. Das Verhältnis wird selber (oder: noch einmal) zivilisatorisch abgedrängt und ausgeblendet. Künstlerische Wahrnehmung erobert diese Abschiebung zurück, indem sie radikal andere Verschiebungen praktiziert. In diese Leerstelle, die durch Valie Export scharf und genau formuliert worden ist, stoßen später massenkulturell verselbstständigte Formen wie Graffiti, aber eben auch die ganz anderen Idealen, nämlich ästhetisierten Selbst-Bildnis-Entwürfen verschworenen Tätowierungspraktiken heutiger Massen-Selbststilisierungen vor. Dieser Kern bleibt, auch wenn es weder bei Graffitis noch bei Tätowierungen um irgendeine mythisierte, abgedrängte Paradies-Ritualisierung geht, sondern nur noch um eine Affirmation der Konformität. Was vordem gemacht wurde, weil sich darin wenige entschieden äußerten, die keiner anderen Äußerungsform vertrauen mochten, wird nun zum Äuße-

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rungszwang (oder zur Differenzierungsanforderung) einer Mehrheit, der es um solche Setzungen nicht mehr geht. Im Zeichen dieser vordem subkulturellen Manifestationen will man jetzt nicht mehr im Unterschied zu anderen sein, sondern nur noch ein Selbst, insofern dieses genau wie alle anderen ist und erscheint. Die Differenz ist auf die Stilbehauptung der Konformitätssicherung übergegangen.

Geschrieben am 19. April 2014, eine erheblich gekürzte und entsprechend umgearbeitete Fassung erschien unter dem Titel „Graffiti – Symbols, Spaces, Bodies: Inscriptions and Rejections/Was ist mit Graffiti gesche­ hen, was ist aus dem wilden, illegalen, mit Mutproben verbundenen Sprayen geworden?“ auf Deutsch und Englisch in: form. Design Magazine, Ausgabe N° 254 (‚Stylewriting‘, Jul/Aug 2014), form Verlag, Frankfurt a. M. 2014, S. 53–56. Es wurde folgende Angabe zum Autor dem Text am Schluss beigegeben: Hans Ulrich Reck bearbeitet seit 2012 als Forschungsschwerpunkt seiner Professur „Kunstgeschichte im medialen Kon­ text“ an der Kunsthochschule für Medien Köln zusammen mit Konstantin Butz dynamische Ausdrucksfor­ men von Subkulturen zwischen Gegenkultur und Avantgarden in verschiedenen Sparten und Medien. Nach vielen Büchern – zuletzt zu Pasolini, Traum und einer Kunstgeschichte des Improvisierens – sind als Essays 2014 erschienen: „Der ‚Medien-Künstler‘“ (in: Laienherrschaft. 18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien, hgg. von R. Widmer, Zürich: Diaphanes), „Theorie durch Theoriemangel – Episteme und Verfahren in Kunst und Design, auch zu verstehen als eine Erörterung ästhetischen Urteilens“ (in: Theorien ästhetischer Praxis. Wissensformen in Kunst und Design, hgg. v. Hans Zitko, Köln/Weimar/Berlin: Böhlau Verlag); „Vom ­diversen Umgang mit Bildern“ (in: Philipp Stoellger/Marco Gutjahr (Hrsg.), Visuelles Wissen. Ikonische Prägnanz und Deutungsmacht, Würzburg: Königshausen & Neumann); „‚Furchtbarer und freudiger Wahn, ein schwärmerischer, inspirierter Bruder der Vernunft‘. Kunst- und kreativitätsphilosophische Betrachtungen zu Werkkonzeption und Traum-Figur in Literatur, Philosophie und Film bei Pier Paolo Pasolini“ (in: IMAGO. ­Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Band 2, Gießen: Psychosozial Verlag). Seit dem 1. April 2014 ist Hans Ulrich Reck Rektor der Kunsthochschule für Medien Köln.

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VOM PROTEST ZUR REVOLTE – DESIGN UND MEDIALE TRANSFORMATIONEN IN GEGEN­ KULTURELLEN BEWEGUNGEN Bilder prägen sich ein, Markierungen werden gesetzt: Die Regenschirme von Hongkong, die selbst gestrickten pinkfarbenen Mützen gegen Donald Trump, die Kleidung der buddhistischen Mönche, früher das Fahnenmeer der roten Flaggen, Hammer und Sichel, Svastiken und anderes – Zeichen und Signale, Markierungen und Referenzen, Behauptungen und Setzungen allenthalben. Die Phänomene belegen, dass Formen der Revolte immer auch Ausdruckskräfte von Protest und ebenso natürlich mit Designleistungen verbunden sind. Man muss aber unterscheiden: So wie man gegen etwas demonstriert, gegen etwas protestiert, so schwierig ist es stets, eigentliche Designmodelle als Manifestation gegen etwas zu beanspruchen. Egal, wie professionell oder dilettantisch: Design konstruiert einen Entwurf, der für eine Sache zeugt. Auch die ‚ungehorsamen Objekte‘, die sperrigen Designfallen belegen, zur Ausstellung gefügt1, das unvermeidlich Positive eines Entwurfs, das Denkkonzept, die Haltung, die Vision der Konstruktion. Zu Recht wurde diese Ausstellung exponiert als eine Kraft kollektiver Kreativität im Dienste sozialer Transformation. Eben in solches Dispositiv reihen sich die Designhandlungen ein und messen sich daran. Also nicht nur erfolgreich, sondern auch Kraft eines mythischen Kollektivs sein zu können, depersonalisiert, aber mit gesteigerter Wirkung. Gestaltung als Protest dagegen – das erinnert an Verweigerungen, Pop Art, mindestens ihre Trash-Ebene, an Punk, Subkultur als gegenkulturelle Manifestationen, die, das zeigt die Geschichte, in immer schnelleren Zyklen vereinnahmt wird. Was heute Protest, ist morgen schon Werbung. Woran die, wie Jean Baudrillard das in den 1970erJahren thematisierte, ‚Gesellschaft der zirkulierenden Zeichen‘ gerade noch zu zerbrechen droht, das integriert sie wenig später für eine Selbstreproduktion ästhetischer Vergleichgültigung im erweiterten Konsumkapitalismus. So werden Zeichen des Protestes schnell zu identitären Brandings einer beschworenen wie zugleich ausgeweiteten, jungfröhlichen neuen Konsumententruppe von morgen.

Protest durch Gestaltung, Revolution durch Design – ein historischer Rückblick Protest durch Gestaltung ist etwas anderes denn Gestaltung als Protest. Es gibt revolutionäres Design und auch Revolution im Design. Blicken wir – neben einem naheliegenden Verweis auf den automatistischen, das Subjekt dezentrierenden Surrealismus – zurück auf die postrevolutionären Anstrengungen der Generation um El Lissitzky, Alexander Rodtschenko und weiterer in der Sowjetunion zu Beginn der 1920er-Jahre, als mit wirklich neuen Mitteln eines verlagerten wie erneuerten Kommunikationsdesigns

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nichts ­anderes betrieben werden sollte als die Alphabetisierung einer eben – zwar vorab nur systemisch und nicht in der realen Lebenswelt – revolutionierten Gesellschaft, die nicht nur empirisch als Summe der lebenden Menschen, sondern als ideelles Gesamtarbeiter-Subjekts verstanden wurde. Bildung fiel hier mit Aufklärung und diese mit Agitation zusammen. Eine neue visuelle Sprache sollte zugleich die sein, mit welcher die Menschen lernten, das Wirkliche als konstruktiv vermittelte apparative Aneignung des Realen zu verstehen. Also als etwas, das immer schon mediatisiert war, versetzt durch die Apparate. Die Medien wurden revolutionär konzipiert. Das galt für ihre technische wie ihre ästhetische Seite. Das aber war nur möglich, weil Design nicht mehr Protest war, sich nicht mehr diesem zu verschreiben oder in ihn sich einzuschreiben hatte. Folgern wir daraus: Eine ‚postrevolutionäre Revolutionierung‘ der bisherigen Verhältnisse in einem systemisch geschützten Maßstab ist etwas anderes als ein Design, das sich Oppositionelle aneignen, um sich öffentlich als Protestierende möglichst lauthals bemerkbar zu machen. Zudem macht es einen wesentlichen Unterschied, ob man als Avantgarde an der Spitze eines selber avantgardistisch beanspruchten Systems sich bewegt oder im Widerstand gegen Unterdrückungsverhältnisse, gar unter Bedingungen von direkter Tyrannei und durchgreifender Zensur. Design als Protest hat sich unter diktatorischen Verhältnissen auf die reine Information, knappe Bezeugung der relevanten Botschaften, Mitteilungen, Slogans zu konzentrieren. Wir erinnern uns eindrücklich an die Schrifttafeln, welche die chinesischen Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen) im Kontext der Massaker vom Juli 1989 den wenigen international vernetzten oder verschalteten Kameras entgegenhielten: Sie waren sämtliche in englischer Sprache abgefasst, richteten sich also nicht an die chinesische, sondern eine internationale Bevölkerung. Die chinesische hätte und hat ohnehin nichts erfahren von diesen Geschehnissen.

Protest: Ordnung und Form Also hat Gestaltung als Protest unvermeidlicherweise etwas Gegenkulturelles, zuweilen auch Subkulturelles, wohingegen eine Politisierung von Protest in einem programmatischen Sinne immer über Modalitäten und Techniken des Designs verfügen kann und auch muss. Das hat ja trivialerweise und nicht zuletzt damit zu tun, dass unter einer ­protestierenden und programmatisch an einer ‚Grammatik des Lebens‘ ansetzenden Opposition – wie Jürgen Habermas in seiner ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ die Oppositionspotenziale im entfalteten kapitalistischen System ansprach – sich immer auch Studierende der freien und angewandten Künste befinden, die stets für wilde Aktionen eines Besetzens des öffentlichen Raumes durch alternative Zeichen und minoritär-­oppositionelle Botschaften gut sind. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es im Protestdesign nur implizit – und damit in kollektiv abgelagerten Kräften verborgen – um etwas geht, das man als Designleistung zu artikulieren pflegt. Worum es geht, ist eine kollektive Kraft, eine eruptive

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­ anifestation, also um eine Emphase von Beweglichkeit und eine allgemeine ÜberzeuM gungskraft der gewählten Symboliken. Unterhalb der geronnenen Symbole der bereits ins Träge gefährlich übergehenden Massenformationen, die Elias Canetti in Masse und Macht so plausibel beschreibt, geht es um die Verflüssigung der revolutionären Energien, ihre Nutzung für eine mythologische Macht des Kollektivs, die jeden ergreift und ihn ohne Rest und Verlust in die Energien des Protestes eingliedert. Und dies ohne Kalkül einer instrumentellen oder operativen Vernunft, weil diese nur berechnet, was die Protestformen in der Lebenswelt, gerade im Spätkapitalismus, als direkte Emanation, Ausfluss ihrer Verfasstheit bewegt und erlebbar macht. Es ist also nichts, was sich visuell als Persuasion (Technik der Überredung und Überwältigung) adressiert, wie in der Rhetorik der Werbung, die in der Regel die früheren Protestenergien so schnell wie möglich absorbiert. Sondern es ist etwas, das existenziell ergreift. Eben deshalb ist Protestdesign immer gegenkulturell und wurzelt nicht selten in einer subkulturellen Erweckungsgemeinschaft, die sich gerade nicht operativ setzt. In dem Moment, in dem ein Informationsministerium die Koordinierung der revolutionären Protestaktionen übernimmt, machen wir den entscheidenden Schritt hin zum Orwell’schen ‚Wahrheitsministerium‘, das in Tat und Wahrheit immer ein Unterwerfungs- und Irreführungsministerium ist. Operative Lenkung formatierter Massenenergie von oben ist etwas anderes, als die Selbstbewegung gegenkultureller, oft eschatologisch versetzter Hoffnungen. Man kann sich Organisationsdesign in höchstem Ausmaß in der Lenkung der Massen durch eine messianisch überhöhte, sich zum metaphysischen Subjekt selbst ernen­ assen als nende leninistische Partei denken, aber nicht für den spontanen Aufstand der M Setzungsakt von Selbstbefreiung, wie ihn Rosa Luxemburg gegen die leninistische Parteidoktrin und als explizite Kritik schon vor der Oktoberrevolution entwickelt hat.

Bricolage – vom wilden Denken und vom revolutionären Protest Für diese Gründung der an der Oberfläche als Design sichtbar werdenden tiefenstrukturellen Protestenergien im mythologischen Unbewussten hat der Ethnologe Claude Lévi-Strauss eine Thematik benannt und eine Erörterung vorgeschlagen, die unter dem Stichwort ‚Bricolage‘ bekannt geworden ist. In seinem erstmals, auf Französisch, 1962 publizierten Buch La pensée sauvage (Das wilde Denken) ist das Konzept der ‚Bricolage‘ zu einer beispielhaften wissenschaftlichen Methode geworden. Unter ‚Bricolage‘ versteht man ein improvisierendes, vorläufiges, testendes, umstandslos ansetzendes Selbertun, dessen professionellen Status man nicht überlegt. Man ordert also nicht Fachleute, sondern erledigt das Nötige gleich selber, wie immer dies ausgehen, gelingen oder scheitern mag. Was man nicht kann, hindert nicht. Man tut es trotzdem. Bricolage bedeutet dementsprechend ein Selbermachen mit dem einzigen Ziel der akuten Problemlösung, nicht einer professionell angemessenen, sondern einer, die funktioniert, ‚wie auch immer‘. Der Bricoleur will nicht nur ein Problem wirklich lösen und hat somit ein Ziel konkret ständig vor Augen. Er will es auch so schnell wie möglich

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lösen. Er ergeht sich nicht im Selbstlauf der Mittel und Maßnahmen. Diese haben für ihn keinen Wert. Überall dort, wo die Problemaufgaben größer sind als die im Arsenal der Werkzeuge bereitliegenden Lösungsrezepte, bietet sich Bricolage als Denk- wie Handlungsmodell an. Das gilt nun auch für sich formierenden Protest, für gegenkulturellen Widerstand. Ganz besonders in seinen Anfängen und bevor sich dieser zu einer Kraft formiert und formatiert hat, der man mit Beschreibungs- oder Ordnungsmodellen gerecht werden kann. Der Bricoleur trifft immer auf eine Vorgegebenheit in Gestalt von unsystematischen Ansammlungen von Dingen, Fragmenten, Werkzeugen. Der Bricoleur nutzt als Instrumente alles, was situativ verfügbar ist. Seine Problemlösung beruht auf einer im Momente erfundenen oder modifizierten Methode. Jede Problemlösung ist ein Provisorium. Sie könnte jederzeit verbessert werden, aber das ist die Sache meistens nicht wert. Die Zeit drängt, alles ist transitorisch, also ist auch die Problemlösung immer nur eine provisorische.

Mythologisches Denken: ein Strukturieren auf Probe hin, Improvisieren Dieses Modell oder Thema benutzt Lévi-Strauss für weiterreichende Betrachtungen. Sie betreffen nicht nur das Feld der Bricolage, sondern sein eigenes wissenschaftliches Terrain. Was ihn interessiert, ist die Fundierung der Ethnologie als einer Art von Denken, welche selber mit dem Modell der Bricolage bezeichnet werden kann. Es geht um eine Methode des Denkens – Recherche, Anordnung, Klassifikation, Auswertung, Hypothesenbildung – in einem Terrain, das als noch offenes über keine festlegenden Paradigmen verfügt. Sodass sich in solchem Terrain eine den Vor- und Aufgaben des Bricoleurs vergleichbare Situation ergibt. Lévi-Strauss erörtert die wesentlichen Zusammenhänge im erwähnten Buch unter dem Titel ‚Eine Wissenschaft vom Konkreten‘. Was LéviStrauss über das allgemeine unbewusste Subjekt der Mythologie, den wahrhaft revolutionären Akteur sagt, trifft auch auf die Ausdruckskraft von Protest durch wie als Gestaltung zu: „Das Poetische der Bastelei kommt auch und besonders daher, dass sie sich nicht darauf beschränkt, etwas zu vollenden oder auszuführen; sie ‚spricht‘ nicht nur mit den Dingen, wie wir schon gezeigt haben, sondern auch mittels der Dinge.“2 Die mythische Reflexion erscheint Lévi-Strauss als eine ‚intellektuelle Form der Bastelei‘. Die Eigenart des mythischen Denkens bestehe, wie die Bricolage auf praktischem Gebiet, darin, strukturierte Gesamtheiten zu erarbeiten. Und zwar nicht unter Beizug bereits entsprechend organisierter Gesamtheiten oder strukturierter Formen und Gestalten, sondern durch Verwendung von Überresten. Meist sind Ereignisse im Spiel, es kann sich aber auch um Fragmente eines bereits anderswo formulierten mythischen Denkens handeln. Die mythische Reflexion ist nicht einfach Meta-Ebene des mythischen Denkens, sondern in dieses eingewoben. Das macht den Ethnologen zum Formulierer des mythischen Denkens, so, wie es sich äußert, und nicht so, ‚wie es der

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­ heoretiker sieht‘. Er artikuliert mittels anders geordneter Nacherzählung, was die myT thische Reflexion in Gestalt der Mythen selber äußert. Das wilde Denken darf gelten als fantasievolle Kombination von Bruchstücken der sinnlichen Wahrnehmung und vergangener Ereignisse, die mithilfe der Einbildungskraft zu konkreten Bildern und Geschichten verdichtet und transformiert werden – typischerweise ein improvisierendes Vorgehen. Man darf auch die medialen Transformationen des oppositionellen Protestes als Tribut an eine kollektive Mythologie dieses Typs verstehen, als imaginäres Probehandeln, das seine Stärke nicht aus der operativen Ordnung der Instrumente, Dinge und Ordnungen, also aus einem Design bezieht, sondern aus der Verflüssigung der überpersönlichen Energien und damit dem Aufbrechen der Formen, aus denen ein überschüssig Lebendiges freigesetzt wird. Eben das macht den leidenschaftlichen Bricoleur dem Designer im Protest vergleichbar, der nicht Auftragnehmer für die Symbolisierung der Botschaften aus diesem Protest ist, sondern aktiver Teilnehmender dieser selbst, Partikel der emphatischen Vital­kraft des im Widerstand aufbrechenden imaginären Kollektivs. Damit ist ‚Bricolage‘ bezeichnet als eine praktische Kunst oder Technik, die vorrangig auf Mittel setzt, die dem Fachmann abwegig und suspekt erscheinen. Die Mittel des Bricoleurs sind immer begrenzt. Seine Tätigkeit wäre durch Werkzeuge und Instrumente gerade nicht zu kennzeichnen. Er richtet Rohstoffe und Mittel, Instrumente und Werkzeuge nicht nach den auszuführenden Arbeiten aus. Er stellt keinen Plan auf. Seine Tätigkeit und deren Objekt wie Ziel sind nicht als ein ‚Projekt‘ zu beschreiben. Wo der Professionelle gar nicht anfängt, weil mit seinen Instrumenten oder auf seinem Weg in das Projekt ein Gelingen nicht gesichert oder ausreichend möglich erscheint, dort ist der Bricoleur längst schon am Werk. Das Mythische wurzelt auch bei ihm darin, dass er immer schon angefangen hat und es demnach keinen Anfang gibt. Er ist die Figur des Immer-schon-angefangen-Habens. Seine Regel ist, mit dem auszukommen, was ihm gerade zur Hand ist. Die Projekte richten sich dem Bricoleur nach den knappen und reduzierten Mitteln, wobei es durchaus üblich ist, Projekte anzugehen, die im abwägenden Vorausschauen vernünftigerweise weder auf diesem Weg noch mit dem zur Verfügung Stehenden an Instrumentarien verwirklicht werden können. Eben dies macht das Modell der Bricolage zu einem, in welchem sich der lebendig bleiben wollende Protest als Gestaltungsvorgang, als komplexe plastische Selbstdifferenzierung spezifischer Ideen und Absichten, Handlungsweisen und Praxen verstehen lässt. Was der Bricoleur tut, ist weder durch ein Problem noch durch ein Projekt noch durch ein Ensemble zusammenstimmender Handlungsformen noch durch die Angemessenheit von Ressourcen und Mitteln zu bestimmen und zu beschreiben. Was er macht, beruht auf dem zufälligen Ergebnis, einer Resultante aus der Bearbeitung aller bisherigen Gelegenheiten, die neben dem Arbeiten an einem Problem immer auch die Möglichkeit eröffnet haben, Gesichtspunkte und Rohstoffe, Materialien und Abfälle, Werkzeuge und Fragmente zusammenzutragen und immer wieder neu zu kombinieren. Diese Kombination – ein endloser Prozess von Re-Montagen und Re-Kombinationen – verleiht den Instrumenten eine imaginäre Funktion. Eben das ist das Wesen

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der B ­ ricolage, dass man mit dafür nicht entwickelten oder vorgesehenen Instrumenten und Mitteln Probleme löst. Das gilt aber auch für jeden zur Revolution oder Revolte sich ausweitenden oder radikalisierenden Protest. Das Tun der ‚Bricolage‘ ist durch den Einsatz der Mittel besser zu charakterisieren als durch die Projekte, die sie ausschließlich im Rahmen von lokalen, aktualen, situativen Möglichkeiten und Bedingungen angeht.

Re-Design, Transformation, Widerstand Bestimmend ist also nicht ein Design wie wir es als formulierbare Disziplin der In-FormSetzung von Gedanken, Stoffen, Werken, Sprachen, Ideen etc. in ein geordnetes Werk kennen. Sondern ‚Design‘ ist eine Sphäre des Imaginären, eine Plattform für die Transformation des Vorstellbaren in ein Beabsichtigtes. Nicht Design als idealistische Entäußerungsästhetik einer vorab innerlich feststehenden, klar gefassten Idee, Plan eines souveränen Gestalters, der umsetzt, was er konzipiert hat, ist das Modell. Sondern ein permanentes Re-Make und Re-Design, ein permanentes Transformationsdesign. Man nimmt und baut um … Es ist also für das Design von Protest nicht die Disziplin von Design bestimmend, sondern die stetige, absichtsvolle und doch zugleich improvisatorisch allseitig offene Zweckentfremdung. Dafür stand auf ihre Weise schon die Pop Art Pate, erst recht aber deren kleine dreckige und ungezügelte Schwester, nämlich die Umformung und Umlenkung, Abzweigung und Abdrift bei den Situationisten seit den späten 1950er-Jahren. ‚Dérive‘ und ‚détour‘ wurden, bei Guy Debord, Constant und Konsorten zu einer Domäne und Technik der destruktiven Aneignung, Verfremdung, Entfremdung, Umformung und, vor allem und vorzüglich: der irregulären Metamorphosen. Das Fremdwerdenlassen des Fremden war ein situatives wie situationistisches Plädoyer für eine Aneignung der psychomental und urbangeografisch verschütteten, in falschen Ritualen erstickten Handlungsenergien. Das Revolutionäre daran war ein Doppeltes. Das Erste bezog sich auf die Stoffe: Denunzierung der publizistischen Rhetorik von Warenästhetik und spätmoderner industrieller, zugleich erotisierter Produktekultur. Das andere bezog sich auf Form: Umwendung der Ausdrucksformen, Entzifferung der lebendigen Tätigkeitsvermögen der Menschen in den zu Marken und Slogans geronnenen, ja geradezu erstarrten Ausdrucksformen. Der Unterschied zwischen Design für Protest und revolutionärem Widerstand als militante Selbstorganisation ist kein formaler. Er hat nichts mit Modellen zu tun, sondern mit Energien. Es ist der Härtegrad der Militanz, der zwischen systemisch artikuliertem Design für Protest und gegenkultureller Generalisierung eines mythologischen Subjektes differenziert, das sich in meist verzweifelten Aktionen als mythologisches, imaginäres Kollektiv zu setzen versucht. Eher selten dringt das an die Oberfläche. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt der vom Frühjahr bis in den Sommer 2017 reichende Kampf der Arbeiter dar, die eine Fabrik nicht nur besetzt haben, sondern, seit Ende April, diese in die Luft zu sprengen drohen, falls Insolvenz erklärt wird. Es handelt sich um den Autozubehör-Bauer G & S in Mittelfrankreich, südlich von Limoges. Jahrzehntelang

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haben die Arbeiter dort für Renault u. a. Firmen gebaut. Nun haben diese die Produktion in das Billiglohn- wiewohl immer noch EU-Land Rumänien verlegt. Dieselben Konzerne haben vor wenigen Jahren Milliarden an Euros als staatliche Hilfen erhalten. Nun reicht es den Arbeitern, die vor dem Nichts stehen. Ihre Militanz ist – in prototypisch französischer Manier, bei welcher es nach einem bestimmten Punkt der Radikalisierung keine verhandelbare Grenze mehr gibt, nur noch die Aktion – direkt mit dem Subsistenzkampf und der Verzweiflung verbunden. Die Einschätzung der Besetzer jedenfalls ist nachvollziehbar: Wenn es den staatlich geschützten Großfirmen freisteht, Menschen zu beschäftigen oder nicht, dann bleibt diesen keine Subsistenz, und Nicht-Arbeit wird zu einem Akt der Tötung, erst in sozialer, dann in physischer Hinsicht. Nun aber haben mit der Energie der Verzweifelten der Betriebsrat und der Sicherheitsbeauftragte der Firma das Ruder übernommen. Das gesamte Gelände wurde in eine Bombe verwandelt – in schönster französischer Bricolage-Manier. Benzinkanister mit Sauerstoffflaschen und Zündmechanismen wurden verbunden in einer Weise, die keine technische ‚Lösung‘ mehr ist. Wie das Moment der Bricolage den Bau der Bomben bestimmt, so erweist sich das Selberbasteln in ergriffenem radikalem Lebenskampf als Offenlegung wie als Beschwörung der mythologischen Kraft spontaner, sich aktuell organisierter Subjektivität. Das ist kein Zeichen mehr, kein Design, keine Maßnahme, die für einen politischen oder Klassenkampf steht, sondern schiere, ultimative wie finale Selbsthilfe im Lebenskampf am Rande einer Verzweiflung und eines aufgenötigten aussichtslosen Schicksals. Nicht wenige der militanten Formen von Protest haben einen solchen Ausdruck. Das haben auch Punk und die radikalen Autonomistenkämpfe der 1970er- bis 1980erJahre gezeigt, die von den italienischen ‚potere operaio‘ und ‚lotta continua‘ bis zu den Revolten um 1980 in Brixton, Zürich und anderswo reichen. Davon unterscheiden sich frühere, auf Diskurs, Sprache, Rhetorik setzende Protestbewegungen, besonders die um 1968, deren Ausdruckspotenzial typischerweise nicht aus den avancierten Bildmanipulationswerkzeugen oder -medien (wie Xerox, später Computer) stammen, sondern aus den Lithografie- und Siebdruckateliers der Kunstschulen. Also vergleichsweise idyllisch bleibend.

Zusammenfassende Thesen 1.  Sichtbarmachen, Sichtbarwerdenlassen, Sichtbarkeit beanspruchen um jeden Preis scheinen seit dem 11. September 2001 die Devise zu sein. Nicht mehr das konspirative Dunkel, sondern das volle Licht der Welt-Öffentlichkeit markiert die Bühne des zum Aktionismus entstellten Protestes. 2.  Protest zielt auf Verankerungen in einem kollektiven Unbewussten. Das Subjekt von Protest beabsichtigt den imaginären Entwurf eines virtuellen Kollektivs, Denken und

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Handeln anstelle eines generalisierbaren Freiheitssubjektes. Es macht sich improvisatorisch flexibel und testend bemerkbar als Subjektwerdung mittels poetisch-praktischem Selbstentwurf, Probehandeln, Antizipation – das Subjekt existiert nur insofern es nicht gegeben ist, sondern situativ ergriffen werden muss. 3.  Im militant werdenden Protest wird eine Bricolage-Technik im unmittelbaren wie im mythologischen Sinne lebendig. Mythologie bedingt anonyme kollektive Autorschaft. Was aus dieser hervorgeht, ist nur in metaphorischem Sinne der stetigen Umformung aller verfügbaren Gegebenheiten Design. Eher eine Analogie zu diesem. 4. Techniken der Entfremdung und der Selbstfremdheit verdeutlichen diese mythischen Leistungen eines Transformationsdesigns. Aufhebung der Entfremdung mittels Entwendung und Aneignung ist bestimmend für die ‚desobedient Objects‘ wie für die ­situationistischen Techniken von ‚dérive‘ und ‚détour‘. 5.  Dagegen markiert, wie die Urszene der kulturellen Destruktionsphilosophie namens Dada oder Dadaismus schon belegt, ‚Authentizität‘ eine Form der Vereinnahmung von Protestpotenzialen als Design, nämlich Markierung gelungener Subjektivität anstelle ­einer irritierenden Suche einer in sich gebrochenen und deshalb nur mittels Radikalisierung erlebbaren Identität. 6.  Schlussfolgerung: Protest ist eruptive Emanation anstelle von Design, keine Technik innerhalb des Designs, auch wenn jede Aktion natürlich eines Konzeptes, eines Vorgehens, einer semiotischen Kohärenz, einer Kalkulation bezüglich der Kommunikationsabsichten, der Ziele und demnach auch einzusetzenden Instrumente und Mittel bedarf.

Geschrieben 25. bis 27. Mai 2017, korrigiert am 2. Juni 2017; eine erheblich gekürzte und entsprechend ­ odifizierte Fassung erschien unter dem Titel „Vom Protest zur Revolte and other Transformations“ auf m Deutsch und Englisch in: Design Magazine N° 273 (‚Designing Protest‘, Sept/Oct 2017), form publisher, Frankfurt a. M. 2017, S. 60–67.

1 2

‚Disobedient objects‘, London Victoria and Albert Museum, gezeigt vom 26. Juli 2014 bis zum 1. Februar 2015; vgl. auch den Katalog, hgg. v. Catherine Flood & Gavin Grindon, London 2014. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973, S. 34.

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‚TUGENDTERROR‘ Der zeitliche Abstand zwischen der Entscheidung, über ein bestimmtes Thema zu schreiben, und der Veröffentlichung des dann erarbeiteten Textes ist zuweilen sehr lang. Dies nicht nur zeitlich als auch bezüglich der Intensivierung einer öffentlichen Diskussion, die vielleicht in der Zwischenzeit Gewichte verstärkt oder verschoben hat. Sowohl im vorliegenden Falle. An den Hochschulen, mehr den Universitäten als den Kunsthochschulen, nehmen Initiativen ‚von unten‘ zu, zum Diskurs nur noch zuzulassen, was einer angeblich moralisch perfektionierten und geregelten Auffassung vom sich Ziemenden entspricht. Man will Konsensbedingungen diktieren und sichern vor jeglichem Konflikt. Inzwischen wird der Streit um Meinungsfreiheit unterhalb der Bereitschaft zum Widerstreit und ausgetragenen Kontroversen oder gar Konflikte ausgetragen. Aber das ist nur die Oberfläche. Wenn im Folgenden über zum Teil extreme Ausdrucksformen einer Reinigungsabsicht gegen bisherige Geistes- und Kulturgeschichte in zugespitzter Form gesprochen wird, dann ist vorauszuschicken, dass es sich um ein dialektisches Problem handelt. Die unterliegenden Motive sind komplexer als die einfachen Lösungen an der Oberfläche, die darauf tendieren, alles aus dem Kanon auszuscheiden, was nicht der wahren, kritischen Sittlichkeit entspricht, die ein universales Gewissen zu verkörpern hat, das durch einige doktrinäre Akteure in reiner Form beansprucht wird. Beginnen wir also mit der etwas anderen als der üblicherweise auffallenden Seite der Dialektik: dem ungestümen Drang vorwiegend jüngerer Menschen, sich gegen eine Geschichte der Verachtung und Unterdrückung, Eroberung und Missachtung, Diffamierung, kurzum, das von Europa historisch ausgegangene angehäufte Elend von Krieg, Terror, Gewalt, Unterwerfung, Ausbeutung und Rassismus zu stellen.

Jugend und Radikalität Angeblich maßlos vernimmt man die laut gewordene Stimme einer weltweit demon­ strierenden Jugend, eine Massenbewegung erstmals nicht von Erwachsenen als Studentinnen oder Bürgerrechts-Kämpfer, sondern von Schülerinnen und Schülern. Es geht in der Tat um die Frage nach einer radikalen Transformation einer Gesellschaft, die längst abgedriftet ist und sich nunmehr zeigt als Widerspruch zu ihren Selbstbehauptungen von Vernunft, Schonung, Zukunft, Ressourcenwahrung und dergleichen mehr. Dabei oszillieren die meisten etablierten Erwachsenen, also der Pol der Macht, zwischen einer huldvollen Nachsicht und jovialen Zuwendung, die nichts anderes sind als Gesten sich selber enthüllender Verachtung und, auf der anderen Seite, einer vorschnell artikulierten Kritik eines angeblichen Fundamentalismus, der von den eigenen Lügen um das anhaltende Nichtstun, das Verdrehen und Wegschieben, Verdrängen und Verharmlosen ablenken soll.

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Bei und auch hinter alledem geht es nicht nur, aber stets auch, um Eigenheit und das Vorrecht der Jugend, aufs Ganze gehen und greifen zu wollen, maßlos zu überziehen, die eigene Überzeugung maßlos werden zu lassen. Ohne solches Drängen gibt es Jugend nicht. Jugend ist Synonym für ein überschießendes Drängendes. Dafür, aufmüpfig zu sein und kompromisslos. Heute kommt ein wachsendes Maß an Narzissmus und popularisiertem Hedonismus dazu. So gilt in vielen Belangen und mancherlei Hinsicht, gewandelt und auch implizit, immer wieder: „We want the world, and we want it … NOW“. So erklang es in den späten 1960er-Jahren, zu Beginn der 1980er-Jahre vernahm man, dass alles in­stantan, ‚subito‘ zu geschehen habe. Und heute gilt Politik als Horizont der Verwerfungen, nicht der Kompromisse, ist, nicht gehört zu werden, Vorwurf der Schande und einer Anmaßung. Ums Gehörtwerden geht es aber nicht. Es geht nicht um eine Stimme neben anderen, es geht um die Einklagung eines Ganzen, einer Welt, die weiterbestehen kann. Nicht gehört zu werden, leitet sich daraus ab, dass nicht in solcher Richtung gehandelt wird. Zum Vorrecht der Jugend, die in ihrem Furor unterstützt zu werden verdient aus dem philosophischen Prinzip des aufbrechenden Aufbegehrens heraus, der Artikulation von Utopischem, gehört wohl einfach, noch einmal, ein Maßloses. Das kann aber nicht dazu führen, nicht dialektisch aufzumerken auf Untertöne, die zu regen sich beginnen. Nicht nur gegen diejenigen, die Zukunft verstellen, sondern auch gegen das, was als Reines, Gereinigtes, nur dem eigenen Begehren als Realisierenswertes erscheinen mag. In das heftige Aufbegehren mischen sich Plädoyers seltsamer Art. Man mag hier manches Verdeckte heraushören und bemerken zur radikalen Revoltebereitschaft der Jugendlichen, wie sie sich heute äußert. Gewiss lassen sich darin auch ambivalente Tendenzen ausmachen. Sie werden getragen weniger von den KlimaProtesten der Jüngeren als vielmehr von den moralistisch diktierenden Selbstverwerfungen der schon Älteren, die, wiederum weniger an Kunsthochschulen, aber doch schon an etablierten Universitäten – nicht nur in den USA, sondern auch an der HU Berlin oder der Universität Frankfurt – beginnen, einen kulturellen und symbolischen Kanon ultimativ einzufordern, der auf die Reinigung ex post aller geschaffenen Werke in Literatur und Philosophie, bildender Kunst und Film sowie zahlreichem Weiteren zielt. Solches richtet sich auf kanonische Sanktionen und einen sanktionierten Kanon, der wiederum meint, sauber die Grenze ziehen zu können zwischen dem Wahren und dem Falschen, dem Eigentlichen und dem Irreführenden, dem Drinnen und Draußen, dem Legitimen und dem Verwerflichen, ziehend Grenzen, die dem entsprechen, dass Wahrheit sich wähnt als Ort eines Innen, das sich gegen ein falsches Draußen richtet. Indem das Vorrecht der Jugend utopisch vehement gerechtfertigt wird, mag es nicht unnütz sein, in dialektischer Betrachtung auch, früh und zuweilen vielleicht auch ein wenig nervös, etwas zu sagen in Bezug auf die Inanspruchnahme einer absoluten und evidenten Tugend, die nicht nur um ihr Recht weiß, sondern auch, dass sie kompromisslos als instantane Richtschnur für alles Handeln und Denken sich setzen will und damit Herrschaft beansprucht in Bereichen, wo eine Wahrheitssuche grundsätzlich offen und instabil sein muss. Es geht, offenkundig, um Kanon und Kanonisches. Der springende Punkt dabei ist, dass man kein individuelles Wahlrecht und Engagement des Einzelnen mehr zugesteht, sondern umstandslos für alle, unbetroffen vom

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eigenen Engagement und dem existenziellen individuellen Selbstentwurf, fordert, was wahr sei und gelten müsse, jetzt und definitiv und für alle. Damit vertritt man die Position der Zensur, die natürlich wie so oft nicht als partikulare, ideologische Macht sich begründet, sondern als evidente absolute, wertfreie Wahrheit. Also geht es nun um die dogmatische Bereinigung, Ausrichtung und das Auf-Kurs-Bringen. Bibliotheken, Seminare, Lehrveranstaltungen, Theater, Bücher, Filme und so weiter werden ‚gesäubert‘, und zwar generell und nicht aus einer je eigenen kritischen Perspektive. Wenn Rousseau und Kant (auch) Rassisten sind, dann reicht das um und für das Ganze. Sie sind dann auszusortieren. Das aber ist keine Kritik mehr, das ist exterminatorische Zensur einerseits, skrupellose und blamable Dummheit andererseits. Man redet nicht mehr im eigenen Namen, sondern in dem für alle. Eine mentale Gesundheitspolitik wird volkspolizeilich durchgesetzt. Davon ist sich abzugrenzen in aller gebotenen Schärfe.

Tugendwärter oder despotische Sachwalter, selbstberufene Agenten eines falschen Allgemeinen? Leben wir derzeit wieder in einer Epoche selbst ernannter Tugendwärter und selbstbeauftragter Exekutoren der Instanz einer universalen, korrekten, wahren Moral? Einer einzigen, die gegen alles sich wendet, was deviant ist. Und das wiederum ist nahezu ­alles, außer, was durch den eigenen Standpunkt gedeckt ist. Woher solches rührt, ist nicht schwer zu verstehen: Die eigene richtige Haltung gibt scheinbar Halt in einer Welt, die nun wahrlich genug Störungen bietet und Anlass zu allerlei Empörungen, Schmerz, ­Bedrängnissen. Der Mechanismus von Denkentlastung durch Abstraktion und d ­ araus gewonnener Handlungskonzentration ist klar. Moralische Zensur ist Surrogat und Desiderat zugleich. Statt sich mit der Integration oder einem mühsamen Tolerieren unerträglicher, störender, negativer Dimensionen der Welt zu beschäftigen, wendet man den Mangel gegen alle, die nicht die eigene Position teilen, um an deren Mangel die eigene Überlegenheit gleich mit zu exekutieren. Der springende Punkt dabei ist, dass man das, was der eigenen Position unverbrüchliche Identität gibt, so genau gar nicht kennen kann. Von ‚wissen‘ ganz zu schweigen. Tritt also neben die Selbstherrlichkeit noch die Anmaßung, über die eine und unteilbare Wahrheit zu verfügen. Zunehmend übernehmen in gut verständlicher Weise solche vehemente Offensive jüngere Menschen, die die Welt verbessern möchten, Studentinnen und Studenten, die sich dann auch berufen fühlen, die Rolle der allgemeinen Anwaltschaft zu übernehmen, allerdings meist, ohne selber wirklich betroffen zu sein. Selbstgewählte und selbstberufene Anwaltschaft für andere und alles anstelle einer Betroffenheit, die es nicht gibt – dies eine alles andere als schöne Wendung. Dass solche propagierte Sittlichkeit, Überlegenheit der eigenen, exklusiven Moral in den letzten Jahren aus den Räumen der Universitäten kommen, hat nicht nur mit einem US-amerikanischen Rigorismus und der üblichen (allerdings auch nur ephemeren) europäischen Retardierung in Sachen Fundamentalismus zu tun. Jedenfalls regt sich

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dort aggressiv und organisiert, was zur Eliminierung des Unerwünschten wacker und schnell voranschreitet. Die Mentalität dessen, was z. B. ‚critical whiteness‘ zu meinen vorgibt, ist eindeutig, auch wenn sie solches nicht hören mag, eine der moralischen Säuberung, analog zu der inkriminierten schrecklichen und nur zu gut bekannten ethnischen Säuberung. Kommt Weiteres hinzu: So wie früher der Standpunkt des ‚weißen Mannes‘ mit kolonialistischer Barbarei, Imperialismus, Aggressivität gegen die anderen, ethnozentrischem Rassismus, exterminatorischer Unterwerfung des Rests der Welt als im Grund der eigenen Überlegenheit unterliegend geprägt war, so kippt die Überlegenheit nun in eine Auto-Aggressivität, ohne aber an Gewalt und selbstherrlicher Beanspruchung der absoluten Wahrheit des Eigenen einzubüßen. Gegen das Eigene wird nun, nicht weniger dogmatisch, gelenkt, was früher den unwerten Feinden des anderen vorbehalten war. Jedenfalls wären alle diejenigen, die sich nun – gewiss ein extremes Beispiel von wenigen, aber damit ist eine allgemeinere Tendenz benannt – lautstark die Dreadlocks abschneiden und schmerzversessen, demonstrationsbereit und ostentativ auf die Brust trommeln, vor allem diejenigen, die in Demut von den anderen fordern, dass nur jene noch reden dürfen und von den Weißen, dass sie zu schweigen haben, gut beraten, ihre Kritik anders, als eine Selbstkritik auf einer Meta- und nicht der beanspruchten Objektebene vorzutragen. Nicht nur diese, wir alle wären gut beraten, das bereits 1983 erschienene Werk von Pascal Bruckner, Le Sanglot de l’homme blanc, wieder zu lesen.1 Das Buch erschien wohl zu einer Unzeit, zu früh, und ist heute vergessen, trotz der umgehend erscheinenden Übersetzungen ins Deutsche – als Das Schluchzen des weißen Mannes. Europa und die dritte Welt, eine Polemik2 – und ins Englische – als The tears of the white man: compassion as contempt3. Interessanter Weise lassen beide Übersetzungen den entscheidenden, im Untertitel genannten Gesichtspunkt des Selbsthasses weg. Was sich früher an Empfindsamkeit hinter den gepanzerten Körpern eines imaginär erzwungenen Kollektivs, den Kriegstruppen der weißen Kolonisatoren und Aggressoren, verborgen hat, in erzwungenes Schweigen, Selbstausblendung verbannt, das stülpt sich nun nach außen, und die getreuen Konformisten versammeln sich hinter Klage und Selbstbezichtigung. Nichts gegen das Zugeständnis, ja, nicht einmal etwas gegen eine andauernde Wiederholung der historischen Schuld, nichts gegen Klage und Selbstanklage, war es doch in der Tat das zwiespältige Christentum in erster Linie, das die universale Wahrheit der Erlösung mit Raub, Diebstahl, Unterwerfung, Mord und Massenmord verband, weltliche Geschichte an die Stelle der Heilsgeschichte setzte, diese als jene erzwang, weshalb man fragt, was denn nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ‚europäische Werte‘ oder das Fundament des christlichen Abendlandes noch wert sein soll, wenn diese Werte im 20. Jahrhundert 100 Millionen Tote gefordert haben, ein Argument, das kurz vor ihrem Tod in einem Interview in ‚Die Zeit‘ aus Anlass ihres 90. Geburtstages die Philosophin Agnes Heller noch einmal prägnant vorbrachte. Was ist nun also mit diesem Erbe, das heuchlerisch und eine Last ist? Leider wird mit ihm nicht in allem gebrochen, wird doch der Gesichtspunkt des Universalen nicht überwunden, sondern beibehalten und nur verlagert: von der Denunzierung der Moral der anderen zu deren Heiligung und zur universalen Selbstverdammnis des Standpunktes der

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‚Weißen‘. Es gibt neu also eine totalisierte und mystifizierte Opferrolle, die sich solidarisch setzt mit einer gewaltsamen Abstraktion. Das merkt spätestens, wer bereit ist, die wirklich schmerzlichen Widersprüche nicht zu leugnen. Veganer Rigorismus beispielsweise, der ebenfalls eine neue Subjektrolle gratifiziert, hat seine Grenze in der Erkenntnis, dass es ohne mörderische Kinderarbeit in den Kobaltminen des Kongo faktisch heute ebenso wenig Handys gibt wie ohne die Verwendung tierischer Produkte wie Gelatine. Mindestens noch eine Front oder Baustelle also. Gewiss, und es ist eben immer wieder ohne Einschränkungen so zu benennen: Es gibt strukturellen Rassismus, es gibt Neokolonialismus, immer noch und gerade in der Gegenwart. Und es gibt längst eine Steigerung und Verbreiterung dessen, was Rosa Luxemburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon ‚Arbeiteraristokratie‘ nannte, die Tatsache, dass selbst die ausgebeuteten Klassen im Kapitalismus noch von der Ausbeutung der Kolonialisierten der dritten Welt profitieren. Das ist inzwischen noch schlimmer geworden und trifft jeden, lässt keinen Raum, dem zu entweichen wäre. Auch nicht für die selbst ernannten Tugendwärter. Auch für diese gilt, dass ein Teil ihres Lebens finanziert und ermöglicht wird durch solche Ausbeutung, durch solchen Kolonialismus und Rassismus. Daran ändert nichts und hilft nicht, nun den Weißen den Mund zu verbieten und sich den anderen anzubiedern. Überhaupt ist nicht eine Kritik das Problem, sondern der Gestus der Anbiederung, zusammen mit der aggressiv besetzten universalen Wahrheit der eigenen Moral. Es ist gewiss nicht einfach, im Raum der Widersprüche zu leben, welche die heutige Welt-Wirklichkeit in so schmerzlicher Weise uns allen aufzwingt. Aber sie zu leugnen zugunsten einer Moral, der gefälligst die (nur etwas anders) anderen zu folgen haben, das ist zu billig. Inzwischen bedrohen die genannten Haltungen und auch Bewegungen nichts weniger als die Freiheit der Künste und Wissenschaften an Universitäten und Hochschulen, namentlich die Freiheit der Äußerung von Ideen und Ansichten, Diskursen und Debatten, Kontroversen und Kommunikationsprozessen. Die Wochenpresse liefert beliebig viel und neues Beleg- und Anschauungsmaterial, leider. Sodass man den Eindruck gewinnt, es gehe weniger um neu entdeckte Wahrheiten als vielmehr darum, dass eine inzwischen terroristische Haltung und Aktivität sich von gesellschaftlich Marginalisiertem auf den Mainstream der symbolisch Beklagten verlagert, dort Ansatzpunkte findet, die vordem nicht gesellschaftlich breit haben vermittelt werden können oder Zustimmung gefunden haben.

Kult des Herzens, der Wahnsinn des Eigendünkels, Tugendterror – Hegel und die Französische Revolution als Beispiel Die bisherige Thematisierung eines Problems erinnert mich an eine philosophische Aufarbeitung der verstörenden Erfahrungen der Französischen Revolution, dass ein Projekt so emphatisch angelegter menschheitsgeschichtlicher Emanzipation nach we-

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nigen Jahren, weniger als fünf, vollkommen umschlägt in einen Terror gegen die sich Emanzipierenden, die Revolutionäre, die Eigenen. Alle sind inzwischen – 1793 – Verräter geworden, die Partisanen der Befreiung wurden zu Abtrünnigen, nun sind alles nur noch: Feinde. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat sich in seiner Phänomenologie des Geistes (publiziert 1807) damit befasst. In dieser geht es um die Bildungsgeschichte von ‚Subjekt‘. Dies nicht in einem empirischen, denkpsychologischen oder pädagogisch erfahrbaren Sinne, sondern kategorial oder strukturalistisch, als Entwicklungslogik. Subjekt ist, was sich durch die Entfaltung der Widersprüche hindurch stetig weiterbildet, die Erfahrungen der Restriktion, Beschränkung und des Ungenügenden aufhebt, in seinem Werden also möglich macht, reicher zu werden durch Integration immer komplexerer Widersprüche. Gelingt die Synthese des Widersprüchlichen nicht, dann scheitern Subjekt und Subjektivität schlechthin. Der Bildungsweg gipfelt bei Hegel in einer absoluten Reflexion, einer ontologischen, epistemologischen, aber auch metaphysischen Einheit des Subjekts. Das braucht uns hier nicht zu kümmern. Jedenfalls ist in diesem Buche mustergültig mitzuvollziehen, dass Identität etwas anderes ist als die Behauptung ihrer Stabilität, egal wie sie im Einzelnen beschaffen sein soll. Mit und aus Hegel kann man lernen, dass Identität immer Identität von Identität und Nicht-Identität ist, also Inte­ gration der Selbstbedrohung und der Widersprüche nicht nur auf einer höheren Ebene, sondern ‚unterwegs‘, ‚on the road‘, im Prozess. Innerhalb dieser Reise des ‚Subjekts‘ durch seine Erfahrungswelt und damit auch durch sich selbst begegnet das Subjekt einigen gewaltigen, also ungeheuren, aber auch gewaltsamen Verführungen. Sie laufen darauf hinaus, dem Subjekt eine Identität, eine Ruhe, einen Stillstand zu versprechen, die allesamt trügerisch sind. Ganz einfach, weil die Reise noch längst nicht abgeschlossen ist. Die Erfahrung immer weiterer Widersprüche, Negationen und Bedrohungen sind natürlich schmerzhaft und frustrierend. Man kann beobachten, dass der Rekurs auf universal gesicherte Identität, also unbedingte Moral gegen die Bedingtheit alles außen und aller andren, eine systematisch erzeugte Illusion ist, bei welcher das der Entwicklung unfähige Subjekt sich beruhigen möchte. Es ist deshalb bezeichnend, dass Hegel (im Abschnitt ‚Vernunft‘, Kapitel V. ‚Gewissheit und Wahrheit der Vernunft‘, Unterkapitel B. ‚Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst‘) eine der größten Gefährdungen des sich blind stellenden Scheiterns der Subjektivität im entfalteten Tugendterror erblickt, d. h. im Wahrmachen dessen, was ein gut sich dünkendes Herz aus Selbstgerechtigkeit, aber auch aus schlicht positivem Engagement, dem Glühen des Herzens für den Fortschritt der Menschheit, heraus einschränkungslos der Wirklichkeit abfordert. Hegels Ausführungen zeigen, dass behauptete starre Identität eine Figur der Herrschaft ist, die auf einer nicht durchschauten ungenügenden Subjektivität beruht. Sechs Seiten hat das Kapitel, um das es hier geht und dessen Titel schon klar diagnostiziert, wovon gehandelt wird: „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels“. Auf dem Standpunkt einer sanktionierenden, reinigenden, absoluten Tugend zu beharren, bedeutet, dass der Reflexions- als immer auch ein Selbstzersetzungsprozess der Subjektivität zu früh abgebrochen ­worden ist. Der Anspruch des Selbst an die Welt schlägt dann in Terror um.

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Dies geschieht, weil starre Identität behauptet statt Flexibilisierung der Prozessentfaltung eines komplexeren Selbst betrieben wird. Das hat auch mit einer fatalen Selbstgerechtigkeit der sich zu den Guten erklärt Habenden, sich so Dünkenden und Wähnenden zu tun. Sie fühlen sich eins mit ihrem Herzen und bemerken nicht, dass die Ableitungen des Wahren als Verbindlichkeit einer Moral für alle anderen nichts ist als ein Wahnsinn aus Eigendünkel, weil sie beides, den Wahnsinn wie den Eigendünkel, zu reflektieren nicht bereit und auch nicht in der Lage sind. Hegel schreibt in eindrücklichen, manchmal überkomplexen Sätzen am Rande der Funktionsfähigkeit der Sprache u. a. Folgendes: „Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit geht darum in das Toben des verrückten Eigendünkels über; in die Wut des Bewußtseins, gegen seine Zerstörung sich zu erhalten, und dies dadurch, daß es die Verkehrtheit, welche es selbst ist, aus sich herauswirft, und sie als ein Anderes anzusehen und auszusprechen sich anstrengt. Es spricht also die allgemeine Ordnung aus, als eine von fanatischen Priestern, schwelgenden Despoten und für ihre Erniedrigung hinabwärts durch Erniedrigen und Unterdrücken sich entschädigenden Dienern derselben erfunden, und zum namenlosen Elend der betrogenen Menschheit gehandhabte Verkehrung des Gesetzes des Herzens und seines Glücks.“4 Abgründe und Paradoxien, Verstrickungen und unheilvolle Drücke einer universalistisch sanktionierenden Moral kann keine nur evidente vermittelnde Erörterung auf der Ebene der Vorkommnisse behaupten. Sie muss sich selber auf einer Meta-Ebene begegnen, die zu radikaler Einschätzung der eigenen Grenzen befähigt. Das ist schwierig und mühsam. Jedenfalls scheint klar, dass gegen alle auf feste und stabile, angeblich starke Identität gegründeten moralischen Richtlinien zu kämpfen ist. Gegen alles also, was universale ‚Wahrheiten für alle von oben‘ aus normativer Wahrheitsoffenbarung ableiten zu können behauptet. Gegen alles demnach auch, was ein konstitutives Prinzip fordert anstelle des bisherigen problematisierenden Regulativs. Solches gibt es heute nicht mehr nur bei den so zahlreichen, rechtsextremen Identitären und einer banalen wie brutalen, proto-faschistischen AfD, sondern auch im angeblich anti-eurozentrisch-selbstkritischen Diskurs der Universitäten und öffentlichen Bibliotheken. Es bleibt Aufgabe, gegen den Ruf nach Reinigung der Weltliteratur, -philosophie, -kunst von den angeblichen ‚Sünden des bourgeoisen Rassismus und Imperialismus‘ zu kämpfen. Und gegen diesen selbst, in seiner wahrhaften gegenwärtigen, realen und nicht nur symbolischen Gestalt.

Epilog (vom 25. November 2020): Quelle mit Erläuterung zur Textgestalt, ihrer Genese, beginnenden und dann deutlich werdenden Auswirkungen in Zeiten, die zu Konformität und weichen Rücksichtnahmen offen­ bar einladen Geschrieben wurde der Text am 6. und 7. November 2019. Einige Ausschnitte aus diesem Essay, ergänzt durch weitere Themen, Expositionen, Auszüge und Erörterungen wurden aufgenommen und gedruckt unter dem Titel‚ „Wenige letzte Bemerkungen zu: Kunst im Dienste der Formalisierung, Unruhe, Radikalität, Multi­ perspektivität gegen Identitäre Okkupation, zuletzt: ‚Nur Mut‘“, in: mut und melancholie/Journal der Kunst­

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hochschule für Medien Köln, N° 12/12/2019, Köln: Verlag der KHM, S. 3–13. Eine erheblich veränderte, auch ‚entschärfte‘ Fassung wurde aus diesem ersten Text erarbeitet auf der Basis einer rigiden Intervention mit erheblichem Druck seitens der Redaktion der Zeitschrift Kunstforum International, für welche ich diesen Text als Beitrag meiner ‚Dissonanten Perspektiven‘ entwickelte und verfasste. Zwar verschreiben sich Redaktion und diese Zeitschrift abstrakt dem Prinzip eines durch Autoren frei ver­ antworteten Forums für Autoren, weshalb in einer Kolumne gedruckt werden sollte, was eben Autoren schreiben. Aber konkret und praktisch sieht es anders aus, gibt es Grenzen, die gezogen werden (müssen?), wohl, uneingestanderweise gegen außen, nicht zuletzt im Hinblick auf nicht majorisierbare Zumutungen, eben zu starke minoritäre Abweichungen, die einer Publikumszeitschrift v. a. in Betracht ihrer Werbekunden und Inserenten, welche diese Zeitschrift überhaupt erst finanzieren, nicht zugemutet werden sollen. Aus­ gangspunkt der Auflage von Veränderungen betraf nicht zuletzt das Wort und Begriffsfeld ‚Tugendterror‘. Auch einzelne Kolleginnen und Kollegen der Redaktion des Journal der KHM Köln mochten sich wenig spä­ ter – im Kontext der Planung und Sichtung der Beiträge zur letzten, im Januar 2020 dann erschienenen Nummer 12 des Journals der Kunsthochschule für Medien Köln in meiner Amtszeit als Rektor der KHM der zugespitzten Diagnose nicht anschließen, dass auch Jugend durch den eigenen Rigorismus verführt wird, et­ was zu praktizieren, was strikt aufs Gegenteil des Beabsichtigten hinausläuft. Die nominelle Umdefinierung der Wahrnehmung ist eine inzwischen weitverbreitete Gewohnheit im Umgang mit den durchaus schmerz­ haften Widersprüchen, die man in ein Wohlgefallen an der beschworenen Multi-Perspektivität des so schön bunten Diversen aufgehen lässt, das doch über die limitative Intoleranz der Gutmeinenden seltsam gerne hinwegsieht, nur um sich dann angesichts des wirklichen Terrors, der aus Absolutheit von Moral abgeleitet wird, entsprechend hilflos gegenüber wiederzufinden. So musste unbedingt der ja nur auf Hegel orientierte Ausdruck des ‚Tugendterrors‘ vermieden werden. Ich wählte als entschärfte Variante, die mir gerade noch akzeptierbar erschien ‚Für eine reinigende Moral? Über Freiheit und Störung‘ und schrieb am 15. November 2019 eine zweite Fassung des Textes, der dann erschien unter dem Titel „Eine neue Moral?“ als N° 10 der ­Kolumne „Dissonante Perspektiven“ von Hans Ulrich Reck zur Aussicht der Künste heute, in: Kunstforum International, Bd. 265, Köln, Januar-Februar 2020, S. 42–45. Für eine nächste Ausgabe, also eine ‚Dissonante Perspektive‘ N° 11 wurde dann erneut ein schon druckfertig gesetzter und endkorrigierter Text mitsamt Frei­ gabe des Satzes und Umbruches zum Thema „Exzess, Verwandlung“ zwei Tage vor der Drucklegung aus dem Heft N° 267 eliminiert mit dem Verweis, man könne solches den Menschen in Zeiten von Corona nicht zumu­ ten. Die Redaktion teilte mir per E-Mail mit: „Leider muss ich Ihnen schreiben, dass wir angesichts der abso­ lut unabsehbaren Situation der Pandemie Ihre ‚Dissonanten Perspektiven‘ in diesem Band nicht drucken können. Wir mussten den Platz freimachen für einen Kommentar eben zu diesem Thema.“ Dagegen wider­ sprach ich deutlich, die Dinge spitzten sich in der Folge zu und ich beschloss, auf Fortsetzung der Arbeit an meiner Kolumne wie auch, nach immerhin 34 Jahren, für die Zeitschrift überhaupt einzustellen.

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Pascal Bruckner, Le Sanglot de l’homme blanc. Tiers monde, culpabilité, haine de soi, Paris 1983. ders., Das Schluchzen des weißen Mannes. Europa und die dritte Welt, eine Polemik, Berlin 1983. ders., The tears of the white man: compassion as contempt, New York u. a. 1986. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Mit einem Nachwort von Georg Lukács, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1970, S. 215.

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TERROR UND BLASPHEMIE Zumindest in unseren Gegenden scheinen die Zeiten vorbei, in denen eine radikale Selbstmobilisierung der Künste sich auf die Zertrümmerung alles Bisherigen, die radikale Umwertung der etablierten Werte, die Zerstörung der Zivilisation, die Entfesselung der obsessiven Energien zum Zwecke einer Verwirklichung von Utopien versteifte. Dass die Künste Residuen militanter Energien sind und diese für exzessive Inszenierungen zur Verfügung stellen, ist uns inzwischen in erfreulicher Weise fern. Die immanente Dynamik der Kunstentwicklung ging seit den expressionistischen Träumen von der apokalyptisch sich zersetzenden und darin Wahrheit wie taumelndes Erleben des Gesamtkunstwerks, gar die absolute endzeitliche Symphonie freisetzenden Apokalypse in eine andere Richtung. Nämlich diejenige einer stetig gesteigerten immanenten Reflexion der künstlerischen Prozesse selber, ihres Ausdrucksmaterials, der verwendeten Codes und Zeichen, der formbildenden, nicht der Welten bewegenden Auffassung vom schöpferischen Tun des künstlerischen Subjektes.

Selbstreflexiv gewordene Künste Spätestens seit dem ‚abstrakten Expressionismus‘ und der US-amerikanischen Pop Art gilt: Keine künstlerische Aussage, die nicht Reflexion über das Zustandekommen dessen wäre, was ‚Aussagen‘ im System der bildnerischen Zeichen überhaupt sein und bedeuten können. Kein Kunstwerk, das nicht Auskunft zu geben vermochte über die Prinzipien und Spezifika seines Gewordenseins. Keine selbstreferenzielle Thematisierung ohne deutlich zeigendes Ins-Werk-Setzen einer dafür angemessenen Inszenierung. Das hat nichts mit dem kulturkonservativ beklagten Verlust der Mitte (Hans Sedlmayr) oder gar einer Kommentarbedürftigkeit nicht mehr gegenstandsreferenziell gebundener Zeichensysteme der bildenden Künste zu tun (Arnold Gehlen). Vorbei der Nazi-Klassizismus, vorbei auch der stalinistische Gegenstandsfetischismus. Vorbei überhaupt alle politische Ausrichtung, Indoktrinierung. Selbst die gegenstandsreferenziell so fetischbereite und – wenn auch auf listige und intrikate Weise – dingversessene Pop Art, die stetig mit der Meta-Ebene ihrer Selbstinszenierung spielte, begnügte sich nur scheinbar mit der ästhetischen Evidenz des Sprachlosen. In Tat und Wahrheit ist eine der Pointen der Pop Art die Tatsache, dass sie ihren eigenen Meta-Kommentar ausbildet und sich ihm verweigert zugleich und im gleichen Zuge. Solche Kunst bedurfte keiner Kommentierungen, sie setzte sie immer schon in Gang. Genauer: Sie bezeugte aus sich, dass sie diese immer schon in Gang gesetzt hat, genauer: gesetzt haben wird. Dieses Futurum exactum als präsentische Vergangenheitsform in je aktueller, situativ bannender Zuspitzung macht die Leistung dieser Künste aus, die für politische Propaganda, fundamentalistische Missionierungen, für ideologische Instrumentalisierungen nicht mehr brauchbar sind.

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Solche Kunst auch war, ganz anders als die vorangehenden nationalsozialistischen und stalinistischen Kunstdoktrinen, für politische Propaganda, fundamentalistische Missionierungen und ideologische Instrumentalisierungen nicht mehr brauchbar. Sie nahm gegenüber allen referenziellen Bezügen und Aufschlüsselungen eine Ebene ‚dazwischen‘ ein. Sie wurde zu einem Intermedium, in welchem Betrachtungen den Bedingungen ihrer Wahrnehmung im Austausch mit Bildern nachgehen konnten, in denen just die Frage nach der aktuellen Aneignung und Dynamik von ihnen je spezifisch angemessenen, aspektual veränderlichen, niemals feststehenden Wahrnehmungsvorgängen zum Thema wurde. Die Bilder wirkten korresponsiv im Hinblick auf ihre konstruktive Machart wie zugleich die Möglichkeiten ihrer lebendigen Wahrnehmung. Sie wirkten also immer in beide Richtungen. Ein ‚Lesen‘ oder ‚Decodieren‘ von im Bild niedergelegten Botschaften wurde abgelöst von der Dynamisierung der offenen Beziehungen im für diverse wie divergente Lektüren sich öffnenden Kunstwerk, so Umberto Eco schon am Anfang der 1960er-Jahre1. Die Wendung zur selbstreflexiven Syntax, zur formalen Eröffnung neuer, durchaus inhaltlich relevanter Aussagen, die nicht mehr auf der Entzifferung dinglicher Konstellationen und ihrer Erzählung oder Behauptung beruhten, ist für die zivilisatorische Entwicklung Europas in den letzten Jahrzehnten typisch. Hier nach terroristischen Energien zu fragen, scheint deshalb verfehlt. Aber dennoch muss man eingestehen: Die Freisetzung einer Kunst, die sich ganz dem ‚Als-ob‘, der Fiktion und dem Selbstbewusstsein des fiktionalisierenden Tuns verschreibt, ist auch diejenige, die unvermeidlicherweise gegen außen blasphemische Provokation erzeugt, also evoziert. Es geht, umständlich genug, um die Evokation von nicht-intendierter Provokation. Denn aus sich heraus provoziert selbstreflexive Kunst gar nicht, die Attitüde des Provozieren-Wollens ist ihr vollkommen fern. Aber ihr konsequenter, voraussetzungsloser Nominalismus bedeutet natürlich und bewirkt auch die Zersetzung aller Gegenstandsbezogenheit, vor allem auch diejenigen externer Kontexte und inhaltlicher, vorzüglich religiöser Vorgaben. Sie evoziert also eine Ablehnung und wird damit (für irgendwen irgendwo aus irgendwelchem Grund) genau dort Provokation, wo sie nur konsequent ihr Tun-als-Ob ins Werk setzt. Die unbedingte Fiktionalisierung als Werk wie Prozess der von allen anderen Systemen (v. a. Religion, Politik, erst recht ihrer Einheit als politische Theologie disjunktiv regulierter Sozietäten) radikal abgekoppelten Kunst wird überall dort nicht akzeptiert, wo die Valorisierungen der Kunstwerke noch nicht in der Weise selbstreflexiv und nominalistisch vollzogen sind, wie das seit Duchamp für die Weltkunst und ihr System erfolgt ist. Sie erscheint dann, intentionslos zwar, dennoch blasphemisch. Und zwar stetig und auf viele Seiten hin. Darauf reagiert inzwischen politisch militanter Terror im Namen von welcher Wahrheit auch immer in geradezu hysterischer Weise: mit religiös sanktionierten Vernichtungsdrohungen gegen blasphemische, also säkularisierte Künste. Hier geht vieles durcheinander, das immer wieder zurechtgerückt werden muss. Das Kunst-System kennt immanent revolutionierende Zäsuren nicht mehr. Da es auf Geldabschöpfung und dissimulierende Transfers von Kapital ausgerichtet ist, denen gegenüber die Aussagen und künstlerischen Momente irrelevant sind, ­verkörpern

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die ästhetisch kanonisierten Werte immer mehr nur noch Zirkulationsanreiz und Tauschbereitschaft. Insgesamt erschöpft Kunst sich zunehmend in Selbstvalorisierungen durch Multiplikation der standardisierten, immer schon vergleichgültigten Ereignisse – jährlich einfach noch vierzig ‚einzigartige‘ Biennalen mehr. Indem sie solcher Weise bedeutungslos geworden ist, entkräftet sich in und mit ihr auch die Perspektive der je neuen, revolutionär sich gegen Tradition ins Werk setzen müssenden Generationen. Radikalisierte Verwerfungen kommen dann eben von außen.

Säkulare Kunst als Export von Blasphemie, Charlie Hebdo, Feind­ bilder, Intellektuellen- und Kunsthass, aktueller Antisemitismus Werdende Künstlerinnen und Künstler haben darauf gewiss eine andere Sicht. Sie sind gehalten, auf eine möglichst weitgehende symbolische Zersetzung mindestens von Teilen des Bisherigen hinzuwirken. Und zwar obsessiv und insistent. Aber diese Insistenz ist qualitativ anderes als die terroristische Negation der Künste, die wir seit dem exterminatorischen Angriff gegen ‚Charlie Hebdo‘ als Dispositiv erfahren, das sich gegen intellektuelle Kritik, symbolische Zersetzung, radikale Inanspruchnahme der virtualisierenden Künste äußert. Dieser Akt markierte, sofort spürbar, eine besondere Zäsur. Man hatte damals schon den Eindruck, es werde nun im Vorfeld gegen Künste aufgerüstet, was bald gegen missliebige Lebensformen im Ganzen, auch unbetroffen von der Kunst, ausgerichtet werden würde. Seither stehen wir alle, die mit Kunst zu tun haben, ganz besonders im Fokus der Ablehnungen und Forderungen, Aggressionen und be/drängenden Korrekturverlangens. Natürlich geht es nicht um Kunst im Sinne des Machens. Es geht gegen jedes zersetzende Reflektieren, gegen jede Fiktionalisierungsleistung des Intellektuellen, gegen alles symbolisch Differenzierte, gegen jede nominalistische Philosophie, die Offenbarungssätze ablehnt. Und damit auch gegen die so billige Ableitung von Befehlen im Namen eines Höheren, mit denen sich die signifikant oft depravierten und deklassierten Gewalttäter eine Deckgeschichte für Allmachtsfantasie, Gottähnlichkeitsposen und weitere Anmaßungen verschafft haben. Ziel ist hier, die eigene soziale Deklassierung an den Saboteuren der selbstherrlichen Rettungsdogmen zu exekutieren. Dabei war ‚Charlie Hebdo‘, man muss es nun endlich eingestehen, über weite Strecken eine mediokre Zeitschrift, die ihr angeblich subversives Geschäft meinte, mit einigen schlicht gestrickten Bildformeln betreiben zu sollen, die durchaus mit der Evokation des Blasphemischen, nämlich dem Kalkül der Inszenierung der hypertrophen Empfindlichkeit anderer rechnete, dabei aber die internen Blasphemien außer Acht ließ, weil es eben schlicht einfacher ist, die eigene Radikalität im Feld vergleichsweise primitiver Reaktions-Mechanismen zu behaupten als in subtileren, funktionalen Zusammenhängen. Religiös Empfindsame, die zwischen unvermeidlicher und gleichgültiger Häresie ihrer je eigenen situativen Bedingtheit und den Eigenarten Gottes nicht unterscheiden können, sind natürlich eine leichte Beute für revanchistische Selbstverführungen und anmaßenden Größenwahnsinn. Das eigentliche Schockierende des am 7. Januar 2015,

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also jüngst, erfolgten Attentates gegen die Redaktion der Zeitschrift waren die unerbittliche Intention und eine gnadenlose eliminatorische Aktion. Und mit ihr, durch sie und seit ihr die unmissverständliche Drohung, allenthalben und jederzeit alles exterminatorisch zu sanktionieren (Assimilation durch Annihilierung), was dem eigenen Standpunkt als blasphemisch erscheint. Und das eben ist: Jede Funktion intellektueller Kritik, jede Meta-Ebene, jeder virtualisierende Nominalismus, jede Reflexion, die hinter den Dingen nach den Bedingungen, den Inszenierungsformen des angeblich sakrosankt, unberührbar, als Tabu gesetzten Bedingungslosen fragt. Der islamistische Terror richtet sich nicht nur gegen die Kunstfreiheit einer als dekadent geschmähten Welt. Er beutet darin ein viel älteres und ubiquitärer existierendes Ressentiment als Rassismus gegen jede ‚zersetzende Intellektualität‘ aus. Es ist nicht zu übersehen, dass in Ausrichtung, Orientierung und Begründung der exterminatorischen Aktionen ein inzwischen wieder ultimativ wie maßlos geschürter Antisemitismus als klassische Hintergrundfolie aller Vernichtungsdrohung gegen abweichendes, nicht-folgsames Verhalten am Werk ist. Was für ein Irrtum, zu meinen, dass ‚Charlie Hebdo‘ exklusiv im Zentrum stand. Der sekundäre oder ‚flankierende‘ Angriff auf das jüdische Einkaufszentrum, von dem viel weniger die Rede war – auch über dessen Tote erging nicht dieselbe Art des Redens –, ist in signifikanter Weise zumindest partiell ‚übersehen‘ worden. Das wird damit zu tun haben, dass man nicht bereit war, hinter den Schmähkarikaturen den klassischen antisemitischen Zivilisations- und Intellektuellenhass am Werk zu sehen.

Kunsthochschulen im Zeitalter der technischen Apparatesteuerungen Leicht ist es, in symbolischer Weise bedingungslos für eine universale, transkulturell unverfügbare Freiheit der Künste einzutreten. Nicht nur, aber auch bezüglich der Aktualität von Terror und Blasphemie muss überlegt werden, was für eine Freiheit welcher Kunst im Zeitalter globaler Vereinnahmung des Techno-Imaginären für Sozialplanung und ubiquitäre Kontrolle der Individuen überhaupt gemeint sein kann. Ich nehme ein mir naheliegendes Beispiel und merke, nicht systematisch, sondern in Sprüngen verbindend, einiges wenige dazu an. Eine Kunsthochschule für Medien Köln ist inzwischen fast dreißig Jahre alt. Ihr Ziel war, mittels poetischer Aneignung aller Bildmedien die Steuerungslogik der techno-­ imaginativen, die Vorstellungen modellierenden, das Imaginäre prägenden Apparate zu brechen, deren Dynamik und Nutzen verändern zu können. Dazu sind einige historische Bemerkungen zum Zwecke einer Problemsondierung angebracht. Mit der Videografie und den in den 1970er-Jahren für normale Konsumenten zugänglichen Videokameras wurde es möglich, die televisuellen Bewegtbild-Aufzeichnungen den Apparaturen der staatlichen Macht und Bilderkontrolle zu entreißen. Zahlreiche subkulturelle bis hin zu anarchistischen Bewegungen führten zu einer Emphase des Bildermachens durch politische Kollektive, die, technisch gesehen, Laienkultur bleiben durften. Eine Kunsthochschule für Medien Köln ist nicht zuletzt aus dieser Extension

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des technisch gestützten Bildermachens und der Frage nach den künstlerischen Transformationen der bildnerischen Gegenöffentlichkeit, als Alternative zu der alles beherrschenden TV-Apparatur hervorgegangen. Von heute ist ein Denken dieser Zäsur in ungebrochener Emphase nicht mehr möglich. Denn, wie immer wieder herausgestellt werden muss: Die technische Herstellbarkeit von Bildern steht inzwischen auch den Einzelnen, Konsumenten und Laien offen. Es bedarf technisch-ökonomisch keines motivierenden Zusammenschlusses zu Kollektiven (wie Videogenossenschaften u. d. m.) und Bewegungen mehr. Bildherstellungstechnologien, die vor dreißig Jahren, zu schweigen vom Zeitalter des Kinos, einer entwickelten Apparatur bedurften, sind heute im Endverbrauch der Einzelnen für wenig Geld und Gewicht verfügbar. Die Studio- und Editionstechnik ist miniaturisiert, die Veröffentlichungsmöglichkeiten zeitlich beschleunigt und über Netze zumindest virtuell, dispers, zwar nicht allen, aber doch vielen, zumindest in der ‚ersten technisierten Welt‘ zugänglich. Nahezu jeder kann nun Autor, Produzent und Editor instantaner Video- und Audiogramme für eine virtuelle Weltöffentlichkeit sein. Aber auch von ganz simplen Botschaften, Nachrichten, Darstellungen, Vermutungen, Gerüchten, Unwahrheiten. Das bedeutet auch, dass für Terror, Einschüchterung, das Säen von Angst und Schrecken beliebige Selbsternennung reicht. Terror ist zum Franchising-System geworden, das keiner entwickelten Organisationsstruktur bedarf (im minimalen Falle), obwohl man just dieses uns einreden will, als ob es beruhigender wäre, wenn eine militärisch entwickelte Qualität dafür nötig wäre. Die zunehmend vielen eröffnete Möglichkeit des Sendens, Verwendens, Einrichtens, Adaptierens, Übernehmens bis hin zum Fake ermöglicht nun auch jedem, gegen beliebige andere nicht nur terroristisch zu handeln, sondern eben auch blasphemisch zu sein. Auch das ist neu: technisch gestützte Dis­persion von wahrheitsbezogen Ununterscheidbarem. Kehrseite davon ist, dass die Technik und der Verbund der Apparate immer undurchsichtiger werden, im Hintergrund unfasslich erscheinen, also wohl gesteuert sein werden von Expertokratien. Aber zunehmend auch von programmierten maschinellen Abläufen, maschinischen Verbundsystemen. Dies setzt allerdings, wenn auch auf qualitativ neuer Stufenleiter, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom ersten wirk­ lichen philosophischen Soziologen des Großstadtlebens – nämlich Georg Simmel – benannte Dominanz der Kultur der Sachen über die Kultur der Person und der Individuen fort. Es gibt also kein Subjekt der oder über die Technik mehr. Der vermeintliche Herrscher über die von ihm entworfene Technik ist nur noch mit dieser ko-existent und selber technisch vermittelt. Neben vielen anderen Fragen wirft das auch diejenige auf, was die Kunsthochschulen im Hinblick auf Bildproduktionsansprüche überhaupt legitimiert. Um welche Art des Bildermachens kann es noch gehen in einer Welt, in der schmutzige Kriege nicht nur um, sondern auch, zuweilen gar vor allem: mit Bildern geführt werden? Der soziale und politische wie der psychische und interaktionelle Gebrauch der Bilder in der heutigen Gesellschaft unterläuft die Künste in ihrem bisherigen exklusiven Anspruch an hochstufige, selektive, exemplarisch herausragende, erst recht exklusive Bildherstellung.

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Gibt es neue Entwürfe für Künstlerrollen (Selbstthematisierungen)? Oder tritt Kunst als untergeordnete Strategie und idiosynkratischer Code neben vielen anderen auf, also mit diesem nur in einem Nebenher existierend? Mischt sie sich ein in den heutigen allgegenwärtigen schmutzigen Bilderkrieg, in eine Schlacht, die die Kunst doch längst schon verloren hat? Und damit kommen wir zum Thema der Gefährdung der Künste durch terroristische Gleichschaltung und stellvertretende Projektion des blasphemischen Aktes auf den inkriminierten anderen, den horrifizierten Äußeren, den verachteten Fremden, zurück.

Die Un-Art des Blasphemischen, Terror und ein Lachen Religionen bestehen in der Umkehrung dessen, was sie anderen an Verletzung/Schmähung/Profanierung ihrer selbst vorwerfen. Also ist nicht die Schmähung der Religion, sondern diese selbst blasphemisch. Es gibt keine Blasphemie gegen Religionen. Es gibt nur Religionen als ihre eigene Blasphemie. Die Freiheit der Künste ist jedoch nicht erst in Gefahr, wenn Grenzen überschritten und exterminatorische Aggressivität, also Liquidation des Ärgernisses Kunst erzwungen werden sollen. Die Freiheit der Künste ist nicht erst jenseits solcher ultimativen Grenzen bedroht, sondern viel früher schon, stiller, unsichtbarer. Die derzeit wachsenden externen Forderungen nach einer gesellschaftlich oder anderswie vorab bestimmte Nützlichkeit der Künste und einer offiziellen Einforderung ‚guter‘, also ‚normativ gereinigter Praxen der Künste‘ entfalten bereits einen, die Substanz der Freiheit der Künste bedrohenden Einwirkungseffekt, ob dies nun so beabsichtigt ist oder nicht. Was dem einen erst Terror zu bewirken scheint, dafür genügt dem anderen ein Lachen, allerdings ein besonderes. Dazu kurz Folgendes. Im Jahre 1900 wurde nicht nur Sigmund Freuds Traumdeutung publiziert, sondern, zunächst in einer Reihe von drei Aufsätzen in der ‚Revue de Paris‘, Henri Bergsons ‚Essay über die Bedeutung des Komischen‘ unter dem Obertitel ‚Le rire‘, ‚Das Lachen‘. Bergson entwirft darin eine Theorie des Komischen als soziales Interaktions- und Kommunikationsmodell. Er erörtert zahlreiche Beispiele des ‚Auslachens‘ in Aspekten einer Bewegungskomik, einer Situations- oder Wortkomik sowie der Charakterkomik. Bei Letzterem darf man ruhig Karikatur und Satire mitlesen. Bergsons Beispiele zeigen dem Leser: Wir lachen nicht nur, weil es viel zu lachen gibt oder weil das Lachen viel zu Lachen gibt oder gar, weil das Lachen gesund oder ‚Spaß‘ macht, was man ja mittlerweile als Drohung einer alles erstickenden Jovialität verstehen gelernt hat. Nein, man lacht zuweilen und in bestimmter Hinsicht, jedenfalls nach Bergson, weil man anders einen epistemischen Schock nicht verkraften, also innerlich und ohne Aktivierung von Physiognomie, Muskeln, Laut und Ausdruck nicht bewältigen kann. Bergson sieht den Schlüssel des Lachens in der Kollision zweier Ordnungen und einem paradoxen wie ambivalent bleibenden Übergang vom Lebendigen zum Mechanischen und umgekehrt. Es ist das Mechanische im Lebendigen oder das Lebendige im

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Mechanischen, was zum Lachen reizt. Lachen ist auch Erkenntnisausdruck und nicht nur Spannungsabfuhr. Man kann die Kollision zwischen dem Lebendigen und dem Mechanischen auch anders ausdrücken: als Kollision heterogener Ordnungen generell, also Aneinanderstoßen und Aufeinanderprallen zum Beispiel von Künsten und Dogmatismus, Satire/Karikatur und Totalitarismus, Kunstfreiheit und religiöser, vor allem monotheistisch diktierter Moral, die natürlich, genau besehen, eine Blasphemie ersten Ranges ist.

Zur Gefährdung einer Freiheit der Künste und Hegels Ausführungen zum Tugendterror Um keine Missverständnisse bei solchem Thema aufkommen zu lassen, sei nochmals unmissverständlich herausgestellt: Blasphemisch sind nicht ätzende, billige, simpel bis lächerlich einfach gestrickte Karikaturen von Propheten und Göttern, sondern die Inanspruchnahme, im angeblichen Einklang mit angeblichen Geboten einer Religion, die Stelle Gottes zu besetzen, um dessen angeblichen Willen zu exekutieren. Kurz und prägnant: Es lässt sich daraus der Verdacht erhärten, dass nicht die Kritiker der Religionen, sondern nur und ausschließlich diese selbst blasphemisch sein können. Kein Wunder, dass solches sich gegen Zivilisation und Menschlichkeit richtet, wie alle Gottesurteile bisher, die ausnahmslos, egal, in welcher Ausprägung oder Dimension, Konstrukte menschlicher Machtanmaßung sind und bleiben. Für einmal mehr sei hier der – wahrlich nicht in allen Belangen zur Referenz taugliche – Philosoph Hegel erwähnt. Seine noch heute als beispielgebender philosophischer Bildungsroman interessierende kategoriale Bildungsgeschichte des Subjekts erscheint 1807 unter dem Titel Phänomenologie des Geistes und umfasst alle, auch die verfehlten, illusionären und fatalen Gestalten, in denen Subjektivität sich zur Realität wird. Im Kapitel ‚Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels. Die Tugend und der Weltlauf‘ entwickelt er das Konzept einer „Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist“. Wenn diese misslingt, entwickeln sich nicht Freiheit und Tugend, sondern ein spezifischer Schrecken, nämlich die Bereitschaft zum Tugendterror. Wie leicht und schnell der Wahnsinn des Eigendünkels in Tugendterror umschlägt, reflektiert Hegels Phänomenologie des Geistes im Weiteren auch bezüglich der Erfahrungen der Französischen Revolution in den Jahren von Robespierre, 1793/94 – als eine Figur der Unversöhntheit, des Scheiterns, der Unerlöstheit. Bergsons Lachen dagegen ist gerichtet auf eine solche lebendige Figur der Erlösung. Blasphemisch ist im Weiteren auch nicht der Gebrauch der Freiheit der Künste, sondern ihre angeblich moralische gebotene Einschränkung, weil irgendjemand sich durch einen spezifischen Gebrauch verletzt fühlt, der damit per se als Missbrauch denunziert wird. Und irgendjemand ist wegen irgendetwas ständig verletzt und beleidigt. Auch ich natürlich. Aber das besagt und bedeutet nichts, berechtigt ohnehin zu gar nichts.

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Wir benötigen eine gehaltvolle und nicht nur eine symbolisch zum reibungslosen Fortgang der Geschäfte im Kunstsystem taugliche, folgenlos beschworene Freiheit der Künste. Aber wir benötigen auch einen zeitgenössisch geschärften Realismus in allen Ausdrucksformen. Die Freiheit zu Satire und Karikatur gründen wie die Freiheit der Künste überhaupt auf einer epistemischen, also auf einer Erkenntnisleistung: Erkenntnis des Schocks durch Kollision und erlebter Nichtzusammengehörigkeit zweier heterogener Ordnungen. Und, nun im ganz Wesentlichen: Kraft und nicht nur Wille, die Spannung dieser Kollision nicht aufzulösen, sondern die Spannung und polare Divergenz des Differenten zu erhalten oder aufrechtzuerhalten – das kennzeichnet die Freiheit, markiert aber auch die Aufgabe der Künste. Kein Wunder also, dass Bergsons Abhandlung über das Lachen im Weiteren nicht nur sein denkerisches Lebensmotiv, das Lebendige als ein unaufhaltsames, stetiges Werden bearbeitet, sondern auch eine eigentliche Theorie künstlerischer Kreativität präsentiert. Aber das ist eine andere Geschichte.

Geschrieben am 1. und 2. Januar 2017; eine gekürzte Fassung erschien als N° 2 der Kolumne „­Dissonante Perspektiven“ von Hans Ulrich Reck zur Aussicht der Künste heute unter dem Titel „Terror und Blasphemie“ in: Kunstforum International, Bd. 245, Köln, März-April 2017, S. 46–49; eine Variante außerdem als „Terror und Blasphemie – Über die Freiheit der Künste“, in: what subject can we sensibly discuss – S ­ onderausgabe KHM-Ausstellung zur Art Cologne 2015/Journal der Kunsthochschule für Medien Köln, N° 3/4/2015 (Köln: Verlag der KHM), S. 36–37. Die argumentativen Materialien wurden zuerst erarbeitet für den einführenden Vortrags des Rektors der KHM Köln zur 25-Jahr-Feier der Kunsthochschule für Medien Köln mit dem Titel „Über Totalitarismus, Blasphemie, die Freiheit der Künste und den epistemische Chok des Lachens“, Aula und Foyer der KHM, 22. Januar 2015. Eine weitere Version erschien in einer Auswahl von Texten aus zwei Jahrzehnten, 1996–2015, als Zusammenstellung von allesamt auf Deutsch einzeln an diversen Orten publi­ zierten Texten für die spanischsprachige Edition „En medio. Ensayos sobre lo imaginario de las artes y los ­medios“, 2018 als N° 42 erschienen in der Edition „collecciónsincondicion“, Universidad Nacional de Colom­ bia Bogotá, Facultad de Artes.

1

Vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973.

TERROR UND BLASPHEMIE  385

10  Ausblick mit Michael Erlhoff

10  Ausblick mit Michael Erlhoff Vorab und zuletzt: Designtheorie ist immer auch eine Theorie des Mangels aus wie als Designtheorie. Also nicht einfach Entdeckung einer Defizienz, sondern verschiebende Erzeugung des Defizienten mithin als eine neue Einsicht. Wahrhaft neu wäre nur, was niemandem bekannt, geschweige denn schon vertraut sein kann, was also auch nicht einzuordnen und schon gar nicht zu bewerten ist. Solche Perspektive auf die Herausforderungen des Schöpferischen in der Designtheorie markieren einen eigenen thematischen wie methodischen Zusammenhang. Zugleich wird der theoretische Prozess durch den inmitten der Theorie differenzierten Theoriemangel immer wieder vorangetrieben. Immer wieder also sind auch Sinn und Bedeutung kritisch zu diskutieren. Das gilt für Kunst, gilt auch für Design. Unter kreativitätstheoretischen Gesichtspunkten lösen sich die Gebietsgrenzen zwischen Künsten, Design, Wissenschaften zunächst heuristisch, tendenziell und auf Zeit auf. Diese Öffnung markiert die Chance der Zukunft und das Einbrechen derselben in unsere Gegenwart. Sich dieses Zeitpunktes des je Aktuellen zu vergegenwärtigen, bedeutet nicht Gehorsam gegenüber der chronosukzessiv unerbittlich feststehenden Anwendung der Zeitfolgen, der formalen Herrschaft der Zeitmodi. Vielmehr handelt es sich um Qualitäten, um ein Hereinbrechen je spezifischer Bestimmungen und Erfahrungen auf ein je als Aktuelles, Dringliches, Erfahrenes. Ganz unabhängig davon, ob es in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Suggestion eines Künftigen sich zu präsentieren vermag.

388  AUSBLICK MIT MICHAEL ERLHOFF 

EINFACHER AUSSTELLUNGSHINWEIS FÜR ­BESUCHERINNEN UND BESUCHER (gemeinsam mit Michael Erlhoff)

„Denken ist gewiss a priori unansehnlich – und schafft doch Bilder, äußert Vorschläge, vergewissert und irritiert, ermöglicht Ausweitungen und Verdichtungen, erzwingt Verschiebungen. Es führt kein Weg daran vorbei, sich zu äußern. Immer wieder gab es deshalb Versuche, Modelle des Denkens zu formulieren und das an und für sich Unscheinbare und Unsichtbare zu veranschaulichen. Hegel, Schopenhauer, Darwin oder Freud mühten sich ebenso darum wie viele Entdecker chemischer, physikalischer oder biologischer, mathematischer oder geodätischer Prozesse. Ungewiss bleibt natürlich weiterhin, ob Denken wirklich ausgestellt, der blinde Fleck als solcher sichtbar gemacht werden kann. Es kommt, wie im Prozess der Wissenschaften und Künste, immer wieder einzig auf den Versuch an. Für die Ausstellung ‚Heute ist Morgen‘ ist dieser Versuch unternommen, sind einige der vielleicht anregendsten Wissenschaftler unserer Zeit aus unterschiedlichen Kulturen eingeladen worden, ihre Modelle vom Denken auszustellen. Sichtbar gemacht werden also nicht in erster Linie die Gedanken (Befunde, Erkenntnisse) über die Welt als vielmehr die Modelle und Sichtweisen, die das jeweilige Denken über die Welt lenken, steuern, auch verführen und zuweilen gar abdriften lassen. Die Selbstdarstellung der Hintergrundannahmen, Sichtweisen, Fluchtlinien, Orientierungsmarken, Leitplanken, Pfade zum Wesentlichen – unterhalb von Ruhm, Macht und Neugierde erzählt sie von einer Geschichte, die von der ‚natürlichen Einbildungskraft‘ und ihrer notwendigen Inszenierung für und durch den Menschen handelt. Im Denken über das Wirkliche verbindet sich mit dem entdeckten Objektiven der Welt und der Konstruktion unserer Erfahrungen immer auch eine Ästhetik der Inszenierung und des Artifiziellen. Aspekte und Inszenierungen brechen sich im Wissen um das Künstliche ihre Bahn seit je nicht selten hinter dem Rücken der Urheber. In aller Behutsamkeit und mit drängender Wucht, in zwangsläufiger Vereinfachung und großer Komplexität, geheimnisvoll und offenkundig, ausdrücklich und eindringlich zugleich möchte dieses Zeigen des Denkens über die Welt in der Darbietung seiner Modelle einen Ausdruck finden, in denen es sich der Welt versichert mittels Hypothesen und Schlussfolgerungen, Anmutungen und Zumutungen. Und vielem mehr … Auf dass die Besucherinnen und Besucher etwas davon erfahren mögen, wo und wie Denken sich gegenwärtig bewegt und welche Perspektiven ihm innewohnen.“

Dieser Text wurde, als ein Leitfaden für das Publikum, erst im November 2000 von den Kuratoren der Ausstellung geschrieben und, in Gestalt einer Orientierungstafel, nur für die letzten beiden Monate der Ausstellung an einem neuen Eingang zu derselben angebracht. Dadurch, dass die Ausstellung nicht mehr parallel

EINFACHER AUSSTELLUNGSHINWEIS FÜR ­B ESUCHERINNEN UND BESUCHER  389

zur dann beendeten Exposition des deutschen und italienischen Designs der Nachkriegszeit – Titel: „4:3. 50 Jahre italienisches und deutsches Design“ – gezeigt werden konnte, sondern eigenständig wurde, war ein neuer, eigener Eingang nötig, womit nicht mehr die Schautafeln aus der Wissenschaftsgeschichte als ein Gegenüber dem Eintretenden sich darboten, sondern dieser sich, gleichsam nun von einer marginalen Ecke aus, verstohlen und seitlich abgeschoben hätte empfinden müssen, wenn denn nicht eine solche Leitinformation dargebracht worden wäre.

390  AUSBLICK MIT MICHAEL ERLHOFF 

„ETWAS ZEIGEN, WAS MAN NICHT ­BEGREIFEN KANN“ – EIN BERICHT ZUR AUSSTELLUNG ­HEUTE IST MORGEN. ÜBER DIE ZUKUNFT VON ERFAHRUNG UND KONSTRUKTION 1 Die Ausstellung Heute ist morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Konstruktion wurde erarbeitet für die und öffentlich gemacht in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn. Sie wurde gezeigt vom 30. Juni 2000 bis zum 7. Januar 2001. Kurator war Michael Erlhoff, der auch die ursprüngliche Idee hatte, neben die große Designretrospektive zum Verhältnis von deutschem und italienischem Design der Nachkriegszeit – 4:3. 50 Jahre italienisches und deutsches Design – eine auf Entwicklungskräfte der Wissenschaften und Künste bezogene, autorschaftlich orientierte Nebenausstellung unter dem Titel Heute ist morgen zu stellen, also neben die Retrospektive eine Meta-Reflexion auf Prospektiven. Früh wurde ich nicht nur als Wissenschaftler mit einem eigenen Beitrag für die Ausstellung eingeladen, sondern als Berater, Anreger und Vermittler wissenschaftlicher und künstlerischer Kontakte und Positionen. Die Projektleitung lag bei Jutta Frings. Sie wurde ebenfalls von Michael Erlhoff extern angeworben und blieb dann fest in der so genannten Bundeskunsthalle. Autoren mit eigenbestimmten Beiträgen wurden zum Schluss: Siah Armajani, Bernhard J. Dotzler, Ernst von Glasersfeld & Michael Stadler, Dietmar Kamper, Shutaro Mukai, Kunihiko Nakagawa, Hans Ulrich Reck, Knowbotic Research, Otto E. Rössler, Lesiba J. Teffo & Ntate Kgalushi Koka, Oswald Wiener, Günter Zamp Kelp. Eine begleitende Publikation erschien entgegen der Abmachung mit der Bundeskunsthalle und dem Verlag nur auf Deutsch, wurde konzipiert und redigiert von Michael Erlhoff und Hans Ulrich Reck, hgg. v. der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland im Cantz Verlag, Bonn/Stuttgart 2000, mit Beiträgen von: Siah Armajani, Andreas Broeckmann, Bernhard J. Dotzler, Micheal Erlhoff, Ernst von Glasersfeld & Michael Stadler, Dietmar Kamper, Arthur & Marilouise Kroker, Shutaro Mukai, Kunihiko Nakagawa, Hans Ulrich Reck, Otto E. Rössler, Lesiba J. Teffo & Ntate Kgalushi Koka, Oswald Wiener, Günter Zamp Kelp. Die Publikation dokumentierte nicht die Ausstellungsbeiträge, sondern die in diesen thematisierten meta-theoretischen Überlegungen, ging es doch um eine Auseinandersetzung mit dem die eigenen Forschungen und Projekte, Imagination und Denken anleitenden Prinzipien, Maximen, Regularien, denen allesamt ein blinder Fleck zugrunde liegt, der thematisiert werden muss und doch nicht thematisiert werden kann in derselben Weise wie ein Beobachtungsdatum oder Theoriekonstrukt der eigenen Epistemologie. Denken aus dem blinden Fleck, und diesen denkbar zu machen und ihn zu erörtern, war das Projekt und die Aufgabe der meta-theoretischen Reflexion, die nur in Gestalt poetischer Projekte und Projektionen möglich

„ETWAS ZEIGEN, WAS MAN NICHT B ­ EGREIFEN KANN“  391

werden konnte. Man könnte auch sagen: Es ging um die Erhellung der das eigene Erkennen und Handeln steuernden Substrukturen oder Hintergrundannahmen. In einigen Begleitveranstaltungen wurden exemplarisch in Gesprächen mit und zwischen Shutaro Mukai, Kunihiko Nakagawa, Otto Rössler, Ernst von Glasersfeld, Dietmar Kamper, Ntate Kgalushi Koka, Lesiba L. Teffo, Michael Erlhoff und Hans Ulrich Reck die Einsichten und Probleme erörtert, Sichtweisen differenziert und vertieft.

2 Weniges sei vermerkt zur Vorgeschichte und Realisierung der Bonner Ausstellungen des Jahres 2000. Dass Michael Erlhoff eine zusätzliche Ausstellung in einem größeren und weitaus populäreren, zugkräftigeren Rahmen durchsetzte, verdankte sich seiner Einsicht, dass Design über das ethnografisch Episodische hinaus als eine ernsthafte Weise des Denkens und Erörterung von Problemzusammenhängen und damit auch Problementwicklungen gedacht werden muss. Das funktioniert eben nicht nur retrospektiv, sondern auch, und vor allem, prospektiv, bedarf der Inszenierung von Modellen, die sich nicht mit populären Codes der Alltagswelt beschäftigen, sondern sich der experimentellen Selbstwahrnehmung von Künsten und Wissenschaften in Hinsicht auf komplexe Entwicklungskräfte widmen. Zwei gegensätzlich gedachte, typologisch wie konkret divers geformte und geprägte Ausstellungen also, die sich ideal ergänzen sollten. Man konnte – geistig wie räumlich – von der einen zu der anderen Abteilung überwechseln, wurde dabei jedoch nicht lautstark, sondern dezent auf die Besonderheiten hingewiesen, wobei der Gesamtzusammenhang – retrospektiv und prospektiv, ‚E‘ und ‚U‘ – überhaupt nicht programmatisch für Belehrung oder Außenwirkung deklariert wurde. Die Ausstellungen waren, wie gesagt, absichtlich divers eingerichtet, die diversen Wirkungen sofort als unterschiedene erfahrbar. Natürlich war der Haupt-Durchgang, seitlich für beide Ausstellungen, diese verbindend, ausreichend angezeichnet. Man konnte demnach die divergenten Codes von Design/Alltag/Gebrauchsgüterästhetik und Wissenschaft/Künste/Forschung auch als eine Komplementarität der Codes von ‚E‘ und ‚U‘ lesen.

3 Die ‚kleinere‘, experimentellere Ausstellung hatte eine längere Laufzeit, ein Faktum, das von Anfang an sich auf den Plan so auswirkte, dass sie als in sich geschlossene Einheit auch ohne den Designpartner tragfähig sein musste. Michael Erlhoff hat diese kleinere Ausstellung durch eine Transferplanung und durch Querverlagerungen ermöglicht. Er hatte die Idee, zur ‚Perspektive von Empirie und Konstruktion‘, so der Arbeitstitel zu Beginn, ein Dutzend Wissenschaftler und Künstler einzuladen, die Gründe und Prinzi-

392  AUSBLICK MIT MICHAEL ERLHOFF 

pien, die bedingenden, generativen Perspektivierungsmodelle ihres in Gestalt wissenschaftlicher Darstellungen realisierten Denkens über die Welt zu visualisieren, also das Augenmerk auf die paradoxal prägende, dennoch niemals unmittelbar einsichtige, gerade in ihrer Antriebskraft – nicht nur psychologisch, sondern epistemologisch – nicht oder nur schlecht durchschaubare, also die wahrhaft verborgene Ebene der Systemsteuerung zu thematisieren. Damit verlagerte sich die Formulierung des eigenen Denkens auf die Meta-Ebene der Durchleuchtung der Hintergründe, wurde also im eigentlichen wissenschaftstheoretischen Sinne zu einer Grundlagendarstellung und einer höherstufigen Thematisierung der Thematisierungsweisen und nicht nur der innerhalb dieser sich so überaus gewohnt wie zahlreich stellenden, konkreten Forschungsaufgaben, Probleme und Perspektiven.

4 Es scheinen einige Bemerkungen zum Verhältnis von empirischer und meta-theoretischer Ebene eines solchen Unternehmens angebracht, wie auch zum Begriff der Performativität im Bereich von ja immer – absichtlich oder unbewusst – prozessual erzeugten Theoriebildungen. Am Beispiel dieser Ausstellung, die unter anderem zum Ziel hatte, die Hintergrundprinzipien verschiedener Denkweisen zur oder über die Welt ästhetisch erfahrbar und sichtbar zu machen, ergibt sich die generellere Möglichkeit, das Performative der Theoriebildung nicht als einen zusätzlicher Effekt, eine sekundäre Aufnahme oder Inszenierung zu verstehen, sondern als eine Thematisierungsvorgabe zu studieren. Erinnert werden soll im Kontext der Wendung zum Performativen, dass der Ausdruck der Performanz einen ganz spezifischen Sinn nicht zufällig in Sprachwissenschaft und Linguistik gewinnen konnte. Auch das bedarf hier keiner Erörterung. Aber es soll im vorliegenden Kontext an diesen Begriffsgebrauch erinnert werden. Und zwar, weil die einer Performanz zugrunde liegende Kompetenz, d. h. die Struktur einer tiefengrammatischen Angemessenheit der Kenntnis von Regeln und Möglichkeiten überhaupt in jedem Fall auf Performanz angewiesen ist, weil nur sie die Sprache der ‚langue‘ in die Sprachlichkeit der ‚parole‘, also eine konkrete, physikalisch und empirisch nachvollziehbare Äußerung übersetzt. Erscheint Performanz zuweilen nur wie ein subjektiver oder kontingenter Faktor, eine Art ästhetische Aktualisierung der jeweils ins Konkrete mündenden Tiefenstruktur, so kann man sie natürlich auch umgekehrt verstehen: als Bedingung der Möglichkeit, dass so etwas wie Struktur überhaupt auch Gestalt werden kann. Was ‚im Prinzip‘ und dem ‚Grunde nach‘ bestimmt vorhanden ist, wird real ‚gegenständlich‘ nur durch Performanz.

„ETWAS ZEIGEN, WAS MAN NICHT B ­ EGREIFEN KANN“  393

5 Wenn nun eine Ausstellung zum Generierungsprozess von wissenschaftlichen Modellen, Wissenschaft, Nachdenken über die Welt, Generierung der Gegenständlichkeit ‚Welt‘ für den Zugriff einer Wissenschaft danach fragt, welches die Bedingungen der Möglichkeiten dieser Thematisierung sind, die Motive und Hintergründe, die leitenden Modelle, dann zielt diese Frage natürlich auf eine Paradoxie, sind doch in aller Regel, wie bereits angedeutet, diese Modelle dem Blick des Forschers gerade verborgen. Er eben forscht, aber nicht in der Klarheit der Vergegenwärtigung der geschichtlichen Situierungen der realen wissenschaftlichen Fortschritte, sondern in aller Regel in der Art, sich diesen zu verschließen, weil er für den Forschungsprozess ihrer nicht bedarf. Die Frage zielt, einfacher gesagt, auf den blinden Fleck, der Sehen möglich macht, ohne selber zu sehen, oder für Sehen Empfindlichkeiten bereitzustellen. Dazu ist das Unternehmen ‚Heute ist morgen‘ in einem Rückblick durchaus als ein Beitrag zum Performativen der Theoriebildungen anzusehen. Vorab macht der aktuelle Kontext der Wendungen zum Performativen, auf welche sich das Unternehmen äußerst klar und bewusst bezieht, aber in ebenso bewusster Vermeidung der Nennung des Schlag- oder Reizwortes deutlich, dass es dem Unternehmen ‚Heute ist morgen‘ um die durch Steigerung der Artikulationsfähigkeit und des bewussten Zeichengebrauchs mögliche Einsichtnahme in die Konstruktionsmodelle dessen geht, was als Konstruiertes erst von eigentlichem Wert sein möchte – analog zu einem Manierismus der bildenden Künste, in denen nicht Motive, sondern ganze Bildmodelle verzeichnet und auf einer Meta-Ebene reartikuliert und somit in ihren Antrieben und Mechanismen, Motiven und Formen, Strukturen und Überzeugungen überhaupt erst zugänglich gemacht worden sind. Es ist nicht falsch, diese Meta-Modell-Ebene als eine des Ästhetischen und Rhetorischen, mindestens diesen Vergleichbaren anzusprechen. Die Wendung zum Performativen scheint hier aber noch viel stärker ein kulturelles Hintergrundgefühl, eine modellgebenden Mentalität ausfindig zu machen und als bestimmende Größe am Werk zu sehen, nämlich eben die Beobachtung des Sich-ins-Werk-Setzens, des Vollzugs und Motivvollzugs des Konstruierens, d. h. die Teilhabe am konstitutiven Prozess, die stärker als die früher einseitig instrumentalisierten, auf Eigengeltung konzentrierten schieren Ergebnisse dies zugelassen haben. Und natürlich die andere, tieferliegende Ebene, die davon ausgeht, dass nur in der Modellierung einer Performanz überhaupt etwas als ein Code, ein Register, eine Rhetorik, ein Repertoire sich formt, das irgendwann in der Lage ist, die Rationalität und Eigenheit der Ergebnisse in ein entsprechendes Licht zu stellen – ich würde außerdem dazu sagen: mittels Ästhetik im Sinne der differenztheoretischen Artikulation der Unterschiedlichkeit von zeichengebendem Modell und erzeugten, generierten Zeichenketten, d. h. Folgen von Erkenntnissen diese selber in generativ bestimmendem Lichte erscheinen zu lassen. Die erneut ansetzende, gesteigerte, verdoppelte Reflexion inmitten der Konstruktionsprinzipien von Modellaussagen gegenüber ‚Welt‘ ist, was die Performanz des Unternehmens ‚Heute ist morgen‘ bestimmt hat.

394  AUSBLICK MIT MICHAEL ERLHOFF 

Diese meta-theoretischen Bemerkungen sind nötig, um die Darstellung zu beleuchten, eine Empirie also, die durch die Ausstellung selber geschaffen worden ist. Die Ausstellung wollte nichts weniger als wissenschaftliches und künstlerisches Denken ausstellen im Hinblick nicht auf Resultate, sondern Begründungs- und Konstruktionsvorgänge. Was sich für eine auf Objektebene reduzierte, also wissenschaftstheoretisch falsch verfahrende, die Empirie aus dem Lichte der sie erst ermöglichenden Theorie verbannende Materialschlacht durchführen lässt, hat die Ausstellung ‚gezeigt‘ oder erbracht, ob absichtlich oder auch nur im Sinne von je durch verschiedene Kontexte definierte Werke und Werkgruppen, Arbeitsweisen, Themen, Forschungsprozesse.

6 Ziel war, durch die entwickelten Figuren der Künste und Wissenschaft anhand ausgewählter Beispiele, durch Autoren selber entworfen und realisiert, retrospektiv die handlungs- und erkenntnisleitenden Modellstrukturen eines eigenen Weltbildes zur Darstellung zu bringen (und eben nicht die Resultate) – und dies außerdem dezidiert in einer Weise, anhand derer sich prospektiv erörtern lassen sollte, welches die ertragreichen Meta-Modelle aus Künsten und Wissenschaften sind, welche die Empirie der Zukunft nicht in einer selbstreferenziellen Konstruktivität der nominalistischen Erkenntnis, aber auch nicht in einem autosystemischen Dynamismus einer teleologisch verstandenen Welt oder Natur auf oder untergehen zu lassen. Eine Ausstellung ist und macht anschaulich. Die hier entwickelten Betrachtungen sind theoretisch oder gar meta-theoretisch gehalten. Worum ging es, was waren ­Ansatzpunkte, Beispiele, welches die Denklinien? Damit das anschaulich Gewordene nicht ganz verschwindet, sei versucht, wenigstens anhand einer Beschreibung einiger weniger Beiträge ein Empirisches wenigstens indirekt, für die Vorstellung, zu erzeugen. Günter Zamp-Kelps Ausstellungsarchitektur – In der Mitte der Ausstellungshalle befand sich der Beitrag ‚Gesten als Weltprozess‘ von Shutaro Mukai. Die Gestaltung der Ausstellung stammt von Günter Zamp Kelp. Sie ist keine Architektur der Vermittlung, sondern Zamp-Kelps genuiner Beitrag zum Thema der Ausstellung, seine Interpretation des programmatischen Anliegens. Die Ausstellungsgestaltung von Günter Zamp-Kelp setzte auf eine offene, klar gegliederte Struktur mittels schräg eingestellter, mit halb-reflektierenden, halb durchsichtigen Gazen bespannten Rahmen oder Paneele, auf denen mittels Licht-Projektionen visualisierte Denkmodelle in ephemerer Gestalt aus der Wissenschaftsgeschichte zu ­sehen waren. Oswald Wiener, ‚Vorstellungen‘ – Oswald Wieners Beitrag wurde realisiert auf der Basis von Vorträgen und Seminarien mit Oswald Wiener durch Gesche Joost, Stefan Schmidt und Florian Thümmel, damals Studierende des Fachbereichs Design der Fachhochschule Köln. Oswald Wiener benannte die Paradoxie des Unterfangens und die Meta-Reflexion des Ansatzes gleich zu Beginn. Zwar sei ihm die Idee zur Ausstellung

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sympathisch und erscheine durchaus als interessant. Eine Teilnahme verschließe sich ihm aber deshalb, weil das Unternehmen eine ‚Visualisierung von Denkprozessen‘ bezwecke, gar ihrer Konstruktionsprinzipien, wohingegen ihm seine langjährigen Studien zu Vorstellungen insbesondere anhand der Selbstbeobachtung ‚mentaler Bilder‘ doch gezeigt oder mindestens stichhaltig die Auffassung nahegelegt hätten, dass Denken mit Bildlichkeit nichts zu tun habe, ja, eigentlich, recht besehen, Bilder gar nicht existierten, ein brauchbarer Bildbegriff jedenfalls nicht definiert werden könne, weshalb es ersichtlicherweise vollkommen unmöglich und sinnlos, ja unsinnig sei, sich auf einen Versuch zur Visualisierung seines oder irgendeines Denkens einzulassen. Denn dieses müsse vollkommene Bildlosigkeit in der Turingmaschinenlandschaft seines Funktionierens konzedieren und diagnostizieren. Der Ausweg aus diesem Paradoxon, der gefunden wurde, bestand folgerichtig ­dar­in, diese Auffassung durch andere materialisieren zu lassen. Nur durch Dritte, intensiv Unterrichtete konnte die Verräumlichung der epistemologischen Erörterungen und Versuche realisiert werden. Herausgekommen ist eine Anordnung von Experimenten für Besucher als an Wissenschaft interessierten Testpersonen – eine in technikwissenschaftlichen Belangen nicht unbekannte Situation. Gesche Joost umschrieb zwecks Orientierung des Zuschauers Anliegen, Verfahren, Thema und Material wie folgt: „Derzeit arbeitet Prof. Dr. Oswald Wiener, Professor für Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf, über die Qualität und Beschaffenheit der menschlichen Vorstellungen als kognitive Struktur. Auf der Grundlage der Funktionsweise der Turing-Maschine erklärt er den Lauf von inneren Modellen zur Verarbeitung von Informationen. Die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn lud ihn ein, seine Arbeit innerhalb der Ausstellung ‚Heute ist Morgen‘ vom Juni 2000 bis Januar 2001 zu präsentieren. Die Herausforderung des Ausstellungskonzeptes lag darin, Theorie, die sich im sprachlichen Raum bewegt, visuell erfahrbar und ausstellbar zu machen. Zusammen mit Oswald Wiener erarbeiteten wir in einem Team von drei Studierenden (Gesche Joost, Stefan Schmidt, Florian Thümmel) ein Konzept für eine Sitzlandschaft, die unterschiedliche Zugänge zu Wieners komplexem Theoriegebäude anbietet. Ein Beispiel war ein Audio-Versuch, bei dem man ein vor dem ‚geistigen Auge‘ konstruiertes Bild eines e-dimensionalen Würfels zur Überprüfung in Sand zeichnen konnte, oder ein Video, das die Funktionsweise einer Turing-Maschine erklärt, oder eine Tast-Box, bei der die fehlende Übereinstimmung von visueller im Gegensatz zu taktiler Rezeption erlebt werden konnte.“ Besonders wichtig wurde so eine Station zur Vergegenwärtigung und aktualgenetischen Erfahrung der Differenz von Wahrnehmen und Vorstellen. Deren erster Teil bestand in: Aufnehmen, mentales Konstruieren. Ein zweiter Teil zielte auf Entäußerung/Artikulation des mental Gescannten oder Konstruierten. Verlangt wurde ein ‚Zeichnen‘ des gewonnenen, inneren, nun als Gestalt abrufbaren Vorstellungsbildes als Schema in einen Sandkasten. Dietmar Kamper, ‚Die Kiste – black box – la chose‘ – Kampers Thematisierung schließt an den späten Lacan an – die auf die Wand projizierten Kreise sind zu lesen als Verweis auf dessen mathematische Knotenspekulationen – und verbindet diese Projektionen mit einem an der Wand angebrachten, geheimnisvoll wirkenden Kasten. In

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dessen Innerem waren Bilder, ein Buch zum Schreiben und Lesen und ein Computer untergebracht, der Texte über das meta-theoretische Problem der Inszenierung des Ausstellungsthemas in allen Verzweigungen als eine Art ‚work in progress‘, philosophisches Kommentierungswerk und eigentliches ‚Journal de réflexion‘ versammelte, der aber auch, wie Kamper schrieb „zum Sehen, Schreiben, Rechnen, d. h. Klauben – und zwar in dieser Reihenfolge von oben nach unten“ praktisch benutzt werden konnte und sollte. Alles Elemente demnach, die nicht passiv gegeben bleiben wollten, sondern von den Besuchern einzusehen, weiterzuführen, zu rekombinieren und zu verändern waren. Seine Intention beschrieb Kamper wie folgt: „Mein Ding für die Ausstellung ‚Heute ist morgen‘ soll heißen: ‚Die Kiste – black box – la chose‘. Es handelte sich um einen Zauberkasten/Werkzeugkasten, mit dem es möglich ist, etwas zu zeigen, was man nicht begreifen kann: die Absenz, die Leere, die Unsichtbarkeit des Menschseins, das auf Sichtbarkeit setzt, auf Fülle, auf Gegenwart. Der geschlossene Kasten hat die Form eines Kubus von ca. 30 cm Seitenlänge. Er ist (wahrscheinlich) aus Holz. Er ist schwarz. Aber man kann ihn öffnen […]. Was man sehen, schreiben, klauben kann, ist nichts anderes als die Struktur und Genese des Kasten selbst.“ Es geht hintergründig um nichts weniger als die gesamte menschliche Existenz im Sinne der Erfindung und Nutzung von „hauptsächlichen Werkzeugen, Instrumenten, ‚Medien‘, mit denen die Menschen seit langer Zeit versucht haben, die Leere der Welt zu erfüllen. Man soll daran begreifen, warum diese historische Hartnäckigkeit nicht gelungen ist. Das Mißlingen hat wesentlich mit Vorlieben und Einseitigkeiten zu tun, die bisher nicht ausgeräumt werden konnten.“ Kunihoko Nakagawa, ‚DEF (2017)‘ – Nakagawa schreibt zu seinem Beitrag ‚DEF (2017)‘ in den Erläuterungen zuhanden der Projektleitung, Kuratoren und Berater am 1. März 1999: „DEF (2017) is a full scale model of my room in 2017. It contains a partial database of the ongoing correspondences from 1997 to 2017. Those who visit the room can see a locus of my being by browsing through the database. DEF (2017) borrows its style form of IO. IO is the traditional Japanese house built with plants (natural resources). It has been utilized by a small number of people who wish to live in seclusion. The size of the room ist three cubic meters. No more than three people can enter the room at once. Visitors must take off their shoes, pass under a small door, and sit on the floor. In the room, visitors will find my personal computer which contains the ongoing correspondences. They are projected on three walls around the room.“ Der Titel – DEF (2017) – indiziert nicht nur die persönlichen Entwürfe, eine prospektive Autobiografie in Gestalt visueller Expositionen, Reflexionen und Tagebücher, sondern auch eine eigentliche Reflexion im prospektiven Sinne von Zukunftserörterung oder -formulierung überhaupt. Drei Felder sind in diesem Projekt untereinander verbunden, das architektonisch in vorliegender Weise erstmals realisiert worden ist, dessen Materialbestandteile aber wesentlich älter sind: Selbst-Ausdruck, Lebensform, Kommunikation. Mit Selbst-Ausdruck ist ein Untersuchungsfeld benannt, das Nakagawa seit 1997 im Sinne einer kon­ struktiven Autobiografie (betitelt ‚DEF‘) bearbeitet. Ausgangspunkt ist die Korrespondenz mit Freunden. Allerdings in besonderer Weise. Nakagawa schreibt einen Text und schickt ihn drei Freunden. Deren Antwort besteht in einem Video, das sich auf den Text bezieht. Daraus entwickelt Nakagawa weitere Texte, die er wieder zurückschickt, worauf

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wiederum Worte zu Bildsequenzen umgearbeitet werden. Unter Annahme der Fortsetzung dieser Zusammenarbeit entsteht die ausgreifende Formulierung einer ‚multiplen Version der Autobiografie‘ von Nakagawa.

7 Ein paar Worte noch zur Rezeption, verbunden mit der Frage, ob die Ausstellung ein Erfolg war. Tenor der Auskünfte: ausreichend gut besucht, hochaufmerksames selektives Publikum, wenig Rezensionen, da die ‚Bundeskunsthalle‘ für den Sommer 2000 mit der Designausstellung bereits ‚abgehakt‘ wurde, Rezensionen zur hochkarätigen Begleitpublikation, die theoretischen Berichte der Ausstellenden, nicht die Ausstellung zeigenden (Erstere enthielt auch einen Beitrag von Marie-Luise und Arthur Kroker, die dann in der Ausstellung nicht mehr vertreten waren) erschienen, man möchte sagen: ‚naturgemäß‘, fast keine, da für fest beschäftigte Redakteure zu kompliziert und für freie Berichterstatter zu aufwendig – diese Frage also nach dem Erfolg hätte zurückzutreten zugunsten der Erörterung der Frage, nach welchen Kriterien sich ein Erfolg für ein solches Unternehmen überhaupt beschreiben lassen. Oder anders gesagt: Was denn als Erfolg hätte bestimmt werden können. Gespräche, Führungen, Debatten, ein veritables Begleitprogramm wurde gut besucht, und insgesamt zeigte sich, dass der Fokus auf den Brennunkt der generativen Entwicklung von Weltdenk-Modellen mehr Informationen bereithält als konventionelle, im jeweiligen Themenregister verbleibende Wissenschafts- und Technikausstellungen.

Geschrieben 16. bis 18. September 2006 für eine Doppelnummer über Theorie-Performance der Zeitschrift ‚31‘ des Instituts für Theorie der Kunst und Gestaltung ith Zürich; erschienen unter dem Titel „Etwas zeigen, was man nicht begreifen kann“, in: ith (Hrsg.), Doing Theory/‚31‘. Das Magazin des Instituts für Theorie der Gestaltung und Kunst, Doppelheft 08/09, Zürich 2006, S. 123–128. Für den vorliegenden Zweck wurde, da eine adäquate Bebilderung als eigener Teil der Erörterung nicht mehr wie im ursprünglichen Publikationszusammenhang möglich ist, der Text revidiert, umgestellt, neu übergeleitet, diskursiv vereinheitlicht, vor allem aber erheblich gekürzt worden. Im Lead der Publikation „Doing Theory“, Magazin des ith ‚31‘, Zürich: ith 2006, stellte die Redaktion folgende Kürzel dem Beitrag voran: „Hans Ulrich Reck reflektiert am konkreten Beispiel der Ausstellung ‚Heute ist morgen‘. Über die Zukunft von Erfahrung und Konstruktion (2000/01 Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn) die Verschränkung von Theorie und Kuratieren. Die Ausstellung hatte unter anderem zum Ziel, die Hintergrundsprinzipien verschiedener Denkweisen zur oder über die Welt ästhetisch erfahrbar und sichtbar zu machen. Der Autor legt dar, wie das Performative der Theoriebildung nicht als sekundäre Begleiterscheinung, sondern als grundlegende Thematisierungsvorgabe zu studieren sein könnte.“

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UNSCHÄRFE UND PARADOXIE-INSZENIERUNGEN – AUSSTELLUNGSKONZEPT FÜR DIE KAH (gemeinsam mit Michael Erlhoff)

Übersicht, Kontur, Perspektive Unschärfe ist markiert durch eine Ambivalenz eigener Art, eine Schwankung, ein Nacheinander, das niemals mehr in einem souveränen Tableau beherrschter Wissensformen eingetragen werden kann. Es steht ein Innewerden des Ungefähren, Vagen, Ungenauen, Unscharfen offen. Dabei handelt es sich um einen Modus von Denken, Leben, Erkennen und Handeln, der sich der Fiktion universaler Berechenbarkeit, Planbarkeit und Machbarkeit ebenso entzieht wie einem nur ironischen Spiel, der Exzessivität im Dienste eines das ganze Leben aufs Spiel setzenden Risiko-Kalküls, dem Zauber existenzialistisch entbundener Illusionen, erst recht den angestrengt verfolgten Lüste-Erfüllungen. Der Übergang von scharf gesetzten Paradoxien zum anverwandelten, inszenierten Unscharfen ist unvermeidlich und kennzeichnend für neue Spielräume fortgeschrittener künstlerischer und Denk-Experimente. Grundlage der Inszenierungen ist eine Erfahrung von Paradoxien, die nicht mehr aufgelöst, sondern nur in Folgen ausgemalt und abgeschritten werden können. Der wahre Reichtum des Lebens zeigt sich erst im Ungefähren oder Unscharfen. Seine ästhetische Erfahrung besteht heute in dem, was die Welt in einer Schwebe belässt, etwas, was man genießt. Zum Genuss – und das zu visualisieren ist Programm und Anstrengung des Unter­ nehmens – verhilft das Innewerden des Ungefähren, Vagen, Ungenauen, Unscharfen. Dessen Erscheinungsweisen, Denkformen, Kräfte und Dynamiken, ­Zeichenfunktionen und Modellierungsabsichten sind nicht nur wieder neu zu sehen, sondern teilweise überhaupt erst zu entdecken.

Einige detaillierte Inhalte Selbstverständlich ist dieses noch nicht so genau bestimmbar und darzulegen, gleichwohl hier einige Ansichten und Möglichkeiten: • Unschärfe als Qualität von Kommunikation (veranschaulichte Thesen zu Shannon, Beispiele aus Typografie, ­Layout, Branding etc.); • Bewegung als Unschärfe (Fotos, Film-Stills …);

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• das Nebel-Leben der Romantik: (ca. sechs bis acht) Bilder von Caspar David Friedrich über Eadweard Muybridge, ­William ­Turner und die Impressionisten bis Gerhard ­Richter; • etliche Labor-Situationen (auch interaktive); • Akustik-Räume; • die Hilflosigkeit von Wegweisungen; • ‚Antiquiertheit des Menschen‘: Subjekt als Waffe (am Beispiel von Antonin Artauds ‚Subjektil‘); • Chiffren der Natur, Mathematik und Hermetik; Heisenbergs Unschärferelation und die Folgen; • Topografie des Reisens: Seume, Walser, Michaux, Victor ­Segalen, Michel Leiris, Paul Bowles, Castañeda; • Kartenkunde und Metaphorik der Wüste (Paul Bowles; ­Edmond Jabès); • Navigation, Schifffahrt, Aufbruch aufs Meer; Metaphorik des ­Offenen, Ungewissen, Ungefähren, also auch Gefährdenden (Nietzsche, Serres, Blumenberg, Sloterdijk); • Aviatik, Fliegen, Navigieren: Ikarus/Daidalos als Kunst­modelle und Künstlerrollen (Felix Philipp Ingold); • Kunst des Verschwindens als poetische Leistung des Autors, Entzug, Schweigen, im Vagen bleibend: Maurice Blanchot, Franz Kafka; • Topografie und Phänomenologie der verfehlten Unschärfe: Unfälle; • Schwankungen, Unschärfe und Ungefähres in Architektur, ­Mathematik und Informatik: analoge Rechner, verschüttete ­Traditionen; • Trudeln und Schlingern; Turbulenz-Forschung in Thermo­ dynamik, Meterologie und Physik; • Risse, Schnitte, Falten (Aby Warburg, Barock, Deleuze, ­Gordon-Matta-Clark); • Glücksarchitekturen, Utopien und ihre Verdrehungen (­Finsterlin, Camenisch, Bruno Taut, Mendelsohn, Peter ­Behrens: Von der Utopie zum CI-Logo); • Programmierungen des künstlichen besseren Menschen bis zur AI-Debatte; • Spieltheorie und Spielphilosophien (Caillois, Bateson, ­Huizinga u. a.); • kulturelle Diversitäten der Unschärfezähmung: diesbezüg­liche Ritualisierungen; • philosophische Denkmotive (der Unschärfe, des Aleatorischen, Irregulären, Asymmetrischen, Dezentrierenden etc.) bei Thomas von Aquin, Ficino, Giordano Bruno, Cusanus, Francis Ba-

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con, Denis Diderot, Maurice Merleau-Ponty, ­Pierre Legendre, Michel Serres, Vladimir Jankélévitch, Paul Ricœur; • Zerrüttungen, Zersetzungen und Umkehrungen des harmonikal gesteuerten Körpers: Kanon des Polyklet, Renaissance, Taylor, Mach, Haussmann, Schlemmer, Matjuschin, Picabia, Maschinenkult, Tinguely, Export, Gina Pane, Marina Abramovic, Chris Burden; • Gesten, Gebärdensprachen.

Erweiterte Erörterungen Jede Ausstellung hat ihren Anstoß in der Zeit. Für das hier vorgetragene Unternehmen wirkt eine Auffassung im Hintergrund, die versucht, eine Bilanz für die Spannweiten eines ganzen Jahrhunderts zu ziehen. Wir lassen Revue passieren eine Epoche, in der die Rezepte der Planbarkeit, in der Kalkül und Beherrschung gescheitert sind, in welcher alle Beteuerungen sich verloren haben. Sprechende, beredte Symptome läuten das 20. Jahrhundert aus: Fuzzy Logic, Komplexitätstheoreme, Scheitern der großen Erzählungen, Verlust der Rezepte, Aporien, Ausweglosigkeit des Handelns, Zerfall aller Euphorie. Und vor allem Krisen, so weit und wohin auch immer das Auge blickt: Krise der Repräsentation, des Fremden, des Eigenen, der Identität, der Authentizität. Und vor allem und in Permanenz: die Krise des Subjekts.

Schicksal der Paradoxien Es ist an der Zeit, hierzu eine weitere Ebene, eine neue Stufe erweiterter Beobachtung und Betrachtung einzuziehen. Eine nächsthöhere Ordnung der Thematisierung kommt ins Spiel: die Inszenierung der Erfahrung der Paradoxien, die nicht mehr aufgelöst, sondern nurmehr in Folgen ausgemalt und abgeschritten werden können. Der wahre Reichtum des Lebens zeigt sich erst im Paradoxen. Es quält nicht mehr. Paradox ist nicht mehr, was sich einer Anstrengung entzieht, die noch und auch verstehen will. Paradox ist heute, was die Welt in einer Schwebe belässt, etwas, was man genießt, nicht etwas, was nur provisorisch Gültigkeit hat, aber in jedem Fall und um jeden Preis aufgehoben werden muss. Untersucht und ausgestellt werden Lebensformen, Tendenzen, Entwicklungen in Brennpunkten, Denkmöglichkeiten, Spekulationen, Triebmotive, Anschubdynamiken, sortierende Linien, bindende, bewegende und bedrohende Geflechte. Einige Beispiele sollen das erhellen.

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Beispiel Museen sind virtuell Form und aktual Fantasie. Inszenierungen geben Sammlungen eine bestimmte Gestalt. Die Virtualität des Archivs wird real durch die Selektion und Anordnung in Form einer Ausstellung. In ihr transformiert das Potenzielle sich in das Aktuelle. Die isolierte Monumentalität diskreter Einzelteile wird einer Dokumentation, einer Erzählung eingegliedert. Aber diese Erzählung kann keine einzelne oder geschlossene mehr sein. Jede Form setzt ihren Widerpart, provoziert ihre Opposition und die nächste zu dieser gleich mit, sodass mit einem dualistischen Modell dem Prozess nicht mehr beigekommen werden kann.

Aspekte, Felder, Dynamiken Es sind für Entwurf und Gliederung des Ausstellungsstoffes keineswegs zusammenhängende, sondern vielmehr höchst divergierende und disperse Aspekte zu finden und in neuer Beschaffenheit, also transformiert, zu entwerfen: • Diverse Formen des Reisens in der Vorstellung drängen sich auf: Kairos-Poetik und situative Abirrung; die Situationisten; Überlegungen, Ausgang nehmend, nochmals, bei Johann ­Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus und der Wanderkennerschaft und Landschaftskunde bei Robert Walser; das Passagere in den ‚rites de passage‘ (Arnold van Gennep), eine Topografie des Reisens erneut aufnehmend: Seume, Walser, Michaux, Vitor Segalen, Michel Leiris, Paul Bowles, Castañeda. In diesen Zusammenhang gehören auch Henri Michaux’ Meskalinzeichnungen und die generalisierte Kunst des Passageren und Ephemeren (bei Michaux wie auch bei anderen Transit-­ Autoren: Bruce Chatwin, Jack Kerouac, William S. Burroughs, Edmond Jabès). • Von hier aus wird möglich ein neuer Blick auf Topografie, Physiognomik und Metaphorik der Wüste (nochmals und hier doch auch wieder anders: Bowles; Edmond Jabès), auf die Themen der Navigation, Schifffahrt, Aufbruch aufs Meer; zur Metaphorik des Offenen, Ungewissen, Ungefähren, also auch Gefährdenden (Friedrich Nietzsche, Michel Serres, Hans Blumenberg, Peter Sloterdijk), zur utopischen Vehemenz des Siegs über die Gravitation, der orbitalen Ekstasen der klassischen revolutionären Moderne und ihrer Utopien, der Bewegungslehre der Entfesselung in Aviatik, Fliegen. Dies alles auf dem Hintergrund einer

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Revokation der alten ausweglosen, unaufhebbaren Dialektik zwischen Ikarus und Daidalos (vgl. dazu Felix Phillip Ingold). Dem kontrastieren zäheste Beharrungskräfte, die Bedächtigkeit des dezentrisch-paradoxalen Sitzens an den Höhlenausgängen: Denken am Übergang und an den Schwellen (Hans Blumenberg). Und diesem wiederum opponieren das delirierende ­Subjekt des Taumelns, die Matrix des Traums, die Vision der Aufbrüche, Wunschmaschinen und Protest, Begehren und ­Verwerfungen, apodiktische Verneinungen. Ein Weiteres, Drittes jenseits solcher Dialektik, tritt dem mit großer Widerspruchs- und Reibungsenergie zur Seite wie gleichermaßen entgegen: die delikate Kunst des Verschwindens als poietische Leistung des Autors, Entzug, Schweigen, im Vagen bleibend: Maurice Blanchot (s. z. B. ‚Warten, Vergessen‘), aber auch schon die Selbstmörderfantasien von Robert Louis Stevenson, die Mordmaschinen Daniel Spoerris, die Selbstentleibungsmetaphern des aktionistischen Körperhasses (Rudolf Schwarzkogler, Günter Brus). Das paradoxal geschärfte Bewusstsein entdeckt Schwankungen, Unschärfe und Ungefähres in Architektur, Mathematik und Informatik: analoge Rechner, verschüttete Traditionen; Trudeln und Schlingern; Turbulenz-Forschung in Thermodynamik, Meteorologie und Physik; Risse, Schnitte, Falten (Aby Warburg, Barock, Gilles Deleuze, Gordon-Matta-Clark); Glücksarchitekturen und ihre Verdrehungen (Hermann Finsterlin, Paul Camenisch, Bruno Taut, Mendelsohn, Peter Behrens: von der Utopie zum ­CI-Logo). Untersucht und in ihrer obsessionellen Dynamik offengelegt werden aber auch: Maschinen als Selbstverfehlungen, Selbstironisierungen in Gestalt gebauter paradoxaler Geräte und Apparate (hier nochmals, aber aus anderer Sicht, das Beste aus Jean Tinguely u. a. Maschinenbauern; vgl. die Junggesellenmaschinen; v. a. diejenigen von/bei Raymond Roussel). Vom Planen des rationalen guten Menschen und den Kehrseiten der Kybernetik war schon die Rede. Aber so herausragende Denker wie Gregory Bateson und Norbert Wiener sowie der gesamte Umkreis der Macy-Konferenzen setzten nicht nur auf die befreiende Kraft der sozialtechnologischen Programmierung des antifaschistischen Menschen, sondern bildeten auch einen Gipfel in der Erforschung der Grundlagen der Fantasie in Spiel und philosophischer Relativität. Das ist auch ein wesentlicher Hintergrund für die kulturelle Unschärfezähmung mittels Ritualisierungen (hierzu gehört ein Blick in die ethnologische Fachwelt, hin z. B. zu M. Opitz, Klaus-Peter Köpping).

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• In den paradoxalen Lockungen der ‚schönen neue Welt‘ und des ästhetisch perfektionierten neuen Menschen kommen ältere philosophische Denkmotive (der Unschärfe, des Aleatorischen, Irregulären, Asymmetrischen, Dezentrierenden etc.) zum Tragen. Man findet diese in überraschender Zuspitzung u. a. bei Thomas von Aquin, Marsilio Ficino, Giordano Bruno, Nikolas Cusanus, Francis Bacon, Denis Diderot, Maurice Merleau-Ponty, Pierre Legendre, Michel Serres, Vladimir Jankélévitch, Paul Ricœur. Die Ausstellung wird hier eine Visualisierung von Philosophien, Denkmodellen, wissenschaftlichen Formen vornehmen und entsprechende Fachleute, aber auch Künstler zwecks Transformation und Bereicherung des Paradoxalen beauftragen und miteinbeziehen. • Dem dienen Streifzüge durch nicht nur entlegene, sondern auch unbekannt gebliebene Bereiche der Computerkünste der 1960er-Jahre, die erhellende Vermittlung von Paradoxien in ­Mathematik, Computerwissenschaften und Erkenntnistheorie (Gregory Bateson, Willard van Orman Quine, Hilary Putnam, Douglas R. Hofstadter), die Erörterung der Paradigmenkrise als Paradoxie, der paradoxalen Krise als Paradigma. Dargestellt wird dies an der Aktualität und Geschichte der wissenschaftlichen Fälschungen und Lügen. Innen- und Außenblick schärfen nicht nur diese Diagnose, sondern bezwecken auch eine Rehabilitierung der Chaosbedingungen der Grundlagenentwicklungen und -forschungen in Künsten und Wissenschaften. • Es finden statt Sondierungen zu epochalen Exzessen und ihren Auswirkungen. Betrachtungen nach dem großen Aufbruch; zum Hedonismus der 1960er-Jahre und seinen Paradoxien: alle Sinne an die Front, Dauerglücksempfinden als Sozialzwang (nicht nur in Otto Mühls AAO-Kommune); Lust als Pflicht; Selbstverwirk­lichung als Destruktion; die gesellschaftliche Revolution als finale Selbsterzwingung von Monaden. Paradoxale Schürfarbeit richtet sich auf die Archäologie des ästhetischen Hedonismus der 1960er-Jahre: ein massenmedial folgenreiches Amalgam von E und U: Utopie als Konsumismus; moralischer Fundamentalismus; Obsessionen und Egozentrik, Abkoppeln von allen Rückbezügen, insbesondere von Historie, Ritualen, Sitten, Gedächtnis; Einlösung der hochkulturellen Utopien der Moderne als Massenware: Selbstsetzung, radikale Enthistorisierung, Entritualisierung. Verdeutlicht wird dies auch an den Inversionen des harmonikal gesteuerten Körpers und biotechnologische Transformation seelenlos gewordener Proportionsidealität am Körperlichen: Kanon des Polyklet, Re-

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naissance, Frederik W. Taylor, Ernst Mach, Raoul Haussmann, Oskar Schlemmer, ­Michail V. Matjusin, Francis Picabia, Maschinenkult, Jean ­Tinguely, Valie Export, Gina Pane, Marina Abramovic, Chris ­Burden.

Aufbruch in ein Offenes Es ist an der Zeit, Geschichte und Perspektiven der Gegenwart neu zu betrachten und vorzustellen: eben diesseits aller Imagination des Eindeutigen, Grundsätzlichen, Abteilbaren und Zwangsläufigen. Unschärfe könnte nun für diesen aufwendig anderen Blick ein brauchbares Leitmotiv werden, eben das Vage, das Verklärte, das In- und Durcheinander als offenes Verstehen zu begreifen. Und Paradoxie eine Figur /Form, dieses Vage zu inszenieren.

Formen der Entwicklung, Organisation prozessualer Verfeinerung: Aufträge, Entwicklung des Produkts im Produkt selbst Die Ausstellung versteht sich als ein Laboratorium und zielt auf Neues. Wissenschaft, Design, Kulturen, Konzepte, Glücksarchitekturen bilden Testgelände dafür aus. Offene Laboratorien dienen der Förderung bestimmter Fragen und Aspekte, in Auftrag gegebene Themen, insbesondere für paradoxale wissenschaftliche Visualisierungen und Thematisierungen im Sinne beispielsweise von Alfred Jarrys Pataphysik. Diese Arbeiten dienen der Vorbereitung wie der Fortsetzung der Ausstellung, sind aber selber Teil der Ausstellung. Beispiel eines Auftrags bei Mathematikern/Spielekonstrukteuren: Zu entwickeln ist ein Spiel, das die Paradoxien der Typentheorie von Russell, die Principia Mathematica von Bertrand Russell/Alfred North Whitehead und die Auflösung der Aporie der Nicht-Beweisbarkeit des Ausschlusses von Unschärfe und Paradoxien in Russell/Whitehead in der bewussten Formulierung bei/durch Kurt Gödel illustriert, visualisiert, objektiviert. Weitere Zusammenhänge als konkrete Spielstationen zu bauen, ist durchaus denkbar, z. B. ein Nachzeichnen des Laboratoriums von ‚Oulipo‘, Georges Perec, Raymond Queneau, insgesamt der Bourbaki-Gruppe, ohnehin eines dringend neu zu betrachtenden Testfalls einer endlich wieder ernst zu nehmenden Verbindung zwischen dem Exakten der Mathematik und dem Unscharfen einer produktiven Einbildungskraft, überhaupt typologisch zu verstehen als eine Art intuitiv imaginierende Vagheit oder imaginativ spekulierende Exaktheit in Verschränkungen von Intuition und Kalkül.

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Typik des Ausstellungsvorhabens/Strukturelle Idee Es wird aus den genannten Feldern und Beispielen die uns für das Unternehmen leitende Perspektive erst wirklich provoziert. Sie ist folgenderweise zu bestimmen und mit einer anschließenden Frage zu ergänzen: Die ausgehaltene, die gesteigerte, die genossene Paradoxie – genauer: die Folgen des paradoxalen Prozesses – ermöglichen eine Metareflexion. Wie ist diese einzurichten, zu inszenieren, zu gestalten, damit dieser Genuss möglich wird? Was meint dies bezüglich der musealen Tradition und der museologischen Erneuerungen? Es ist eine kuratorische Selbstverständlichkeit, dass die Objekte den sensuellen Hauptteil der Inszenierung auf der Ebene der Vermittlung der Konzepte und Gedanken tragen. Aber die museologische Tradition kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr oft und heute zunehmend eine Meta-Ebene fehlt. Diese ist, wiederum selbstverständlich, nicht die der Erklärungen, der Diskurse, Texte und Beschriftungen. Vermieden werden muss jede Linearität, jede Stufung im Sinne einer Ableitung oder chronologischen Herleitung. Auch sollen die Themenfelder nicht ‚verwaltet‘ und zu einer Summe addiert werden. Es geht um Konstellationen, Kräftefelder, um gut und weniger gut definierte Bereiche und Aspekte. Die Heterotopologie, das Fremdsein des Ortes gehört hier aber zur Ausstellung im strikten Sinne dazu. Was ihre Idee und ihr Thema bestimmen wie beabsichtigen, die inszenierte Paradoxie der erfahrenen wie der erkenntnistheoretisch entworfenen Unschärfen, das muss auch als Form und in der Art der Ausstellung erfahrbar werden. Objekt- und Meta-Ebene werden deshalb mittels einer Auffassung verzahnt, die nicht die Führungslinie einer Ausstellung bestimmen, nicht Chronologien oder Querschnitte, Abfolgen und Aufbauten, sondern Intensitäten, Konstellationen von Kräften und Energien. Herzstück der Ausstellung ist die Konzeption der sich transversal entfaltenden Montagen mit dem Fokus der fatalen Fehlleistungen des programmierten Menschen (in Philosophie, Sozialtechnologie, Medizin, Robotik etc.). Es zielt nicht auf ein Schaustück, sondern auf ein Kabinett, das härter geneigten Empfindungen entgegenkommt oder, anders gesagt, diese den subjektiven Betrachtungen abverlangt. Gegen die Vereinnahmungen der offenen Probleme durch diskursive Demonstration und Vereinnahmung im glänzenden Objekt, in der Epiphanie der Monstranzen und Demonstranzen geht es hier um organisch miteinander verknüpfte Sektionen mittels einer bestimmten Auffassung von Labyrinth. Dessen Nuancierungen und Bedeutungen sind, wie wir wissen, vielfältig und keineswegs einheitlich. Nicht nur der spätere Irrgarten setzt die für uns entscheidende Bestimmung fest, sondern auch die viel frühere Auffassung eines Banns durch ein konkretes Hier und Jetzt, dessen situierende Folgen keinerlei Übersicht mehr ermöglichen, sondern die als Geschick hinzunehmen und ganz in ihrer Wirkung aufzunehmen sind – ohne einen meisterlichen, majorisierenden und im allgemeinen meisternden Überblick über Raum und Zeit. Die einzelnen Sektionen können in einer aktualisierenden Montage durch den Betrachter in alle Richtungen frei durchquert werden. Der Rhythmus ist gemäß Interesse, Wunschkraft und Aufnahmevermögen von jedem Besucher selber zu bestimmen. Es ist

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bestimmend die Dynamik der Wünsche, die Intensität der Lockungen. Das Ganze ähnelt einem Werkzeugkasten, aus dem jeder nimmt, was ihm tauglich zu sein scheint. So leistet jeder Besucher eine neue Montage und erweitert die Paradoxiepotenziale der Inszenierung. Die Dokumente, Zeichnungen, Objekte, Entwürfe, Denkmodelle, Installationen sind als Symbole der Unschärfe organisiert. Die Ausstellung erlaubt keinen ‚stählernen‘ Meisterblick, keine Hierarchie, keine externe Distanzierung. Sie wendet sich gegen die Instrumentalisierungen und zwingt zur Innenwahrnehmung. So wird die Idee des Museums als paradoxale Grundierung allen Ausstellens auch in einen Zeitkontext gestellt, der auf das Scheitern der Moderne nochmals entschieden Bezug nimmt. Es geht nicht um ein ‚modernes‘ Laboratorium des Lernens mit festgelegten Zielen, sondern um ein viel gefährlicheres Navigieren in offenen Räumen ohne Zentrum, Leitung und Kartografie. So erweist sich – hier auf der Ebene der Denkmodelle, Konzepte, inszenierten Lebensformen – noch einmal die Leistungsfähigkeit derjenigen Kunst der Fiktion, die André Malraux inmitten des reproduktionstechnisch ermöglichten ‚imaginären Museums‘ an die Stelle der bisherigen Stile und ihrer Theorien treten ließ.

Inszenierungen des Paradoxen Paradoxien können also nicht vermieden, nur vorgeführt oder inszeniert werden. Auf der zeitlichen Schiene ist paradox, ein Vorher und das Nachher als Kehrseiten einer Sache gleichzeitig zu denken. Wenn Paradoxien nicht auflösbar sind, dann ist jede Paradoxie auch ein Ausgangspunkt für die Veränderung des gesamten Wissensgebäudes. Dies will die Ausstellung zeigen, vorführen und erörtern. Zugleich wird sie durch ihren Zuschnitt und ihre Ausrichtung selber zu einem Moment des veränderten Wissensgebäudes, aber auch, zugleich, zu einer Kraft von dessen dynamischer Veränderung. Die Inszenierung des Paradoxalen ist kennzeichnend für neue Spielräume bestimmter künstlerischer, aber auch wissenschaftlichere Experimente. Systemtheoretisch geht es dieser Sicht auf Beobachtungskonstrukte um die Vermutung, innerhalb der zeitgenössischen Kultur (also von Kunst und Wissenschaft) würden die Paradoxien anwachsen, weshalb die Politik durch Erscheinungsformen der Theatralisierung und ihre narrativen Kerne durch Gesten der Inszenierung abgelöst würden. Die Entfaltung der Paradoxien der Kultur in Formen einer Theatralisierung steht zweifellos in Zusammenhang mit der Krise der Repräsentation, der Krise der Zeichen, die nicht in ihrer Verweigerung der Referenzialität besteht, sondern, umgekehrt, in ihrer zu großen Organisations- und Orientierungskraft für nahezu jede Facette sozialen Verhaltens in der multimedialen Gesellschaft und im Feld der Massenkommunikationstechnologien. Zahlreiche aktuelle Denkbehauptungen und methodischen Suggestionen meinen, das Paradigma der modernen Gesellschaft aus der Krise der Repräsentation herauslösen und durch die Inszenierung neutraler, distanzierter Beobachtungsmomente gegenüber Paradoxien retten zu können.

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Die in der Ausstellung erwirkte Inszenierung der Paradoxien im Zeichen der Unschärfe legt dagegen nahe, auf die Instanz einer einfachen oder einlinigen, nur auf einer Ebene spielenden Beobachtung zu verzichten und an die Stelle einer distanzierten Sphäre unberührbarer Vorgänge die Teilnahme an damit veränderlichen Parametern von Inszenierungen zu setzen. An die Stelle der Verzeichnung der Unterscheidungen tritt deshalb die experimentelle (und interaktive) Handlung. Das wirft eine Perspektive auf die Erneuerung der Debatten zwischen Künsten und Wissenschaften und rechtfertigt die schwierig fassbaren Nicht- oder Gegenorte, die Lokalitäten der verfemten und bisher äußerst schlecht gewürdigten ‚Heterotopologien‘.

Rahmen, Ort, Zeit der Ausstellung Umfang: Ganze Fläche der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD in Bonn. Es soll eine der gewichtigen thematischen Ausstellungen werden des Jahres 2009 oder 2010. Planung/Koordination/Kuratoren: Michael Erlhoff, Hans Ulrich Reck. Beauftragung mit der Entwicklung des Feinkonzepts, Abklärung der operativen Budgets und der damit verbundenen Exponatsformen und -listen, Zusammenstellung der Teams und der Referenzen: Michael Erlhoff und Hans Ulrich Reck in der ersten Hälfte des Jahres 2006. Modellhafte Entwicklung unter Beizug von Forscher- und Beratergruppen/Teilaufträgen. Ermöglichung von kleinen Symposien, die bereits der Erarbeitung der Begleit­ publikationen, Symposien, Vermittlungen dienen. Gesamte Laufzeit, nach Usanz des Hauses in allen Detaillierungen nach dem Profil der bisherigen Erfahrungen auszustatten: 5 Jahre.

Form Ausstellung als Laboratorium von Präsenz und Wahrnehmung, als komplexer Erfahrungsraum etlicher Einsichten.

Durch die Realisierung von „Heute ist morgen“ wurden Erlhoff und ich angeregt, über weitere Vorhaben nachzudenken. Im Kontakt mit dem Direktor der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD Bonn, Dr. Wenzel ­Jacob, gediehen die Pläne schnell, standen kurz vor einer formulierten Verbindlichkeit, als Wenzel Jacob die BuKuHa verließ. Über Umstände des Ausscheidens ist hier nicht weiter zu reden. Weder Robert Fleck noch Rein Wolf, die Nachfolger in der Direktion, konnten überzeugt werden. Fleck lehnte rundum ab, Wolf zeigte

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sich interessiert, wurde aber nicht selber aktiv. Aufgrund zahlreicher anderer Beschäftigungen legten wir nach der Erstellung eines Visualisierungsdossiers von 100 Seiten durch mich das Projekt zur Seite. Modifikationen wurden in den Jahren von 2006 bis 20210 entwickelt. Ich legte im Juni 2010 ein nochmals redigiertes Projekt Peter Weibel und dem ZKM vor, der zumindest am Paradoxie-Teil interessiert war. Aber auch hierzu geschah nichts weiter. Wir redeten immer wieder davon, aber es war uns klar, dass gerade die Kostenseite einer prozessualen offenen Forschungsanlage mit diversen kleinen Zwischenausstellungen den sogenannten Kulturbetrieb überfordern musste. Heiter wandten wir uns anderen Aufgaben und Vorhaben zu. Bleibt also für die Öffentlichkeit die hier erstmals abgedruckte Skizze des Vorhabens übrig.

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11 Zum ­Konzept der ­Edition ‚­Design/ Theorie – Essays 1982 bis 2020‘

Das Buch bietet eine Auswahl aus Texten des Autors zur designtheoretischen Begründung von Design. Das wird verstanden als internes Dispositiv: Design-Entwerfen ist immer auch implizite Theoretisierung dieses Gestaltungsprozesses. Das gilt für die großen kulturgeschichtlichen Formationen, aus denen im 19. Jahrhundert nach und nach moderne Auffassungen von Aufgabe, Sinn, Zweck und Funktion von Design hervorgegangen sind. Das gilt aber auch für die späteren Theorie-Entwürfe, die, besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Krise des Funktionalismus in einer zunehmend auf Verschleiß, Symbolisierung und ästhetische Inszenierung orientierten Güter- und Kommunikations-Gesellschaft, formuliert worden sind. Immer wieder geht es dabei – auf dem Hintergrund einer älteren, auf die Emanzipationsleistungen der Renaissance zurückreichenden Kulturgeschichte der konzeptuellen Auffassungen und institutionellen Förderung gestalterischer wie künstlerischer Kreativität – um das Erbe an der Moderne, ihre Selbstkritik, ihre mehr oder minder propagandistisch überhöhte Zurückweisung. Also, stets und stetig, um ein neues Verständnis und zugleich um alte Probleme. Von Anfang an ist Design eingespannt in eine Philosophie des Machens und des Nachdenkens, also von Poiesis, Ästhetik und Technik. Die Vernetzung mit den sich entwickelnden Lebensformen artikuliert sich im 19. Jahrhundert als intensivierte Reizung und Training des Visuellen in einem Urbanisierungsprozess, der erstmals anonymes metropolitanes Leben in Städten ermöglichte. Dort lebt das Publikum, das für die Entwürfe des Designs sich ebenso interessiert wie für seine Produkte, als Konsum-, ­Gebrauchs-, Lebensgüter. Breiter Raum ist deshalb den hierfür prägenden kulturgeschichtlichen Formationen zu widmen: Industriekultur, Waren-Ästhetik und -Propaganda, MarkenartikelTechniken, Globalisierung, Internationalisierung der Lebensweisen, die im 20. Jahrhundert ganz besonders US-amerikanisierte sind. Sowie eben auch der Vor-Geschichte der Künstler- und Designausbildung mitsamt ihrem schöpfungstheoretisch entscheidenden ‚turning point‘ zur Kreativität im 19. und 20. Jahrhundert. Von hier aus ergeben sich nicht nur Verzweigungen, sondern zeigt sich immer wieder und von Neuem, ein polemisches Potenzial im Design selber, seinen Ideologien, Theoremen, Begründungen. Im strikten Sinne ist Designtheorie hier immer eine Sphäre oder Bühne der Reflexion, keine strenge Wissenschaft, aus welcher Handlungsmaximen für besseres Gestalten oder gar besseres Leben abgeleitet werden könnte. Das immer wieder zu Recht herausgestellte, zuweilen überstrapazierte utopische Potenzial des Designs ist ein poietisches Prinzip, das auf die Unvermeidlichkeit der Differenzbildungen – selbst auf der Ebene der behaupteten Indifferenz – zielt wie zugleich auf diesen beruht. Die überlieferten Diskurse werden nicht nur ästhetisch, sondern auch medial transformiert. Ist Design zunächst eine Schnittstelle zwischen Philosophie, Lebenskultur, Kulturformation, technischen Produktionsbedingungen auf der Basis entsprechender Kenntnisse im wissenschaftlichen Forschen und künstlerischen Entwerfen, so macht sich parallel zur Telekommunikations-Gesellschaft der letzten Jahrzehnte sowie der Anwendung entsprechender Technologien zunehmend ein machtvoller Mediatisierungsprozess geltend, der das Verhältnis von Design und Medien ebenso verändert wie das von ästhetischer Theorie, Medientheorie, Designtheorie.

412  ZUM ­KONZEPT DER ­E DITION ‚­D ESIGN/THEORIE – ESSAYS 1982 BIS 2020‘ 

Die ausgewählten designtheoretischen und -politischen Schriften des Autors setzen ein im Kontext der modernitätskritischen Arbeiten des damals international renommierten Internationalen Design Zentrums Berlin (IDZ). Grenzbegehungen waren die Beiträge des Autors betitelt zur Wettbewerbsauslobung des damals neuen, des insgesamt vierten Forums und Arbeitsrates des IDZ von 1983 bis 1986, die zum Thema „Zwischen good Design und Kitsch“ ausgeschrieben worden war. Es entfaltet sich in diesem Arbeitszusammenhang eine reiche Tätigkeit, mit einbegreifend die Konzeption, Moderation und erfolgreiche Dokumentation von Symposien und Weiterem: „Design im Wandel. Chancen für neue Produktionsweisen“ (1985), „Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung“ (1986), ökologische und weitere Transformationen, „Simulation und Wirklichkeit“ (1987), „Das Design der Zukunft in den Köpfen der Designer heute“ (1988). Teilweise in scharfen Ton – von beiden Seiten her – wurden die postmodernen bis postmodernistischen Auf- und Ausbrüche im Design verhandelt, kommentiert, bestritten, verteidigt. Später kamen urbanistische, planungsbezogene Themen hinzu. Außerdem wie zunehmend Fragen, Probleme und Chancen der Transformation des bisherigen Designverständnisses durch die technologisch gestützten Strategien von ‚Immaterialisierung‘, Virtualisierung. Simulation mit den Stichworten: Cyberspace, immersive Environments, VR, Expanded Reality. Im Zuge der Auseinandersetzung mit den Entwicklungsperspektiven von Kunstund Designhochschulen traten gegen Ende des letzten Jahrhunderts vermehrt Fragen der Grundierung, Ausrichtung von Studienmodellen bis hin zur Problematik oder Chance einer Promotion im Kontext von Design und Kunst, also forschungsbezogene Themen auf, die sowohl wissenschaftstheoretisch wie bildungspolitisch erörtert wurden. Im neuen Jahrtausend traten dann vermehrt wilde, illegale Praktiken, Kontestations­formen, Ausprägungen eines anonymen kollektiven subkulturellen Bewusstseins und Handelns, oder auch eines politischen Unbewussten in den Fokus der Aufmerksamkeit: Die Dialektik von Gemeinsinn und Revolte, Lebenswelt und Partikularisierung, die Preisgabe des Universalen und eine Hinwendung zum Singulären bilden einen neuen Bezugsrahmen, erfordern neue Wiesen der Analyse des Handelns. Entsprechend haben sich die Einschätzungen der utopischen Potenziale und Per­ spektiven verschoben: Unabdingbar in der klassischen Moderne, heilsgeschichtlich aufgeladen in Reaktionen – affirmativen wie destruktiven – auf die Katstrophen und die Barbarei des 20. Jahrhunderts, vehement kritisiert von den Philosophen, Architekten und Designern der Postmoderne, ist das Utopische selber partikular, ja, zuweilen singulär geworden – dafür äußert es sich umso radikaler. Die Analysen wie die Streitschriften dieses Bandes verschreiben sich der kritischen Kraft der Differenzbildungen auf allen Ebenen und Meta-Ebenen. Die Beispiele, die erörtert werden, reichen von Mode und Körper, industrial und Objekt-Design über Grafik, visuelle Kommunikation, Architektur, Urbanistik und Theorien des Städtebaus bis hin zu methodischen und methodologischen, epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Faktoren und Bedingungen der gestalterischen Praxis wie gleichermaßen des gestalterischen Entwerfens, also von Praktik, Poiesis und Theorie des Designs allgemein und je spezifisch.

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Der Zeitraum der Entstehung der Texte erstreckt sich nahezu über vier Jahrzehnte. Die Texte sind redigiert, aber nicht zur Gänze neu ausgerichtet oder geschrieben worden. Die je situierende Vereinzelung und damit der Verzicht auf eine kohärente Geschlossenheit behauptende Gesamtorganisation einer einheitlich durchgreifenden Abhandlung ist keine Attitüde, sondern entspricht der Form des je differenzierenden Analysierens, das durch eine Meta-Verklammerung entstellt und getrübt würde. Nicht immer fiel es mir leicht, auf die Aufnahme von Texten aus den Grenzregionen zwischen Disziplinen – namentlich: Philosophie, Kunst- und Medientheorie, Alltagskultur und Ethnografie, Gesellschaft, immaterielles und unsichtbares Design, gerade auch Analysen zur Lage der letzten Jahre sowie zur ästhetischen Theorie – zu verzichten. Dennoch habe ich den Verlockungen durch die wegen ihrer Unschärfe reizvollen Aspekte aus dem Niemandsland der Grenzzonen mit zunehmender Bearbeitungsdauer der Texte widerstanden. Hintergrund der Idee zur vorliegenden Edition war nicht nur ein lang gehegter Wunsch, gerade die aus den 1980er-Jahren stammenden Arbeiten, die aus dem Wahrnehmungshorizont der jüngeren Forschung leider seit Langem verschwunden sind, noch einmal in einer, nun gewandelten, Gegenwart zu präsentieren. Trivialer haben auch die verbesserten technischen Möglichkeiten einer einigermaßen schnellen Digitalisierung meiner Arbeiten zum Design vor 1992 eine Rolle gespielt. Das ist das Datum, nach welchem Dateien vorlagen. Gerade die designintensiven 1980er-Jahren fanden ihren Niederschlag dagegen entweder in je divers gelayouteten Publikationen oder in maschinengeschriebenen (aber eben nicht gespeicherten) handschriftlich korrigierten Typoskripten. Zwischen Dezember 2019 und März 2020 scannte ich sämtliche Typoskripte und Papiere, die ich dann von Juni bis November 2020 auf der Ebene von Satzkorrekturen revidierte. Alles Handschriftliche, das aus Texterkennungsprogrammen herausfiel – und das betraf viele Dateien –, musste dementsprechend von Hand nachgearbeitet werden, wobei ich, wie erwähnt, auf Umarbeitung verzichtete und die Fassungen auf dem Stand der Drucke beließ. Nachdem manche Texte ausgeschieden worden waren, teils, weil sie mir zu unwichtig, teils auch, weil sie mir nicht gelungen oder erhellend erschienen, blieben etwa 1700 Seiten übrig, von denen eine Konzentration auf Design zwar nicht allem möglichen, aber doch die, so glaube ich, essenziellen Texte auf etwa 750 Seiten versammelte. Auch hier ging es nicht um Vollständigkeit, sondern immer noch um forschendes, experimentierendes Denken mit dem Anspruch an eine orientierende, Probleme erhellende Exemplarik. Michael Erlhoff hat, nachdem ich dem Birkhäuser Verlag im Dezember 2020 die Sammlung unterbreitete, in freundschaftlicher und freundlicher Weise das Vorhaben von Anfang an begleitet und befürwortet, für das Zustandekommen entschieden geworben, v. a. gegenüber dem Verlagsleiter Dr. Ulrich Schmidt. Michael Erlhoff und Dr. Schmidt sowie dem Gremium von BIRD verdanke ich, dass aus dem Möglichen nun Wirkliches hat werden können. Seit Anfang August 2021 leitet Ulrike Ruh die Geschicke des Verlags. Sie hat großzügig, umgehend und kulant die ja ursprünglich aus evidenten Gründen nicht vorgesehene Erweiterung um und mit Michael Erlhoff in ganzem Umfang ermöglicht, wofür ich danke. Martin Heller danke ich für die unkomplizierte und schnelle Zustimmung, Texte aufnehmen zu dürfen, die gemeinsam verfasst

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worden sind im Zusammenhang mit Aktivitäten am Zürcher Museum für Gestaltung. Auch hier war es nicht möglich, wegen der Diversität der Themen, welche Gestaltungsfragen gerade in den 1980er-Jahren beispielgebend alltagskulturell ausweiteten, alles Erarbeitete einzubeziehen, noch nicht einmal alles, was an den spezifischen Ausstellungen zu Designdimensionen in den verschiedenen Katalogen und Publikationen des ­Museums erschienen ist. Freya Mohr danke ich für die präzise, aufmerksame, jederzeit vorbildliche Betreuung der Produkionsabläufe und Korrekturschritte dieser Edition, für welche eine genaue umfassende und rechtzeitige Kommunikation nötig ist, die sie stets auf das Beste gepflegt hat. Wie immer: die nicht bereinigten Fehler gehen auf das Konto des Autors. Hans Ulrich Reck, Dezember 2020, 4. September 2021 und 19. Januar 2022

Postskriptum aus traurigem Anlass: Zum Tode Martin Hellers Wir alle sind in unterschiedlichem Grad und Ausprägung verschwindende Vermittler, manchmal bemerkt, zuweilen absichtsvoll, sehr oft unwillkürlich und in sehr vielen, nicht selten den interessantesten Fällen unbemerkt, im Stummen agierend, in jenes Stumme zurückkehrend, in ihm verschwindend, das der Ethnologe Dan Sperber als ungreifbares Tiefenfundament aller Kulturentwicklung beschrieben hat. Gerade hatte ich die druckfertigen Dateien der einzelnen Kapitel, mit umformatierten Fuß- in Endnoten an den Verlag geschickt, erreicht mich über einen Freund die schnelle Nachricht vom Tode Martin Hellers. Das soll hier berichtet werden, darf und soll sich aber nicht unkommentiert auf diese Nachricht reduzieren, auch wenn ich die Beziehungen eines verschwindenden Vermittlers (meine Rolle also zu bestimmten Zeiten) zu Martin Heller nicht darstellen, also das Stumme nicht zum Beredten machen will. Auch nicht im Hinblick auf die zahlreichen Nachrufe, die wie meistens das Wichtigste, zugleich Früheste, Prägendste, Entlegene nicht recherchieren und wissen wollen, weil für den rituellen Abschied von öffentlichen Figuren, wie Martin Heller ohne Zweifel im neuen Jahrtausend eine und gar in prominentem Maßstab geworden ist, dies gar nicht nötig ist. Die Vorgeschichte ist immer ‚aufgehoben‘ und verschwindet deshalb, gut hegelianisch, auch im Späteren, ohne dort, schlecht hegelianisch, eo ipso zu einer höheren Wahrheit zu werden. Ich habe Martin Heller wenige Monate nach dem Tode von Rudolf M. ‚Ruedi‘ Lüscher kennengelernt, der über mich dann auch eine Referenzfigur für Martin geworden ist. Heller sprach mich nach Vorträgen im Basler Werkbund 1983/84 – organisiert im Gefolge der Prämierung unserer Arbeiten ‚zwischen good Design und Kitsch‘ für das Forum und den Arbeitsrat des Internationalen Design Zentrums 1983/84 an. Von da an baute sich schnell eine rege Zusammenarbeit auf: gemeinsame Ausstellungen – am prominentesten Imitationen. Nachahmung und Modell. Von der Lust am Falschen, Museum für Gestaltung Zürich, 22. November 1989 bis 28. Januar

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1990; adaptierte Übernahmen durch das Museum Osthaus Hagen und das WerkbundArchiv/Museum der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts, Gropiusbau Berlin 1990/91 – Gespräche, Diskussionen, Texte, Editionen, auch solche, die ich im Auftrag des dann von Martin geleiteten Schweizer Werkbundes sowohl initiieren wie ausführen konnte (z. B. ‚­Kanalarbeit, Medienstrategien im Kulturwandel‘). Die Debatten und Kontroversen um Kunst- und Kulturpolitik, Basels und der Region zunächst, dann auch ganz Helvetiens, hielten über Jahre an und fanden Martin und mich, wenig verwunderlich, meistens auf derselben Seite argumentierend wieder. Ganz früh schon, und dies in der für ihn typischen offenen, seine Interessen direkt bekundenden Weise, offenbar, weil ihm meine epistemologisch grundierte, theoretisch und meta-theoretisch begründende Kritik von Handlungsformen im Gestaltungsprozess gefiel, die Thema meiner Vorträge in Basel damals war, engagierte er mich als philosophischen Coach und Trainer, was ich über vier Jahre gerne tat. Die Debatten, an denen auch Leo Balmer und eine Zeitlang Peter Suter aktiv teilnahmen und die sich entlang ausgewählter ‚paradigmatischer‘ Probleme und Texte aus der ­Geschichte der Philosophie entwickelten, flossen natürlich in manches ein, was wir in den kommenden Jahren, uns und weitere wechselseitig inspirierend, entwickelten als Methoden und Weisen der Intervention in die Bestände der geltenden und offiziellen Kultur, die gewöhnlichen Abläufe und Ereignisse. Es entwickelten sich, parallel dazu, Zusammenarbeit für Ausstellungen, auch Beratungen für Programme, die aber nur Ergänzungen waren, da Martin Heller selber über reiches Wissen und Fantasie verfügte. Es mangelte ihm nicht an Themen, wohl suchte er zuweilen Vertiefungen und operativ auf höchster intellektueller Ebene fähige Netzwerke. Wir haben intensiv und extensiv von 1984 bis 1998 zusammengearbeitet. Ich will hier, neben den erwähnten ‚Kanalarbeit‘ (1988/89) und ‚Imitationen‘ (1989/90) nur noch das Symposium und die Edition ‚Ästhetik nach der Aktualität des Ästhetischen‘, ein Unternehmen aus Anlass des 60. Geburtstags von Bazon Brock‘ (1996/97) sowie die Ausstellungen mitsamt Katalogen/Editionen zu den Themen ‚Anschläge. Plakatsprache in Zürich 1978–88‘ (1988), ‚Überall ist jemand. Räume im besetzten Land‘ (1992), ‚Zeitreise. Bilder-Maschinen-Strategien-­ Rätsel‘ (1993), ‚Sicherheit und Zusammenarbeit‘ (1995) erwähnen. Teile und Spuren davon und von Weiterem finden sich in dieser Edition. Nach langen, durch die Unterschiedlichkeit der Projekte, Arbeiten, Verbindungen, Vorhaben und Verpflichtungen motivierten Jahren des Schweigens waren die Monate von April bis September 2021 geprägt durch einen rückhaltlos offenen, tief freundschaftlichen, ausgreifenden schriftlichen Austausch, der bei der Frage von Abdruckgenehmigungen gemeinsamer Texte für Publikationen hier wie dort anfing und sich dann ziemlich schnell auf alle wesentlichen Fragen von Leben und Tod, Erinnern und Freundschaft erstreckte. Diese Fügung, das Wiederaufnehmen eines lange Ruhenden, Aufgeschobenen, das Finden und Zusammenfügen eines sich in sich wieder zusammenziehenden Kreises, erst recht die Explizitheit in der Vergewisserung unserer Ursprünge, Bezüge, Kooperationen, aber auch die schmerzlichen, zuweilen auch düsteren Aussichten auf das ephemere und transitorische Leben gehörten dazu. Martin war von einer bewundernswerten Aufrichtigkeit, Klarheit und einer Mut machenden skep-

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tischen, kraftvollen Zuversicht, die sich von meinen zuweilen schwarz-pessimistischen Analysen wohltuend abhob. In seiner E-Mail vom 15. August 2021 schrieb er, man müsse nun das Förderliche im Leben sehen: „natürlich versuche ich zu kämpfen – nicht gegen den krebs, sondern für ein gelassenes und klares leben. und alles, was ich auf dem weg dahin überstehe, ist auf der habenseite. so einfach, und so schwer, manchmal, und deshalb bin ich froh im alle unterstützenden gedanken, aus welcher geografischen ecke sie auch immer kommen.“ Zwei Tage später schrieb ich ihm in Bezug auf diese Bemerkung, die ich sofort auch als dezent vorgebrachte, überaus berechtigte Kritik an gewissen, sich auf die Lage der Welt im Weiten beziehenden düsteren Einschätzungen meinerseits verstand: „[…] ich meine, wenn wir reden können würden, und das wäre auch an dieser Stelle ebenso erfreulich wie nötig, würden wir uns auf einige Markierungen wohl einigen können, an welchen der Welt selber der Optimismus abhanden gekommen ist. Ja, wenn die Rollen im Epilog von Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit zwischen uns aufzuteilen ­wären, wäre klar, wem der Nörgler gut ansteht und wem der Optimist.“ Diagnostisch habe ich im Tiefsten seinen Optimismus nicht geteilt, auch wenn daran nichts weiter zu artikulieren oder gar aus solchem gegen seine Hoffnung zu argumentieren war. Moralisch hat er mich beeindruckt. Nun ist wieder ein Leben zu Ende. Ob wir eine andere Zeitspanne für Weiteres hätten haben können, wenn denn nur … dies zu fragen ist müßig. Denn: Es gibt nicht die Zeitspanne des ‚restlichen Lebens‘: Das Leben ist immer schon dieser Rest. Ich hatte immer schon diese Auffassung, die leider genährt worden ist durch viele, oft zu frühen Tode von Freunden und Weggefährten wie Rudolf M. Lüscher (1948–1983), Martin Bischof (1958–1995), Peter Lanz (1952–1997), Ueli Michel (1953–2000), Dietmar Kamper (1936–2001), Harald Szeemann (1933–2005), Gerburg Treusch-Dieter (1939–2006), Zelko Wiener (1953–2006), Konrad Hoffmann (1938–2007), Karlheinz Barck (1934–2012), Hans G. Helms (1932–2012), ­Joseph Dale Ketner II (1955–2018). Und nun eben Michael Erlhoff (1946–2021) und Martin Heller (1952–2021). Soeben erreicht mich die Nachricht vom Tode Oswald Wieners, der am 18. Novem­ ber 2021 im Alter von 86 Jahren gestorben ist. Er ist mit dieser Edition und ihren Stoffen ebenfalls in spezifischer Weise verbunden, wie die ersten Texte des Teils III und dann der Bericht zur Ausstellung Heute ist Morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Kons­ truktion in Teil 10 ‚Ausblick mit Michael Erlhoff‘ belegen. Die Geschicke des Lebens und seiner Enden zeigen mir, dass es an der Zeit zu sein scheint, solche selektiven Sammlungen zu realisieren. Mit Oswald Wiener verband mich, uns, eine enge, stetig wachsende Freundschaft und auch philosophische Partnerschaft seit den Tagen und Jahren meiner Tätigkeit am Internationalen Design Zentrum Berlin von 1983 an. Es folgten auf Berlin bald weitere Orte: Dawson City, Düsseldorf, Krefeld, Köln, Halltal, Birkfeld, Neustift/Kapfenstein. Gemessen an der Kontinuität der Gespräche und Zusammenarbeiten im explorierenden und forschenden Denken und Suchen über die Jahrzehnte fand dies eher gelegentlichen und seltenen Ausdruck in Publikationen. Ich verweise hier – neben Vorträgen und Gesprächen, die auf der Homepage und dem digitalen öffentlichen Archiv der Kunsthochschule für Medien Köln zugänglich sind – nur auf folgende Bände,

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die Texte von Oswald Wiener enthalten zur Designtheorie, Maschinen- und Erkenntnistheorie, Bildtheorie und Kognitionstheorie, insbesondere zu seinem Schlüsselthema: der kognitiven Prozesse und Kapazitäten des Konfigurierens von inneren Bildern, die er weniger einem Wahrnehmungsprozess oder dem Organ des ­Sehens zuschrieb, als ­vielmehr, denkpsychologisch, einer sukzessiven Konfiguration dessen, was man mit ‚Bilder sehen‘ meint, im Gehirn: • Design im Wandel. Chance für neue Produktionsweisen?, (IDZ), Berlin 1985, • Kanalarbeit. Medienstrategien im Kulturwandel, hgg. von Hans Ulrich Reck, (Stroemfeld Verlag), Basel/Frankfurt a. M. 1988, • Junggesellenmaschinen. Erweiterte Neuausgabe, hgg. von Hans ­Ulrich Reck und Harald Szeemann (Reihe ‚Medienkultur‘, ­Springer Verlag), Wien/New York 1999, • Heute ist morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Konstruk­ tion, hgg. von Michael Erlhoff und Hans Ulrich Reck (Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, Cantz Verlag) Bonn/Stuttgart 2000, • Bild, Kunst, Medien. Resonanzen auf das Denken von Hans Ulrich Reck, hgg. von Stefanie Stallschus und Bernd Ternes (Herbert von Halem Verlag) Köln 2018. 2021 ist also ein schmerzvolles Jahr, voller Zumutungen, wie immer, nur gesteigert. Jeder Tod ist ein substanzieller Verlust. In diesem Falle nicht nur für Menschen, sondern auch für die deutschsprachige kritische und progressive Theorie und Forschung. Für Praktik und Vermittlung von Design auf höchster Ebene einerseits. Für epistemologische Grundlagenforschung, kognitive, epistemische und weitere Begründungen von Denken, Entwerfen, Verstehen. Die drei verschwundenen Freunde bilden in mancherlei Hinsicht eine Klammer um das, woran sie in bedeutender Weise in meinem Leben, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlich lange, mitgewirkt haben. Es gibt glücklicherweise noch Bezüge, die verbleiben im dankbaren ‚uns‘ anstelle nur eines ‚ich‘ in Gestalt von Beziehungen und Freundschaften: Uta Brandes, Ingrid Wiener, Christine Reck Bruggmann. Hans Ulrich Reck, Köln, 24. Oktober und 25. November 2021

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ÜBER DEN AUTOR Hans Ulrich Reck, geb. 1953, Prof. Dr. phil. habil., Philosoph, Kunstwissenschaftler, Publizist, Kurator. M. A. 1976, Dr. phil. 1989, Habilitation/venia legendi für ‚Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaften‘ 1991. Von 1995 bis 2019 Professor für Kunstgeschichte im medialen Kontext an der Kunsthochschule für Medien in Köln, davor Professor und Vorsteher der Lehrkanzel für Kommunikationstheorie an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien (1992–1995), Dozenturen in Basel und Zürich (1982–1995). Von April 2014 bis zur Pensionierung Ende März 2020 Rektor der Kunsthochschule für Medien Köln, von April 2016 bis 2019 Sprecher der Rektorenkonferenz der deutschen Kunsthochschulen (RKK). Seit 2016 Gründungsherausgeber der Reihe edition KHM im Herbert von Halem Verlag. https://www.khm.de/hu_reck/ www.khm.de/audiolectures/ http://popsubhochgegen.khm.de

Publikationen: Künste und Apparate. Berichte aus einem Labor 1995–2005 (hgg. von Hans Ulrich Reck und Siegfried Zielinski in Verbindung mit Konstantin Butz, Köln: Herbert von Halem Verlag 2022); Pasolini. The Apocalyptic Anarchist (Leipzig: Spector Books, ‚Analysis & Excess‘ 2021); Pasolini. Der apokalyptische Anarchist (Leipzig: Spector Books, Reihe ‚Analysis & Excess‘ 2020); Kritik der Kreativität (Köln: Herbert von Halem Verlag 2019); En medio. ­Ensayos sobre lo imaginario de las artes y los medios (collecciónsincondicion N° 42, Universidad Nacional de Colombia Bogotá, Facultad de Artes 2018); Ritualkunst zwischen Kult und Museum – Dissonante Ästhetiken am Beispiel Afrikas. Mit einem Beitrag von Christine Bruggmann Hommage an Afrika (Köln: Herbert von Halem Verlag 2017); Pier ­Paolo Pasolini – Poetisch Philosophisches Porträt, 2 CDs (Königs-Wusterhausen 2012); Spiel Form Künste. Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens (hgg. v. Bernd Ternes, Hamburg 2010); Pier Paolo Pasolini (München 2010); Traum. Enzyklopädie (München 2010); Index Kreativität (Köln 2007); EIGENSINN DER BILDER. Bildtheorie oder Kunstphilosophie? (München 2007); Das Bild zeigt das Bild selber als Abwesendes (Wien/ New York 2007); THE MYTH OF MEDIA ART. The Aesthetics of the Techno/Imaginary and an Art Theory of Virtual Realities (Weimar 2007); Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung (München 2003); Mythos Medienkunst (Köln 2002); Junggesellenmaschinen (erw. Neuausg. zus. mit Harald Szeemann, Wien/New York 1999). Außerdem: audiolectures 1 bis 6 zur Geschichte der Künste im medialen Kontext (Kunsthochschule für Medien Köln 2001–2019).

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Projektkoordination: Freya Mohr Herstellung: Amelie Solbrig Layout, Covergestaltung und Satz: Sven Schrape Designkonzept BIRD: Christian Riis Ruggaber, Formal Papier: 110g/m2 Offset Lithografie: bildpunkt Druckvorstufen GmbH, Berlin Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza:

Library of Congress Control Number: 2022931299 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der ­Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungs­ anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Ver­ vielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Design/Theorie ist ein zweibändiges Werk. Dieses ist der 2. Band. ISBN 978-3-0356-2522-6 e-ISBN (PDF) 978-3-0356-2525-7

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