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German Pages 622 [623] Year 2024
Jürgen Kilian Des Kaisers Gouverneure
Global- und Kolonialgeschichte Band 21
Editorial Seit klassische Nationalgeschichten in der Geschichtswissenschaft eher auf dem Rückzug sind, ist die Globalgeschichte auf dem Vormarsch. Globalgeschichte meint jedoch nicht einfach Geschichte »außerhalb Europas« oder »Geschichte weltweit«. Es geht dabei um eine Geschichtsschreibung, die versucht, eurozentrische Perspektiven zu überwinden und das Augenmerk verstärkt auf globale Verflechtungen und Verbindungen zu richten. Klassische Themen einer Globalgeschichte sind daher Kolonialismus, Migration, Handelsbeziehungen, internationale Kooperation, Sklaverei, Tourismus, Imperialismus, Globalisierung, Wissenstransfers u.v.m. Die Reihe Global- und Kolonialgeschichte bietet Forschungsbeiträgen zu diesen Themen ein gemeinsames Diskussionsforum. Die Kolonialgeschichte wird dabei als zentraler Teil der Globalgeschichte behandelt, da sie sich thematisch als Verflechtungsgeschichte wie auch methodisch als Machtverhältnisse (und hegemoniale Diskurse) hinterfragend in diese Historiografie einordnet.
Jürgen Kilian (PD Dr. phil.), geb. 1973, lehrt Neueste Geschichte an der Universität Bayreuth. Er hat an der Universität zu Köln sowie im Münchner Institut für Zeitgeschichte geforscht und Studien zu Fremdherrschaft und moderner Behördengeschichte mit Schwerpunkt Nationalsozialismus publiziert.
Jürgen Kilian
Des Kaisers Gouverneure Sozialprofil, Deutungsmuster und Praktiken einer kolonialen Positionselite, 1885-1914
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die Habilitationsschrift des Autors, die an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth entstanden und dort am 18. Januar 2023 angenommen worden ist.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dn b.de/ abrufbar.
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Inhalt
1. 1.1 1.2 1.3
Einleitung..................................................................................9 Vorüberlegungen und Forschungsstand......................................................9 Forschungsdesign und Fragestellung ....................................................... 17 Quellengrundlage ......................................................................... 24
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Dispositionen............................................................................. 31 Herkunftssphären ........................................................................ 33 Bildungswege............................................................................. 60 Berufliche Prägungen ......................................................................79 Partnerwahl und Familienkonzepte .........................................................111 Zwischenergebnisse ...................................................................... 127
3. 3.1 3.2 3.3 3.4
Deutungen des ›Andern‹ ................................................................ 131 Imaginationen kolonialer Räume ..........................................................134 Deutungen von Menschen .................................................................146 Exkurs: Sexuelle Kontakte mit Indigenen .................................................. 212 Zwischenergebnisse ...................................................................... 221
Herrschaftspraktiken .................................................................. 225 Kolonialismus und Herrschaft ............................................................ 226 Die Anfänge des Gouverneursamts unter dem Freiherrn von Soden ........................ 234 Die afrikanischen Kolonien bis zur Krise des kolonialen Projekts .......................... 257 Gouverneure in Ozeanien................................................................. 370 Gouverneure in Afrika nach der ›Kolonialkrisis‹............................................ 410 Gouverneure und Rassentrennung ........................................................ 462 Die letzten Gouverneure unter den Vorzeichen von Professionalisierung, Wissensakkumulation und infrastruktureller Verdichtung ................................. 483 4.8 Zwischenergebnisse ..................................................................... 496
4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
5. Schlussbetrachtungen.................................................................. 505
Anhang Kurzbiographien .............................................................................515 Abkürzungen ................................................................................ 567 Tabellenverzeichnis.......................................................................... 571 Abbildungsnachweis ........................................................................ 573 Quellen- und Literaturverzeichnis .......................................................... 575
Dank
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner im Januar 2023 von der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth angenommen Habilitationsschrift. Mein Dank gebührt daher zuallererst den Mitgliedern des Bayreuther Mentorats Prof. Dr. Hermann Hiery, Prof. Dr. Eva-Maria Ziege und Prof. Dr. Jan-Otmar Hesse. Ebenso möchte ich mich an dieser Stelle bei den externen Gutachtern Prof. Dr. Birthe Kundrus (Hamburg) und Prof. Dr. Winfried Speitkamp (Weimar) ganz herzlich für ihre Mühen bedanken. Für vielfältige Hinweise und Diskussionen danke ich außerdem Dr. Anton Gleißner, Dr. Marco Hedler, Prof. Dr. Rainer Liedtke, Dr. Robert Schmidtchen, Natascha Stöber und Florian Vates. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der benutzten Archive und Bibliotheken sei für ihre Unterstützung ebenfalls herzlich gedankt. Insbesondere möchte ich an dieser Stelle Dr. Martin Kröger vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes für seine ebenso unbürokratische wie prompte Hilfe nicht unerwähnt lassen. Schließlich danke ich ganz herzlich Dr. Mirjam Galley vom transcript Verlag für die kompetente Betreuung während der Drucklegung. Widmen möchte ich dieses Buch Dr. Julia von Dall’Armi, die nicht nur Teile des Manuskripts Korrektur gelesen, sondern mich auch bei diesem Projekt in jeder Hinsicht ermutigt und unterstützt hat. Greifswald, im November 2023 Jürgen Kilian
1. Einleitung
1.1 Vorüberlegungen und Forschungsstand »Etwas von dem ›Landgraf sein‹ hatte die Stellung des Gouverneurs einer Kolonie eben doch in sich.«1 Mit diesen Worten charakterisierte Theodor Seitz nachträglich seine Funktion als langjähriger oberster Beamter der beiden ›Schutzgebiete‹ Kamerun und Deutsch-Südwestafrika. Ergänzend fügte er hinzu, er sei in dieser Eigenschaft befugt gewesen, »selbständig und unter eigener Verantwortung zu entscheiden«.2 Auch sein Vorgänger in Kamerun, Jesko v. Puttkamer, verglich seine Stellung mit der eines »Oberfeldherrn«, der die Erforschung, Eroberung und Verwaltung seiner Kolonie »nach einem wohl durchdachten Plan« und mittels souveräner »Weisungen« an seine Untergebenen habe umsetzen können.3 Von der »stolzen Stellung als Gouverneur« schwärmte – um ein drittes Beispiel zu nennen – auch Eduard Liebert, der mehrere Jahre an der Spitze der Kolonialverwaltung in Deutsch-Ostafrika gestanden hatte. Auch er sprach von seiner »selbstherrlichen Tätigkeit da draußen«.4 Solche Aussagen ermöglichen einen ersten flüchtigen Blick auf das Selbstverständnis dieser Positionselite.5 Alle drei vermitteln den Eindruck von ungewöhnlich weit reichenden Befugnissen und Handlungsspielräumen in den Kolonien. Nicht zuletzt offenbaren die Formulierungen eine spezifische Vorstellung vom Charakter des Gouverneursamtes und erwecken kaum den Eindruck von Staatsdienern mit hierarchischer Einbindung und festem Pflichtenkatalog. Vielmehr scheint es, als ob sich diese Gouverneure selbst als Repräsentanten eines feudal anmutenden Herrschaftsprinzips begriffen haben. In dieselbe Richtung verweisen bezeichnenderweise auch Äußerungen ihrer Untergebenen,
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Seitz, Aufstieg 3, S. 1. Ebd. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 9. Liebert, Leben, S. 168f. Der Begriff ›Positionselite‹ wird hier verwendet nach: Endruweit, Elitebegriffe, S. 41f. Darunter sind die Mitglieder einer Führungsgruppe zu verstehen, die Schlüsselpositionen in Politik, Verwaltung, Militär etc. innehaben. Vgl. den nicht ganz synonymen Begriff der ›Funktionselite‹: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1, S. 137.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
die nicht selten den Begriff »Landesherr« synonym für ›Gouverneur‹ verwendeten.6 Solche Zuschreibungen entsprachen gleichzeitig dem zeitgenössischen Postulat, wonach der Gouverneur in den Kolonien die Rolle eines »Vertreters des Kaisers« innegehabt habe. In dieser Eigenschaft hätte er die »gesamte Schutzgewalt in dem betr[effenden] Schutzgebiete auszuüben« vermocht.7 Selbst im Reichstag war man zeitweise der Ansicht, dass es sich bei den Gouverneuren um Amtsträger mit einer ungewöhnlichen Machtfülle handele, sei doch jeder von ihnen »unter allen Umständen für alles, was dort [in der Kolonie] vorgeht, allein verantwortlich«.8 Die Einschätzung einer »Vollkommenheit der Macht«, von der »selbst der Deutsche Kaiser nur [habe] träumen« können, machte sich mitunter auch die Forschung zu eigen.9 Angesichts der »außerordentlich weitreichenden« Kompetenzen und Möglichkeiten sei die Stellung des Gouverneurs einer »Art Vizekönigtum« gleichgekommen.10 Eine analoge Interpretation setzt dessen »prinzipiell […] unbeschränkte Herrschaftsform« mit einer »prokonsularischen Autokratie« gleich.11 Tatsächlich weckt schon der Begriff ›Gouverneur‹ entsprechende Assoziationen. Abgeleitet vom lateinischen ›gubernator‹, impliziert der Titel sowohl in seiner wörtlichen Bedeutung des ›Steuermanns‹ als auch im übertragenen Sinne des ›Lenkers‹ oder ›Leiters‹ weit mehr als einen Staatsdiener mit eingegrenzten Befugnissen.12 Die Einbeziehung weiterer Zeugnisse scheint allerdings einige Relativierungen notwendig zu machen. Der eingangs zitierte Liebert beklagte beispielsweise eine Beschränkung seiner ›Selbstherrlichkeit‹ durch die »Geheimräte in der Wilhelmstraße«. Die damit angesprochene Berliner Zentralbehörde und ihre Beamten hätten ihn aus »Neid und Missgunst, bürokratischer Überhebung und Besserwissen« in seiner Amtsführung immer wieder beeinträchtigt und am Ende sogar resigniert das Handtuch werfen lassen.13 Auch der Südwestafrika-Gouverneur Theodor Leutwein schrieb nach seinem Abgang enttäuscht von seinen nur »anscheinend unbeschränkte[n] Machtbefugnisse[n]«.14 Im Rückblick sah er den obersten Beamten in Deutschlands einziger Siedlungskolonie stattdessen einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Interessen gegenüber:15 »Er war eingeengt zwischen der Zentralgewalt in Berlin, den Rücksichten auf den Reichstag, den Anforderungen der weißen Bevölkerung des Schutzgebietes, der Sorge 6 7
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Beispiele: BA-B N 2345/12, Bl. 15–17, Carnap-Quernheimb (Kete-Kratschi) an Zimmermann vom 30.6.1896, Schreiben; BA-K N 1030/48, Bl. 734, Franke, Tgb. (15.12.1911). Stengel, Rechtsverhältnisse, S. 70f. (Zitate); vgl. BA-B R 1001/5506, Bl. 6f., KA vom 14.3.1901, Runderlass; ebd., Bl. 66–74, KA (Dernburg) an Gouverneur in Buea vom 28.1.1907, Erlass; Helfferich, Reform, S. 17; Kennel, Stellung, S. 31–33. Arenberg am 4.2.1891, in: Verhandlungen RT, Bd. 115, S. 1313. Ungeachtet gleichzeitiger Relativierungen: Eckert/Pesek, Ordnung, S. 94 (Zitat 1); Pesek, Herrschaft, S. 269 (Zitat 2). Speitkamp, Kolonialgeschichte, S. 46. Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 67 (Zitate); Gann/Duignan, Proconsuls. Kluge, Wörterbuch, S. 369. Liebert, Leben, S. 168f., 221. Leutwein, Jahre, S. 221. Ebd., S. 223.
1. Einleitung
für eine humane Behandlung der Eingeborenen und – last not least – den Rassegegensätzen. Neben diesen Schwierigkeiten lief dann noch ein langjähriger Kampf mit den großen Konzessionsgesellschaften des Schutzgebietes […].« Auch diese divergierenden Kraftfelder haben seitens der Forschung Berücksichtigung gefunden. Weitgehender Konsens besteht dabei über die prinzipielle Richtlinienkompetenz und normensetzende Funktion von Kolonialabteilung bzw. Reichskolonialamt als Zentralbehörde.16 Mitunter ging diese Einschätzung allerdings so weit, in den Gouverneuren lediglich die ausführenden Organe einer übermächtigen Reichszentrale sehen zu wollen.17 Aufgrund ihrer faktischen Handlungsspielräume und der Schwierigkeit, sie effektiv zu kontrollieren, werden dagegen die den Gouverneuren formal untergeordneten Bezirks- und Stationsleiter als die »wahren Herrscher des Kolonialreiches« eingeschätzt.18 Nicht zuletzt mit Hilfe einer ›janusköpfigen‹ Verwaltungspraxis, die sich durch ein beschönigendes Berichtswesen und ein hohes Maß an Willkür vor Ort auszeichnete, hätten diese Vertreter der Lokalverwaltung die Gouverneure praktisch ›von unten‹ her entmachtet.19 Im westafrikanischen Togo sei es beispielsweise einer regelrechten Clique lokaler Verwaltungsbeamter gelungen, einen unliebsamen Gouverneur sogar zum Rücktritt zu bewegen.20 Der damit sowohl in der Forschungsliteratur als auch in den Quellen immer wieder aufscheinende Widerspruch einer ebenso selbständigen wie einflussreichen Gouverneurselite, die sich gleichzeitig von einer vorgesetzten Zentralbehörde, vor allem aber von lokalen Funktionsträgern mit einem »fast noch größeren Wirkungskreis« in ihren Möglichkeiten erheblich eingeengt sah, wirft zwangsläufig die Frage auf, wo sich die Stellung dieser obersten Beamten in den ›Schutzgebieten‹ tatsächlich verorten lässt und wie groß deren Einfluss auf die dortige Herrschaftspraxis einzuschätzen ist.21 Dieses Problem hatten bereits zeitgenössische Beobachter wahrgenommen. Der mit den Vorarbeiten für eine Reform der Kolonialverwaltung betraute Ökonom Karl Helfferich sah im Jahr 1905 den »Grad der Selbständigkeit« der einzelnen Akteure in den Kolo16
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Zur Zentralinstitution der kolonialen Verwaltung in Deutschland: Firth, New Guinea, S. 69; Hausen, Kolonialherrschaft, S. 24–27; Kaulich, Geschichte, S. 72–75; Kilian, Reichskolonialamt; Koponen, Development, S. 102–112; Schiefel, Dernburg, passim; Sippel, Kolonialabteilung. Dennoch fehlt nach wie vor eine fundierte Untersuchung, die sich systematisch mit der Institution Kolonialabteilung/Reichskolonialamt auseinandersetzt. Firth, New Guinea, S. 69; vgl. Zimmerer, Herrschaft, S. 113. Zu den unterschiedlichen Ansichten über die Möglichkeiten der Lokalverwaltung: Spittler, Verwaltung, S. 52 (Zitat); Conrad, Kolonialgeschichte, S. 44; Erbar, Platz, S. 33–51; Hausen, Kolonialherrschaft, S. 96–105; Hiery, Reich, S. 231; ders., Verwaltung Neuguineas, S. 303; Kaulich, Geschichte, S. 97–105; Koponen, Development, S. 112–129; Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 70; Pesek, Herrschaft, S. 274–277; Reinhard, Unterwerfung, S. 986; Speitkamp, Kolonialgeschichte, S. 46f.; Trotha, Herrschaft, S. 112–171; Zimmerer, Herrschaft, S. 113f. Vgl. Raphael, Recht, S. 88, der eine solche »Janusköpfigkeit« auch für die Verwaltungen in Westeuropa konstatiert. Sebald, Togo, S. 272, 535, der von einem »Klüngel« der Togoer Bezirksamtsleiter spricht; ähnlich bereits: Knoll, Togo, S. 50–56, 60–64; ferner: Zurstrassen, Beamte, S. 116; vgl. Kapitel 4.5.1. Speitkamp, Kolonialgeschichte, S. 46f. (Zitat).
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nien in erster Linie als ein »Produkt der Praxis, ein Ergebnis des freien Spiels der Kräfte und nicht zum wenigsten der in der Lokal- und Zentralverwaltung dominierenden persönlichen Kräfte.«22 Eine wenige Jahre später erschienene Untersuchung über die »rechtliche Stellung der deutschen Kolonialgouverneure« schätzte das Problem ähnlich ein: So »einfach« und unkompliziert die formaljuristischen Regelungen über Unterstellungsverhältnisse und Kompetenzverteilungen auch erscheinen mochten, »so verschiedenartig« hätten sich die »Abstufungen der tatsächlichen Selbständigkeit der Gouverneure« in der Praxis gestaltet.23 Diese Einschätzungen verweisen nicht zuletzt auf einen spezifischen Charakterzug dieser Ebene kolonialer Administration, die sich nur auf den ersten Blick auf die »dirigierende Kontrolle der ausführenden Verwaltung« beschränkte.24 Unter einer gouvernementalen Ausübung der »Schutzgewalt« des Kaisers, die mitunter selbst den militärischen Oberbefehl einschließen konnte, wurde vielmehr zugleich die »eigentliche Kolonialregierung« und damit die Einbeziehung der Sphäre des Politischen verstanden.25 Obwohl in Abhängigkeit von der Metropole, standen die Gouverneure vor Ort an der Spitze des kolonialen Staats und nahmen in dieser Eigenschaft faktisch Regierungsaufgaben wahr. Ihre Konzepte und Maßnahmen spiegelten dabei stets die Absicht wider, die Herrschaft der Europäer zu konsolidieren, imperiale Zielsetzungen zu realisieren und zu diesem Zweck die Funktionsfähigkeit und den weiteren Ausbau der Verwaltungsstrukturen zu gewährleisten.26 Regieren bedeutete somit auch für sie ganz allgemein die »schöpferische Entscheidung, die politische Initiative und die zusammenfassende Leitung des Staatsganzen«.27 Daraus erklärt sich letztlich auch, weshalb die Befugnisse der Gouverneure bis zum Ende des deutschen Kolonialreichs so wenig präzise blieben: Die »Persönlichkeit des obersten Schutzgebietsbeamten« galt als der ausschlaggebende Faktor für die konkrete Ausgestaltung des Amtes und damit auch für die jeweiligen Praktiken.28 In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass die Wissenschaft keineswegs zufällig die Akteure on the spot zuletzt häufiger in den Fokus genommen hat, so dass auch im Rahmen der Imperienforschung von einem biographical turn gesprochen werden kann.29 Dabei sucht das spezifische Konzept der imperial biographies die Lebensläufe der 22 23
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Helfferich, Reform, S. 27. Zu dessen vorbereitender Rolle für die sogenannte Kolonialreform: Laak, Infrastruktur, S. 134. Kennel, Stellung, S. 32f. Tatsächlich existierten bis zum Ende des Kolonialreichs keine umfassenden Regelungen über die Befugnisse der Gouverneure. Stattdessen gab es eine Vielzahl von Einzelbestimmungen in Form von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen. Siehe Kapitel 4.2. Scheuner, Bereich, S. 278 (Zitat). Kennel, Stellung, S. 32 (Zitate). Zur Befehlsgewalt über die Schutztruppen: Kapitel 4.2 und 4.3. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei gemischtgeschlechtlichen Menschengruppen in der Regel das generische Maskulinum verwendet. Solche Bezeichnungen gelten stets gleichermaßen für alle Geschlechter. Scheuner, Bereich, S. 278 (Zitat). Kennel, Stellung, S. 100. Osterhammel, Imperien, S. 61f.; Rolf, Einführung, S. 5–8; Lambert, Reflections, S. 26–30. Zur Bedeutung von Akteuren und ihren Netzwerken auch: Gerstenberger/Glasman, Globalgeschichte. Generell zur Thematik der Imperien im langen 19. Jahrhundert: Osterhammel, Verwandlung, S. 565–672. Neuere Tendenzen innerhalb dieses Forschungszweiges finden sich beispielsweise in: Hausteiner/Huhnholz, Imperien.
1. Einleitung
Akteure stärker in die reichsweiten Kontexte einzubinden. Das Imperium wird dabei als maßgeblicher Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsraum interpretiert.30 Geht es bei der Erforschung von Groß- oder Kolonialreichen vor allem darum, die Wechselbeziehungen zwischen Zentrale und Peripherie, aber auch die jeweils den Zusammenhalt oder das Auseinanderdriften begünstigenden Faktoren zu erforschen, zielt der biographische Ansatz in erster Linie darauf ab, Mobilitäten, Karrieren, Netzwerke, Strategien der Wissensproduktion und des Wissenstransfers, aber auch die Selbstkonstruktionen und Fremdbilder der Akteure in den Blick zu nehmen. Nicht zuletzt wird in diesem Zusammenhang ebenfalls versucht, sowohl deren Handlungsspielräume als auch deren Gestaltungswillen vor dem Hintergrund der jeweils wirksamen sozialen, kulturellen und situativen Einflüsse auszuloten.31 Unter diesen Vorzeichen entstanden besonders im angelsächsischen Raum Studien, die die Administratoren, Militärs oder Missionare im British Empire untersuchten.32 Auch zum deutschen Kolonialreich sind in den letzten Jahren mehrere Arbeiten mit einem explizit biographischen Schwerpunkt vorgelegt worden. Zum Teil orientieren sich auch diese am Konzept der imperial biographies. Das gilt für eine Reihe von Aufsätzen, die sich etwa mit dem Kolonialbeamten Rudolf Asmis oder dem General Lothar v. Trotha auseinandersetzen, aber auch beispielsweise für die monographische Studie von Jan Diebold über den Forschungsreisenden und Togo-Gouverneur Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg.33 Andere Arbeiten lehnen sich dagegen an mehr oder minder konventionelle Formen der Biographik an, was allerdings keineswegs zwangsläufig zu Abstrichen im Erkenntniswert führen muss, wie etwa die Arbeiten von Kirsten Zirkel und Eckard Michels über die Schutztruppenkommandeure Berthold v. Deimling und Paul v. LettowVorbeck zeigen konnten.34 Praktisch allen diesen Studien ist jedoch gemein, dass sie sich jeweils auf einen einzelnen Akteur beschränken. Es stellt sich dabei stets die Frage, ob die Ergebnisse ohne weiteres generalisierbar sind. Der hochadlige Protagonist in Diebolds Arbeit kann beispielsweise ebenso wenig als typischer Vertreter der kolonialen Eliten gelten wie der durch seine äußerst brutale Kriegführung in Südwestafrika berüchtigte Trotha. Das Manko mangelnder Repräsentativität suchte zuletzt Bettina Zurstrassen mit Hilfe einer Untersuchung zur Beamtenschaft des ›Schutzgebietes‹ Togo zu überwinden, doch vermag diese Arbeit angesichts einer vergleichsweise schmalen Quellenbasis und einer die Akteure nur unzureichend erfassenden Methodik nicht restlos zu überzeugen.35 Ohnehin mehr Fragen als Antworten hinterlassen die meisten älteren Studien. 30 31 32 33 34 35
Zur Kategorie ›Erfahrungsraum‹ etwa: Koselleck, Zukunft, S. 349–375. Rolf, Einführung, S. 9–18; Lambert/Lester, Imperial Spaces, S. 1–31. Lester, Networks; Lambert/Lester, Imperial Spaces. Angaben zu weiterer Literatur in: Rolf, Einführung, S. 6, Anm. 3. Brockmeyer, Konsul; Kamissek, Trotha; Diebold, Hochadel. Raßloff, Knappe; Hempenstall/Mochida, Man; Zirkel, Militaristen; Michels, Lettow-Vorbeck; Seemann, Zech; Abermeth, Schnee. Zurstassen, Beamte. Die Defizite äußern sich in Ungenauigkeiten und Irrtümern, die im Einzelfall von geringer Relevanz sind, in ihrer Summe den Wert der Arbeit aber schmälern. Einige Beispiele mögen genügen: Beim Amt des Gouverneurs handelte es sich keineswegs um einen »Versorgungsposten«. Der Herzog zu Mecklenburg wurde nicht gegen den Willen Lindequists ernannt,
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Problematisch erscheinen beispielsweise die Arbeiten von Lewis H. Gann und Peter Duignan aus den 1970er Jahren über die »Rulers of German Africa« und die »European Governors in Africa«, stellen diese doch wenig kritische und zum Teil auf einer schmalen Quellengrundlage aufbauende Versuche dar, das Personal des kolonialen Staats zu erfassen.36 Angesichts dieser Voraussetzungen entsteht nach wie vor der Eindruck einer mangelhaften Berücksichtigung namentlich der deutschen Kolonialadministration und ihrer Akteure. Während sich deren mittlere Ebene – Bezirks- und Stationsleiter – auf mindestens 450 Personen beziffert und daher kaum zur Gänze zu erfassen ist, muss diese Diagnose bei der zahlenmäßig überschaubaren Gruppe der Spitzenbeamten überraschen.37 Dieses Defizit steht erneut im Gegensatz zum britischen Kolonialreich, wo neben einer Vielzahl von Einzelbiographien der gruppenbiographische Ansatz zu den Gouverneuren des Empire aus der Feder von Anthony Kirk-Greene zu nennen ist. Auch für France d’OutreMer liegt neben einigen älteren Studien eine Arbeit von Nathalie Lemetayer-Rezzi vor, die die »hauts fonctionnaires coloniaux« überwiegend prosopographisch untersucht hat.38 Für die insgesamt fünfundzwanzig Gouverneure des Kaiserreichs lassen sich dagegen verhältnismäßig wenige explizite Biographien nennen.39 Wie bereits angedeutet, kommt den einzelnen Arbeiten zudem ein unterschiedlicher Wert zu. Das liegt einerseits an den jeweiligen Zielsetzungen, Methoden und Quellen, andererseits aber auch am untersuchten Personenkreis, der keinen repräsentativen Querschnitt der Gesamtgruppe abzubilden vermag. Allein für den Samoa-Gouverneur und späteren Kolonialstaatssekretär Wilhelm Solf existieren zwei größere Studien. Dabei kann die Monogra-
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da dieser zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr im Amt war (S. 245, Anm. 209). Ernst Heim war nicht interimistischer Gouverneur in Lomé nach Köhlers Tod, sondern dessen zeitweiliger Stellvertreter zu Lebzeiten Köhlers (S. 290). Woldemar Horn (nicht »Waldemar«) war nicht seit 1891 im Kolonialdienst, sondern erst seit April 1896 (S. 290). Carl Peters hatte am Kilimandscharo zwei Einheimische nicht »erschossen«, sondern durch Erhängen hinrichten lassen (S. 131). Bei Gaston Thierry und Walther Stockhausen handelte es sich nicht um Oberstleutnants, sondern um rangniedere Oberleutnants (S. 94, 180). Wenn Ernst v. Carnap-Quernheimb ein Schreiben an einen Beamten der Kolonialabteilung mit den Worten schloss, er solle ihn »den Herren des Amtes empfehlen«, dann war das keineswegs als Bitte zu verstehen, seine »persönlichen Leistungen für das Schutzgebiet« bekanntzumachen (S. 112). Eine weitere Äußerung Carnaps, worin sich dieser über »einen Schund schwacher Leute« beschwerte, bezieht sich nicht auf die deutsche Beamtenschaft in Togo, sondern auf die ihm zur Verfügung gestellten indigenen Träger (S. 77, Anm. 113). Gann/Duignan, Rulers; dies., Proconsuls. Siehe hierzu etwa die Bewertung in: Brandstetter, Kolonialismus, S. 82f., 93f.; vgl. Czaplinski, Service; Spidle, Service. Trotz ihres Alters nach wie vor wertvoll ist die Biographie über Bernhard Dernburg: Schiefel, Dernburg. Zur ungefähren Gesamtzahl der Bezirksamtmänner und Stationsleiter sowie der Kaiserlichen Kommissare, Landeshauptmänner und Gouverneure: Hiery, Eliten, S. 425, 433. Kirk-Greene, Administrators; Lemetayer-Rezzi, République. Weitere Beispiele für Studien zu nichtdeutschen Gouverneuren: Benyon, Overlords; Cohen, Governors; Cohen, Empereurs; Kirk-Greene, Governorship; [Lemetayer-]Rezzi, Gouverneurs; dies., Funérailles. Eine unvollendete Prosopographie zu den britischen Gouverneuren legte ebenfalls Kirk-Greene vor: Kirk-Greene, Dictionary. Beispiele für Einzelbiographien: Haydon, Nathan; Joyce, MacGregor; Perham, Lugard. Eine Anzahl knapper Lebensbeschreibungen (auch zu belgischen und portugiesischen Gouverneuren) findet sich in: Gann/Duignan, Proconsuls. Vgl. Lambert/Lester, Imperial Spaces. Zur Eingrenzung der Zahl der hier interessierenden Gouverneure siehe Kapitel 1.2.
1. Einleitung
phie von Eberhard v. Vietsch aus dem Jahr 1961 zwar auf reichhaltiges Material aus Solfs Nachlass zurückgreifen, doch mindert die immer wieder durchscheinende mangelnde Distanz zwischen dem Biographen und seinem Protagonisten den Wert dieser Arbeit beträchtlich.40 Ein überwiegend positives Bild über Solf zeichnen auch Peter Hempenstall und Paula Tanaka Mochida. Trotz ihrer breiteren Quellenbasis bleibt in dieser Arbeit aber gerade Solfs Rolle als Gouverneur ebenso wie die als Staatssekretär im Reichskolonialamt unterrepräsentiert.41 Exemplarisch sind nicht zuletzt Solfs Ansichten zu Mischehen und ›Mischlingen‹ in den Kolonien zu nennen, die weder bei Vietsch noch bei Hempenstall und Mochida ausreichend thematisiert werden.42 Auch der für Togo bedeutsame Julius Graf v. Zech fand zwei Biographen. Dabei beschäftigt sich die unveröffentlichte Magisterarbeit von Martina Kleinert in erster Linie mit dessen ethnographischem Nachlass im Münchner Museum Fünf Kontinente, während die Studie von Markus Seemann durch eine schmale Quellenbasis beeinträchtigt wird. Letzteres gilt besonders für die Abschnitte über Zechs Amtszeit als Gouverneur, so dass die ansonsten gelungene Arbeit zu diesem Aspekt wenig neue Erkenntnisse beizusteuern vermag.43 Zwei weitere biographische Studien zu deutschen Kolonialgouverneuren erschienen erst in den Jahren 2017 und 2019. Diebolds Untersuchung zum Herzog zu Mecklenburg wurde in diesem Zusammenhang bereits genannt. Auch bei ihm wird die zweijährige Gouverneurszeit des Herzogs eher knapp abgehandelt, wobei Diebold wenig primäres Quellenmaterial herangezogen hat, so dass im Hinblick auf die eigentliche Amtstätigkeit häufig ältere Forschungsergebnisse lediglich rezitiert werden. Eine Ausnahme stellt allerdings die Einbeziehung der hochinteressanten Briefe des Herzogs an seine Mutter sowie an seinen Bruder dar. Leider erfolgt deren Auswertung aber allzu sehr cum ira et studio, so dass ein Teil der Ergebnisse einer Nachprüfung schwerlich standzuhalten vermag.44 Katharina Abermeth hat sich dagegen Heinrich Schnee als Protagonisten für ihre Dissertation auserkoren. Für eine exemplarische Studie eignet sich Schnee in der Tat hervorragend, befand sich dieser doch von 1897 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges ununterbrochen im Kolonialdienst, wobei er sowohl on the spot in Ozeanien und Ostafrika als auch als Kolonialsachverständiger an der Londoner Botschaft sowie in verschiedenen höheren Funktionen in der Berliner Zentralbehörde tätig war. Darüber hinaus stellt Schnee eine der Galionsfiguren des deutschen Kolonialrevisionismus in der Weimarer Republik und im NS-Staat dar. Nicht zuletzt hinterließ er etliche kolonialapologetische Schriften sowie einen umfangreichen Nachlass, der sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin befindet. Dennoch bleiben Abermeths Ergebnisse hinter den Erwartungen zurück. Die Arbeit zeichnet sich zwar durch großen Detailreichtum aus, doch stellt sich mitunter die Frage nach dem Nutzwert. Im Gegenzug 40 41 42 43 44
Vietsch, Solf. Hempenstall/Mochida, Man. Siehe Kapitel 4.6. Kleinert, Blick; vgl. dies., Photographien; Seemann, Zech. Diebold, Hochadel. Mitunter geht der Autor zu leichtfertig mit den Quellen um. Ein Beispiel stellt die Behauptung dar, der Herzog habe die Tutsi Ruandas als »Herrenrasse« angesehen (S. 145). Tatsächlich lautet diese Passage im Originaltext, bei den Tutsi habe es sich um eine »später eingewanderte Rasse« gehandelt. Mecklenburg, Afrika, S. 88.
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erscheint wiederum die eigentliche Gouverneurszeit unterrepräsentiert, so dass im Vergleich zu früheren Ostafrika-Studien wenig Neues geboten wird.45 Der Eindruck einer unzureichenden Erforschung der Kolonialgouverneure des Kaiserreiches ändert sich auch unter Einbeziehung einschlägiger Aufsätze nicht wesentlich. Diese liefern zwar mitunter wertvolle Aufschlüsse, doch vermögen sie aufgrund unterschiedlicher Ansätze und Fragestellungen kein stimmiges Gesamtbild zu dieser Positionselite zu liefern.46 Das gilt nicht zuletzt für die inzwischen erhebliche Zahl von Einzeluntersuchungen, die sich mit den Verwaltungsstrukturen in den ›Schutzgebieten‹ im Allgemeinen befassen. Zwar finden die Gouverneure darin immer wieder Erwähnung, doch bleiben sie als Akteure erstaunlich unscharf, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie häufig nur im Zusammenhang mit der jeweiligen Normensetzung oder den von ihnen getroffenen Maßnahmen, kaum jedoch als eigenständige Subjekte aufscheinen.47 Die Vernachlässigung der Gouverneure als Akteursgruppe lässt sich dementsprechend an pauschalisierenden Aussagen ablesen, wenn sie beispielsweise als »paternalistic, arrogant, and sarcastic« oder als »bieder« charakterisiert werden.48 Darüber hinaus fällt auf, dass selbst die Personennamen häufig nicht korrekt wiedergegeben werden. Ebenso verhält es sich mit den Amts- bzw. tatsächlichen Anwesenheitszeiten in der jeweiligen Kolonie oder der bloßen Zuordnung, ob es sich im jeweiligen Fall um einen Zivilbeamten oder um einen Angehörigen der Militärkaste gehandelt hat. So belanglos solche Irrtümer und Flüchtigkeitsfehler im Einzelfall auch sein mögen, lässt deren Häufung letztlich aber auf eine unzureichende Ausleuchtung dieser Positionselite schließen.49 Es verwundert daher kaum, dass selbst über das Sozialprofil der Gouverneure verhältnismäßig wenige Informationen vorliegen. Das gilt mit Einschränkungen selbst für die biographisch näher untersuchten Angehörigen dieser Gruppe. In diesem Zusammenhang muss etwa überraschen, dass in der Studie über den Herzog zu Mecklenburg
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Abermeth, Schnee. Einige Beispiele für Aufsätze, in denen deutsche Kolonialgouverneure im Zentrum stehen: Bald, Reformpolitik; Biskup, Hahl; Bührer, Forschungsreisender; Buschmann, Anthropology; Gann, Schnee; Hoffmann, Gouverneur; Kreienbaum, Lindequist; Kundrus, Reichskolonialamt; Nagl, Seckenheim; Pade, Wissenschaft; Röpcke, Mecklenburg; Schmidt, Intimacy; Smith, Zech. Beispiele für Monographien mit einem Schwerpunkt auf kolonialer Verwaltung, in denen in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit auf einzelne oder mehrere Gouverneure eingegangen wird: Bald, Deutsch-Ostafrika; Bley, Kolonialherrschaft; Bührer, Schutztruppe; Firth, New Guinea; Habermas, Skandal; Häussler, Genozid; Hausen, Kolonialherrschaft; Hempenstall, Islanders; Hiery, Reich; Iliffe, Tanganyika; Koponen, Development; Schaper, Verhandlungen; Sebald, Togo; Steinmetz, Handwriting; Zimmerer, Herrschaft. Vgl. ergänzend zum Forschungsstand über das deutsche Kolonialreich: Lindner, Plätze. Gann/Duignan, Rulers, S. 139 (Zitat 1); Wehler, Geschichte, S. 168 (Zitat 2). An Beispielen für solche Flüchtigkeitsfehler lassen sich anführen: El-Tayeb, Deutsche, S. 80 (Leutwein als Zivil-, Trotha als Militärgouverneur); Conrad, Kolonialgeschichte, S. 32 (›Albrecht‹ statt Albert Hahl); Bückendorf, Kolonialpläne, S. 385, 446 (Lieberth‹ statt Liebert); Gann/Duignan, Rulers, S. 64 (Wißmanns Geburtsjahr 1835 statt 1853); Bührer, Schutztruppe, S. 176 (Paul Leutwein identisch mit Theodor Leutwein), S. 106 (Schuckmann 1911 zum Gouverneur von DSWA ernannt, tatsächlich 1907), S. 179 (›Gustav‹ statt Adolf Graf v. Götzen); Diebold, Hochadel, S. 37 (Götzen als ›Resident‹ in DOA); Hausen, Kolonialherrschaft, S. 27 (›Friedrich‹ statt Bernhard Dernburg); Pesek, Praxis, S. 201 (›Karl‹ statt Paul Kayser); vgl. auch ders., Herrschaft, S. 272f.
1. Einleitung
gerade die Aspekte Herkunft, Erziehung und Bildungserwerb kaum thematisiert werden.50 Mehr oder weniger ausführlich, häufig aber in der herkömmlichen Manier des bloßen ›Werdegangs‹, schildern auch Vietsch, Hempenstall/Mochida, Abermeth und Seemann das Vorleben ihrer Protagonisten.51 Ähnlich verhält es sich mit den zahlreichen, in dieser Hinsicht aber wenig ergiebigen Aufsätzen über Albert Hahl.52 Es bedarf keiner besonderen Vorstellungskraft, dass die genannten Defizite gerade im Hinblick auf eine ausgesprochen ›personalisierte‹ Kolonialadministration schwer wiegen. An dieser Stelle sucht die vorliegende Studie anzusetzen.
1.2 Forschungsdesign und Fragestellung Das Vorhaben verfolgt einen gruppenbiographischen Ansatz.53 Dabei umfasst die Untersuchungsgruppe fünfundzwanzig Individuen und erstreckt sich auf sämtliche Spitzenbeamten der ›Schutzgebiete‹, die formell zu Gouverneuren ernannt wurden.54 Diese im Frühjahr 1885 eingeführte, danach sukzessive erweiterte und seit 1898/99 generell etablierte Position kann in der Regel als Merkmal einer gewissen Konsolidierung kolonialer Herrschaft und ihrer wesentlichen Strukturen interpretiert werden. Unberücksichtigt bleiben dagegen die ›Kaiserlichen Kommissare‹ sowie die ›Landeshauptmänner‹, die vor allem die frühe Eroberungsphase, zum Teil aber auch eine temporäre Vorrangstellung privatwirtschaftlich organisierter Kolonialgesellschaften widerspiegeln.55 Ebenfalls außer Acht bleibt das Pachtgebiet Jiaozhou (Kiautschou), da dieses in staatsrechtlicher, administrativer und personeller Hinsicht signifikante Unterschiede zu den übrigen deutschen Kolonien aufweist und somit eine Vergleichbarkeit erschweren würde.56 Bei dem untersuchten Korpus handelt es sich trotz der genannten Einschränkungen um keine
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Diebold, Hochadel, S. 37–40. Dort findet sich lediglich eine »chronologische Kurzbiographie«. Generell erscheint der Herzog in dieser Arbeit als vermeintlich typischer Repräsentant des deutschen Hochadels. Vietsch, Solf, S. 19–41; Hempenstall/Mochida, Man, S. 27–49; Abermeth, Schnee, S. 47–57; Seemann, Zech, S. 39–52, 101–120. Nur der letztgenannte hat sich kritischer mit der biographischen Vorprägung Zechs auseinandergesetzt. Siehe Kapitel 2.1.1. Biskup, Sketch, S. 342; ders., Hahl, S. 77; Firth, Hahl, S. 28; Nübel, Hahl, S. 30; Sack, Vorwort, S. XIVXXV. Allgemein zur Gruppenbiographik: Harders/Schweiger, Ansätze; Schweiger, Konstituierung; Schröder, Kollektivbiographie; Bödeker, Biographie. Es handelt sich um zwanzig Gouverneure in den afrikanischen und fünf in den ozeanischen Kolonien. Unter den letzteren stellt Eduard Haber einen Sonderfall dar. Er amtierte lediglich als stellvertretender Gouverneur tatsächlich vor Ort. Erst im Dezember 1917 wurde er formal zum regulären Gouverneur von Deutsch-Neuguinea ernannt. Eine tabellarische Aufstellung aller Gouverneure einschließlich der Amtszeiten findet sich am Ende der Einleitung. Im Hinblick auf Kommissare und Landeshauptleute ergeben sich allerdings Überschneidungen: Puttkamer war beispielsweise zuerst Kaiserlicher Kommissar, dann Landeshauptmann von Togo, ehe er zum Gouverneur von Kamerun ernannt wurde. Ähnliche Fälle: Zimmerer, Wißmann, Köhler, Leutwein. Das Pachtgebiet war dem Reichsmarineamt unterstellt. Bei den Gouverneuren handelte es sich ausnahmslos um Marineoffiziere.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Stichprobe. Da sämtliche deutschen Kolonialgouverneure im engeren Sinne aufgenommen wurden, wird vielmehr die Grundgesamtheit untersucht. In chronologischer Hinsicht bewegt sich der Schwerpunkt der Studie zwischen den 1890er Jahren und dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Die kurze Spanne zwischen 1885 und 1891 bezieht sich lediglich auf den Gouverneur von Kamerun und die Anfänge des Amtes. Auf eine Einbeziehung der Zeit nach dem Sommer 1914 wurde dagegen verzichtet, da einerseits die meisten deutschen Kolonien rasch von den Truppen der Entente eingenommen wurden und andererseits nach der Ausrufung des Ausnahmezustandes von einer regulären Verwaltungstätigkeit einer deutschen Administration kaum oder nur noch mit Einschränkungen gesprochen werden kann.57 Die Vorzüge eines kollektivbiographischen Ansatzes kamen im vorigen Abschnitt bereits indirekt zur Sprache. Weitaus schärfer als das eine Einzelbiographie in der Regel zu leisten vermag, ermöglicht die vergleichende Untersuchung eines nach bestimmten Kriterien ausgewählten Personenkreises Erkenntnisse über das »Typische, das Allgemeine« einerseits sowie über das »Untypische, das Abweichende, das Individuelle« andererseits.58 Im Unterschied zu einer vorrangig quantitativ angelegten prosopographischen Analyse, die meist große Personengruppen untersucht, erlaubt die zahlenmäßig überschaubare Gruppe der Kolonialgouverneure eine vorrangig qualitative Vorgehensweise. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Lebensläufen, Deutungsmustern und Handlungspraktiken können dabei gut verglichen und bewertet werden, ohne sie einem allzu starren Schema und strikten Kategorisierungen unterordnen zu müssen.59 Bei den Inhabern der Gouverneursposten in den ›Schutzgebieten‹ ergibt sich ein weiterer Vorzug des gruppenbiographischen Zugangs aus der gleichzeitigen Fokussierung auf einen konkreten institutionellen Rahmen. Die deutsche Kolonialadministration mit ihren Aktionsfeldern innerhalb der situation coloniale (Georges Balandier) stellt für die Untersuchungsgruppe den gemeinsamen Erfahrungs- und Handlungsraum dar.60 Aus dieser Vorbedingung ergibt sich in Kombination mit den bereits dargelegten Überlegungen zugleich die eigentliche Kernfrage dieser Arbeit: Wie griffen die Gouverneure die von ihnen angetroffenen Strukturen auf und wie reproduzierten oder veränderten sie diese?61 Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie Handlungsspielräume und Gestaltungswille dieser Positionselite stehen somit im Mittelpunkt des Interesses. Einen theoretischen Rahmen zur Realisierung dieser Zielsetzung bietet Pierre Bourdieus théorie de la pratique, die dieser auf der Grundlage einer Untersuchung über die
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Während die Kolonien in Ozeanien sowie Togo bis zum Herbst 1914 verloren gingen, ergab sich die Schutztruppe von DSWA im Juli 1915. In Kamerun setzten sich Verwaltung und Truppe im Februar 1916 auf neutrales spanisches Gebiet ab. Einzig die Reste der Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika hielten bis Herbst 1918 aus. Zum dortigen Kriegsgeschehen einschließlich des Konflikts zwischen Gouverneur und Kommandeur liegen fundierte Studien vor: Michels, Held, S. 143–244; Bührer, Staatsstreich; Bührer, Schutztruppe, S. 401–477. Schröder/Weege/Zech, Biographieforschung, S. 69 (Zitate); Harders/Schweiger, Ansätze, S. 194. Schweiger, Konstituierung, S. 325f.; Harders/Schweiger, Ansätze, S. 195–197. Zu den spezifischen Rahmenbedingungen für die Gouverneure siehe die Einleitung zu Kapitel 4. Allgemein zur ›kolonialen Situation‹: Kapitel 4.1. Vgl. Gestrich, Biographieforschung, S. 20.
1. Einleitung
sozialen Strukturen der nordafrikanischen Kabylen entwickelt hat.62 Den Kern dieser These bildet die Annahme, dass jeder Mensch über ein Ensemble von »dauerhaft eingeprägten Dispositionen« verfügt, die wiederum »gleichermaßen Aspirationen wie Praxisformen erzeugen«.63 Bourdieu zufolge stellt ein solcher Habitus die Fähigkeit des »sozialisierten Körpers« dar, seine soziale Umgebung wahrzunehmen und zugleich verändernd in ihr zu wirken.64 Habitus muss somit als eine Art Matrix verstanden werden, die die individuellen Denk-, Perzeptions- und Handlungsmuster determiniert. Diese sind dadurch zwar gewissermaßen prädisponiert, doch bleiben sie angesichts der vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten von Dispositionen, Systemen und Situationen trotzdem wandelbar, weshalb das Konzept Bourdieus kein präzises Vorhersageinstrument darstellt, sondern eher grobkörnige Einordnungen ermöglicht.65 Die dem jeweiligen Habitus zugrundeliegenden Dispositionen werden im Verlauf der Sozialisation eines Menschen durch Lern- und Imitationsprozesse erworben, eingeübt und verinnerlicht. Dabei erzeugt eine kulturell ähnliche Prägung, etwa in Gestalt vergleichbarer Wertesysteme und Verhaltenskodizes, ein Mindestmaß an Übereinstimmungen, das wiederum den Fortbestand und das Funktionieren sozialer Gemeinwesen gewährleistet.66 Die Suche nach solchen analogen Sozialisationseffekten innerhalb der Gruppe der Gouverneure steht daher am Beginn der vorliegenden Untersuchung. Dabei werden Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten ebenso in den Blick zu nehmen sein wie auffällige Unterschiede. Nicht etwa eine Rekonstruktion einzelner Lebensläufe ist dabei beabsichtigt, sondern die Auslotung eines Spektrums für die Gesamtgruppe. Ein solches Vorgehen vereinigt die Vorteile einer Untersuchung menschlicher Individuen als eigenständige Subjekte einschließlich eigener Wertvorstellungen und Intentionen einerseits mit denen einer Berücksichtigung des sozialen, kulturellen und institutionellen Gefüges, in das der zu untersuchende Personenkreis eingebettet ist, andererseits.67 Konkret geht es um die Frage nach dem Sozialprofil der Untersuchungsgruppe und damit nach deren Herkunftssphären, Bildungs- und Berufswegen. Das Augenmerk gilt dabei den internalisierten Wissensordnungen und Dispositionen ebenso wie der Einübung bestimmter Verhaltensweisen. In einem zweiten Schritt werden die Deutungsmuster der Gouverneure in den ›Schutzgebieten‹ zu untersuchen sein, wobei die Bilder des ›Andern‹, d.h. der in ihren Augen fremdartigen Landschaften und Menschen, im Fokus stehen. Ein solches Vorgehen lehnt sich ebenfalls an Bourdieus Habitus-Konzept an, werden doch auch solche Deutungen der Lebensumwelt durch die im Zuge der Sozialisation generierten Dispositionen vorstrukturiert.68 Das ›Fremde‹ wird durch eine solche Codierung und 62
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Bourdieu, Entwurf, v.a. S. 164–189; ders., Sinn, S. 97–121. Die Habitus-These wurde seitens der Forschung immer wieder aufgegriffen. Hierzu: Raphael, Habitus; Daniel, Kompendium, S. 186–191; Schäfer, Einleitung. Bourdieu, Entwurf, S. 167f. (Zitate). Ders., Fragen, S. 28 (Zitat); vgl. Raphael, Habitus, S. 266. Bourdieu, Entwurf, S. 169; vgl. Koselleck, Erinnerungsschleusen, S. 267. Aus der Perspektive der konstruktivistischen Sozialisationsforschung: Bauer, Gesinnungsfrage, S. 79. Schweiger, Konstituierung, S. 318–320. Bourdieu, Entwurf, S. 169.
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Verkürzung mit Hilfe vertrauter Kategorien für den Wahrnehmenden überhaupt erst erfassbar gemacht. Der Verknüpfung optischer Eindrücke mit den eigenen, im Zuge einer lebenslangen Sozialisation erworbenen Wissensbeständen, also der Konstruktion von Erinnerungsbildern, vor allem aber deren Ausdeutung kommt somit eine erhebliche Aussagekraft über die Betrachter selbst zu.69 Im Einzelnen wird danach zu fragen sein, wie die Gouverneure die Landschaften und Menschen in ihren Selbstzeugnissen verarbeiteten. Welche Strategien der kognitiven Bewältigung von Unsicherheiten in einer fremden Umgebung lassen sich ausmachen? Handelt es sich bei den Deutungen um die bloße Reproduktion gängiger zeitgenössischer Vorurteile? Verharrten die Menschen in den Kolonien in den Augen der Gouverneure auf der Ebene von bloßen Typen einer ›exotischen‹ Kultur oder einer fremdartigen ›Rasse‹? Auch solche Rassismen müssen präzisiert werden. Erfolgte die Kategorisierung im Sinne eines in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sich ausbreitenden Sozialdarwinismus? Oder finden sich Formen eines eher kulturmissionarisch fundierten Rassismus? Zu fragen ist nicht zuletzt danach, ob die Gouverneure die gängigen Stereotypen und Vorurteile in Frage stellten? Daran ließe sich beispielsweise eine Abschwächung der ethnozentrische Perspektive messen, was wiederum auf mögliche Lernprozesse hindeuten könnte. Im dritten und umfangreichsten Hauptkapitel werden schließlich die Herrschaftspraktiken der Gouverneure zu untersuchen sein. In diesem Zusammenhang findet zugleich eine analytische Zusammenführung der zuvor ermittelten Sozialisationseffekte und Wahrnehmungsmuster mit den sozialen und administrativen Strukturen sowie den situativen Faktoren im Rahmen der situation coloniale statt. Dabei wird vorrangig zu untersuchen sein, auf welche Weise die Gouverneure die vorgefundenen kulturellen Ordnungen, sozialen Netzwerke und deren Kommunikationsstrukturen nutzten und modifizierten. Nicht zuletzt wird auch die Frage im Zentrum stehen, inwieweit diese Akteursgruppe in der Lage war, ihren Einfluss auf die Ausprägungen kolonialer Staatlichkeit geltend zu machen. Gerade in dieser Hinsicht soll es das Vorhaben möglich machen, auch zu weiterführenden Erkenntnissen zu gelangen. Die Rede ist von der Charakterisierung des kolonialen Staats und seinen faktischen Zugriffsmöglichkeiten auf die indigenen Bevölkerungen. In diesem Zusammenhang hat sich zuletzt innerhalb der Forschung die Ansicht durchgesetzt, dass koloniale Administration in ihrer Leistungsfähigkeit stets defizitär gewesen sei.70 Um ihre »Allmachtsphantasien« dennoch aufrechterhalten zu können, hätten sich die Europäer stattdessen der »Konstruktion einer fiktiven Welt« bedient und sich dadurch die »Utopie von Staatlichkeit« im Sinne einer vermeintlich effizient arbeitenden Verwaltungsorganisation geschaffen.71 Nicht zuletzt diese Annahme wird zu hinterfragen sein, wobei der mitunter angelegte Maßstab des Funktionierens bzw.
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Hahn, Stereotypenforschung, S. 21. Siehe hierzu die Ausführungen (einschließlich Literaturangaben) in Kapitel 4.1. Krüger, Kriegsbewältigung, S. 184 (Zitat 1); Spittler, Verwaltung, S. 91 (Zitat 2); Trotha, Herrschaft, S. X (Zitat 3). Der Utopie-Begriff wurde u.a. übernommen von: Zimmerer, Herrschaft, S. 283; Eckert/ Pesek, Ordnung, S. 88.
1. Einleitung
Nichtfunktionierens bürokratischer Routinen weniger bedeutsam erscheint als vielmehr die Realisierbarkeit der Kernziele des kolonialen Staates. Zwar liegt es durchaus nahe, dass die Akteure die gewohnten Arbeitsroutinen und Organisationsmuster aus dem imperialen Zentrum an die Peripherie zu transferieren suchten. Es stellt sich aber die Frage, ob sich innerhalb des Korpus die Intention nachweisen lässt, europäische Vorstellungen einer bürokratisch organisierten Verwaltung auch in den ›Schutzgebieten‹ nahtlos in die Realität umzusetzen. Oder waren sich die Gouverneure vielleicht doch der Notwendigkeit bewusst, sich letztlich mit einem minimal government begnügen zu müssen?72 In diesem Zusammenhang wird nicht zuletzt auch danach zu fragen sein, ob die Mitglieder der Untersuchungsgruppe in der utopischen Vorstellung einer voll ausgebildeten Bürokratie europäischen Musters lebten und über Apparate zu gebieten glaubten, die in Wirklichkeit gar nicht existierten. Die Einbeziehung der seitens der Forschung mitunter vernachlässigten ozeanischen ›Schutzgebiete‹ und deren vergleichende Untersuchung mit den afrikanischen Kolonien ermöglicht gleichzeitig einen erweiterten Blick auf vermeintlich singuläre Erscheinungen.73 In dieser Hinsicht ist beispielsweise der Personal- und somit auch der potentielle Methodentransfer innerhalb des deutschen Kolonialimperiums zu nennen. Tatsächlich waren nicht wenige Samplemitglieder während ihrer kolonialen Laufbahn sowohl in afrikanischen als auch in ozeanischen Kolonien tätig. Für einen Teil von ihnen stellte beispielsweise Deutsch-Ostafrika eine Zwischenstation von oft mehrjähriger Dauer dar, ehe sie an ihre späteren Wirkungsstätten in Neuguinea oder Samoa versetzt wurden. Für Westafrika ist dagegen eine auffällige Personalfluktuation zwischen Togo und Kamerun unter Einbeziehung Südwestafrikas nachweisbar. Dieser fortlaufende Transfer an höherem Verwaltungspersonal könnte eine Vernetzung der jeweiligen imperialen Räume zur Folge gehabt haben, was für das deutsche Kolonialreich bislang nicht untersucht wurde.74 Eine zusammenhängende, gewissermaßen globale Perspektive fehlt nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Berliner Kolonialzentrale. Auch deren Aktivitäten können durch eine Weitung des Blicks an Plausibilität und Systematik gewinnen. Solche ›innerreichlichen‹ Transferleistungen und deren praktische Auswirkungen sollten jedenfalls auch für das kurzlebige deutsche Kolonialreich nicht unterschätzt werden. Mit seinen vielfältigen Vernetzungen markierte das deutsche Imperium einen zentralen Erfahrungs- und Handlungsraum für die Akteure kolonialer Administration.75 Ein hohes Maß an geographischer Mobilität ebenso wie eine langjährige Tätigkeit im Kolonialdienst könnten sich prägend auf diesen Personenkreis ausgewirkt haben. Während ein oberflächlicher Blick auf die bloßen Dienstzeiten als Gouverneure bei vielen Protagonisten nur kurze Aufenthalte in den Kolonien suggeriert, ergeben sich anhand der vollständigen Biographien im Schnitt knapp zehn Jahre, in Einzelfällen sogar deutlich längere
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Vgl. Osterhammel, Verwandlung, S. 818. Studien, die größere Teile des deutschen Kolonialreichs in den Blick nehmen und damit die imperialen Räume analytisch zu verbinden suchen, sind nach wie vor selten. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Arbeit von George Steinmetz dar, der DSWA, Samoa und Jiaozhou vergleichend untersucht hat. Steinmetz, Handwriting. Vgl. Rolf, Einführung, S. 5. Ebd., passim u.a. S. 5.
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Zeiträume, die die Betreffenden in den Kolonien verbrachten. Derart lange Dienstzeiten blieben zwangsläufig nicht ohne Einfluss auf ihre Deutungen in Bezug auf Land und Leute. Es stellt sich die Frage, ob nach jahrelanger Anwesenheit noch von gänzlicher ›Fremdheit‹ gesprochen werden kann. Nicht zuletzt wäre in diesem Zusammenhang denkbar, dass sich solche imperialen Erfahrungshorizonte fördernd auf die Bereitschaft auswirkten, sich zumindest partiell den örtlichen Verhältnissen anzupassen.76 Überhaupt wäre es misslich, die oft ebenso indirekt wie häufig erst längerfristig wirksamen Einflüsse der indigenen Bevölkerung außer Acht zu lassen. Dass koloniale Herrschaft kein einseitiges System aus aktiv handelnden ›Kolonialherren‹ und passiv verharrenden Kolonisierten darstellte, darüber ist sich die Forschung längst einig.77 Tatsächlich fand trotz einer in der Regel demonstrativ zur Schau getragenen, vermeintlichen kulturellen Hegemonie der Europäer auf den verschiedenen Ebenen menschlichen Zusammenlebens ein vielfältiger Austausch statt. In den hier interessierenden Zusammenhängen erscheinen die Einflüsse autochthoner Praktiken und Vorstellungen auf die Verwaltungspraxis bedeutsam, so etwa die Instrumentalisierung indigener Kommunikationsmittel – beispielsweise des schauri in Ost- oder des palaver in Westafrika – als Podium zur Demonstration kolonialer Herrschaftsansprüche.78 Vergleichbare Erscheinungen bei kolonialen Rechtspraktiken wurden ebenfalls für Neuguinea nachgewiesen.79 Auch die Vermutung, die Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika habe sich auf der taktischen Ebene an den Praktiken einer genuin afrikanischen Kriegführung orientiert, deutet in eine ähnliche Richtung.80 Im Rahmen der Postcolonial Studies hat sich für solche Phänomene die Vorstellung eines third space (Homi K. Bhabha) im Sinne einer Kombination europäischer und außereuropäischer Kulturinhalte durch wechselseitige, oft unbewusste Aneignung etabliert.81 Anders als beispielsweise im deutlich älteren British Empire, wo solche Hybridisierungen sich über mehrere Generationen hinweg ausprägen und verfestigen konnten, erfordert eine Untersuchung analoger Sachverhalte für das deutsche Kolonialimperium ein hohes Maß an Sorgfalt. Das gilt besonders dann, wenn es sich nicht um eine bloße äußerliche Rezeption, sondern um veränderte Denkmuster handeln soll.82 Bei der Untersuchung der Herrschaftspraktiken von mehr als zwei Dutzend Gouverneuren in sechs Kolonien ist eine inhaltlich-thematische Eingrenzung allein aus arbeitspraktischen Gründen unumgänglich. Eine lückenlose Wiedergabe des Geschehens ist dabei weder möglich noch notwendig. Beispielsweise lässt sich eine umfassende Einbeziehung der Perspektive der Beherrschten angesichts der Zielsetzungen der Arbeit sowie der problematischen Quellenlage kaum realisieren, obwohl dies ebenso reizvoll wie fruchtbringend sein könnte. Wo einschlägige Zeugnisse verfügbar sind, kommen aber
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Vgl. Marx, Geschichte, S. 161; Hiery, Reich, passim. Hierzu etwa Trotha, Herrschaft; Hiery, Reich; Pesek, Herrschaft; Michels, Power; Deutsch, Celebrating power; Lawrance/Osborn/Roberts, Intermediaries. Siehe auch Kapitel 4.1. Hierzu etwa: Pesek, Herrschaft, S. 277–283. Hiery, Reich, u.a., S. 86f., 192. So eine Kernthese in: Bührer, Schutztruppe. Bhabha, Culture. Vgl. die Bedenken bei Wehler, Geschichte, S. 167f.
1. Einleitung
auch indigene Stimmen zu Wort. Auch Vergleiche mit den Kolonien der anderen europäischen Mächte sind nur ausnahmsweise möglich. In dieser Hinsicht wird dennoch das Aufgreifen namentlich britischer oder französischer Praktiken durch deutsche Gouverneure zu thematisieren sein.83 Selbst innerhalb der deutschen ›Schutzgebiete‹ können längst nicht alle Akteursgruppen mit einbezogen werden. Entscheidend wird vielmehr stets der direkte Bezug zu den genannten Leitfragen sein, wenn es etwa um die Positionen von Missionaren, Ansiedlern oder anderen Akteuren geht. Auch im Hinblick auf die Herrschaftspraktiken der Gouverneure werden in erster Linie besonders aussagekräftige wie repräsentative Vorgänge oder Entwicklungsstränge herauszugreifen sein. Dabei geht es letztlich darum, die Bandbreite gouvernementalen Handelns abzustecken. Im Fokus stehen naturgemäß die Absichten sowie die Reaktionen der Gouverneure auf äußere Einflüsse sowie mögliche Rückbezüge auf die Ergebnisse in den Abschnitten zu den Sozialisationseffekten und Deutungsmustern. Nicht zuletzt angesichts der herausragenden Bedeutung des Faktors ›Persönlichkeit‹, aber auch wegen der zum Teil erheblich variierenden Rahmenbedingungen vor Ort sowie der vielfältigen politischen, juristischen und materiellen Vorgaben seitens der Kolonialzentrale erscheint zu diesem Zweck eine Kombination aus Darstellung und Analyse am zweckmäßigsten. Der Fokus liegt dabei in erster Linie auf den individuellen Praktiken, wobei einige weitere Aspekte als besonders zielführend erscheinen und deshalb zusätzliche, immer wiederkehrende Schwerpunkte im Rahmen des dritten Großkapitels bilden werden: 1) die Umstände der Ein- bzw. Absetzung des jeweiligen Gouverneurs und zugleich die Frage nach dessen Rückhalt in Metropole, aber auch an der Peripherie, 2) die von Seiten der Berliner Zentrale vorgegebenen normativen Rahmenbedingungen und deren Modifikationen im Laufe der Zeit, 3) die jeweils verfolgten Zielsetzungen bzw. die angewandten Methoden zur Ausgestaltung des administrativen Apparates und die damit eng verknüpften Aktivitäten zur Generierung von Herrschaftswissen sowie die fiskalischen Maßnahmen, 4) die jeweiligen inneren und äußeren Widerstände sowie die Strategien zu deren Überwindung. 5) die etwaige Bereitschaft, sich an den lokalen Verhältnissen zu orientieren einschließlich selbstgesetzter Grenzen einer solchen Anpassung.
Auf der Basis der erläuterten Grundsätze und Kernfragen sollen ebenso aussagekräftige wie differenzierte Erkenntnisse über die Denk- und Handlungsmuster der Gouverneure gewonnen werden. Dadurch soll nicht zuletzt eine Einschätzung möglich werden über die Einflussmöglichkeiten dieser Akteursgruppe auf die konkreten Erscheinungsformen kolonialer Staatlichkeit. Im Zuge des Vorhabens soll damit ein Beitrag geleistet werden zur Präzisierung des mitunter simplifizierenden Bildes einer mehr oder minder anonymen Kolonialverwaltung mit diffusen Verantwortlichkeiten.
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Zur These des gemeinsamen kolonialen Projekts der Europäer etwa: Lindner, Begegnungen.
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1.3 Quellengrundlage Die für die vorliegende Studie in Frage kommenden Quellenbestände orientieren sich naturgemäß an der im Mittelpunkt stehenden Personengruppe. Wie bereits erläutert, sind es deren Lebensumstände, Deutungsmuster, Herrschaftspraktiken sowie das jeweils maßgebliche soziale und institutionelle Umfeld, die den Gegenstand der Arbeit ausmachen. Daraus folgt eine erste Unterteilung des Quellenkorpus. Zur Bearbeitung des ersten größeren Abschnitts, in dem die Resultate von Sozialisation bei den Gouverneuren analysiert werden sollen, sind vor allem solche Zeugnisse unverzichtbar, die deren Herkunft, Kindheit, Jugend, Schule, Ausbildung sowie Partnerwahl und Familienkonzepte abbilden und somit nur in Ausnahmefällen einen direkten Bezug zur späteren kolonialen Tätigkeit aufweisen. Im Einzelnen handelt es sich dabei um publizierte und nicht publizierte Selbstzeugnisse sowie Personalakten etwa zu Militärdienstzeiten oder zur Tätigkeit als Beamte in der heimischen Justiz oder Verwaltung. Dazu kommen beispielsweise Prüfungsakten, Zeugnisse oder zeitgenössische Periodika mit Angaben zu Schul- und Universitätsbesuch oder auch militärische Ranglisten. Aufgrund des Charakters der meisten dieser Quellengruppen entsteht erst aus deren Kombination ein aussagekräftiges Bild über die frühen Lebensabschnitte des im Fokus stehenden Personenkreises. Für den zweiten Untersuchungsabschnitt, die Deutungen des ›Andern‹, kommen unveröffentlichte und veröffentlichte Selbstzeugnisse der Gouverneure in Frage. Nachrangig werden auch Geschäftsdokumente, wie Akten oder publizierte Berichte, eine Rolle spielen. Erneut erweist sich dabei der gruppenbiographische Ansatz als vorteilhaft, ist doch auch zur Fremdwahrnehmung keineswegs für sämtliche Mitglieder des Korpus eine gleichmäßige Quellendichte vorhanden. Die Kumulation der Materialien hat jedoch zur Folge, dass stets genügend Zeugnisse zu vergleichbaren Untersuchungsgegenständen verfügbar sind, so dass der Gefahr einer »Überbewertung der Subjektivität« wirksam begegnet werden kann.84 Lässt sich bereits für die ersten beiden Bearbeitungskomplexe eine mindestens ausreichende, häufig sogar hohe Quellendichte konstatieren, gilt diese Diagnose erst recht für die Herrschaftspraktiken. Da im Zentrum der Untersuchung eine Positionselite der kolonialen Administration steht, stellen naturgemäß Verwaltungsakten eine zentrale Quellengruppe für diesen Abschnitt dar.85 Die hierarchische Unterteilung in Zentralbehörde, Gouvernements und Lokalverwaltungen spiegelt sich auch in deren Überlieferungssystematik wider. Nicht zuletzt angesichts des Zugriffs auf das gesamte deutsche Kolonialimperium stellen die Akten von Kolonialabteilung bzw. Reichskolonialamt im Berliner Bundesarchiv einen unverzichtbaren Fundus dar. Dieser knapp zehntausend Bände umfassende und komplett erschlossene Bestand erweist sich vor allem im Hinblick auf die darin enthaltenen Korrespondenzen zwischen Berliner Zentrale und den Gouverneuren in den einzelnen ›Schutzgebieten‹ als ungemein wertvoll.86
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Tritschler, Spannungsfeld, S. 45 (Zitat). Generell zu dieser Quellengruppe: Meisner, Archivalienkunde; Vismann, Akten, S. 226–299. Vgl. das dreibändige Findbuch zum Bestand BA-B R 1001: Hollmann, Reichskolonialamt.
1. Einleitung
Konkret finden sich in diesem Bestand die Originalberichte der Mitglieder der Untersuchungsgruppe an ihre vorgesetzte Behörde. Dazu kommen Denkschriften und Aktenvermerke, die die Gouverneure während ihrer zeitweiligen Verwendungen in der Kolonialzentrale verfasst haben. Die Ebene der Lokalverwaltung spiegelt sich in diesem Bestand ebenfalls wider, allerdings in reduzierter Dichte, da die Bezirksämter und Stationen in der Regel mit den Gouvernements unmittelbar und nur in Ausnahmefällen mit der Zentrale korrespondierten. Wenn diese dennoch Eingang in den Bestand des Reichskolonialamts fanden, dann handelt es sich meist um die von den Gouverneuren in Abschrift weitergeleiteten Berichte solcher subalternen Stellen. Einen weiteren Anknüpfungspunkt für die vorliegende Arbeit stellen nicht zuletzt deshalb die Akten der sechs Gouvernements in den ehemaligen Kolonien dar. In diesen umfangreichen Beständen, die sich im Original in den Nationalarchiven von Togo, Kamerun, Namibia, Tansania, Australien und Neuseeland befinden, ist der Schriftverkehr aller drei genannten Hierarchieebenen enthalten. Während die Schriftstücke aus der Feder der Gouverneure oder ihrer Vertreter aber dort lediglich im Konzept vorliegen, finden sich Erlasse, Berichte oder Vermerke von Zentrale oder Lokalverwaltung in diesem Schriftgut üblicherweise im Original. Der praktische Zugriff auf diese Archivalien wird angesichts der Tatsache, dass im Bundesarchiv große Teile der Akten der Gouvernements in Mikroform vorliegen, wesentlich erleichtert.87 Ergänzend konnten die australischen und neuseeländischen Bestände als Kopien am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Bayreuth eingesehen werden. In reduziertem Umfang liegen im Bundesarchiv Mikrofilme auch für die Akten der Lokalbehörden vor, doch kommt diesen im Vergleich zur Überlieferung von Zentralverwaltung und Gouvernements im Rahmen der vorliegenden Arbeit ein etwas geringerer Stellenwert zu. Diese Materialien wurden bedarfsweise in die Auswertung einbezogen.88 Es liegt auf der Hand, dass dieses Geschäftsschriftgut eine offiziöse Perspektive kolonialer Administration widerspiegelt. Zu berücksichtigen sind daher die solchen Texten zugrundeliegenden Verwaltungsvorschriften ebenso wie der vorgeschriebene Amtsstil. Beides verleiht solchen Schriftstücken einen scheinbar objektiven Charakter.89 Daher sind auch bei diesen Überresten ein zwangsläufig eingeschränkter Blickwinkel des jeweiligen Berichterstatters ebenso wie dessen politische oder persönliche Interessen 87
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Es handelt sich um die Mikrofilmbestände: BA-B R 150F (Togo); BA-B R 151F (Namibia); BA-B R 155F (Tansania); BA-B R 174F (Australien/Neuguinea); BA-B R 175F (Kamerun); BA-B R 1004F (Neuseeland/Samoa). Um eine generelle Vergleichbarkeit zu gewährleisten werden diese ausschließlich nach den ursprünglichen Signaturen der jeweiligen Nationalarchive zitiert: ANT FA 1 (Togo); NAN ZBU (Namibia); TNA G (Tansania); AAC CRS G (Australien/Neuguinea); ANY FA 1 (Kamerun); ANZ AGCA 6051 (Neuseeland/Samoa). Publizierte Findmittel existieren zumindest für die Bestände in Togo und Tansania: Real, Verwaltung; Franz/Geissler, Deutsch-Ostafrika-Archiv. Die genannten Materialien sind durch den Bestand BA-B R 1002 zu ergänzen, bei dem es sich um eine Teilüberlieferung des Windhuker Gouvernements handelt. An dieser Stelle werden lediglich die zentralen Aktenbestände genannt. Eine vollständige Auflistung, die beispielsweise die Materialien zu Schutztruppen, Deutscher Kolonialgesellschaft, NeuGuinea-Compagnie etc. miteinbezieht, findet sich im Anhang. Siehe hierzu etwa: Bülow vom 30.8.1897, Erlass über Geschäftsverkehr im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes, abgedruckt in: LGG Kamerun, S. 45–47; Stuebel vom 14.1.1903, Runderlass betr. Amtsstil, abgedruckt in: ebd., S. 48.
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in die Bewertung mit einzubeziehen. Neben der vergleichenden Auswertung mehrerer gleichartiger Zeugnisse kann vor allem die Kombination unterschiedlicher Quellengattungen solchen Defiziten entgegenwirken helfen. Als Ergänzung zum Geschäftsschriftgut ist auf den ersten Blick die erhebliche Zahl autobiographischer Zeugnisse naheliegend, also solcher, die von den Gouverneuren selbst verfasst wurden.90 Dabei müssen zwei Gruppen solcher Schriften im Hinblick auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung unterschieden werden. Einerseits handelt es sich um die vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges publizierten Texte. Hier ist zunächst die Darstellung Adolf Graf v. Götzens aus dem Jahr 1909 über den Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika zu nennen, die auch Auszüge aus dessen nicht erhaltenen Tagebüchern enthält.91 Zwar schied Götzen aus gesundheitlichen Gründen aus seiner Stellung, doch sah er sich dennoch einem gewissen Rechtfertigungsdruck unterworfen, waren die Unruhen im Süden des ›Schutzgebietes‹ doch während seiner Amtszeit ausgebrochen. Obwohl im Wesentlichen in nüchternem und unpersönlichem Stil verfasst, lässt sich der Darstellung zwischen den Zeilen die Absicht einer nachträglichen Entlastung entnehmen. Noch mehr gilt das für die umfangreiche, bereits 1906 erschienene Abhandlung Leutweins über seine Tätigkeit als Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika.92 Aufgrund der öffentlichen Kritik an seiner Amtsführung handelt es sich ebenfalls um den Versuch einer Rechtfertigung des eigenen Handelns. Tatsächlich wurde dem Gouverneur von verschiedenen Seiten vorgeworfen, er habe durch seine vermeintlich entgegenkommende ›Eingeborenenpolitik‹ den Ausbruch des Herero-Nama-Krieges wesentlich begünstigt. Ähnlich zu bewerten sind die 1912 publizierten »Gouverneursjahre« Puttkamers. Auch er war unfreiwillig aus dem Amt geschieden und suchte in der Folge, sich und sein Handeln in Kamerun reinzuwaschen. Dabei liefert er zwar eine detaillierte und offenbar auf Tagebuchaufzeichnungen basierende Zusammenstellung der Ereignisse. Dabei fehlen jedoch alle für ihn weniger angenehmen Begebenheiten ebenso wie jegliche Konflikte mit anderen Akteuren. Selbst ehemalige Widersacher erscheinen in dieser Schrift in einem positiven Licht.93 Im Hinblick auf ihre inhaltliche Zuverlässigkeit oft noch problematischer sind die nach dem Ersten Weltkrieg erschienenen autobiographischen Zeugnisse. Am wenigsten auffällig ist dabei die 1937 erschienene Beschreibung Hahls über seine Amtstätigkeit in
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Im Folgenden wird in erster Linie auf diejenigen autobiographischen Schriften eingegangen, in denen die Gouverneure ihre Amtstätigkeit thematisieren. Prinzipiell vergleichbar sind die Reiseberichte Wißmanns, Götzens und des Herzogs zu Mecklenburg einzuschätzen. Auch Schnees frühes Buch über Neuguinea ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Wißmann, Flagge; ders., Im Innern; ders., Durchquerung; Götzen, Afrika; Mecklenburg, Reise; ders., Afrika; ders., Kongo; Schnee, Bilder. Dazu kommen etliche kleinere Beiträge, in denen Gouverneure über ihre Wahrnehmungen oder Aktivitäten berichten. Götzen, Aufstand. Leutwein, Jahre. Der erhaltene Nachlass des Sohnes (BA-K N 1145) enthält nur wenige Papiere des Gouverneurs. Puttkamer, Gouverneursjahre. Auf S. 271 erwähnt der Autor, dass er einige Passagen »fast wörtlich meinem Tagebuch entnommen« habe. Leider hat sich dieses offenbar nicht erhalten. Puttkamers Nachlass (BA-B N 2231) erweist sich als recht dürftig.
1. Einleitung
Deutsch-Neuguinea.94 Allerdings setzt er den Schwerpunkt auf seine Tätigkeit als Kaiserlicher Richter und als Vizegouverneur. Den eigentlichen »Gouverneursjahren« widmet Hahl dagegen lediglich ein Drittel des Textes. Inhaltlich wirkt die Schrift nüchtern, wobei auffällig häufig auf die ökonomischen Vorzüge dieser ozeanischen Kolonie hingewiesen wird.95 Während Hahls kolonialapologetische Ansichten meist im Subtilen verharren, lässt sich das von der Schrift von Erich Schultz[-Ewerth] über Samoa ebenso wenig behaupten wie von Seitzʼ Erinnerungen über Kamerun und Deutsch-Südwestafrika. Gleiches gilt für die erst nach dem Zweiten Weltkrieg postum erschienene Abhandlung von Schnee über Ozeanien und Deutsch-Ostafrika.96 Besonders diese drei ehemaligen Gouverneure traten nach 1918 immer wieder öffentlich in Erscheinung. Dabei waren sie lautstarke Protagonisten einer Restitution des deutschen Kolonialreiches und verhehlten in den genannten Schriften nichts von dieser Haltung.97 Trotz aller Unterschiede in den Themenschwerpunkten und der jeweiligen Präsentationsform ist der Tenor bei Schultz, Seitz und Schnee stets derselbe: Die kolonialen Vorgehensweisen des Kaiserreiches seien in der Regel human und für die indigenen Bevölkerungen potentiell von Vorteil gewesen, da man diesen zu einer höheren Zivilisationsstufe habe verhelfen wollen. Besonders die britische Regierung hätte lediglich deshalb eine anderslautende Gräuelpropaganda in Szene gesetzt, um das Deutsche Reich als Kolonialmacht zu diskreditieren und sich dessen Besitzungen anzueignen. Bezeichnenderweise publizierte Schnee im Jahr 1924 eine polemische Schrift unter dem Titel »Die koloniale Schuldlüge«, in der er nachzuweisen suchte, dass die deutschen Praktiken eine Wegnahme der ›Schutzgebiete‹ nicht gerechtfertigt hätten. Deren Rückgabe läge deshalb »nicht nur im Interesse jener Länder und ihrer Eingeborenenbevölkerung, sie liegt im Interesse der Menschheit«.98 Auch Liebert muss mit seinen 1925 erschienenen Lebenserinnerungen in diesem Zusammenhang genannt werden. Er war bezeichnenderweise lange vor dem Ersten Weltkrieg ein Anhänger der Alldeutschen Bewegung und fand noch in seinen letzten Lebensjahren den Weg in die NSDAP. Mit Leib und Seele Offizier, fällt die Beschreibung der Amtszeit Lieberts als Gouverneur von Deutsch-Ostafrika in dieser Schrift ungewöhnlich knapp aus, was nicht zuletzt an dem für ihn enttäuschenden Rücktritt gelegen haben mag.99
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Hahl, Gouverneursjahre. In der vorliegenden Studie wird ausschließlich aus dem leichter zugänglichen Nachdruck (1997) zitiert. Das dürfte nicht weiter verwundern, war Hahl doch zwischen 1918 und 1938 Direktor der Deutschen Neuguinea-Compagnie. Seit 1920 war er zudem stellvertretender Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft. Schultz-Ewerth, Erinnerungen; Seitz, Aufstieg, 3 Bde.; Schnee, Gouverneur. Das erst 1964 erschienene Buch Schnees basiert auf mehreren, bereits in den 1920er und 1930er Jahren entstandenen Teilmanuskripten. Diese finden sich in seinem Nachlass: GStA PK Nl Schnee/20, 21a, 22. Während Schultz[-Ewerth] in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren regelmäßig für die nationalkonservative ›Kreuzzeitung‹ schrieb, fungierten Seitz (1920–30) und Schnee (1931–36) als Präsidenten der Deutschen Kolonialgesellschaft. Schnee, Schuldlüge, S. 103. Liebert, Leben.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Neben der Feststellung einer allen diesen Schriften zugrundeliegenden retrospektiven Sichtweise auf das Geschehen, ist generell der Einschätzung Bourdieus zuzustimmen, wonach jeder Verfasser autobiographischer Schriften zwangsläufig als »Ideologe seines eigenen Lebens« angesehen werden muss.100 Das gilt gleichermaßen für die unveröffentlicht gebliebenen Erinnerungsschriften in den Nachlässen Friedrich v. Lindequists und Bruno v. Schuckmanns.101 Zwar bedeutet dieses Fazit keineswegs eine gänzliche Entwertung von Autobiographien, doch erscheint eine sorgfältige Quellenkritik hier besonders angezeigt. Neben Geschäftsschriftgut und Memoirenliteratur stellen zeitnah verfasste und in einer prospektiven Sichtweise verfasste Selbstzeugnisse einen dritten bedeutsamen Quellenkorpus dar. Konkret handelt es sich dabei um Briefe und Tagebücher. Besonders wertvoll für die vorliegende Studie ist eine aus den unterschiedlichsten Nachlässen zusammengetragene Sammlung aus mehreren hundert privatdienstlichen Schreiben.102 Bei diesen Schriftstücken handelt es sich der äußeren Form nach um private Briefe, in denen aber jeweils eine »beamtete Persönlichkeit mit einer anderen berufIiche Themen […] erörtert«.103 Dabei sind entweder die Gouverneure selbst die Verfasser oder die Schreiben wurden von anderen informierten Angehörigen der Kolonialadministration verfasst, welche sich darin wiederum über die Gouverneure und deren Amtstätigkeit äußern. Diese Quellen bieten aufschlussreiche Einblicke namentlich zu Themenfeldern, die im offiziellen Berichtswesen entweder überhaupt nicht, nur am Rande oder in abgeschwächter Form zur Sprache gebracht wurden.104 Dabei eröffnen sich informelle Strukturen, soziale Netzwerke und persönliche Erfahrungshorizonte, die auf anderen Wegen kaum zu erhalten wären. Obwohl diese Briefwechsel ein erstaunlich präzises Korrektiv zu den Dienstakten abgeben, wurde diese Quelle bislang nur ausnahmsweise bzw. wenig systematisch von der Forschung genutzt. Ergänzt werden diese Selbstzeugnisse durch unveröffentlichte Tagebücher, wie sie beispielsweise für Schuckmann, Seitz oder Zech vorliegen. Dazu kommen Privatbriefe an Familienangehörige, die sich etwa von Schnee oder dem Herzog zu Mecklenburg erhalten haben.105 Darüber hinaus wurde eine Fülle von vergleichbaren Quellen aus der Feder von involvierten wie außenstehenden Beobachtern miteinbezogen. Die Rede ist
100 Bourdieu, Illusion, S. 76. 101 BA-K N 1669/1, Lindequist, Erlebnisse; BA-B N 2272/4, Schuckmann, Lebenslauf. 102 Die Schreiben stammen vor allem aus den folgenden Nachlässen: BA-B N 2146 (Bernhard v. König); BA-B N 2345 (Alfred Zimmermann); BA-K N 1053 (Solf); BA-MA N 227 (Curt Morgen); PA-AA NL 8 (Rudolf Asmis); GStA PK Nl Schnee; GStA Nl Waldersee; HZA Nl Hohenlohe-Langenburg. Vereinzelt finden sich solche Schriftstücke auch im Bestand BA-B R 1001 (Reichskolonialamt). 103 Meisner, Archivalienkunde, S. 76. 104 Vgl. etwa ein prägnantes Beispiel aus dem frühen Togo, wo etwa Puttkamer den Personalchef der Kolonialabteilung eindringlich bat, über die bis dahin nur via Privatdienstbrief berichteten Ausschreitungen eines Stationsleiters keinen offiziellen Bericht verfassen zu müssen. Tatsächlich wurden die betreffenden Vorgänge niemals aktenkundig. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 15.9.1892, Schreiben. Siehe hierzu auch Kapitel 4.3.2. 105 BA-B N 2272/2 (Schuckmann); BA-K N 1175/1-3 (Seitz); Museum Fünf Kontinente, Nl Zech; GStA PK Nl Schnee/2; LHA-SN, Nl Großherzogin Marie/32 (Mecklenburg).
1. Einleitung
von Angehörigen der Gouvernements, der Schutztruppe oder der jeweiligen Lokalverwaltung, aber auch von Ansiedlern oder Missionaren. Zum Teil liegen diese Quellen in edierter, häufig aber auch unveröffentlicht im Rahmen von Nachlässen vor.106 Nicht zuletzt angesichts der häufigen Rivalitäten und Konflikte innerhalb der Gesellschaft der Kolonisierenden stellen auch diese Zeugnisse ein wichtiges Korrektiv zu offiziösen ebenso wie zu autobiographischen Quellen dar. Wie in fast allen Studien zur Kolonialgeschichte bleibt an dieser Stelle der Ausdruck des Bedauerns über den Mangel an Schriftzeugnissen der Bewohner Afrikas und Ozeaniens. Ausnahmen bestätigen dabei die Regel. Die Spanne der für diese Arbeit genutzten, genuin indigenen Quellen erstreckt sich daher zwangsläufig vor allem auf die Ebene der einheimischen Eliten. Immerhin lassen sich etwa die Korrespondenzen von Hererooder Nama-Kapitänen mit der deutschen Kolonialverwaltung anführen.107 Für Ostafrika sind mehrere panegyrische Swahili-Gedichte, in der Regel verfasst von Vertretern der arabischen Elite zu nennen, die die Vertreter des europäischen Herrschaftssystems oder dessen vermeintliche Errungenschaften verherrlichen, zum Teil aber auch kritische Töne anschlagen.108 Eine weitere Aushilfe bieten Zeitzeugenbefragungen, wie etwa Interviews aus den 1980er Jahren, bei denen Indigene aus Togo zu Wort kommen.109 Ungeachtet mancher Defizite bietet die Materialgrundlage insgesamt eine aussichtsreiche Basis, um auf dem Wege einer sachkritischen Analyse sowie einer systematischen Gegenüberstellung von Zeugnissen, die sich auf vergleichbare Sachverhalte beziehen, die anvisierten Zielsetzungen realisieren zu können. Am Ende wird es dadurch möglich sein, mit Hilfe der eigenen Äußerungen der Gouverneure aber auch mit denen ihrer Zeitgenossen ein aussagekräftiges Bild dieser Positionselite zu zeichnen.
Tabelle 1: Die deutschen Kolonialgouverneure und ihre Amtszeiten110 Kamerun Julius Frhr. v. Soden
23. April 1885 – 31. März 1891
Eugen Zimmerer
15. April 1891 – 20. Juli 1895111
106 Stellvertretend seien an dieser Stelle die verwendeten Tagebücher etwa von Rudolf Böhmer, Cai Dame, Friedrich Demmler, Wilhelm Eich, Johanna Fellmann, Victor Franke, Rudolf Ganßer, Elisabeth v. Gustedt, Valentin v. Massow, Walther Scherbening, Johannes Spiecker oder Wilhelm Vallentin aufgeführt. Die jeweiligen Nachweise finden sich im Anhang. 107 Leicht zugänglich etwa in: Witbooi, Afrika. 108 Miehe, Kala Shairi; Velten, Suaheli-Gedichte. 109 Simtaro, Togo. 110 Die Zeiträume wurden anhand einer Vielzahl von Einzelquellen ermittelt. Im Folgenden sind ausschließlich die formalen Amtszeiten angeführt, die in erster Linie die dienst- und besoldungsrechtlichen Verhältnisse wiedergeben. Davon zu unterscheiden sind die aufgrund von An- und Abreisen sowie Urlaubs- oder Krankheitszeiten oft erheblich abweichenden tatsächlichen Anwesenheiten vor Ort. Siehe hierzu die Angaben in den Kurzbiographien im Anhang. In der Forschungsliteratur werden die beiden Kategorien mitunter willkürlich kombiniert, so dass oft deutlich abweichende Zeiträume angegeben sind. Vgl. Gründer, Geschichte, S. 291–293. 111 Zimmerer amtierte zuvor (3.8.1888-26.11.1889) als Kaiserlicher Kommissar des Togo-Gebiets.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure Jesko v. Puttkamer
13. August 1895 – 9. Mai 1907112
Theodor Seitz
9. Mai 1907 – 27. August 1910
Otto Gleim
28. August 1910 – 29. Januar 1912
Karl Ebermaier
30. Januar 1912 – 18. Februar 1916
Deutsch-Ostafrika Julius Frhr. v. Soden
1. April 1891 – 18. September 1893
Friedrich Frhr. v. Schele
4. Oktober 1893 – 25. Februar 1895
Hermann Wißmann
26. April 1895 – 3. Dezember 1896113
Eduard Liebert
9. Dezember 1896 – 12. März 1901
Adolf Graf v. Götzen
12. März 1901 – 15. April 1906
Albrecht Frhr. v. Rechenberg
15. April 1906 – 7. Mai 1912
Heinrich Schnee
27. April 1912 – 25. November 1918
Deutsch-Südwestafrika Theodor Leutwein
18. April 1898 – 18. August 1905114
Friedrich v. Lindequist
19. August 1905 – 19. Mai 1907
Bruno v. Schuckmann
20. Mai 1907 – 21. Juni 1910
Theodor Seitz
28. August 1910 – 9. Juli 1915
Togo August Köhler
18. April 1898 – 19. Januar 1902115
Woldemar Horn
1. Dezember 1902 – 11. Mai 1905
Julius Graf v. Zech
11. Mai 1905 – 7. November 1910
Edmund Brückner
31. März 1911 – 19. Juni 1912
Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg
22. Juni 1912 – 25. August 1914
Deutsch-Neuguinea Rudolf v. Bennigsen
1. April 1899 – 19. Juni 1902
Albert Hahl
20. November 1902 – 4. Mai 1915
Eduard Haber
14. Dezember 1917 – 17. November 1919116
Samoa Wilhelm Solf
25. Januar 1900 – 4. November 1911
Erich Schultz[-Ewerth]
19. Juni 1912 – 29. August 1914
112
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Puttkamer war zuvor (16.12.1891-16.11.1893) Kaiserlicher Kommissar des Togo-Gebiets gewesen und tags darauf zum dortigen Landeshauptmann ernannt worden. Dieses Amt hatte er formal bis zum 12.8.1895 inne. Wißmann war vom 8.2.1889 bis 21.2.1891 bereits Kaiserlicher Kommissar von Deutsch-Ostafrika gewesen. Diese Funktion entsprach jedoch nicht der eines Gouverneurs. Leutwein war bereits seit dem 27.6.1895 Landeshauptmann von DSWA. Köhler war bereits seit dem 18.11.1895 Landeshauptmann von Togo. Haber war Ende 1917 zum Gouverneur von Deutsch-Neuguinea ernannt worden, obwohl sich die Kolonie längst in den Händen australischer und japanischer Truppen befand.
2. Dispositionen
Dem von Pierre Bourdieu entwickelten Habitus-Konzept kommt im Rahmen dieser Studie eine zentrale Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang wird davon ausgegangen, dass die diesen Habitus ausmachenden Dispositionen, die wiederum das Denken und die Praktiken von Individuen vorstrukturieren, letztlich das Resultat von Sozialisationsprozessen darstellen. Die damit angesprochene Entwicklung der ›Persönlichkeit‹ eines Menschen mittels konstituierender »Erfahrungen von der materiellen, sozialen und kulturellen Umwelt« wird allerdings bei Bourdieu nicht gesondert untersucht, sondern als gegeben vorausgesetzt.1 An dieser Stelle besteht daher die Notwendigkeit, an einige grundlegende Erkenntnisse der Sozialisationsforschung anzuknüpfen. Der hier verfolgte gruppenbiographische Ansatz zielt in erster Linie auf eine Auslotung des Spektrums derjenigen Dispositionen ab, durch die sich ein möglicher Habitus der Kolonialgouverneure ausgezeichnet haben könnte. Dazu sei einschränkend erwähnt, dass die Genese dieser kognitiven Bestandteile, also die eigentlichen Sozialisationsprozesse und ihre Funktionsweisen, nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen können. Einem solchen Vorhaben würden erhebliche Hindernisse entgegenstehen, da eine simplifizierende Gegenüberstellung vermeintlicher ›Ursachen‹ und deren ›Wirkungen‹ kaum zielführend wäre.2 Ein Problem stellt zudem die Tatsache dar, dass ›Persönlichkeit‹ keineswegs von äußeren Einflüssen alleine determiniert wird. Vielmehr spielt stets auch das genetische Erbe eines Menschen eine Rolle, wobei sich dieser Anteil aber kaum quantifizieren lässt. Nicht zuletzt stellt die damit angeschnittene Anlage-Umwelt-Kontroverse ein umstrittenes Forschungsfeld unterschiedlicher Disziplinen dar.3 Gleichzeitig ist es kaum realisierbar, für ein Individuum oder eine Personengruppe eine hinreichende Quellendichte bereitzustellen, die alle denkbaren äußeren Einflussfaktoren im Zuge einer lebenslangen Sozialisation einschließlich der vielen potentiell wirksamen zufälligen
1 2 3
Geulen, Probleme, S. 4 (Zitat). Vgl. Schweiger, Konstituierung, S. 342f. Beispiele: Asendorpf, Genom-Umwelt-Wechselwirkungen; Neyer/Spinath, Anlage.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Faktoren erfassen könnte. Die schiere Komplexität von Sozialisationsprozessen stünde einem solchen Vorhaben von vornherein entgegen.4 Für die Zielsetzung dieser Studie erscheint ein solches Vorhaben aber ohnehin nicht notwendig. Zwar werden die folgenden Abschnitte nach den Herkunftssphären und den vorkolonialen Lebensstationen der Gruppe zu untergliedern sein, so dass dabei zwangsläufig auch Sozialisationsvorgänge thematisiert werden. Im Fokus des Interesses stehen dabei aber stets die Resultate von Sozialisation und Prägung, d.h. die für die späteren Gouverneure auch tatsächlich belegbaren Einstellungen, Deutungs- und Verhaltensmuster. Zweifellos schließt das immer wieder die Suche nach einschlägigen Indizien und deren Kombination mit möglichen auslösenden Faktoren ein. Auch wird es angesichts der Lückenhaftigkeit historischer Quellen nicht immer zu vermeiden sein, angesichts bestimmter nachgewiesener ›Erfahrungen‹ einzelner Mitglieder der Untersuchungsgruppe entsprechende Rückschlüsse auf ähnlich gelagerte Fälle anderer Gouverneure zu ziehen. Dass dabei mit der gebotenen Zurückhaltung vorzugehen ist, liegt auf der Hand. Ohnehin geht es dabei aber nicht etwa darum, nach identischen Persönlichkeitsstrukturen zu suchen. Vielmehr sollen die jeweils identifizierten Dispositionen miteinander verglichen und dabei mögliche Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen aber auch Abweichungen benannt werden, um letztlich ein bestimmtes Spektrum abzustecken. Am Beginn einer solchen vergleichenden Untersuchung stehen die Herkunftssphären der Gruppe. In diesem Kontext wird nach der Existenz ›Politischer Generationen‹ innerhalb der Untersuchungsgruppe zu fragen sein. Daneben werden die regionale Herkunft sowie die konfessionelle Verteilung thematisiert. Ein besonderes Augenmerk wird anschließend den Konzepten von ›Bürgerlichkeit‹ und ›Adligkeit‹ zu widmen sein. Dabei ist davon auszugehen, dass die Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen und Schichten auch »spezifische Habitusformen« ausbilden.5 Wie noch zu zeigen sein wird, gehörten sämtliche Mitglieder der Untersuchungsgruppe einer dieser beiden sozialen Formationen an. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit sich ein Aufgreifen der jeweiligen kulturellen Praktiken und Grundhaltungen für die Gouverneure nachweisen lässt. Der Absicherung der dabei gewonnenen Erkenntnisse gilt ein Blick auf die Bildungswege. Auch in dieser Hinsicht erleichtert die Zusammensetzung der Untersuchungsgruppe das Vorgehen, besuchten doch alle späteren Gouverneure eine weiterführende Schule und die meisten von ihnen zusätzlich eine Hochschule. Erneut werden deren einschlägige Äußerungen mit Erkenntnissen aus der Sozialisationsforschung abzugleichen sein. Gleiches gilt für die Berufssphären Militär und höheres Beamtentum. In diesem Zusammenhang wird etwa zu fragen sein, ob die Kolonialgouverneure dem zeitgenössischen Ideal des (zivilen wie militärischen) Staatsbeamten nahekamen. Handelte es sich bei ihnen um typische Vertreter einer »adelig-bürgerlichen Amtsaristokratie«?6 Gehör-
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5 6
Allgemein zur Problematik der Analyse von Sozialisationsprozessen: Geulen/Veith, Sozialisationstheorie; Hoerning, Sozialisation; Grundmann, Sozialforschung; Hitzler/Reichertz/Schröer, Wissenssoziologie. Reitmayer, Habitus, 67 (Zitat); Schäfer, Geschichte, S. 115. Hintze, Soziologie, S. 99 (Zitat); Conze, Monarchie, S. 176f.; Raphael, Recht, S. 176.
2. Dispositionen
ten sie damit einer staatsnahen Kaste mit dezidiert konservativer und/oder antidemokratischer Einstellung an? Nach Einbeziehung von Partnerwahl und Familienkonzepten soll schließlich ein erstes Zwischenfazit im Hinblick auf eine Internalisierung der kultur-, schicht- aber auch geschlechtsspezifischen Dispositionen ermöglicht werden. Dieses Profil wird anschließend die Folie für die Analyse der Deutungsmuster und Praktiken der Gouverneure im kolonialen Kontext zu bilden haben.
2.1 Herkunftssphären 2.1.1 Politische Generationen Einen ersten Ansatzpunkt zur Auslotung möglicher Dispositionen innerhalb der Untersuchungsgruppe bietet ein Blick auf die Geburtsjahre. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass jeder Mensch eine »impressive Phase« durchläuft, die etwa zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr angesetzt wird.7 Während dieser Spanne besteht offenbar eine »Prädominanz der ersten Eindrücke«, so dass eine annähernd gleichaltrige Personengruppe durch die Rezeption bestimmter Schlüsselereignisse einen »Grundbestand gemeinsamer Einstellungen, Verhaltensdispositionen und Handlungspotentiale«, sogenannte generationelle Erfahrungen, erwirbt.8 In einer solchen »Erinnerungsgemeinschaft« seien daher bestimmte »inhaltliche Zuschreibungen« erkennbar, durch die sich Menschen innerhalb ihrer Epoche verorten.9 Eine Schwäche dieses Ansatzes liegt allerdings in seiner mangelnden sozialen und kulturellen Differenzierung, so dass sich mit dem Generationenmodell lediglich die politische ›Normalbiographie‹ einer Alterskohorte erfassen lässt. Diese liefert wiederum in erster Linie allgemeine Tendenzen, kaum jedoch generell übertragbare Denk- oder Verhaltensmuster.10 Dieses Defizit wird beim vorliegenden Sample aber wenigstens teilweise kompensiert, da die Kolonialgouverneure fast ausschließlich den gehobenen oder höheren Schichten der wilhelminischen Gesellschaft angehörten, weshalb es sich im Hinblick auf ihre soziale Ausgangsposition um eine verhältnismäßig homogene Gruppe handelt.11 Da die Erkenntnisse der Forschung über politische Generationen im 19. Jahrhundert auf den Selbstzeugnissen von Vertretern eben dieses gesellschaftlichen Milieus basieren, erscheint eine Adaption des Modells zulässig. Das gilt umso mehr, als es sich an dieser Stelle lediglich um die Gewinnung erster Eindrücke handeln soll. Diese werden dann im weiteren Verlauf der Untersuchung zu verfeinern sein. Da die Geburtsdaten der Gouverneure den Zeitraum zwischen 1843 und 1873 abdecken, ergibt sich für das Sample eine ›impressive‹ Spanne, die etwa vom Ende der 1850er
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Fogt, Generationen, S. 127; Doerry, Übergangsmenschen, S. 41 (Zitat); Jaide, Generationen, S. 21. Fogt, Generationen, S. 21, 127 (Zitate); Doerry, Übergangsmenschen, S. 41; Best, Geschichte, S. 383. Reulecke, Söhne, S. 148, 154 (Zitat 1); Daniel, Kulturgeschichte, S. 331 (Zitat 2). Fogt, Generationen, S. 21; Jaeger, Generationen, S. 435, 443; vgl. Zinnecker, Überlegungen, S. 48–50. Vgl. Kapitel 2.1.3.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
bis in die späten 1890er Jahre reicht.12 Während dieser vier Jahrzehnte lassen sich für Deutschland zwei politische Zäsuren ausmachen, die im Sinne einer altersspezifischen Prägung durchaus wirksam werden konnten. Zum einen handelt es sich um den deutschen Einigungsprozess der Jahre 1866 bis 1871 und andererseits um den Übergang von der Reichskanzlerschaft Bismarcks zum ›persönlichen Regiment‹ Kaiser Wilhelms II. Während die Entstehung des deutschen Nationalstaats als einschneidendes Großereignis ohne weiteres einleuchtet, wurden die darauffolgende Bismarck-Ära ebenso wie die Friedensjahre unter dem letzten deutschen Kaiser seitens der Forschung ebenfalls als voneinander abgrenzbare historische Erfahrungsräume identifiziert.13 Unter Verwendung etablierter Termini kommen für die Gouverneure folgende Alterskohorten in Frage:14 1) ›Reichsgründer‹-Generation 2) Generation der ›Wilhelminer‹ 3) ›Gründerzeit‹-Generation.
Die erste Kohorte zeichnet sich durch ein bewusstes Erleben des Entstehungsprozesses des Kaiserreichs aus. Zu ihr zählen die ältesten Gouverneure der Jahrgänge zwischen 1843 und 1850.15 Bei den Betreffenden scheinen die Einigungskriege tatsächlich eine nachhaltige Wirkung entfaltet zu haben. Ohnehin lässt sich für fast alle von ihnen eine persönliche Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg nachweisen. Sowohl der Kriegsfreiwillige Soden als auch die drei Berufsmilitärs Leutwein, Liebert und Schele kämpften mit ihren Regimentern in Frankreich. Die beiden letzteren hatten als junge Offiziere bzw. Offiziersanwärter sogar noch am Krieg gegen Österreich im Jahr 1866 teilgenommen.16 Dass es sich um wirkliche Schlüsselereignisse handelte, belegen etwa die Memoiren Lieberts, worin dieser sein Kriegserlebnis in großer Detailfülle Revue passieren lässt.17 Soden ließ dagegen seine Tübinger Kommilitonen mittels selbstgefertigter Reime am Geschehen teilhaben.18 Für den damals 23-jährigen Kavallerieleutnant Schele, dem sein Vorgesetzter ein »etwas hitziges Temperament« bescheinigte, stellte 12 13
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15 16
17 18
Vgl. Fogt, Generationen, S. 127; Doerry, Übergangsmenschen, S. 41. Doerry, Übergangsmenschen, S. 30f., 41, 179; Peukert, Republik, S. 26f. Allgemein hierzu: Bruch, Wilhelminismus; Ullrich, Großmacht, S. 120–123, 143–153; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 849–854, 1000–1004. Zur ›Reichsgründer-Generation‹: Doerry, Übergangsmenschen, S. 31, 41; Lüdtke, Lebenswelten, S. 62. Zu den ›Wilhelminern‹: Doerry, Übergangsmenschen, passim; Peukert, Republik, S. 26f. Zur ›Gründerzeit-Generation‹: ebd. Die Begriffe ›Alterskohorte‹ und ›Generation‹ werden hier synonym verwendet. Da sich in der Literatur bislang keine einheitliche Terminologie durchgesetzt hat und der Generationenbegriff kaum exakt eingrenzbar ist, erscheint dies zulässig. Allgemein hierzu: Mannheim, Problem; Jaeger, Generationen, S. 435, 443f., 447–449; Herbert, Best, S. 42; ders., Generationen, S. 95. Dabei handelt es sich um Zimmerer, Soden, Schele, Leutwein, Liebert. Der hohe Anteil an Berufsoffizieren resultiert nicht etwa aus einem hohen Militarisierungsgrad dieser Altersgruppe. Es handelt sich vielmehr um ein rückwirkendes Phänomen, da in der Frühzeit des deutschen Kolonialismus überproportional viele Militärs als Gouverneure eingesetzt wurden. Liebert, Leben, S. 23–75. Der Abschnitt umfasst beinahe ein Viertel des Buches. Ow, Soden, S. 251.
2. Dispositionen
der Krieg gegen Frankreich ohnehin ein großes Abenteuer dar.19 Auch wenn es für Leutwein an einschlägigen Selbstzeugnissen mangelt, nahm er im Rahmen des badischen Kontingents nicht nur am Feldzug von 1870/71 teil, sondern wurde anschließend – ein Hinweis auf eine positive Beurteilung durch seine Vorgesetzten – an die Berliner Kriegsakademie kommandiert.20 Lediglich Zimmerer war für den Militärdienst als untauglich befunden worden und verfolgte die Ereignisse aus der Ferne.21 Es dürfte kaum überraschen, dass die Person des ersten Reichskanzlers bei den Angehörigen dieser Alterskohorte in besonders hohem Ansehen stand. Ein Beispiel liefert wiederum Liebert. Nicht nur seinen Schreibtisch im ostafrikanischen Daressalam zierte dessen Porträt, insgesamt verteilten sich unter Lieberts Ägide ganze neun Bismarckbilder im dortigen Gouverneurspalast.22 Auch beschwor er noch im Jahr 1912 einen »echt Bismarckschen Geist« und erklärte sein Idol zum »ersten und einzigen Staatsmann« überhaupt.23 Landsmannschaft scheint bei dieser Bismarck-Verehrung nicht zwangsläufig eine Rolle gespielt zu haben, zählte doch auch der Württemberger Soden zu dessen Anhängern.24 Für diese ältesten unter den späteren Gouverneuren verschmolzen dabei offenbar militärische Erfolgserlebnisse, die mit der Reichsgründung einhergehende Euphorie sowie die Person Bismarcks zu einem Fixpunkt ihrer politischen Prägung.25 Die mittlere der hier interessierenden Alterskohorten, die sogenannten Wilhelminer, hat bereits Martin Doerry eingehend untersucht.26 Die betreffenden Gouverneure waren zum Zeitpunkt der Ausrufung des Kaiserreiches noch im Kindes- und Jugendalter und erhielten ihre politische Sozialisation erst während der Amtszeit Bismarcks als Reichskanzler.27 Mit vierzehn Individuen lässt sich mehr als die Hälfte der Gouverneure dieser Kohorte zuordnen. Die Spanne erstreckt sich von dem 1853 geborenen Hermann Wißmann bis zu Eduard Haber (1866).28 Zwar praktizierten auch die Angehörigen dieser Gruppe eine ausgeprägte Erinnerungskultur in Bezug auf den deutsch-französischen Krieg, doch basierte diese nicht auf eigenem Erleben. Stattdessen hatte das kollektive Empfinden einer verspäteten Geburt eine umso größere Stilisierung des Geschehens als »unauslöschliche herrliche Jugenderinnerung« zur Folge.29 Wißmann war beispielswei19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
Beurteilung Scheles durch Prinz Albrecht v. Preußen (1871), zitiert nach: Priesdorff, Führertum 10, S. 268. GLA-KA, 238/1163, Personalakte Leutwein; GLA-KA, 456E/11460, Personalbogen Leutwein. PA-AA P1/17195, Zimmerer, o.D., Lebenslauf. GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 87, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 7.3.1897, Schreiben; BA-K N 1053/1, Bl. 96f., Solf (Daressalam) an seine Mutter vom 29.5.1898, Schreiben. Liebert, Bismarck, S. 3. Ow, Soden, S. 251. Während seines Heimaturlaubs 1887 besuchte Soden den Reichskanzler in Friedrichsruh. Vgl. Nipperdey, Machtstaat, S. 83f.; Ullrich, Großmacht, S. 21; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 328f., 730; Kahlenberg, Epochenjahr, S. 67f.; Pyta, Hindenburg, S. 16. Doerry, Übergangsmenschen. Peukert, Republik, S. 26. Den ›Wilhelminern‹ wurden zugeordnet: Wißmann, Puttkamer, Schuckmann, Köhler, Bennigsen, Rechenberg, Lindequist, Ebermaier, Solf, Seitz, Horn, Gleim, Götzen, Haber. So der 1854 geborene Eduard Breuningen, zitiert nach: Doerry, Übergangsmenschen, S. 75, 109; vgl. Lüdtke, Lebenswelten, S. 62; Zirkel, Militaristen, S. 30.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
se als 16-jähriger Kriegsfreiwilliger abgelehnt worden, doch deutet die Tatsache, dass er seinem Sohn mehr als zwei Jahrzehnte später den Zweitnamen ›Sedan‹ – nach der Entscheidungsschlacht am 9. September 1870 – gab, auf eine nachträgliche Kompensation der verpassten Kriegsteilnahme hin.30 Zwar gab es auch abweichende Altersgenossen, wie beispielsweise Schuckmann, der das Geschehen in seinen unveröffentlichten Memoiren gänzlich ausblendet. Er schildert dafür aber seine patriotischen Empfindungen in anderen Kontexten, etwa beim Ertönen des »Preußenliedes«.31 Auch sahen sich die Angehörigen dieser Altersgruppe einer »merkwürdig penetranten« Militarisierung des Alltagslebens ausgesetzt, die mit einem Bedeutungszuwachs soldatischer Werte und Normen auch im zivilen Bereich einherging.32 Bismarck stellte auch für die Wilhelminer die überragende Identifikationsfigur dar, verkörperten sich in dessen Person doch Reichsgründer und idealer Staatsmann gleichermaßen.33 Während Köhler dessen ›Denkwürdigkeiten‹ auch in Lomé nicht entbehren wollte, glaubte wiederum Schuckmann, dass die »fremden Nationen uns um Bismarck beneiden« und »fast die ganze Welt seine Überlegenheit anerkennt«.34 Doerry hat eine Reihe weiterer spezifischer Denkmuster für diese Alterskohorte herausgearbeitet. Danach seien ein Mangel an Selbstkritik, ausgeprägte Autoritätsfixierung, Systemkonformität, Aggressivität, aber auch Harmonieorientierung deren wesentliche Kennzeichen gewesen.35 Auf die Belastbarkeit einiger dieser aus der Analyse publizierter Memoiren gewonnenen Zuordnungen wird noch zurückzukommen sein. In die dritte der hier zu behandelnden Altersgruppen lassen sich die zwischen 1868 und 1873 geborenen Gouverneure einordnen.36 Die prägende Phase dieser GründerzeitGeneration fällt in das erste Jahrzehnt der Regentschaft Wilhelms II. Diese Zeitspanne zeichnete sich insbesondere durch den Gegensatz rasanter Veränderungen in Gesellschaft, Wissenschaft und Technik auf der einen bei gleichzeitig wachsenden Zukunftsängsten auf der anderen Seite aus. Nicht ohne Berechtigung wurden diese Jahre als Ausgangspunkt eines »Zeitalters der Nervosität« beschrieben.37 Doerry attestiert dieser Altersgruppe eine weniger ausgeprägte Neigung zur Systemkonformität sowie eine höhere Fähigkeit zur Selbstkritik als das bei den Älteren der Fall gewesen sei. Angesichts einer längeren Friedensperiode sei die ›Gründerzeit‹Generation auch ohne einschneidende nationale Identifikationserlebnisse geblieben, stattdessen sollen die Betreffenden ausgeprägtere Adoleszenzkrisen erfahren haben, was wiederum eine geringere Bindung an Autoritäten zur Folge gehabt habe.38 Im
30 31 32 33 34 35 36 37 38
Vgl. Perbandt u.a., Wissmann, S. 4f. BA-B N 2272/4, S. 46, Schuckmann, Tgb. (9.5.1888). Friedrich Meinecke, zitiert nach: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 881. Kritisch zum Postulat einer gesamtgesellschaftlichen Militarisierung: Ziemann, Sozialmilitarismus. Vgl. Kapitel 2.3.1. Doerry, Übergangsmenschen, S. 179. ANT FA 1/30, Bl. 192–196, Bestandsverzeichnis von Köhlers Privatbibliothek; BA-B N 2272/4, S. 67, Schuckmann, Tgb. (19.9.1888); vgl. ebd., S. 73 (30.11.1888); Puttkamer, Staatsminister, S. 17. Doerry, Übergangsmenschen, S. 33f., 55f., 66, 155–173. Dieser Gruppe wurden zugeordnet: Zech, Hahl, Schultz, Brückner, Schnee, Mecklenburg. Radkau, Zeitalter; Ullrich, Großmacht, S. 288; Rohkrämer, Moderne, S. 52f.; Bösch, Geheimnisse, S. 31f. Doerry, Übergangsmenschen, S. 34, 187f.
2. Dispositionen
Widerspruch zu anderen Forschungspositionen glaubt Doerry dieser Altersgruppe geradezu einen »Widerwillen gegen […] die Bismarck-Verehrung« zuschreiben zu können.39 Unter den Gouverneuren dieser Altersgruppe lassen sich zumindest Schnee und Schultz als Gegenbeispiele anführen.40 An solchen Widersprüchen offenbaren sich gleichzeitig die Grenzen des Generationenmodells. Auf der Basis der bisherigen Eindrücke erscheint daher eine Erweiterung der Perspektive geboten.
2.1.2 Region und Konfession Einen weiteren Mosaikstein für die Auslotung des Sozialprofils der Gruppe liefert die regionale Herkunft. Angesichts des während der ersten Lebensjahre vieler Gouverneure stattfindenden industriellen Take-off in Mitteleuropa stellt nicht zuletzt das Aufwachsen in urbanen oder ländlichen Räumen einen potentiell relevanten Aspekt dar. Zuvor gilt der Blick aber der geographischen Verteilung der Geburtsorte. Wenig überraschend ergibt sich dabei ein deutliches Übergewicht preußischer Gouverneure. Während sich der Anteil des größten Bundesstaates an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs anfangs auf drei Fünftel bezifferte, waren achtzehn Individuen (72 Prozent) der Gruppe Preußen.41 Unter Berücksichtigung der territorialen Veränderungen bis 1866 befanden sich unter diesen allerdings zwei Kurhessen (Gleim, Köhler), ein Hannoveraner (Bennigsen) und zwei Rheinländer (Ebermaier, Haber), während Liebert in SchleswigHolstein geboren wurde. Nach Abzug von Horn und Schnee, die beide in der preußischen Provinz Sachsen geboren wurden, verbleiben zehn aus dem ostelbischen Altpreußen stammende Gouverneure. Unter den Nicht-Preußen kam einer aus Mecklenburg-Schwerin, während die übrigen sechs auf die süddeutschen Bundesmitglieder Bayern, Württemberg und Baden entfallen. Gemessen an der Reichsbevölkerung war demnach der Südwesten leicht überrepräsentiert. Noch mehr traf das auf Brandenburg-Berlin, einem der Agglomerationszentren der Zeit, zu. Obwohl der wirtschaftliche Boom seit der Jahrhundertmitte auch die niederrheinisch-westfälische Industrieregion sowie das sächsisch-thüringische Ballungsgebiet erfasst hatte, stammten verhältnismäßig wenige Gouverneure aus diesen Regionen.42 Angesichts des breiten Herkunftsspektrums lässt sich letztlich keine dominierende »provinziale mentale Einfärbung« bei den deutschen Kolonialgouverneuren feststellen.43 Die leicht überproportionale Gewichtung zugunsten Ostelbiens wirft jedoch die Frage auf, ob der dortige Kleinadel, die sogenannten ›Junker‹, ein bevorzugtes Rekrutierungspotential dargestellt haben, wie dies beispielsweise im preußischen Offizierkorps
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Ebd., S. 188 (Zitat); vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 771; Budde, Bürgerleben, S. 373. Schultz-[Ewerth], Deutschland, S. 386f.; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 1.3.1900, Schreiben; vgl. Abermeth, Schnee, S. 69. Hohorst/Kocka/Ritter, Materialien, S. 43. Der in Madrid geborene Rechenberg wurde als Preuße gezählt. Zur Verteilung der Bevölkerung nach Großregionen (1870): Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 150. Faulenbach, Bergassessoren, S. 238 (Zitat).
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lange der Fall war.44 Eine Ausleuchtung der konkreten Lebensumstände vermag hierzu weitere Aufschlüsse zu liefern. Tatsächlich wurden neun der späteren Gouverneure in Gemeinden mit weniger als zweitausend Einwohnern und somit in ländlichen Räumen geboren. Unter diesen befinden sich aber lediglich vier Ostelbier, von denen Brückner als nichtadliger Sohn eines höheren Beamten ohne Landbesitz von vornherein ausscheidet. Beim Grafen Götzen liegt der Fall etwas komplexer. Er siedelte im Alter von fünf Jahren mit seiner Familie nach Frankfurt am Main über, nachdem der Vater die beiden schlesischen Rittergüter verkauft hatte und fortan von seinen Kapitalerträgnissen lebte. Ein einschlägiger Hintergrund ist daher bei Götzen prinzipiell zwar vorhanden, ob er aber als typischer Sohn eines Gutsbesitzers gelten kann, ist zumindest fraglich.45 Eine Abkunft aus dem grundbesitzenden ostelbischen Kleinadel kann somit lediglich für Lindequist und Schuckmann festgestellt werden.46 Zusätzlich muss auch Puttkamer in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Obwohl in Berlin geboren, besaß sein Vater im pommerschen Karzin insgesamt 1.053 Hektar Land.47 Angesichts dieser drei Individuen kann von einem übermäßigen Anteil des ostelbischen ›Junkertums‹ unter den Gouverneuren aber nicht gesprochen werden.48 Abweichend von der allgemeinen Bevölkerungsverteilung im Deutschen Reich ist stattdessen bei vielen Gouverneuren ein urbaner Hintergrund feststellbar.49 Dabei übertrifft die Untersuchungsgruppe sogar die übrige höhere Beamtenschaft bei weitem. Die nachfolgende Aufstellung über die Herkunftsverteilung der Gouverneure nach der Größe der jeweiligen Geburtsorte mit den entsprechenden Vergleichswerten für Gesamtbevölkerung und obere Verwaltungsbeamte macht diese Unterschiede sichtbar.
44 45 46 47
48 49
Demeter, Offizierkorps, S. 20. Der Verkauf der beiden Familiengüter Scharfeneck und Tunschendorf erfolgte 1871 für 226.000 Reichstaler. Lindequist wuchs auf dem Gut Wostevitz auf Rügen, Schuckmann dagegen auf dem väterlichen Gut in Rohrbeck bei Arnswalde (Pommern) auf. Buchsteiner, Großgrundbesitz, S. 215. Zur mentalen Orientierung der Familie Puttkamers auf den Landbesitz: Puttkamer, Staatsminister, S. 12f. Zum Gut Karzin als Stammsitz dieses Zweigs der Familie: Ebd., S. 13, 25, 204. Vgl. Gann/Duignan, Rulers, S. 89f., die anhand einer wenig repräsentativen Auswahl deutscher Kolonialbeamter von einem Herkunftsschwerpunkt im Osten Deutschlands ausgehen. Vgl. ebd. Diese konstatieren einen überwiegend ruralen Hintergrund für die deutschen Kolonialbeamten. Allgemein zu möglichen Auswirkungen urbaner Herkunft: Lenger, Großstadtmenschen, passim.
2. Dispositionen
Tabelle 2: Herkunftsorte der Gouverneure50 Geburtsortgröße (Einwohner)
Bevölkerung insgesamt (%)
höhere Verwaltungsbeamte (%)
Gouverneure (%)
Landgemeinden (unter 2.000)
63,9
48,4
36,0
Klein- und Mittelstädte (2.000100.000)
31,3
44,7
44,0
Großstädte (über 100.000)
4,8
6,9
20,0
Die für die Gouverneure ermittelten Werte verschieben sich noch mehr zugunsten des städtischen Umfelds, werden Mobilitäten im Kindesalter einbezogen. Sowohl die Familien von Götzen und Bennigsen als auch von Gleim, Liebert, Soden, Schnee und Wißmann siedelten vom flachen Land oder aus Kleinstädten in deutlich urbanere Räume über. Zum Teil handelte es sich bei den Vätern um Offiziere oder höhere Beamte, deren beruflicher Aufstieg sich in Wohnsitzwechseln in ein städtisches Umfeld widerspiegelte.51 Zusätzlich erlebten nicht wenige der späteren Gouverneure hautnah mit, wie sich die Klein- und Mittelstädte ihrer Kindheit im Zuge einer rasanten Industrialisierung binnen weniger Jahre in pulsierende Metropolen verwandelten.52 Zum Beispiel erhöhte sich die Bevölkerung im westfälischen Elberfeld-Barmen während der ersten beiden Lebensjahrzehnte des dort geborenen und aufgewachsenen Ebermaier von 84.000 auf 190.000 Einwohner.53 Eindrücke von beschleunigter Urbanisierung und Industrialisierung wird auch Bennigsen in seiner Heimatstadt Hannover erhalten haben, wo sich die Zahl der Einwohner ebenfalls verdoppelte.54 In diesem Zusammenhang sind ferner die zumindest zeitweise in Berlin aufgewachsenen Puttkamer, Schele, Schultz und Solf zu
50
51
52 53
54
Werte zur Gesamtbevölkerung (1871) aus: Hohorst/Kocka/Ritter, Materialien, S. 43. Die Zahlen für die höheren Verwaltungsbeamten entstammen einer Stichprobe aus rund fünfhundert Individuen, die meist zwischen 1851 und 1860 geboren wurden. Giese, Persönlichkeit, S. 72 (Tab. 13). Beispielsweise begann der gymnasiale Werdegang Gleims in Glogau und führte ihn über Breslau nach Berlin. Sein Vater war höherer preußischer Eisenbahnbeamter. Liebert wurde als Sohn eines Berufsoffiziers in Rendsburg geboren, doch zog die Familie kurz darauf nach Münster, dann nach Königsberg und Berlin. Soden kam nach dem frühen Tod seiner Eltern im Alter von drei Jahren nach Stuttgart. Auch die Eltern Schnees zogen aus dem rund 6.000 Einwohner zählenden Neuhaldensleben in das mehr als viermal so große Nordhausen. Ein hohes Maß an Mobilität lag auch bei Wißmann vor, dessen Vater ebenfalls höherer Beamter war. Der Sohn besuchte zwischen 1864 und 1870 die Gymnasien in Erfurt, Kiel und Neuruppin. Liebert, Leben, S. 8f.; Ow, Soden, S. 250; Abermeth, Schnee, S. 49; Perbandt u.a., Wißmann, S. 1–4; vgl. Budde, Bürgerleben, S. 71. Allgemein zur Industrialisierung in Deutschland: Kiesewetter, Revolution. Ebermaier wurde 1861 in Elberfeld geboren, besuchte dort Vorschule und Gymnasium. Nach Studium, Referendars- und Assessorzeit war er zwischen 1897 und 1901 in seinem Geburtsort als Landrichter tätig. Elberfeld-Barmen zählte zuletzt 299.000 Einwohner. Zahlen nach: Stürmer, Reich, S. 53; vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 115. Die Einwohnerschaft Hannovers wuchs zwischen 1871 und 1890 auf mehr als 163.000. Bennigsen lebte dort zwischen 1869 und 1878 sowie nochmals ab 1881. Zahlen nach: Bevölkerung und Wirtschaft, S. 92.
39
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
nennen. Die preußische Hauptstadt entwickelte sich in den Jahren ihrer Kindheit und Jugend zur Spreemetropole und Kapitale des Kaiserreichs, wobei sich die Einwohnerzahl vervierfachte.55 Die damit einhergehenden Veränderungen in Ortsbild und sozialer Zusammensetzung, aber auch der allgemeine technische Fortschritt wurden von den heranwachsenden Gruppenmitgliedern zwangsläufig wahrgenommen. Andererseits blieben besonders im urbanen Umfeld Phasen wirtschaftlicher Stagnation ebenso wenig unbemerkt wie andere wirkliche oder vermeintliche Negativerscheinungen der Moderne.56 Selbst den in ländlichen Regionen geborenen Gouverneuren blieben die vielfältigen Transformationsprozesse der Zeit keineswegs verborgen, kamen sie doch beim Eintritt in eine höhere Schule, spätestens aber mit Beginn des Universitätsstudiums ebenfalls mit dem städtischen Milieu in Berührung.57 Während bei vielen Samplemitgliedern aufgrund ihres urbanen Hintergrundes eine positive Einstellung gegenüber den einschlägigen Lebensformen angenommen werden kann, stand ein Teil von ihnen einem als dekadent wahrgenommenen Großstadtleben ablehnend gegenüber.58 Eindeutig nachweisen lässt sich eine solche Einstellung bei Liebert, der die »übereilte massenhafte Industrialisierung« kritisierte, da diese »unser Volk von der Scholle gelöst, in die Städte getrieben, es entnationalisiert und demoralisiert« habe. Seine Philippika gipfelte in den Worten: »Gott schuf das Land, der Mensch die Stadt, der Teufel die Großstadt!«59 Auch Seitz klagte über die »nichtigen und blödsinnigen Kinkerlitzchen […], mit denen die Zivilisation moderner Großstädte unser Leben ausstaffiert« habe, weshalb die Ausbildung innerlich stabiler »Charaktere« dort kaum möglich sei.60 Es verwundert kaum, dass die Gutsbesitzersöhne Lindequist und Schuckmann vergleichbare Anschauungen vertraten. Während Lindequist sein Landgut als sein »Tuskulum« dem »Strudel der Großstadt« gegenüberstellte, hatte Schuckmann im preußischen Abgeordnetenhaus das Berliner Nachtleben öffentlich als »Sauwirtschaft« bezeichnet und den Hauptstädtern empfohlen, sich »zeitiger schlafen zu legen«. Die Presse kanzelte ihn daraufhin als »Peter vom Dorfe« ab, der »fern vom heimatlichen Froschteich nur Gefahren und Gespenster sieht«.61 In diesen Beispielen artikulierte sich zugleich die Kontraposition einer hitzig ausgetragenen Strukturwandel-Debatte über
55
56 57 58 59 60 61
Unter Einbeziehung von Charlottenburg wuchs die Einwohnerzahl Berlins zwischen 1850 und 1890 auf mehr als 1,66 Mio. Stürmer, Reich, S. 53; Hohorst/Kocka/Ritter, Materialien, S. 45; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 35; vgl. Lüdtke, Lebenswelten, S. 65f.; Rusinek, Offiziere, S. 47. Rohkrämer, Moderne, S. 37. Neben einer Wirtschaftskrise im Jahr 1857 ist vor allem der ›Gründerkrach‹ zu nennen, eine sechs Jahre andauernde ökonomische Depression. Vgl. Budde, Bürgerleben, S. 208. Siehe auch Kapitel 2.2.3. Rohkrämer, Moderne, S. 40f.; Reulecke, Urbanisierung, S. 32, 98, 100. Liebert, Leben, S. 11; vgl. Rusinek, Offiziere, S. 47f. Seitz, Aufstieg 3, S. 34f. GStA PK Nl Schnee/43, Lindequist (Macherslust) an Schnee vom 8.12.1919, Schreiben; Berliner Tageblatt Nr. 101 vom 25.2.1907. Zur zeitgenössischen Kritik an der Berliner ›Halbwelt‹: Nipperdey, Arbeitswelt, S. 101.
2. Dispositionen
den Gegensatz zwischen Agrar- und Industriestaat, respektive zwischen Tradition und Moderne.62 Einen weiteren Anhaltspunkt zur Annäherung an das Sozialprofil der Gouverneure liefert deren konfessionelle Zugehörigkeit. Erneut lässt sich eine erhebliche Abweichung von der übrigen Bevölkerung feststellen. Lag der Anteil der Katholiken in Deutschland im Jahr der Reichseinigung bei etwas mehr als einem Drittel, beziffert sich der entsprechende Wert bei den Gouverneuren nur auf sechzehn Prozent.63 Während somit kein einziger Angehöriger des jüdischen Glaubens oder eines entsprechenden familiären Hintergrunds zum Gouverneur avancierte, waren lediglich vier von ihnen römisch-katholischer Konfession, darunter die beiden aus dem Königreich Bayern stammenden Zech und Zimmerer sowie der Rheinländer Haber.64 Bei Rechenberg hatte sich offenbar die Familie seiner aus Böhmen stammenden Mutter gegenüber dem protestantischen Vater durchsetzen können.65 Der niedrige Anteil an Katholiken relativiert sich allerdings angesichts vergleichbarer Berufsgruppen, namentlich im Königreich Preußen. Annähernd deckungsgleiche Werte ergeben sich für die dortige höhere Beamtenschaft ebenso wie für das Offizierkorps.66 Mit rund einem Fünftel lag der katholische Anteil in der deutschen Studentenschaft auf einem ähnlich niedrigen Niveau.67 Ein überproportional großes protestantisches Element findet sich selbst unter bayerischen Offizieren, so dass die Vermutung einer Benachteiligung der Katholiken naheliegt und auch seitens der Forschung diskutiert wurde.68 Ein mögliches Gegenargument liefert freilich die konfessionelle Zusammensetzung der von staatlicher Repression kaum betroffenen selbständigen Unternehmerschaft, in der Katholiken ebenfalls deutlich unterrepräsentiert waren.69 Auch hatte die Furcht der Verfechter eines säkularisierten Nationalstaats vor dem politischen Katholizismus seit dem Ende des ›Kulturkampfes‹ spürbar nachgelassen, so dass sich das wechselseitige Verhältnis langsam normalisierte.70 Auf die zeitweilige Zurücksetzung von Katholiken besonders in Preußen sowie in der Reichsverwaltung wirkte sich das aber erst mit einiger Verzögerung aus. Zugleich galt das evangelische Bürgertum als besonders leistungsorientiert und somit für den Staatsdienst besser geeignet, während die Katholiken noch einige Zeit unter dem Verdacht standen, ›ultramontan‹
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65 66 67 68 69 70
Zur adligen Kritik am Großstadtleben: Malinowski, König, S. 68–72. Zur zeitgenössischen Debatte um einen Strukturwandel: Harnisch, Agrarstaat. Hohorst/Kocka/Ritter, Materialien, S. 53; vgl. Hiery, Kolonialverwaltung, S. 187, 190. Ungeachtet des gänzlichen Fehlens eines Gouverneurs mit jüdischen Wurzeln lassen sich zwei hochrangige Kolonialbeamte anführen, nämlich Kolonialdirektor Paul Kayser und der Kolonialstaatssekretär Bernhard Dernburg. Beide waren allerdings protestantischer Konfession und müssen generell als Ausnahmen gewertet werden. Siehe die Kapitel 4.2, 4.3.1, 4.5.3. Mit entgegengesetzter Konstellation hatten die Mütter von Soden und Solf ihre konfessionellen Vorstellungen gegenüber den katholischen Vätern behauptet. Ow, Soden, S. 251; Vietsch, Solf, S. 21. Süle, Bürokratietradition, S. 195 (Tab. 30); Bald, Offizier, S. 77 (Tab. 6). Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1216; vgl. Dove, Bildungsbürger, S. 304f.; Hohorst/Kocka/ Ritter, Materialien, S. 55. Rumschöttel, Offizierkorps, S. 236–238; Wunder, Bürokratie, S. 92. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 117. Ebd., S. 897–902; Wunder, Bürokratie, S. 92.
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und damit in politischer Hinsicht weniger zuverlässig zu sein.71 Zudem war der katholische Bevölkerungsteil wirtschaftlich schwächer und stärker ländlich geprägt. Die Folge war ein insgesamt niedrigeres Bildungsniveau, was sich zwangsläufig auf die Rekrutierung für den höheren Staatsdienst auswirken musste.72 Insgesamt zeichnen diese Faktoren für die konfessionelle Gliederung der Gruppe der Gouverneure verantwortlich. Ein Blick auf die Ernennungsumstände der vier Katholiken macht dies deutlich: Bei Graf Zech ebenso wie beim Freiherrn v. Rechenberg entfaltete nicht zuletzt das Adelsprädikat eine ausgleichende Wirkung, da dieses nach zeitgenössischer Einschätzung eine loyale Einstellung gegenüber Staat und Regierung implizierte. Durch das berufliche Vorleben wurde dieser Eindruck befestigt, da Zech aus dem bayerischen Offizierkorps in den Reichsdienst überwechselte und Rechenberg aus dem konsularischen Dienst kam und zudem ein Patent als Reserve-Offizier in einem exklusiven preußischen Garderegiment vorweisen konnte. Nicht zuletzt bekleideten die Väter der beiden höhere Beamtenstellungen, was sie und ihre Söhne als zuverlässig auswies.73 Dieser Aspekt traf auch auf den erst nach seiner Amtszeit als Gouverneur nobilitierten Zimmerer zu, dessen Vater ebenfalls höherer Beamter war. Bei Haber handelt es sich in zweifacher Hinsicht um einen Sonderfall. Der Weg in die Laufbahn als höherer Bergbeamter wurde ihm durch seinen familiären Hintergrund entscheidend geebnet, war doch der Vater Bergwerksdirektor mit entsprechenden Einflussmöglichkeiten. Beim Übertritt in den Kolonialdienst, erst recht aber bei seiner Ernennung zum letzten Gouverneur von Deutsch-Neuguinea dürfte die konfessionelle Zugehörigkeit nicht zuletzt angesichts seiner fachlichen Expertise in den Hintergrund getreten sein.74 Die individuellen Voraussetzungen der katholischen Gouverneure lassen den Schluss zu, dass eine Zugehörigkeit zur ›falschen‹ Konfession kein generelles Ausschlusskriterium darstellte, doch durften gleichzeitig keine Zweifel an der »erprobten konservativen Gesinnung« des Betreffenden bestehen.75 Zwar mussten auch die protestantischen Samplemitglieder exklusive Kriterien für den Zugang zum höheren Staatsdienst erfüllen, doch wurden diese in der Regel weniger rigoros eingefordert. Daher muss beispielsweise bezweifelt werden, ob die aus Aufsteiger-Familien stammenden Hahl, Köhler und Leutwein das Gouverneursamt erreicht hätten, wenn sie katholischer Konfession gewesen wären. Somit bildete die Praxis, Katholiken nur unter den genannten Voraussetzungen in den Kreis der Funktionseliten aufzunehmen, einen Bestandteil des Instrumentariums zur Wahrung der Homogenität der Gruppe im Hinblick die geforderte ›Staatstreue‹.
71 72 73 74
75
Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 861; Dove, Bildungsbürger, S. 164. Nipperdey, Arbeitswelt, S. 556; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 428f.; Henning, Beamtenschaft, S. 86; Wunder, Bürokratie, S. 92. Rechenbergs Vater war Protestant und ein ebenso langjähriger wie erfolgreicher Diplomat im preußischen bzw. Reichsdienst, während Zechs Vater als Richter in der bayerischen Justiz tätig war. Zur Ernennung Habers zum letzten deutschen Kolonialgouverneur: Kapitel 4.7. Ob dieser zuvor aus konfessionellen Gründen bei der Besetzung des Gouverneurspostens für Deutsch-Ostafrika übergangen worden war, muss Spekulation bleiben. BA-B R 8034-III/2, Tägliche Rundschau vom 21.2.1912; vgl. Berliner Tageblatt vom 23.5.1912, zitiert nach: Sack, Vorwort, S. XXVIII, Anm. 15. Süle, Bürokratietradition, S. 195 (Zitat); Wunder, Bürokratie, S. 92.
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2.1.3 Adlige und bürgerliche Elternhäuser War der Fokus bislang auf allgemeinere Aspekte der Sozialisation gerichtet, soll im Folgenden das Gruppenprofil stärker ausdifferenziert werden. Zu diesem Zweck wird auf die Startpositionen der Gouverneure sowie auf etwaige Veränderungen während ihrer ersten Lebensphasen einzugehen sein. Den Ausgangspunkt dafür markiert die soziale Herkunft, determiniert doch die Familie als »Hort des sozialen und ökonomischen Kapitals« die Chancen in Beruf und Gesellschaft wesentlich.76 Zwar lässt sich weder kollektives noch individuelles Denken und Handeln ausschließlich vom Elternhaus ableiten, doch sind dessen Einflüsse auf die Ausformung von Selbst- und Fremdbildern ebenso wie auf die geistige und moralische Einstellung kaum zu überschätzen.77 Erste Eindrücke liefern die Väterberufe. Dieser Zugriff bestätigt das erwähnte hohe Maß an sozialer Homogenität, lassen sich doch sämtliche Gouverneure den gehobenen und höheren Schichten des Kaiserreichs zuordnen. Ein knappes Viertel von ihnen gehörte sogar der Spitzengruppe der wilhelminischen Gesellschaft an. Während diese Feststellung beim Herzog zu Mecklenburg keiner weiteren Erklärung bedarf, wuchsen fünf andere Gouverneure in Grundbesitzerfamilien auf. Weitere fünfzehn und damit die überwiegende Mehrzahl stammten aus den ›gebildeten‹ Kreisen, gehörten also der gehobenen Mittelschicht an. Ihre Väter waren entweder höhere Beamte, Offiziere, protestantische Geistliche oder Lehrer mit akademischer Ausbildung.78 Lässt sich bei den meisten Gouverneuren die Zuordnung mühelos bewerkstelligen, erfordert die Bestimmung der sozialen Ausgangsposition der restlichen vier Gruppenmitglieder die Einbeziehung weiterer Indikatoren. Ihr Herkunftsspektrum umfasst einen Bergwerksdirektor (Haber), den Pächter einer Schlossbrauerei (Hahl), den Besitzer einer Zigarrenfabrik (Seitz) sowie einen Großkaufmann und Grubenbesitzer (Solf). Angesichts unscharfer Trennlinien zwischen dem zur gehobenen Mittelschicht zählenden Wirtschaftsbürgertum und dem ›alten‹ kleingewerblichen Mittelstand müssen zur Standortbestimmung sowohl die ökonomische Basis als auch das soziale Kapital dieser Familien näher in den Blick genommen werden. Die Zuordnung zum Wirtschaftsbürgertum fällt bei Haber am leichtesten. Sein Vater leitete mehrere Erzgruben, in denen im Jahr 1882 insgesamt 748 Arbeiter beschäftigt waren.79 Auch bei der Familie Hahl im niederbayerischen Gern handelte es sich mit der »Freiherr v. Closenschen Schloss-Brauerei« um eine wirtschaftliche Unternehmung, bei der bereits die baulichen Anlagen auf eine vergleichsweise kapitalintensive Betriebsgröße schließen lassen. Einen eindeutigen Beleg für entsprechende ökonomische Ressourcen liefert für alle vier Familien nicht zuletzt die Tatsache, dass sie ihren Söhnen eine höhere Schulausbildung einschließlich Universitätsstudium, das unbezahlte Referendariat sowie den Erwerb des Patents als Reserveoffizier ermöglichen konnten. Beispielsweise
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Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 118, 716 (Zitat); Berg, Familie, S. 104. Nipperdey, Arbeitswelt, S. 383f.; Kocka, Sozialgeschichte, S. 152ff.; Doerry, Übergangsmenschen, S. 98; Budde, Bürgerleben, S. 12–14. Es handelte sich ausnahmslos um ›staatsnahe‹ Berufsfelder. Hierzu etwa: Kaelble, Nachbarn, S. 85. Prein, Haber, S. 102.
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gewährte Jakob Hahl seinem Sohn während Studium und Militärdienst eine »monatliche Subvention« in Höhe von 120 Mark, was weit mehr als dem Lohn eines damaligen Industriearbeiters entsprach.80 Weitere Hinweise für einen keineswegs auf die materielle Ebene begrenzten Aufstieg liefert das kommunalpolitische Engagement dieser Wirtschaftsbürger. Der Vater von Seitz bekleidete beispielsweise das Amt des Bürgermeisters im Städtchen Seckenheim und stand zugleich dem »Ländlichen Creditverein« vor. Das Oberhaupt der Familie Solf fungierte dagegen als Berliner Stadtverordneter.81 Habers Vater war für sein soziales Engagement die Ehrenbürgerschaft der Gemeinde Ramsbeck verliehen worden, während sich zu dessen fünfzigjährigem Dienstjubiläum die politische und wirtschaftliche Elite des Landkreises einfand.82 Das soziale Kapital dieser wirtschaftsbürgerlichen Familien lässt sich nicht zuletzt am Heiratsverhalten ablesen.83 Während sich die Hahls mit Bildungsbürgertum und Adel verbanden, ehelichte Seitz die Tochter eines Offiziers und Militärschriftstellers.84 Lediglich Haber und Solf blieben dem wirtschaftlich-kaufmännischen Spektrum verhaftet, doch änderten sich bei ihnen die Dimensionen: Ihre Ehefrauen kamen aus großbürgerlichen Fabrikantenkreisen.85 Angesichts der Summe dieser Indikatoren fällt es nicht schwer, diese vier Gouverneure dem Wirtschaftsbürgertum und damit ebenfalls der gehobenen Mittelschicht zuzuordnen. In ihrer Zusammensetzung ähnelt diese Positionselite auffällig derjenigen der höheren Beamtenschaft in Preußen.86 Diese Analogie ist keineswegs zufällig, vielmehr offenbart sich damit ein Resultat des unter dem Innenminister Robert v. Puttkamer verschärften Ausleseverfahrens, was sich indirekt auch auf die Reichsbehörden einschließlich der Kolonialverwaltung auswirkte.87 Diese Personalpolitik zielte auf eine Bevorzugung ›erwünschter‹ Kreise für die Posten der höheren Staatsdiener ab, die sich sowohl aus einem »Adel der Geburt« als auch aus einem »Adel der Gesinnung« zusammensetzen sollten.88
80 81 82 83 84
85 86 87 88
BayHStA OP 25101, Jakob Hahl vom 11.7.1891, Bestätigung. Zum Einkommen in der Arbeiterschaft: Hohorst/Kocka/Ritter, Materialien, S. 107. Berliner Tageblatt vom 13.12.1913; Vietsch, Solf, S. 20. Allgemein zur ›Honoratiorenverwaltung‹: Schäfer, Geschichte, S. 136. Prein, Haber, S. 103, 105. Allgemein: Süle, Bürokratietradition, S. 194f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 120f., 718. Eine Nichte von Albert Hahl ehelichte den Landgerichtsdirektor Wilhelm Kempfler aus dem niederbayerischen Eggenfelden, während seine Schwester Anna einen ebenfalls dort ansässigen Gutspächter heiratete. Siehe Kapitel 2.4. Wunder, Bürokratie, S. 80 (Tab.). Zu den Puttkamer-Reformen: Kehr, System; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 817. Es handelte sich um den Vater des späteren Gouverneurs von Kamerun. Erlass Wilhelms II. vom 29.3.1890 betr. Ergänzung des Offizierkorps anlässlich der Vergrößerung der Armee, abgedruckt in: Offiziere im Bild von Dokumenten, S. 197f. (Zitate). Die dortigen Postulate lassen sich auf die höhere (preußische) Beamtenschaft übertragen.
2. Dispositionen
Tabelle 3: Väterberufe der Gouverneure89 Väterberufe
Anzahl
Anteil in %
Oberschicht
6
24
darunter a) Hochadel
1
b) Grundbesitzer
5
gebildete Mittelschicht
15
darunter c) Offiziere d) höhere Beamte e) Geistliche f) Lehrer
3 9 2 1
gewerbliche Mittelschicht
4
darunter g) Unternehmer/Kaufleute
4
60
16
Eine Folge dieses Selektionsprozesses war ein verhältnismäßig hoher Adelsanteil unter den späteren Gouverneuren. Diese Feststellung trifft selbst dann zu, wenn die drei Nobilitierten den bürgerlichen Gouverneuren zugeordnet werden. Tatsächlich erhielten Liebert, Wißmann und Zimmerer ihr Adelsprädikat erst im Alter zwischen 37 und fünfzig Jahren und somit zu spät für eine einschlägige Sozialisation.90 Die verbleibenden zehn adlig Geborenen entsprechen aber immer noch zwei Fünftel der Untersuchungsgruppe.91 Dieser Anteil übertrifft selbst die Relationen in der allgemeinen preußischen Beamtenschaft. Erst auf der Ebene der Staatsminister, Unterstaatssekretäre und Oberpräsidenten erreicht dieser Wert ein den Gouverneuren vergleichbares Niveau, was wiederum den exklusiven Charakter der höchsten Beamten in den Kolonien offenbart.92 Dieser Eindruck verstärkt sich zusätzlich, da der Beamtenstand in Preußen ein Extrem 89
90
91
92
Der Aufstellung liegen folgende Zuordnungen zugrunde: a) Mecklenburg; b) Bennigsen, Horn, Lindequist, Puttkamer, Schuckmann; c) Götzen, Liebert, Soden; d) Ebermaier, Gleim, Köhler, Rechenberg, Schele, Schnee, Wißmann, Zech, Zimmerer; e) Brückner, Leutwein; f) Schultz; g) Haber, Hahl, Seitz, Solf. Die Nobilitierungen erfolgten zu den folgenden Zeitpunkten: 1890 (Wißmann), 1893 (Zimmerer), 1900 (Liebert). Auch in der Wahrnehmung der Zeitgenossen existierte eine mentale Grenze zwischen (altem) Adel und Nobilitierten. Henning, Beamtenschaft, S. 38; Stürmer, Reich, S. 61. Wenn im Folgenden von adligen Gouverneuren die Rede ist, sind nur die adlig Geborenen gemeint. Vgl. Hiery, Eliten, S. 427–429, der für ein erweitertes Sample einen Adelsanteil von 35 % ermittelt hat. Deutlich höhere Werte finden sich in: Gann/Duignan, Rulers, S. 138f. Danach soll der Anteil Adliger unter den ›afrikanischen‹ Gouverneuren, Landeshauptleuten und Kommissaren bei »threefourths« gelegen haben. Aus der dortigen Tabelle (Nr. 16/S. 139) ergibt sich lediglich ein Anteil von 57 Prozent. Selbst dieser Wert ist jedoch nicht haltbar, da die Autoren die drei nachträglich Nobilitierten zum Adel zählen, während sie Soden und Puttkamer doppelt ansetzen. In der Untersuchungsgruppe gehörten sieben Gouverneure dem Uradel (Mecklenburg, Götzen, Rechenberg, Schele, Soden, Bennigsen, Puttkamer) und drei dem Briefadel (Zech, Lindequist, Schuckmann) an. Vgl. Süle, Bürokratietradition, S. 193f.
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im Deutschen Reich darstellte. In den Verwaltungen der übrigen Bundesstaaten besaß der (alte) Adel einen deutlich geringeren (quantitativen) Stellenwert.93 Als mögliche Ursache für den hohen Adelsanteil unter den Gouverneuren wäre die bis 1907 bestehende Verortung der Kolonialverwaltung im Auswärtigen Amt denkbar. Letzteres war dafür bekannt, adlige Bewerber generell zu bevorzugen.94 Ein flüchtiger Blick auf die Ernennungspraxis scheint diese Vermutung zu stützen, entfielen doch die meisten adligen Gouverneure auf die frühe Phase kolonialer Verwaltung. Eine exakte Auswertung deutet aber darauf hin, dass es sich weniger um den plötzlichen Wegfall einer adelsaffinen Personalpolitik handelte, als vielmehr um das Einrücken einer Anzahl bürgerlicher Laufbahnbeamter, die inzwischen aufgrund ihrer Anciennität und Qualifikation für den Posten als Gouverneur in Frage kamen. Wenn also im letzten Jahrzehnt des deutschen Kolonialreichs der Anteil bürgerlicher Gouverneure wuchs, äußerten sich darin in erster Linie längerfristige Transformationsprozesse, die die gesamte höhere Beamtenschaft betrafen.95 Beim Blick auf die Familien der adligen Gouverneure fällt auf, dass diese bereits seit Generationen Personal für Verwaltung und Armee gestellt hatten.96 Dementsprechend waren auch die Väter dieser Gouverneure fast ausschließlich in den »drei professionellen Kernbereichen« des Adels tätig, nämlich als Grundbesitzer, Offiziere und höhere Beamte.97 Auch die Mütter entstammten in vielen Fällen dem Adel.98 Einer solchen Präferenz inneradliger Heiratskreise stehen vergleichsweise wenige bürgerliche Frauen gegenüber, die dann aus Arzt-, Gutsbesitzer- oder Bankiersfamilien kamen. Aber selbst bei diesen sind oft adlige Verwandtschaftsbeziehungen nachweisbar.99 Zudem kann angesichts des Geschlechterverständnisses der Zeit selbst für solche ›gemischten‹ Elternhäuser ein vorrangig adlig geprägtes Milieu angenommen werden.100 Von den fünfzehn nichtadligen Gouverneuren stammten die meisten aus bildungsbürgerlich geprägten Offiziers- oder Beamtenfamilien. Horn kam aus einem Gutsbesitzerhaushalt; vier wuchsen dagegen – wie bereits thematisiert – in wirtschaftsbürgerlichen Familien auf. Im Folgenden sollen daher die beiden als maßgeblich identifizier93 94 95
Zu den Unterschieden in den deutschen Bundesstaaten: Henning, Beamtenschaft, S. 38–52. Ebd., S. 45; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 818f.; Ullrich, Großmacht, S. 276. Zum Einrücken bürgerlicher Kreise in die preußische Verwaltung: Henning, Beamtenschaft, S. 48f.; vgl. Brocke, Oberpräsidenten, S. 257. Ein Widerspruch zu den Puttkamer-Reformen ergibt sich daraus nicht, da auch die bürgerlichen Laufbahnbeamten den ›erwünschten‹ Kreisen entnommen wurden. 96 Vgl. Hauf, Oberpräsidenten, S. 114. 97 Der Großherzog von Mecklenburg ist als Sonderfall anzusehen, doch war dieser mit seinen insgesamt 301 landwirtschaftlichen Gütern gleichzeitig Großgrundbesitzer. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 811; Malinowski, König, S. 125 (Zitat). 98 Die Mütter folgender Gouverneure waren adlig geboren: Bennigsen, Götzen, Mecklenburg, Puttkamer, Schuckmann, Soden. Zur Heiratspraxis des deutschen Adels: Malinowski, König, S. 47f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 807, 824. 99 Söhne von bürgerlich geborenen Müttern waren: Lindequist, Rechenberg, Schele, Zech. Bei Zech hatte die Großmutter mütterlicherseits dem Adelsstand angehört. Für Schele konnte eine über das Kennzeichen ›bürgerlich‹ hinausreichende soziale Herkunft der Mutter nicht geklärt werden. Nach ihrem frühen Tod heiratete Scheles Vater erneut, diesmal bezeichnenderweise eine Adlige. 100 Vgl. Carsten, Geschichte, S. 130; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 178.
2. Dispositionen
ten Kulturmodelle einschließlich ihrer »spezifischen Deutungsmuster und Wertungen, Mentalität und ›Kultur‹« ausgelotet werden.101 Konkret werden dabei – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die als Resultat familialer Sozialisation vermittelten Inhalte gegenüberzustellen sein. Die Basis adliger Identität lässt sich in einer generationenübergreifenden Erinnerungskultur erfassen. Tatsächlich begriff sich die Adelsfamilie vor allem als Einheit aus sämtlichen verstorbenen, lebenden und künftigen Trägern ihres Namens und Titels.102 Tradition und Kontinuität bildeten somit die Legitimationsgrundlage des Standes wie auch der einzelnen Familie.103 Die Leistungen herausragender Vorfahren speisten das jeweilige Selbstverständnis und stellten das symbolische Kapital dar.104 Das Vorbild der Ahnen einschließlich der mahnenden Beispiele abweichender Familienmitglieder steckte zugleich die Grenzen für das als standeskonform definierte Verhalten ab. Dieses wiederum wurde den Sprösslingen von Kindesbeinen an vermittelt.105 Konkret erfolgte das etwa durch das Heranführen an Familienchroniken, Genealogien oder Ahnengalerien.106 Eine derart gelebte Tradition lässt sich beispielsweise in den Memoiren von Schuckmann wiederfinden, der darin etliche seiner Vorfahren und Verwandten charakterisiert.107 Ebenfalls standestypisch war der ausdrücklich genannte Zweck solcher nicht für die Öffentlichkeit vorgesehenen Aufzeichnungen, bestand dieser doch darin, dass die Nachkommen Schuckmanns »ihren Großvater, den aufrechten, unerschrocknen, deutschen, treuen Mann, kennen lernen und ihm ähnlich werden möchten.«108 Vergleichbar sah sich ein Bruder Puttkamers als Träger einer auf Geburt und Abstammung fußenden Traditionslinie.109 Auch eine häufig innerhalb der Familienverbände praktizierte Solidarität gehört in diesen Zusammenhang.110 Beispielsweise sorgten nach dem frühen Tod der Eltern des erst achtjährigen Freiherrn v. Soden seine beiden Onkel und die Großmutter für seine standesgemäße Erziehung und übernahmen die nicht unerheblichen Kosten für Schulausbildung und Studium.111 Das spezifische kulturelle Kapital diente nicht zuletzt der Legitimation des adligen Führungsanspruchs in Staat und Gesellschaft.112 Daran änderten auch die partiellen Unterschiede zwischen Ostelbiern und ihren süddeutschen Standesgenossen wenig. Hier wie dort galt die Besetzung von Schlüsselstellungen in Regierung, Armee und Verwaltung als Selbstverständlichkeit, gleichzeitig aber auch als standesgemäßer Dienst 101 102 103 104 105 106
Kocka, Bürgertum, S. 43 (Zitat). Allgemein: Conze, Adel, S. 342–361; Malinowski, König, S. 47–55; Menning, Ordnung, S. 111–124. Wrede/Carl, Einleitung, S. 1f.; Malinowski, König, S. 50; Menning, Ordnung, S. 112. Malinowski, König, S. 56f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 824; Brunner, Alltag, S. 1002f. Wrede/Carl, Einleitung, S. 1–3; Menning, Ordnung, S. 287f., 304, 306; Malinowski, König, S. 58. Ebd., S. 51; Wrede/Carl, Einleitung, S. 1; Menning, Ordnung, S. 303–313; Brunner, Alltag, S. 998. Beispiele für publizierte Familienchroniken: Puttkamer, Geschichte; Rechenberg, Beiträge; Schuckmann, Geschlecht. 107 BA-B N 2272/4, S. 1–4, Schuckmann, Lebenslauf. 108 Ebd., Bl. 2, Schuckmann, Lebenslauf (Vorwort Maria v. Schuckmann, geb. v. Radowitz). 109 Puttkamer, Staatsminister, S. 11–13. 110 Malinowski, König, S. 55. 111 Ow, Soden, S. 250; HStA-St, Q 3/11 Bü. 280, Vormundschaft über Julius Frhr. v. Soden durch Konstantin Frhr. v. Neurath (1854). 112 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 824; Malinowski, König, S. 56f.; Wrede/Carl, Einleitung, S. 1.
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am Gemeinwohl.113 Sowohl die anerzogene Überzeugung, einem für höhere Aufgaben in Staat und Gesellschaft prädestinierten Stand anzugehören, als auch die etablierten verwandtschaftlichen Netzwerke stellten nicht zu unterschätzende Vorteile im Wettbewerb um Ämter und Positionen dar.114 Auch innerhalb der Untersuchungsgruppe förderten diese das berufliche Fortkommen bzw. fungierten als Sicherungsleine bei Fehlschlägen, wie einige Beispiele belegen. Der Studierende Lindequist erhielt etwa an der juristischen Fakultät der Universität Greifswald ein Stipendium der Mevius’schen Stiftung, was seitens des Vergabegremiums damit gerechtfertigt wurde, dass er »ein Verwandter des Stifters« sei.115 Bennigsen verdankte den Konnexionen seines Vaters die rasche Übernahme in den preußischen Verwaltungsdienst sowie den Posten als Landrat. Puttkamer wäre nach seinen »Jugendeseleien«, die den vorzeitigen Abbruch des Referendariats zur Folge hatten, ohne das Einwirken seines hochgestellten Vaters (und vermutlich auch Bismarcks) kaum in den konsularischen Dienst gelangt.116 Ohne die Verdienste seines Vaters wäre vermutlich der Katholik Rechenberg nicht ins Auswärtige Amt berufen worden. Auch Lindequist erwähnt einen mit Reichskanzler Leo v. Caprivi befreundeten Onkel, der Flügeladjutant Wilhelms I. und Generaladjutant Wilhelms II. gewesen sei. Dem späteren Gouverneur zufolge sei, als er sich für den Kolonialdienst bewerben wollte, Caprivi »wohl von ihm auf mich aufmerksam gemacht« worden.117 Ganz abgesehen davon, dass acht von zehn männlichen Mitgliedern der Familie Zech als Offiziere dienten, begünstigte zweifellos der Onkel des Grafen, ein General im bayerischen Generalstab, Zechs Militärkarriere erheblich. Nicht zuletzt die Tatsache, dass sich unter den ohne Anwärterzeit unmittelbar zum Gouverneur Ernannten zwar vier Adlige aber nur ein einziger Angehöriger des Bürgertums befand, lässt sich im Sinne solcher Standortvorteile interpretieren.118 Den Kontrapunkt zum Ahnenkult des Adels stellt auf Seiten des Bürgertums die »besondere Hochachtung vor individueller Leistung« dar.119 Im Unterschied zur Vorstellung einer auf Generationenfolgen basierenden Akkumulation ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals, warf der aufstrebende (männliche) Bürger seinem Selbstverständnis zufolge in erster Linie seinen persönlichen Einsatz in die Waagschale. Demnach hingen sowohl der soziale Status als auch das beruflich-gesellschaftliche Fortkommen einzig vom Erfolg dieser Anstrengungen ab.120 Das implizierte zugleich die Überzeugung, dass sich mit Selbstdisziplin und Willenskraft (fast) alles erreichen lasse.121 Die mit diesem Leistungsideal verbundene Stilisierung beruflichen Strebens sowie eine »Neigung
113 114 115
Conze, Helden, S. 370f. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 824; Malinowski, König, S. 55, 87. UA-HGW R 1314, Stammbuch des Mevius’schen Stipendiums, S. 47. Allerdings nahm Lindequist die Hilfe lediglich für ein Jahr (1885/86) in Anspruch, da er dann sein Studium abgeschlossen hatte. 116 Die Zukunft vom 11.5.1907 (Zitat); vgl. Frankfurter Zeitung vom 15.3.1906; BA-B N 2146/50, Soden an Kayser vom 20.4.1894, Schreiben. 117 BA-K N 1669/1, S. 3, Lindequist, Erlebnisse. 118 Adlige: Soden (1885), Schele (1892), Götzen (1901), Mecklenburg (1912). Bei dem einzigen Bürgerlichen handelt es sich um den Generalstabsoffizier Liebert. 119 Kocka, Bürgertum, S. 43. 120 Malinowski, König, S. 109. 121 Budde, Bürgerleben, S. 122.
2. Dispositionen
zu Rationalität und Methodik in der Lebensführung« ging mit einer Reihe von Bewältigungsstrategien einher, denen der Stellenwert von Sekundärtugenden zukam.122 Diese Tugenden, wie Fleiß, Hingabe, Sorgfalt, Ordnung oder Pünktlichkeit, summierten sich zu einem charakteristischen Arbeitsethos, das den Beruf weder als bloßen Broterwerb noch als Zeitvertreib, sondern als ein höheres Gut betrachtete. Arbeit und Leistung wurden so zur Lebensaufgabe stilisiert und bildeten daher einen Fixpunkt bürgerlichen Seins.123 Eng mit dem Leistungsideal verknüpft war die Vorstellung unbedingter Pflichterfüllung. Nicht zuletzt darin manifestierte sich der Einfluss bildungsbürgerlicher Denkkategorien, denen die Deutungshoheit innerhalb des gesamten Bürgertums zukam.124 Namentlich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand sich der Pflichtbegriff zudem in den Dienst der politischen Sphäre gestellt, wozu außerdem ein spezifisches Treuekonzept kam.125 Beide Ideale – Pflicht und Treue – wirkten ausgleichend zum bürgerlichen Individualdenken, federten sie doch Verhaltensunsicherheiten ab.126 Gerade in Militär und Beamtenschaft trat zudem eine dienstrechtliche Auffassung dieser Begriffe hinzu.127 Das gleichzeitige bürgerliche Streben nach Selbständigkeit scheint bei oberflächlicher Betrachtung dazu in Widerspruch zu stehen.128 Tatsächlich schränkt das Ideal einer unbedingten Pflichterfüllung die persönliche Unabhängigkeit ein, doch ist der Wunsch nach Eigenständigkeit dem bürgerlichen Selbstverständnis zufolge keineswegs mit willkürlichem Handeln oder unbegrenzter persönlicher Freiheit gleichzusetzen. Vielmehr galt das bürgerliche Streben vorrangig einer »selbständigen Gestaltung der individuellen und gemeinsamen Aufgaben« und damit einer eigenverantwortlichen Wahrnehmung gesellschaftlichen und politischen Einflusses zum allgemeinen Staatswohl.129 Nach zeitgenössischem Verständnis nahmen sich daher sowohl der Offizier als auch der höhere Beamte als weitgehend autonom denkende und handelnde Individuen wahr. Ungeachtet ihrer hierarchischen Einbindung sahen sich beide in einer »quasi-obrigkeitlichen Stellung« einschließlich entsprechender Handlungsspielräume.130 Obgleich auf abweichenden Legitimationskonzepten basierend, ergaben sich dabei Schnittmengen mit dem ebenfalls am Wohl des Staatsganzen orientierten Führungsanspruch des Adels. Das Leistungsprinzip als fundamentale Säule des bürgerlichen Habitus fand bezeichnenderweise auch Eingang in die Erziehung. Bereits im Kindesalter folgte die
122 123
Kocka, Bürgertum, S. 43 (Zitat). Budde, Bürgerleben, S. 113–115, 151, 159f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 136, 138; Reitmayer, Habitus, S. 78–81. 124 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 138, 713; Schäfer, Geschichte, S. 111. 125 Frevert, Pflicht, S. 276; vgl. Wermuth, Beamtenleben, S. 9. 126 Frevert/Schreiterer, Treue. 127 Frevert, Pflicht, S. 277–279. 128 Hierzu allgemein: Hettling, Selbständigkeit. 129 Kocka, Bürgertum, S. 43 (Zitat); ähnlich: Nipperdey, Arbeitswelt, S. 385. 130 Schäfer, Geschichte, S. 103; Hettling, Selbständigkeit, S. 61f.; Faulenbach, Bergassessoren, S. 239 (Zitat).
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Tagesgestaltung rationalen Grundsätzen. Während Müßiggang verpönt war, erhielten die Sprösslinge Pflichten auferlegt, um dadurch die bürgerlichen Vorstellungen einer disziplinierten und tätigen Lebensführung einzuüben.131 Häufiger als innerhalb des Adels sahen sich besonders männliche Bürgerkinder nach der Einschulung einem hohem Erwartungsdruck ausgesetzt.132 Während leistungsschwache Adelssöhne über eine Absicherung durch standesspezifische Einrichtungen, wie subventionierte Kadettenschulen oder einen erleichterten Zugang zum Offizierkorps, verfügten, fehlten vergleichbare Angebote für Bürgerkinder. Individuelle Leistung sowie die Bereitschaft zur Pflichterfüllung wurden daher in ihren Elternhäusern früh eingefordert und antrainiert. Die damit einhergehende psychische Belastung wurde gerade im Bildungsbürgertum durch eine oft schmale ökonomische Basis zusätzlich verschärft, da die jahrelange Ausbildung in der Regel mit großen Opfern für die Eltern verbunden war. Sparsamkeit und materielle Selbstbeschränkung waren deshalb gerade dem Bildungsbürgertum nicht fremd.133 Nicht wenige Bürgersöhne sahen sich spätestens seit ihrer Einschulung einem heimischen Regime aus Leistungserwartung, Kontrolle und Sanktionierung gegenübergestellt.134 Elterliche Zufriedenheit konnten sie dann erwarten, wenn sich die Kriterien des bürgerlichen Arbeitsethos in den entsprechend kodierten Schul- oder Ausbildungszeugnissen wiederfanden. Ein derart anerzogenes Wohlverhalten lässt sich auch für die Gruppenmitglieder nachweisen. Beispielsweise wurden dem Referendar Brückner neben »vorzüglichen« Leistungen ein »außerordentlicher Fleiß, Pünktlichkeit und Pflichteifer« attestiert.135 In ähnlicher Diktion bescheinigte man dem frischgebackenen Assessor Hahl, er besäße ein »ernstes würdiges Benehmen, scheint energisch, strebsam und fleißig«.136 Auch das daraus resultierende Bedürfnis, Rechenschaft für das Geleistete und über die Erfüllung seiner Pflicht abzulegen, lässt sich gut belegen. Immerhin sechs bürgerliche Gouverneure publizierten umfangreichere autobiographische Tätigkeitsberichte, was bei ihren adligen Pendants deutlich seltener der Fall war und dann in der Regel anderen Interessen geschuldet war.137 Darüber hinaus wurden in der Retrospektive die individuellen Startbedingungen häufig ungünstiger dargestellt, als das tatsächlich der Fall war. Entsprechend des bürgerlichen Leistungsideals seien solche Nachteile
131 132 133 134 135 136 137
Budde, Bürgerleben, S. 116f.; Schäfer, Geschichte, S. 120f. Budde, Bürgerleben, S. 118. Ebd., S. 64. Ebd., S. 119, 175f., 195, 206; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 56; Beispiel: Liebert, Leben, S. 10. PA-AA P1/1899, Amtsgericht Reichenbach vom 14.4.1896, Beurteilung Brückner. BayHStA M Inn 65266, Regierungspräsident von Oberfranken an K.B. Staats-Ministerium des Innern vom 15.7.1895, Beurteilung; vgl. Abermeth, Schnee, S. 56f. Hahl, Gouverneursjahre; Leutwein, Jahre; Liebert, Leben; Schnee, Gouverneur; Schultz-Ewerth, Erinnerungen; Seitz, Aufstieg. Vergleichbares aus adliger Feder: Götzen, Aufstand; Puttkamer, Gouverneursjahre. Zwar finden sich auch bei Lindequist (BA-K N 1669/1) und Schuckmann (BA-B N 2272/4) autobiographische Aufzeichnungen, doch waren diese explizit nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, sondern dienten vielmehr der innerfamiliären Erinnerungskultur. Auch die Expeditionsberichte Götzens oder des Herzogs zu Mecklenburg tragen nicht den Charakter von Rechenschaftsberichten. Götzen, Afrika; Mecklenburg, Afrika; Mecklenburg, Kongo.
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bezeichnenderweise durch Strebsamkeit, Disziplin und Pflichterfüllung überwunden worden.138 Die nicht nur innerhalb der Familie Hahl zirkulierende, letztlich aber überzogene Fiktion einer Herkunft aus ›kleinen Verhältnissen‹ dürfte entsprechend zu interpretieren sein.139 Ein weiteres Indiz für den Effekt des elterlichen Erziehungsbemühens stellt der nachträgliche Blick auf die in der Regel autoritär auftretenden Väter dar. Allerdings ist vorauszuschicken, dass in dieser Beziehung kaum Unterschiede zwischen adliger und bürgerlicher Sphäre auszumachen sind. Meist wird die väterliche Strenge in den Selbstzeugnissen der Söhne positiv beurteilt, was selbst körperliche Züchtigungen einschließt.140 Schuckmann berichtet beispielsweise, dass er vor seinem Vater »große Angst« gehabt hätte, denn dieser habe jedes seiner Kinder, das »nicht unbedingt gehorchte […] energisch zur Ordnung gebracht«.141 Ein solcher »paternalistischer Patriarchalismus« war zeittypisch und gesellschaftlich durchaus akzeptiert.142 An diesem Eindruck vermögen auch mitunter aufscheinende Vater-Sohn-Konflikte wenig zu ändern, wobei die Väter dann naturgemäß weniger positiv gezeichnet wurden. Beispielsweise beklagte sich Solf bei seiner Mutter über das »eigenartige Temperament« seines Vaters, welches sich durch häufige Nörgeleien ebenso wie durch »sonntägliche Holldriohs« ausgezeichnet habe.143 Die Situation eskalierte, nachdem sich das geisteswissenschaftliche Erststudium des Sohnes als wenig zukunftsträchtig erwiesen hatte, was der Senior offenbar als Beleg für mangelndes Erfolgsstreben ansah. Obwohl Solf sein juristisches Zweitstudium ungewöhnlich rasch absolvierte, fühlte er sich von seinem Vater zeitweilig »wie einen ehrlosen Lumpen behandelt«.144 Trotz aller Konflikte stellte gerade die »ungeheure Arbeitskraft« der Bürgerväter einen in den Zeugnissen immer wieder auftauchenden Topos dar, während sowohl bürgerlichen als auch adligen Müttern in erster Linie die Sorge um das Heim sowie die Kinderbetreuung zugekommen sei. Ohne männlichen Familienvorstand galten diese Frauen als »hilflose« Geschöpfe.145 Solche geschlechterspezifischen Zuschreibungen dürften auch bei den späteren Gouverneuren nicht ohne Spuren geblieben sein.146 Trotz mancher Schnittstellen stellte das bürgerliche Familienmodell letztlich einen Gegenentwurf zum adligen Ahnenkult dar. Folgerichtig definierte sich die Kernfamilie
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146
Allgemein hierzu: Budde, Bürgerleben, S. 64. Vgl. Sack, Vorwort, S. XXIIIf. Allgemein zum Phänomen des nachträglichen Postulats einer ›einfachen‹ Herkunft: Friedman/O’Brien/McDonald, Deflecting Privilege. Liebert zitiert in seinen Erinnerungen eine anonyme militärische Schrift, in der es heißt, dass sein Vater, ein preußischer Major, »trotz seiner Schroffheiten bald die Liebe seiner Offiziere und Leute erworben« habe. Liebert, Leben, S. 8. Allgemein: Budde, Bürgerleben, S. 82f., 104f., 153–156; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 44–49; Brunner, Alltag, S. 1007. Doerry, Übergangsmenschen, S. 155f. BA-B N 2272/4, S. 7, Schuckmann, Lebenslauf. Nipperdey, Arbeitswelt, S. 49 (Zitat). BA-K N 1053/1, Bl. 96f., Solf (Daressalam) an seine Mutter vom 29.5.1898, Schreiben. Ebd., Bl. 73–77, Solf (Weimar) an seine Mutter vom 8.9.1893, Schreiben. Liebert, Leben, S. 9 (Zitate); Abermeth, Schnee, S. 48f.; vgl. BA-B N 2272/4, S. 6, Schuckmann, Lebenslauf. Allgemein: Budde, Bürgerleben, S. 114f., 173–177, 190; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 46, 48–53; Frevert, Mann, S. 144–156; Groppe, Kaiserreich, S. 142f. Vgl. Kapitel 2.4 und 3.3.
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des Bürgertums als eine »sich selbst begründende, als Selbstzweck begreifende Gemeinschaft«, die trotz rationaler Momente vor allem auf ihrem emotionalen Zusammenhalt basierte.147 Die mit diesem Konzept einhergehende Reduktion der Kinderzahl lässt sich bereits in den Elternhäusern der Gouverneure wiederfinden, von denen etwa Haber, Liebert, Schultz, Seitz und Wißmann nur ein oder zwei Geschwister hatten.148 Ebenfalls eng verknüpft mit dem Streben nach beruflichem Erfolg innerhalb des Bürgertums war dessen urbane Orientierung.149 Die Stadt der Moderne stellte dabei einen »Lebensraum von stark prägendem Charakter« dar.150 Das bürgerliche Heim bestand dort meist aus einer Mietwohnung in ›besserer‹ Wohngegend und diente sowohl der Behaglichkeit als auch der Repräsentation.151 Dazu passend wurde das innerfamiliäre Leben nach außen stets als harmonisch präsentiert, was letztlich einen verkrampften Umgang selbst mit kleinsten Normverstößen mit sich brachte und eine solche Haltung auch den Kindern vermittelte.152 Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Prägungen im Kindes- und Jugendalter kommt auch den in adligen und bürgerlichen Elternhäusern allgegenwärtigen Dienstboten zu. Selbst in den Familien des Bildungsbürgertums, die meist über knappe Ressourcen verfügten, zählte wenigstens ein Dienstmädchen zur standesgemäßen Lebensführung.153 Für die Gruppenmitglieder waren auf diese Weise soziale Differenzen von Kindesbeinen an unmittelbar erfahrbar, wobei der eigene Standort stets der des Höherstehenden war. Die Folge war nicht nur die frühe Gewöhnung an asymmetrische Sozialbeziehungen, sondern auch die konkreten Ausformungen des patriarchalischen Prinzips, das gegenüber dem sogenannten Gesinde die Anwendung selbst körperlicher Gewalt als probates Mittel zur Erzwingung von Gehorsam nicht ausschloss.154 Schwierig ist dagegen eine Einschätzung der längerfristigen Auswirkungen von Schicksalsschlägen, die einige Gouverneure während ihrer Kindheit und Jugend erlitten hatten. In erster Linie sind hier Leutwein, Liebert, Mecklenburg und Soden angesprochen, die früh einen oder gar beide Elternteile verloren.155 Allgemein geht die Forschung davon aus, dass ein solches Trauma zu psychischen Auffälligkeiten im Erwachsenenalter, wie Depressionen, Alkoholismus oder einer erhöhten Selbstmordrate, führen kann.156 Tatsächlich weist das Sample eine hohe Suizidquote auf, doch starb keiner der von Elternverlust Betroffenen durch eigene Hand.157 Während Leutwein durch einen mitunter übermäßigen Alkoholkonsum auffiel, wurden die Verluste bei Soden und Liebert offenbar teilweise durch das soziale Umfeld auf-
147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157
Kocka, Bürgertum, S. 43f.; Budde, Bürgerleben, S. 19; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 47–59. Allgemein: Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 39; Budde, Bürgerleben, S. 52. Ebd., S. 67. Reulecke, Urbanisierung, S. 95 (Zitat). Ebd., S. 101; Budde, Bürgerleben, S. 68, 70f. Reulecke, Urbanisierung, S. 103; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 54. Budde, Dienstmädchen, S. 149. Nipperdey, Arbeitswelt, S. 53f.; Groppe, Kaiserreich, S. 153; Budde, Dienstmädchen, S. 150, 167f. Soden war beim Tod seiner Eltern erst drei (Vater) bzw. acht (Mutter) Jahre alt. Leutwein verlor seine Mutter im Alter von fünf, Liebert und Mecklenburg ihre Väter mit drei bzw. neun Jahren. Bowlby, Verlust, S. 281–296. Selbstmord begingen Lindequist (1945), Puttkamer (1917) und möglicherweise Wißmann (1905).
2. Dispositionen
gefangen.158 Soden wurde zusammen mit seinen drei älteren Schwestern einer Tante überantwortet, wogegen bei Liebert der Großvater als »strenger Patriarch der alten Art« die Erzieherrolle übernahm.159 Inwieweit der neunjährige Herzog zu Mecklenburg als siebtes von acht überlebenden Kindern den Tod des großherzoglichen Vaters als Verlust einer nahestehenden Bezugsperson überhaupt empfand, lässt sich dagegen kaum einschätzen. Bei ihm fällt aber eine umso engere Bindung an die Mutter auf, erhielt diese doch von ihrem zum Gouverneur von Togo avancierten Sohn regelmäßig ausführliche Briefe über dessen Befindlichkeiten und Erlebnisse.160 Dem urban geprägten Familienleben des Bürgertums steht beim Adel ein überwiegend auf den ländlichen Raum fixiertes Kulturmodell gegenüber.161 Während der postromantischen Naturschwärmerei des Bürgertums ein verklärendes und letztlich eher distanzierendes Element innewohnt, nahm vor allem der grundbesitzende Adel das Landleben als alltäglichen Erfahrungsraum in Bezug auf die Natur und ihre Beherrschung wahr.162 Die rurale Ausrichtung lässt sich als ein für die Sozialisation vieler junger Adliger wesentliches Element einstufen.163 Ein Bruder Puttkamers brachte das folgendermaßen zum Ausdruck:164 »[Die] von den Vätern vererbte Neigung und Befähigung, der natürliche Zwang, die Familiengüter zu verwalten, hat die Sprossen der alten preußischen Adelsgeschlechter immer von neuem dazu getrieben, als Landwirte tätig zu sein […].« Vergleichbar äußerte sich Schuckmann einige Jahre vor seinem Ausscheiden aus dem Auswärtigen Amt:165 »Ich bin überhaupt ein ganz anderer Mensch, wenn ich auf dem Land bin. Im Jahre 1900 nehme ich meinen Abschied und gehe als Bauer irgendwohin, das steht fest. Dieses Leben auf dem Lande […] hat den ungeheuren Reiz der Freiheit und Ungebundenheit.« Auch die zeitweilige Absicht Lindequists, den Staatsdienst zu verlassen und sich stattdessen als Farmer in Deutsch-Südwestafrika niederzulassen gehört in diesen Zusammenhang.166 Selbst für die in einem städtischen Umfeld geborenen bzw. aufgewachsenen adligen Gouverneure verlor eine solche Disposition keineswegs an Gültigkeit.167 Der
158 BayHStA HS 2372, Demmler, Tgb. (17.9.1898, 29.1., 4.9.1899). 159 Ow, Soden, S. 250; Liebert, Leben, S. 10 (Zitat). 160 LHAS 5.2-4/1-4, Nr. 32, Adolf Friedrich zu Mecklenburg an Großherzogin Marie, Briefe. Allgemein: Radebold, Aspekte, S. 140; Reulecke, Söhne, S. 155. 161 Kaschuba, Bürgerlichkeit, S. 113, 123; Budde, Bürgerleben, S 90f., 165; Buchsteiner, Großgrundbesitz, S. 112–194; Schiller, Eliten, S. 248–346, 434–497. 162 Malinowski, König, S. 62, 67; Budde, Bürgerleben, S. 90, 94. 163 Malinowski, König, S. 59–63; Conze, Adel, S. 362–373; Brunner, Alltag, S. 998f. 164 Puttkamer, Staatsminister, S. 12. 165 BA-B N 2272/4, S. 180, Schuckmann, Tgb. (14.9.1897). 166 BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 29.12.1895, Schreiben. 167 Malinowski, König, S. 62.
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Grundbesitz der Eltern oder naher Verwandter stellte auch für sie einen wichtigen Bezugspunkt dar.168 In diesen Kontext lässt sich beispielsweise die Tatsache einordnen, dass sich mancher adlige Gouverneur in beruflichen Wartephasen oder nach der Pensionierung bevorzugt auf die familieneigenen Landgüter zurückzog. Beispielsweise wohnte Bennigsen nach seinem Rücktritt als Gouverneur zunächst auf dem elterlichen Gut nahe Hannover, während Schuckmann das Landgut der Familie nach dem Tod des Vaters von seinen Geschwistern zur Bewirtschaftung erwarb.169 Soden erbte dagegen von einer Tante einen Gutshof im mittelfränkischen Vorra bei Hersbruck, wo er den Großteil seines Ruhestands verbrachte und auch beigesetzt wurde.170 Auch Lindequist zog sich nach seinem Rücktritt in sein ländliches »Tuskulum« in der Nähe von Eberswalde, nördlich von Berlin, zurück.171 Nicht zuletzt weilte angeblich auch Zech nach der Rückkehr aus Togo »oft wochenlang in Seehausen bei seinen Verwandten«.172 Diese Ausrichtung war besonders ausgeprägt beim ostelbischen Adel, der aufgrund seiner traditionellen Funktion als ländliche Machtelite daran gewöhnt war, nicht nur über den Grund und Boden zu verfügen, sondern in Gestalt des Patronatsrechts auch den darauf lebenden Menschen übergeordnet zu sein.173 Diese Form der Grundherrschaft wurde als personalisiertes und unmittelbar vom Souverän übertragenes Amt verstanden, woraus sich für den Adel eine besondere Beziehung zum Monarchen ergab. Die verliehenen Kompetenzen galten deshalb als von formaljuristischen Schranken wenig eingegrenzt.174 Wenngleich der landadelige Patriarchalismus eine große Bandbreite lokaler Ausprägungen aufwies, lässt sich wiederum das Selbstverständnis einer zur Herrschaft prädestinierten Gesellschaftsschicht konstatieren. Dabei spiegelten diese Aspekte zugleich eine bei nicht wenigen Angehörigen des Adels vorhandene Einstellung wider, deren »prämoderne Elemente« nicht selten eine »antidemokratische Gesinnung« zur Folge hatten.175 Es erscheint daher auffällig, wenn in den Zeugnissen adliger Gruppenmitglieder von ›Untertanen‹ die Rede ist, wenn deutsche Staatsbürger gemeint waren.176 Solchen Denkmustern entsprachen ohnehin die Inhalte des adligen Tugendkatalogs. Einige Eckpfeiler steckte beispielsweise der 1888 als Konsul in Chicago tätige Schuckmann indirekt ab, indem er auf die vermeintlichen Negativaspekte des von ihm wahrgenommenen US-amerikanischen Lebensstils hinwies:177
168 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 175, 811. 169 BA-B N 2105/10, Bennigsen (Gut Bennigsen) an Hammacher vom 14.8.1902, Schreiben; BA-B N 2272/4, S. 210, Schuckmann, Lebenslauf. 170 Ow, Soden, S. 268. 171 GStA PK Nl Schnee/43, Lindequist (Macherslust) an Schnee vom 8.12.1919, Schreiben. 172 BA-B N 2340/1, Bl. 25, Lebenslauf Graf Zech vom 18.11.1941. 173 Malinowski, König, S. 110; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 811f., 814–816; Brunner, Alltag, S. 1004f.; Ullrich, Großmacht, S. 275. Einschränkend: Matzerath, Adel, S. 79. 174 Malinowski, König, S. 110; vgl. Reif, Adel, S. 53; Meteling, Zusammenbruch, S. 303. 175 Mayer, Adelsmacht, S. 20 (Zitat 1); Rosenberg, Pseudodemokratisierung, S. 301 (Zitat 2); Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 825; Conze, Helden, S. 375. 176 Beispiele: Bennigsen, Reise (1900), S. 108; ders., Bereisung, S. 634. 177 BA-B N 2272/4, S. 58, Schuckmann, Tgb. (6.8.1888); vgl. ebd., S. 60 (31.8.1888).
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»Familienleben gibt es in Amerika kaum, […] die Kinder werden absolut nicht erzogen, höchstens von Jugend an auf den Dollar aufmerksam gemacht, daher haben sie keine Pietät vor den Eltern, kein Ehrgefühl, […], die Eltern wollen ihre Freiheit nicht antasten […]. Man kann sich überhaupt keinen Begriff von der Hohlheit des amerikanischen Lebens machen.« Im Zentrum dieser Äußerungen steht die Ablehnung eines ausschließlich materiellen Denkens sowie einer als zwecklos empfundenen individuellen Freiheit. In der Kritik an Wohlleben und Luxus spiegeln sich letztlich Anpassungsschwierigkeiten an die gesellschaftlichen Transformationsprozesse wider, im Zuge derer sich vor allem der ostelbische Niederadel gegenüber dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum abzugrenzen suchte.178 Für Schuckmann und nicht wenige seiner Standesgenossen bildete dagegen eine Kombination aus Erziehung und ›Ehrgefühl‹ den entscheidenden Gegenpol zu den vermeintlichen Negativerscheinungen der Moderne. Dementsprechend zielte das adlige Erziehungsideal vor allem auf die Ausprägung eines standesgemäßen ›Charakters‹ ab. Dieser sollte sich einerseits durch das Streben nach Einfachheit, Enthaltsamkeit und Selbstlosigkeit auszeichnen. Andererseits setzte dieser eine bestimmte ›Haltung‹ voraus, die sich nach außen in einem selbstbewussten Auftreten äußerte. Aus diesen Faktoren setzte sich der adlige Habitus idealiter zusammen. Sie formten den Kern der sogenannten Standesehre, die es nach außen hin zu wahren galt.179 Umgekehrt verletzten die Folgen negativer Eigenschaften nur dann die Familienehre, wenn sie öffentlich sichtbar waren; andernfalls blieben sie Privatangelegenheit.180 Die herausgehobene Stellung des Adels gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen setzte zugleich die Fähigkeit voraus, sich entsprechend in Szene zu setzen, was mancher Angehörige des ›ersten Standes‹ einem Bürgerlichen nur allzu gerne absprach. Beispielsweise hielt der Kommandeur der Togoer Polizeitruppe, Valentin v. Massow, seine Eindrücke über das Verhalten des Gouverneurs Köhler folgendermaßen fest:181 »Daß sich der Gouverneur gerade Kaisers Geburtstag zum Abmarschtag wählte, […] zeigt wieder, daß seine Auffassung seiner Gouverneurspflichten doch vielfach nicht die richtigen sind [sic!]. Auch bei dem Empfang Yabos etc. benahm er sich durchaus nicht Gouverneur-mäßig [sic!]; er versteht gar nicht die hohe Stellung, die er als Vertreter des Kaisers nun doch einmal hier einnimmt, zu repräsentieren, und ist sich auch nicht der Pflichten bewusst, die eine solche Stellung mit sich bringt. Noblesse oblige. […] Er ist ein guter Jurist und vorzüglicher Büro-Mensch [sic!], aber kein Gouverneur! Und äußerlich doch très-ordinaire.«
178 179
Malinowski, König, S. 90; Brunner, Alltag, S. 1005f.; vgl. Lüdtke, Lebenswelten, S. 59. Allgemein: Malinowski, König, S. 62, 81, 85f., 98; Menning, Ordnung, S. 292f. Zur ›Einfachheit‹ lässt sich erneut Schuckmann zitieren: »[…] ich habe im späteren Leben doch diese Art der Geselligkeit sehr zu würdigen gelernt, je einfacher, je richtiger und besser.« BA-B N 2272/4, S. 44, Schuckmann, Lebenslauf. 180 Menning, Ordnung, S. 309, 311–314. 181 Massow, Tgb., S. 765 (2.2.1899).
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Vergleichbar äußerte sich Schuckmann als Generalkonsul von Kapstadt über den bürgerlichen Gouverneur Leutwein:182 »Persönlich hat er wenig gute Formen und nicht viel Takt. Er würde daher beim Gouverneur [von Britisch-Südafrika] wenig imponiert haben, ich habe ihm zugeredet, […] diesmal davon abzusehen […]. Ein Beweis, wie wenig richtiges Gefühl in gesellschaftlichen Dingen Leutwein hat, ist, dass er heute den Führer des kleinen Dampfers ›Leutwein‹ zum Frühstück eingeladen hatte und mich dazu. Nun ist der ›Leutwein‹-Führer ein Steuermann 2ter Klasse und passt wirklich nicht dazu, mit dem Landeshauptmann und Generalkonsul hier in einem Hotel zu frühstücken, so brav er auch sonst sein mag.« Tatsächlich kam bei der standesgemäßen Demonstration des adligen Führungsanspruchs Gesten und Symbolen eine entscheidende Rolle zu. Das betraf zum einen das eigene Auftreten, andererseits aber auch die Selbstdarstellung unter Heranziehung traditioneller Insignien der Macht. Beispielsweise stellte das Pferd als Erkennungszeichen des Rittertums nach wie vor ein für den Adel unerlässliches Distinktionsmerkmal dar.183 Bereits die Söhne mussten früh diese soziale Praxis einüben, wie ein Auszug aus den Memoiren Schuckmanns belegt:184 »Als ich 6 Jahre [alt] wurde, bekam[en] mein Bruder und ich je ein Pony […]. Wir mussten alle Tage mit unserm Vater reiten und zwar auf Decke. Auch durften wir keine Ringe im Gurt haben, an denen wir uns hätten halten können. Die einzige Entschuldigung, nicht mitzureiten, denn es ging oft stundenlang, war, wenn Mutter bescheinigte, dass wir uns durchgeritten hätten.« Dass der Umgang mit Pferden bei adligen Gouverneuren keine Ausnahmeerscheinung war, lässt sich bereits an der Wahl der Waffengattung im Militärdienst ablesen. Während sämtliche bürgerlichen Gruppenmitglieder, gleich ob als aktive Offiziere oder als ›Einjährig-Freiwillige‹, in einem Regiment der Infanterie oder der Artillerie dienten, gehörte die überwiegende Mehrzahl der adligen Gouverneure einem Kavallerieregiment an.185 Zwar hatten auch die (Reserve-)Offiziere anderer Waffengattungen Anspruch auf Dienstpferde, doch galt die Zugehörigkeit zur exklusiven Kavallerie für den Adel als die »angemessene Form standesgemäßer Selbstverwirklichung« schlechthin.186 Ein Eintrag im Tagebuch des erwähnten Oberleutnants v. Massow über eine gemeinsame Dienstreise mit dem – keineswegs etwa erkrankten – Landeshauptmann Köhler steht exemplarisch für die auch im Alltag hervortretenden unterschiedlichen Vorstellungen: »Am 15. August traten wir unseren Rückmarsch nach Se[b]be an, der Landeshauptmann per 182 183 184 185
BA-B N 2272/4, S. 181f., Schuckmann, Tgb. (14.10.1897). Malinowski, König, S. 64–68. BA-B N 2272/4, S. 10, Schuckmann, Lebenslauf. Siehe hierzu Kapitel 2.3.1. Zech war zwar in einem bayerischen Infanterie-Regiment, doch pflegte auch er die Reitpassion, wie sein Regimentskamerad berichtete: »Er […] liebte seine 2 Pferde, ritt ausgezeichnet«. BA-B N 2340/2, Bl. 44, Anton Staubwasser, o.D. [um 1940], Ergänzungen zur Lebensbeschreibung Graf Zech. Darauf wollte er auch in Togo nicht verzichten: Amtsblatt Togo, 8/1910, S. 50–53; vgl. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 102, 142, 153, 191. 186 Ullrich, Großmacht, S. 277 (Zitat).
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Hängematte und ich zu Pferde.«187 Auch Lindequist legte in seinen Erinnerungen Wert auf die Feststellung, dass in Südwestafrika das »Hauptbeförderungsmittel für mich stets nicht der Ochsenwagen oder die Ochsenkarre, sondern der Rücken des Pferdes war.«188 Besonders exklusiv trat in diesem Zusammenhang der Herzog zu Mecklenburg in Erscheinung, der als Gardeoffizier und erfolgreicher Rennreiter glänzte.189 Nach einem Sturz vom Kaiser mit einem Teilnahmeverbot belegt, fungierte er noch als Gouverneur beim alljährlichen Pferderennen in Lomé nicht nur als Schirmherr, sondern hatte dort stets mehrere Tiere »aus dem herzoglichen Stall« am Start.190 Als Mitglied des Hochadels nahm er freilich eine Sonderstellung ein, verband er doch mit seiner gleichzeitigen Automobilverehrung Tradition und Moderne miteinander und dokumentierte dadurch seine herausgehobene Position.191 Ein weiteres Beispiel für die Selbstdarstellung des Adels stellt die Jagd dar. Erneut lässt sich eine entsprechende Sozialisation auch für die entsprechenden Gouverneure belegen.192 Während der Herzog zu Mecklenburg ebenso wie Götzen regelrechte Jagdreisen nach Afrika oder Indien unternahmen, sich aber auch in heimischen Revieren betätigten, enthalten die Memoiren sowohl Schuckmanns als auch Puttkamers etliche Schilderungen ihrer Erlebnisse auf der Pirsch.193 Die Jagd symbolisierte dabei wiederum Naturverbundenheit und -beherrschung.194 Dabei diente sie allerdings auch bürgerlichen Aufsteigern als Kennzeichen ihres neu erworbenen Status’, doch galt das Erjagen von Wild zumindest dem aristokratische Selbstverständnis nach weiterhin als eine Domäne des Adels in der der Bürger keineswegs als ebenbürtig angesehen wurde.195 Es muss aber offenbleiben, ob sich diese inszenierte Exklusivität tatsächlich aufrechterhalten ließ. Gerade unter den bürgerlichen Gouverneuren lässt sich eine Anzahl von mindestens ebenso Jagdbegeisterten nennen.196 Das augenfälligste Gegenstück zur adligen Stilisierung von ›Charakter‹ und ›Haltung‹ stellt das bürgerliche Bildungsideal dar. Während die adlige Erziehung durch Gouvernanten und Hauslehrer sowie eine Schulausbildung in Ritterakademien, Pagerien und Kadettenanstalten geprägt war und vor allem auf eine äußere Abgrenzung gegenüber nichtadligen Sprösslingen abzielte, war die Wertschätzung von Bildung für das Bürgertum ein herausragendes Element seines Selbstverständnisses.197 Die Akkumulation von individueller Bildung und Fachwissen bildete den Grundstock für 187 188 189 190 191 192 193
Massow, Tgb., S. 103 (30.8.1896). BA-K N 1669/1, Bl. 43, Lindequist, Erlebnisse. Wollschläger, Herrenreiter. Amtsblatt Togo, 46/1913, S. 242f. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 173f., 808. Allgemein: Theilemann, Adel, S. 88–121. DKB 2 (1891), S. 411–414, 443f., 461–465; Mecklenburg, Kongo 1, S. 91–93, 111–114, vor 121 (Fotografie mit erlegtem Wasserbüffel), 132, nach 140 (Fotografie mit erlegtem Nashorn); BA-B N 2272/4 u.a. S. 11f., Schuckmann, Lebenslauf; Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 50, 55, 91–96, 133, 198f. 194 Malinowski, König, S. 67. 195 Theilemann, Adel, S. 74–111; Malinowski, König, S. 66; Funck/Malinowski, Geschichte, S. 251–253. 196 Unter den nichtadligen Gouverneuren gingen z.B. Wißmann und Schnee regelmäßig auf die Jagd. Wißmann, Wildnissen, passim; Amtlicher Anzeiger DOA, 31 (1914), S. 93. 197 Malinowski, König, S. 73; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 55f.; Brunner, Alltag, S. 1006–1008. Zum Bildungsideal des Bürgertums: Kocka, Bürgertum, S. 43; Maurer, Biographie, S. 439–517; Budde, Bür-
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das kulturelle Kapital dieser gesellschaftlichen Formation.198 Allerdings wurden Bildungspatente entsprechend der wachsenden technisch-ökonomischen Erfordernisse der Zeit zunehmend unter den Aspekten Karriere, soziale Abgrenzung sowie teilweise auch als Gegenentwurf zum Adelsprädikat interpretiert.199 Nichtsdestotrotz zählte der Anspruch einer gewissen intellektuellen Beschlagenheit aber nach wie vor zur (bildungs-)bürgerlichen Identität.200 Die mit dem Bildungskult eng verknüpften Distinktionsmittel bestanden in einer demonstrativen Hochschätzung ästhetischer Kulturformen.201 Dem entsprach die gepflegte Konversation unter Verwendung von Zitaten aus der klassischen Literatur ebenso wie das gemeinsame Musizieren, die Malerei oder die Veranstaltung von Laientheater. Liebert wurde beispielsweise nachgesagt, er »versteht auch vortrefflich stundenlang Gedichte von Lenau u.a. zu rezitieren […]«.202 Köhler soll dagegen »ganz vorzüglich Klavier« gespielt haben und ein »großer Bewunderer Beethovens und Mendelso[h]ns« gewesen sein.203 In Erwartung eines Klaviers ließ sich auch Schnee seine »sämtlichen Noten einschließlich der vierhändigen« nach dem Bismarckarchipel nachsenden.204 Bereits in seiner Jugend war er außerdem Mitglied im heimischen Leseverein gewesen und hatte an Theateraufführungen mitgewirkt.205 Zimmerer gönnte sich auch in Togo »das Vergnügen einer Aquarellskizze.«206 Gleim widmete sich noch in seinem Ruhestand »geschichtlichen Studien«.207 Auch sogenannte Bildungsreisen zielten in dieselbe Richtung, wie etwa Schnee im Hinblick auf die Verwendung seiner Ersparnisse seinem Vater gegenüber bemerkte:208 »Ich denke, Du wirst mir beistimmen, dass ich die überflüssigen Gelder lieber zur Vergrößerung meines inneren Kapitals als zur Gründung eines im besten Fall doch minimalen äußeren Kapitals verwende.« Ähnliche Absichten lagen in der Regel der Einrichtung einer Hausbibliothek zugrunde. Von Köhler ist beispielsweise eine Bestandsliste seiner privaten Bücher überliefert, die ihm im Gouverneurshaus in Lomé zur Verfügung standen. Unter den rund einhundert Titeln befanden sich kaum zwanzig mit dienstlichen Inhalten, dagegen behandelte ein
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gerleben, S. 91, 117–119, 164, 335, 339; Kaschuba, Bürgerlichkeit, S. 112f.; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 382f. Malinowski, König, S. 73; Maurer, Biographie, S. 378–435. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 125, 732f.; Frevert, Ehrenmänner, S. 181, 183; Malinowski, König, S. 87. Budde, Bürgerleben, S. 53. Kocka, Bürgertum, S. 43; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 383. Wagner, Propheten, S. 21. Massow, Tgb., S. 81, 99 (8.6., 12.8.1896). GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 22.6.1900, Schreiben. Abermeth, Schnee, S. 51. PA-AA P 1/17194, S. 17, Zimmerer (Klein Popo) an Bismarck vom 15.5.1889, Bericht. Deutsches Biographisches Jahrbuch IX (1929), S. 117. GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 21.6.1900; vgl. Abermeth, Schnee, S. 64.
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gutes Viertel Themenfelder, wie Geschichte, Geographie oder Ethnologie. Das Gros umfasste den Bereich Belletristik, darunter anspruchsvolle Autoren, wie Goethe, Schiller, Shakespeare, Dante, Tolstoi oder Freytag, aber auch triviale Liebes- oder Gesellschaftsromane.209 Das gänzliche Fehlen religiöser Werke in der Bibliothek Köhlers lässt sich zwar schwerlich verallgemeinern, deutet aber auf eine Entwicklung zumindest in Teilen des Bürgertums hin, die auch von der Forschung thematisiert wurde. Die Rede ist von der Rolle der Bildungsidee als Ersatzreligion, die zugleich Lebensorientierung, Sinnvermittlung und psychischen Halt bereitstellen sollte.210 Zwar existierten nach wie vor starke ethisch-religiöse Wertbindungen, doch lässt sich zugleich eine gewisse Auflockerung feststellen.211 Einen Hinweis auf eine solche Entwicklung auch bei den Gouverneuren, könnte deren überwiegend sachorientierte Beurteilung der Missionstätigkeit in den ›Schutzgebieten‹ liefern. Tatsächlich fällt auf, dass dabei die eigene konfessionelle Zugehörigkeit keineswegs den Ausschlag gegeben zu haben scheint. So sparte beispielsweise der Protestant Wißmann nicht mit Lob für die katholische Mission und ihre Praktiken, während etwa der katholische Graf Zech zeitweilig auf Distanz zur katholischen Steyler-Mission in Togo ging.212 In den Briefen an seine Eltern urteilte wohl Solf am härtesten. Während er aus Ostafrika schrieb, die Angehörigen der evangelischen Mission »am liebsten mit Knütteln verhauen« zu wollen, berichtete er wenig später aus Samoa, dass die katholischen Priester »eine Gefahr für die ganze Welt« seien.213 Im Gegenzug konnte die zum Teil reduzierte Bedeutung religiöser Bindungen auf zweierlei Weise kompensiert werden. Zum einen durch die zeitgenössische Modephilosophie des Darwinismus, dessen Grundsätze nach und nach auf fast alle Lebensbereiche übertragen wurden.214 Der ebenfalls im Bürgertum zunehmend beliebte Nationalpatriotismus fungierte zum anderen als Ersatz für Defizite im politischen Denken. Inhaltsarme Festlichkeiten, wie Kaisergeburtstage oder Sedans-Feiern standen dabei auf der einen, ein mitunter unkritisch-passives Akzeptieren von Regierungsentscheidungen auf der anderen Seite, nicht zuletzt aber auch eine weitreichende innere Bindung an die Obrigkeit.215 Bewegte sich das adlige Kulturmodell um die zentralen Fixpunkte Familientradition, Landbesitz und ›Charakter‹, so stand in den Augen des Bürgertums das Individuum mit
209 ANT FA 1/30, Bl. 192–196, Nachlassregelung August Köhler, 1902; vgl. GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Mongko-Djadjar) an seinen Vater vom 12.11.1898, Schreiben. Danach ließ sich Schnee etwa Byrons Don Juan nach Herbertshöhe schicken. Rückschlüsse auf literarische Beschlagenheit lassen auch die einschlägigen Zitate und Bezugnahmen in Seitzʼ Memoiren zu. Beispiele: Seitz, Aufstieg 3, S. 1, 4, 35, 39; vgl. BA-K N 1175/1, Bl. 13–16, Seitz, Tgb. (5.9.1907). 210 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 732. 211 Reitmayer, Habitus, S. 75; Budde, Bürgerleben, S. 378, 384f.; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 187. 212 Wißmann, Antwort, passim, z.B. S. 23–25. Zu Zech siehe Kapitel 4.5.1. 213 BA-K N 1053/1, Bl. 102f., Solf (Daressalam) an seinen Vater vom 14.8.1898, Schreiben; ebd., Bl. 129f., Solf (Apia) an seinen Vater vom 29.12.1900, Schreiben. 214 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 139f.; Doerry, Übergangsmenschen, S. 44, 107; vgl. Gay, Kult, S. 104. Siehe hierzu Kapitel 3.2. 215 Budde, Bürgerleben, S. 373.
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seiner Arbeitskraft und Bildung im Vordergrund. Beide Formationen bezogen ihre Identität zwar aus unterschiedlichen Quellen, doch lagen die jeweiligen Führungsansprüche im Prinzip nicht allzu weit auseinander. Während der Adel diese in erster Linie durch seine auf Geburt begründete Tradition legitimierte, rechtfertigte das Bürgertum seine Ansprüche mit dem Postulat seiner persönlichen Leistungsfähigkeit. Die Kontaktflächen zwischen adligem und bürgerlichem Kulturmodell sind jedoch keineswegs als undurchlässig anzusehen. Vielmehr bewirkten die gesellschaftlichen Erosions- und Transformationsprozesse seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, dass Adel und Bürgertum sich in Teilbereichen durchaus einander annäherten.216 Zwar kann von einem bloßen Imitieren der Repräsentationsformen des (wohlhabenden) Adels durch das Bürgertum kaum gesprochen werden, doch fungierten adlige Verhaltensformen häufig als sozialnormative Vorbilder auch für diese Formation.217 Das Postulat von Max Weber, wonach es zu einer »allmählichen Aristokratisierung der sozialen Standesgesinnung und der politischen Haltung« namentlich bei bürgerlichen Rittergutsbesitzern, hohen Offizieren und Beamten gekommen sei, ist deshalb keineswegs von der Hand zu weisen, wenngleich andererseits der Bürgerstolz ein allzu offensichtliches »Nachäffen des Adels« verbot.218 Auch darf nicht übersehen werden, dass angesichts der sozialen Realitäten der Vorbildcharakter des bürgerlichen Kulturmodells und namentlich dessen Leistungsethos einen nicht zu unterschätzenden Anpassungsdruck auch auf den Adel ausübte.219 In den folgenden Abschnitten wird daher zu prüfen sein, ob die bei der Sozialisation von Adels- und Bürgersöhnen wirkungsmächtigen Bildungsstätten Gymnasium und Universität ebenso wie der in diesem Sinne als ›Schule der Nation‹ anzusehende Militärdienst dazu beigetragen haben, allzu scharfe Brüche zwischen den beiden Kulturmodellen abzuschleifen bzw. für einen partiellen Austausch der jeweiligen Inhalte zu sorgen. Diese Kontaktzonen werden unter diesen Gesichtspunkten in den Blick zu nehmen sein.
2.2 Bildungswege Während der familiären Herkunft eine entscheidende Bedeutung für die Startbedingungen zukommt und in diesem Umfeld entweder eine adlige oder eine bürgerliche Erziehung stattfand, waren es die Institutionen Schule und Universität, welche in einer sich rapide modernisierenden Berufswelt die unentbehrlichen Wissensinhalte und Fertigkeiten vermittelten, dabei aber gleichzeitig als Orte einer weiteren Ausformung des Habitus funktionierten. Nicht zuletzt stand der Besuch eines Gymnasiums mit anschließendem Hochschulstudium im Mittelpunkt einer idealisierten Bildungstradition.220 Dar-
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Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 766f. Malinowski, König, S. 90, 118f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 172, 805. Max Weber, zitiert nach: ebd., S. 173 (Zitat 1); Budde, Bürgerleben, S. 337 (Zitat 2); Nipperdey, Arbeitswelt, S. 391f. 219 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 766f. 220 Kocka, Bürgertum, S. 34f.
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über hinaus wird zu berücksichtigen sein, dass adlige und bürgerliche Kinder und Jugendliche nicht selten die gleichen Bildungseinrichtungen besuchten. Tatsächlich hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenigstens ein Teil des Adels seine Animositäten gegenüber dem bürgerlichen Bildungsideal überwunden und akzeptierte die entsprechenden Ausbildungsgänge für seine Sprösslinge als standesgemäß.221 Dementsprechend absolvierten acht der zehn adligen Kolonialgouverneure das Gymnasium einschließlich des Abiturs. Auffällig erscheint dabei der Bildungsgang des Herzogs zu Mecklenburg, der am exklusiven Dresdener Vitzthum-Gymnasium seinen Abschluss knapp erreichte, ein Studium aber ohnehin nicht beabsichtigte.222 Ebenfalls kaum auf einen späteren Broterwerb ausgelegt war die Ausbildung Götzens, der nach dem Abitur an einem Frankfurter Gymnasium in Paris, Berlin und Kiel Rechtswissenschaft studierte, ehe er die akademische Sphäre wieder verließ, um Berufsoffizier zu werden.223 Im Gegensatz dazu beschritten Bennigsen, Lindequist, Puttkamer, Rechenberg, Schuckmann und Soden Ausbildungsgänge, die sich von denen ihrer bürgerlichen Amtskollegen nicht unterschieden. Eine bildungsablehnende Einstellung, wie sie seitens der Forschung namentlich für den ostelbischen Kleinadel festgestellt wurde, lässt sich für die adlig geborenen Gouverneure daher nicht bestätigen.224 Vielmehr ist bei dieser, wenngleich aus einem mehrstufigen Auswahlprozess resultierenden Gruppe eine Anpassung an die moderne Berufswelt unverkennbar.225 Auch seitens der bürgerlichen Gouverneure absolvierten vier Fünftel erfolgreich das Gymnasium. Von den übrigen hatte Leutwein ebenfalls eine höhere Schulbildung vorzuweisen, diese aber mit der sogenannten ›Primareife‹ – nach erfolgreichem Besuch der Obersekunda – vorzeitig beendet.226 Liebert und Wißmann waren ebenfalls mehrere Jahre lang in den Genuss gymnasialen Unterrichts gekommen, wechselten dann aber auf Kadettenschulen.227 Lediglich die beiden Adelssöhne Schele und Zech waren von Anfang an für die militärische Laufbahn vorgesehen, weshalb sie ausschließlich die Kadet-
221 Nipperdey, Bürgerwelt, S. 456, 460; Jeismann, Knabenschulwesen, S. 166. 222 Schulnachrichten des Vitzthumschen Gymnasiums, Bd. XXVI bis XXXIII (1886–1894). Der Herzog war bei einmaliger Nichtversetzung in den letzten Schuljahren stets unter den leistungsschwächsten Schülern seiner Klasse. Vgl. Röpcke, Mecklenburg, S. 168; Pade, Wissenschaft, S. 203. Die Erleichterung über das bestandene Abitur drückte sich u.a. dadurch aus, dass einige Lehrkräfte mit mecklenburgischen Auszeichnungen bedacht wurden. Schulnachrichten des Vitzthumschen Gymnasiums, Bd. XXXV (1896), S. 39; ebd., Bd. XXXVIII (1899), S. 55. Allgemein zu dieser exklusiven Einrichtung: Wagner, Gymnasium. 223 Schulnachrichten des Städtischen Gymnasiums zu Frankfurt a.M., 1886; Bindseil, Ruanda, S. 33, 35. Bindseil geht von mangelnden Karriereaussichten im Staatsdienst aus, die bei Götzen zum Studienabbruch geführt hätten. Dies kann zwar nicht ausgeschlossen werden, doch waren die längerfristigen Aussichten als Offizier kaum besser. Siehe Kapitel 2.3.1. 224 Zur adligen Ablehnung des bürgerlichen Bildungsideals: Malinowski, König, S. 73; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 178; vgl. Lüdtke, Lebenswelten, S. 59. 225 Zu den Anpassungsstrategien des Adels: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 807; Ullrich, Großmacht, S. 274f.; vgl. Stürmer, Reich, S. 63. 226 GLA-KA, 238/1163, Personal-Bericht zu Theodor Leutwein vom 21.10.1869; vgl. Koppenhöfer, Bildung, S. 16. 227 Liebert hatte zwischen 1857 und 1861 das Gymnasium zu Halle, Wißmann dagegen von 1864–70 die höheren Schulen in Erfurt, Kiel und Neuruppin besucht.
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tenschule besuchten. Für das Gros der späteren Gouverneure gilt aber, dass sie die üblichen neun Jahre und somit den Großteil ihrer Jugend an einer höheren Bildungseinrichtung verbracht hatten, ehe sie als junge Erwachsene an die Universität wechselten. Es lohnt sich daher, die Einwirkungsmöglichkeiten dieses Schulbesuchs auf die Betreffenden auszuleuchten. Vor dem Übertritt auf das Gymnasium kam ein Teil der Gruppenmitglieder für ein oder zwei Jahre auf eine Volks- oder Vorbereitungsschule. Die übrigen wurden stattdessen im Elternhaus mit den elementaren Kenntnissen im Lesen, Schreiben und Rechnen bekannt gemacht.228 Soden und Götzen wurden dagegen an exklusiven Internaten auf die höhere Schule vorbereitet.229 Ihre Erziehungsanstalten im württembergischen Kornthal bzw. im thüringischen Schnepfenthal warben damit, dass sie weder auf »einseitige Verstandesbildung« noch auf »unnütze Vielwisserei« setzen würden. Vielmehr sahen sich diese Privatschulen als fortschrittliche pädagogische Einrichtungen, in denen eine »harmonische […] Bildung des Körpers und Geistes« sowie von »Wille, Gemüt und Charakter« im Vordergrund stünden.230 Zweifellos brachte die gleichzeitige »verständige Überwachung« der Schüler ein hohes Maß an Unfreiheit mit sich, doch fielen weder Soden noch Götzen durch unangepasstes Verhalten auf. Stattdessen entwickelte sich ersterer in Latein, Griechisch und Französisch zum Klassenprimus, während letzterer sich durch »Aufmerksamkeit, Fleiß, Ordnung […] sowie durch auffallende Leistungen in den Unterrichtsfächern Französisch, Griechisch, Geographie und Mathematik« auszeichnete. Götzen zählte zudem zu den »besten Klavierspielern« der Schule.231 Bei Soden scheint in dieser Zeit eine lebenslange Vorliebe für klassische Literatur und Philosophie geweckt worden zu sein.232 Auch bei Götzen blieb die Internatszeit nicht ohne dauerhafte Spuren, wurde doch in Schnepfenthal der Naturkunde- und Geographieunterricht besonders intensiv betrieben.233 Das bedeutete in der Praxis häufige Exkursionen mit praktischen Übungen in Astronomie und Feldmessung. Dazu kam die Bekanntmachung mit Tier- und Pflanzenpräparaten, nicht zuletzt aber auch ein vergleichsweise moderner geographischer Lernzielkatalog, der Kenntnisse über »Lage, Produkte [und] Sitten der Inwohner [sic!]« der verschiedenen Erdteile einforderte.234 Auf den wenig einheitlichen vorgymnasialen Wissenserwerb folgte im Alter von etwa zehn Jahren der Übertritt auf das Gymnasium.235 Dabei stellte der Besuch der höheren
228 Liebert, Leben, S. 10; BA-B N 2272/4, S. 13f., Schuckmann, Lebenslauf; Perbandt u.a., Wißmann, S. 2; PA-AA P1/1901, Personalakte Edmund Brückner; GLA-KA, 238/1163, Personal-Bericht zu Theodor Leutwein vom 21.10.1869; Röpcke, Mecklenburg, S. 168. 229 Ow, Soden, S. 250; Bindseil, Ruanda, S. 33. 230 HStA Stuttgart, Q 3/11 Bü. 280, Prospectus der Erziehungs-Anstalt für Knaben in Kornthal; Müller, Schnepfenthal, S. 50, 60. 231 HStA Stuttgart, Q 3/11 Bü. 280, Prospectus der Erziehungs-Anstalt für Knaben in Kornthal; ebd., Julius v. Soden, Zeugnis, Februar 1858; Beurteilung Götzens zitiert nach: Bindseil, Ruanda, S. 33. 232 Ow, Soden, S. 250f., 270; Reuß, Soden, S. 166. 233 Der wohl bekannteste Zögling in Schnepfenthal war Carl Ritter (1779–1859), einer der Begründer der modernen Geographie. Müller, Schnepfenthal, S. 206f.; vgl. Osterhammel, Verwandlung, S. 133f., 141f. 234 Müller, Schnepfenthal, S. 62–67. 235 Die Gymnasialzeiten aller Gouverneure liegen im Zeitraum zwischen 1853 und 1894.
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Schule in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit dar. Vielmehr handelte es sich um elitäre Einrichtungen, bei denen sowohl hohe Kosten als auch lange Ausbildungszeiten als Zugangsbarrieren wirkten.236 Beispielsweise verschlang allein das Schulgeld für Schultz, der zusammen mit seinem Bruder das Luisenstädtische Gymnasium in Berlin besuchte, erhebliche Teile des Familienbudgets. Das Jahreseinkommen des Vaters von etwa 2.700 Mark verminderte sich dadurch um 120 Mark pro Kind und Jahr, dazu kamen Aufwendungen für Lernmaterialien und Lebensunterhalt.237 Ähnlich kostspielig war Schuckmanns Schulbesuch am Pädagogium in Putbus. Die dortigen Aufwendungen lagen jährlich zwischen 210 und 240 Mark an Schulgeld, ferner 60 bis 180 Mark für sonstigen Bedarf.238 Angesichts solcher Ausbildungskosten reichte auch in der Familie Schnee das Gehalt des Vaters, einem Landgerichtsrat, nicht aus, weshalb die begüterten Schwiegereltern finanzielle Unterstützung leisten mussten.239 Die Exklusivität des Gymnasiums äußerte sich nicht zuletzt darin, dass in den 1880er Jahren nur rund drei Prozent jedes (männlichen) Jahrgangs in Preußen eine solche Schule besuchten.240 Von diesen legte wiederum lediglich ein Drittel das Abitur ab; die übrigen gingen meist aus Kostengründen früher ab. Dabei stellte dieser Abschluss die entscheidende Zugangsvoraussetzung für das Studium und somit für den höheren Staatsdienst dar.241 Bei dem hohen Abiturientenanteil unter den späteren Gouverneuren handelt es sich also keineswegs um einen Zufall. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts basierte das Gymnasium auf den klassischen Sprachen. Der Unterricht in Latein und Griechisch füllte nicht ganz die Hälfte des Stundenplans.242 Nach dem Urteil mancher Zeitgenossen vermittelte die Unterrichtspraxis allerdings nicht immer das »Ideal des humanen, die ganze Menschheit und ihre Kultur in Kopf und Herz tragenden Menschen«.243 Etliche Gymnasiasten klagten stattdessen über einen stupiden Grammatik-Drill, der auf Kosten von Naturwissenschaften und modernen Fremdsprachen ging.244 Angesichts des Mangels an praxisnahen Lernangeboten monierte auch Schnee als junger Kolonialbeamter das
236 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 413; Nipperdey, Bürgerwelt, S. 456; ders., Arbeitswelt, S. 547f. Die Gesamtkosten (inkl. Lebensunterhalt) für eine Gymnasialausbildung in den 1880er Jahren werden auf 4.000-8.000 Mark geschätzt. 237 Jahresbericht des Luisenstädtischen Gymnasiums, Berlin 1888, S. 20; Budde, Bürgerleben, S. 60f., 118. Schultzʼ Vater war Gymnasiallehrer. 238 BA-B N 2272/4, S. 21, Schuckmann, Lebenslauf; vgl. Koppenhöfer, Bildung, S. 135, 273 (Tab. 22). 239 Abermeth, Schnee, S. 49. 240 Albisetti/Lundgreen, Knabenschulen, S. 247; Lundgreen, Sozialgeschichte 1, S. 79; vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 406, 1201. 241 Jeismann, Knabenschulwesen, S. 156; Nipperdey, Bürgerwelt, S. 459f.; ders., Arbeitswelt, S. 548; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 406, 1201. 242 Jeismann, Knabenschulwesen, S. 156–160; Jäger, Lehrplan, S. 193–195; Nipperdey, Bürgerwelt, S. 455; ders., Arbeitswelt, S. 548f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 407, 1206. 243 Kessler, Gesichter, S. 150 (Zitat). 244 Zeitgenössische Stimmen: Wermuth, Beamtenleben, S. 26f.; Hegelmaier, Beamter, S. 18; Gerlach, Rechts, S. 53f. Allgemein: Nipperdey, Bürgerwelt, S. 456–458; ders., Arbeitswelt, S. 557f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1206.
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»klägliche Niveau meiner Abiturientenbildung«.245 Andere suchten das einst Gelernte dennoch im Rahmen ihrer beruflichen Praxis zur Anwendung zu bringen. Dementsprechend finden sich selbst im dienstlichen Schriftverkehr mitunter Inhalte des klassischantiken Schulstoffs, wie beispielsweise in einem Bericht Zimmerers aus Kamerun:246 »Wenn Philipp von Macedonien bei der Belagerung von Olynth sagen konnte, dass keine Mauer so hoch sei, dass nicht ein goldbeladener Esel darüber springen könnte, so darf ich wohl sagen, dass es keine Kunst war, mit einer Aufwendung von ca. 3.000 M[ark] den Friedenschluss mit Buea zu Stande zu bringen […].« Trotz oder gerade wegen der Vermittlung des »unmittelbar Nutzlosen« blieb das klassisch-humanistische Gymnasium die von den gehobenen Schichten bevorzugte Schulform. Entscheidend waren die Exklusivität und damit eine »quasi-aristokratische« Atmosphäre, was eine homogenisierende Wirkung entfaltete. Die Folge war eine wirksame Abgrenzung gegenüber ›niedrigeren‹ sozialen Gruppen.247 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Schule keineswegs ausschließlich Unterrichtsstoff vermittelt. Gleichzeitig durchlief jeder Schüler in der Interaktion mit Lehrkräften und Klassenkameraden sowie durch die jahrelange Konfrontation mit spezifischen Normen und Ritualen eine wichtige Stufe seiner Sozialisation.248 Eine Fortsetzung der in den bürgerlichen Familien praktizierten Erziehung stellte dabei wiederum die Betonung von individueller Leistung dar. Rasch realisierte der Gymnasiast, dass sein Lernerfolg einer ständigen Kontrolle unterlag, nicht zuletzt in Gestalt allgegenwärtiger Ranglisten. Diese Praxis förderte einerseits das Konkurrenzdenken, konnte sich aber auch entmutigend auswirken.249 Nicht selten herrschte eine ernste und wenig liberale Lernatmosphäre vor, die den Einzelnen wiederum auf das bürgerliche Pflicht- und Arbeitsethos einstimmte.250 Naturgemäß hing die Unterrichtspraxis vor allem vom Lehrpersonal ab. Dieses besaß an den Gymnasien der Kaiserzeit eine vergleichsweise starke Position und vertrat oft eine bürgerlich-konservative Einstellung.251 Die Folge war ein mitunter schneidig-patriotischer Stil, der dadurch begünstigt wurde, dass nicht wenige Lehrer zugleich Reserveoffiziere waren.252 Trotzdem stellt sich die Frage, ob sich die gängigen Vorstellungen verallgemeinern lassen, wonach die Lehrkräfte »halb Feldwebel, halb Stubengelehrte« gewesen seien und mit Hilfe eines rauen Umgangstons und durch
245 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 25.7.1900, Schreiben. Diese Wissenslücken seien so offenbar gewesen, dass er sich »meiner mangelhaften Bildung ordentlich schämte.« 246 BA-B R 1001/4284, Bl. 125–133, Zimmerer (Kamerun) an KA vom 9.4.1893, Bericht. 247 Nipperdey, Bürgerwelt, S. 458 (Zitate); ders., Arbeitswelt, S. 549; Budde, Bürgerleben, S. 209; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 414. 248 Herrmann, Gymnasium, S. 356. 249 Budde, Bürgerleben, S. 206; Nipperdey, Bürgerwelt, S. 456. 250 Ebd.; ders., Arbeitswelt, S. 558. 251 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 408; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 560f.; Budde, Bürgerleben, S. 366. 252 Nipperdey, Arbeitswelt, S. 560f.; Doerry, Übergangsmenschen, S. 100; Kraul, Gymnasium, S. 99.
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Prügel eine »preußisch-rigoristische Disziplin« durchgesetzt hätten.253 Innerhalb des Sample deuten mehrere Schulverweise – bei Schuckmann, Solf und wahrscheinlich auch Wißmann – zumindest auf einen nicht immer konfliktfreien Schulalltag hin.254 Andererseits berichtet Schuckmann von einem engen Lehrer-Schüler-Verhältnis auf dem Pädagogium in Putbus.255 Ein Mitschüler Schnees erinnerte sich sogar an mehrere wenig angsteinflößende Lehrergestalten, »die zu allen möglichen Schülerstreichen geradezu einluden«.256 Überhaupt ist in den Selbstzeugnissen oft von einzelnen Lehrkräften, kaum jedoch von ganzen Kollegien die Rede, wenn es um einen angeblichen ›Kasernenhofstil‹ geht.257 Auch die ›gesinnungsbildenden‹ Fächer Deutsch, Geschichte und Religion sollten in ihren Auswirkungen nicht überschätzt werden. Zwar wurde namentlich seit der Reichsgründung versucht, an den Schulen einen christlich-vaterländischen Geist zu etablieren, doch bestand dieses Vorhaben in der Regel aus einer wenig ansprechenden »Kanonisierung der Geistesheroen der ›deutschen Klassik‹«, einer Wiedergabe preußischer Aufstiegsmythen sowie im Memorieren kirchlicher Texte.258 Ob diese Maßnahmen zusammen mit einer auf Schulfesten praktizierten patriotisch-martialischen Rhetorik in der Masse der Schüler tatsächlich eine »mentalitäre Militarisierung« entfalten konnten, ist daher zu hinterfragen.259 Mit einiger Gewissheit ist davon auszugehen, dass die Gesamtheit aller schulischen Einflüsse in Verbindung mit der elterlichen Erziehung ein Minimum an staatstreuer und patriotischer Grundhaltung erzeugt haben dürfte. In diesem Sinne kann das Gymnasium der Kaiserzeit durchaus als »Raum politischer Neutralität« gesehen werden, allerdings insoweit, als die Nation das höchste Gut und deren oberste Repräsentanten die unantastbare Obrigkeit darstellten. Damit begünstigte diese Schulform die Genese eines einheitlichen Nationalgefühls innerhalb einer zunehmend bürgerlich geprägten Elite.260 Eine Erziehung zum selbständigen und kritischen Urteil über politische Verhältnisse, geschweige denn zur Entwicklung alternativer Staats- und Gesellschaftsformen, konnte im Kontext einer solchen höheren Schulbildung dagegen kaum wirksam werden.261 253 Ullrich, Großmacht, S. 399f. (Zitat 1); Lüdtke, Lebenswelten, S. 73 (Zitat 2); ähnlich: Budde, Bürgerleben, S. 120, 206, 355; vgl. Nipperdey, Arbeitswelt, S. 558. 254 BA-B N 2272/4, S. 26, Schuckmann, Lebenslauf; Vietsch, Solf, S. 22; Hempenstall/Mochida, Man, S. 29. Zu Wißmann siehe weiter unten. 255 Schuckmann: BA-B N 2272/4, S. 21f., Schuckmann, Lebenslauf. Ähnlich: Wermuth, Beamtenleben, S. 29; Langfeld, Leben, S. 24. 256 Huth, Lebensweg, S. 9. 257 Kessler, Gesichter, S. 151; Gerlach, Rechts, S. 54. Zweifel am Klischee der ›Untertanenschule‹ äußert etwa: Groppe, Kaiserreich, S. 199–202. 258 Kraul, Gymnasium, S. 76–78, 99; Herrmann, Gymnasium, S. 349; Nipperdey, Bürgerwelt, S. 455; ders., Arbeitswelt, S. 558f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 407, 1206 (Zitat); Jeismann, Knabenschulwesen, S. 157. 259 Die Militarisierungsthese vertritt: Herrmann, Gymnasium, S. 349 (Zitat). Nipperdey, Arbeitswelt, S. 558f., bezweifelt dagegen, dass die Rhetorik eines solchen Schulpatriotismus mit der sozialen Praxis identisch gewesen sei. 260 Ebd., S. 548; ders., Bürgerwelt, S. 455 (Zitat). 261 Ebd.; Herrmann, Gymnasium, S. 349; vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S. 100; Kraul, Gymnasium, S. 98f.
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Leutwein stellte daher wohl keine Ausnahme dar, wenn er einen »wohlgeordneten Polizei- und Verwaltungsstaat, wie Deutschland« zum Ideal stilisierte.262 Mit Blick auf die späteren Tätigkeitsfelder der Gruppenmitglieder dürfte darüber hinaus eine Sensibilisierung für kulturelle Unterschiede ebenso wenig eine Rolle in der Unterrichtspraxis gespielt haben wie etwaige Ansätze zur Überwindung des noch zu thematisierenden ethnozentrischen Blickwinkels.263 Dass das Gymnasium nicht die einzige Schulform für die späteren Kolonialgouverneure darstellte, kam bereits zur Sprache. Vier von ihnen absolvierten ihre Schulausbildung stattdessen im preußischen bzw. bayerischen Kadettenkorps. Dabei war bei Schele und Zech der Besuch einer solchen Anstalt seitens der Eltern vorgezeichnet. Bei letzterem hatten bezeichnenderweise schon seine älteren Brüder die Münchner Kadettenanstalt besucht.264 Bei Liebert war der frühe Tod des Vaters, einem preußischen Major, der Beweggrund gewesen, ihn auf eine Kadettenschule zu schicken. Die niedrigeren Ausbildungskosten entsprachen eher dem finanziellen Spielraum seiner verwitweten Mutter als die Fortsetzung des Gymnasialbesuchs.265 Bei Wißmann, der als 17-jähriger ungewöhnlich spät in das Kadettenkorps kam, dürften dagegen schulische Probleme maßgebend gewesen sein. Dafür sprechen nicht zuletzt die für einen sogenannten ›Pensionär‹ an der Berliner Hauptkadettenanstalt vergleichsweise hohen Jahresbeiträge.266 Die Genannten zählten trotzdem zu den für eine spätere Offizierslaufbahn ›erwünschten‹ Kreisen, waren doch ihre Väter entweder Offiziere oder höhere Beamte. Schele und Zech gehörten zudem dem bevorzugten Adelsstand an.267 Die Exklusivität bei den Zugangsvoraussetzungen stand allerdings in einem krassen Gegensatz zum Ausbildungsniveau. Tatsächlich waren diese Pflanzstätten künftiger Offiziere eher Orte des Faustrechts als solche des Bildungserwerbs. Mögen kritische Erinnerungsschriften ehemaliger Kadetten auch teilweise überzeichnet sein, so finden sich
262 BA-B R 1001/2032, Bl. 12–16, Leutwein (Windhuk) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 11.12.1894, Bericht. 263 Allgemein: Schmöe, Kommunikation, S. 303. 264 Franz, Theodor und Maximilian v. Zech hatten zwischen 1872 und 1883 die Kadettenschule durchlaufen und anschließend die Offizierslaufbahn eingeschlagen. Franz Graf Zech war zudem von 1884–88 als Inspektionsoffizier an der Kadettenschule tätig und damit einer der ›Vorgesetzten‹ des späteren Gouverneurs. Festschrift, S. 11, 56, 58. 265 Liebert, Leben, S. 9, 12. Die Zuzahlung für eine »Freistelle für Offizierwaisen« im preußischen Kadettenkorps lag 1860/61 bei 30 Talern im Jahr, während sich die Witwenpension von Lieberts Mutter auf 520 Taler/Jahr bezifferte. Auch sein Bruder Hermann absolvierte die Kadettenschule. Allgemein: Nipperdey, Machtstaat, S. 219; Moncure, Sword, S. 83f. 266 Nach Schmitz, Jugenderziehung, S. 70f., war das Scheitern an einer zivilen Schule der häufigste Grund für einen späten Eintritt ins Kadettenkorps. Die Ausbildungskosten für einen solchen ›Pensionär‹ waren kaum geringer als die eines staatlichen Gymnasiums. Moncure, Sword, S. 84 (Tab. 3–1); vgl. Clemente, King, S. 87f.; Perbandt u.a., Wißmann, S. 4f., 14, wonach seine »Lücken aus der Schulzeit aber groß« gewesen seien. Insofern ist die Annahme in Essner, Afrikareisende, S. 59, Wißmann sei durch den »frühe[n] Tod des Vaters […] zum Eintritt in das Kadettenkorps genötigt« worden, kaum zutreffend. 267 Ostertag, Bildung, S. 102f.; Rumschöttel, Offizierkorps, S. 87. Danach war auch in Bayern die Zugehörigkeit zu den höheren sozialen Schichten Voraussetzung für die Aufnahme im Kadettenkorps.
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selbst in den Memoiren Lieberts, der sich im Nachhinein als »dankbarer Verehrer« des preußischen Kadettenkorps bezeichnete, nicht wenige Passagen über einen unerfreulichen Alltag.268 Zwar war das Bildungsziel an den Kadettenschulen formal mit dem des zivilen Realgymnasiums identisch, doch entsprach nach dem Zeugnis Lieberts das Lernpensum in Wirklichkeit »weder dem des Gymnasiums noch dem des Realgymnasiums«. Auch seien »manche Lehrer nicht ganz auf der Höhe ihrer Aufgabe« gewesen.269 Das Resultat sei daher eine »begrenzte« und von einer »gewissen Einseitigkeit« gekennzeichnete Bildung gewesen, weshalb es kaum verwundert, dass Liebert »die Bewältigung des Lehrstoffes […] durch alle Klassen« als »sehr leicht« empfand.270 Ebenso wie andere Kadetten gewann er stattdessen den Eindruck, dass die »Erziehung und die Vorbereitung für den selbstgewählten Beruf« des Offiziers in diesen Anstalten von »viel höherer Bedeutung« gewesen seien, als die Verinnerlichung der »Masse des Lernstoffs und der Grad des Wissens«. Den eigentlichen Kern der Ausbildung hätten daher eine »spartanische Einfachheit im ganzen Lebenszuschnitt, Abhärtung gegen jede Witterung und gegen Schmerz, Selbstbeherrschung und gute Haltung« gebildet. Dementsprechend galten sportlich-körperliche Leistungen weitaus mehr als gute Zensuren in den übrigen Fächern.271 Die Münchner Kadettenanstalt scheint im Hinblick auf die Bildungsvermittlung zwar etwas anspruchsvoller gewesen zu sein, trotzdem war auch der Bildungserwerb Zechs dem an einem regulären Gymnasium kaum gleichwertig. Das bestätigen selbst interne Einschätzungen, lautete doch die Kritik eines bayerischen Generals, die Kadetten fielen in der anschließenden Offiziersausbildung auf als »die Letzten, die wenigst Befähigten […], welche am wenigsten leisten«.272 Ähnlich marginale Unterschiede zwischen bayerischen und preußischen Anstalten dürfte es in den allgemeinen Verhältnissen gegeben haben. Erneut verdecken die Ausführungen Lieberts keineswegs die tatsächlichen Zustände. So sei der »gesamte Ton des Kadettenlebens […] streng und rauh« gewesen, was besonders in der »Behandlung der Jüngsten und Schwächsten […] zum Ausdruck« gekommen sei. Sie seien von den Älteren »elendiglich verprügelt« worden und durften dabei »nicht weinen und mucksen«.273 Dazu sei auch die »Hand des Vorgesetzten stellenweise sehr locker« gewesen.274 Während 268 Liebert, Leben, S. 13 (Zitat). Zu den bekanntesten veröffentlichten Selbstzeugnissen ehemaliger preußischer Kadetten zählen: Salomon, Kadetten; Wiese, Kadettenjahre. 269 Liebert, Leben, S. 13 (Zitate). Ähnlich: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 178; Endres, Struktur, S. 298. Die Dauer der Ausbildung umfasste sechs Jahre, wobei die preußischen Kadetten nach vier Jahren aus einer der sogenannten Voranstalten an die Berliner Hauptkadettenanstalt überwechselten. Besonders positiv beurteilte Kadetten konnten dort nach Ablauf der beiden obligatorischen Ausbildungsjahre in die ›Selekta‹ versetzt werden. Dieses dritte Jahr ersetzte dann den Besuch der Kriegsschule. Aus dem Sample traf dies auf Schele zu, während Liebert zwar für die Selekta eingeteilt, angesichts des Krieges gegen Österreich (1866) aber vorzeitig einem Regiment zugeteilt wurde. Allgemein: Ostertag, Bildung, S. 101–104, 112–123; Moncure, Sword, S. 143–176; Clemente, King, S. 91–101; Heckner/Bossi Fedrigotti, Kadetten, S. 85f., 88f.; Teicher, Kadetten-Corps, S. 109–111. 270 Liebert, Leben, S. 13, 22. 271 Ebd., S. 14f. Allgemein: Zabel, Kadettenkorps, S. 185; Schmitz, Jugenderziehung, S. 6f. 272 General Karl v. Orff (1883), zitiert nach: Rumschöttel, Offizierkorps, S. 100. 273 Liebert, Leben, S. 15 (Zitate). Ähnlich: BA-MA N 227/11, Bl. 6f., Morgen, Lebenserinnerungen; Wiese, Kadettenjahre, S. 28, 40; Heckner/Bossi Fedrigotti, Kadetten, S. 89. 274 Liebert, zitiert nach: Lindenberg, Feldmarschall, S. 25; vgl. Wiese, Kadettenjahre, S. 30f.
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körperliche Züchtigungen vor allem für die jüngeren Kadetten keine Seltenheit darstellten, machten die Älteren häufig »Bekanntschaft mit dem Arrestlokal«.275 Aussagekräftig zu dieser Atmosphäre aus Gewalt und Kontrolle ist nicht zuletzt Lieberts Hinweis, dass die Sommerferien bei Mutter und Großeltern für ihn stets eine vorübergehende Heimkehr »ins Leben« und »in die Menschlichkeit« bedeutet hätten.276 Die militärischen Bildungsanstalten und ihre potentiellen Auswirkungen auf die Sozialisation unterschieden sich somit ohne Zweifel von denen des regulären Schulwesens. Kein Gymnasiast war auch nur ansatzweise einem derart umfassenden System aus Kontrolle und Zwang ausgesetzt. Trotz aller berechtigten Kritik am schneidig-patriotischen Stil stand in den Gymnasien stets der Wissenserwerb einschließlich der Gewährung eines Mindestmaßes an persönlichen Freiräumen im Vordergrund.277 Blieb die Familie für die ›zivilen‹ Oberschüler nach wie vor der wesentliche Bezugspunkt, musste unter den Kadetten nicht nur Liebert feststellen, dass ihm seine Angehörigen bald »fast fremd geworden« seien. Die Fixpunkte seines Weltbildes waren stattdessen fortan das »Regiment, die Armee, das große Vaterland«.278 Unter den Gruppenmitgliedern repräsentieren zweifellos Liebert und Schele eine ›erfolgreiche‹ Kadettenausbildung. Beide hatten sechs bzw. sieben Jahre in einschlägigen Anstalten verbracht und damit den Grundstein für ihre Offizierskarrieren gelegt. Tatsächlich erreichten beide höchste militärische Ränge. Die früh eingeübten Verhaltensnormen kamen ihnen dabei zweifellos zugute. Diese bestanden Liebert zufolge aus einem »Geist glühender Vaterlandsliebe, der Hingebung und des Opfermuts für König und Heimatland« sowie aus einem »strammen Gehorsam«, der eine »Pflichterfüllung bis ins kleinste und bis zum äußersten« einschloss.279 Nach dem Urteil seiner Vorgesetzten entsprach auch Schele den Erwartungen, die an einen Absolventen der Kadettenschule gestellt wurden:280 »Lieutenant von Schele ist ein wohlerzogener junger Mann, voller Strebsamkeit und Ehrgeiz. Sein Fleiß, verbunden mit schneller Auffassung, seine Passion zum Reiten, berechtigen zu der Erwartung, daß er bald ein recht brauchbarer Kavallerieoffizier werden wird.« Das galt in ähnlicher Weise auch für Zech. Allerdings war er in München einem nicht ganz so restriktiven Kontrollregime ausgesetzt. Bei ihm wirkten vermutlich die räumliche Nähe des Elternhauses sowie die Anwesenheit seiner älteren Brüder ausgleichend.
275 Perbandt u.a., Wißmann, S. 5. 276 Liebert, Leben, S. 15 (Zitate). Allgemein: Ostertag, Bildung, S. 104–112, 123–136; Zabel, Kadettenkorps, S. 182–222; Schmitz, Jugenderziehung, S. 3. 277 Vgl. Nipperdey, Arbeitswelt, S. 558–563. 278 Liebert, Leben, S. 22. 279 Ebd., S. 14, 22 (Zitate). Auch der spätere Generalstabsoffizier in DSWA, Wilhelm Heye, sah ein »scharfes Pflichtgefühl, das sich von früher Kadettenzeit an in mir mehr und mehr entwickelte«, als wichtigstes Resultat dieser Erziehung. BA-MA N 18/1, Bl. 7, Heye, Erinnerungen; vgl. Zabel, Kadettenkorps, S. 186, 188. 280 Krug v. Nidda vom 1.1.1866, zitiert nach: Priesdorff, Führertum 10, S. 268. Die Beurteilung datiert knapp acht Monate nach dem Ende seiner Kadettenzeit.
2. Dispositionen
Von einer weniger intensiven Prägung durch das Kadettenleben kann noch mehr bei Wißmann ausgegangen werden, verbrachte er doch lediglich zwei Jahre an der Berliner Kadettenanstalt, noch dazu im jungen Erwachsenenalter. Bezeichnenderweise war es für den auch später stets aneckenden Nonkonformisten schon damals »nicht ganz leicht, sich […] ohne weiteres in eine straffe Disziplin zu finden.«281 Fast alle späteren Gouverneure, die das Gymnasium besucht hatten, setzten ihren Bildungsgang an einer Hochschule fort. Die meisten dieser jungen Männer favorisierten ein rechtswissenschaftliches Studium. Lediglich vier schrieben sich zunächst in anderen Fächern ein. Dabei handelte es sich um Medizin (Gleim), Geschichte (Schultz), Philologie (Solf) und das Bergfach (Haber). Von ihnen gelang es aber lediglich dem letztgenannten, mit diesem Bildungsgang auch im Kolonialdienst Fuß zu fassen. Die drei anderen wechselten schließlich ebenfalls in die Rechtswissenschaft über. Bei Solf erfolgte das erst nach einem abgeschlossenen Studium in altindischer Sprachwissenschaft sowie weiteren beruflichen Umwegen, hatte er es doch ursprünglich vermeiden wollen, in den »langweiligen Staatsdienst« eintreten zu müssen.282 Von den zwanzig Studienanfängern der späteren Gouverneure erwarben lediglich zwei keinen Abschluss: Götzen und Leutwein entschieden sich stattdessen noch während des Studiums aus freien Stücken für den Übertritt in die Offizierslaufbahn.283 Deuten die Väterberufe ebenso wie der Besuch des Gymnasiums auf eine Zugehörigkeit zu den gehobenen Schichten hin, belegt auch die Wahl des Studienfachs eine mehr oder minder privilegierte Ausgangsposition. Tatsächlich galt die »herrschaftsnahe Fakultät der Juristen« als besonders exklusiv, da dort die künftigen Führungskräfte für Staatsdienst und Wirtschaft herangebildet wurden.284 Dabei ist es keineswegs als Zufall zu werten, wenn die betreffenden Gruppenmitglieder in einigen äußerlich messbaren Merkmalen dem typischen Jurastudenten nahekamen. Dieser stammte in der Regel aus dem Bildungs- oder Wirtschaftsbürgertum; zugleich war der Adelsanteil bei den Juristen höher als in anderen Fakultäten.285 Auch die Herkunftssphären verwundern kaum, bestimmten doch in der Regel die Väter die Wahl des Studienfachs, wobei nicht selten deren eigene berufliche Stellung den Ausschlag gab.286 Tatsächlich lag die Selbstrekrutierungsquote bei den Akademikern der Gruppe recht hoch. Auch die Väter von Bennigsen, Ebermaier, Gleim, Köhler, Puttkamer, Rechenberg, Schnee und Zimmerer hatten ein juristisches Studium absolviert oder bekleideten eine Position als höhere Beamte. Nicht zuletzt für Sprösslinge aus dem Wirtschaftsbürgertum, wie Hahl oder Seitz, stellte das Studium der Rechtswissenschaften eine adäquate Ausgangsbasis dar. Daran vermochten selbst die seit den 1880er Jahren 281 Perbandt u.a., Wißmann, S. 5. 282 Vietsch, Solf, S. 22f.; Hempenstall/Mochida, Man, S. 29f.; BA-K N 1053/1, Bl. 3f., Solf (Kiel) an seine Mutter vom 2.9.1887, Schreiben (Zitat). 283 GLA-KA, 238/1163, Personal-Bericht zu Theodor Leutwein vom 21.10.1869; Bindseil, Ruanda, S. 35. 284 Jarausch, Studenten, S. 79; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 583 (Zitat); Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 744. 285 Jarausch, Studenten, S. 79; ders., Universität, S. 327; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 580. 286 Budde, Bürgerleben, S. 120, 217f.; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 58; vgl. Jarausch, Universität, S. 327; ders., Studenten, S. 79; BA-B N 2272/4, S. 34, Schuckmann, Lebenslauf.
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durchaus realen ›Überfüllungskrisen‹ in den akademischen Berufen wenig zu ändern. Das Überangebot an Juristen sorgte seither zwar für verlängerte Wartezeiten bis zur Zuteilung einer besoldeten Planstelle, doch büßte das Fach dadurch kaum an Attraktivität ein.287 Ein Blick auf die späteren Gouverneure scheint das zu bestätigen, war doch das Gros von ihnen gerade in der Phase eines zunehmenden Andrangs in die höhere Beamtenlaufbahn für dieses Fach immatrikuliert. Neben dem zeitlichen Schwerpunkt in den 1880er Jahren fällt eine breite Streuung bei der Hochschulwahl auf. Fast alle der damals zwanzig deutschen Universitäten wurden von den Gruppenmitgliedern frequentiert.288 Zeitweilig im europäischen Ausland studierten lediglich Rechenberg (Prag) und Götzen (Paris). Zum gleichzeitigen Studium späterer Amtskollegen an derselben Universität kam es dagegen nur selten. Daraus resultierende Bekanntschaften sind am ehesten an der Berliner Friedrich-WilhelmsUniversität denkbar, wo Bennigsen und Rechenberg (1879/80), Lindequist und Seitz (1883/84), Gleim und Schultz (1888/89) sowie Schnee und Schultz (1891) zur selben Zeit immatrikuliert waren.289 Allerdings zählte die dortige Jura-Fakultät schon damals eintausend und mehr Studierende, so dass Bekanntschaften mit beruflichen Auswirkungen spekulativ bleiben. Immerhin arbeiteten Bennigsen und Rechenberg wenige Jahre später während ihrer ersten Dienstperiode in Ostafrika zusammen. Zum zweiten Duo lässt sich konstatieren, dass Seitz im Sommer 1910 auf Vorschlag Lindequists zum Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika ernannt wurde. Auch Schnee und Schultz, die später regelmäßig miteinander korrespondierten, trafen während des Sommers 1898 in der Kolonialabteilung wieder aufeinander. Die möglichen Bekanntschaften unter späteren Berufskollegen deuten bereits an, dass die formalen Bildungspatente alleine nicht zwingend eine erfolgreiche Karriere im Staatsdienst garantierten. Neben etwaigen, auf dem sozialen Kapital des Elternhauses basierenden Konnexionen fungierten auch die Universitäten selbst als Kontaktbörsen. Eine Möglichkeit für den Zugang zu einschlägigen Netzwerken bot der Eintritt in eine studentische Korporation. Neben einer Fortführung innerfamiliärer Traditionen konnten die dort geknüpften Bekanntschaften die späteren Berufschancen verbessern.290 Auch scheint die Bedeutung solcher Verbindungen von Jura-Studierenden besonders hoch eingeschätzt worden zu sein, bildeten diese doch neben den Medizinern das Gros der Mitglieder in den exklusiven Corps.291 Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Zugehörigkeit erhöhte sich in Abhängigkeit vom späteren Dienstrang innerhalb der Beamtenhierarchie, war doch 1882 etwa jeder Fünfte aller höheren Berliner Ministe-
287 Jarausch, Studenten, S. 73–75; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 578. 288 Zur damaligen Universitäts-Landschaft: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1211. 289 Daneben hatten Köhler und Schuckmann in Leipzig (1879/80) sowie Horn und Seitz in Heidelberg (1884) zeitgleich studiert. 290 Corps-Mitgliedschaften im engeren Verwandtenkreis lassen sich etwa für Bennigsen und Schuckmann nachweisen. Kösener Korps-Listen, S. 294, 520; BA-B N 2272/4, S. 29, Schuckmann, Lebenslauf. 291 Gehörte unter sämtlichen Studierenden kaum jeder zwanzigste einem Corps an, war es unter den angehenden Juristen mindestens jeder zehnte. Errechnet nach: Biastoch, Studenten, S. 270; Jarausch, Universität, S. 335; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1211f.
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rialbeamten ein ehemaliges Corps-Mitglied.292 Die Untersuchungsgruppe übertrifft selbst diesen Wert erheblich. Tatsächlich lässt sich bei elf der achtzehn Akademiker eine Mitgliedschaft nachweisen. Darüber hinaus sind Köhler, Schultz, Seitz und Solf anzuführen, die zwar nicht einem regelrechten Corps, zum Teil aber ebenfalls schlagenden Verbindungen angehörten. Dadurch steigt der Anteil solcher Mitgliedschaften auf mehr als vier Fünftel unter den Akademikern der Untersuchungsgruppe.
Tabelle 4: Mitgliedschaften in studentischen Verbindungen293 v. Bennigsen
Corps Suevia, Straßburg (1878)
Ebermaier
Corps Rhenania, Tübingen (1882)
Gleim
Corps Teutonia, Marburg (1886) Corps Lusatia, Leipzig (1886)
Haber
Corps Rhenania, Bonn (1888)
Horn
Corps Vandalia, Heidelberg (1885)
Köhler
Leipziger Universitäts-Sängerschaft zu St. Pauli (1879)
Leutwein
Burschenschaft Alemannia, Freiburg (1867)
v. Puttkamer
Corps Misnia, Leipzig (1873/74) Corps Hasso-Borussia, Freiburg (nach 1874)
v. Rechenberg
Corps Cheruscia, Prag (um 1881) Corps Guestphalia, Berlin (1885)
Schnee
Corps Rhenania, Heidelberg (1889)
v. Schuckmann
Corps Saxo-Borussia, Heidelberg (1877)
Schultz
Burschenschaft Thuringia, Berlin (1888)
Seitz
Verbindung Vineta, Heidelberg (1884)
v. Soden
Corps Suevia, Tübingen (1865) Corps Bremensia, Göttingen (1866)
Solf
Landsmannschaft Slesvico-Holsatia (1882) Landsmannschaft Verdensia (1884)
Zimmerer
Corps Bavaria, Würzburg (1862)
Angesichts dieser Auflistung fällt auf, dass wiederum keine gleichzeitigen Mitgliedschaften in ein und demselben Corps vorkamen. Unter denjenigen Fällen, in denen das zumindest für eine universitätsübergreifende Corps-Bezeichnung zutrifft, also bei der Suevia (Bennigsen, Soden) und der Rhenania (Ebermaier, Haber, Schnee), lassen
292 Nipperdey, Machtstaat, S. 134. 293 Kösener Korps-Listen, S. 10, 90, 265, 479, 496, 528, 649, 711, 841, 868, 879, 893; Gesamtverzeichnis der Pauliner, S. 71; Biographisches Lexikon der deutschen Burschenschaft 3, S. 280f, 5, S. 413f. und I/5, S. 356f.; Mitglieder der Vandalia, S. 175. In Klammern Jahr des Beitritts. Solfs Landsmannschaft Verdensia war bezeichnenderweise eine Neugründung des ehemaligen Corps Verdensia. Leutwein ist hier der Vollständigkeit halber mitaufgenommen, obwohl er nicht zu den Akademikern zählt.
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sich immerhin für die zweite Gruppierung Hinweise auf ein mögliches Networking ausmachen. Spätestens mit ihrer annähernd gleichzeitigen Ernennung zu Vortragenden Räten im Reichskolonialamt besetzten ausgerechnet diese drei Beamten dort Schlüsselpositionen. Dennoch dürften solche Konstellationen die Ausnahme darstellen, da ein Abgleich mit den Vorgesetzten der Gruppenmitglieder in Kolonialabteilung bzw. Reichskolonialamt nur wenige ›Corpsbruderschaften‹ zu Tage fördert.294 Trotzdem wurden einschlägige Konnexionen bereits in der zeitgenössischen Presse thematisiert, wie etwa in Bezug auf Horn und seine Ernennung zum Gouverneur von Togo. Dabei erwies sich die postulierte gemeinsame Mitgliedschaft mit dem Personalchef König bei den Heidelberger Vandalen aber als frei erfunden.295 In diesem Fall irrte die mediale Berichterstattung aber lediglich im Hinblick auf die Person des Förderers. Tatsächlich dürfte Horn stattdessen von der Unterstützung des ebenfalls bei der Vandalia korporierten Friedrich von der Decken profitiert haben. Beide hatten nicht nur zusammen in Heidelberg und Berlin studiert, sie waren 1896 auch zur selben Zeit in die Kolonialabteilung eingetreten. Kurz vor Horns Ernennung war Decken in der Berliner Zentrale zum Vortragenden Rat aufgestiegen und dürfte dort begünstigend für ihn gewirkt haben.296 Ein weiteres Beispiel für das Funktionieren solcher Konnexionen – wenn auch außerhalb der kolonialen Sphäre – liefert Soden, der nicht nur zusammen mit dem württembergischen Thronfolger in Tübingen und Göttingen studiert hatte. Beide waren zudem in den gleichen Verbindungen aktiv gewesen. Mehr als dreißig Jahre später ernannte der zwischenzeitliche König Wilhelm II. seinen früheren Kommilitonen zum Kabinettschef, Kammerherrn und schließlich auch zum Staatsminister.297 Auch aus Sodens Perspektive scheinen solche Verbindungen nicht bedeutungslos gewesen zu sein, holte er sich doch später Franz Sonnenschein als Oberrichter nach Daressalam, der – wie Soden – ein ›Alter Herr‹ der Göttinger Bremensia war.298 Trotz solcher Fälle von erfolgreichem Networking lässt die relative Seltenheit von Mitgliedschaften in ein und derselben Korporation aber darauf schließen, dass es weniger darauf ankam, einer bestimmten Verbindung anzugehören, als auf die Zugehörigkeit an sich. Durch die Bereitschaft, am Korpsleben teilzunehmen und sich freiwillig den im Grunde korporationsübergreifenden Verhaltensregeln zu unterwerfen, doku-
294 Unter 36 überprüften Direktoren, Abteilungsleitern und Vortragenden Räten von Kolonialabteilung bzw. Reichskolonialamt lässt sich für ein knappes Drittel eine Korporationsmitgliedschaft nachweisen. 295 Berliner Tageblatt Nr. 391 vom 4.8.1906; BA-B R 43/941, Bl. 48f., KA, o.D. [Sommer 1906], Vermerk. Gegen eine Protektion spricht auch der sachliche Duktus in: BA-B N 2146/31, Horn (Lomé) an König vom 11.10.1902, Schreiben. Trotzdem wurde das Postulat übernommen in: Sebald, Togo, S. 535; Zurstrassen, Beamte, S. 245f. 296 Kösener Corps-Listen, S. 528. Dort ist v.d. Decken (1864–1942) unter der Mitglieds-Nr. 570 und Horn unter Nr. 579 verzeichnet. 297 Ow, Soden, S. 269; Biastoch, Studenten, S. 211. 298 Sonnenschein (1857–97) kam wie Soden aus dem Konsularischen Dienst, hatte dann zeitweilig als Kommissar der Marshall-Inseln fungiert und gehörte von November 1891 bis Januar 1893 zum engeren Stab um den Gouverneur von DOA. BHAD 4, S. 294f.
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mentierte der Einzelne das Vorhandensein eines Sets der für die höhere Beamtenlaufbahn erwünschten Eigenschaften und einer entsprechenden Gesinnung.299 Tatsächlich sprechen die Quellen dafür, dass die betreffenden Gruppenmitglieder diese Verhaltensnormen auch auslebten. Diese bestanden aus einem gemeinsamen Alkoholkonsum, einem unbedingten Gehorsam gegenüber älteren Mitgliedern sowie einem spezifischen Ehrverständnis.300 Mindestens Ebermaier, Schultz und Soden traten als Studenten polizeilich in Erscheinung, wobei es sich um nächtliche Ruhestörungen, exzessive Trinkgelage, »groben Unfug« oder »Weibergeschichten« gehandelt hatte.301 Schuckmann äußerte sich in seiner hymnischen Beschreibung des Korpslebens eher indirekt über die Folgen dieser einseitig interpretierten Lebensfreiheit während des Studiums. Ihm hatten zwei Semester bei den Heidelberger Saxo-Borussen zwar eine »selige, herrliche Zeit«, zugleich aber auch Schulden in Höhe von 2.500 Mark beschert. Die ununterbrochene Abfolge von Fechtturnieren und Zechgelagen hatten mehr als das Jahresgehalt eines preußischen Gymnasiallehrers verschlungen. Es verwundert wenig, dass Schuckmanns Vater »furchtbar böse« auf diese Form des ›Studierens‹ reagierte.302 Auch Schnee löste durch seine Teilnahme am »Raufen und Trinken« im Elternhaus wenig Freude aus, doch schrieb auch er Jahre später an seinen Vater, dass er sich »für das Corps […] immer noch sehr lebhafte Empfindungen bewahrt« habe.303 Am folgenreichsten wirkten sich die Erscheinungen studentischer Subkultur bei Puttkamer aus. Auch er war in Leipzig und Freiburg studentischen Corps beigetreten, dabei aber dem Glücksspiel verfallen.304 Nachdem im Sommer 1897 – Puttkamer war inzwischen Gouverneur von Kamerun – die Presse die zwanzig Jahre zurückliegenden Vorkommnisse aufgegriffen hatte, erläuterte er in einem Privatbrief dem Personalchef der Kolonialabteilung seine Sicht der Dinge:305 »Als junger Student hatte ich in Freiburg i.B. Schulden gemacht, die sich im Ganzen […] auf etwa 4.000 M[ark] beliefen. Auf Wunsch meines Vaters ging ich nach Breslau; vor meinem Abgang streckte mir, um alles zu ordnen, ein Premierleutnant a.D. Zimmer den Betrag vor gegen einfachen Schuldschein; ich sollte ihm den Betrag binnen Jahresfrist von Breslau aus einschicken, war abgemacht. […] Mein Vater gab mir den Betrag, um meine Schuld bei Zimmer einzulösen. Nun folgt mein grobes Verschulden: Anstatt die Summe sofort abzuschicken, verabsäumte ich dies und verbrauchte das Geld anderweit. Meinen Vater sofort um den gleichen Betrag anzugehen, wäre sicher erfolglos gewesen. Ich schrieb daher an Zimmer […], dass ich zur Zeit nicht zahlen könne und bat ihn um einige Monate Aufschub. Zimmer war nun in der Zwischenzeit durch mein 299 Vgl. Jarausch, Studenten, S. 67f.; Nipperdey, Machtstaat, S. 134. 300 Jarausch, Universität, S. 333; ders., Studenten, S. 61; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 582; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1217; Budde, Bürgerleben, S. 214; Spode, Trunkenheit, S. 232, 262. 301 UA-J Bestand K, Nr. 239, Bl. 59r, Polizei-Präsidium Berlin vom 17.12.1897, Führungs-Zeugnis für Erich Schultz; Hoffmann, Ebermaier, S. 26, Anm. 5; Ow, Soden, S. 251. 302 BA-B N 2272/4, S. 29–32, Schuckmann, Lebenslauf. 303 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 24.4.1900, Schreiben. Ihm war zeitweilig das ›Band‹ des Corps entzogen worden. Zu Schnees Corps-Zugehörigkeit: Huth, Lebensweg, S. 12; Abermeth, Schnee, S. 52. 304 Vgl. BA-B N 2146/50, Soden an KA (Humbert) vom 20.4.1894, Schreiben. 305 Ebd., Puttkamer (Buea) an König vom 9.12.1897, Schreiben.
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ehemaliges Corps so aufgehetzt worden, dass er mir kurz erwiderte, er denke nicht daran, zu warten, sondern werde, falls das Geld nicht pünktlich einginge, mich bei der Hassoborussia wegen gebrochenen Ehrenworts verklagen. Zu diesem Vorgehen muss Z[immer] durch Einflüsterungen meiner studentischen Feinde bewogen worden sein, denn niemals hatte ich ihm in irgendwelcher Form ein Ehrenwort verpfändet. Als der Zahltag kam und das Geld nicht einging, verfuhr Z[immer] wie gedroht; der Erfolg war, dass das Corps ihm aufs Wort glaubte und ohne mich auch nur zu hören die Dimission in die entehrende Exklusion verwandelte. Ich hatte damals tatsächlich Schulden in nicht unbeträchtlicher Höhe, und da mein Vater nicht geneigt war, dieselben ohne weiteres zu bezahlen, ging ich zu einem alten Freunde meines Vaters, dem Baron von Nordenflycht, nach Russland, wo ich mich über ein Jahr der Jagd und Landwirtschaft widmete.« Zwar konnte Puttkamer nach seiner Rückkehr und einem Wechsel der Universität doch noch das Erste Staatsexamen ablegen und nach Begleichung der Schulden den unehrenhaften Ausschluss bei den Hasso-Borussen in einen freiwilligen Austritt umwandeln. Bei diesen »Verfehlungen […] bedenklicher Art« sollte es jedoch nicht bleiben, worauf noch zurückzukommen sein wird.306 Darüber hinaus lieferte Puttkamer auch später wiederholt Kostproben der im Studium eingeübten Verhaltensweisen:307 »Daß v. P[uttkamer] bei seiner Anwesenheit in Berlin es liebt[, sich] nach Studentenart die Nächte hindurch in zweifelhaften Lokalen zu bewegen und dabei gelegentlich auch mit höchst bedenklichen Existenzen Bekanntschaft schließt, ist notorisch.« Neben dem Alkoholkonsum sowie ersten sexuellen Erfahrungen war für die kaum zwanzigjährigen Männer nicht zuletzt das entschärfte Duell in Gestalt der Bestimmungsmensur von Bedeutung.308 Die Kösener-Korps-Listen belegen, dass die späteren Gouverneure auch in dieser Beziehung keine Ausnahme darstellten.309 Kaum einer von ihnen scheute den Zweikampf auf dem Fechtboden, wovon manche sichtbare Narben davontrugen.310 Auf das eingeübte Ideal des unerschrockenen Kämpfers bezog sich Schuckmann noch als stellvertretender Gouverneur in Kamerun. Über sein Verhalten während des Gefechts bei Buea, wo er nach dem Tod des militärischen Kommandeurs die Truppe zum Angriff führte, schrieb er nach Hause: »Es ist nicht meine Aufgabe
306 Ebd., Soden an KA (Humbert) vom 20.4.1894, Schreiben; ebd., KA (König) vom 23.11.1905, Aufzeichnung betr. Gouverneur v. Puttkamer (Zitat); vgl. Frankfurter Zeitung vom 15.3.1906. 307 BA-B N 2146/50, KA (König) vom 23.11.1905, Aufzeichnung betr. Gouverneur v. Puttkamer; ähnlich: BA-MA N 227/11, Bl. 55f., Morgen, Lebenserinnerungen; vgl. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 69. 308 Allgemein: Frevert, Ehrenmänner, S. 133–167; Gay, Kult, S. 17–46. 309 Mindestens für Bennigsen, Ebermaier, Gleim, Haber, Schuckmann, Soden und Zimmerer ist die Teilnahme an Bestimmungsmensuren überliefert. Kösener Korps-Listen, S. 90, 265, 496, 649, 841, 868, 879, 893. 310 Sogenannte ›Schmisse‹ lassen sich unschwer auf Porträtfotographien von Bennigsen, Ebermaier, Gleim, Puttkamer und Schnee erkennen.
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zu fechten, aber dass ich zurückgehe, kann keiner von einem alten S[axo-]B[orussen] verlangen.«311 Die Mitglieder der Corps praktizierten darüber hinaus einen als apolitisch empfundenen Patriotismus und stellten sich nach der Reichsgründung geschlossen hinter den neuen Staat.312 Gerade seit den 1880er und 1890er Jahren war dieser neue Nationalismus zusätzlich von einem Bismarck-Kult, der überschwänglichen Begehung nationaler Gedenkfeiern sowie einem Ausschluss jüdischer Mitglieder gekennzeichnet.313 Wenn auch eine patriotische Grundhaltung die Regel war, wird das Gemeinschaftserlebnis sowie das Durchlaufen der Initiationsriten auf dem Weg zum ›Mann‹ aber vermutlich nachhaltigere Eindrücke bei den korporierten Samplemitgliedern hinterlassen haben als die politisch-ideologischen Inhalte.314 Generell scheint ohnehin das Gros der Studierenden ein eher mäßiges Interesse für innen- oder außenpolitische Detailfragen und Zusammenhänge aufgebracht zu haben.315 Ob die wenigen Gruppenmitglieder, die keiner studentischen Korporation beitraten (Brückner, Hahl, Lindequist), ihre individuelle Freiheit dem vermeintlichen Gemeinschaftserlebnis vorzogen, ein ausgeprägteres Interesse an den eigentlichen Studieninhalten besaßen oder sich größeren ökonomischen Zwängen unterworfen sahen, lässt sich kaum abschließend klären.316 Möglicherweise empfanden sie ähnlich wie der spätere Reichskanzler Bernhard v. Bülow, dem der »übermäßige Biergenuss« ebenso missfiel, wie ihn die »Kneipwitze« und der »banausische Ton« im Korpsleben anwiderten.317 Nachdem gerade unter den Studierenden der Rechtswissenschaften ein ›Verbummeln‹ der ersten Semester keineswegs unüblich war, markierte der Wechsel an eine Universität mit weniger lebhafter Corps-Kultur den Übergang zum eigentlichen Studium. Dort erfolgte dann die gezielte Vorbereitung auf das Examen.318 Das Beispiel Schuckmanns dürfte erneut typisch sein: Er fing nach eigener Aussage im vierten Semester »in Breslau an zu arbeiten«, um dann im siebten Semester das Staatsexamen abzulegen.319 Ernsthafte Schwierigkeiten scheinen diese Abschlussprüfungen nicht bereitet zu haben. Mancher Absolvent mokierte sich im Nachhinein über die »Leichtigkeit der ersten juristischen Staatsprüfung von damals« (1887), wobei der Studienabschluss an manchen Universitäten als besonders leicht empfunden wurde.320 Es muss allerdings dahingestellt bleiben, ob Lindequist kurz vor seinem Examen nach Greifswald wechselte, weil
311
BA-B N 2272/2, Schuckmann (Kamerun) an Eltern und Geschwister vom 22.11.1891, Schreiben. Siehe auch Kapitel 4.3.2. 312 Jarausch, Studenten, S. 59. 313 Ebd., S. 82–91; ders., Universität, S. 334, 336; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 583f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1217; Biastoch, Studenten, S. 205, 209–211, 214–218, 223. 314 Vgl. Budde, Bürgerleben, S. 210–214. 315 Jarausch, Universität, S. 336; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 583f.; Biastoch, Studenten, S. 209–211. 316 Vgl. Budde, Bürgerleben, S. 214. Zu Hahl ist anzumerken, dass er in Würzburg dem Studentischen Missionsverein beigetreten war. 317 Bülow, Denkwürdigkeiten 4, S. 120. 318 Jarausch, Universität, S. 331; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 582; Turner, Universitäten, S. 242. 319 BA-B N 2272/4, S. 33f., Schuckmann, Lebenslauf. 320 Gerlach, Rechts, S. 70 (Zitat).
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dort »seit unvordenklichen Zeiten keiner […] durchgefallen« war oder weil es sich dabei für ihn um eine heimatnahe Universität handelte.321 Andere ehemalige Studierende berichten von einer wenig lebendigen Stoffvermittlung, kaum jedoch von wirklichen fachlichen Herausforderungen.322 Auf überschaubare Ansprüche deutet nicht zuletzt die Dauer des Studiums hin. Trotz ihrer Corps-Aktivitäten befanden sich die meisten Gruppenmitglieder mit sechs bis acht Semestern innerhalb der Regelstudienzeit.323 In diesem Zusammenhang vielsagend ist das Zweitstudium Solfs, der als knapp 30-jähriger auf jede ›Bummelei‹ verzichtete und bis zum ersten juristischen Staatsexamen nur etwas mehr als drei Semester benötigte.324 Diese Eindrücke verweisen auf eine auf formale Inhalte fokussierte Ausbildung, bei der es vorrangig um den Erwerb einer Zugangsberechtigung für den höheren Staatsdienst ging. Zudem konzentrierten sich namentlich in Preußen die Studieninhalte vor allem auf das Privatrecht, welches zwar für den angehenden Richter, weniger aber für den künftigen höheren Verwaltungsbeamten eine hinreichende praktische Relevanz besaß.325 Das Bestehen der Abschlussprüfung und somit die Wiedergabe kurzfristig memorierten Wissens rangierten vor einer faktischen Qualifizierung für die spätere Berufstätigkeit.326 Dass in den Selbstzeugnissen der Gruppenmitglieder vergleichsweise selten von bleibenden Eindrücken zu den fachlichen Aspekten ihres Studiums die Rede ist, dürfte daher kaum verwundern. Während die spätere Feststellung Lindequists, an der juristischen Fakultät der Universität Greifswald sei »der Grund zu meiner Laufbahn gelegt worden«, einer nachträglichen Idealisierung geschuldet sein dürfte, erinnerte sich zumindest Seitz im Sommer 1911 an sein 27 Jahre zurückliegendes Leipziger Pandekten-Kolleg. Bezeichnenderweise ging es ihm bei dieser Gelegenheit aber ausgerechnet darum, das Reichskolonialamt auf eine allzu formaljuristische Vorgehensweise aufmerksam zu machen.327 Ebenfalls auffällig erscheint, dass Solf sich in der Retrospektive ausschließlich auf sein aus persönlicher Neigung gewähltes Studium der Philologie bezog, wenn er glaubte feststellen zu können, dass er dort die Grundlagen für »die Behandlung der eingeborenen Rassen, Verständnis für ihre Art des Denkens und Fühlens, sowie die Auffassung des Berufs eines Kolonisators als Kulturbringer und nicht als Mauerbrecher für Erwerbsgelüste […] ins Leben mitgenommen habe.«328 321 322 323 324 325
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Franz v. Arenberg an Bernhard v. Bülow vom 17.11.1871, zitiert nach: Winzen, Reichskanzler, S. 29f. (Zitat). Langfeld, Leben, S. 48; Wermuth, Beamtenleben, S. 31. Vgl. Bleek, Kameralausbildung, S. 54, 178, 265; Biastoch, Studenten, S. 79. Solf begann sein Jura-Studium an der Berliner Universität zu Ostern 1891 und legte seine Referendarprüfung am dortigen Kammergericht am 12.12.1892 ab. Vgl. Vietsch, Solf, S. 33f. Bleek, Kameralausbildung, S. 264f.; Henning, Beamtenschaft, S. 74f.; Süle, Beamtentradition, S. 88; Wunder, Bürokratie, S. 78. In Süddeutschland hielten sich rechts- und staatswissenschaftliche Inhalte etwa die Waage. Bleek, Kameralausbildung, S. 54; Süle, Beamtentradition, S. 85–87; Henning, Beamtenschaft, S. 77. UA-HGW Jur Fak 230, Bl. 6f., Lindequist (an Bord ›Prinzessin‹) an Universität Greifswald vom 4.11.1906, Schreiben; BA-B R 1001/5423, Bl. 196–199, Seitz (Windhuk) an RKA vom 26.10.1911, Bericht. BA-K N 1053/2, Bl. 18, Solf (Bournemouth) an Benno Erdmann vom 29.12.1910, Schreiben; vgl. Vietsch, Solf, S. 23. Dort leicht abweichend vom Originaltext wiedergegeben.
2. Dispositionen
Auch anhand der Promotion lassen sich gewisse Unterschiede zwischen einem ›Brotstudium‹ und einem solchen aus Neigung ablesen. Diesen akademischen Grad erwarben immerhin sieben spätere Gouverneure, was – verglichen etwa mit den preußischen Oberpräsidenten – einen hohen Anteil darstellt.329 Dabei lockte vor allem der Doktortitel an sich. Dieser hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich an Ansehen gewonnen und galt inzwischen als »bürgerliches Adelsprädikat«.330 Daneben scheint die Promotion Vorteile beim Vorankommen in den oberen Hierarchieebenen geboten zu haben.331 Unter den promovierten Gouverneuren strebten lediglich Hahl und Solf den Erwerb einer wissenschaftlichen Qualifikation im Wortsinn an. Beide verfassten in Würzburg bzw. Halle eine jeweils den anerkannten Standards genügende Dissertation und machten diese der Öffentlichkeit zugänglich.332 Die übrigen Doktoranden unterzogen sich dagegen einem vereinfachten Verfahren. Sie wählten gezielt bestimmte Universitäten für ihr Vorhaben aus. Es handelt sich daher keineswegs um Zufälle, wenn Gleim (1889), Schnee (1893) und Schultz (1898) in Jena promovierten, während Seitz (1886) und Rechenberg (1883) ihre Titel in Heidelberg und Leipzig erwarben.333 Die juristischen Fakultäten dieser drei Universitäten waren damals als ›Doktorfabriken‹ bekannt, was vor allem an den reduzierten Leistungsanforderungen lag. Als Dissertationsschrift genügte eine vergleichsweise knappe Ausarbeitung zu einem selbst gewählten Thema, wobei eine Publikationspflicht entfiel. Als Ersatz für eine Disputation genügte die Ablegung einer kurzen mündlichen Prüfung.334 Die Zeitspanne eines solchen vereinfachten Promotionsverfahrens erstreckte sich bei Gleim auf vierzehn Tage, während bei Schultz zwischen Anmeldung und Verleihung des Doktortitels rund drei Monate vergingen.335 Diese Praxis, die mit erhöhten Promotionsgebühren einherging, hatte dazu geführt, dass die genannten Universitäten in den 1880er Jahren bis zu achtzig Prozent aller juristischen Doktortitel in Deutschland verliehen.336 Allein an der vergleichsweise kleinen
329 Vgl. Brocke, Oberpräsidenten, S. 274. Nur in den obersten Reichsbehörden war diese Quote ähnlich hoch. Röhl, Beamtenpolitik, S. 291. Unberücksichtigt bleiben die Ehrendoktorwürden, die fast alle nach der Amtszeit als Gouverneur datieren: Lindequist (1906), Mecklenburg (1908+1919), Schnee (1921), Solf (1929+1930), Wißmann (1895). 330 Biastoch, Studenten, S. 87f. (Zitat); Nipperdey, Arbeitswelt, S. 389. 331 Vgl. Henning, Beamtenschaft, S. 79f. 332 Hahl verfasste eine volkswirtschaftlich-juristische Dissertation »Zur Geschichte der volkswirtschaftlichen Ideen in England gegen Ausgang des Mittelalters«, die 1893 veröffentlicht wurde. Sack, Vorwort, S. XXIVf. Solf war bereits am 28.1.1886 promoviert worden. Bei seiner Dissertationsschrift handelte es sich um die quellenkritische Edition einer Sammlung altindischer Liebeslyrik, publiziert unter dem Titel »Die Kaschmir-Recension der Panaschacika«. Hempenstall/Mochida, Man, S. 30; Vietsch, Solf, S. 22f. 333 UA-J Bestand K, Nr. 189, Promotionsakte Otto Gleim; ebd., Nr. 208, Promotionsakte Heinrich Schnee; ebd., Nr. 239, Promotionsakte Erich Schultz; Sta-MA, KFO21888, Universität Heidelberg vom 24.2.1886, Promotionsurkunde Theodor Seitz; UA-L, Jur. Fak. 01/02, Bd. 2, Doktorbuch 1810–1902. 334 Rasche, Geschichte, S. 332f.; Turner, Universitäten, S. 242f.; vgl. Nipperdey, Arbeitswelt, S. 576. 335 UA-J Bestand K, Nr. 189, Promotionsakte Otto Gleim; ebd., Nr. 239, Promotionsakte Erich Schultz. 336 Rasche, Geschichte, S. 332, 337. Die Promotionsgebühr bezifferte sich in Jena auf 410 Mark. UA-J Bestand K, Nr. 189, Bl. 48r, Gleim an Dekan der Juristenfakultät der Universität Jena, o.D. [Mai 1889].
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Jura-Fakultät in Jena waren es zwischen 1885 und 1899 mehr als achthundert Promotionen.337 Der seitens der Forschung geäußerte Verdacht einer laxen Bewertungspraxis kann jedoch nicht uneingeschränkt bestätigt werden. Sowohl die Noten in Jena bei Schnee (summa cum laude), Schultz (cum laude) und Gleim (rite) als auch eine Stichprobe für 1883 in Leipzig lassen keine Auffälligkeiten erkennen.338 Trotzdem stellt sich die Frage, welcher wissenschaftliche Wert einer solchen Promotion tatsächlich beizumessen war.339 Das Streben nach dem prestigeträchtigen Doktortitel deutet daher ebenso wie das zeitweise auf das Korpsleben fokussierte rechtswissenschaftliche Studium darauf hin, dass der Erwerb dieser Bildungspatente in erster Linie als Zugangsberechtigung für den höheren Staatsdienst angesehen wurde.340 Daher handelte es sich wohl nicht so sehr um die vermittelten Wissensinhalte, die die späteren Gouverneure maßgeblich prägten, als vielmehr um einen spezifisch akademischen Habitus, der sich in politischer Hinsicht als staatstreu, in sozialer dagegen als nach unten abgrenzend auswies.341 Auch für die Gruppenmitglieder aus Aufsteiger-Familien (Hahl, Köhler, Leutwein, Seitz, Solf) wirkten Gymnasium und Universität integrierend. Gleichzeitig lassen sich in den genannten Bildungseinrichtungen egalisierende Effekte im Hinblick auf adlig-bürgerliche Unterschiede mutmaßen. Das Resultat bestand in einer Auslese potentiell ›erwünschter‹ Kreise, so dass das Postulat einer beinahe kastenähnlichen Abschließung dieser Ausbildungsund der damit verbundenen Berufswege keineswegs übertrieben erscheint.342 Im Zuge des Bildungserwerbs wurden die im familiären Rahmen vermittelten, in der Regel standestypischen Werte und Verhaltensmuster ergänzt durch die weitere Ausformung eines Elitenbewusstseins. Die in sämtlichen genannten Bildungseinrichtungen betriebene Stilisierung von Nation und Monarchie als höchste gesellschaftliche Güter fungierte dabei als ideologische Grundausstattung und somit als Sinngeber. Zugleich waren damit die wesentlichen Voraussetzungen für den Einstieg in das Berufsleben geschaffen. Die beiden für die späteren Gouverneure maßgeblichen Berufswege – Offiziers- und höhere Beamtenlaufbahn – gilt es deshalb im Folgenden in den Blick zu nehmen.
337 Rasche, Geschichte, S. 334, 336. 338 Ebd., S. 335f. Danach soll in der Jenaer Juristenfakultät fast immer die Bestnote vergeben worden sein. Vgl. aber UA-J Bestand K, Nr. 189, Promotionsakte Otto Gleim; ebd., Nr. 208, Promotionsakte Heinrich Schnee; ebd., Nr. 239, Promotionsakte Erich Schultz. Eine Stichprobe aus dem ›Doktorbuch‹ der Leipziger Juristenfakultät ergibt für das Jahr 1883 insgesamt 84 abgeschlossene Promotionen. Davon waren knapp zwölf Prozent mit »magna cum laude«, die Hälfte mit »cum laude« und der Rest mit »rite« bewertet worden. Rechenberg, dessen Schrift »Kann die Verbindlichkeit Zinsen zu zahlen durch Verjährung entstehen oder erlöschen?« am 18.1.1883 »cum laude« erhielt, zählte demnach zum Mittelfeld. UA-L, Jur. Fak. 01/02, Bd. 2, Doktorbuch 1810–1902. 339 Nipperdey, Arbeitswelt, S. 576; Jarausch, Universität, S. 331. Der Althistoriker Theodor Mommsen prangerte diese Praxis bereits 1876 an: Mommsen, Pseudodoktoren. 340 Nipperdey, Arbeitswelt, S. 581; Bleek, Kameralausbildung, S. 54; vgl. Süle, Bürokratietradition, S. 54f. 341 Nipperdey, Arbeitswelt, S. 582; Jarausch, Universität, S. 330. 342 Raphael, Recht, S. 56; Jarausch, Universität, S. 332; Turner, Universitäten, S. 243.
2. Dispositionen
2.3 Berufliche Prägungen Bei fast allen Mitgliedern der Untersuchungsgruppe war mit der Auswahl von Schulart und Studienfach zu einem nicht geringen Maß die spätere Berufswahl vorgezeichnet. Dabei erstreckte sich die Profession des deutschen Kolonialgouverneurs letztlich auf zwei Bereiche: Ein kleinerer Teil optierte für eine Laufbahn als Berufsoffizier, während das Gros den Dienst in der höheren Beamtenschaft wählte. Angesichts der Herkunftssphären überrascht das wenig, entschieden sie sich doch damit für diejenigen Berufsfelder, denen sowohl politische wie gesellschaftliche Leitungsfunktionen zukamen. Dementsprechend kam auch Max Weber zu dem Schluss, dass im »modernen Staat […] die wirkliche Herrschaft […] notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums, des militärischen wie des zivilen« liege.343 Im Folgenden gilt es daher zu klären, inwieweit diese beiden Berufswege sich im Habitus der späteren Gouverneure widerspiegeln. Dabei liegt es nahe, Offiziere und höhere Beamte gesondert zu untersuchen.
2.3.1 Offiziere Während sieben Gouverneure eine Laufbahn als aktive Offiziere einschlugen, traten vierzehn weitere als sogenannte ›Einjährig-Freiwillige‹ für begrenzte Zeit in die Armee ein. Fast alle unter den letzteren erwarben dabei das begehrte Reserveoffizierspatent, das auch für die zivile Laufbahn nicht ohne Bedeutung war. Nur eine kleine Minderheit wurde vom Militärdienst freigestellt, wobei ausschließlich gesundheitliche Gründe vorlagen.344 Insgesamt lässt sich also eine ungewöhnlich hohe Zahl von Gruppenmitgliedern feststellen, die unmittelbar mit der Sphäre des Militärischen in Berührung kamen. Für den gesellschaftlichen Stellenwert des Militärs in Deutschland stellten die Einigungskriege eine einschneidende Zäsur dar. Die Erfolge der preußisch-deutschen Armee hatten besonders für das Offizierkorps eine erhebliche Aufwertung zur Folge, so dass dieses fortan als der vornehmste Stand im Staat galt.345 Namentlich das »besondere Treueverhältnis« gegenüber dem Monarchen, der zudem die oberste Kommandogewalt über die Armee besaß, prädestinierte die Gesamtheit der Offiziere zum herrschaftsnahen und staatserhaltenden Instrument.346 Traditionell rekrutierte sich diese Führungselite aus dem Adel. Dieser war jedoch im 19. Jahrhundert immer weniger in der Lage, den zahlenmäßigen Anforderungen zu genügen, weshalb vermehrt auch bürgerliche Bewerber herangezogen wurden.347 Um den konservativ-staatstreuen Charakter des Offiziersstandes aufrechtzuerhalten, erfolgte aber eine gezielte Auswahl. Diese Intention brachte Liebert folgendermaßen auf 343 Weber, Wirtschaft, S. 825. 344 Keinen regulären Militärdienst leisteten: Haber, Schuckmann, Schultz, Zimmerer. Bei fast allen war eine Sehschwäche der Grund für die Ablehnung gewesen. BA-K PERS 101/42926, RKA an St./ AA vom 13.10.1917, Schreiben; PA-AA P1/17915, Personalbogen Eugen Zimmerer; Hiery, Reich, S. 58. 345 Endres, Struktur, S. 285; Schmidt-Richberg, Regierungszeit, S. 86f.; Ullrich, Großmacht, S. 398. 346 Endres, Struktur, S. 283, 290, 308, 311; Deist, Geschichte, S. 42f. (Zitat); Conze, Monarchie, S. 183; Förster, Militarismus, S. 24f.; Messerschmidt, Werden, S. 68; Conze, Helden, S. 371; Meteling, Zusammenbruch, S. 310f.; vgl. Reif, Adel, S. 53. 347 Deist, Geschichte, S. 47; Förster, Militarismus, S. 22; Ostertag, Bildung, S. 56.
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den Punkt: »Das deutsche Offizierkorps ist auf einen Ton gestimmt, ist aus einem Guss, es ist homogen […].«348 Der ehemalige Gouverneur von Ostafrika stand keineswegs allein, wenn er die vermeintlichen Stärken des Korps mit »eiserner Disziplin« und einer »gleichmäßig guten Erziehung und gesellschaftlichem Takt« beschrieb.349 Daraus ergaben sich zugleich die entscheidenden Kriterien für die Selektion der Bewerber, galt doch das Hauptaugenmerk einer ›standesgemäßen‹ Erziehung ebenso wie einer ›richtigen‹ Gesinnung. In der Praxis hatte das zur Folge, dass vor allem die soziale Herkunft den Ausschlag gab.350 Aus dem gehobenen Bürgertum galten die Söhne von Offizieren, höheren Beamten und Gutsbesitzern als besonders geeignet.351 Die Herkunft der aktiven Offiziere unter den Gruppenmitgliedern bestätigt diese Präferenzen. Bildung oder fachliche Eignung spielten dagegen eine untergeordnete Rolle. Mit Ausnahme Bayerns wurde der erfolgreiche Besuch der siebten Klasse einer höheren Schule als ausreichend angesehen.352 Diese Primareife konnte Leutwein vorweisen, während Götzen und der Herzog zu Mecklenburg sogar das reguläre Abitur besaßen. Die anderen vier Berufsoffiziere aus dem Sample hatten eine Kadettenschule absolviert.353 Ungeachtet dieser Selektionsgrundsätze durchlief namentlich das preußische Offizierkorps einen Transformationsprozess, der von der Forschung als »Trend zur Verbürgerlichung« interpretiert wurde.354 Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass keine gleichmäßige Verteilung adliger und bürgerlicher Offiziere auf die Truppenteile stattfand. Vor allem der preußische Adel konzentrierte sich stattdessen auf eine kleine Anzahl von Regimentern der Kavallerie oder der Garde, die oft in Haupt- oder Residenzstädten garnisoniert waren. Bürgerliche Anwärter hatten dagegen geringe Chancen in diese Traditionsregimenter aufgenommen zu werden. Ihnen blieb nur der Eintritt in ein weniger exklusives, an der Peripherie stationiertes Regiment der Infanterie oder der Artillerie.355 Ein Blick auf die aktiven Offiziere der Untersuchungsgruppe bestätigt diese innere Fragmentierung des Offizierkorps.
348 Liebert vom 16.3.1909, Rede im Reichstag, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Bd. 235, S. 7510. 349 Ebd.; vgl. Förster, Militarismus, S. 177. 350 Endres, Struktur, S. 303; Nipperdey, Machtstaat, S. 221f.; Ostertag, Bildung, S. 40f., 44, 56f.; Stoneman, Krieger, S. 31. Beispiele: GLA-KA, 238/1163, Personal-Bericht über Theodor Leutwein vom 21.10.1869; GLA-KA, 456E/11460, Personal-Bogen Theodor Leutwein, o.D.; Krug v. Nidda vom 1.1.1866, zitiert nach: Priesdorff, Führertum 10, S. 268. 351 Demeter, Offizierkorps, S. 17–30; Conze, Monarchie, S. 182; Deist, Geschichte, S. 48f.; Förster, Militarismus, S. 23; Ostertag, Bildung, S. 41; Schmidt-Richberg, Regierungszeit, S. 85f. 352 Demeter, Offizierkorps, S. 84–95, 108; Rumschöttel, Offizierkorps, S. 45, 47; Schmidt-Richberg, Regierungszeit, S. 88; Lutz, Offizierskorps, S. 76, 253f.; Messerschmidt, Werden, S. 69f., 75–77. 353 Siehe Kapitel 2.2. 354 Conze, Monarchie, S. 180 (Zitat); Bald, Offizier, S. 87f.; Deist, Geschichte, S. 48; Demeter, Offizierkorps, S. 29; Clemente, King, S. 205; Geyer, Past, S. 192; Schmidt-Richberg, Regierungszeit, S. 86; Rumschöttel, Offizierkorps, S. 63. 355 Demeter, Offizierkorps, S. 30–32; Deist, Geschichte, S. 50; Endres, Struktur, S. 288, 295, 299f.; Ostertag, Bildung, S. 48–50, 57.
2. Dispositionen
Tabelle 5: Die aktiven Offiziere und ihre Stammtruppenteile356 Eintritt
Regiment
Garnisonsort
Adelsanteil (%)
a) Kavallerie Freiherr v. Schele
1865
6. Dragoner
Flensburg
90,5
Graf v. Götzen
1887
2. Garde-Ulanen
Berlin
100,0
Herzog zu Mecklenburg
1895
Garde-Kürassiere
Berlin
100,0
Liebert
1866
58. Infanterie
Glogau
42,1
Leutwein
1868
113. Infanterie (bad.)
Freiburg i.Br.
12,2
b) Infanterie
Wißmann
1872
90. Füsiliere
Rostock
65,3
Graf v. Zech
1886
2. Infanterie (bay.)
München
18,3
Während fast alle adligen Berufsoffiziere der Gruppe in der Kavallerie dienten, fanden die Anwärter mit bürgerlicher Herkunft den Weg zur weniger angesehenen Infanterie. Die einzige Ausnahme bildet Zech, doch spiegeln sich dabei die liberaleren Verhältnisse in der bayerischen Armee wider. Zwar belegen die Adelsanteile bei den Fußtruppen, dass auch dort keineswegs ausschließlich bürgerliche Offiziere dienten, dennoch offenbaren die Unterschiede zur Kavallerie die Tendenz zur Klassenbildung. Die anvisierte Assimilierung der in der Mehrzahl von bürgerlichen Werten und Verhaltensnormen geprägten Neulinge wurde also zumindest in dieser Hinsicht verfehlt. Es stellt sich daher die Frage, ob der normensetzende Anspruch der Adelsregimenter ausreichte, um auch die bürgerlichen Offiziere durch eine einheitliche Standeskultur zu prägen. Diese Offizierstugenden setzten sich aus einem Set gemeinsamer Normen und Werte zusammen, die gleichzeitig den Zusammenhalt der Gesamtgruppe gewährleisten sollten. Unter anderem handelte es sich um Treue, Mut, Entschlossenheit, Gehorsam und Pflichterfüllung. Nach einer Ordre von 1874 sollte der Offizier zudem gesellschaftlichen Kontakt nur zu denjenigen Kreisen suchen, »in denen gute Sitte vorherrschend ist«. Der »Grund und Boden, worauf der Offiziersstand steht«, bestehe nicht zuletzt aus einer »Pflege der bewährten Überlieferungen ritterlichen Sinnes«.357 In der Forschung war lange die Ansicht vorherrschend, die bürgerlichen Newcomer hätten sich diesem Leitbild bereitwillig gefügt, so dass das Offizierkorps letztlich dem von Liebert skizzierten Ideal entsprochen habe.358 Zuletzt wurde diese Einschätzung 356 Die Angaben zum Adelsanteil beziehen sich jeweils auf das aktive Offizierkorps etwa zum Zeitpunkt des Eintritts. Ermittelt aus: Rang- und Quartier-Liste der Königlich Preußischen Armee (1866, 1873, 1888, 1894); Militär-Handbuch des Königreiches Bayern (1887). 357 Einleitungsordre Wilhelms I. zur Ehrengerichtsverordnung vom 2.5.1874, abgedruckt in: Demeter, Offizierkorps, S. 287–290; auszugsweise auch in: Ulrich u.a., Untertan, S. 116f.; Funck, Krieg, S. 69, 73. 358 Bald, Offizier, S. 87f.; Conze, Monarchie, S. 181–183; Deist, Geschichte, S. 49f.; Endres, Struktur, S. 289, 307f., Förster, Militarismus, S. 22f.; Kehr, Genesis, S. 59; Messerschmidt, Werden, S. 82; Ostertag, Bildung, S. 47; Rumschöttel, Offizierkorps, S. 94–97.
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teilweise relativiert.359 Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die geschilderte Einstellungspraxis diejenigen Aspiranten bevorzugte, die den äußerlich messbaren Anforderungen entsprachen. Darüber hinaus endete die Selektion keineswegs mit dem Einstellungsvorgang. Bewerber, die dieses Nadelöhr passiert hatten, traten – sofern nicht ohnehin aus einer Kadettenanstalt kommend – in eine von der Außenwelt weitgehend abgeschottete, uniformierte Gemeinschaft mit spezifischem Reglement und Zeremoniell ein. Der kaum zwanzigjährige Neuling wurde von dieser Männergesellschaft regelrecht vereinnahmt. Selbst außerhalb des eigentlichen Dienstes war er verpflichtet, am gemeinschaftlichen Leben teilzunehmen.360 Soziale Kontrolle und äußere Disziplinierung wurden zudem erreicht durch regelmäßige Qualifikationsberichte seitens der Vorgesetzten. Dabei konnte ein negatives Werturteil das Karriereaus bedeuten.361 Dazu kam eine auch außerhalb der Kaserne wirksame ehrengerichtliche Überwachung der Einhaltung der Standespflichten.362 Es ist leicht nachvollziehbar, dass diese Faktoren zusammen einen erheblichen Anpassungsdruck erzeugten. Im Gegenzug muss aber auch berücksichtigt werden, dass sich die äußeren Bedingungen unterschiedlich auf die einzelnen Persönlichkeiten auswirken konnten. Generell dürften ehemalige Kadetten geringere Anpassungsschwierigkeiten gehabt haben. Doch selbst ein begeisterter Militär wie Liebert empfand den Dienstalltag mitunter als »eng und kleinlich«.363 Andere Offiziere nahmen zwar »ernst und oft stolz« die Eindrücke des militärischen Lebens in sich auf, fühlten sich zugleich aber »innerlich nicht voll ausgefüllt« und zeitweise sogar in ihrer »menschlichen Entwicklung gehemmt«.364 Manche suchten die knappen Freiräume für sich zu nutzen oder setzten auf ein bloß äußerliches Einfügen in die militärische Gemeinschaft.365 Entschärfend dürfte es sich beispielsweise ausgewirkt haben, dass Zech nach Dienstschluss bei seinen Eltern wohnen konnte.366 Wißmann lebte dagegen seinen Tatendrang selbst in Uniform aus und fiel wiederholt durch »dumme oder tolle Streiche« auf.367 Auch sonst galt er bei seinen Kameraden als »leichtlebiger und nicht allzu strebsamer Offizier«, was ihm den Ruf des »tollen Wißmann« einbrachte.368 Selbst gegenüber Vorgesetzten machte er seine »nicht gerade respektvollen Bemerkungen«.369 Jahre später vertrat sogar der Kaiser die Ansicht, der inzwischen 39-jährige bedürfe nach wie vor der »Leitung und Erziehung«.370 Zuvor
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Geyer, Past, S. 192; Funck, Krieg, passim; Meteling, Adel, S. 218–222; Stoneman, Krieger, S. 32f. Conze, Monarchie, S. 182; Endres, Struktur, S. 304. Deist, Geschichte, S. 44; Ostertag, Bildung, S. 70f.; Rumschöttel, Offizierkorps, S. 104. Endres, Struktur, S. 307. Liebert, Leben, S. 168. BA-MA N 5/27, S. 37, 43, Stülpnagel, 75 Jahre. Joachim v. Stülpnagel diente um die Jahrhundertwende in einem Garderegiment. Vgl. Endres, Struktur, S. 317f. BA-B N 2340/2, Bl. 44, Anton Staubwasser, o.D. [um 1940], Ergänzungen zur Lebensbeschreibung Graf Zech. Perbandt u.a., Wißmann, S. 8. Leutwein, Wißmann, S. 3, 6 (Zitate); Perbandt u.a., Wißmann, S. 8. Langfeld, Leben, S. 68f. (Zitat); Perbandt u.a., Wißmann, S. 10. BA-K N 1067/21, Wilhelm II. an Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst vom 17.2.1895, Schreiben.
2. Dispositionen
hatte nicht einmal eine viermonatige Festungshaft Wißmanns Karriere beenden können. Ganz im Gegenteil: Zwar hatte er als junger Leutnant bei einem Pistolenduell seinen Gegner verwundet und somit gegen geltende Strafgesetze verstoßen, doch gerade dieses Handeln war in den Augen seiner Vorgesetzten ›standesgemäß‹, da dem militärischen Ehrenkodex entsprechend.371 Darüber hinaus galt er als »schneidiger, tatendurstiger« und »im Dienst sehr tüchtiger« Soldat, was den besonderen Stellenwert verdeutlicht, der namentlich im preußischen Offizierkorps einem energisch-selbstbewussten Auftreten beigemessen und gerade als Indikator für ›Charakter‹ interpretiert wurde.372 Die disziplinarischen Mängel konnten daher die »Zufriedenheit der Vorgesetzten« nicht wesentlich vermindern, noch dazu, wenn der Betreffende es verstand, »bei allen gesellschaftlichen Veranstaltungen« zu brillieren und sich aufgrund seines »liebenswürdigen Wesens allgemein beliebt« zu machen.373 In dieser Hinsicht waren die übrigen Berufsoffiziere der Gruppe weniger auffällig. Galt Zech als »ernst, bescheiden und zuverlässig, […] von regem Pflichtgefühl beseelt, fleißig und energisch«, wird auch Schele als »junger Mann voller Strebsamkeit und Ehrgeiz« beschrieben, der sich durch »Fleiß, verbunden mit schneller Auffassung« ausgezeichnet habe.374 Einschlägige Bemerkungen über Scheles »Lust zu Abenteuern« und einem »etwas hitzigen Temperament« erinnern allerdings an Wißmann.375 Bezeichnenderweise beeinträchtigten sie auch sein weiteres Avancement nicht. Über Götzen, Leutwein und Liebert haben sich derartige Zeugnisse zwar nicht erhalten, doch lässt deren Laufbahn ebenfalls auf vorteilhafte Beurteilungen durch die Vorgesetzten schließen. Die automatischen Beförderungen des Herzogs zu Mecklenburg blieben von derartigen Einflüssen ohnehin unbehelligt. An dieser Stelle ist zu bedenken, dass alle Genannten das Resultat mehrstufiger Selektionsprozesse darstellen, wobei die meisten von ihnen den Militärberuf aus Neigung ergriffen hatten. Bei den ehemaligen Kadetten war zwar in der Regel der Berufsweg von den Eltern vorherbestimmt worden, doch finden sich auch bei ihnen keine Hinweise auf eine grundsätzliche Ablehnung der Offizierslaufbahn. Dazu kommt, dass sie durch ihre bisherige Sozialisation über eine mentale Stütze zur Selbstdisziplinierung ebenso wie zur Unterdrückung innerer Konflikte verfügten. Die Rede ist von dem sowohl dem adligen als auch dem bürgerlichen Kulturmodell gleichermaßen vertrauten Konzept von
371
Perbandt u.a., Wißmann, S. 6f.; Leutwein, Wißmann, S. 3f. Die gesellschaftliche Akzeptanz des Duells belegt auch der offene Umgang Wißmanns mit seiner Festungshaft in: Wißmann, Flagge, S. 11; ders., Expedition, S. 72. Allgemein: Frevert, Ehrenmänner, S. 104, 112f., 119; Demeter, Offizierskorps, S. 139–146; Speitkamp, Ohrfeige, S. 129–141. 372 Regiments-Geschichte (1888), S. 368 (Zitat 1); Leutwein, Wißmann, S. 3 (Zitat 2); vgl. Oberst Ludwig Frhr. v. Gebsattel an K.B. Kriegsministerium vom 23.11.1905, Bericht, zitiert nach: Rumschöttel, Bildung, S. 123f. 373 Perbandt u.a., Wißmann, S. 10 (Zitat 1); Langfeld, Leben, S. 68f. (Zitate 2+3). 374 BayHStA OP 18737, Oberst Herrgott vom 1.1.1889, Qualifikationsbericht über Graf Zech; Oberst Krug v. Nidda vom 1.1.1866, Qualifikationsbericht über Schele, zitiert nach: Priesdorff, Führertum 10, S. 268. 375 Prinzen Albrecht v. Preußen, 1871 und 1.1.1885, Qualifikationsberichte über Schele, zitiert nach: ebd., S. 268f.
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Pflichterfüllung und Treue. Beide stellten nicht zufällig zentrale Elemente auch des militärischen Tugendkatalogs dar.376 Finanzielle Erwägungen dürften bei der Wahl des Offiziersberufs dagegen kaum eine Rolle gespielt haben. Zwar hatte ein Offiziersanwärter von Anfang an Anspruch auf ein Gehalt. Auch übertraf selbst der niedrigste Offiziersdienstgrad die Lohnverhältnisse eines Industriearbeiters bei weitem, so dass der zeitgenössische Slogan vom »glänzenden Elend« auf den ersten Blick irritiert.377 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang aber, dass von den Offizieren von Anfang an eine ›standesgemäße‹ und damit vergleichsweise kostspielige Lebensführung erwartet wurde. Unter diesen Voraussetzungen waren die Einstiegsgehälter tatsächlich knapp bemessen und reichten für Lebenshaltung und Repräsentationspflichten namentlich in exklusiven Regimentern keinesfalls aus.378 Gerade deren Kommandeure setzten daher bei Offiziersbewerbern Nebeneinkünfte aus elterlichem oder eigenem Vermögen in Höhe von bis zu 500 Mark im Monat voraus.379 Während Angehörige des weniger wohlhabenden Landadels auf königliche Sonderzulagen hoffen konnten, wirkte diese Anforderung auf viele bürgerliche Offiziere als soziale Barriere und verwies sie auf die billigere Linieninfanterie.380 Tatsächlich benötigte beispielsweise Liebert während seiner Zeit in Glogau neben seinem regulären Gehalt lediglich einen Monatszuschuss von 14,50 Mark.381 Im Münchner Regiment Zechs lag dieser Betrag bei 25 Mark, wobei aber bei Eintritt eine Sicherheit von 600 Mark zur Beschaffung der Leutnantsequipierung hinterlegt werden musste.382 Die sehr langen Beförderungsintervalle verschärften diese Problematik zusätzlich, währte doch das Leutnantsdasein zwischen vierzehn und sechzehn Jahre.383 Liebert konnte erst nach zwanzig Dienstjahren und seiner vorzugsweisen Beförderung zum Major konstatieren, dass damit endlich »auch die Geldsorgen behoben« gewesen seien.384 Etliche Offiziere suchten diese Nachteile durch eine frühe und ökonomisch günstige Eheschließung abzumildern.385 Ein solches Vorgehen ermöglichte es, auch ohne eigenes Vermögen eine Militärkarriere zu durchlaufen, wie das bei Leutwein, Liebert und Schele der Fall war.
376 Allgemein: Frevert/Schreiterer, Treue; Conze, Helden, S. 372. 377 Ulrich u.a., Untertan, S. 112–114 (Zitat); vgl. Rumschöttel, Offizierkorps, S. 111, 116; Ostertag, Bildung, S. 62. 378 Messerschmidt, Armee, S. 32f.; Rumschöttel, Offizierkorps, S. 118f.; Demeter, Offizierkorps, S. 334; Hughes, Finest, S. 59; Ostertag, Bildung, S. 62.; ders., Alltag, S. 1075–1077. 379 Denkschrift des preußischen Kriegsministers v. Kameke vom 26.2.1876, abgedruckt in: Demeter, Offizierkorps, S. 333f.; Übersicht über die monatlichen Privatzulagen in Preußen von Fahnenjunkern und Offizieren (Ende 1908), abgedruckt in: Demeter, Offizierkorps, S. 339; Ostertag, Bildung, S. 56; Rumschöttel, Offizierkorps, S. 115; Hughes, Finest, S. 69. 380 Ebd., S. 73f. 381 Ebd., S. 71. 382 Rumschöttel, Bildung, S. 125f.; vgl. Hughes, Finest, S. 70–73. 383 Hier sind die beiden Leutnantsstufen zusammengerechnet. Deist, Geschichte, S. 47; Ostertag, Bildung, S. 71; Schmidt-Richberg, Regierungszeit, S. 88; Rumschöttel, Offizierkorps, S. 106. 384 Liebert, Leben, S. 95. 385 Siehe Kapitel 2.4.
2. Dispositionen
Letzterer war unmittelbar vor seiner Ernennung zum Gouverneur Abteilungsleiter im preußischen Kriegsministerium und avancierte kurz darauf zum Oberst. Zuvor hatte Schele etliche Truppenkommandos in der Kavallerie durchlaufen. Sein rascher Aufstieg war nicht zuletzt seinen Konnexionen geschuldet, verfügte er doch über seinen Vater, aber auch durch seine eigene Stellung als Adjutant des Prinzen Albrecht v. Preußen, über ausgezeichnete Kontakte.386 Nach seinem Rücktritt als Gouverneur wurde er nicht zufällig Flügeladjutant Wilhelms II. Später stieg er bis zum Generalleutnant und Divisionskommandeur auf. Lässt sich Schele als ein im traditionellen Offiziersbild verwurzelter Troupier charakterisieren, war für Leutwein und Liebert der Besuch der Berliner Kriegsakademie sowie die anschließende Verwendung im Generalstab von einschneidender Bedeutung.387 Dabei zielte die Akademie auf eine wissenschaftliche Erfassung des Krieges ab, wobei idealiter nur besonders qualifizierte Bewerber zugelassen wurden.388 Eine Kommandierung setzte daher sowohl positive Beurteilungen als auch das Bestehen einer Aufnahmeprüfung voraus.389 Während der Studienzeit Lieberts (1872–75) zielten die Lehrinhalte im Wesentlichen darauf ab, das »Militärfachliche mit allgemeiner Bildung« zu verbinden.390 Sein Pensum bestand daher fast zur Hälfte aus naturwissenschaftlichen Fächern, während sich der Rest auf Geisteswissenschaften, moderne Fremdsprachen sowie die sogenannten Kriegswissenschaften verteilte.391 Wenige Jahre später, als Leutwein die Anstalt besuchte (1877–80), zeichnete sich bereits ein Wandel ab, da fortan das militärische Fachwissen mehr und mehr in den Vordergrund rückte.392 Auf der Kriegsakademie ebenso wie anschließend im Generalstab setzte sich die personelle Selektion fort, so dass am Ende »fast nur ausgesiebte Leute, die Carrière machen wollen«, übrig blieben.393 Dementsprechend wurde von den 187 Teilnehmern aus Lie-
386 Vgl. Qualifikationsberichte des Prinzen Albrecht über Schele (1871, 1.1.1885), zitiert nach: Priesdorff, Führertum 10, S. 268f. 387 Zur Charakterisierung des adlig-sozialisierten Truppenoffiziers: Funck, Krieg, S. 75f.; Deist, Geschichte, S. 51; Endres, Struktur, S. 299. Aufschlussreich ist auch eine Bemerkung in den Erinnerungen Friedrich v. Holsteins, für den Schele zwar ein »gutaussehender, aber nach allgemeiner Ansicht recht mäßig begabter Herr« gewesen sei. Holstein, Papiere 1, S. 162. 388 Pyta, Hindenburg, S. 16; Clemente, King, S. 171–203; Messerschmidt, Geschichte, S. 117–121; Ostertag, Bildung, S. 153–163; Michels, Lettow-Vorbeck, S. 52–56. 389 Ebd., S. 52f.; Ostertag, Bildung, S. 154. 390 Pyta, Hindenburg, S. 17 (Zitat). Zu den Defiziten in der Praxis: Conze, Monarchie, S. 182; Michels, Lettow-Vorbeck, S. 33, 53f.; Ostertag, Bildung, S. 159–161. 391 Scharfenort, Kriegsakademie, S. 198; vgl. Clemente, King, S. 176f.; Ostertag, Bildung, S. 155f.; Liebert, Leben, S. 78f. 392 Messerschmidt, Geschichte, S. 119, 323f.; ders., Staat, S. 103f.; Scharfenort, Kriegsakademie, S. 390, Anm. 148. 393 Kessler, Tgb. 5, S. 149 (1.11.1914) (Zitat); vgl. Messerschmidt, Geschichte, S. 323. Nach einer dort zitierten zeitgenössischen Stimme sei die Kriegsakademie eine »Hochschule des persönlichen Ehrgeizes« gewesen. Allgemein: Deist, Geschichte, S. 52; Messerschmidt, Geschichte, S. 323f.; Förster, Militarismus, S. 24; Kilian, Gruppe, S. 170.
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berts Lehrgang nur jeder Dritte probeweise in den Großen Generalstab kommandiert.394 Sowohl Liebert, über den ein späterer Untergebener klagte, er habe »bloß seine Person und seinen Vorteil im Auge«, als auch Leutwein zählten zu diesen Auserwählten.395 Beide kamen zufällig zur selben Zeit in das damals von Helmuth v. Moltke geleitete Führungszentrum der preußischen Armee. Für Leutwein blieb es bei einem einjährigen Intermezzo.396 Liebert wurde dagegen dauerhaft in den Großen Generalstab übernommen, doch gab bei ihm die Bekanntschaft mit Alfred Graf v. Waldersee, dem späteren Generalstabschef, den Ausschlag.397 Dieser sorgte dafür, dass Liebert die Leitung der Russland-Abteilung erhielt, wo er einen Präventivkrieg gegen das Zarenreich projektierte.398 Diese berufliche Hochphase erlitt jedoch einen Dämpfer, nachdem Lieberts Gönner bei Wilhelm II. in Ungnade gefallen war.399 Trotzdem folgten Verwendungen in hohen Stabsstellungen und schließlich das Kommando über ein Regiment in Frankfurt an der Oder. Leutwein wurde währenddessen als Taktiklehrer an mehreren Kriegsschulen verwendet.400 Ohne vergleichbare Protektion verlief sein Avancement weniger dynamisch. Von einem Karriereeinbruch kann trotzdem keine Rede sein, wurde doch Leutwein weiterhin regulär befördert.401 Auch die Tatsache, dass er nach seiner Dozententätigkeit nicht zu seinem Freiburger Stammregiment zurückkehrte und stattdessen im Dezember 1891 zum Infanterieregiment Nr. 46 nach Posen kam, war keine Strafversetzung.402 Leutwein handelte mit diesem Weggang von seinem Freiburger Regiment vielmehr entsprechend den Standespflichten. Da er sich im selben Jahr von seiner aus Freiburg stammenden Ehefrau hatte scheiden lassen, kam es darauf an, öffentliches Aufsehen zu vermeiden.403 An seinem neuen Garnisonsort erhielt Leutwein nicht nur einen adäquaten Posten als Kompaniechef, sondern wurde wenig später zum Major befördert. 394 Scharfenort, Kriegsakademie, S. 196; Ostertag, Bildung, S. 163; Clemente, King, S. 193; SchmidtRichberg, Regierungszeit, S. 71. 395 Ganßer, Tgb., S. 229 (2.2.1901) (Zitat). 396 Es handelte sich aber keineswegs um einen »faktischen Rauswurf«, wie Karch, Gewalt, S. 105, vermutet. Vielmehr belegen Leutweins spätere Kommandierung zur Generalstabsreise des VI. Armeekorps (1886) sowie die Stellvertretung des Generalstabsoffiziers der 29. Division (1886/87) seine weitere Verwendung im Generalstabsdienst. 397 Liebert, Leben, S. 84f., 89, 137f. Aufschlussreich ist auch die langjährige Korrespondenz zwischen beiden: GStA PK, Nl Waldersee/32. 398 Liebert, Leben, S. 84. Allgemein: Messerschmidt, Geschichte, S. 325–327. Gleichzeitig fungierte Liebert als Lehrer an der Berliner Kriegsakademie. Vgl. Liebert, Verfolgung; ders., Weichsel. 399 Waldersee, Denkwürdigkeiten 2, S. 193f. (23.2.1891); Liebert, Leben, S. 140f. 400 Leutwein, Leitfaden; vgl. Liebert, Leben, S. 81. Die Verwendung eines Absolventen der Kriegsakademie an einer Offiziersschule war keineswegs unüblich. 401 Anders: Karch, Gewalt, S. 104. Dieser vermutet, dass mehrere Zeitschriftenartikel Leutweins, in denen er sich positiv über das Schweizer Milizsystem ausgesprochen habe, ursächlich für seine Versetzung nach Neiße gewesen seien. Tatsächlich war diese noch vor Leutweins Reise in die Schweiz und dem Abdruck der einschlägigen Artikel erfolgt. Zur selben Zeit wurde er zum Hauptmann 1. Klasse befördert. Hätte Leutwein tatsächlich mit seinen wenig aufsehenerregenden Beiträgen an den »Grundfesten der Monarchie« gerüttelt, wäre er kurzerhand entlassen worden. 402 Anders: Ebd., S. 105. 403 Zur Duldung nichtöffentlicher Normabweichungen: Rumschöttel, Offizierkorps, S. 190; Funck, Krieg, S. 77; Allgemein zu Ehescheidungen im 19. Jahrhundert: Blasius, Ehescheidung, S. 30–36; Bösch, Geheimnisse, S. 160f.
2. Dispositionen
Sowohl Leutwein als auch Liebert lassen sich dem Typus des Generalstabsoffiziers zuordnen.404 Zweifellos standen bei ihnen Fachwissen, Leistung und Effizienz in hohem Kurs. Nicht zuletzt durch die Rezeption dieser bürgerlichen Ideale hatten sich die Generalstabsoffiziere generell vom übrigen Offizierkorps abgesetzt und verstanden sich selbst als elitärer Zirkel.405 Mitunter förderte diese Ausbildung aber auch Denkmuster und Ansichten zu Tage, die »für alles nicht Soldatische wenig empfänglich« waren.406 Während die koloniale Tätigkeit für Schele, Liebert und Leutwein eine weitere Station im Rahmen ihrer Laufbahn bedeutete, handelte es sich bei den anderen Berufsmilitärs des Korpus um subalterne Offiziersdienstgrade, die sich dem Abenteuer und der Erkundung vermeintlich unbekannter Landstriche verschrieben hatten. Bei Wißmann, Götzen, dem Herzog zu Mecklenburg und mit Einschränkungen auch bei Zech bestand das ausschlaggebende Qualifikationskriterium für den Gouverneursposten darin, dass sie als erfolgreiche Expeditionsleiter hervorgetreten waren.407 Anders als die Laufbahnoffiziere hatten sie sich zu diesem Zweck entweder auf eigenen Antrag vom Militärdienst beurlauben lassen oder sogar den (zeitweisen) Abschied in Kauf genommen. Auch waren sie mit einem Alter zwischen 25 und 29 Jahren deutlich jünger als ihre höherrangigen Offizierskollegen sowie in familiärer Hinsicht noch ungebunden.408 Dabei kam Götzen dem Typus des Generalstabsoffiziers noch am nächsten. Zudem offenbart seine Dienstlaufbahn, dass er vom ›Kommissdienst‹ wenig hielt. Zwar bewirkten seine Erfahrungen als ›Einjährig-Freiwilliger‹, dass er ein fortgeschrittenes Jurastudium mit dem Dienst in einem exklusiven Garderegiment vertauschte.409 Bei der Truppe verblieb er jedoch nur drei Jahre, ehe er sich an die deutsche Botschaft in Rom kommandieren ließ, um von dort aus eine private Expedition nach Ostafrika zu unternehmen.410 Kaum nach Deutschland zurückgekehrt, schloss er sich einer Forschungsreise in die Türkei an.411 Anschließend wurde er zur Kriegsakademie zugelassen, doch beantragte er noch vor Ablauf des ersten Studienjahres eine erneute Beurlaubung, um auf eigene Kosten eine Afrika-Durchquerung »von Ost nach West« anzutreten.412 Als Beweggründe
404 Zur Tendenz einer Technokratisierung der deutschen Generalstabsoffiziere: Messerschmidt, Geschichte, S. 323–325; Förster, Militarismus, S. 25. 405 Deist, Geschichte, S. 52; Messerschmidt, Geschichte, S. 321, 324; ders., Staat, S. 104. 406 So Schnee über den Kommandeur der Schutztruppe für DOA, Kurt Freiherr v. Schleinitz (1859–1928). BA-K N 1053/131, Bl. 116–119, Schnee (Daressalam) an Solf vom 2.12.1912, Schreiben. Ähnlich über dessen Nachfolger Paul v. Lettow-Vorbeck: ebd., Bl. 130–132, Schnee (Tabora) an Solf vom 30.3.1916, Schreiben. 407 Neben den weiter unten zitierten Publikationen liegen zu drei der Genannten auch Forschungsnachlässe vor: Forschungsbibliothek Gotha, Nachlass Wißmann; Leibnitz-Institut für Länderkunde (Leipzig), K190 (Herzog zu Mecklenburg); Museum Fünf Kontinente, Nl Zech. Über Zech ist allerdings anzumerken, dass er zugleich die koloniale Karriereleiter absolviert hatte. Siehe Kapitel 4.5.1. 408 Schele, Liebert und Leutwein waren bereits zwischen 44 und 46 Jahre alt, als sie in den Kolonialdienst eintraten. Zum Heiratsverhalten siehe Kapitel 2.4. 409 Vgl. die abweichenden Angaben und Schlussfolgerungen in: Bindseil, Ruanda, S. 35. 410 Götzen, Reisebriefe, S. 411–414, 443f., 461–465; vgl. Bindseil, Ruanda, S. 35, 37. 411 Ebd., S. 41. 412 Götzen, Afrika; vgl. Bindseil, Ruanda, S. 43–81.
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dafür nannte er »Abenteuerlust und ein unwiderstehliches Verlangen, an der Erschließung des dunklen Erdteils noch mitarbeiten zu können«.413 Auch auf das zweite Jahr an der Akademie folgte ein Auslandsaufenthalt, wenngleich diesmal in Gestalt eines offiziellen Kommandos: Für die nächsten zwei Jahre bekleidete Götzen den Posten als Militär- und Marineattaché in Washington, von wo aus er am amerikanisch-spanischen Krieg als Beobachter teilnahm. Es folgten das dritte Jahr an der Kriegsakademie sowie eine einjährige Kommandierung in den Großen Generalstab.414 Zweifellos war Götzen damit ein ausgebildeter Stabsoffizier, doch kaum ein gewöhnlicher. Die sonst vorherrschende einseitige Perspektive dieses Offizierstyps dürfte ihm fremd geblieben sein. Tatsächlich sah er sich in erster Linie als Forschungsreisender, der zusätzlich über juristische Kenntnisse und Erfahrungen im diplomatischen Dienst verfügte.415 Dabei kamen ihm sowohl die kaiserliche Gunst als auch seine finanzielle Unabhängigkeit entgegen.416 In gewisser Weise vergleichbar ist der Fall des Herzogs zu Mecklenburg. Dessen Militärdienst war ebenfalls keine Angelegenheit des Broterwerbs, sondern vielmehr Standespflicht. Für ihn beinhaltete das Offiziersdasein aber weitreichende Freiheiten sowie das erwähnte automatische Avancement. Mit dreizehn Jahren war er formal zum Sekondeleutnant, mit zwanzig zum Premierleutnant und mit fünfundzwanzig Jahren zum Rittmeister ernannt worden. Aufgrund der geschwisterlichen Erbfolge ohne Aussicht auf den Großherzogstitel, in materieller Hinsicht aber sorgenfrei, war er stets auf der Suche nach Betätigung. Diese fand der Herzog zuerst als erfolgreicher Rennreiter. Danach entdeckte er seine Liebe zum Automobil und um die Jahrhundertwende erwachte sein Interesse für den afrikanischen Kontinent.417 Es folgten Jagdreisen nach Deutsch-Ostafrika und schließlich zwei medienwirksam inszenierte Expeditionen »ins innerste Afrika« und »vom Kongo zum Niger und Nil«.418 Während die wissenschaftliche Aufnahme jeweils einem Stab aus fachlich mehr oder weniger versierten Mitarbeitern oblag, handelte es sich für den Herzog vor allem um großangelegte Jagdausflüge, verbunden mit der Besichtigung vermeintlicher Kuriositäten, so dass er mitunter als hochadeliger Spross auf exotischer Grand Tour erscheint.419 Der
413 Götzen, Afrika, S. 29. 414 Die Akademiezeit Götzens lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Oktober 1892-Juli 1893 (1. Jahr), Oktober 1895-Juli 1896 (2. Jahr), Oktober 1898-Juli 1899 (3. Jahr). Dass er das dritte Jahr (›Selekta‹) absolvierte, spricht für seine herausragenden Leistungen. Die Kommandierung in den Großen Generalstab ist zwischen Herbst 1899 und Herbst 1900 zu datieren. Estorff, Wanderungen, S. 79; Lettow-Vorbeck, Leben, S. 46f.; Ganßer, Tgb., S. 231 (12.2.1901); vgl. Bindseil, Ruanda, S. 41, 117, 123. 415 Vgl. BA-MA N 103/24, S. 80, Lettow-Vorbeck, Lebenserinnerungen. Lettow-Vorbeck war zusammen mit Götzen im Großen Generalstab und kritisierte, der Graf habe sich in seinem Denken und Handeln nicht auf die militärische Sphäre beschränkt. 416 Vgl. Bindseil, Ruanda, S. 35, 45. 417 Röpcke, Mecklenburg, S. 168–170; Wollschläger, Herrenreiter; Diebold, Hochadel, S. 51f. 418 Mecklenburg, Reise; ders., Afrika; ders., Kongo. 419 Vgl. zu den Reisen des Herzogs: Diebold, Hochadel, S. 79–130.
2. Dispositionen
Herzog selbst empfand sich dabei aber als »Soldat erzogen, auf dem Rücken des Pferdes groß geworden.«420 Weit weniger mondän gestalteten sich die kolonialen Anfänge bei Wißmann und Zech. Beide waren in finanzieller Hinsicht von ihren knappen Offiziersgehältern abhängig, sahen sich prekären Beförderungsintervallen ausgesetzt und lebten in der ständigen Ungewissheit einer möglichen Verabschiedung. Auch hatten sich beide früh für Afrika zu interessieren begonnen und sich auf autodidaktischem Wege einschlägige Kenntnisse angeeignet. Nach sieben Dienstjahren als Offizier ließ sich Wißmann daher für seine erste Afrika-Expedition beurlauben.421 Im Herbst 1883 nahm er sogar seinen Abschied aus dem preußischen Heer in Kauf, um im Auftrag des belgischen Königs die KassaiKongo-Region durchqueren zu können. Auch die dritte Afrika-Reise (1886–87) unternahm er formal als Privatmann.422 Zech hielt es nur wenig länger in der bayerischen Armee. Über seine konkreten Beweggründe für den Eintritt in den Kolonialdienst mutmaßte einer seiner Regimentskameraden folgendermaßen:423 »Ob eine Enttäuschung in einer Liebesangelegenheit oder dienstl[iche] Überlastung oder das ›ewige Einerlei militärischer Tätigkeit im Frieden‹ oder die Verflachung im gesellschaftlichen Leben ihn zu dem Entschluss brachten, Europa den Rücken zu wenden, sei dahingestellt. Die entscheidende Ursache hierfür war sein Drang nach einer tatkräftigen Verwendung, die er sich in den neuerworbenen deutschen Kolonien erhoffte, nicht aber Ehrgeiz oder Abenteuerlust.« Anders als Wißmann brachte Zech die nötige Geduld für seinen Entschluss auf und vermied voreilige Schritte. Im Februar 1895, nach neun Jahren als aktiver Offizier, erfolgte seine vom Münchner Kriegsministerium sanktionierte Kommandierung nach Togo, was schließlich in die Übernahme in den kolonialen Verwaltungsdienst mündete.424 Bis dahin hätte er jederzeit in die bayerische Armee zurückkehren können.425 Die vier letztgenannten Offiziere hatten zwar ebenfalls eine militärische Sozialisation erfahren, doch muss deren Bewertung etwas anders ausfallen als bei Schele, Liebert oder Leutwein. Zwar empfanden auch Götzen, Mecklenburg, Wißmann und Zech sich in erster Linie als Offiziere, doch war ihre militärische Laufbahn weniger stringent, in jedem Fall aber deutlich kürzer ausgefallen. Zudem scheinen sie sich durch ein höheres Maß an Offenheit gegenüber nichtmilitärischen Themen ausgezeichnet zu haben, was sich nicht zuletzt in gezielten und auf Eigeninitiative beruhenden Vorbereitungen für ihre koloniale Tätigkeit äußerte. Wißmann eignete sich beispielsweise ein halbes Jahr lang
420 Mecklenburg, Afrika, S. XI; vgl. LHA-SN, Nl Großherzogin Marie/32, Bl. 93f., Mecklenburg (Lomé) an seine Mutter vom 20.6.1913, Schreiben. 421 Perbandt u.a., Wißmann, S. 11–14. 422 Wißmann, Flagge; ders., Innern; ders., Durchquerung. 423 BA-B N 2340/2, Bl. 44, Anton Staubwasser, o.D. [um 1940], Ergänzungen zur Lebensbeschreibung Graf Zech. 424 BA-B N 2340/1, Bl. 31, Lebenslauf des Grafen Zech vom 18.11.1941; BayHStA OP 18737, Bl. 11, K.B. Kriegsministerium an Inf.-Rgt. 2 vom 22.2.1895, Erlass. 425 Vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 115; Petter, Offizierkorps, S. 168.
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Kenntnisse in Zoologie, Geologie, Astronomie und Meteorologie an der Rostocker Universität sowie an der dortigen Seemannsschule an. Dazu kam die Lektüre von Reisebeschreibungen und naturwissenschaftlichen Werken.426 Zech hatte sich ebenfalls in geographischer Ortsbestimmung schulen lassen. Darüber hinaus besuchte er einen »Kursus zum Erlernen des Fotografierens«.427 Auch er hatte sich intensiv mit Kolonialliteratur auseinandergesetzt.428 Bezeichnenderweise fanden alle diese Aktivitäten außerhalb der regulären Dienstzeiten statt, so dass Wißmann gegenüber seiner Mutter klagte, er müsse sich »immer halbe Stunden abstehlen, um etwas tun zu können, und das ist kein ordentliches Arbeiten.«429 Zech betrieb sogar seine Ablösung von dem begehrten Posten als Regimentsadjutant, um andere Verwendungen zur Gewinnung weiterer Vorkenntnisse nutzen zu können.430 Bevor auf die Berufswege der höheren Beamten unter den späteren Gouverneuren einzugehen ist, muss noch auf die Berührungspunkte der ›zivilen‹ Gruppenmitglieder mit der Sphäre des Militärischen eingegangen werden. Im Gegensatz zu den Laufbahnoffizieren taten diese als Wehrdienstleistende lediglich für einen begrenzten Zeitraum Dienst, was eine graduell geringere Beeinflussung implizieren dürfte. Zwar soll Soden, der älteste unter ihnen, als Kriegsfreiwilliger von 1870/71 »mit Leib und Leben Feldsoldat« gewesen sein. Bezeichnenderweise lehnte er eine anschließende Weiterverpflichtung aber wegen der »Einförmigkeit des bevorstehenden Friedensdienstes« ab.431 Die jüngeren Mitglieder des Korpus absolvierten ihren Militärdienst dagegen in den Jahren zwischen 1873 und 1897. »Junge Leute von Bildung, welche sich während ihrer Dienstzeit selbst bekleiden, ausrüsten und verpflegen«, konnten dabei in Gestalt des ›EinjährigFreiwilligen‹ Dienstes eine Verkürzung der Militärpflicht von 36 (seit 1893 24) auf zwölf Monate in Anspruch nehmen.432 Analog zu den Berufsoffizieren ergaben sich aus solchen Bestimmungen soziale Ausschlusskriterien. Einerseits wurde unter ›Bildung‹ der erfolgreiche Besuch der sechsten bzw. siebten Klasse einer höheren Lehranstalt verstanden.433 Zum anderen brachte die Maßgabe einer Selbstausstattung und -verpflegung erhebliche finanzielle Aufwendungen mit sich. In diesem Zusammenhang gilt erneut, dass eine Dienstzeit bei der Infanterie am billigsten, bei Kavallerie und Feldartillerie deutlich kostspieliger, in einem Garderegiment aber am teuersten war.434 Zur Sicherstellung der erforderlichen Summen wur-
426 Wißmann, Flagge, S. 4; Perbandt u.a., Wißmann, S. 14; Leutwein, Wißmann, S. 4. 427 BA-B N 2340/3, Zech an AA vom 21.12.1893, Bewerbung für den Kolonialdienst. 428 BA-B N 2340/2, Bl. 44, Anton Staubwasser, o.D. [1940], Ergänzungen zur Lebensbeschreibung Graf Zech. Die Behauptung, Zech habe das orientalische Seminar der Berliner Universität besucht, ist dagegen nicht nachweisbar. 429 Perbandt u.a., Wißmann, S. 14 (Zitat). 430 BayHStA OP 18737, Zech an Oberst Hirschberg vom 10.2.1894, Eingabe. 431 Ow, Soden, S. 251. 432 Preußisches Gesetz betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst vom 9.11.1867, § 11, zitiert nach: Messerschmidt, Geschichte, S. 101f.; Deutsche Wehrordnung vom 22.11.1888, § 8 (1), zitiert nach: John, Reserveoffizierkorps, S. 54. 433 Jeismann, Knabenschulwesen, S. 167; Nipperdey, Machtstaat, S. 226f.; vgl. John, Reserveoffizierkorps, S. 54, 69f. 434 Ebd., S. 56f.; vgl. Biastoch, Studenten, S. 193.
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den Vermögensnachweise von Eltern oder Verwandten verlangt.435 Nicht anders als die aktiven Offiziere waren auch die ›Einjährigen‹ in- und außerhalb der Kaserne einer gewissen Kontrolle über die Einhaltung der Standespflichten unterworfen. Im Gegenzug brachte der Dienst eine Reihe von Vergünstigungen mit sich. Am bedeutsamsten dürfte die Möglichkeit gewesen sein, angesichts eines überschaubaren Dienstalltags sein Hochschulstudium fortzusetzen und damit Verzögerungen im Ausbildungsgang zu vermeiden. Da es jedem Bewerber freigestellt war, sich bei einem Regiment seiner Wahl zu bewerben, war der Andrang in den Garnisonen der Universitätsstädte besonders hoch.436 Aus dem Korpus nutzten Hahl, Lindequist, Puttkamer, Rechenberg, Schnee und Seitz diese Möglichkeit. Auch die Freiheit, außerhalb der Kaserne zu wohnen, nahmen die meisten für sich in Anspruch. Als Angehörige der gehobenen Schichten waren die ›Einjährigen‹ von allen ›niederen‹ Aufgaben befreit. Sie durften sich sogar einen eigenen »›Putzkameraden‹ zum Reinigen von Montur und Waffen halten«.437 Von einer Gleichstellung mit den regulären Wehrpflichtigen kann also keine Rede sein. Angesichts der Fortschreibung schichtspezifischer Distanzen sind folglich auch Postulate in einschlägigen Selbstzeugnissen, wonach der Dienst sie der »untersten Klasse unserer Bevölkerung näher gebracht« und es ihnen ermöglicht habe, deren »Denken und Empfinden [zu] verstehen«, wenig plausibel.438 Im Gegensatz dazu bestand der häufigste Grund für die Inanspruchnahme des Privilegs gerade darin, später zum Reserveoffizier ernannt zu werden und dadurch eine Aufwertung des sozialen Prestiges zu erlangen. Gerade für Angehörige des Bürgertums galt das Offizierspatent als Signum einer staatstreuen Gesinnung und empfahl seine Inhaber für eine Beschäftigung im höheren Staatsdienst. Angesichts des gesellschaftlichen Stellenwerts des Reserveoffiziers verwundert es wenig, dass das bloße Ableisten der zwölfmonatigen Dienstzeit keineswegs genügte. Vielmehr waren mehrere Selektionsdurchgänge zu durchlaufen. War die Prüfung zum Aspiranten bestanden und fiel das Abschlusszeugnis günstig aus, wurde am Ende der aktiven Dienstzeit lediglich die Ernennung zum Unteroffizier der Reserve ausgesprochen.439 Als solcher hatte man in den Folgejahren an zwei mehrwöchigen Übungen teilzunehmen, die eine förmliche Offiziersprüfung und weitere Beurteilungen durch die Vorgesetzten beinhalteten. Bei diesen Aussiebungen stand die Frage nach der ›Würdigkeit‹ des Aspiranten im Vordergrund. Diesem sollten die Standespflichten des Offiziers geläufig sein, wozu auch »anständige Umgangsformen […] im außerdienstlichen Verkehr« zählten. Zudem galt es, die Vorgesetzten vom Vorhandensein eines »regen Pflichtgefühls« ebenso zu überzeugen, wie von einem »energischen« und autoritären Auftreten gegenüber Untergebenen.440 435 436 437 438 439
John, Reserveoffizierkorps, S. 55; vgl. BayHStA OP 25101, Jakob Hahl vom 11.7.1891, Bestätigung. John, Reserveoffizierkorps, S. 60, Jarausch, Studenten, S. 84. Langfeld, Leben, S. 58 (Zitat); John, Reserveoffizierkorps, S. 60, 126f. Langfeld, Leben, S. 58 (Zitat). John, Reserveoffizierkorps, S. 118, 144, 148 (Tab. 2), 149. PA-AA P1/1901, Garde-Regiment z.F. Nr. 3 vom 1.10.1897, Zeugnis für Edmund Brückner; BayHStA OP 25101, K.B. Inf.-Rgt. 9 vom 30.9.1888, Befähigungszeugnis für Albert Hahl. 440 Ebd., K.B. Inf.-Rgt. 7, Qualifikations-Berichte über Albert Hahl vom 1.1.1892, 2.6.1892 und 25.9.1893 (Zitate); vgl. John, Reserveoffizierkorps, S. 142–144, 242f.
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Tabelle 6: ›Einjährig-Freiwillige‹ und Reserveoffiziere unter den Gouverneuren441 Dienstzeit als EinjährigFreiwilliger
Regiment
Garnison
Adelsanteil (%)
Leutnant der Reserve
a) Kavallerie Frhr. v. Soden
1870/71
4. Reiter (württ.)
Ludwigsburg
k.A.
1871
v. Puttkamer
1873/74
15. Ulanen
Straßburg
28,2
-
v. Bennigsen
1881/82
13. Ulanen
Hannover
27,6
1883
Frhr. v. Rechenberg
[1880/81]
2. Garde zu Fuß
Berlin
36,4
1884
Köhler
[1883/84]
25. Infanterie
Straßburg
0,0
[1886]
v. Lindequist
[1883/84]
42. Infanterie
Greifswald
13,3
1886
b) Infanterie
Ebermaier
1884/85
56. Infanterie
Cleve
0,0
1886
Solf
1886
Seebataillon
Kiel
k.A.
-
Hahl
1887/88
9. Infanterie (bay.)
Würzburg
0,0
1891
Gleim
[1889/90]
11. Jäger-Bataillon
Marburg
20,0
1892
Schnee
1890/91
85. Infanterie
Kiel
0,0
1894
Brückner
1896/97
3. Garde zu Fuß
Berlin
14,9
1899
Seitz
[1885/86]
30. Feldartillerie
Rastatt
0,0
1887
Horn
1888/89
4. Feldartillerie
Magdeburg
0,0
1891
c) Artillerie
Erst wenn alle Hürden genommen waren, erfolgte die Ernennung zum Reserveleutnant. Unter den vierzehn ›Einjährigen‹ der Untersuchungsgruppe traf dies immerhin auf zwölf zu. Solf musste den Dienst aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig verlassen, während Puttkamer wegen der geschilderten Auseinandersetzungen mit den Freiburger Hasso-Borussen nicht zum Reserveleutnant avancieren durfte.442 Da unter sämtlichen ›Einjährigen‹ im Deutschen Reich überhaupt nur ein Drittel zum Reserveoffizier ernannt wurde, offenbart sich erneut die Exklusivität der späteren Gouverneure.443 Zugleich lässt sich aus dem hohen Anteil an Reserveoffizieren ablesen, dass der Besitz die-
441 Die eckigen Klammern beinhalten die bei einigen Gouverneuren nicht exakt feststellbaren, angesichts anderer Indizien aber sehr wahrscheinlichen Dienstzeiten. Die Angaben zum Adelsanteil beziehen sich nur auf das jeweilige Reserve-Offizierkorps. Ermittelt nach: Rang- und Quartier-Liste der Königlich Preußischen Armee (1874, 1888, 1894); Militär-Handbuch des Königreiches Bayern (1887). 442 Vietsch, Solf, S. 23. 443 Vgl. Nipperdey, Machtstaat, S. 230.
2. Dispositionen
ses Patents für den weiteren Berufsweg zweifellos förderlich war. Der fehlende Status als Reserveoffizier scheint dagegen nur dann akzeptiert worden zu sein, wenn der Betreffende aus gesundheitlichen Gründen für den Militärdienst nicht in Frage kam.444 Nur so erscheint es nachvollziehbar, dass Solf und Haber während ihrer Dienstzeiten in Ostafrika nicht nur ein positives Verhältnis zu ihren vorgesetzten Militärgouverneuren Liebert und Götzen unterhielten, sondern von diesen auch in ihrem weiteren Fortkommen gefördert wurden.445 Die während der Dienstzeit eingeübte Standeskultur beeinflusste naturgemäß auch das Zivilleben der Reserveoffiziere.446 Dabei standen sie stets unter Beobachtung der Militärbehörden, so dass bei Fehltritten jederzeit die Aberkennung des Status drohte. Ein Beispiel für ›standesgemäßes‹ Verhalten liefert Ebermaier, der sich während seiner Zeit als Oberrichter in Daressalam mit einem Apotheker duellierte. Die Ursache lag in einem Streit, der »bei einem Gelage entstanden« war. Ebermaier wurde daraufhin vorübergehend aus dem Kolonialdienst entlassen und musste eine dreimonatige Festungshaft verbüßen.447 Eine solche Duellkultur war jedoch keineswegs das alleinige Resultat der einjährigen Dienstzeit und weniger Reserveübungen. Das Gros der Reserveoffiziere hatte die einschlägigen Verhaltensnormen vielmehr schon in den studentischen Corps eingeübt.448 Bei anderen zählte das Duell gewissermaßen zur Familientradition, starben doch Bennigsens Onkel ebenso wie sein Bruder bei derartigen Zweikämpfen.449 Nicht zuletzt war die Teilnahme eine Frage des individuellen Temperaments, aber auch des Lebensalters. Als der inzwischen 51-jährige Ebermaier in Kamerun von seinem Ersten Referenten Wilhelm Hansen zum Zweikampf gefordert wurde, ging der Gouverneur nicht darauf ein. Die stattdessen eingeleitete ehrengerichtliche Untersuchung stützt die Vermutung, dass die tatsächliche Durchführung des Duells in den allermeisten Fällen eine Sache jüngerer Männer war und für diese eine Art Initiationsritus darstellte. Es ist daher kein Zufall, wenn bei keinem einzigen unter den Mitgliedern der Untersuchungsgruppe ein Zweikampf nachweisbar ist, sobald sie das vierzigste Lebensjahr überschritten hatten. Ebermaier kam mit Hilfe des Ehrengerichts ebenso zum Ziel, musste der Herausforderer doch kurzerhand seinen Abschied nehmen.450 Andererseits änderte ein solches 444 John, Reserveoffizierkorps, S. 303. 445 Vgl. BA-K N 1053/17, Bl. 4f., Liebert (Berlin) an Solf vom 5.11.1898, Schreiben; ebd., Bl. 8f., Liebert (Daressalam) an Solf vom 25.2.1899, Schreiben; BA-B N 2146/26, Götzen (Daressalam) an König vom 25.8.1901, Schreiben; ebd., Götzen (Daressalam) an König vom 7.6.1902, Schreiben. 446 Demeter, Offizierkorps, S. 167, 288; Nipperdey, Machtstaat, S. 231f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 722; Endres, Struktur, S. 302; vgl. Kehr, Genesis, S. 59. Die dortige Einschätzung, durch das Institut des Reserveoffiziers habe sich eine »Umbildung der bürgerlichen Denkweise zur Denkweise des Offiziers« vollzogen, dürfte aber zu weit gehen. Ähnlich: John, Reserveoffizierkorps, S. 315–325. Vgl. Groppe, Kaiserreich, S. 389f., 393–395, 404f., 412, 416–418, die geringfügige Hinweise für einen Militarisierungseffekt ausmacht. 447 Ostdeutsche Rundschau vom 20.9.1900 (Nr. 259), S. 2 (Zitat); Hoffmann, Gouverneur, S. 19. 448 Vgl. Frevert, Ehrenmänner, S. 130. 449 Oncken, Bennigsen 1, S. 64; Frevert, Ehrenmänner, S. 205f. Bennigsens Vater befürwortete auch im Reichstag das Duell: Ebd., S. 120, 155. 450 PA-AA NL 8/50, Doering (Lomé) an Asmis vom 12.4.1913, Schreiben; Berliner Tageblatt Nr. 608 vom 30.11.1913 (Nr. 608); Hausen, Kolonialherrschaft, S. 308; vgl. BA-K N 1740, S. 164, Olshausen, Lebenserinnerungen.
93
94
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
›zivilisiertes‹ Vorgehen nichts an der nach wie vor bestehenden Akzeptanz des Duells als solchem. Ein Internalisieren der Offizierspflichten durch die Zivilgouverneure lässt sich auch durch andere Indikatoren nachweisen. Ein Beispiel stellt etwa ein freiwilliges Engagement im Militär nach der Ernennung zum Reserveleutnant dar, ablesbar etwa am Besitz der ›Landwehr-Dienstauszeichnung‹.451 Diese wurde in der zweiten Klasse verliehen, wenn der Betreffende aus freien Stücken drei zusätzliche Monate aktiv gedient hatte. Für eine solche Dienstleistung hatte sich immerhin die Hälfte der Reserveoffiziere unter den späteren Gouverneuren bereitgefunden.452 In der ersten Klasse wurde die Auszeichnung vergeben, wenn der Betreffende mindestens acht Jahre über die reguläre Dienstzeit hinaus freiwillig im Militärverhältnis verblieben war. Deren fünf Träger erhöhen den Anteil überdurchschnittlich engagierter Reserveoffiziere innerhalb der Untersuchungsgruppe auf zwei Drittel.453 Dementsprechend äußerte etwa Lindequist zehn Jahre nach seinem Freiwilligenjahr, er sei noch immer »mit Leib und Seele Soldat«.454 Dass es sich dabei keineswegs um Lippenbekenntnisse handelte, bewies er im Frühjahr 1896, als er persönlich eine Kompanie der südwestafrikanischen Schutztruppe ins Gefecht führte.455 Auch Seitz ließ es sich als Gouverneur nicht nehmen, »oft und gern Uniform« zu tragen. Lediglich der Nichtreservist Solf kritisierte ein solches Auftreten, da ein Gouverneur seiner Meinung nach in erster Linie die »Zivilverwaltung zu akzentuieren« habe.456 Spätestens bei Beginn des Ersten Weltkrieges bewiesen mehrere Reserveoffiziere der Gruppe, dass sie den militärischen Pflichtbegriff auch auf lange Sicht verinnerlicht hatten. Tatsächlich meldeten sich im Sommer 1914 Brückner, Hahl und Horn freiwillig zu den Fahnen. Dabei erklärte sich Hahl grundsätzlich »zu jedem Dienst bereit«.457 Selbst unter den einst Zurückgewiesenen lässt sich keine militärkritische Haltung ablesen. Der bereits 56-jährige Schuckmann trat bei Kriegsausbruch als einfacher Soldat freiwillig in die Truppe ein, wo er nach wenigen Monaten zum Leutnant aufrückte.458 Auch Haber stellte sich an die Spitze der bewaffneten Macht in Neuguinea und erhielt nach seiner Rückkehr mehrere Kriegsauszeichnungen. 1919 formierte er in Berlin-Halensee eine Freikorpstruppe.459 Eine pazifistische Einstellung sucht man auch bei Schultz vergebens. Zwar zählt er ebenfalls zu den wenigen Gouverneuren, die aus Gesundheitsgrün451 Allgemein zur Landwehr-Dienstauszeichnung: Nimmergut, Orden 2, S. 1115f. 452 Landwehr-Dienstauszeichnung II. Klasse: Bennigsen (1895), Ebermaier (1906), Gleim (1902), Köhler (1897), Schnee (1904), Seitz (1897). 453 Landwehr-Dienstauszeichnung I. Klasse: Ebermaier (1907), Gleim (1912), Lindequist (1904), Rechenberg (1903), Seitz (1912). Das freiwillige Engagement hatte darüber hinaus ein Avancement der Betreffenden zur Folge. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erreichten daher Bennigsen, Ebermaier, Rechenberg und Seitz den Rang eines Hauptmanns, während Lindequist zum Major der Reserve ernannt wurde. 454 BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 29.12.1895, Schreiben. 455 BA-B N 1669/1, Bl. 17, 33f., Lindequist, Erlebnisse; Estorff, Kameldornbaum, S. 144f., 147f. (16.4., 7.5.1896). 456 BA-K N 1053/36, Bl. 16f., Solf, Tgb. (8.7.1912). 457 BayHStA OP 25101, Personalakte Hahl. 458 BA-B N 2272/4, S. 250–259, Schuckmann, Tgb. (23.9.-14.11.1914). 459 Marcon/Strecker, 200 Jahre, 1, S. 540; Haber, Deutsch-Neuguinea; vgl. Flierl, Lebenserinnerungen, S. 219f.; BA-B R 8034-III/423. Auch das Elternhaus Zimmerers war alles andere als antimilitärisch
2. Dispositionen
den keinen Militärdienst geleistet hatten, doch betätigte er sich in den 1920er und frühen 1930er Jahren als Verfasser nationalpatriotischer Artikel für die Marine-Rundschau und die Kreuzzeitung.460 Das durch eine weitreichende Präsenz des Militärischen im Kaiserreich vermittelte Ideal einer heroischen Männlichkeit lässt sich somit selbst für diejenigen Mitglieder der Gruppe nachweisen, die weder den Status des aktiven noch den des Reserveoffiziers innehatten. Es wird für die späteren Gouverneure noch zu untersuchen sein, inwiefern sich ihre positive Einstellung gegenüber dem Militär auf den kolonialen Kontext übertragen lässt.
2.3.2 Höhere Beamte Während das aktive Offizierkorps sich selbst als erster Stand im Kaiserreich wahrnahm, wurde die akademisch gebildete Beamtenschaft seitens der Forschung als »praktisch einflussreichste Gruppe in der deutschen Gesellschaft« charakterisiert.461 Auch nach einer Einschätzung von Max Weber dominierte sie die »Verwaltung im Alltagsleben« und hielt somit die »wirkliche Herrschaft« in ihren Händen.462 Angesichts ihres entscheidenden Anteils an der Fortentwicklung des bürokratischen Apparats sei die höhere Beamtenschaft geradezu als ein »Maßstab der Modernisierung« des Staatswesens anzusehen.463 Die Einschätzung einer überragenden Bedeutung der neuzeitlichen Verwaltung und ihres leitenden Personals spiegelt sich in dem auffällig großen Anteil höherer Beamter unter den Kolonialgouverneuren wider. Tatsächlich kamen achtzehn von ihnen und somit annähernd drei Viertel aus dieser Berufsgruppe.464 Das Laufbahnspektrum fokussierte sich dabei naturgemäß auf die traditionellen Hauptsäulen der Administration: die allgemeine innere Verwaltung und die Justiz. Dazu kamen wenige Mitglieder des Korpus, die kurz nach ihrer Ausbildung in den konsularischen Dienst des Auswärtigen Amtes übergetreten waren.465 Einen Sonderfall stellt Haber dar, der von vornherein die Laufbahn eines höheren Bergbeamten eingeschlagen hatte.
460 461 462 463 464
465
gesinnt, worauf die Tatsache hindeutet, dass der Bruder aktiver Offizier in der bayerischen Armee war. BayHStA OP 53391, Personalakte Rupert Zimmerer. Schultz-Ewerth, Deutschland, S. 385–396. Einige seiner Beiträge finden sich in: BA-B R 8034-III/423. Vierhaus, Umrisse, S. 405 (Zitat); Nipperdey, Machtstaat, S. 220; Hintze, Soziologie, S. 68. Weber, Wirtschaft, S. 825. Ebd. In der Literatur finden sich z.T. abweichende Einschätzungen. Trotha, Herrschaft, S. 102f., gibt z.B. an, dass nur drei der acht obersten Beamten in Togo Juristen und damit höhere Verwaltungsbeamte gewesen seien. Diese Behauptung hält einer Überprüfung nicht stand, hatten doch Falkenthal, Zimmerer, Köhler, Horn und Brückner eine rechtswissenschaftliche Ausbildung absolviert. Auch Puttkamer, der das erste juristische Staatsexamen bestanden und den Vorbereitungsdienst zumindest angetreten hatte, lässt sich ohne weiteres hinzufügen. Daher bleiben lediglich Zech und der Herzog zu Mecklenburg als Offiziere übrig. Aus der allgemeinen Innenverwaltung kamen Bennigsen, Brückner, Hahl, Köhler, Lindequist, Schnee und Seitz, während Ebermaier, Gleim, Horn, Puttkamer, Rechenberg, Schuckmann, Schultz, Soden, Solf und Zimmerer dem Justizdienst angehört hatten. Soden, Schuckmann, Puttkamer und Rechenberg wechselten ins Auswärtige Amt über. Siehe hierzu weiter unten.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Gleichgültig, ob sie in Innen-, Justizverwaltung oder auswärtigem Dienst tätig waren, mit Ausnahme Habers hatten alle höheren Beamten unter den späteren Gouverneuren ein Studium der Rechtswissenschaft durchlaufen.466 In dieser Hinsicht stellten die späteren Gouverneure keine Besonderheit dar, vielmehr war die juristische Ausrichtung des administrativen Führungspersonals der Intention einer Verrechtlichung, Rationalisierung und Nachvollziehbarkeit des Verwaltungshandelns geschuldet.467 An das Studium schloss sich ein weiterer Ausbildungsgang an, im Zuge dessen die angehenden Oberbeamten in ihre Amtspflichten eingeführt wurden. Dieses Referendariat dauerte je nach Bundesstaat zwischen zwei und vier Jahre.468 Da auch während dieses Zeitraums kein Entgelt vorgesehen war, erforderte die Zulassung eine schriftliche Erklärung von Eltern oder Verwandten über die Sicherstellung eines standesgemäßen Lebensunterhalts. Damit ergänzte dieser Vorbereitungsdienst die Wirkungsweisen von Gymnasium, Universität und einjährigem Militärdienst als soziale Filter.469 Vergleichbar mit dem Offizierkorps kam es auch bei der Aufnahme als Anwärter für die höhere Beamtenlaufbahn auf das Vorhandensein einer staatstreuen Gesinnung an.470 Besonders galt das für die preußische Innenverwaltung, wo die Regierungspräsidenten – wie die Regimentskommandeure in der Armee – die Bewerberauswahl persönlich vornahmen. Dieser Teil der Administration galt daher bereits bei den Zeitgenossen als der konservativere.471 Als Kennzeichen für die ›richtige‹ Grundhaltung eines Aspiranten konnten sich – neben einer Herkunft aus Adel oder Bürgertum – die Zugehörigkeit zu einem studentischen Corps oder der Besitz des Reserveoffizierspatents als vorteilhaft erweisen. Tatsächlich fällt auf, dass sämtliche späteren Gouverneure, die aus der preußischen Innenverwaltung kamen, Söhne von höheren Beamten und/oder Grundbesitzern sowie gleichzeitig Offiziere der Reserve waren. Häufig waren sie zudem ›alte Herren‹ einer studentischen Korporation.472 Im Vergleich zur preußischen scheinen die Innenverwaltungen der übrigen Bundesstaaten sowie die Justizverwaltungen generell etwas liberaler vorgegangen zu sein.473
466 Siehe Kapitel 2.2. 467 Zum Juristenprivileg: Süle, Bürokratietradition, S. 83, 88; Nipperdey, Machtstaat, S. 129; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 858; Wunder, Bürokratie, S. 78. 468 Bleek, Kameralausbildung, S. 170f., 264–266; Henning, Beamtenschaft, S. 76; Nipperdey, Machtstaat, S. 129; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 862. 469 Nipperdey, Machtstaat, S. 129, 131, 133; Raphael, Recht, S. 173; Röhl, Beamtenpolitik, S. 298; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 862, 1025f.; Wunder, Bürokratie, S. 79. Während Hahl monatlich 120 Mark von seinem Vater erhielt, waren es bei Schuckmann 200 Mark. BayHStA OP 25101, Jakob Hahl vom 11.7.1891, Bestätigung; BA-B N 2272/4, S. 39, Schuckmann, Lebenslauf. 470 Wunder, Rekrutierung, S. 13, 19f.; ders., Bürokratie, S. 94; Fenske, Beamtenpolitik, S. 581f.; Halmen, Staatstreue, S. 82; Nipperdey, Machtstaat, S. 133; Raphael, Recht, S. 56. 471 Fenske, Beamtenpolitik, S. 589f.; Bleek, Kameralausbildung, S. 178; Halmen, Staatstreue, S. 83; Nipperdey, Machtstaat, S. 130f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1026; Wunder, Bürokratie, S. 94. 472 Allgemein: Halmen, Staatstreue, S. 82; Henning, Beamtenschaft, S. 82–85; Jarausch, Studenten, S. 67f.; John, Reserveoffizierkorps, S. 302–312; Mertens, Privileg, S. 62; Nipperdey, Machtstaat, S. 134, 231; ders., Arbeitswelt, S. 582; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 722, 724, 861f., 881, 1027, 1217; Ullrich, Großmacht, S. 400; Wunder, Bürokratie, S. 94. 473 Zur Justizverwaltung: Conze, Monarchie, S. 131; Nipperdey, Machtstaat, S. 133, 138.
2. Dispositionen
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Söhne von gewerblichen Unternehmern, wie Hahl, Seitz oder Solf, der letzteren Kategorie zuzuordnen sind. Diese drei erfolgreichen Kolonialbeamten sind einerseits ein Beleg für ein beschränktes Maß an sozialer Durchlässigkeit innerhalb der Beamtenschaft, zugleich repräsentieren sie aber auch die verhältnismäßig wenigen Angehörigen ihrer Herkunftssphäre, welche alle Selektionsmechanismen erfolgreich überwinden konnten.474 War ein Bewerber für den Vorbereitungsdienst angenommen, wurde er einer mehr oder weniger heimatnahen Justiz- oder Verwaltungsbehörde zugeteilt und oft kurzerhand in die regulären Arbeitsabläufe eingebunden. Schuckmann berichtet beispielsweise, er habe am Amtsgericht in Landsberg/Warthe die »meisten Sachen selbständig« bearbeitet, da sein Vorgesetzter »froh« gewesen sei, »wenn er damit nichts zu tun hatte«. Das habe für ihn immerhin den Vorteil gehabt, dass er »in der Praxis den kleinen Betrieb kennen lernt[e]«.475 Höheren Orts stellte man aber auch fest, dass Referendare nicht selten sich selbst überlassen blieben, was dann zu »süßem Nichtstun« geführt habe.476 Auch die Betreffenden selbst berichten, sie hätten viel Zeit für private Neigungen gehabt, während gleichzeitig nicht allzu viel Fachwissen vermittelt worden sei.477 Nicht nur anhand der Aufzeichnungen Schuckmanns entsteht der Eindruck, dass der Schwerpunkt im Vorbereitungsdienst nicht immer auf berufspraktischem Feld lag. Von Bedeutung scheint vielmehr der gesellschaftliche Verkehr mit den Vorgesetzten und deren Familien einerseits sowie eine deutliche Abgrenzung gegenüber Publikum und subalterner Beamtenschaft andererseits gewesen zu sein.478 Das Ziel dieses Ausbildungsabschnitts bestand somit vor allem in der Einbindung der angehenden Staatsdiener in die Amtshierarchie und in einer fortgesetzten Einübung der standestypischen Verhaltensmuster.479 Zwar wurde in der zweiten Staatsprüfung auch Fachwissen abgefragt, doch bestand eine wesentliche Voraussetzung für das erfolgreiche Durchlaufen des Referendariats in erster Linie darin, die individuelle Anpassungsfähigkeit an die erwarteten Normen unter Beweis gestellt zu haben. Wer dies nicht konnte oder wollte, schied in der Regel noch vor der Ablegung des Assessorexamens aus.480 Bewerberauswahl und Referendariat stellten damit weitere Stufen im Rahmen einer »konservativen Auslese« dar.481 Der eigentliche Zweck dieser Selektion bestand darin, ein Führungspersonal innerhalb der Staatsdienerschaft heranzubilden, das sich vor allem durch Loyalität gegenüber
474 475 476 477 478
Allgemein zur Herkunft höherer Beamter im Kaiserreich: Henning, Beamtenschaft, S. 52–65. BA-B N 2272/4, S. 38, 43, Schuckmann, Lebenslauf; vgl. Henning, Beamtenschaft, S. 77. Süle, Bürokratietradition, S. 85f. (Zitat). Vgl. Gerlach, Rechts, S. 71; Wermuth, Beamtenleben, S. 33. BA-B N 2272/4, S. 38–44, Schuckmann, Lebenslauf. Zur Distanz gegenüber Subalternbeamten: BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 15.6.1897, Schreiben; BA-K N 1175/2, Bl. 15–17, Seitz, Tgb. (15.7.1908); BA-K N 1053/131, Bl. 24–28, Schnee (Apia) an Solf vom 24.2.1902, Schreiben. Allgemein: Süle, Bürokratietradition, S. 53–55; Raphael, Recht, S. 165. 479 Bleek, Kameralausbildung, S. 54. 480 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 744. Zur zweiten juristischen Staatsprüfung: Bleek, Kameralausbildung, S. 179, 185f., 265; Henning, Beamtenschaft, S. 76. Zu den Ausbildungsmängeln: Süle, Bürokratietradition, S. 88–91. 481 Ebd., S. 168 (Zitat); Raphael, Recht, S. 171, 173.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
dem obersten Dienstherrn auszeichnete. Dieses besondere Verhältnis zwischen (höherer) Beamtenschaft und Monarch hatte zugleich zur Folge, dass sich die Spitzen der Administration selbst als Teil einer unparteiischen, ausschließlich dem Staatsganzen verpflichteten und somit vermeintlich unpolitischen Obrigkeit wahrnahmen.482 Das Neutralitätspostulat entsprach jedoch kaum der Realität. Im Unterschied zu einer demokratisch legitimierten Verwaltung sahen sich die höheren Beamten des Kaiserreichs vielmehr weder der Öffentlichkeit noch der Verfassung gegenüber rechenschaftspflichtig.483 Es überrascht daher kaum, wenn die meisten Gruppenmitglieder sowohl dem Reichstag als auch der Presse mindestens misstrauisch, meist jedoch ablehnend gegenüberstanden. Nicht nur Bennigsen nahm diese demokratischen Einrichtungen wahr als etwas »Untreue[s], Egoistische[s], Abstoßende[s], das sich im deutschen Parteigetriebe wie in der deutschen Parteipresse herausgebildet hat«.484 Auch der keineswegs ausschließlich anglophile Wilhelm Solf stellte die Behauptung auf, die Demokratie britischer Prägung ersetze lediglich die ansonsten übliche Vetternwirtschaft durch »Geldkorruption« und sei deshalb keineswegs als die bessere Staatsform anzusehen.485 Auch Seitz hielt eine »bis in die äußersten Konsequenzen ausgebildete Demokratie« mit allgemeinem wie gleichem Wahlrecht für eine Fehlentwicklung, da diese lediglich eine »freie Bahn für den Hemmungslosen« bedeute.486 Für den Großteil dieser Positionselite galten folgerichtig Parteien wie Freisinn oder Zentrum mindestens als verdächtig. Lediglich die beiden Katholiken Haber und Rechenberg standen der Zentrumspartei nahe, wobei sich letzterer nach seiner kolonialen Karriere für diese sogar in den Reichstag wählen ließ. Durch die Bank als regelrecht staatsfeindlich diffamiert wurde aber die Sozialdemokratie. Am extremsten war das zweifellos bei Liebert der Fall, der nicht nur den Alldeutschen nahestand, sondern seit 1904 den Vorsitz im »Reichsverband gegen die Sozialdemokratie« bekleidete.487 Angesichts ihrer Nähe zum Herrscherhaus und der von diesem eingesetzten Regierung lässt sich die höhere Beamtenschaft im Kaiserreich an der Schnittstelle zwischen Verwaltung und politischer Macht und somit am »Übergang von den Regierenden zu den Regierten« verorten.488 An der Spitze der Administration bildete sie mit Hilfe der an sie delegierten Amtsgewalt den verlängerten Arm der Obrigkeit und fungierte somit
482 Süle, Bürokratietradition, S. 192f.; Nipperdey, Machtstaat, S. 133, 136, 138; Raphael, Recht, S. 168, 186f.; Wunder, Bürokratie, S. 88f.; ders., Rekrutierung, S. 13; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1030–1032. Zur zeitgenössischen Gleichsetzung von Königs- und Staatstreue sowie deren Manifestierung im Treueeid: Frevert/Schreiterer, Treue, S. 251. 483 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1031; Seibel, Verwaltung, S. 20. 484 BA-B N 2105/10, Bennigsen (Gut Bennigsen) an Hammacher vom 14.8.1902, Schreiben. 485 GStA PK Nl Schnee/51, Solf (Auckland) an Schnee vom 11.3.1901, Schreiben; vgl. Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 53. 486 Seitz, Aufstieg 3, S. 16. 487 Liebert, Leben, S. 176; vgl. ders., Heer, passim; ders., Kolonien, S. 7; ders., Entwickelung, S. 3; vgl. Förster, Militarismus, S. 118, Anm. 10. Bezeichnenderweise fand Liebert noch im vorgerückten Alter den Weg in die NSDAP. Allgemein zu den politischen Ansichten in der höheren Beamtenschaft: Süle, Bürokratietradition, S. 166; Raphael, Recht, S. 205; Halmen, Staatstreue, S. 95–97; Henning, Beamtenschaft, S. 85; Fenske, Beamtenpolitik, S. 582–586. 488 Hintze, Soziologie, S. 69 (Zitat).
2. Dispositionen
selbst als »Träger von Herrschaft«.489 In diesem Sinn entspricht das Postulat Max Webers, wonach »in einem modernen Staat […] die wirkliche Herrschaft […] notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums« liege, durchaus den damaligen Realitäten.490 Im Endeffekt dürfte es auch den späteren Gouverneuren nicht schwer gefallen sein, sich mit den beiden idealisierten Axiomen des höheren Beamtentums – Dienst am Staatswohl und Übernahme von Verantwortung – zu identifizieren, zählten diese doch ohnehin zum frühzeitig eingeübten Selbstverständnis sowohl der adligen als auch der (bildungs-)bürgerlichen Herkunftssphäre.491 Gerade wegen der mit ihrem Status verknüpften Amtsautorität wurden von der höheren Beamtenschaft bestimmte soziale Praktiken erwartet, welche eine staatskonforme Haltung auch nach außen kommunizierten. Während eine zuverlässige, sachliche, sparsame und unparteiische Erledigung der Dienstgeschäfte vorausgesetzt wurde, konnten öffentlich sichtbare Verfehlungen auch im privaten Bereich disziplinarische Konsequenzen nach sich ziehen. Zusammen mit der Treue- und Gehorsamspflicht gegenüber dem Dienstherrn bildeten solche Ge- und Verbote den Kern des vielzitierten Beamtenethos.492 Gerade bei den höheren Staatsdienern wurde außerdem auf Durchsetzungsfähigkeit und Führungsqualitäten Wert gelegt, wobei sich diese in der Praxis nicht selten in Gestalt eines autoritären Auftretens äußerten.493 Daneben war der Oberbeamte ebenso wie der Offizier gefordert, seine Zugehörigkeit zu den gehobenen Gesellschaftsschichten durch eine adäquate Lebensführung zu dokumentieren.494 Einen plastischen Eindruck von den konkreten Anforderungen an diese bereits von den Referendaren erwartete ›Standesgemäßheit‹ vermittelt wiederum Schuckmann anhand seiner Dienstzeit am Amtsgericht in Arnswalde:495 »Meine Zulage [seitens des Vaters] betrug damals M[ar]k 200,- monatlich, davon mußte ich für das Pferd Stallung und Pflege bezahlen, außerdem mußte ich doch in dem anständigsten Gasthofe essen, wo ich leider auch wohnte […]. Jagd gehen und Trinkgelder bei dem ländlichen Verkehr erforderten auch immer etwas und kamen [Guts-]Besitzer herein und aßen mal Mittag dort, so konnte ich mich nicht entziehen, mit ihnen eine Flasche Wein zu trinken, kurzum ich habe sehr sparsam sein müssen, um ohne Pump aus Arnswalde heraus zu kommen.« Aus diesen Zeilen lässt sich ablesen, dass die geforderte Lebensführung angesichts beschränkter Mittel nicht selten Fassade blieb.496 Tatsächlich war es im höheren Staatsdienst keineswegs ungewöhnlich, dass einer kostspieligen Repräsentation nach außen eine eher karge Lebenshaltung im öffentlich nicht sichtbaren Raum gegenüberstand.
489 490 491 492 493 494 495 496
Süle, Bürokratietradition, S. 73f., 83 (Zitat); Nipperdey, Machtstaat, S. 136. Max Weber, zitiert nach: Conze, Monarchie, S. 179; vgl. Fenske, Beamtenpolitik, S. 581. Henning, Beamtenschaft, S. 101; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 385; vgl. Conze, Helden, S. 370f. Hennig, Beamtenschaft, S. 98f.; Nipperdey, Machtstaat, S. 137; Süle, Bürokratietradition, S. 72, 167; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1025; Wunder, Bürokratie, S. 88; Hintze, Soziologie, S. 72. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 117, 723; Faulenbach, Bergassessoren, S. 225, 230, 233–235. Süle, Bürokratietradition, S. 173, 196; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1031. BA-B N 2272/4, S. 39, Schuckmann, Lebenslauf. Süle, Bürokratietradition, S. 173; Henning, Beamtenschaft, S. 95.
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Das ging so weit, dass selbst regulär besoldete Beamte, gerade wenn sie eine Familie zu versorgen hatten, oft nicht ohne private Zuschüsse auskamen.497 Dementsprechend sorgte sich einige Jahre später wiederum Schuckmann wegen seiner Erwerbsmöglichkeiten im Auswärtigen Amt. Er vertrat die Ansicht, seine Frau und Kinder »können nicht davon leben, dass ich vielleicht mal irgendein geheimes Tier werde und mich alle Jahr notdürftig mit dem Gehalt durchschinde. […] Ich bin sehr dankbar, dass ich meine Stellung in Berlin habe, aber was nutzt das alles, die Kinder können von hohen Stellungen nicht leben.«498 Auch die übrigen berufsspezifischen Anforderungen sollten nicht mit der Lebenswirklichkeit gleichgesetzt werden, scheinen doch beispielsweise übermäßiger Alkoholgenuss, mangelnder Diensteifer oder persönliche Animositäten keine Seltenheit gewesen zu sein.499 Ebenso wurde ein sexuell abweichendes Verhalten in gewissen Grenzen durchaus toleriert. Beispielsweise zog der außereheliche Geschlechtsverkehr etwa mit Dienstmädchen oder Prostituierten in der Regel keine ernsthaften Konsequenzen nach sich.500 Selbst eine in gewissen Grenzen ausgelebte homosexuelle Orientierung bedeutete – wenigstens bis zu den einschlägigen Skandalen nach der Jahrhundertwende – keineswegs zwangsläufig das Karriereaus. Ausschlaggebend war allerdings, dass nichts an die Öffentlichkeit drang.501 Auf der anderen Seite deuten allerdings einige Indikatoren, wie eine niedrige Quote von außerehelich gezeugten Kindern, darauf hin, dass das Beamtenethos keineswegs ausschließlich auf dem Papier existierte.502 Ließ sich die individuelle Bindung an das Herkunftsmilieu auch kaum zu Gänze eliminieren, sorgte ein latenter Konformitätsdruck in vielen Fällen zumindest für ein Abschleifen unerwünschter Verhaltensweisen.503 Tatsächlich wurden allzu auffällige Abweichungen sorgfältig registriert, so dass sich bereits der angehende Beamte »unter ständiger Beobachtung auf Schritt und Tritt« wähnte.504 In dieser Hinsicht bedeutsam war nicht zuletzt das allgegenwärtige Beurteilungswesen. Während bei konstantem Wohlverhalten des noch nicht verbeamteten höheren Staatsdieners über kurz oder lang die ersehnte Planstelleneinweisung in Aussicht stand, konnten öffentlich sichtbare Verstöße gegen die Standespflichten oder Konflikte mit Dienstvorgesetzten eine berufliche Stagnation oder sogar das Karriereende nach sich ziehen.505 Es überrascht daher kaum, dass die langen Bewährungszeiten bis zur definitiven Übernahme in das Beamtenverhältnis unter den als Assessor titulierten Anwärtern eine Kultur der Anpassung begünstigten. Diese Form des Karrierismus, der sich über ei-
497 Süle, Bürokratietradition, S. 107, 114–116; Henning, Beamtenschaft, S. 94f.; Budde, Bürgerleben, S. 317–319; Hauf, Oberpräsidenten, S. 109f.; Röhl, Beamtenpolitik, S. 298f.; Wunder, Bürokratie, S. 105. 498 BA-B N 2272/4, S. 130, Schuckmann, Tgb. (4.1.1892); vgl. BA-B N 2272/2, Schuckmann an seinen Vater vom 1.11.1891, Schreiben. 499 Süle, Bürokratietradition, S. 168. 500 Budde, Bürgerleben, S. 40; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 99–101. 501 Bösch, Skandale, S. 47–59, 117, 141f., 153, 155; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 99, 104, 106f. 502 Süle, Bürokratietradition, S. 168. 503 Henning, Beamtenschaft, S. 71. 504 BA-B N 2272/4, S. 38, Schuckmann, Lebenslauf. 505 Halmen, Staatstreue, S. 84–94.
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nen ostentativ zur Schau getragenen Habitus des nach unten autoritär, nach oben aber devot auftretenden Staatsdieners äußerte, war bereits bei den Zeitgenossen als ›Assessorismus‹ sprichwörtlich.506 Dabei machten die Gouverneure keine Ausnahme. Köhler soll etwa gegenüber der Kolonialabteilung stets zurückhaltend taktiert haben, da er über »keine Konnexionen« verfügt habe.507 Auch Schnee stand im Ruf eines »kleine[n] Egoist[en]«, der nach Erreichen seiner Festanstellung wiederum seine ›Freunde‹ förderte.508 Nicht alle Gruppenmitglieder verfügten über das eingeforderte Maß an Selbstdisziplin, Anpassungsbereitschaft oder Selbstverleugnung. Sie erfuhren die Folgen abweichenden Verhaltens dann unmittelbar. Schuckmann musste beispielsweise im März 1881 das Amtsgericht in Arnswalde mit dem in Landsberg vertauschen, nachdem er bei Dunkelheit einen Stadtrat mit seinem Hausdiener verwechselt und diesem »einige Maulschellen« verabreicht hatte. Obwohl das Missverständnis rasch aufgeklärt wurde, hatte sich die »Sache in der Stadt verbreitet und so war ein furchtbares Gerede darüber entstanden. […] Das Ergebnis war das, dass ich einen Verweis bekam und den Befehl, mir ein anderes Gericht auszusuchen.«509 Weitreichender waren die Konsequenzen für Solf, der zeitweilig als Sekretär und Übersetzer beim Kaiserlichen Generalkonsulat in Kalkutta gearbeitet hatte. Anfangs von seinem Vorgesetzten als fähiger Mitarbeiter gefördert und daher mit zusätzlichen Aufgaben betraut, geriet er mit dessen Nachfolger aneinander. Dieser behandelte den promovierten Philologen wie einen subalternen Beamten und forderte schließlich seine Entfernung. Als Begründung schrieb der Generalkonsul an das Auswärtige Amt: »[…] mit Dr. Solf als Sekr[etär] nicht auszukommen, nachlässig u. faul, in ungewöhnl[ichem] Maß anmaßend, leidet an einer Art Größenwahn. Unaufrichtig.«510 Obwohl Solf gleichzeitig »hervorragende wissenschaftliche Kenntnisse« attestiert wurden, erfolgte wenig später seine Beurlaubung und schließlich die Entlassung. Erst nach Jurastudium und Referendariat konnte er ins Auswärtige Amt zurückkehren.511 Auch Puttkamer lässt sich in diesem Zusammenhang anführen. Er musste im März 1883 seinen Vorbereitungsdienst am Berliner Kammergericht vorzeitig abbrechen.512 Wie thematisiert, reichten die Ursachen bis in seine Studienzeit zurück. Sein aus Spielleidenschaft außer Kontrolle geratenes Schuldenmachen kollidierte dabei mit der aus der bürgerlichen Ideenwelt übernommenen Norm geordneter wirtschaftlicher Verhältnisse. Bemerkenswert ist die Wirkungsmächtigkeit, die dieser Grundsatz in der Praxis
506 Nipperdey, Machtstaat, S. 137. Die Erklärung in Zurstrassen, Beamte, S. 36, trifft nicht den Bedeutungskern. 507 Massow, Tgb., S. 371 (3.7.1897). 508 BA-K N 1053/24, Bl. 58f., Solf an König vom 10.5.1903 (Zitat); GStA PK Nl Schnee/33, Brückner (Lomé) an Schnee vom 14.3.1911, Schreiben; ebd., Brückner (Lomé) an Schnee vom 7.12.1911, Schreiben. 509 BA-B N 2272/4, S. 40f., Schuckmann, Lebenslauf. 510 BA-B N 2146/58, Heyking (Kalkutta) an Auswärtiges Amt vom 29.10.1890, Schreiben; vgl. BA-K N 1067/21, Solf (Kalkutta) an Auswärtiges Amt vom 14.10.1890, Schreiben; Vietsch, Solf, S. 28–31; Hempenstall/Mochida, Man, S. 35–37. 511 BA-K N 1067/21, Heyking (Kalkutta) an Solf vom 14.1.1891, Beurlaubung; BA-B N 2146/58, König vom 27.1.1891, Vermerk. 512 Folgerichtig führte Puttkamer noch als Gouverneur die Rangbezeichnung als »Königlich preußischer Kammergerichtsreferendar«.
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entfaltete. Nicht einmal der zeitgleich amtierende preußische Innenminister Robert v. Puttkamer vermochte die Entlassung seines Sohnes zu verhindern, was wiederum als Symptom einer fortgeschrittenen Professionalisierung innerhalb der Administration gedeutet werden kann.513 Obwohl sich Puttkamer nach Einschätzung eines späteren Vorgesetzten unter normalen Umständen seiner »Jugendsünden« wegen den »Hals gebrochen hätte«, fiel er dennoch verhältnismäßig weich.514 Als adliger Ministersohn und vermutlich unter Mithilfe des verschwägerten Bismarck erfolgte kurz darauf sein Eintritt in das aristokratisch geprägte Auswärtige Amt. Puttkamer selbst beschönigte diesen Vorgang im Nachhinein folgendermaßen:515 »Ehe ich ins Ausw. Amt eintrat, wurden diese Verhältnisse erwogen und die maßgebenden Personen […] erachteten, dass in dem Vorgefallenen kein Grund zu sehen sei, um mir eine ehrenvolle Karriere zu verschließen.« Allerdings wurde er als frischgebackener stellvertretender Vizekonsul zunächst für ein Jahr nach Chicago abgeschoben, ehe er – nach einem Zwischenspiel in der Berliner Wilhelmstrasse – in die westafrikanischen Kolonien ging.516 Diese Beispiele verdeutlichen die Zielrichtung des Pflichtenkatalogs für die höhere Beamtenschaft. Vorrangig wurde angestrebt, Verfehlungen von der Öffentlichkeit fernzuhalten, indem die Betreffenden – je nach der Schwere des Vergehens – an eine andere Dienststelle oder Behörde wegversetzt wurden. Bei Solf waren es dagegen persönliche Animositäten gewesen, zu denen das (vorläufige) Fehlen des juristischen Bildungspatents kam. Interessant ist aber auch, dass die genannten Gruppenmitglieder ihre weiteren Aussichten im höheren Staatsdienst keineswegs verwirkt hatten, sondern nach entsprechenden Bewährungszeiten oder einem nachgeholten Ausbildungsgang doch noch hohe Ämter bekleiden konnten. Wie an dem Beispiel Puttkamers gezeigt werden konnte, stellte namentlich für Angehörige des Adels das Auswärtige Amt eine praktikable Alternative zu Innen- und Justizverwaltung dar.517 Das galt auch für Soden, der noch während seiner Vorbereitungszeit festgestellt hatte, dass ihm die »Aussicht auf die [reguläre] Beamtenlaufbahn nicht sympathischer« geworden sei.518 Ähnlich gering war die Begeisterung bei Schuckmann, der überhaupt »nur auf Wunsch des Vaters« Jurist geworden war.519 Die beiden noch unverheirateten Männer im Alter von 25 bzw. 28 Jahren zog es stattdessen »in die Ferne«,
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Ein erstaunliches Maß an Autonomie auf Seiten der Bürokratie stellte einige Jahre später auch der Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst fest, als er mit kaiserlicher Unterstützung erfolglos eine Stelle im Innenministerium nach seinem Wunsch zu besetzen suchte. Resigniert musste er »mit Bedauern konstatieren, dass die Bureaukratie eben stärker ist, als Kaiser und Kanzler.« HohenloheSchillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 290 (26.12.1896); vgl. Süle, Bürokratietradition, S. 34; Nipperdey, Machtstaat, S. 132. BA-B N 2146/50, Soden an Kayser vom 20.4.1894, Schreiben. Ebd., Puttkamer (Buea) an König vom 9.12.1897, Schreiben. Allgemein zum Einstellungsprozedere im Auswärtigen Amt: Röhl, Beamtenpolitik, S. 291f. Vgl. Nipperdey, Machtstaat, S. 139. Ow, Soden, S. 251. BA-B N 2272/4, S. 45, Schuckmann, Lebenslauf.
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weshalb Soden gegenüber dem Auswärtigen Amt im Vorfeld erklärte, er habe »keinerlei Wünsche und Bedingungen und gehe überall hin, wo man ihn hinschicken würde.«520 Schuckmann, der in der preußischen Gesandtschaft in Hamburg unter dem für die frühen deutschen Kolonialambitionen bedeutsamen Heinrich v. Kusserow gearbeitet hatte, äußerte ebenfalls die Bitte, »bei der Entsendung von Konsuln nicht übergangen zu werden.«521 Beide mussten nicht lange warten. Während Soden zwischen 1871 und 1885 zuerst als ›Hülfsarbeiter‹ und wenig später als Konsul nach Bukarest, Algier, Kanton, Hongkong, Havanna, Lima und Sankt Petersburg geschickt wurde, kam Schuckmann im Frühjahr 1888 als Vizekonsul nach Chicago und schließlich – nach zeitweiliger Tätigkeit in der Wilhelmstraße und einem Zwischenspiel als stellvertretender Gouverneur von Kamerun – als Generalkonsul nach Kapstadt.522 Der vierte, ebenfalls adlige Gouverneur, dessen berufliche Karriere im Auswärtigen Amt begann, war Rechenberg. Er folgte darin seinem Vater, der als preußischer Gesandter in Athen, Kopenhagen und Madrid gewirkt hatte. Zum Zeitpunkt des Eintritts seines Sohnes in die konsularische Laufbahn amtierte Rechenberg Senior als Vorstand des Generalkonsulats in Warschau.523 Im Unterschied zu Puttkamer, Schuckmann und Soden war der in Madrid geborene und in Prag, Warschau und Berlin aufgewachsene Rechenberg aber vorläufig im Innendienst des Auswärtigen Amtes – in der Handelsabteilung – tätig. Im Prinzip mit Schuckmann vergleichbar, ging auch seiner darauffolgenden Verwendung als Vizekonsul, Konsul und Generalkonsul in Sansibar, Moskau und Warschau eine zweijährige Dienstperiode als Bezirksrichter in Deutsch-Ostafrika voraus. Für die im konsularischen Dienst tätigen Gruppenmitglieder stellten die in den Vertretungen erworbenen Erfahrungen zweifellos eine Einstimmung auf das Gouverneursamt dar.524 Allerdings stellte der Wechsel in den Kolonialdienst für keinen von ihnen einen von vornherein angestrebten Karriereschritt dar. Eine spätere Verwendung in den ›Schutzgebieten‹ war vielmehr zum Zeitpunkt des Eintritts ins Auswärtige Amt nicht absehbar. Auf die meisten anderen höheren Beamten der Untersuchungsgruppe trifft diese Folgerung nicht zu. Neun von ihnen wechselten unmittelbar oder kurz nach der Beendigung ihres Referendariats gezielt in den Kolonialdienst über. Gleim, Schnee und Solf hatten sich sogar noch während der Schlussphase ihres Vorbereitungsdienstes in der Kolonialabteilung beworben und konnten daher nach bestandener großer Staatsprüfung nahtlos dort eintreten. Auch bei Brückner, Hahl, Horn, Köhler, Lindequist und Schultz 520 Ebd. (Zitat 1); Ow, Soden, S. 252 (Zitat 2). 521 GStA PK I/Rep. 81/30, AA an K.P. Gesandten in Hamburg vom 10.1.1888, Erlass. Zu Heinrich v. Kusserow: BHAD 2, S. 710f.; Buchner, Aurora, S. 2; vgl. GStA PK I/Rep. 81/30, K.P. Ministeriumf. auswärtige Angelegenheiten an K.P. Gesandtschaft in Hamburg vom 24.4.1887, Erlass. 522 Ow. Soden, S. 252; BA-B N 2272/4, S. 46–85 (Chicago), 133–209 (Kapstadt), Schuckmann, Lebenslauf. Die Briefe Schuckmanns an seinen Vater während seiner Zeit als Generalkonsul in Kapstadt sind ediert in: Lucius, Cape Town, S. 316–347. 523 Biographische Daten zu Rechenbergs Vater: BHAD 3, S. 583f. Vgl. die Bemerkung v. Holsteins, wonach der Senior »ein guter Bekannter von [General Graf v.] Waldersee seit langen Jahren« gewesen sei. Holstein an Eulenburg vom 21.2.1891, Schreiben, in: Eulenburg, Korrespondenz 1, S. 639. 524 Vgl. die Einschränkungen in Kapitel 3.
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lagen nur verhältnismäßig kurze Zeiträume zwischen ihrer Ernennung zum Assessor und dem Entschluss, sich für den Dienst in den Kolonien zu melden.525 Bei sachlicher Betrachtung erscheint dieser Schritt keineswegs abwegig, befanden sich doch alle Genannten zum Zeitpunkt ihres Übertritts in einer ungünstigeren Position als etwa ein aktiver Offizier in der Armee oder ein Assessor im Konsularischen Dienst, da für diese Berufsgruppen immerhin eine Gehaltszahlung vorgesehen war. Schuckmann erhielt beispielsweise in der Preußischen Gesandtschaft zu Hamburg eine Remuneration von 6.000 Mark im Jahr.526 In der Innen- ebenso wie in der Justizverwaltung bedeutete dagegen die Zeit als Assessor eine Fortsetzung der bereits im Referendariat durchlebten prekären Beschäftigungsbedingungen. Es konnten zwar Diäten gewährt werden, doch kam diesen geringfügigen Zahlungen eine eher symbolische Bedeutung zu.527 Beispielsweise hätte Schnee als Assessor in der heimischen Verwaltung anfangs zwischen 1.500 und 1.800 Mark im Jahr erhalten.528 Zugleich hatte ein wachsendes Bewerberangebot zur Folge, dass die Wartezeiten bis zur Zuteilung einer Planstelle immer länger wurden. In Preußen war ein höherer Beamter daher in der Regel deutlich jenseits des dreißigsten Lebensjahres, ehe er in eine regulär besoldete Festanstellung einrücken konnte.529 Im Gegensatz dazu lockte eine Dienstperiode in den Kolonien mit einem durchaus lukrativen Einstiegsgehalt, das sich in der höheren Laufbahn je nach Funktion um die Jahrhundertwende auf 8.400 bis 9.000 Mark im Jahr bezifferte.530 Dazu kam die Regelung, dass die Assessoren von ihrer Heimatbehörde zumindest in der ersten Zeit ihrer kolonialen Tätigkeit beurlaubt wurden, nach deren Beendigung also in die heimische Verwaltung zurückkehren und mit etwas Glück eine inzwischen frei gewordene Planstelle erhalten konnten.531 Angesichts der Aussicht, zu Hause »fünf bis zehn Jahre unentgeltlich zu arbeiten«, stellte der Kolonialdienst also eine praktikable Alternative dar.532 Namentlich die aus dem Bildungsbürgertum kommenden Mitglieder des Korpus konnten auf diese Weise zugleich ihre Eltern entlasten, die mit ihren knapp bemessenen Budgets oft mehrere Söhne gleichzeitig zu unterstützen hatten. Dürfte dieser finanzielle Aspekt bei manchen eine wichtige Rolle gespielt haben, lassen sich mit Blick auf die Einzelfälle auch abweichende Beweggründe ausmachen, ganz abgesehen davon, dass häufig mehrere Aspekte zusammentrafen. Das Beispiel Solfs 525 Die Spanne zwischen großer Staatsprüfung und Eintritt in den Kolonialdienst liegt bei den Genannten zwischen acht Monaten und zwei Jahren. 526 GStA PK I/Rep. 81/30, K.P. Ministerium für Ausw. Angelegenheiten an den K.P. Gesandten in Hamburg vom 22.11.1886, Verfügung. 527 Süle, Bürokratietradition, S. 117; Hauf, Oberpräsidenten, S. 109. 528 Abermeth, Schnee, S. 67. 529 Süle, Bürokratietradition, S. 172 (Tab. 28); Wunder, Rekrutierung, S. 12. 530 BayHStA M Inn 65266, KA an Hahl vom 17.10.1895, Erlass; BA-K PERS 101/42923, KA an Haber vom 15.4.1901, Erlass; vgl. Abermeth, Schnee, S. 67; Zurstrassen, Beamte, S. 110. 531 PA-AA P1/1901, Bl. 115, K.P. Minister der Justiz vom 18.9.1902, Erlass (Brückner); BayHStA M Inn 65266, K.B. Staats-Ministerium d. Innern an Präsidium der Regierung von Oberfranken vom 23.10.1895, Erlass; BA-K N 1669/1, S. 1, Lindequist, Erlebnisse. Allgemein: Hausen, Kolonialherrschaft, S. 111. Widersprüchlich: Zurstrassen, Beamte, S. 112, 121. 532 Gartenlaube (1868), zitiert nach: Budde, Bürgerleben, S. 426f., Anm. 122; vgl. Zurstrassen, Beamte, S. 110.
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wurde bereits angesprochen. Nachdem ihm aufgrund des sogenannten ›Juristenmonopols‹ der Zugang zu einem verantwortungsvolleren Posten im Staatsdienst versperrt gewesen war, holte er das Jura-Studium nebst Vorbereitungsdienst nach. Der sofort nach Ausbildungsende erfolgte Übertritt in die Kolonialabteilung verweist auf die von Anfang an bestehende Absicht, sich für einen höheren Posten in den Kolonien zu qualifizieren, anstatt in den von Solf als »langweilig« empfundenen heimischen Staatsdienst einzutreten.533 Dabei spielte möglicherweise die kolonialbegeisterte Hofgesellschaft in Weimar, zu der Solf während des juristischen Vorbereitungsdienstes einen intensiven Kontakt pflegte, eine Rolle.534 Wichtiger scheinen jedoch seine eigenen Erfahrungen im Botschaftsdienst gewesen zu sein, überkam ihn doch im Herbst 1893 ein »förmliches Heimweh nach Indien«, das er allgemein als »Sehnsucht nach weit weg« beschrieb.535 Ein kurz zuvor ergangenes Angebot, in eine der afrikanischen Kolonien zu gehen, hatte er zwar abgelehnt, diese Entscheidung aber anschließend »täglich mehr« bereut.536 Lindequist hatte seinen Vorbereitungsdienst zu Beginn des Jahres 1892 abgeschlossen, sah jedoch eine von ihm anvisierte Stelle als Landrat auf Jahre hinaus blockiert. Er folgte deshalb einem Aufruf des Reichskanzlers Caprivi, wonach es »erwünscht sei, wenn sich junge Regierungs-Assessoren auf drei Jahre […] zu dem Zweck abkommandieren ließen, auf einige Zeit in die deutschen Kolonien versandt zu werden«.537 Lindequists Entschluss soll durch einen vorherigen Aufenthalt in Tunesien begünstigt worden sein. Den Rest besorgten offenbar die euphorischen Erzählungen eines früheren Kommilitonen, der inzwischen in Kamerun tätig war.538 Eine Kombination aus Abenteuerlust und kulturmissionarischem Enthusiasmus dürfte auch bei Hahl ausschlaggebend gewesen sein. Diese Vermutung gewinnt einerseits an Plausibilität, da er – anders als seine preußischen Assessor-Kollegen – wegen seines hervorragenden Staatsexamens auf eine unmittelbare Festanstellung in der bayerischen Verwaltung rechnen durfte. Bezeichnenderweise hatte er sich noch vor seinem Dienstantritt in der Bayreuther Bezirksregierung für den Kolonialdienst beworben.539 Während die Tatsache, dass er wenige Jahre vorher dem Studentischen Missionsverein beigetreten war, ein Indiz für ideelle Beweggründe liefert, tritt Hahls
533 BA-K N 1053/1, Bl. 3f., Solf (Kiel) an seine Mutter vom 2.9.1887, Schreiben (Zitat). 534 Vietsch, Solf, S. 33–35; Hempenstall/Mochida, Man, S. 37–41, v.a. 39. Eine engere Bekanntschaft hatte Solf mit dem dortigen Adjutanten des Großherzogs von Sachsen-Weimar, Aimé von Palézieux gen. Falconnet (1843–1907), gepflegt, eines einflussreichen Mitglieds des Kolonialrats und Aktionärs der Deutsch-ostafrikanischen Gesellschaft. Gann/Duignan, Rulers, S. 33; vgl. BA-K N 1053/2, Bl. 11f., Solf (Vailima) an Frau v. Palézieux vom 1.6.1907, Schreiben. Darin kondolierte er dessen Witwe und betonte, dass der Verstorbene sich seiner während der fraglichen Zeit »wohlwollend angenommen« und ihn »mit Rat unterstützt« habe. 535 BA-K N 1053/1, Bl. 78f., Solf (Weimar) an seine Mutter vom 9.10.1893, Schreiben. 536 Ebd., Bl. 73–77, Solf (Weimar) an seine Mutter vom 8.9.1893, Schreiben. 537 BA-K N 1669/1, S. 1, Lindequist, Erlebnisse; vgl. BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 29.12.1895, Schreiben; ebd., Lindequist (Windhuk) an König vom 4.2.1896, Schreiben. 538 BA-K N 1669/1, S. 1, Lindequist, Erlebnisse. 539 BayHStA M Inn 65266, Staats-Ministerium des Innern an K.B. Staats-Ministerium des königlichen Hauses und des Äußern vom 18.7.1895, Erlass.
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Drang, den offenbar als wenig befriedigend empfundenen heimischen Verhältnissen zu entfliehen, in einem späteren Brief an einen Bekannten zutage:540 »Das ist doch etwas ganz anderes mit den Eingeborenen ins Innere auf Rundfahrt zu gehen, denn als Herr Bezirksamtsassessor [in Deutschland] zweispännig zu den Bauern zu fahren.« Auch Schnee fasste gegen Ende seines Referendariats den »Entschluss, in den Kolonialdienst zu treten«. Die Ernsthaftigkeit dieser Entscheidung wird durch die Tatsache belegt, dass der damals kaum 26-jährige neben seinen Examens-Vorbereitungen auf »eigene Kosten und eigene Veranlassung« am Berliner Seminar für Orientalische Sprachen einen Kursus für Kiswahili belegte.541 Es erscheint naheliegend, dass sowohl die Aussicht auf eine mehrjährige Wartezeit bis zur Festanstellung als auch ein gewisses Maß an jugendlichem Enthusiasmus den Ausschlag gegeben haben dürften, sich für den Dienst in den ›Schutzgebieten‹ zu bewerben.542 Sofern sich aus Schultzʼ 1926 erschienenen »Erinnerungen an Samoa« Rückschlüsse auf seine knapp drei Jahrzehnte zuvor maßgeblichen Beweggründe für den Eintritt in den Kolonialdienst ziehen lassen, dürfte es sich auch bei ihm um eine Mixtur aus nationalpatriotischen und kulturmissionarischen Interessen gehandelt haben. Einerseits sah er in der »kolonisatorischen Betätigung eine Lebensfrage« für Deutschland, da nur eigene ›Schutzgebiete‹ den vermeintlichen Bevölkerungsüberschuss nutzbringend aufnehmen könnten und darüber hinaus wirtschaftliche Vorteile mit sich brächten. Zum anderen will Schultz von einem in der Rückschau durchaus selbstironisch wahrgenommenen »Belehrungseifer« beseelt gewesen sein, »mit dem ich zuerst den Südsee-Phäaken meine billig erworbene Schulweisheit aufzudrängen liebte«.543 Bezeichnenderweise lässt sich bei keinem dieser jüngeren Assessoren eine ›Flucht‹ aufgrund beruflicher oder gesellschaftlicher Verfehlungen als Beweggrund für den Eintritt in den Kolonialdienst erkennen. Der Topos, wonach die »Kolonien ein Betätigungsfeld für verkrachte Existenzen oder für solche seien, die irgendetwas in der Heimat gesündigt hätten«, traf auf diese Vertreter der höheren Beamtenschaft nicht zu. Ohnehin handelte es sich bei dieser Vorstellung um ein hartnäckiges Vorurteil aus der Frühphase deutscher Kolonialaktivitäten.544 Das überschaubare Sozialprestige des Kolonialdienstes hatte nichtsdestotrotz zur Folge, dass sich nicht wenige Beamte solche Anspielungen aus ihrem heimischen Umfeld gefallen lassen mussten. Lindequist sah sich beispielsweise mit der Frage konfrontiert, »warum ich denn nur nach Afrika ginge. Ich hätte doch nichts auf dem Kerbholz, dass ich Deutschland und Europa verlassen müsste.«545
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Hahl an einen Freund, o.D., Schreiben, zitiert nach Hiery, Reich, S. 234. Schnee, Gouverneur, S. 9. Vgl. Abermeth, Schnee, S. 58, 62, 65f. Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 83, 159f. Schnee, Gouverneur, S. 9f. (Zitat); Gann/Duignan, Rulers, S. 94; Czaplinski, Service, S. 117; Laak, Infrastruktur, S. 118; vgl. Trotha, Herrschaft, S. 97f.; Petter, Offizierkorps, S. 167. 545 BA-K N 1669/1, Bl. 2, Lindequist, Erlebnisse. Das Zitat spiegelt »die damalige Auffassung des Kolonialdienstes« [Sommer 1892] wider. Vgl. Seitz, Aufstieg 1, S. 110: »[…] damals [Herbst 1894] rech-
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Ebenso wenig zeichneten Qualifikationsdefizite für die Entscheidung verantwortlich, in die Kolonien zu gehen, hatten doch die genannten Gruppenmitglieder sämtlich das zweite Staatsexamen bestanden, manche von ihnen mit überdurchschnittlichen Ergebnissen. Angesichts der vergleichsweise kurzen Beschäftigungszeiten in der heimischen Verwaltung stellt sich bei ihnen vielmehr die Frage, inwieweit eine berufsspezifische Prägung als höhere Beamte bei den jüngeren Assessoren wirksam werden konnte. Keine Zweifel bestehen in dieser Hinsicht bei den restlichen fünf Beamten des Sample. Im Gegensatz zu den im konsularischen Dienst tätigen sowie den kurz nach der großen Staatsprüfung in den Kolonialdienst übergetretenen Assessoren befanden sie sich bereits längere Zeit in Amt und Würden. Sie entschieden sich erst nach einer Berufstätigkeit von fünf oder mehr Jahren für eine Tätigkeit in den Kolonien. Beim bayerischen Landgerichtsrat Zimmerer waren sogar neunzehn Jahre seit dem Ende seines Referendariats vergangen, ehe er sich im Sommer 1887 für den Dienst im Auswärtigen Amt beurlauben und wenig später nach Kamerun entsenden ließ.546 Differenzen mit seinem Münchner Dienstherrn sind dabei auszuschließen. Dafür sprechen sowohl seine hervorragenden Beurteilungen als auch die Tatsache, dass ihm nach dem Übertritt in den Kolonialdienst noch jahrelang die Option auf Wiedereinstellung in den bayerischen Staatsdienst offengehalten wurde.547 Für Zimmerers Entscheidung zeichnete daher wohl tatsächlich eine »Begeisterung für die Kolonien« verantwortlich.548 Die langjährige Richtertätigkeit hatte bei ihm nichtsdestotrotz ihre Spuren hinterlassen, galt er doch auch in Westafrika als ausgesprochener »Aktenmensch«, der sich vor allem durch das Verfassen formal einwandfreier Berichte und ein gründliches Durcharbeiten dienstlicher Schriftstücke ausgezeichnet haben soll.549 Auch Bennigsen blickte zum Zeitpunkt seines Eintritts in den Kolonialdienst bereits auf eine mehrjährige Berufspraxis in der preußischen Innenverwaltung zurück. Dabei vereinigte seine Position als Landrat im niedersächsischen Kreis Peine sowohl politische Leitungsfunktionen als auch administrative Aufgaben. Nicht zuletzt verfügte Bennigsen durch seine Betätigung in der kommunalen Steuerverwaltung über eine Expertise, an die er als Finanzdirektor im Gouvernement von Deutsch-Ostafrika nahtlos anknüpfen konnte.550 Einzig die unvermittelte Aufgabe seiner Dienststellung scheint einen Teil seines Umfelds irritiert zu haben. So hatte der Fürst Münster im Dezember 1892 an Bennigsens Vater geschrieben, es tue ihm »leid zu hören, daß Ihr Sohn, der Landrat in Pei-
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nete man jeden, der in den Kolonialdienst ging, von vornherein unter die verlorenen Söhne.« Vgl. Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 12. PA-AA P1/17195, Personalakte Zimmerer. Ebd., Lebenslauf Zimmerers mit Auszügen aus Dienstbeurteilungen, o.D.; ebd., AA an Zimmerer vom 8.8.1888, Verfügung. Ebd., Marschall an Wilhelm II. vom 8.4.1891, Vorschlag Zimmerers zum Gouverneur von Kamerun (Zitat). BA-MA N 227/11, Bl. 81f., Morgen, Lebenserinnerungen. Siehe Kapitel 4.3.2. Vgl. Hubatsch, Grundriss A/10, S. 617. Allgemein zu Stellung und Aufgabenfeldern der preußischen Landräte: Henning, Beamtenschaft, S. 51f.; Süle, Bürokratietradition, S. 35–41; Wagner, Bauern, S. 412–427; Witt, Landrat, 207f.; vgl. Raphael, Recht, S. 53f.
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ne, nach Afrika geht, da ist nicht viel andres zu holen als eine kranke Leber und er hätte besser getan, in Peine zu bleiben.«551 Als mögliche Gründe für Bennigsens Weggang wurden seitens der Forschung die drohende Aufdeckung einer homophilen Orientierung oder mangelhafte dienstliche Leistungen vermutet.552 Wirklich belegen lässt sich keins von beiden. Auch bei Bennigsen kommen aber koloniale Begeisterung und nationales Sendungsbewusstsein in Frage, fungierte doch sein Vater als Vorsitzender des Hannoverschen Ablegers der Deutschen Kolonialgesellschaft. Diese Tatsache brachte es mit sich, dass im Hause Bennigsen eine ausgeprägt prokoloniale Atmosphäre herrschte. Darüber hinaus verkehrten dort regelmäßig einschlägige Persönlichkeiten wie Carl Peters, Friedrich Hammacher, Georg Irmer, Alfred Graf v. Waldersee oder Eduard Liebert.553 In diesem Umfeld dürfte Bennigsen auch mit Schele, seinem ersten Vorgesetzten in Ostafrika, bekannt gemacht worden sein. Bezeichnenderweise wurde er noch Jahre später als Vertreter einer »hannoversch-ostafrikanischen« Clique angesehen.554 Auch die Aufnahme in den Kolonialdienst war durch die Kontakte seines Vaters erleichtert worden. Zwar ist zu den Umständen keine konkrete Überlieferung verfügbar, doch spricht die Tatsache für sich, dass Kolonialdirektoren wie Kayser oder Buchka bei Bennigsen Senior wiederholt um die Benennung geeigneter Kandidaten für den Dienst in den Kolonien nachsuchten oder diesem die Erfüllung einschlägiger Besetzungswünsche bestätigten.555 Zu bedenken ist ferner, dass Bennigsen gerade wegen seiner guten Vernetzung in den ›Schutzgebieten‹ mit einem deutlich rascheren Avancement rechnen konnte. Das sollte sich – zumindest vorläufig – bewahrheiten, wurde er doch nur sieben Jahre nach seinem Eintritt in den Kolonialdienst zum Gouverneur von Deutsch-Neuguinea ernannt. In der heimischen Verwaltung hätte er selbst im günstigsten Fall erst nach mehr als der doppelten Wartezeit die vergleichbare Stellung eines Oberpräsidenten erreichen können.556 Ebenfalls auf eine koloniale Begeisterung deuten die mehrmaligen Gesuche Habers für seine Übernahme in den Kolonialdienst hin. Nach Beendigung seiner ebenso anspruchsvollen wie langwierigen Ausbildung zum höheren Bergbeamten, mehreren Prospektionsaufenthalten in Nord-, Mittel- und Südamerika, Australien und Neuseeland sowie einer – durch Verwandtschaftsbeziehungen protegierten – Anstellung als Assessor, hatte er eben erst eine Stelle als Berginspektor in Schlesien angetreten.557 Ungeach-
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Fürst Münster an Bennigsen (senior) vom 12.12.1892, Schreiben, zitiert nach: Oncken, Bennigsen 2, S. 634. 552 Hiery, Eliten, S. 433f., 437. 553 Gann/Duignan, Rulers, S. 29f.; vgl. BA-B N 2350/198, Briefe Irmers an Bennigsen sen., 1890–1901; BA-B N 2350/257, Bl. 1f., Liebert (Daressalam) an Bennigsen sen. vom 6.1.1900, Schreiben; BA-B N 2350/289, Bl. 1, Waldersee (Hannover) an Bennigsen sen. vom 19.9.1898, Schreiben; Liebert, Leben, S. 122, 125, 147. 554 BA-K N 1053/130, Bl. 104–107, Schmidt-Dargitz an Solf vom 6.11.1900, Schreiben. 555 BA-B N 2350/271, Bl. 1, Kayser (Berlin) an Bennigsen sen. vom 16.10.1891, Schreiben; BA-B N 2350/193, Bl. 1f., Buchka (Berlin) an Bennigsen sen. vom 3.1.1900, Schreiben. 556 Vgl. Hauf, Oberpräsidenten, S. 108. 557 Zur keineswegs seltenen Verwandtenprotektion in dieser Berufsgruppe: Faulenbach, Bergassessoren, S. 238f.
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tet dieses Karriereauftakts wechselte er wenige Wochen danach in die Kolonialabteilung, um sich kurz darauf mit Frau und Tochter nach Daressalam einzuschiffen, wo er eine Referentenstelle beim dortigen Gouvernement bekleiden sollte.558 Durchaus ähnlich liegt der Fall bei dem ebenfalls aus der Rheinprovinz stammenden Ebermaier, dem nach fast neunjähriger Wartezeit als Gerichtsassessor im Sommer 1897 endlich eine Landrichterstelle in seiner Heimatstadt Elberfeld zugewiesen wurde. Ungeachtet dessen ließ auch er sich noch im selben Jahr für den Kolonialdienst beurlauben und fand sich wenig später als Kaiserlicher Richter in Deutsch-Ostafrika wieder.559 Nicht viel anders handelte Seitz, der ebenfalls mehrere Jahre eines niedrig besoldeten Staatsdienstes hinter sich hatte, ehe er zum Mannheimer Polizei-Amtmann ernannt wurde. Doch verblieb Seitz kaum drei Jahre in dieser Festanstellung. Auch er bewarb sich für den Kolonialdienst und wurde kurz darauf dem Gouvernement in Kamerun zugeteilt. Wie bei anderen rief dieser Schritt das Bedauern seines Umfeldes hervor:560 »Als es in Mannheim bekannt wurde, dass ich in den Kolonialdienst gehen wollte, erschien ein mir sehr wohlwollender Herr auf meinem Bureau und sagte mir: ›Was wollen Sie denn in den Kolonien tun? Bleiben Sie hier, wir zahlen alles!‹ Leider hatte ich keine Schulden.« Unverständnis für die Aufgabe der nach Ablauf der Wartezeit endlich errungenen Stellung im heimischen Verwaltungsdienst soll Seitz zufolge sogar der Personalchef im Auswärtigen Amt, Geheimrat Humbert, geäußert haben. Dieser habe ihn eindringlich mit den Worten gewarnt: »Der Kolonialdienst ist eine unsichere Sache, verbrennen Sie nicht die Schiffe hinter sich!«561 Tatsächlich hielt sich auch Seitz mittels Beurlaubung eine Hintertür für die potentielle Rückkehr in den heimischen Staatsdienst offen, doch wollte er zuvor »mit eigenen Augen sehen, was an den vielgeschmähten und vielgepriesenen Kolonien sei.« Auch stellte er im Nachhinein fest, er sei »damals jung« und kurzentschlossen gewesen, wobei noch nicht absehbar gewesen sei, »dass mich Afrika, die schwarze Sphinx, dauernd an den Reichsdienst ketten würde«.562 Neben den wenig überraschenden Beweggründen von Abenteuerlust und Fernweh führte Seitz in seinen Memoiren noch andere Ursachen für seinen Weggang und sein Verbleiben im Kolonialdienst auf:563 »[…] im Wesentlichen aber war für mich […] die Tatsache maßgebend, dass mir die Aufgaben des Kolonialdienstes, seine Bedeutung für unsere Zukunft von Tag zu Tag größer erschienen. Wer englische und französische Kolonien in Afrika gesehen, wer einen 558 BA-K PERS 101/42925, Haber an KA vom 2.5.1900, 2. Gesuch um Verwendung im Kolonialdienst. Die erste Bewerbung hatte Haber im Frühjahr 1896 eingereicht. Zur Anstellung als Hütteninspektor in Friedrichshütte: BA-K PERS 101/42928, K.P. Ministerium für Handel und Gewerbe an K.P. Oberbergamt Breslau vom 13.10.1900, Erlass; ebd., Haber an K.P. Ministerium für Handel und Gewerbe vom 23.10.1900, Antrag auf Beurlaubung für den Kolonialdienst; BA-K PERS 101/42925, KA an Haber vom 15.4.1901, Erlass. 559 Vgl. Hoffmann, Gouverneur, S. 19. 560 Seitz, Aufstieg 1, S. 110; vgl. Gann/Duignan, Rulers, S. 57. 561 Seitz, Aufstieg 1, S. 110. 562 Ebd., S. 110f. 563 Ebd., S. 111.
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Hauch des Lebens verspürt hat, das schon damals in ihnen pulsierte, der konnte sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass dort in Afrika sich eine neue Welt entwickelte, die einst für das alte Europa von der größten Bedeutung werden musste. Davon unserem Volke einen Teil zu sichern, das war gewiß des Schweißes der Edeln wert.« Auch wenn diese Behauptungen das Produkt einer idealisierenden Retrospektive ebenso wie einer gewissen Selbstüberschätzung darstellen, können bei Seitz und Ebermaier ebenso wie bei Haber etwaige Versuche, sich einem Skandalon zu entziehen, ausgeschlossen werden. Alle drei kehrten nach zwei oder drei Dienstperioden wieder in die Berliner Kolonialabteilung zurück und avancierten dort zu Vortragenden Räten und Geheimen Oberregierungsräten, ehe sie schließlich für einen Gouverneursposten in Frage kamen. Zusammenfassend lässt sich für die Beamten des Korpus feststellen, dass die praktisch identischen Ausbildungsgänge an Gymnasium und Universität – in den allermeisten Fällen ergänzt durch die in studentischen Corps und während des ›Einjährigen‹ wirkenden Sozialisationsmechanismen – die Ausbildung eines spezifischen Habitus begünstigt haben. Zwar lässt sich damit gewiss keine »totalitär einheitliche Ausrichtung« konstatieren, wohl aber ein »bestimmter Stil«.564 Dieser ist grob mit den beiden Adjektiven konservativ und staatstreu eingrenzbar. Trotz einer bei den einzelnen Mitgliedern wohl kaum gänzlich ausgelöschten Restbindung an ihre Herkunftssphäre kann bei dieser künftigen Positionselite daher durchaus von einem »Amalgam aus Adel und Bürgertum« gesprochen werden.565 Dieser durch Herkunft, Erziehung, Bildung und Ausbildung forcierte Fokus auf Konformität ging allerdings mitunter auf Kosten der fachlichen Expertise, handelte es sich bei den höheren Beamten doch in den allermeisten Fällen um Juristen mit einem dezidiert privatrechtlichen Schwerpunkt. Namentlich in der preußischen Beamtenelite war ohnehin die Überzeugung verbreitet, dass an Stelle einer fundierten Fachausbildung »irgendwelche allgemeine Bildung« sowie der »gesunde Menschenverstand« genügen würden, um die Anforderungen des Dienstes in der Verwaltung zu erfüllen.566 Die daraus resultierenden Defizite äußerten sich nicht zuletzt in überholten Ansichten zu administrativen Fragen, die sich häufig aus einem Fundus politisch-konservativer Schlagworte, kaum jedoch aus vertieftem Fachwissen speisten.567 Noch gravierender scheinen die Defizite auf ökonomischem oder sozialem Terrain gewesen zu sein. Bei nicht wenigen höheren Beamten wird daher eine »geradezu erstaunliche Unkenntnis« über gesamtgesell-
564 Nipperdey, Machtstaat, S. 134, 136 (Zitate); Raphael, Recht, S. 56, 178. 565 Ebd., S. 176 (Zitat). Danach verbanden sich in der höheren Beamtenschaft des Kaiserreichs aristokratische Traditionen von Mitherrschaft und Fürstendienst mit dem bürgerlichen Leistungswillen und Bildungsanspruch. Vgl. Nipperdey, Machtstaat, S. 133, der in diesem Zusammenhang von »einer adlig-bürgerlich gemischten neuen Beamtenelite« spricht. Diese Sicht geht letztlich zurück auf Otto Hintze, der bereits 1911 von einer »adelig-bürgerlichen Amtsaristokratie« sprach. Hintze, Soziologie, S. 99; ähnlich: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 817. 566 Süle, Beamtentradition, S. 88, 90 (Zitate); Bleek, Kameralausbildung, S. 264f.; Henning, Beamtenschaft, S. 74f.; Wunder, Bürokratie, S. 78. 567 Süle, Beamtentradition, S. 88, 198.
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schaftliche oder wohlfahrtstaatliche Fragen konstatiert werden müssen.568 Dementsprechend urteilte der Kolonialstaatssekretär Dernburg ernüchtert über die ökonomischen Kompetenzen seiner Oberbeamten:569 »Die Verwaltung der Kolonien wurde von Beamten ausgeübt, die zwar eine ordentliche Vorbildung preußisch-deutscher Schulung, aber keinen Kontakt mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten hatten; sie haben deshalb die wirtschaftliche Entwicklung mehr behindert als gefördert.« Angesichts solcher Urteile dürfte es kaum verwundern, dass sich die Administration bereits von den Zeitgenossen wiederholt dem Vorwurf einer autoritären Bürgerferne, der Ausprägung eines überbordenden Bürokratismus‹ sowie eines daraus resultierenden Mangels an Effizienz ausgesetzt sah.570 Wie sich solche Defizite auf die Herrschaftspraktiken der Gouverneure in den ›Schutzgebieten‹ auswirken konnten, wird noch zu untersuchen sein.
2.4 Partnerwahl und Familienkonzepte Angesichts des zuletzt auf die berufliche Sphäre gerichteten Augenmerks sollen im Folgenden auch die privaten Lebensentwürfe der späteren Gouverneure in den Blick genommen werden. Damit ist zugleich die Intention verknüpft, Anhaltspunkte für eine Internalisierung der sozialen Ausgangspositionen und der möglicherweise damit verbundenen Deutungs-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster ausfindig zu machen. Wichtige Indikatoren stellen zweifellos das Heiratsverhalten, aber auch Familienkonzepte, wie etwa Rollenverteilung oder Kinderzahl, dar.571 In diesem Zusammenhang lässt sich konstatieren, dass die Mehrzahl der Gouverneure sich früher oder später für das Eingehen einer Ehe entschlossen hat. Nur eine kleine Minderheit, nämlich Bennigsen, Köhler und Zech, blieb zeitlebens unverheiratet. Dieser Anteil ist als unauffällig einzustufen. Da alle drei vergleichsweise jung starben, lässt die alleinige Tatsache der Ehelosigkeit ohnehin kaum weitere Rückschlüsse zu.572 Lediglich von Zech liegt eine unmittelbare Aussage über die Ursache seines Junggesellendaseins vor. Er schrieb im Sommer 1914 an einen Offizierskameraden, ihm seien »Kraft und Entschlussfähigkeit« für das Eingehen einer Ehe inzwischen »leider abhanden gekommen«.573
568 Ebd., S. 90f. (Zitat). 569 BA-K N 1130/11, S. 4, Dernburg, Erinnerungen. 570 Süle, Bürokratietradition, S. 198; Fenske, Beamtenpolitik, S. 587–589; Nipperdey, Machtstaat, S. 140; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 858f. 571 Vgl. ebd., S. 119. 572 Bennigsen, Köhler und Zech starben im Alter von 53, 43 und 46 Jahren. Als weiterer Unverheirateter ist möglicherweise Horn zu ergänzen, für den aber keine einschlägigen Daten verfügbar sind. 573 BA-B N 2340/2, Bl. 10f., Zech (München) an Anton Staubwasser vom 29.7.1914, Schreiben. Das Postulat von Ernst Rodenwaldt, Zech sei generell ein ›Frauenfeind‹ gewesen, dürfte unzutreffend sein und aus einer persönlichen Animosität des damaligen Kolonial- und späteren NS-Generalarztes gegen den Grafen resultieren. Rodenwaldt, Tropenarzt, S. 61. Zur Person Rodenwaldts: Eckart, Ge-
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Für die verheirateten Gouverneure lässt sich feststellen, dass fast alle mit ihrer Partnerwahl den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit gerecht wurden.574 Das hohe durchschnittliche Heiratsalter vermag lediglich auf den ersten Blick zu überraschen, resultierte der späte Eintritt in den Ehestand doch vor allem aus den prekären Dienstverhältnissen der höheren Beamten am Beginn ihrer Laufbahn. Heirateten Staatsdiener generell später als die übrige Bevölkerung, fanden sich die Zivilbeamten unter den Gouverneuren im Schnitt erst im Alter von rund vierundvierzig Jahren zu einer Eheschließung bereit. Die Trauung der Berufsoffiziere des Korpus hatte bezeichnenderweise durchschnittlich elf Jahre früher stattgefunden.575 Bei den Offizieren galten allerdings andere Vorzeichen, verfügten sie doch früher über ein geregeltes Einkommen, das unter Einbeziehung des Mitgiftvermögens der Ehefrau eine auskömmliche Lebensführung ermöglichte. Dazu kam, dass selbst rangniedere Offiziere aufgrund ihres gesellschaftlichen Prestiges als begehrte Schwiegersöhne galten, so dass es ihnen in der Regel leichter fiel, früh zu heiraten.576 Wie bereits thematisiert, handelt es sich kaum um Zufälle, wenn die vermögenslosen Leutnants Leutwein und Liebert bereits im Alter von Mitte Zwanzig die Töchter wohlhabender Kaufleute heirateten.577 Ebenso ehelichte Wißmann die Tochter eines Kölner Industriellen und kommunizierte angesichts der Frage nach der Verlängerung seines Kommissariums in Ostafrika freimütig die sich aus dieser ›Partie‹ ergebenden Vorteile:578 »Hätte ich mich mit einem armen Mädchen verlobt, so wäre ich jetzt gezwungen, die Sache [das Kommissarium] rückgängig zu machen, denn von einer Gehaltsherabsetzung u[nd] zwar bis auf 14 hatte ich ja vorher keine Ahnung.« Die Herkunftssphäre der Partnerinnen aus dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum stellte augenscheinlich kein gesellschaftliches Problem dar und wurde zumindest bei bürgerlichen Offizieren auch seitens der Vorgesetzten akzeptiert.579 Andererseits konnten sich solche allzu sehr auf ökonomische Vorteile fokussierte Ehen auch problematisch entwickeln. Zwar bleiben die genauen Gründe mangels Quellen im Dunkeln, doch kam es bei Leutwein nach siebzehn Ehejahren und drei gemeinsamen Kindern zur Trennung.580 Auch Lieberts erste Ehe endete, wenngleich aus anderen Gründen, unglücklich. Seine
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neralarzt. Gegenbeispiele zu Zechs tatsächlicher Haltung gegenüber europäischen Frauen: Küster/ Küster, Briefe, S. 15, 18; Asmis, Kalamba, S. 49. Dass nicht ›standesgemäße‹ Ehen selten waren, konstatiert auch Budde, Bürgerleben, S. 31. Bei den Berechnungen wurden nur Erstheiraten berücksichtigt. Für die gesamte Gruppe liegt der Wert bei 41 Jahren. Allgemein: Nipperdey, Arbeitswelt, S. 21f.; Süle, Bürokratietradition, S. 123; Bevölkerung und Wirtschaft, S. 105. Ostertag, Bildung, S. 65–67. GLA-KA 456E/11460, Personal-Bogen Theodor Leutwein; Liebert, Leben, S. 79, 134. BA-K N 2139/89, Bl. 42–46, Wißmann (Lauterberg) an Hellwig vom 12.11.1894, Schreiben; vgl. Franke, Tgb., S. 111 (14.7.1898); Perbandt u.a., Wißmann, S. 424f.; BA-B R 8023/871, Bl. 6, Wißmann (Elsdorf) an Kokemeyer vom 18.10.1894, Schreiben. Eheschließungen bei Offizieren setzten die Erlaubnis des Regimentskommandeurs voraus. Rumschöttel, Offizierkorps, S. 134–141; Ostertag, Alltag, S. 1078; Lutz, Offizierskorps, S. 153. Die Scheidung von Frieda Mammel erfolgte im Jahr 1891. Zu den dienstlichen Konsequenzen für Leutwein siehe Kapitel 2.3.1.
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Gattin starb im Alter von nur 42 Jahren, während er sich als Gouverneur in Daressalam befand. Dabei gewann allerdings Solf, der ihm die Todesnachricht persönlich überbrachte, den Eindruck, dass Liebert »die Sache nicht sehr nahe« ging, da seine Ehefrau schon »seit Jahren immer krank« gewesen sei.581 Tatsächlich reagierte der Witwer auffallend rational und ehelichte kurz darauf die jüngere Schwester seiner verstorbenen Frau.582 Über seine Erwartungen gibt ein Brief Auskunft, den Liebert kurz nach der Hochzeit an seinen früheren Mentor, den Grafen Waldersee, schrieb:583 »Da meine Stellung durchaus eine Frau im Hause fordert, und ich redlich bestrebt gewesen bin, das Familienleben hier zu stärken, so habe ich mich entschlossen, wieder einen neuen Hausstand zu gründen und habe mir die jüngere Schwester meiner verstorbenen Frau, die ich seit 20 Jahren genau kenne, hierher ›verschrieben‹. Sie hat sich lange in Frankreich und England aufgehalten, hat sich dort den Weltton angeeignet, der hier draußen nötig ist, sie liebt den Süden und die Wärme. So hoffe ich, dass sie gut hierher passt und mir nicht nur das Leben behaglicher, sondern auch die Stellung leichter machen wird. Die ersten Eindrücke der prachtvollen Küstenlandschaft, des großartigen Empfanges, der Hochzeitsfeierlichkeiten und des ebenso schönen wie praktischen Gouverneurshauses waren für meine junge Frau sehr mächtig, sie hat sich aber schnell in das Neue gefunden und gestaltet sich ihr Leben recht behaglich.« Auch auf ihre Umgebung scheint die zweite Ehefrau einen »recht günstigen Eindruck« gemacht zu haben. Nachweislich führte sie zudem eine eigenständige Korrespondenz mit mindestens einem der Untergebenen ihres Mannes.584 Schwieriger gestalteten sich die Anfänge von Leutweins zweiter Lebenspartnerschaft. Er vermied vorläufig eine Wiederverheiratung und ließ sich stattdessen von seiner Geliebten Klara Milenz, der damals 26-jährigen Tochter eines Danziger Großkaufmanns, nach Südwestafrika begleiten. Dort stellte er sie offiziell als seine Wirtschafterin vor, führte aber fortan eine keineswegs geheim gehaltene Liebesbeziehung mit ihr.585 Diese Form der ›wilden‹ Ehe stellte für die Umgebung des Gouverneurs ein Problem dar, war es doch sonst üblich, ein solches Verhältnis im Verborgenen zu halten.586 Hinter vorgehaltener Hand äußerten seine Untergebenen, dass es ihnen »unangenehm gewesen sei, den Gouverneur Leutwein, wie er verlangte, privatim zu besuchen, wegen seines anstößigen Verkehrs mit seiner Haushälterin«.587 Auch der Offizier Ludwig v. Estorff war über die eigentlich »harmlose Lappalie mit der Milenz
581 BA-K N 1053/1, Bl. 110f., Solf (Daressalam) an seinen Vater vom 4.10.1898, Schreiben. 582 Liebert, Leben, S. 164. Im Nachhinein kam ihm sein Verhalten möglicherweise zu Bewusstsein, verschwieg er doch in seinen Memoiren die zweite Ehefrau gänzlich. 583 GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 102–104, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 30.10.1899, Schreiben; vgl. BA-K N 1053/19, Liebert (Daressalam) an Solf vom 30.10.1899, Schreiben. 584 Ganßer an seine Eltern vom 25.2.1900 und 4.3.1901, Schreiben, abgedruckt in: Ganßer, Tgb., S. 159, 233. 585 Vgl. Franke, Tgb., S. 110f. (5.7.1898). 586 BayHStA HS 2372, Demmler (Windhuk), Tgb. (19.10.1899); Estorff (Windhuk) an seine Eltern vom 16.8.1901, Schreiben, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 223f. 587 Spiecker, Tgb., S. 148 (13.1.1906).
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[…] moralisch entrüstet«.588 Den Hauptmann Victor Franke ärgerte, dass die vormalige Hausdame seiner Ansicht nach die ihr zukommenden sozialhierarchischen Grenzen überschritten habe. In seinem Tagebuch ließ er es nicht an eindeutigen Bemerkungen fehlen: »Madam[e] ist vollkommen wieder Serenissima! Vorsintflutliche Zustände!«589 Die Entrüstung über Leutweins Liebesbeziehung verdeutlicht zweierlei: Zum einen gerieten die heimischen Konventionen in den Kolonien keineswegs gänzlich in Fortfall. Das galt besonders dann, wenn der Betreffende an öffentlich sichtbarer Position wirkte, wie das für einen Gouverneur in besonderem Maße zutraf. Eine Besonderheit der Heimatferne lag jedoch darin, dass Leutwein selbst keine Notwendigkeit sah, der sozialen Kontrolle nachzugeben. Dabei ist bemerkenswert, dass er das Liebesverhältnis nach seiner endgültigen Rückkehr nach Deutschland unverzüglich legitimierte.590 Zu Hause scheinen er und wohl auch seine künftige Ehefrau den äußeren Druck weitaus stärker empfunden zu haben, als das in Windhuk der Fall war. Sowohl für Liebert als auch für Leutwein lässt sich somit eine gelungene Sozialisation im Sinne der schichtspezifischen Konventionen konstatieren. Bei den adligen Militärgouverneuren war das kaum anders. Als Angehöriger des Hochadels verhielt sich der Herzog zu Mecklenburg geradezu musterhaft in Bezug auf die ›Standesgemäßheit‹ seiner Ehepartnerinnen.591 Dementsprechend hatte er den eng gezogenen Kreis von Kandidatinnen akzeptiert. Als er als vierzigjähriger Junggeselle seine Chancen auslotete, schrieb er im Februar 1913 aus Lomé an seine Mutter: »Meine Bräute sind ja nun alle weg. Nur Olga Cumberland [ist] noch nicht verlobt! Sollte mir die aufbewahrt bleiben?«592 Vier Jahre später ehelichte er Victoria Feodora Prinzessin Reuß jüngere Linie, die allerdings kurz nach der Geburt einer gemeinsamen Tochter starb. 1924 heiratete der Herzog ein zweites Mal, wobei es sich um Elisabeth Prinzessin zu Stolberg-Roßla, die Witwe seines Halbbruders Johann Albrecht, handelte.593 Wie bei vielen seiner Amtskollegen hatte dieses Standesbewusstsein aber auch ihn keineswegs gehindert, sich in Togo mit einheimischen Frauen zu umgeben.594 Auch die Partnerwahl Scheles entsprach den Konventionen. Er verheiratete sich vergleichsweise jung mit der aus ebenso begüterter wie ebenbürtiger Familie stammenden Emma Freiin v. Hammerstein-Equord.595 Als eine der ersten Gouverneursgattinnen überhaupt begleitete sie ihn zusammen mit ihren drei Kindern im Jahr 1893 nach Ostafrika. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt recht provisorischen Verhältnisse in Daressalam war das keineswegs üblich. Wohl nicht zuletzt angesichts dieses Novums fand die Fami-
588 BA-K N 1030/45, Bl. 594, Franke, Tgb. (8.11.1907). 589 Franke (Windhuk), Tgb., S. 327 (10.9.1903) (Zitat); vgl. ebd., S. 341, 372f., 375f., 385 (4.1., 1., 2., 7., 25.5.1904). 590 Die Eheschließung erfolgte im Jahr 1906 in London (kirchlich) und Köln (standesamtlich). 591 Zum Heiratsverhalten im Hochadel allgemein: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 173, 808. 592 LHA-SN, Nl Großherzogin Marie/32, Bl. 56–59, Mecklenburg (Lomé) an seine Mutter vom 23.2.1913, Schreiben. 593 Diebold, Hochadel, S. 38f. 594 Siehe Kapitel 3.3. 595 Priesdorff, Führertum 10, S. 268.
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lie sogar Eingang in ein panegyrisches Swahili-Gedicht aus der Feder eines Angehörigen der lokalen Eliten. Über Scheles Ehefrau heißt es darin:596 »Seine Frau ist eine gute Frau, sie besitzt sehr viel Höflichkeit, wenn sie einen Armen sieht, so sieht sie ihn wohlwollend an, auch kennt sie keinen Stolz, um ihn den Leuten zu zeigen.« Ebenfalls in Versform wurden Scheles Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen, erwähnt. Sie erscheinen in dem Gedicht als wohlerzogen und stets »am Tische sitzend, mit den Büchern in der Hand, wie sie eifrig lesen.«597 Wenn auch die für diese Textgattung charakteristischen Lobeshymnen nur bedingt die Wirklichkeit abbilden, so ist die Erwähnung der Gouverneursfamilie trotzdem bemerkenswert und vermittelt den Eindruck einer repräsentativen Außenwirkung. In dieselbe Richtung verweist die Übernahme des Vorsitzes der ostafrikanischen Sektion des deutschen ›Frauenvereins für Krankenpflege in den Kolonien‹ durch Scheles Gattin.598 Eine vorrangig gesellschaftliche Rolle war auch der Ehefrau des Grafen Götzen zugedacht. Allerdings bewies diese Verbindung, dass bei Angehörigen des Adels unkonventionelle Liebesheiraten ohne berufliche Nachteile durchaus möglich waren. Götzen hatte während seiner Kommandierung an die Washingtoner Botschaft »sein Herz an eine blendend schöne, mehrere Jahre ältere Witwe verloren« und diese prompt geheiratet.599 Seine Vorgesetzten hatten die Verbindung mit der US-Staatsbürgerin bezeichnenderweise genehmigt. Die Frau scheint sich auch rasch in die schichttypischen Rollenerwartungen eingefügt zu haben. Das lässt sich aus mehreren Briefen Götzens an Offizierskameraden und Verwandte schließen, wo sich keinerlei Anzeichen einer Distanzierung gegenüber seiner Frau finden, eher das Gegenteil scheint der Fall gewesen zu sein.600 Nicht zuletzt fanden auch die Nachmittags- und Abendgesellschaften der Gräfin im Gouverneurspalast zu Daressalam einen positiven Niederschlag in den Selbstzeugnissen der Teilnehmer.601 Einer von ihnen berichtet auch über den Alltag des Ehepaares:602 »Bei Götzens war es charmant, das Haus ist kaum wiederzuerkennen, soviel haben sie daraus gemacht. […] Die Gräfin ist sehr ungern draußen, ist aber auch sehr einsam, hat nichts zu tun; liest sehr viel und legt Patiencen. Götzen frühstückt mit ihr früh um 7, 596 Es handelt sich um einen Auszug aus dem Gedicht »Shairi la bwana mkubwa« (dt.: Das Lied vom großen Herrn) von Mwalim Mbaraka bin Shomari, abgedruckt in: Velten, Suaheli-Gedichte, S. 92. Carl Velten war gleichzeitig der Privatlehrer von Scheles Kindern und wurde später in den Dienst des Gouvernements übernommen. 597 Ebd. 598 DKB 6 (1895), S. 275. 599 Methner, Gouverneuren, S. 104; vgl. die wenig plausiblen Folgerungen in: Bindseil, Ruanda, S. 119. 600 BA-MA N 227/32, Götzen (Berlin) an Morgen vom 14.11.1898, Schreiben; BA-B N 2225/173, Bl. 11, Götzen (Gremsmühlen) an Pfeil vom 5.8.1906, Schreiben. 601 BayHStA HS 908, Correck, Tgb. (10., 12.2.1906); Methner, Gouverneuren, S. 74, 104. 602 BA-B R 1001/767, Bl. 33–37, Eiffe (Johannesburg) an Stuebel vom 26.5.1904, Schreiben.
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arbeitet in der Regel schon vorher 12 Stunde und dann bis 1, wo er zu Hause luncht. Dann arbeitet er sofort weiter bis 12 5, wo zum Tee immer Besuch kommt. Von 21 6 bis 3 7 wird spazieren gefahren und zum Essen sind in der Regel auch Gäste da.« 4 Den frühen Eheschließungen der Offiziere stehen unter den Beamten lediglich zwei – Haber und Schuckmann – gegenüber, die noch vor ihrem Eintritt in den Kolonialdienst geheiratet hatten. Es dürfte wenig überraschen, dass auch ihre Gattinnen den gesellschaftlichen Erwartungen entsprachen. Habers Braut war die Tochter eines preußischen Landrats und Geheimen Regierungsrats während Schuckmann mit Maria v. Radowitz in die Familie eines preußischen Generals und Botschafters einheiratete. Diese Partnerwahl ist keineswegs untypisch für einen nachgeborenen Sohn aus ostelbischer ›Junker‹Familie. Zwar fiel die Mitgift wenig üppig aus, doch dürften die Verbindungen seines Schwiegervaters den Eintritt Schuckmanns ins Auswärtige Amt erleichtert haben.603 Allerdings deuten seine privaten Aufzeichnungen gleichzeitig darauf hin, dass es sich keineswegs um eine Zweckheirat gehandelt hat, notierte er doch in sein Kameruner Tagebuch:604 »[…] ich komme mir zwar wie ein Barbar vor, dass ich mein braunes Mitel [Ehefrau] und die lieben Kleinen als rauher Mann verlassen [habe], aber ich kann versichern, dass ich meinen Entschluss nur in der Hoffnung gefasst habe, für die Meinen besser sorgen zu können. Schwer und am Schwersten ist für die arme Frau, die gute treue Mutter, den Mann in der Ferne zu wissen, aber auch unendlich schwer ist es mir geworden, denn ich habe ein glückliches Heim verlassen müssen, in dem ich immer wieder Ruhe fand, wenn ich nervös, kaputt von der Arbeit heimkehrte.« An seinen Vater schrieb er, »ohne Weib und Kind« fühle er sich in der Kolonie »nur als halber Mensch«.605 Die Situation änderte sich, als Schuckmann einige Jahre später als Generalkonsul nach Kapstadt und später als Gouverneur nach Südwestafrika ging, wohin ihn seine Familie begleiten konnte. Auch bei seiner Gattin blieben Eingewöhnungsschwierigkeiten nicht aus, wie eine Episode aus dem südafrikanischen Natal belegt. Schuckmann schrieb darüber: »Hier gehen die Eingeborenen noch ziemlich unbekleidet einher, was Mitas [Ehefrau] Empörung erregte – ich musste furchtbar lachen.«606 Dabei entsprach die kleine Familie dem Idealbild des ostelbischen Landadels. Von schlichtem Äußeren, dabei aber leutselig, bodenständig und betont christlich auftretend, hielt mancher Zeitgenosse die Schuckmanns für ein »Muster von einfacher Vornehmheit«.607 Nicht zuletzt auf dieses erfolgreich zur Schau getragene Image des wohlwollenden Patriarchen dürfte Schuckmanns Spitzname »Väterchen« zurückzuführen sein, mit dem ihn die Siedlergesellschaft in Windhuk bedachte.608
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BA-B N 2272/2, Schuckmann an seinen Vater vom 1.11.1891, Schreiben. BA-B N 2272/4, S. 87f., Schuckmann, Tgb. (8.7.1891). BA-B N 2272/2, Schuckmann an seinen Vater vom 1.11.1891, Schreiben. BA-B N 2272/4, S. 174, Schuckmann, Tgb. (20.5.1897). Hellmann, Tgb., S. 113 (6.6.1909), ähnlich: ebd., S. 86 (25.9.1908). BA-K N 1030/46, Bl. 618f., 651f., 655f., 662f., 666, 691, Franke, Tgb. (25.2., Mai, 1.7., 19.8., 7.-9.9., 9.10., 16.10., 24.10.1908); vgl. Hellmann, Tgb., S. 82, 84, 109, 113 (5.7., 21.8.1908, 6.6.1909). Den Herausge-
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Erst während ihrer Beschäftigung im Kolonialdienst traten dagegen Brückner (1909), Gleim (1905), Hahl (1903), Lindequist (1909), Schnee (1901), Seitz (1907) und Solf (1908) in den Stand der Ehe ein. Wenngleich auch ihre Vorgesetzten weiterhin auf Standesgemäßheit achteten, war der Ehekonsens inzwischen aber abgeschafft.609 Trotz dieser formalen Freizügigkeit wirkten die tradierten Konventionen weiter, handelten doch alle auch in dieser Beziehung den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechend. Während Lindequist mit Dorothea v. Heydebreck eine ebenbürtige Gutsbesitzertochter ehelichte, heiratete der Braumeisterssohn Hahl mit Luise Freiin v. Seckendorff-Aberdar eine Angehörige des bayerischen Uradels, was zugleich ein untrügliches Zeichen für den sozialen Aufstieg seiner Familie ist.610 Die anderen nichtadligen Zivilgouverneure verbanden sich häufig mit den Töchtern mehr oder weniger wohlhabender Kaufleute oder Industrieller. Bei Solf hatte die Partnerwahl zur Folge, dass er fortan nicht mehr ausschließlich auf sein Gouverneursgehalt angewiesen war, was ihm bei der Ausrichtung von Festlichkeiten in Samoa Vorteile verschaffte.611 Nicht zuletzt solche Aussichten dürften seine zuvor geäußerten, ironisch gemeinten Befürchtungen, er könne doch noch von der »grassierenden Ehesucht angesteckt« werden, zerstreut haben. Ohnehin wurde auch das Zustandekommen dieser Verbindung keineswegs dem Zufall überlassen, sondern war vielmehr Familienangelegenheit und daher in zeit- und schichttypischer Manier durch »kompromittierende Einladungen in Häuser mit jungen Damen« angebahnt worden.612 Dabei lernte er während seines Heimaturlaubs 1906 Johanna (Hanna) Dotti, die Tochter eines Berliner Fabrikanten und Rittergutsbesitzers, kennen. Diese scheint aber zunächst kein sonderliches Interesse an dem mehr als doppelt so alten Solf gezeigt zu haben. Wieder nach Samoa zurückgekehrt, schrieb er an seine Schwester, er freue sich zwar über die gelegentlichen Zuschriften anderer möglicher Heiratskandidatinnen, doch denke er »am meisten […] immer noch an die Madonna ohne Gnaden. Die würde ich trotzdem gern heiraten.«613 Erst bei seinem nächsten Urlaub, im September 1908, sollte er erhört werden. Bei Solfs Partnerin fällt auf, dass diese sich keineswegs mit den Rollenerwartungen ihrer Zeit zufriedengab. Hanna Solf begleitete ihren Gatten nicht nur nach Samoa, sondern bereiste mit ihm auch die afrikanischen Kolonien des Kaiserreichs, dazu kamen Abstecher nach Südafrika und Nigeria.614 Über sich selbst schrieb sie im April 1909 in ihr Tagebuch, sie sei »keine Frau, die im Haushalt oder Kinderstube vollkommen aufgeht«, vielmehr habe sie »schon immer mehr männliche oder allgemeine Interessen« gehabt.615
bern dieses Tagebuchs unterlief offenbar ein Transkriptionsfehler, da sie anstatt ›Väterchen‹ irrtümlich ›Wüterchen‹ entziffern zu können glauben. 609 Süle, Bürokratietradition, S. 168. 610 Bezeichnenderweise waren die Mütter von Hahl und seiner Braut miteinander befreundet, die Ehe selbst scheint also arrangiert worden zu sein. Hahl, Gouverneursjahre, S. 165. 611 Vietsch, Solf, S. 91; Loosen, Frauen, S. 168. 612 BA-K N 1053/131, Bl. 35–39, Solf (Berlin) an Schnee vom 13.2.1902, Schreiben. 613 BA-K N 1053/1, Bl. 170, Solf (Vailima) an Grete vom 1.6.1907, Schreiben. 614 Zu den Informationsreisen Solfs in den Jahren 1912 und 1913 existieren umfangreiche Diensttagebücher und Unterlagen: BA-K N 1053/35, 36, 38, 39, 40, 41; vgl. Hempenstall/Mochida, Man, S. 91–100; Loosen, Frauen, S. 253f.; Vietsch, Solf, S. 105–116, 118–122; Newbury, Partition. 615 Hanna Solf, Tgb. (4.4.1909), zitiert nach: Loosen, Frauen, S. 254.
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Dass diese Selbsteinschätzung zutraf, bewies sie dadurch, dass sie sich nicht scheute, die besuchten Landstriche auch zu Fuß, zu Pferd oder vom Rücken eines Kamels aus zu erkunden. Während ihr Mann als Staatssekretär die ›Schutzgebiete‹ inspizierte, unternahm sie separate Jagdausflüge.616 Der General Egon Freiherr v. Gayl, einer der Reisebegleiter, sprach dementsprechend von der »forschen Herrin«.617 Begeistert von der unkonventionellen Persönlichkeit Hanna Solfs war auch der Herzog zu Mecklenburg, der über den Ablauf des Besichtigungsprogramms im Binnenland von Togo seiner Mutter berichtete:618 »Frau Solf machte alles mit. Besichtigungen zu Pferde in den ausgedehnten Aufforstungen, Tänze und Diner […]. Nächsten Tag Fahrt nach Atakpame, zunächst dort Frühstück und per Extrazug nach Lome.« Kurz darauf entspann sich ein Briefwechsel zwischen beiden. Darin kam der Herzog auf den Besuch zurück und erklärte ihr, es habe ihm »unbeschreiblichen Genuss« bereitet, sich – im übertragenen Sinn – »einmal wieder mit einem ›Manne‹ unterhalten zu können, von gemeinsamen Bekannten, gemeinsamen Verhältnissen, gleich zu gleich, wie einem der Schnabel gewachsen ist – hätte ich beinahe gesagt. Die sonst hier mit Baumwollhandschuh geschmückten, in Ehrfurcht ersterbenden ›Weiber‹, denen man jeden Buchstaben einzeln … etc. sind ganz – furcht-bar lang-wei-lig [sic!].«619 Solfs junge Ehefrau fiel auch in anderer Beziehung auf. Beim Schutztruppenmajor Franke scheint ihre offene Wesensart überzogene Erwartungen ausgelöst zu haben. Freimütig vermerkte dieser in seinem Tagebuch über einen gemeinsamen Abendspaziergang:620 »Wie gern hätte ich versucht, das ›Schäferstündchen‹ in Szene zu setzen. Schien sie doch gar nicht abgeneigt, denn der Gatte war zum Bierabend u. wir wären so hübsch allein gewesen. Das Bedauern kam mir so recht zum Bewusstsein, als ich die Frau nach Hause brachte. Sie schmiegte sich so zärtlich an meinen gesunden linken Arm, dass ich sie am liebsten geküsst hätte. Da ging ein Aufpasser, ein Zivildiener mit der Laterne voraus u. vereitelte meinen (vielleicht auch ihren) Plan! Zu dumm!« Dabei zeichnete er Hanna Solf als »gertenschlanke, rassige, jugendliche Exzellenz«, der er zum Abschied »wie ein Fähnrich« zugewinkt habe.621 Zwar wechselten die beiden noch einige Briefe und Karten, doch scheinen Frankes Erwartungen sich letztlich nicht erfüllt zu haben.622 Ob diese Eindrücke überhaupt der Realität entsprachen oder vielleicht aus 616 BA-K N 1053/36, Bl. 72, Solf, Tgb. (21.8.1912); BA-K N 1053/40, Bl. 23f., Solf (Dschang) an Conze vom 19.9.1913, Schreiben; vgl. Vietsch, Solf, S. 92. 617 BA-K N 1053/44, Bl. 40f., Gayl an Solf vom 24.9.1914, Schreiben. 618 LHA-SN, Nl Großherzogin Marie/32, Bl. 130–139, Mecklenburg (Lomé) an seine Mutter vom 16.10.1913, Schreiben. 619 BA-K N 1053/120, Bl. 1–4, Mecklenburg (Lomé) an Hanna Solf vom 8.11.1913, Schreiben. 620 BA-K N 1030/48, Bl. 795f., Franke, Tgb. (6.7.1912). 621 Ebd., Bl. 796, 808, Franke, Tgb. (8.7., 31.8.1912). 622 Vgl. Ebd., Bl. 795f., 798–801, 804, 815, 820, 829, 852, Franke, Tgb. (5., 7., 13., 14., 16., 21., 26.7., 12.9., 8.10., 21.11.1912, 31.5.1913).
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einer verzerrten Wahrnehmung des regelmäßig Morphium konsumierenden Offiziers resultierten, lässt sich allerdings kaum klären.623 Entscheidend ist vielmehr, dass Solfs Partnerin demonstrierte, dass sie mehr als das bloße Anhängsel ihres Mannes war.624 Dementsprechend zeigte sie auch nach dem Tod ihres Mannes ein hohes Maß an persönlichen Mut sowie eine vornehme Gesinnung. 1944 wurden sie und ihre in Samoa geborene Tochter Lagi Gräfin v. Ballestrem von der Gestapo verhaftet, nachdem bekannt geworden war, dass im Hause Solf regelmäßige Treffen von Regimekritikern stattgefunden hatten.625 Nur knapp überlebten beide, kam doch der mehrmals verschobene Verhandlungstermin vor dem Volksgerichtshof wegen des Kriegsendes nicht mehr zustande. Wenngleich weniger schillernd, scheint sich auch die Ehefrau Brückners in den Augen mancher Beobachter nicht immer den Rollenerwartungen gemäß verhalten zu haben. Charlotte Voß stammte ebenfalls aus einem wirtschaftsbürgerlichen Elternhaus und begleitete ihren Mann zuerst nach Südwestafrika, wo sie eine gemeinsame Tochter zur Welt brachte.626 Anschließend reiste die junge Familie weiter nach Togo.627 Dort war Brückner als Nachfolger Zechs zum Gouverneur ernannt worden, wobei Charlotte Brückner in Teilen der Beamtenschaft bald Missfallen hervorrief. Zwar wurde sie als »wohl nicht dumme Frau« keineswegs geringgeachtet.628 Rudolf Asmis brachte eher gegenteilige Bedenken auf den Punkt: »Mir will die Frau zu sehr mitregieren.«629 Zwar lernte er sie schließlich als eine »äußerst liebenswürdige und charmante Frau« kennen, doch hinderte das Asmis nicht, ihre Absichten, den Gouverneur auf einer Inspektionsreise zu begleiten, als nicht im dienstlichen Interesse liegend, abzulehnen.630 Als die Brückners wenig später ihre kleine Tochter in Begleitung eines Kindermädchens nach Hause sandten, wurde wiederum Kritik laut. Erneut handelte es sich um die Unterstellung, Charlotte Brückner wolle aus den geschlechterspezifischen Rollenerwartungen ausbrechen, indem sie ihre mütterlichen Pflichten vernachlässige. Allerdings wurden die Befürchtungen, wonach durch die »Gouverneuse« ein »Weiberregiment« in Togo drohe, rasch zerstreut, als Brückners Gattin kurz danach die Heimreise antrat.631 Auf den ihr vermeintlich zukommenden Platz verwiesen sah sich Charlotte Brückner 623 Zu Frankes Morphiumsucht: BA-MA N 18/1, Bl. 266f., Heye, Erinnerungen. Der spätere Chef der Heeresleitung, Wilhelm Heye, konstatierte darin, ihm sei im Sommer 1907 aufgefallen, dass sich Franke »sichtlich schon dem Morphium ergeben« habe. Graichen/Gründer, Kolonien, S. 139. Einschlägige Vermerke finden sich an etlichen Stellen in Frankes Tagebuchaufzeichnungen. 624 Vgl. Loosen, Frauen, S. 253f. Diese Einschätzung wird nicht zuletzt durch die überlieferten Teile ihrer Korrespondenz erhärtet. Neben dem Herzog zu Mecklenburg pflegte sie eine Vielzahl eigenständiger Briefkontakte. Vgl. etwa die Briefe von Hugo Hardy oder des Freiherrn von Rechenberg in: BA-K N 1053/33. 625 BA-B R 3017/70, Bl. 1–12, Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof vom 15.11.1944, Nachtragsschrift und Nachtragsanklageschrift gegen Hanna Solf u.a.; Hempenstall/Mochida, Man, S. 225–240. 626 GStA PK Nl Heinrich Schnee/33, Brückner (Windhuk) an Schnee vom 14.3.1911, Schreiben. 627 Vgl. Brückner, Landung, S. 250–252. 628 PA-AA NL 8/58, Bl. 83–86, Asmis (Lomé) an seinen Bruder Walter vom 4.6.1911, Schreiben. 629 PA-AA NL 8/59, Bl. 4–6, Asmis (Lomé) an seine Mutter vom 12.7.1911, Schreiben. 630 Ebd., Bl. 17–19, Asmis (Lomé) an Gaißer vom 13.8.1911, Schreiben. 631 PA-AA NL 8/58, Bl. 83–86, Asmis (Lomé) an seinen Bruder Walter vom 4.6.1911, Schreiben; PA-AA NL 8/59, Bl. 4–6, Asmis (Lomé) an seine Mutter vom 12.7.1911, Schreiben; ebd., Bl. 23f., Asmis (Lomé) an seine Mutter vom 27.8.1911, Schreiben; GStA PK Nl Heinrich Schnee/33, Brückner (Windhuk) an
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mitunter aber auch von ihrem Ehemann. Als dieser aus Togo abberufen wurde und sich vor die Wahl gestellt sah, entweder nach Samoa oder in die Berliner Zentralbehörde zu wechseln, behielt er sich die Entscheidung ausschließlich selbst vor. Seiner Ehefrau blieb lediglich ein passives Abwarten: »Wer weiß, wozu sich mein Mann entscheiden wird!«632 Im Sinne einer den Konventionen entsprechenden Partnerwahl müssen auch die Ehefrauen von Gleim und Seitz eingestuft werden. Gleim heiratete kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag mit Adelheid Krause die Tochter eines promovierten Stadtrats, während Seitz unmittelbar nach seiner Ernennung zum Gouverneur von Kamerun die Tochter des Militärhistorikers Maximilian Jähns ehelichte.633 Während zu Gleims Ehefrau lediglich die biographischen Eckdaten bekannt sind, liegen über Hildegard Jähns aussagekräftige Quellen vor. Dementsprechend lässt sich die Behauptung von Seitz, wonach es sich bei seiner Frau um eine »junge Dame der Berliner Gesellschaft, die ihr bisheriges Leben in einem geistig und kulturell außerordentlich hochstehenden Kreise verbracht« habe, belegen.634 Tatsächlich war sie vor der Hochzeit zusammen mit ihren Eltern ein gern gesehener Gast in den Salons und Lesezirkeln der Metropole gewesen.635 Da sie ihren Mann sowohl nach Kamerun als auch nach Südwestafrika begleitete, verwundert es wenig, dass sie bald alles, »was das Leben in Deutschland ihr geboten und was sie hier entbehren muss«, vermisste.636 Offenbar von ausgeprägter Empfindsamkeit, zugleich aber von schwacher Konstitution, scheint ihr die Eingewöhnung nicht leicht gefallen zu sein, was sich in mehreren Erkrankungen äußerte.637 Überhaupt lassen auch die nicht zur Veröffentlichung bestimmten Aufzeichnungen des Gouverneurs erkennen, dass es sich bei dieser Verbindung um alles andere als eine Zweckgemeinschaft handelte. Kaum ein Eintrag entbehrt einer Äußerung über die tief empfundene Liebe zu seiner Frau und der Sehnsucht, baldmöglichst zu ihr zurückzukehren. Während sie meist in Buea bzw. Windhuk residierte, schrieben sie sich unablässig Briefe und schickten sich nach Möglichkeit wechselseitig Telegramme. Selbst das 1907 noch wenig zuverlässige Telefon wurde herangezogen. Dabei freute er sich, wenn er auf dem Marsch gut vorankam und sich die Zeit bis zu seiner Rückkehr dadurch verkürzte.638 Einen Ausgleich für die ungewohnten Bedingungen in den Kolonien suchte Hildegard Seitz sich durch Spaziergänge, Ausritte, vor allem aber durch die Entfaltung eines
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Schnee vom 14.3.1911, Schreiben; ebd., Brückner (Lomé) an Schnee vom 7.12.1911, Schreiben; vgl. Zurstrassen, Beamte, S. 92f. PA-AA NL 8/50, Charlotte Brückner (Stettin) an Asmis vom 10.2.1912, Schreiben. Zu Brückners Abberufung siehe Kapitel 4.7. Vgl. Gersdorff, Jähns, S. 284. Seitz, Aufstieg 2, S. 17; HZA Nl Hohenlohe-Langenburg La 142 Bü 765, Seitz (Berlin) an HohenloheLangenburg vom 27.6.1907, Schreiben; vgl. Langheld, Jahre, S. 430. Nachweislich verkehrte Hildegard Jähns ebenso wie ihre Eltern in den Salons von Hedwig v. Olfers und Marie v. Olfers. Wilhelmy, Salon, S. 769, 919. BA-K N 1121/13, S. 12, Gustedt, Tagebuchblätter. HZA Nl Hohenlohe-Langenburg La 142 Bü 765, Seitz (Windhuk) an Hohenlohe vom 25.11.1911, Schreiben; BA-K N 1053/134, Bl. 1–4, Seitz (Windhuk) an Solf vom 19.2.1912, Schreiben; HZA Nl Hohenlohe-Langenburg La 142 Bü 765, Seitz (Windhuk) an Hohenlohe vom 10.12.1913, Schreiben; BA-K N 1030/48, Bl. 734f., Franke, Tgb. (17.12.1911); BA-K N 1121/13, S. 4, 12, Gustedt, Tagebuchblätter. BA-K N 1175/1, Bl. 5–7, 12f., 16f., Seitz, Tgb. (19.8., 4., 6.9.1907).
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kulturellen Lebens im Gouverneurshaus zu schaffen. Bei dieser Inszenierung bildungsbürgerlicher Idealvorstellungen wurde sie von ihrem Mann unterstützt, wie etwa durch die Beschaffung eines Flügels, der auch ihm »vielen u[nd] schönen Genuss« gebracht habe.639 Auch ließ er sich von seiner Frau animieren, etwas für seine persönliche Weiterbildung zu tun, indem er damit begann die italienische Sprache zu erlernen.640 Nicht immer zur Freude des Umfelds suchte Hilde Seitz sowohl in Kamerun als auch in Südwestafrika eine Art literarischen Zirkel ins Leben zu rufen, zu dem auch weniger interessierte Beamte und Offiziere sowie deren Ehefrauen hinzugezogen wurden. Aus Windhuk schrieb beispielsweise der Kommandeur der Schutztruppe, Jochen v. Heydebreck, dass »Frau Seitz […] sicherlich eine charmante, herzensgute Dame« sei, doch wären »morgens um 7 Uhr schon Schopenhauer und Torquato Tasso« auf die Dauer für ihn nur schwer erträglich. Auch seiner eigenen Frau läge »diese dauernde Schöngeistigkeit […] garnicht«.641 Am deftigsten äußerte sich wiederum Franke, der Seitzʼ Ehefrau als eine »klassisch langweilige Exzellenz« beschrieb und deshalb ihren Einladungen nur widerwillig nachkam.642 Sein Fazit über eine derartige Veranstaltung lautete daher:643 »Elend langweiliger Kram wie immer bei der verrückten Pute, der Gouverneuse.« Angesichts mancher an die höfische Etikette erinnernden Umgangsformen im Windhuker Gouverneurshaus mokierte sich Franke schließlich über die angebliche »Weiberwirtschaft u[nd] das Byzantinertum in dieser Blase«, wobei einige Beamtenfrauen sogar der »Exzellenz Seitz die Hand« geküsst hätten.644 In dieselbe Richtung lässt sich nicht zuletzt das zitierte Selbstbild des Gouverneurs einordnen, wonach seine Stellung »etwas von dem ›Landgraf sein‹« besessen habe.645 Unter den Zivilgouverneuren, die sich während ihrer kolonialen Dienstzeit verheirateten, traf lediglich Schnee eine eher unkonventionelle Partnerwahl. Er hatte seine künftige Ehefrau, die in Neuseeland geborene Ada Woodhill, auf einem Pazifik-Dampfer kennengelernt und sich sogleich in sie verliebt.646 Letzteres geht aus einem Schreiben an seinen damaligen Vorgesetzten Solf hervor:647 »Ich habe mich mit Miss Woodhill, der Schauspielerin aus Sydney, die Sie seiner Zeit flüchtig in Apia gesehen haben, verlobt und wollte hier ein beschauliches Dasein als Ehemann führen. […] Meine Urlaubspläne (Tario pp.) habe ich fallen lassen, da das, was für mich hauptsächlich Reiz gehabt haben würde, in Wegfall gekommen ist. Ich weiß nicht, ob Sie aus eigener Erfahrung den hohen Grad von Liebe kennen, in dem man jeden Gedanken an andere weibliche Wesen weit von sich weist. Vielleicht benutze ich meinen Urlaub dazu um zu heiraten und eine verlängerte Hochzeitsreise zu machen.« 639 GStA PK Nl Schnee/50, Seitz (Buea) an Schnee vom 8.5.1908, Schreiben; vgl. Seitz, Aufstieg 2, S. 100–102; ebd. 3, S. 114. 640 BA-K N 1175/2, Bl. 12f., 18f., Seitz, Tgb. (12., 19.7.1908). 641 BA-B N 2272/1, Heydebreck (Windhuk) an Schuckmann vom 14.11.1911, Schreiben. 642 BA-K N 1030/48, Bl. 792, Franke, Tgb. (12.6.1912). 643 BA-K N 1030/49, Bl. 900, Franke, Tgb. (9.2.1914). 644 BA-K N 1030/48, Bl. 706, Franke, Tgb. (19.8.1911); ähnlich: ebd., Bl. 734f. (17.12.1911). 645 Seitz, Aufstieg 3, S. 1. 646 Schnee, Gouverneur, S. 35f. Zu Ada Woodhill: Draeger, Schnee, S. 115–117; Abermeth, Schnee, S. 55f. 647 BA-K N 1053/131, Bl. 8–11, Schnee (Berlin) an Solf vom 19.9.1901, Schreiben; vgl. ebd., Bl. 3, Schnee (New York) an Solf vom 8.11.1901, Schreiben.
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Woodhill stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus, verfügte doch ihr Vater über mehrere Goldminen und Landbesitz. Dass ihr Status als Schauspielerin manchem Zeitgenossen nicht ganz unproblematisch erschien, darauf verweisen noch die viel später publizierten Ausführungen zu Schnees 60. Geburtstag. Darin wurde in wohlwollender Absicht erläutert, es sei »damals in englischsprechenden Ländern keine Seltenheit« gewesen, dass »schöne talentierte junge Damen aus der Gesellschaft zur Bühne gingen. Man nannte sie ›Society stars‹«.648 Auch Schnee sah sich in seinen Memoiren veranlasst, explizit darauf hinzuweisen, dass er eine »aus der modernen Welt stammende Frau« geheiratet hatte.649 Schnee erwuchsen ebenfalls keine beruflichen Nachteile aus seiner Partnerwahl. Im Gegenteil: In der vornehmlich englischsprachigen Siedlergesellschaft Samoas, wo Schnee zwischen 1901 und 1903 den Gouverneur vertrat, nicht zuletzt aber auch im Rahmen seiner einjährigen Verwendung (1905/06) als Beirat für koloniale Angelegenheiten an der Kaiserlichen Botschaft in London dürfte sich seine Frau als vorteilhaft für ihn erwiesen haben. Zudem blieb das gemeinsame Band weiterhin eng, lehnte es Schnee doch im Sommer 1911 ab, das Amt des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika zu übernehmen, da seine Frau gesundheitlich angeschlagen war. Erst nach einer Besserung ihres Zustands ging er auf das Angebot ein.650 In Daressalam war Ada Schnee bald nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine ähnliche Nachrede beschieden, wie zuvor den Partnerinnen von Leutwein und Brückner. Das geschah seitens der den traditionellen Rollenerwartungen verhafteten männlichen Umgebung. Besonders die Vertreter des konservativen Offizierkorps warfen Schnee eine »Unterrockspolitik« vor, würde er doch angeblich alles tun, »was die Frau will«.651 In diesem Fall kam noch hinzu, dass man Ada Schnee eine mangelnde Verbundenheit mit dem Kaiserreich unterstellte, weil sie angeblich »ihr Heimatland, trotzdem sie Deutsche geworden sein müsste, nicht vergessen kann und will«.652 Im Gegensatz zu den bisher genannten Gouverneuren hatten Ebermaier, Puttkamer, Rechenberg, Schultz, Soden und Zimmerer ihre kolonialen Karrieren längst hinter sich, als sie im Alter zwischen fünfzig und sechzig Jahren den Bund der Ehe eingingen. Als mögliche Beweggründe für diese späten Verbindungen lassen sich der Wunsch nach einem Heim am Ende einer dynamischen Berufslaufbahn ebenso anführen, wie die Vorzüge einer häuslichen Betreuung im Alter durch die deutlich jüngeren Gattinnen.653 Bei Puttkamer, Schultz und Zimmerer mag vielleicht der Gedanke, doch noch eigene Kinder
648 Draeger, Schnee, S. 117. Daneben sah sich Draeger veranlasst, eine Reihe angeblich berühmter Vorfahren der Frau aufzuzählen. Tatsächlich hatte es sich bei deren Eltern aber um weitgehend mittellose Auswanderer gehandelt, die es erst in Neuseeland und Australien zu Wohlstand gebracht hatten. 649 Schnee, Gouverneur, S. 81f. 650 GStA PK Nl Schnee/43, Lindequist (Obermais/Stadlerhof) an Schnee vom 3.4.1912, Schreiben. 651 BA-MA N 14/14, Langenn-Steinkeller (Morogoro) an Lettow-Vorbeck vom 8.12.1914, Schreiben (Zitat 1); ebd., Wahle (Kigoma) an Lettow-Vorbeck vom 30.1.1916, Schreiben (Zitat 2). 652 Ebd., Wahle (Daressalam) an Lettow-Vorbeck vom 7.3.1915, Schreiben. 653 Die Ehefrauen von Puttkamer, Rechenberg, Schultz und Solden waren im Schnitt etwa zwanzig Jahre jünger als ihre Männer. Hierzu allgemein: Kuhn, Familienstand, S. 396–400.
2. Dispositionen
zu haben, eine Rolle gespielt haben. Schultz hatte diese Entscheidung von seiner Ernennung zum Gouverneur abhängig gemacht, schrieb er doch hoffnungsvoll im Februar 1911 an Schnee:654 »Ich beginne Ideen zu entwickeln, die ich sonst im Keime zu ersticken pflegte […] & ich ertappe mich sogar auf [sic!] dem Gedanken, unter das Junggesellendasein einen Strich zu machen.« Tatsächlich heiratete Schultz erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine 28 Jahre jüngere Schriftstellerin, die ihm drei Kinder schenken sollte.655 Die Ehe endete jedoch unglücklich, wobei die Trennung nicht zuletzt in der politischen Betätigung von Charlotte Schultz-Ewerth begründet war. Zunächst unterhielt sie Anfang der 1930er Jahre enge Kontakte sowohl zur Führungsriege der Berliner SA als auch zu deutschen und sowjetischen Kommunisten sowie führenden Sozialdemokraten. Im Zuge dieser zum Teil konspirativen Aktivitäten, die sie auch in den Fokus des Sicherheitsdienstes der SS geraten ließen, begann sie angeblich ein Liebesverhältnis mit Herbert Jantzon, der als Stabschef des Berliner SA-Führers Walter Stennes eine zwielichtige Rolle spielte.656 Die Auflösung ihrer Ehe erfolgte schließlich unter den Bedingungen des damaligen Scheidungsrechts.657 Nach der ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialisten trat sie in die Partei ein und richtete mehrere Eingaben an die Adresse Hitlers.658 Darin bat sie den vermeintlichen »Erretter des Vaterlandes«, sie bei der Wiederherstellung ihrer Ehre zu unterstützen, die durch die »von Juda gegen mich aufgebauten Lügengewebe« beschädigt worden sei.659 Bei Rechenberg stellt sich dagegen die Frage, ob durch seine erst im August 1914 geschlossene Ehe eine mögliche homosexuelle Orientierung nach außen hin verdeckt werden sollte.660 Als Gouverneur von Ostafrika war ihm seitens politischer Gegner im Sommer und Herbst 1910 eine intime Beziehung zu seinem einheimischen Diener unterstellt worden. Das hatte Rechenberg damals unter Eid bestritten.661 Die Gerüchte hatten nicht zuletzt deshalb einen günstigen Nährboden vorgefunden, da Rechenberg auf die sonst obligatorische afrikanische Geliebte verzichtet hatte. Auch eine europäische Hausdame á la Leutwein scheint es in seinem Gouverneurspalast nicht gegeben zu haben.
654 GStA PK Nl Schnee/52, Schultz (Apia) an Schnee vom 9.2.1911, Schreiben. 655 Schultzʼ im Jahr 1898 geborene Frau gab beispielsweise 1929 eine Sammlung patriotischer Abenteuer- und Reisegeschichten heraus unter dem bezeichnenden Untertitel »Ein Buch von Mut und deutscher Art«. Schultz-Ewerth, Kircheiß-Buch. Daneben verfasste sie Bühnenstücke und einen Roman. 656 IfZ-Archiv ZS 1147/1, Sicherheitsdienst der SS vom 6.6.1933, Bericht. Zu Stennes und seinen Aktivitäten: Reichardt, Kampfbünde, S. 166ff. 657 BA-B R 43-II/1523, Bl. 29. Reichsminister der Justiz an Charlotte Schultz-Ewerth vom 23.3.1934, Bescheid. Danach hatte das Berliner Kammergericht die Ursache für das Scheitern der Ehe in ihrem »lieblosen und ehezerrüttenden Verhalten« gesehen. 658 BA-B R 9361-I/3265, Parteistatistik, 1939, Erhebungsbogen Charlotte Schultz-Ewerth. 659 BA-B R 43-II/1523, Bl. 26, Charlotte Schultz-Ewerth an Hitler vom 30.1.1934, Eingabe. 660 Allgemein: Kuhn, Familienstand, S. 189. 661 Siehe hierzu Kapitel 3.3.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Das war bei Soden anders. Glaubt man den Erinnerungen von Curt Morgen, dann habe diesen »auf seinen Reisen und nach seinen Dienststellungen […] stets seine Wirtschaftsdame« begleitet. In Kamerun soll sie schließlich dem »Gouverneur erklärt haben, dass sie in guter Hoffnung sei und nach Hause reisen müsse. Soden musste tief in die Tasche greifen.«662 Im Gegensatz zu Leutwein blieb Sodens Liebschaft aber diskret und damit gesellschaftlich unproblematisch.663 Weitreichendere Folgen hatte dagegen ein vergleichbares Vorgehen für Puttkamer. Auch er brachte eine Geliebte namens Maria Ecke nach Kamerun mit, gab diese aber, da sie zuhause einen zweifelhaften Ruf genoss, als adlige Kusine aus. Aufgrund seiner konsularischen Befugnisse hielt Puttkamer sich für berechtigt, der Frau ein Passdokument auf den Namen Maria v. Eckardtstein auszustellen.664 Dies hatte einen Eklat zur Folge. Der Kommandeur der Polizeitruppe im westafrikanischen Lomé notierte hierzu im März 1897 in sein Tagebuch:665 »Puttkamer hat sich seine Berliner Maitresse, ein Fräulein von Eckardtstein, die ich von Berlin her kenne, ein ganz hübsches, etwa 22jähriges Mädel, Kokotte natürlich, nach Kamerun kommen lassen, sie dort einem verheirateten Beamten!!! zur Aufbewahrung übergeben, lässt sie als seine Cousine, Frau v. E. passieren, die wegen Brustleiden ein mildes Klima aufsucht, und hat sich sogar das Unglaubliche geleistet, bei einem offiziellen Diner, das dem Offizierskorps eines dort liegenden deutschen Kriegsschiffes gegeben wurde, dem Kapitän des Schiffes diese Person als Tischdame anzuweisen. Der Kapitän, der sie nicht kannte und dem sie als Cousine des Gouverneurs vorgestellt war, führte sie auch zu Tisch. Später kam es heraus, und Puttkamer musste das gesamte Offizierskorps des Kriegsschiffes um Entschuldigung bitten. Ich kann so etwas absolut nicht begreifen und besonders nicht von solch einem doch sonst so gescheuten [sic!] Mann wie Puttkamer. Die Person soll noch immer in Kamerun sein und ihn fester wie je in ihren Banden haben. Pfui Teufel!« Zwar waren weder seine Liebschaft – Puttkamer schickte die Frau wenig später nach Deutschland zurück – noch seine Kompetenzüberschreitung durch die Ausstellung des unkorrekten Passes die eigentlichen Gründe für Puttkamers gut zehn Jahre später erfolgte Absetzung, doch lieferte diese Affäre aufgrund des medialen Echos einen weiteren Mosaikstein für seine Unhaltbarkeit als Gouverneur.666 Eine Verinnerlichung der für die eigene soziale Gruppe geltenden Konventionen ebenso wie deren prinzipieller Fortbestand selbst in kolonialen Kontexten lässt sich nicht zuletzt mit Hilfe von Äußerungen der Gouverneure über angeblich nicht ›standesgemäße‹ Verbindungen bei anderen Mitgliedern derselben Schicht belegen. Beispielsweise
662 BA-MA N 227/11, Bl. 26, Morgen, Lebenserinnerungen. 663 Wie Alwine Kayser, die Gattin des Kolonialdirektors, bei einer Besuchsreise nach Ostafrika feststellte, hatte Soden dorthin »eine sehr tüchtige Wirtin« mitgebracht. Kayser, Anfängen, S. 25. 664 Puttkamer hatte sie während seines Heimaturlaubs im Frühjahr 1896 kennengelernt und im August 1896 nach Kamerun mitgenommen. Vgl. Bösch, Geheimnisse, S. 298f. 665 Massow (Lomé), Tgb., S. 345 (28.3.1897). 666 BA-B N 2231/9, Puttkamer (Berlin) vom 29.3.1906, Bericht betr. Angelegenheit Eckardtstein. Hierzu auch Kapitel 4.3.2.
2. Dispositionen
teilte ein empörter Lindequist im August 1896 aus Windhuk dem Berliner Personalchef mit, dass der designierte Bezirkshauptmann von Gobabis, Henning v. Burgsdorff, »sich ›sein früheres Verhältnis‹ hat nachkommen lassen und geheiratet hat. […] Infolge des angeblich sonderbaren Benehmens der Frau v. B[urgsdorff] […] wird die Gesellschaftsfähigkeit derselben in hiesigen Beamten- und Offizierskreisen lebhaft diskreditiert. […] Im Interesse unseres Beamtentums hier sehe ich mich daher nach den letzten Berliner Mitteilungen veranlasst, der Sache näher zu treten, damit, wenn sie richtig sind, die definitive Übernahme desselben [Burgsdorffs] in den Dienst dieser Kolonie verhindert wird. Denn in diesem Falle halten wir es für unmöglich, dass besagter Herr die wichtige und mehr oder weniger repräsentative Stellung eines Bezirkshauptmanns bekleidet. […] Wir Beamte erblicken aber in dem Vorgehen des Herrn v. B[urgsdorff] eine Rücksichtslosigkeit und Nichtachtung des Beamtenstandes […].«667 Ähnlich hatte sich selbst Puttkamer über die Eheschließung des Bezirksamtmanns von Kribi (Kamerun), Hellmuth v. Oertzen, ereifert, wobei seine Äußerungen ebenfalls den Verhaltenskodex der höheren Beamten (und Offiziere) offenbaren:668 »Und seine törichte, bedauerliche Heirat macht ihn doch auch nicht geeigneter! Erst die Offiziere [von] S.M.S. ›Sperber‹ teilten mir die Sache mit, von der ich keine Ahnung hatte! Natürlich lacht hier alles, besonders da Oertzen selbst sich ganz ungeniert ausgesprochen haben soll und Dr. Wicke auf demselben Dampfer mit der Person herausgekommen ist! Wie das gehen soll, weiß ich nicht recht. Ich lasse mir sehr gerne eine Maitresse gefallen, Haushälterin u. dgl., obwohl Sie in Berlin hübsch schimpfen würden. Eine solche aber nun hier als ›gnädige Frau‹ behandeln zu müssen, geht nicht gut.« Auch Leutwein, der kurz darauf die Liebesbeziehung mit seiner Wirtschafterin begann, ereiferte sich über die Gattin eines seiner Stabsärzte, die »so unerzogen, wie möglich ist.«669 Solche Äußerungen belegen gleichzeitig, dass ein uneheliches Verhältnis, sofern es diskret blieb, in der Regel kein Problem darstellte. Als Ehepartnerinnen kamen die betreffenden Frauen, gleichgültig ob in Afrika oder in Deutschland, dagegen nicht in Betracht. Auch im Hinblick auf das durchschnittliche Heiratsalter der Gouverneursgattinnen mit rund 29 Jahren lassen sich keine Abweichungen von dem ansonsten im Bürgertum üblichen Wert feststellen. Ebenfalls keine Besonderheit stellte der daraus resultierende er-
667 BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 22.8.1896, Schreiben. Es scheint sich ausschließlich um die Verhaltensweisen der Frau gehandelt zu haben, da es sich bei Burgsdorffs Gattin um die in formaler Hinsicht standesgemäße Malta v. Dallwitz handelte. Mit der Zeit scheint allerdings diese Verbindung allgemein akzeptiert worden zu sein: Estorff (Keetmanshoop) an seine Eltern vom 13.11.1901, Schreiben, in: Estorff, Kameldornbaum, S. 231–233; Leutwein, Jahre, S. 460, Anm. * 668 BA-B N 2146/50, Puttkamer an König vom 1.12.1894, Schreiben (Zitat); vgl. ebd., Puttkamer an König vom 17.12.1894, Schreiben. 669 BA-B N 2146/39, Leutwein (Omaruru) an König vom 31.8.1896, Schreiben.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
hebliche Altersunterschied der meisten Paare dar.670 Das konnte allerdings nicht zuletzt eine gewisse Bevormundung der Frauen durch ihre älteren Ehemänner befördern und somit die Fortführung der traditionellen Rollenverteilung im Sinne eines »paternalistischen Patriarchalismus« begünstigen. In solchen Fällen übte der Mann praktisch die Vormundschaft über Gattin und Kinder aus.671 Unauffällig fiel auch die Anzahl der legitimen Kinder aus. Entsprechend ihres sozialen Standorts zählte die durchschnittliche Gouverneursfamilie 2,75 Kinder, was etwa der Hälfte der Familiengröße ihrer Elterngeneration entsprach.672 Die Zahlen entsprechen damit im Wesentlichen den von der Forschung für die gehobenen Schichten des Kaiserreichs ermittelten Werten. Eine Ursache für die rückläufige Entwicklung der Kinderzahl lässt sich nicht zuletzt in dem hohen Heiratsalter erkennen, befanden sich doch zumindest die Partnerinnen von Götzen, Rechenberg, Soden, und wahrscheinlich auch diejenigen von Ebermaier und Zimmerer, zum Zeitpunkt der Hochzeit bereits in einem Alter, welches die Zahl potentieller Kinder deutlich begrenzte oder sogar gänzlich ausschloss. Zählt man alle Indikatoren zusammen, lässt sich feststellen, dass das Gros der Gouverneure die spezifischen Normen und Verhaltensmuster ihrer Herkunftsmilieus und Berufssphären im Wesentlichen internalisiert haben dürfte. Gleichzeitig ergibt sich ein bemerkenswertes Spektrum individueller Ausprägungen. Bei Hanna Solf, Charlotte Brückner, Ada Schnee oder Charlotte Schultz handelte es sich zweifellos um selbstbewusste Frauen, die keineswegs im Sinne zeitgenössischer Rollenerwartungen als bloße Anhängsel ihrer Ehegatten gelten wollten. Auch für Klara Milenz oder May Gräfin v. Götzen sind berechtigte Zweifel am hergebrachten Frauenbild angezeigt. Während andere Gouverneursfrauen angesichts fehlender Quellen unbeachtet bleiben mussten, lässt sich zumindest für die genannten auf die Erwartungen ihrer Männer schließen. Solf wird daher nicht der einzige gewesen sein, der mit einem gewissen Stolz auf das selbstbewusste Auftreten seiner Frau hinwies, indem er beispielsweise gegenüber dem schwedischen Forschungsreisenden Sven Hedin bemerkte: »Ja, die sollten Sie sehen. Die schießt Löwen.«673
670 Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 39; vgl. Budde, Bürgerleben, S. 41f. 671 Nipperdey, Arbeitswelt, S. 44–46, 49 (Zitat); Budde, Bürgerleben, S. 42f. 672 Sechzehn Gouverneure zählten insgesamt 44 legitime eigene Kinder. Kinderlos in diesem Sinne blieben Bennigsen, Ebermaier, Köhler, Rechenberg, Schnee, Seitz, Soden, Zech und vermutlich auch Horn. Die für 24 Elternhäuser des Samples verfügbaren Daten weisen eine Mindestzahl von 110 Kindern aus. Da sich darunter aber 75 männliche und lediglich 35 weibliche Nachkommen befinden, ist von einer deutlich höheren Gesamtzahl auszugehen. Im Schnitt dürften die Elternfamilien daher zwischen fünf und sechs Kinder gezählt haben. Allgemein: Budde, Bürgerleben, 50f.; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 54; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 25; Süle, Bürokratietradition, S. 203. Zu den illegitimen Kindern der Gouverneure mit einheimischen Frauen siehe Kapitel 3.3. 673 Hedin, Jahre, S. 214.
2. Dispositionen
2.5 Zwischenergebnisse Im ersten Kernkapitel wurde anhand einer vergleichenden Untersuchung von Herkunft, Bildungserwerb, Berufswegen und Familienkonzepten ein Spektrum möglicher Dispositionen der Kolonialgouverneure ausgelotet. Dazu wurde festgestellt, dass angesichts der Generationszusammenhänge die Reichsgründung, die Kanzlerschaft Bismarcks sowie das Regiment Wilhelms II. für die meisten Gruppenmitglieder den Status dauerhafter Orientierungspunkte gewannen. Bei der regionalen Herkunft lassen sich keine gravierenden Auffälligkeiten feststellen, doch ist eine überwiegend urbane Ausrichtung zu konstatieren, wogegen das preußische ›Junkertum‹ wenig hervortritt. Allerdings finden sich bei einigen Gouverneuren Vorbehalte gegen die Erscheinungen der Moderne, namentlich in Gestalt großstädtischer Entwicklungen. In Bezug auf die konfessionelle Ausrichtung sind kaum Unterschiede zur höheren Beamtenschaft oder zum Offizierkorps in Preußen festzustellen. Auf eine herausgehobene soziale Ausgangsposition verweisen bereits die Berufe der Väter. Die oberen gesellschaftlichen Kreise sowie das Bildungsbürgertum, in wenigen Fällen auch das Wirtschaftsbürgertum, stellen das Herkunftsmilieu der Gouverneure dar. Die Zugehörigkeit zu den gehobenen Schichten wird nicht zuletzt durch einen hohen Adelsanteil dokumentiert, was ansonsten nur mit den höchsten Beamtenstellen im damaligen Preußen vergleichbar ist. Beide Kulturmodelle – Adel und Bürgertum – wurden dementsprechend im Hinblick auf ihre Inhalte untersucht, um sowohl Unterschiede als auch mögliche Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten zu benennen. Zwar erscheinen die Kernaspekte des adligen wie des bürgerlichen Selbstverständnisses – Familientradition und ländliche Ausrichtung auf der einen, das Ideal individueller Leistung und urbane Ausrichtung auf der anderen – auf den ersten Blick ebenso wenig vereinbar wie die jeweiligen Vorstellungen von Selbstinszenierung. Trotzdem lassen sich einige Schnittmengen ausmachen, obwohl diese mitunter anders legitimiert wurden. Sowohl beim Adel als auch beim Bürgertum sind das Ideal der Pflichterfüllung sowie der Treue gegenüber dem Staatswesen ebenso wie ein gesellschaftlicher Führungsanspruch und eine spezifische Vorstellung von Gemeinwohlorientierung feststellbar. Unter Heranziehung unterschiedlicher Quellengattungen konnten diese nicht zuletzt während der familialen Sozialisation vermittelten Inhalte auch für die Gouverneure nachgewiesen werden. Die in weiten Teilen übereinstimmenden Bildungswege fördern weitere Indizien einer teilweisen Annäherung beider Kulturmodelle zu Tage. Besonders die mitunter seitens der Forschung geäußerte Vermutung eines bildungsabgeneigten Adels lässt sich anhand des untersuchten Personenkreises nicht verifizieren. Sowohl die adligen als auch die bürgerlichen Gouverneure absolvierten eine höhere Schule, in den meisten Fällen in Gestalt des Gymnasiums. Nur eine kleine Minderheit besuchte militärische Kadettenanstalten. Für die meisten späteren Gouverneure war zudem der Besuch einer Hochschule obligatorisch, wobei in der Regel die Fachrichtung der Rechtswissenschaft eingeschlagen wurde. Bei allen diesen Bildungseinrichtungen handelte es sich um Orte der Exklusivität im Sinne einer Distinktion nach unten und einer Homogenisierung nach innen. Dagegen spielten eine Sensibilisierung für kulturelle oder soziale Verschiedenheiten oder ein Ein-
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
üben entsprechender Bewältigungsstrategien praktisch keine Rolle. Die erworbenen Bildungspatente fungierten in erster Linie als Zugangsvoraussetzungen für die ›staatsnahen‹ Berufssphären des Offiziers und des höheren Beamten. Bezeichnenderweise strebten sämtliche Gruppenmitglieder einen dieser beiden Bereiche an. Ein höherer Schulabschluss oder das Universitätsdiplom alleine waren jedoch nicht die einzigen Voraussetzungen für die anvisierten Laufbahnen. Sowohl den Kadettenschulen als auch den studentischen Korporationen kam für die Vermittlung eines Sets erwünschter Denk- und Verhaltensmuster eine entscheidende Bedeutung zu. In diesen all men settings standen Initiationsrituale im Mittelpunkt. Diese waren nicht zuletzt ideologisch fundiert durch die bereits in den Elternhäusern vermittelten, schichtspezifischen Kulturinhalte. Im Kern handelte es sich wiederum um die Forderung nach Pflichterfüllung sowie einer patriotischen Grundhaltung, was sich letztlich unter dem Begriff ›Staatstreue‹ subsummieren lässt. Dass vier Fünftel der Gouverneure entweder auf einer Kadettenschule oder in einem Corps waren, kann als Indiz für die Identifikation mit den dort vermittelten Werten und Normen gedeutet werden. Ebenso wie im Hinblick auf Herkunftssphären und Bildungswege hoben sie sich auch darin von der übrigen Bevölkerung ab. Ein hohes Maß an ›Staatstreue‹ dokumentierten die späteren Gouverneure auch durch ihr Engagement für das im Kaiserreich idealisierte Militär. Mehr als ein Viertel der Gruppe ergriff den Beruf des aktiven Offiziers, wobei die Betreffenden weitere Zugangsfilter zu überwinden hatten. Darüber hinaus trat mehr als die Hälfte der Gruppenmitglieder befristet in eine der Kontingentsarmeen ein, um als ›EinjährigFreiwillige‹ das begehrte, auch für den Zivilberuf vorteilhafte Reserveoffizierspatent zu erwerben. Sowohl die aktive Offizierslaufbahn als auch das freiwillige militärische Engagement sind als Indikatoren für eine Sozialisation im Sinne der kulturellen Denkmuster und Praktiken der beiden Herkunftssphären zu werten. Obgleich etwas weniger exklusiv als beim aktiven Offizier, war auch der Laufbahn des höheren Beamten ein hohes gesellschaftliches Prestige beschieden. Ebenso wie bei ihrem militärischen Pendant galten auch in dieser Sphäre soziale Herkunft, Bildungspatente sowie der Nachweis von ›Staatstreue‹ als entscheidende Zugangskriterien. Die im Zuge der elterlichen Erziehung, der Zugehörigkeit zu einer Korporation und als ›Einjährig-Freiwillige‹ eingeübten ›standestypischen‹ Verhaltensmuster stellten auch für den höheren Staatsdiener kaum entbehrliche Merkmale dar. Sah sich das Offizierkorps als ›erster Stand‹ im Staate, so begriffen sich die höheren Beamten ebenso als Bestandteil der Obrigkeit. Nach dieser Selbstdeutung übernahmen sie zwar Verantwortung für das Allgemeinwohl, sahen sich dabei aber nur dem Monarchen, nicht dagegen den ›Untertanen‹ gegenüber rechenschaftspflichtig. Die als elitär, konservativ und ›staatstreu‹ zu charakterisierenden Offiziere und Beamten wählten aus verschiedenen Motiven eine Laufbahn im Kolonialdienst. Bei den meisten lassen sich Enthusiasmus für die ›koloniale Sache‹ in Verbindung mit patriotischen Überzeugungen sowie Abenteuerlust ausmachen. Gerade bei jüngeren Zivilbeamten kam angesichts der anfangs meist prekären Beschäftigungsbedingungen die Hoffnung auf berufliche Vorteile hinzu. Obgleich bei kaum einem das Berufsziel des ›Gouverneurs‹ erkennbar ist, lässt sich aber bei fast allen Mitgliedern der Untersuchungsgruppe ein karrierebewusstes Vorgehen konstatieren.
2. Dispositionen
Die Familienkonzepte bestätigen ebenfalls die Internalisierung der im Zuge der Sozialisation vermittelten Inhalte. Dementsprechend sind kaum Verstöße gegen einschlägige Konventionen erkennbar. Sämtliche Ehefrauen galten als ›standesgemäß‹ oder wurden zumindest als solche akzeptiert. Zwar fiel die soziale Kontrolle in den Kolonien durchlässiger aus als in Europa, doch wurden bestimmte Verhaltensweisen selbst dort nur dann geduldet, sofern sie öffentlich unsichtbar blieben. Im Hinblick auf die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern lassen sich bei einigen Gouverneuren gewisse Auflockerungen erkennen, erscheinen manche Gouverneursgattinnen doch durchaus selbstbewusst und selbstbestimmt. Zu diesen Ergebnissen ist anzumerken, dass sie nicht ohne Weiteres auf andere Akteure oder Akteursgruppen innerhalb des kolonialen Kontextes übertragbar sind. Schnittstellen dürften am ehesten zu den Bezirksamtmännern sowie zum Offizierkorps der Schutz- und Polizeitruppen vorhanden sein, da diese nicht selten einen ähnlichen biographischen Hintergrund aufwiesen.674 Letztlich ist aber zu bedenken, dass die Gouverneure eine im Hinblick auf ihre Rekrutierung besonders exklusive Positionselite innerhalb der Kolonialadministration darstellen. Dies spiegelt sich in den beschriebenen Übereinstimmungen ihrer Sozialisation und den daraus resultierenden Dispositionen wider. Es wird im nächsten Abschnitt zu klären sein, wie sich diese Voraussetzungen auf die Deutungen von Landschaften und Menschen in den Kolonien auswirkten.
Tabelle 7: Formale Kriterien zur ›Staatstreue‹ in der Untersuchungsgruppe675 Name
Herkunftssphäre
Student. Corps o.ä.
v. Bennigsen
Adel
Brückner
Bildungsbürger
Ebermaier
Bildungsbürger
●
Gleim
Bildungsbürger
●
Graf v. Götzen
Adel
Haber
Wirtschaftsbürger
Hahl
Wirtschaftsbürger
Doktortitel
Aktiver Offizier
●
›EinjährigFreiwilliger‹/ Reserveoffizier ● ● ●
●
● ●
●
674 Vgl. etwa Brockmeyer, Konsul; Michels, Held. 675 Zu den Einzelnachweisen siehe Kapitel 2.2 und 2.3.
●
●
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure Horn
Grundbesitzer
●
●
Köhler
Bildungsbürger
●
●
Leutwein
Bildungsbürger
●
Liebert
Bildungsbürger
v. Lindequist
Adel
Hz. zu Mecklenburg
Hochadel
v. Puttkamer
Adel
Frhr. v. Rechenberg
Adel
Frhr. v. Schele
Adel
Schnee
Bildungsbürger
v. Schuckmann
Adel
Schultz
Bildungsbürger
●
●
Seitz
Wirtschaftsbürger
●
●
Frhr. v. Soden
Adel
Solf
Wirtschaftsbürger
Wißmann
Bildungsbürger
●
Graf v. Zech
Adel
●
Zimmerer
Bildungsbürger
● ● ●
●
Anteile an Gesamtgruppe
● ●
○ ●
● ●
●
●
●
●
●
● ●
● ●
○
● 64 %
28 %
28 %
56 %
3. Deutungen des ›Andern‹
Mit der Ankunft in den Kolonien begann für die Kolonialbeamten ein Leben unter gänzlich anderen Bedingungen als sie es aus Deutschland gewohnt waren.1 Manche von ihnen verfügten zwar aufgrund vorheriger Verwendungen als Konsulatspersonal bereits über Auslandserfahrungen.2 Doch selbst für diese brachte eine Verwendung in den ›Schutzgebieten‹ eine Vielzahl an neuen Eindrücken mit sich. Der Dienst in urbanen Zentren wie Kapstadt, Kalkutta oder Hongkong, noch dazu in den von der Außenwelt oft isolierten Diplomatenvierteln, hatten dagegen wenig mit ihrer späteren kolonialen Tätigkeit gemein. Das zeigte sich schon im alltäglichen Leben, vermisste doch etwa Solf im ostafrikanischen Daressalam die ihm aus Indien bekannten und »erprobten Mittel, um sich die Temperatur erträglich zu machen«.3 Die Angehörigen der Untersuchungsgruppe begaben sich daher sowohl in den afrikanischen als auch in den ozeanischen Teilräumen des deutschen Kolonialreichs auf ein Terrain, von dem sie bis dahin höchstens aus Büchern oder Zeitungen, mitunter auch aus Erzählungen Kenntnis erhalten hatten.4 Auch die knapp bemessene Einarbeitungszeit in der Berliner Zentralbehörde vermochte daran wenig zu ändern. Deren Ergebnis schätzte Seitz als »recht mager« ein, hatte sich seine Vorbereitung für Kamerun doch »im Wesentlichen auf Aktenlesen« beschränkt.5 Angesichts einer wenig vorhersehbaren Zuteilung zu einem ›Schutzgebiet‹ erwiesen sich auch die im Vorfeld besuchten Sprachkurse nicht immer als hilfreich. Beispielsweise hatte Schnee vor seiner Ausreise damit begonnen, sich am Berliner Seminar für Orientalische Sprachen Kenntnisse in Swahili anzueignen, doch nützten ihm diese an seiner ersten Wirkungsstätte im pazifischen Bismarckarchipel herzlich wenig.6 Solche Beispiele verdeutlichen, dass der erste direkte 1 2 3 4
5 6
Aus praktischen Gründen werden in diesem Abschnitt die Anwesenheitszeiten in den Kolonien auch vor der jeweiligen Ernennung zum Gouverneur miteinbezogen. Siehe Kapitel 2.3.2. BA-K N 1053/1, Bl. 104f., Solf (Daressalam) an seinen Vater vom 25.8.1898, Schreiben. BA-K N 1669/1, Bl. 1, Lindequist, Erlebnisse; Schnee, Gouverneur, S. 25; Götzen, Afrika, S. 249; Mecklenburg, Afrika, S. 3, 351; Wißmann, Flagge, S. 4; BA-B N 2340/3, Zech an AA vom 21.12.1893, Bewerbung. Allgemein: Bowersox, Germans, S. 119–164. Seitz, Aufstieg 1, S. 8; vgl. Asmis, Kalamba, S. 4; Trotha, Herrschaft, S. 90, 94. Schnee, Gouverneur, S. 9; vgl. Abermeth, Schnee, S. 78.
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Kontakt mit den Kolonien und ihren Landschaften und Menschen für die meisten eine Begegnung mit dem Unbekannten bedeutete. Die möglichen Auswirkungen beschrieb beispielsweise der Stationsleiter Anton Bruno Herold in Togo folgendermaßen:7 »Anfangs erscheint […] alles neu und fremdartig. Die Hautfarbe der Bewohner, ihre Sprache, Lebensweise, Sitten, Gebräuche u.s.w., alles ist anders. Das völlig verschiedene Klima erzeugt eine völlig andere Flora und Fauna.« Bevor auf die Deutungen von Land und Leuten näher eingegangen wird, erscheint es zunächst sinnvoll, einen Blick auf die dabei wirksamen kognitiven Mechanismen zu richten. In dieser Hinsicht ist sich die Forschung einig, dass die reale Außenwelt mit den sprichwörtlichen pictures in our heads (Walter Lippmann) keineswegs völlig deckungsgleich ist. Der Ausgangspunkt für diese Bilder ist die Wahrnehmung von Sinneseindrücken. Diese werden dann in die individuellen, bereits vorhandenen »Ordnungen des Wissens« eingeschrieben.8 Es handelt sich also stets um Codierungsvorgänge, bei denen der eigene »Wissensvorrat, […] die Sedimentierung vergangener Erfahrung« eine entscheidende Rolle spielt.9 Diese Wert- und Handlungsmuster sowie Zeichensysteme sind wiederum standortgebunden, so dass eine Befangenheit der Beobachter in »ihrer Zivilisation, ihrer Zeit und ihrer Klasse« kaum zu vermeiden ist.10 Bei der Deutung ›des Fremden‹ handelt es sich daher nicht um eine objektive Relation zwischen dem Selbst und dem Andern, sondern um die mehr oder minder einseitige »Definition einer Beziehung«.11 Während diese Grundannahmen als gesichert gelten können, lässt sich die Frage nach dem Anteil der Projektionsleistung an den Deutungsbildern weniger einheitlich beantworten. Einem radikalen Konstruktivismus zufolge sei die Perzeption der Umwelt als ein weitgehend selbständiges Produkt aus Wahrnehmung, Gedächtnis und Denken anzusehen. Demnach sei die reale Welt der individuellen Erfassung nicht unmittelbar zugänglich. Im Gegensatz zu derart weitgehenden Positionen setzte sich innerhalb des Forschungsdiskurses letztlich eine gemäßigtere Sichtweise durch.12 Demnach darf trotz aller Subjektgebundenheit der Anteil des ›Realen‹ nicht unterschätzt oder gar gänzlich vernachlässigt werden.13 Zwar ist eine exakte Gewichtung von Erkennen und Projektion nicht möglich, doch muss jede Deutung ›des Andern‹ mit den bereits vorhandenen Wissensbeständen und Kategorisierungen adaptierbar sein.14
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13 14
Herold, Behandlung, S. 9; vgl. Küas, Togo, S. 14, 113. Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 33 (Zitat). Schütz/Luckmann, Strukturen 1, S. 95f. (Zitat); Kleinsteuber, Stereotype, S. 62. Bourdieu, Soziologie, S. 163; Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 30 (Zitat). Hahn, Konstruktion, S. 140 (Zitat); Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 41; Honold/Scherpe, Kulturgeschichte, S. 8f., 15. Allgemein: Schmidt, Diskurs; kritisch: Nüse u.a., Erfindung/en, passim, z.B. S. 86–97. Ein Beispiel für die Annahme eines fast gänzlich auf Projektionen und Stereotypen basierenden Fremdbildes stellt die Studie von Edward Said dar: Said, Orientalismus. Zur Kritik an dessen Thesen: Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 31f.; Dürbeck, Paradiese, S. 5. Nüse, Erfindung/en, S. 89; Damasio, Irrtum, S. 141; vgl. Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 32. Hahn, Konstruktion, S. 141; Kleinsteuber, Stereotype, S. 65; Honold/Scherpe, Kulturgeschichte, S. 11.
3. Deutungen des ›Andern‹
Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass mit der Einschreibung von Sinnesreizen in die individuellen Wissensordnungen eine Reduktion der Informationsflut einhergeht. Dabei entstehen »verkürzte und reduzierte Bilder«, sogenannte Stereotypen.15 Dieser kombinierte Vorgang aus Codierung und Verkürzung stellt letztlich eine Strategie des Geistes zur »individuellen Lebensbewältigung« in einer komplexen Umgebung dar.16 Dabei wird das Unbekannte mit Hilfe vertrauter Kategorien erträglicher gemacht, so dass am Ende eine überschaubare, als plausibel empfundene Interpretation der Umwelt entsteht.17 Die so entstandenen Bilder knüpfen zwar an eine objektive Wirklichkeit an, weisen ›dem Andern‹ aber bestimmte Attribute zu. Gleichzeitig beeinflussen sie durch diese Abgrenzung auch die Vorstellungen vom eigenen ›Ich‹. Der Konstruktion von Alterität kommt daher eine entscheidende Bedeutung für die Ausprägung und Stabilisierung von individueller und kollektiver Identität zu. Sowohl als »Systeme der Anpassung« als auch als solche der Abgrenzung wirken sie sowohl distinktiv als auch diskriminativ.18 Die enge Verschränkung der Deutungen ›des Andern‹ mit den individuellen Erfahrungen sowie die dabei ablaufenden kognitiven Prozesse haben zur Folge, dass der Konstruktion von Alterität eine erhebliche Aussagekraft über den Wahrnehmenden sowie dessen Wissensbestände und Denkstrategien zukommt.19 Dieser Aspekt weist einer Analyse der Begegnung der Gouverneure mit Land und Leuten in Afrika und Ozeanien eine besondere Bedeutung zu. Sowohl aus praktischen Gründen, aber auch aufgrund der Einschätzung der Forschung, wonach die Deutungen von Landschaften sich von denjenigen von Menschen signifikant unterscheiden, werden diese jeweils separat untersucht.20 Angesichts des gruppenbiographischen Zugriffs steht dafür ein umfangreicher Quellenkorpus zur Verfügung. Einschränkend muss allerdings bemerkt werden, dass die herangezogenen Schriftzeugnisse lediglich Erinnerungsbilder enthalten, also nicht die ursprüngliche Wahrnehmung ›des Andern‹, sondern deren von kulturellen Erwartungen und Interpretationsmustern geprägte Deutungen widerspiegeln.21 Dieser Effekt tritt umso stärker hervor, je größer die zeitliche (und räumliche) Distanz zwischen Perzeption und Verschriftlichung ausfällt. Schließlich ist auch die Zweckgebundenheit der Texte nicht ohne Einfluss auf deren Erkenntniswert. Für die folgenden Auswertungen konnte zwar auf Memoiren, Reiseberichte und Akten nicht verzichtet werden, doch wurde zeitnah entstandenen privaten Tagebüchern und Briefen nach Möglichkeit der
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Kleinsteuber, Stereotype, S. 62 (Zitat); Hahn, Stereotypenforschung, S. 15f.; Damasio, Irrtum, S. 145–147; vgl. Oesterreich, Bilder, S. 66. Kleinsteuber, Stereotype, S. 62, 65; Roth, Stereotypen, S. 23, 33f. (Zitat). Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 33. Hahn, Konstruktion, S. 142, 153; Hahn, Stereotypenforschung, S. 21f.; Roth, Stereotypen, S. 33f. (Zitat); vgl. Honold/Scherpe, Kulturgeschichte, S. 5. Hahn, Stereotypenforschung, S. 21; Honold/Scherpe, Kulturgeschichte, S. 1; vgl. Roth, Stereotypen, S. 28, 31; Hahn, Konstruktion, S. 155; Fabian, Tropenfieber, S. 130, 319; Dürbeck, Paradiese, S. 7. Vgl. Fabian, Tropenfieber, S. 307f. Vgl. Damasio, Irrtum, S. 145–147; Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 42; Rohkrämer, Verzauberung, S. 853.
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Vorrang eingeräumt. Gerade solche Überrest-Selbstzeugnisse repräsentieren das bei Schriftquellen maximal erreichbare Maß an Unmittelbarkeit.22
3.1 Imaginationen kolonialer Räume Es kam bereits zur Sprache, dass die Begegnung mit kolonialen Räumen für die Untersuchungsgruppe insofern ein Zusammentreffen mit dem Unbekannten bedeutete, als die einzelnen Beamten und Offiziere auf keine eigenen Sinneseindrücke aus den Kolonien zurückgreifen konnten. Selbstverständlich zirkulierten aber in Deutschland bestimmte Vorstellungen vom subsaharischen Afrika ebenso wie von den sprichwörtlichen Südseeparadiesen. Allerdings wurden diese Bilder von den in Mitteleuropa gültigen Kategorien des ästhetischen, moralischen oder rechtlichen Empfindens dominiert. Zwar stellten sie nicht zwangsläufig ›Phantasiereiche‹ im engeren Wortsinn dar, doch spiegelten die gängigen Vorstellungen einen perspektivisch verengten Blick auf die ›exotischen‹ Landschaften wider.23 Gleichzeitig reflektieren diese Konstrukte das zunächst verfügbare Wissensreservoir des hier interessierenden Personenkreises. Aus der Kombination von allgemeinen Erwartungen, individuellen Sehnsüchten und ästhetischen Empfindungen entstand letztlich eine spezifische Deutung des Raumes.24 In Bezug auf Landschaft und Natur suggerierte das Klischee von Afrika südlich der Sahara eine üppige, chaotische und gefährliche Wildnis. Diese setze sich entweder aus undurchdringlichen Tropenwäldern oder aus weitläufigen Steppen zusammen. Der damit suggerierte Urzustand in Verbindung mit dem gleichzeitigen Mangel an exakten Kenntnissen spiegelt sich in dem Slogan vom ›schwarzen‹ oder ›dunklen‹ Kontinent wider, einer Zuschreibung, die auch in den Zeugnissen mancher Gouverneure ihren Widerhall gefunden hat.25 Im Gegensatz zu diesen Afrikabildern besetzten die Insellandschaften des südlichen Pazifik das positive Stereotyp glückverheißender Eilande mit Strandlandschaften aus schneeweißem Sand und wogenden Palmenhainen.26 Als Gemeinsamkeit der afrikanischen und ozeanischen Naturräume lässt sich aber die auch ihnen zugeschriebene Naturnähe und Ursprünglichkeit anführen. Mit der Ankunft in den ›Schutzgebieten‹ bot sich den Gruppenmitgliedern die Gelegenheit, ihre Klischeevorstellungen im Angesicht der Lebenswirklichkeit zu überprüfen und zu modifizieren.27 Im Folgenden sollen daher ihre Reaktionen sowohl auf das Vorhandensein kollektiver mental maps als auch auf etwaige Abweichungen hin untersucht
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Die kulturwissenschaftliche Forschung hat sich bislang meist auf autobiographische oder belletristische Publikationen beschränkt: Dürbeck, Stereotype; Fabian, Tropenfieber; Fiedler, Abenteuer. Eine der wenigen Ausnahmen: Kundrus, Imperialisten, S. 138–162. Wiener, Ikonographie, S. 33. Kundrus, Imperialisten, S. 139. Dieses Bild greifen auf: Götzen, Afrika, S. 29, 300; Mecklenburg, Reise, S. 6; Wißmann, Flagge, S. 67, 297; ders., Wildnissen, S. 44, 135, 149. Allgemein hierzu: Fiedler, Abenteuer; Fabian, Tropenfieber, S. 125, 223. Hiery, Reich, S. 61; Dürbeck, Paradiese; Osterhammel, Verwandlung, S. 160. Vgl. ebd., S. 130.
3. Deutungen des ›Andern‹
werden.28 Aus praktischen Gründen erscheint es zielführend, die Deutungen nach den wichtigsten Landschaftstypen zu untergliedern. Durch eine Fokussierung auf wenige Hauptformen lässt sich ein Großteil des deutschen Kolonialreichs abbilden. Etwa notwendige Ausdifferenzierungen werden innerhalb dieser Kategorien vorzunehmen sein.
3.1.1 Tropenwald Wälder in ihren vielfältigen Spielarten stellen in den Selbstzeugnissen der Gouverneure die wohl am häufigsten thematisierte Landschaftsform dar. Das resultiert einerseits aus der einfachen Tatsache, dass die meisten ›Schutzgebiete‹ über ausgedehnte, wenngleich unterschiedlich ausgeprägte Tropenwälder verfügten. Andererseits dürfte in diesem Zusammenhang aber auch der besondere Stellenwert des Topos ›Wald‹ in der deutschen Kollektividentität nicht ohne Einfluss geblieben sein.29 Die um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa zirkulierenden Vorstellungen tropischer Wälder sahen diese allerdings als »Antithese des deutschen Waldes« an.30 Galt letzterer als ein vom Menschen eingehegter und kontrollierter Naturraum, war sein tropisches Pendant mit der Vorstellung von unübersichtlichem Chaos belegt. Der ›Urwald‹ als Ort des allgegenwärtigen Überlebenskampfes von Pflanzen und Tieren erschien dabei als gefährlich und menschenfeindlich, gekennzeichnet von undurchdringlichem Dickicht, unheimlicher Stille und ungesunder Luft. Seitens männlicher Betrachter konnte der als ›weiblich‹ konnotierte Tropenwald zugleich mit Freiheit und Abenteuer assoziiert werden und daher als Sinnbild für die Negierung gesellschaftlicher Konventionen anziehend wirken.31 Ein Vergleich solcher Zuschreibungen mit den Selbstzeugnissen der Untersuchungsgruppe führt zu vielschichtigen Ergebnissen. Mit dem Negativbild des Tropenwaldes konform geht etwa eine Schilderung im Tagebuch des Gouverneurs Seitz aus Kamerun:32 »Das Ganze ein groteskes, undurchdringliches Durcheinander an Bäumen, Lianen u. Sträuchern in den abenteuerlichsten Gestalten: die Phantasie eines Moritz von Schwind hätte Orgien feiern können u. manchmal dachte ich, ein Bücklin’sches Einhorn müsse mir entgegentreten.« Interessanterweise handelte es sich dabei keineswegs um seine erste Begegnung mit dem tropischen Regenwald. Von einer nach langjährigem Aufenthalt in den Tropen anzunehmenden Auflockerung kollektiver Dschungel-Vorstellungen ist bezeichnenderweise auch in den Memoiren Puttkamers nichts zu spüren:33 »Riesenhoch, den Säulen eines Domes gleich, ragen die mächtigen Stämme des Laubwaldes zum Himmel empor, sich über unseren Häuptern zu einem selbst für die Tropensonne undurchdringlichen Blätterdach verbindend; dazwischen klettert ein bun28 29 30 31 32 33
Vgl. ebd., S. 150. Allgemein: Zechner, Wald; Lehmann, Menschen. Flitner, Tropenwald, S. 10 (Zitat); Hupke, Regenwald, S. 21. Ebd., S. 21, 105–115; Wirz, Wald, S. 29, 32–38, 46; Zechner, Wald, S. 244. BA-K N 1175/2, Bl. 19f., Seitz, Tgb. (20.7.1908). Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 74.
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tes Gewirr von Gummilianen und andern Schlingpflanzen wirr durcheinander; bald ist der Blick eingeengt durch geschlossene grüne Wände […], bald lichtet sich das Unterholz, so dass die Stämme der Waldriesen ganz besonders eindrucksvoll wirken; dem schwarzen […], von Wurzeln und Gestrüpp durchzogenen Boden entsteigen schwüle, süßliche Dünste; ringsum tiefes, geheimnisvolles Schweigen […].« Das Motiv einer »schweigenden Wildnis« kommt bezeichnenderweise in den Memoiren von Hahl und Schultz ebenso vor wie in den Reisebeschreibungen Wißmanns.34 Gleichermaßen fällt eine Wertung Götzens aus, der den ostafrikanischen Bergwald zwar als üppig, zugleich aber als Umgebung mit einer »bedrückenden, feuchten Luft und mit einer Vegetation, welche der Sonne kaum einen Durchblick gestattet«, skizziert.35 Was 1891 noch eine neue Erfahrung für ihn bedeutet hatte, wandelte sich wenige Jahre später weiter ins Negative, empfand Götzen den kongolesischen Regenwald doch inzwischen als eine »tödlich langweilige Natur«.36 Analog zu den Vorstellungen des beständigen Überlebenskampfes im Tropenwald beschreibt Wißmann diesen als einen Lebensraum »gewaltiger Bäume«, zwischen denen ein »dichtes Gewirr von Stangenholz und jungen Bäumen empor[schießt], und mächtige Lianen hängen in dies Dickicht herab. Der Boden ist bedeckt mit einer Schicht seit Jahrhunderten modernden Laubes und Holzes […]. Moose bedecken die modernden gestürzten Stämme, aber kein Grashalm kann in diesem feuchten, lockeren Boden haften. Eine Blöße zeigt sich nur da, wo ein uralter Baum im Sturze die schwächeren Nachkömmlinge niederschlug.«37 Die Vorstellung einer feindseligen Umgebung gilt auch in Bezug auf den in den Wald eindringenden Menschen, müsse doch »fast jeder Schritt […] erst erkämpft werden gegen zähen Widerstand leistende Lianen«.38 In der Tendenz ähnlich, stellt Schultz für Samoa fest, dass in einer »ungezähmten Natur nicht nur die aufbauenden, sondern auch die zerstörenden Kräfte viel mächtiger walten als bei uns […].«39 Im Sinne einer solchen Dichotomie sind auch Wißmanns Wertungen zu deuten, wonach ihm die Regenwälder als »finstre, stille, kellerartig dunkle, feuchte« und »tote« Räume, gleichzeitig aber auch als »prächtig« und »unglaublich wildreich« vorgekommen seien.40 Auch Bennigsen und Schuckmann empfanden die Tropenwälder im Bismarckarchipel, in Neuguinea und Kamerun als »dunkel«, »düster« und »dicht«, zugleich aber auch als »herrlich«, »wun-
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Hahl, Gouverneursjahre, S. 201f. (Zitat); Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 84; Wißmann, Wildnissen, S. 146f. Götzen, Reisebriefe, S. 444; ähnlich: Wißmann, Wildnissen, S. 143; vgl. Soden vom 25.6.1885, zitiert nach: Ow, Soden, S. 254; Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 20; Zimmerer, Bereisung, S. 419. Götzen, Afrika, S. 249. Wißmann, Flagge, S. 75. Ders., Wildnissen, S. 144. Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 8 (Zitat), 84. Wißmann, Wildnissen, S. 65, 143f.; ders., Flagge, S. 69, 74, 76.
3. Deutungen des ›Andern‹
dervoll« und »prachtvoll«.41 Vom »großartigsten Urwald« in Neuguinea, in dem er »besonders viel von schönen großen Schmetterlingen umgaukelt« worden sei, berichtete Schnee seinem Vater.42 Ähnlich wie bei Götzen setzte auch beim Herzog zu Mecklenburg offenbar eine gewisse Sättigung ein, hatte ihm zufolge doch das Wandern durch den »Urwald seine Schrecken verloren, auch waren wir durch die Kenntnis anderer größerer Waldpartien etwas ernüchtert, immerhin aber übten die ersten Tage des Aufenthaltes doch wieder den vollen Zauber einstiger Phantasie auf uns aus.«43 Auf eine – aus europäischer Perspektive – Erstbeschreibung »jungfräulicher« Landschaften konnten die meisten Samplemitglieder ohnehin kaum mehr rechnen. Dass sich diese Formulierung bei Bennigsen, Hahl, Liebert und dem Mecklenburger findet, verweist daher vor allem auf ihr Selbstverständnis als Wegbereiter europäischer Zivilisation.44 Auf das geheimnisvolle Unbekannte bezogen sich explizit Bennigsen und Hahl und gaben angebliche Aussagen von Einheimischen wieder, wonach ein ostafrikanischer Bergwald »wilde Tiere und Geister« beherbergt habe, während ein noch »völlig unerforschtes« Waldgebirge auf Neumecklenburg »von Zwergen bewohnt« gewesen sei.45 Ebenfalls in die Sphäre der Inszenierung verweisen Bemerkungen des zu spät gekommenen Herzogs zu Mecklenburg aus dem Jahr 1909:46 »Es ist ein mit der Feder nicht wiederzugebendes Glücksgefühl des Eroberers, das den Forscher beseelt, der auf jungfräulichen Pfaden dahinzieht, die nie zuvor der Fuß eines Europäers berührte.« Immerhin relativierte er diese Behauptung durch die Bemerkung, dass das Reisen inzwischen erheblich komfortabler sei als zu Zeiten der »ersten Pioniere europäischer Kultur«.47 Neben solchen auf persönlichen Empfindungen basierenden Zuschreibungen finden sich häufig auch Nützlichkeitserwägungen, die letztlich auf eine Zerstörung oder zumindest Einhegung der vorgefundenen ›Urwälder‹ hinausliefen. Wißmann hatte sich dementsprechend beim erstmaligen Betreten der zentralafrikanischen Tropenwaldzone Gedanken über den dortigen »Reichtum der Natur« und dessen »etwaige spätere Ausnutzung« gemacht.48 Kaum verhohlene Erwägungen über eine ökonomische Aneignung im41
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Bennigsen, Expedition (1899), S. 699, 701; ders., Reise (1899), S. 809; ders., Expedition (1900), S. 324, 326; ders., Strafexpedition, S. 330; ders., Bereisung, S. 632, 636; ders., French-Inseln, S. 752; ders., Neu-Guinea, S. 632; BA-B N 2272/4, S. 112, Schuckmann (Kamerun) an seine Ehefrau vom 11.8.1891, Schreiben; BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (29.8.1891). GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 23.12.1898, Schreiben; Schnee, Bilder, S. 5. Mecklenburg, Afrika, S. 351. Bennigsen, Expedition (1899), S. 701; ders., Bereisung, S. 636; Hahl, Gouverneursjahre, S. 200; Liebert, Tage, S. 40f.; Mecklenburg, Afrika, S. 52; vgl. Hupke, Regenwald, S. 104. Bennigsen, Bericht (1897), S. 488 (Zitat 1); Hahl, Bismarck-Archipel, S. 111 (Zitate 2+3). Mecklenburg, Afrika, S. 52. Ebd., S. 52; vgl. Diebold, Hochadel, S. 98. Wißmann, Flagge, S. 67 (Zitate); vgl. Fiedler, Abenteuer, S. 67.
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perialer Räume lassen sich ebenso bei Bennigsen, Hahl, Schele und Schuckmann finden. Ihre Gedanken zielten auf »gute Nutzhölzer«, eine Erschließung durch »Straßen oder gebahnte Wege« sowie auf die Eignung der Böden zur Anlage von Monokulturen ab.49 Mitunter kam es dabei zur Überschätzung der vorhandenen Naturressourcen, glaubte doch Wißmann im Herbst 1900, es werde »Jahrhunderte […] dauern, bevor die Axt des kulturbringenden Menschen jene […] Wildnisse lichtet.«50
3.1.2 Steppe und Wüste In deutlich geringerem Maß als die Tropenwälder entsprachen die Steppen- und Wüstenlandschaften Afrikas den Erwartungen der Gruppe. Für Bennigsen bestand etwa die Trockensavanne Ostafrikas aus »absolut unfruchtbaren und […] nicht zu besiedelnden Landstrichen«.51 Drastischer drückte sich Liebert aus, bei dem die dortige »grausige«, »langweilige« und »völlig wertlose« Dornensteppe einen »maßlos traurigen Eindruck« hinterlassen und ihn »tief verstimmt« habe.52 Vergleichbar fallen Wertungen Wißmanns aus. Auch er empfand die Savannen meist als »eintönig«, »einförmig« und »unfruchtbar«, mitunter sogar als »hässlich« und »ungastlich«.53 Selbst der leicht zu begeisternde Mecklenburger urteilte über die dornenbewachsene Steppe Nordkameruns, diese sei von »Eintönigkeit« und »reizlosem Einerlei« geprägt gewesen.54 Von einer »trostlosen Savanne« im Süden Togos berichtete auch Köhler.55 Namentlich in Bezug auf Deutsch-Südwestafrika bewegten sich die Äußerungen dagegen zwischen realitätsnahen Urteilen und bloßem Wunschdenken.56 Leutwein erläuterte etwa die Folgen der Dürreperiode im Rahmen eines Vortrages mit den Worten: »Wie das Gelände in dem letzten Monat der Trockenzeit aussehen muss, können Sie sich daher denken.«57 Um den Stellenwert der Siedlungskolonie nicht herabzumindern, fügte er aber optimistisch hinzu, der dortige Boden spende, »wenn richtig bewässert, auch bei uns seine Erzeugnisse in üppiger Fülle. Das Land harrt nur eines fleißigen
49
50 51 52 53 54 55 56 57
Bennigsen, Bericht (1897), S. 487 (Zitat 1), 488, ders., Expedition (1899), S. 698f.; ders., Reise (1899), S. 809; ders., Reise (1900), S. 106; ders., Expedition (1900), S. 326; ders., Strafexpedition, S. 330; ders., Bereisung, S. 631f., 636; ders., Deutsch-Neu-Guinea, S. 282; Hahl, Bismarck-Archipel, S. 111; ders., Gouverneursjahre, S. 37 (Zitat 2), 200f.; BA-B R 1001/237a, Bl. 11–21, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 25.9.1893, Bericht; Schele, Expedition, S. 147; ders., Inspektionsreise, S. 560f.; ders., Bericht, S. 228f.; ders., Werth, S. 231; BA-B N 2272/4, S. 112, Schuckmann (Kamerun) an seine Ehefrau vom 11.8.1891, Schreiben; ebd., S. 113f., Schuckmann (Kamerun) an seine Ehefrau vom 18.8.1891, Schreiben; BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (29.8.1891). Wißmann, Wildnissen, S. 143. Bennigsen, Bericht (1898), S. 241. Liebert, Tage, S. 13, 15–18, 45; vgl. ders., Reisebericht, S. 265f.; ders., Reise, S. 618. Wißmann, Flagge, S. 67, 247, 255, 274, 280, 285; ders., Wildnissen, S. 77, 119; vgl. Schele, Werth, S. 231. Mecklenburg, Kongo 1, S. 98, 115. Köhler, Reise, S. 486. Vgl. Kundrus, Imperialisten, S. 138–162, die alle Schichten der Siedlergesellschaft einbezieht und daher zu etwas abweichenden Ergebnissen gelangt. Leutwein, Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 36.
3. Deutungen des ›Andern‹
Bebauers«.58 Ebenso ambivalent urteilte Lindequist. Während bei seiner Ankunft der »Anblick der Namibwüste« auf ihn entmutigend gewirkt habe, hätten ihn die landeinwärts gelegenen »Grasflächen der Tinkas-Hochebene« sowie das »Hereroland« davon überzeugt, dass dort »sicherlich […] Viehzucht mit Erfolg getrieben werden könne […].«59 Auch Schuckmann erkannte diesen mittleren Teil der Kolonie als »großartiges Gebiet für Viehzucht«, während er den Süden als »trostlose Wüste mit haushohen Dünen« wahrnahm.60 Analog äußerte sich Seitz: Auch auf ihn machte die entlang der Küste sich erstreckende Namib keinen erhebenden Eindruck, doch im Gegensatz zu Lindequist war für ihn auch das dahinterliegende Hochland »nicht viel besser«:61 »[…] auf weite Strecken war das Feld rechts und links abgebrannt, auf Stunden kein lebendes Wesen, auch kein Stück Rindvieh in dem klassischen Land der Rinderzucht zu sehen.« Aus dem feuchttropischen Kamerun kommend, beschwerte sich Seitz über die äußeren Verhältnisse beim Reichskolonialamt: »Hätte ich davon gewusst, so wäre ich nicht hierher gegangen.«62 Noch in seinen Memoiren schrieb er von einer »leisen Melancholie«, die ihn in Windhuk ergriffen hätte, habe er sich dort doch auf die »ewig grüne Alm oberhalb Bueas« in Kamerun zurückgesehnt.63 Diese Passage belegt nicht zuletzt die unterbewusste kognitive Einschreibung fremder Landschaften in vorhandene Wissensbestände. Das idealisierte Kameruner Hochland wird dabei mit heimischen Topographien gleichgesetzt, während die für Seitz schwer adaptierbaren Landschaftsbilder Südwestafrikas selbst in seinen knapp zwei Jahrzehnte später entstandenen Memoiren wenig positiv gezeichnet werden. Allerdings gelang ihm schließlich doch noch eine Zuordnung zu etwas vermeintlich Bekannten, fand er doch das »alttestamentarische Palästina« als Bezugspunkt.64 Wie sehr es sich bei solchen Äußerungen um individuelle Stimmungsbilder und weniger um objektive Landschaftsbeschreibungen handelt, geht auch aus anderen Urteilen über Steppen- und Wüstenlandschaften hervor. Beispielsweise konstatierte Götzen über Ostafrika, dass die »Natur, die uns umgibt, […] keineswegs schön oder anmutig zu nennen [ist], aber sie hat ihre Reize, und ich denke heute oft noch mit großer Sehnsucht gerade an jene großartige Einöde zurück.«65 Was andere als Nachteil der Savanne sahen, die »grandiose Einsamkeit« und die »großartige Verlassenheit«, konnte offenbar nicht nur von Götzen als anziehend umgedeutet werden.66 Vergleichbares hielt Schuck-
58 59 60 61 62
63 64 65 66
Ebd. BA-K N 1669/1, S. 4, Lindequist, Erlebnisse. BA-B N 2272/3, Schuckmann, Tgb. (11.5.1908); BA-B N 2272/4, S. 222, Schuckmann, Tgb. (8.12.1907). Seitz, Aufstieg 3, S. 5. BA-K N 1053/134, Bl. 1–4, Seitz (Windhuk) an Solf vom 19.2.1912, Schreiben. Etwas zurückhaltender in: HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142 Bü 765, Seitz (Windhuk) an Hohenlohe-Langenburg vom 25.11.1911, Schreiben. Seitz, Aufstieg 3, S. 36f. Ebd., S. 75f. Götzen, Afrika, S. 12. Ebd., S. 12, 18.
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mann fest, der den südwestafrikanischen Küstenort Lüderitzbucht zwar als »trostlos« empfand, dessen Lage auf »ganz kahlen Felsen« er aber zugleich als »sehr romantisch« bezeichnete.67 Noch emotionaler wirkte ein »herrlicher« Sonnenuntergang im kargen, wüstenartigen Hinterland auf ihn:68 »Links die rotgelb untergehende Sonne, vorn die Fischfluss-Berge in tiefem Blau, rechts die Wand eines Tafelgebirges rotglänzend! Eine solche Farbenpracht habe ich noch nie gesehen.« Schienen manche Landschafts- und Vegetationsformen keinen faktischen Nutzwert darzustellen, gingen manche Gouverneure kurzerhand dazu über, nichtmaterielle Vorzüge in ihre Deutungen zu projizieren. Zumindest durch einen realen Aktivposten zeichnete sich die afrikanische Savanne in der Wahrnehmung einiger Samplemitglieder aber aus, stellte diese doch das »Hauptgebiet der großen Massen vieler Arten von Wild« und somit Wißmann zufolge ein wahres »Jagd-Dorado« dar.69 Damit stachen die variantenreichen Steppenlandschaften vorteilhaft gegenüber den meisten anderen Vegetationsformen hervor, fanden sich doch in den weiten Ebenen reiche Bestände an Großwild aller Art.70 Aber auch deren ›Wert‹ wurde nicht zuletzt anhand vorgeprägter Tiervorstellungen aus der Heimat bemessen. Schwärmte Wißmann beispielsweise für die »edle Haltung« einiger afrikanischer Antilopenarten, so tat er das nur unter der Einschränkung, dass diese an »unseren, d.h. den eigentlichen Rot- und Edelhirsch« nicht heranreichen würden: Nur dem heimischen Rotwild wollte er das Prädikat einer »Krone der Schönheit und edler stolzer Grazie« zugestehen.71 Zu einem ähnlichen Vergleich gelangte der Herzog zu Mecklenburg, der sich während einer Elefantenjagd in Ostafrika an seine vorjährige Pirsch nach einem »kapitalen Brunfthirsch« zurückversetzt wähnte.72 In diesem Zusammenhang lassen sich auch Ansätze einer Vermenschlichung der fremden Tierwelt erkennen. Während Wißmann etwa das afrikanische Flusspferd mit dem sprichwörtlich trägen, feisten und geselligen Berliner »Weißbier-Spießer« gleichsetzte, berichtete der Landeshauptmann der Marshall-Inseln, der nicht in die Auswahl aufgenommene Georg Irmer, von einer Fischart, die ein »vollkommenes Judengesicht« aufweise und deshalb von den meisten seiner Landsleute als »Judennase« bezeichnet worden sei.73 So grotesk solche Zuschreibungen
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BA-B N 2272/4, S. 222, Schuckmann, Tgb. (8.12.1907). Ebd., S. 220f., Schuckmann, Tgb. (3.12.1907). Wißmann, Wildnissen, S. 62, 179. Ebd., S. 21, 37, 44f., 77, 119f., 132, 135, 138; ders., Flagge, S. 247; vgl. Bennigsen, Bericht (1898), S. 240f.; Götzen, Reisebriefe, S. 462f.; ders., Afrika, S. 39f.; Liebert, Tage, S. 14; Mecklenburg, Afrika, S. 35, 52, 65f., 213; Puttkamer, Inspektionsreise, S. 383; Schnee, Gouverneur, S. 124; Zech, Land, S. 114. Zur zeitgenössischen Typologie afrikanischer Steppen: Volkens, Steppe, S. 406f. Generell zur Fauna in den deutschen Kolonien: Müller-Langenbeck, Tierwelt, S. 92–112; Matschie, Tierwelt, S. 483ff.; ders., Zoologie, S. 764ff. Wißmann, Wildnissen, S. 124. Mecklenburg, Afrika, S. 213. Wißmann, Wildnissen, S. 1 (Zitat 1); BA-B N 2350/198, Irmer (Jaluit) an Bennigsen (sen.) vom 10.1.1895, Schreiben (Zitat 2).
3. Deutungen des ›Andern‹
auch sein mögen, so verdeutlichen auch sie die latente kognitive Verknüpfung neuer Sinneswahrnehmungen mit einem bereits vorhandenen Wissensreservoir.
3.1.3 Imaginationen von ›Heimat‹ Trotz aller ›Exotik‹ des Tropenwaldes und der gemischten Eindrücke von Steppen und Wüsten war es letztlich ein anderer, wenngleich nur teilweise realer Landschaftstypus, der sich in den Zeugnissen der Gruppenmitglieder des größten Zuspruchs erfreute. Nicht zufällig schwärmte Bennigsen von dem »sehr fruchtbaren, welligen Hügelland« im ostafrikanischen Usambara, das »aus großen, langsam ansteigenden Wiesenhängen mit bewaldeten Kuppen bestehend, mit einem Gras- und Kräuterwuchs, der das freudige Staunen jedes der Landwirtschaft einigermaßen Kundigen erregen muss […].«74 Ähnlich ansprechend wirkte die gleiche Gegend auf Götzen und Liebert. Der Graf zeigte sich derart »überrascht von der Schönheit der Landschaft«, dass er behauptete, die »Ähnlichkeit mit dem Schwarzwald ist stellenweise auffallend.«75 Ebenso lobte Liebert das Wechselspiel aus »starker Bewaldung« und »saftigen Wiesenmatten«, so dass er die Gegend zur »Perle der ganzen Kolonie« erklärte.76 Eine ähnliche Vorliebe äußerte er für die »herrlichen grünen Berge« von Uhehe, die bezeichnenderweise ebenfalls keinen zusammenhängenden Tropenwald, sondern gemischte Vegetationsformen aufwiesen.77 Liebert fand prompt den Vergleich mit heimischen Verhältnissen:78 »Was man vom deutschen Waldgebirge Schönes sagen mag, das findet sich auch hier: frische kräftige Bergluft, entzückende Rund- und Fernsichten über grüne Kuppen und Flächen, soweit nur das Auge reicht, Waldbestand in verschiedenster Form […], in dem Brombeere, Farnkraut und Thuja jeden an die Heimat erinnern, feuchter schwarzer Humus in bedeutender Stärke, endlich in jedem Tale klares, rieselndes Quellwasser, häufig Wasserfälle und hübsche Strudel bildend […].« Nicht nur bei Liebert entsteht mitunter der Eindruck, er habe sich nicht in Afrika, sondern in Deutschland befunden. Der Austritt des Ruaha-Flusses aus dem Gebirge war in seinen Augen »genau das Bild unserer Porta Westfalica oberhalb Minden, nur mit höheren Bergformen«.79 Am Fuß der Berge wähnte er sich dagegen »wie etwa bei Reichenhall oder anderen Orten, wo die Alpen aus der Ebene sich erheben.«80 Überhaupt schrieb er über den Rückweg vom Hochland in die Ebene, »man glaubt aus Deutschland
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Bennigsen, Bericht (1897), S. 488. Götzen, Reisebriefe, S. 443. Liebert, Reisebericht, S. 266; GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 90f., Liebert (Moschi) an Waldersee vom 27.2.1898, Schreiben. Liebert, Tage, S. 38. Ebd., S. 40f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17.
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nach Zentral-Afrika hinabzusteigen.«81 Auch Schele fand für die Hochebenen Ostafrikas den Vergleich mit der »deutschen Wiesenflur«, die mit »kleineren Buschparzellen durchsprengt« sei.82 Ähnlich fallen die Äußerungen des Herzogs zu Mecklenburg über seinen Aufenthalt im Hochland Ruandas aus. Bezeichnenderweise bedauerte er die dort bereits reduzierten Waldbestände, doch glaubte auch er sich angesichts »tief eingeschnittener Fjorde des Kiwu-Sees« in einer Gegend von einem »ausgesprochen nordischen Charakter«, die in höheren Lagen die »Vision einer deutschen Herbstlandschaft« bei ihm hervorrief.83 Die aus solchen Äußerungen ablesbare Vorliebe für gemischte Vegetationsformen bei einem zugleich hügeligen oder bergigen Relief beschränkte sich keineswegs auf Ostafrika. In Togo wie in Kamerun begeisterten sich Köhler, Zech, Mecklenburg und Puttkamer ebenfalls für »reizvolle Parklandschaften«, »inselartig […] auftretende Baumgruppen« und »dichte Galeriewälder«.84 Wißmann schwärmte für ein »parkartiges, zwischen Wald und Wiese wechselndes Gelände« und konnte sich kaum einen »schöneren Anblick, als die grasartigen Blößen einer parkähnlichen Wildnis« denken.85 Erleichtert stellte auch Leutwein fest, dass es im Norden von Südwestafrika einige »recht stattliche« Waldstücke gäbe.86 Auch Schuckmann fand für die »Parklandschaft« um den Waterberg das Prädikat »großartig«.87 Zwar war er einige Jahre zuvor auch vom Kameruner Regenwald angetan gewesen, doch hatte er letztlich einer heimischen Vegetationsform den Vorzug gegeben, meinte er doch, »unsere Wälder zu Hause auf Rügen, im Schwarzwald […] sind doch schöner.«88 Analogien zwischen Kamerun und Deutschland glaubte wiederum Seitz herstellen zu können. Er verglich einerseits die äquatorialen Regenwälder mit den unkultivierten, »schaurigen« und »widerwärtigen« Sumpfwäldern Mitteleuropas aus Tacitusʼ Germania:89 »So muss es in unserm lieben Vaterland ausgesehen haben, als Caesar u. Germanicus fluchend mit ihren Legionen durch die Sümpfe patschten u. sich Schnupfen […], Rheuma u. Gicht holten.« Andererseits überrascht es kaum, dass auch für ihn die offenen, locker bewaldeten Berglandschaften Kameruns den positiven Gegenentwurf darstellten, erinnerten ihn diese doch »lebhaft an die lieben Hügel des Odenwaldes«. »Das freie Land zwischen den Bergen« empfand er nicht nur als »herrlich«, sondern ebenfalls als eine »Gegend, die kei-
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Ebd., S. 38. Schele, Werth, S. 231; vgl. ders., Bericht, S. 228; ders., Uhehe, S. 70/FN; ders., Expedition, S. 147. Mecklenburg, Afrika, S. 96, 142f., 207, 210. Köhler, Reise, S. 485f. (Zitate); Zech, Notizen, S. 91; Mecklenburg, Kongo 1, S. 99, 139, 150, 229; Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 91; ders., Inspektionsreise, S. 382. Wißmann, Wildnissen, S. 130. Leutwein, Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 37. BA-B N 2272/3, Schuckmann, Tgb. (11.5.1908). BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (29.8.1891). BA-K N 1175/2, Bl. 19f., Seitz, Tgb. (20.7.1908).
3. Deutungen des ›Andern‹
nen afrikanischen, sondern europäischen Charakter hat«.90 Im Hochland bei Dschang sprach auch er von »Almen, die durchaus an die deutschen Voralpen erinnerten«.91 Deutlicher als in den zitierten Passagen kann die Projektion heimischer Topographien auf außereuropäische Räume kaum ausfallen. Eine abwechslungsreich strukturierte und zugleich kleinräumige Landschaft aus Waldstücken und Grasflächen, kurz der eingehegte und kontrollierte Naturraum Mitteleuropas stellte für die Samplemitglieder das Landschaftsideal schlechthin dar. Daran mussten sich die Räume in den ›Schutzgebieten‹ letztlich messen lassen. Vor einer generellen Einordnung dieses Phänomens gilt es jedoch, die Deutungen der Gouverneure zur populärsten Landschaftsform Ozeaniens, der Südseeinsel, zu untersuchen.
3.1.4 Südseeinsel Angesichts der topographischen Gegebenheiten in Ozeanien dürfte es kaum überraschen, dass sich in den einschlägigen Selbstzeugnissen weitaus seltener Analogien mit heimischen Szenerien finden als das am Beispiel Afrikas gezeigt werden konnte.92 Das belegt umso mehr die Bedeutung eines Mindestmaßes an Anschlussfähigkeit an die vorhandenen Wissensbestände. Angesichts dieses Mangels griffen die Gruppenmitglieder ersatzweise auf sehr allgemeine, zum Teil abstrakte Vergleiche zurück. Bennigsen zufolge verspräche beispielsweise die Insel Neuhannover ebenso wie die »Provinz Hannover eine Perle im Gebiete des Königreichs Preußen [ist], ein Edelstein im Gebiete des deutschen Schutzgebietes der Südsee« zu werden.93 Weniger enthusiastische Gouverneure beschränkten sich eher auf Größen- oder Entfernungsvergleiche. Für Hahl war etwa die Gazelle-Halbinsel auf Neupommern genauso groß wie Baden und Rheinpfalz zusammen. Der Waria-Fluss sei zugleich auf einer äquivalenten Strecke wie der Rhein zwischen Köln und Mündung schiffbar gewesen.94 Für Schnee besaß Samoa dieselbe Ausdehnung wie das Herzogtum Sachsen-Meiningen, seiner Herkunftsregion. Die Intensität der Brandung auf der Insel Kung verglich er dagegen mit der Wassermasse des Rheinfalls bei Schaffhausen.95 Hier fungieren also die heimischen Naturräume als Maßstab für das bislang Unbekannte, das dadurch wiederum für die Europäer erfahrbarer gemacht wurde.
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BA-K N 1175/1, Bl. 8, 16f., 23f., Seitz, Tgb. (22.8., 6.9., 30.11.1907). Der Odenwald war für ihn eine typisch heimische Landschaft. Vgl. Gouaffo, Topographieren, S. 56, der die Verwendung des Begriffs ›Laubbaum‹ in Zusammenhang mit der Vegetation Kameruns in einem zeitgenössischen Tagebuch als Versuch einer »kulturellen Übersetzung der Alterität« deutet. Die zitierten Passagen aus den Selbstzeugnissen der Gouverneure gehen noch darüber hinaus. Seitz, Aufstieg 2, S. 84. Generell zu den räumlichen Gegebenheiten in den deutschen Südseekolonien: Buchholz, Struktur, S. 59–91. Zur ›Insel‹ als kultureller Figur: Bitterli, Insel; Wilkens/Ramponi/Wendt, Inseln. Bennigsen, Bereisung, S. 636. Hahl, Gouverneursjahre, S. 39, 203. Selbstverständlich finden sich auch bei den ›afrikanischen‹ Gouverneuren abstrakte Größenvergleiche, doch kommen bei diesen weitaus häufiger bildhafte Analogien vor. Schnee, Gouverneur, S. 37; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.4.1899, Schreiben.
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Obwohl eine weitergehende Adaptionsfähigkeit Ozeaniens an mitteleuropäische Naturraumvorstellungen kaum gegeben scheint, erfreuen sich aber auch die dortigen Tropeninseln in den Selbstzeugnissen eines ähnlichen Zuspruchs wie die imaginativ aufgeladenen ›Parklandschaften‹ Afrikas. Die Ursache dürfte nicht zuletzt in der Topographie des idealtypischen Südsee-Eilandes zu finden sein. Dieses besteht aus einer Übergangszone von Flachwasser und Strand mit anschließender, räumlich überschaubarer Vegetationsfläche, während ein Vulkan- oder Bergmassiv als Hintergrundkulisse fungiert. Diese Komponenten formieren sich letztlich zu einem ebenso abwechslungsreichen wie wohlproportionierten Landschaftsbild. Die tropische Üppigkeit in Verbindung mit der Meeresnähe und einem angenehmen Klima üben nicht zuletzt den Reiz des ›Exotischen‹ aus.96 Daneben vermitteln die relative Aufgeräumtheit des von Palmen eingefassten Sandstrandes den Eindruck eines domestizierten Naturraums. Diese Prinzipien spiegeln sich in den Aufzeichnungen Bennigsens wider, für den der »dichte, urwaldartige, von Kokospalmen durchsetzte Busch« auf der Insel Nusa lediglich die Kulisse bildete. Erst aus der Kombination dieser »Südseewildnis« mit den künstlich angelegten Freiflächen und Bauten einer Handelsniederlassung entstand für ihn ein »reizvolles Bild«.97 Vergleichbar fallen Bennigsens Eindrücke auf Ponape aus, wo ebenfalls erst aus dem Zusammenspiel der im »tropischen Grün glänzenden, weißgrauen Wellblechdächer« mit einem Hintergrund aus »steilen, hoch bewaldeten Bergkuppen« ein »sehr reizvoller Eindruck« entstanden sei.98 Noch deutlicher wird die Degradierung der Natur zur bloßen Staffage in der Beschreibung einer kleinen Insel nahe Neumecklenburg. Dort habe es der ansässige (europäische) Händler verstanden, das Eiland mittels »hübscher Gebäude, Wege und Gartenanlagen zu einem wirklich reizenden Südseeidyll umzuschaffen.«99 Auch Haber beurteilte die Station Morobe im Nordosten Neuguineas vor allem deshalb als ansprechend, weil deren unmittelbare Umgebung »auf das sauberste gerodet« gewesen sei. Den Ersatz für die ursprüngliche Vegetation bildeten bezeichnenderweise »kurzes Gras« sowie die allgegenwärtige Kokospalme.100 Das unberührte Land mit seinen »hochragenden Gebirgen und dem undurchdringlichen Urwald, der auch kein Fleckchen frei lässt«, bewirkte den gegenteiligen Effekt: Diese »erdrückende Masse des Urwaldes« rief bei Schnee einen »düsteren Eindruck« hervor.101 Im Gegensatz dazu erschien die wirtschaftlich lukrative Kokospalme in den Augen der meisten Südsee-Gouverneure
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Vgl. Buchholz, Struktur, S. 71–89. Wo das Ideal nicht erfüllt wurde, wie auf den Marshall-Inseln, konnten die Landschaftsbeschreibungen deutlich anders ausfallen. Bezeichnenderweise schrieb der dortige Landeshauptmann nach Hause: »Das Land macht nicht den Anspruch auf große landschaftliche Schönheit, aber es ist auch nicht so hässlich, wie es verschrien wird. Das Meer und der Himmel ist [sic!] jedenfalls sehr schön und es gewährt einen entzückenden Anblick, wenn der Mond über die glänzenden Palmen herübergeschlichen kommt.« BA-B N 2350/198, Irmer (Jaluit) an Bennigsen sen. vom 10.1.1895, Schreiben. Allgemein zur ästhetischen Wirkung der Südseeinsel: Hiery, Reich, S. 28, 30; Bitterli, Insel, S. 13–15. 97 Bennigsen, Expedition (1899), S. 701. 98 Ders., Reise (1900), S. 102. 99 Ders., Dienstreise, S. 638. 100 BA-B R 1001/2996, Haber an RKA, o.D. [August 1914], Bericht. 101 Schnee, Bilder, S. 1, 3.
3. Deutungen des ›Andern‹
geradezu als Signum für ein ansprechendes Landschaftsbild. Die »Lieblichkeit der zahllosen Atolle« hing für Haber unmittelbar mit den dort günstigen Wachstumsbedingungen für diese Nutzpflanze zusammen.102 Auch Hahl und Schnee orientieren sich an dieser sowohl Sentiment als auch Ökonomie gerecht werdenden Baumart. Schnee schrieb seinem Vater, die »liebliche Blanchebucht mit ihren Kokosnussplantagen, aus denen die weißen Häuser weit hervorleuchten, [ist] ein Anblick, der sich den schönsten an die Seite stellen kann.«103 Bezeichnenderweise hielt Hahl von der samoanischen Insel Savai’i »gar nichts«, da er diese als für den »Anbau der Kokospalme nicht geeignet« ansah.104 Freilich irrte er in dieser Hinsicht, konnte doch Schnee Samoa als »liebliches Tropenland« beschreiben, das »am Strande besonders von Palmen bedeckt« gewesen sei.105 Trotz aller Idealisierung Samoas registrierten die beiden dortigen Gouverneure Solf und Schultz auch die Schattenseiten dieser ›Perle der Südsee‹.106 Während Solf beklagte, er würde »wenig Lust verspüren, dauernd in einem Lande zu wohnen, in dem zwölf Monate im Jahr Juli-Temperatur herrscht«, konstatierte Schultz in seinen 1926 erschienen Erinnerungen, dass das vermeintliche Südseeparadies ohnehin eine Utopie sei.107 Samoa sei keineswegs ein Sehnsuchtsort mit ursprünglicher Wildnis, sondern müsse vorrangig als landwirtschaftlicher Kulturraum und zugleich als Umschlagplatz für den pazifischen Güterverkehr angesehen werden.108 In ihrer Gesamtheit deuten die Äußerungen der Gruppenmitglieder letztlich auch in Ozeanien auf eine, wenn auch abstraktere Anschlussfähigkeit an ihr imaginäres Landschaftsideal hin. Das Klischee des Südseeparadieses ›funktionierte‹ vor allem dann am besten, wenn es sich nicht ausschließlich um einen ursprünglichen Naturraum, sondern um eine wenigstens zum Teil kultivierte oder zumindest als solche wirkende Landschaft handelte. Nur die eingehegte ›Wildnis‹ erweckte auch in der Südsee den Eindruck der Kontrollierbarkeit und entfaltete dadurch ihre Anziehungskraft auf die Europäer. Angesichts der gezeigten Bilder afrikanischer und ozeanischer Landschaften lässt sich folgern, dass diese Deutungen stets durch die in den Köpfen der Gouverneure vorhandenen ›Heimatbilder‹ entscheidend beeinflusst wurden. Das verwundert kaum, waren die Betreffenden doch alle in Deutschland sozialisiert und ihre Vorstellungen von den
102 Haber, Südseegedanken, S. 120f.; BA-B R 1001/2996, Bl. 92f., Haber an RKA vom 2.6.1914, Bericht über die Verhältnisse im Inselgebiet; vgl. Buchholz, Struktur, S. 77. 103 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.1.1899, Schreiben; Schnee, Bilder, S. 7. 104 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Ponape) an Schnee vom 4.12.1900, Schreiben. 105 Schnee, Gouverneur, S. 37. 106 Solf vom 6.3.1902, in: Verhandlungen RT, Bd. 183, S. 4641; BA-K N 1053/132, Bl. 23–30, Schultz (Apia) an Solf vom 11.2.1905, Schreiben; BA-K N 1053/131, Bl. 58–64, Schnee (Apia) an Solf vom 7.4.1902, Schreiben. Das Paradebeispiel einer solchen Überhöhung Samoas stellt der von Otto Ehlers publizierte Reisebericht aus dem Jahr 1895 dar. Ungeachtet des darin skizzierten Südseeklischees wähnte sich auch Ehlers im Innern von Upolu »lebhaft an einen jungen deutschen Buchenwald« erinnert, »so dass man sich ohne jede Phantasie einbilden kann, […] in den thüringischen Landen« zu sein. Ehlers, Samoa, S. 64f., 138. 107 BA-K N 1053/27, Bl. 76–78, Solf, o.D. [ca. 1907], Der kleine Mann in den Tropen (Zitat); SchultzEwerth, Erinnerungen, S. 6f. 108 Ebd., S. 10.
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dortigen Naturräumen geprägt worden. Ihr Landschaftsideal entsprach somit dem verhältnismäßig abwechslungsreich gestalteten mitteleuropäischen Profil mit gemischter Vegetation in einer mehr oder weniger ausgeprägten Hügellandschaft. Die darauf basierenden Naturwahrnehmungen in den Kolonien erweisen sich folglich überwiegend als Stimmungsbilder und keineswegs als objektive Landschaftsbeschreibungen. In dieser kognitiven Herstellung von ›Heimatlichkeit‹ (Urs Bitterli) spiegelt sich die bereits angesprochene Strategie zur Bewältigung des Unbekannten wider. Die reale Topographie fungierte vor allem als Projektionsfläche für das Ideal einer vertrauten, geordneten und überschaubaren Kulturlandschaft. Über den auf diesem Wege erreichten Anschein von Kontrollierbarkeit wurden die Räume in Afrika und Ozeanien für die Betreffenden nicht nur erträglicher, sondern gerieten gleichzeitig zum Objekt kognitiver Aneignung. Das bedeutete wiederum nichts weniger als einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer »imperialen Verheimatung der Fremde«.109
3.2 Deutungen von Menschen Wenn die Gouverneure die Landschaften in den Kolonien vorrangig an der Adaptierbarkeit mit den eigenen Referenzvorstellungen von heimischer Topographie gemessen haben, ist die Frage naheliegend, welche Kriterien den Deutungen der ›fremden‹ Menschen und ihrer Kulturen zugrunde lagen. Dass die dabei entstandenen Bilder wiederum die Perspektiven von Europäern widerspiegeln, liegt auf der Hand. Die alleinige Feststellung des bloßen Vorliegens eines ethnozentrischen Blickwinkels wäre somit wenig aussagekräftig.110 In diesem Abschnitt soll der Fokus daher vor allem darauf gelegt werden, wie die Menschen in den Kolonien und deren Lebensäußerungen in den Aufzeichnungen der Gouverneure konkret wiedergegeben wurden und welche Folgerungen sich daraus für die bereits vorhandenen Wissensbestände und letztlich für das Selbstverständnis der Mitglieder des Korpus ziehen lassen.111 Zuvor sollen die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa allgemein zirkulierenden Vorstellungen über die in Afrika und Ozeanien lebenden Menschen ausgelotet werden. Solche populären Imaginationen stellten im Wesentlichen das Ausgangswissen der Wahrnehmenden dar. Dabei kam dem Konzept einer Superiorität der europäischen Zivilisation eine besondere Bedeutung zu, so dass sich alle anderen Kulturen an diesem Axiom messen lassen mussten. Das Ergebnis war eine globale Hierarchisierung, innerhalb der Zivilisierte einerseits und Unzivilisierte bzw. ›Wilde‹ andererseits die Extreme markierten.112 Allerdings soll eine solche Dichotomie nicht den Eindruck erwecken, dass Fremdperzeption zwangsläufig monochrom verläuft. Zwar bedeutet die Konfrontation mit ›dem Andern‹ stets auch eine »symbolische Gefährdung der eigenen Weltdeutung«, so dass der Differenzbeschreibung zwischen dem Selbst und dem Gegenüber eine wichtige Funktion bei der Konstituierung und Bestätigung der eigenen
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Parr, Fremde, S. 133 (Zitat); vgl. Fabian, Tropenfieber, S 307f.; Fiedler, Abenteuer, S. 152, 156, 162. Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 30, 41; Fischer, Südsee-Expedition, S. 150. Vgl. Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 33; Honold/Scherpe, Kulturgeschichte, S. 1. Osterhammel, Verwandlung, S. 144.
3. Deutungen des ›Andern‹
Identität zukommt. Dabei kann das Fremde aber sowohl als bereichernd und anziehend als auch als bedrohlich oder abstoßend wahrgenommen werden.113 Folgerichtig konnten selbst den vermeintlich unzivilisierten Menschen vielfältige Eigenschaften zugewiesen werden. In ihrer Zuspitzung ergeben sich daraus zwei wiederum gegensätzliche Topoi: Die seit Jean-Jacques Rousseau kolportierte Vorstellung des ›edlen Wilden‹ einerseits und die des überwiegend negativ konnotierten barbarischen Primitiven andererseits.114 Entsprechend der in Europa prosperierenden Imagination von paradiesischen Urzuständen wurde der ›edle Wilde‹ mit natürlicher Unschuld, Besitz- und Bedürfnislosigkeit, äußerlicher Wohlgestalt sowie erotischer Anziehungskraft gleichgesetzt.115 Der Gegenentwurf des Primitiven ließ diesen als unberechenbar, verschlagen und grausam erscheinen einschließlich der zugeschriebenen Begleiterscheinungen Kannibalismus, Kindstötung und Faustrecht.116 Durch die Brille des europäischen Betrachters waren die Übergänge zwischen beiden Spielarten jedoch weder scharf gezogen noch undurchlässig. Dementsprechend gestalten sich die positiven Merkmale des ›edlen Wilden‹ keineswegs statisch, sondern interpretierbar. Entscheidend war wiederum die Kombination der Sinneswahrnehmungen mit den kulturspezifisch geprägten Erfahrungen des Wahrnehmenden selbst. Im Hinblick auf den afrikanischen Kontinent fand der Topos des ›edlen Wilden‹ bei den wenigsten Zeitgenossen Anklang. Zwar galten die Bewohner der Gegenden südlich der Sahara seit dem 18. Jahrhundert als Sinnbild für den »natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit«. Die zugeschriebenen Eigenschaften umfassten dabei vor allem die Neigung zu Grausamkeit und Despotismus sowie einen Mangel an »sittlichen Empfindungen« einerseits, zum anderen aber auch ungewöhnliche Körperkraft, Tapferkeit oder Gutmütigkeit.117 Diese sich zum kollektiven Wissensbestand verdichtenden Stereotypen formten das europäische Bild vom barbarischen ›Neger‹ entscheidend.118 Dafür mögen nicht zuletzt auch ästhetische Gründe maßgebend gewesen sein, wich das Äußere der Bewohner des subsaharischen Afrika doch vom europäischen Idealbild des ›schönen‹ Menschen ab.119 Ein Blick nach Ozeanien scheint das zu bestätigen. Zwar galt der ›edle Wilde‹ in der europäischen Wahrnehmung »am reinsten« in den Südseeinsulanern verkörpert.120 Doch waren damit keineswegs sämtliche Bewohner des Südpazifik, sondern in erster Linie Polynesier und Mikronesier gemeint. Es ist daher kein
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Hahn, Konstruktion, S. 151–153 (Zitat); Kundrus, Kolonien, S. 12; Schubert, Rassenbegriffe, S. 43; Honold/Scherpe, Kulturgeschichte, S. 6, 10. 114 Bitterli, Wilden, S. 367–376; Osterhammel, Verwandlung, S. 1172; Wiener, Ikonographie, S. 25–32; Dürbeck, Paradiese, S. 28–30. 115 Bitterli, Wilden, S. 381–392; ders., Insel, S. 17f.; Dürbeck, Paradiese, S. 28f. 116 Bitterli, Insel, S. 18; Dürbeck, Paradiese, S. 29f. 117 Beispiel: Hegel, Vorlesungen, S. 115, 118–122 (Zitate). Allgemein zu den in Deutschland zirkulierenden Stereotypen über die Bewohner Afrikas: Fabian, Tropenfieber, S. 223; Fiedler, Abenteuer, S. 165f., 171. 118 Eines der wenigen Gegenbeispiele: Wolff, Banana, S. 197–209; vgl. Fabian, Tropenfieber, S. 287–290. 119 Bitterli, Wilden, S. 358f.; Wiener, Ikonographie, S. 33. 120 Bitterli, Wilden, S. 381 (Zitat); Hiery, Einführung, S. 1, 10.
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Zufall, dass diese auch in ihrem Erscheinungsbild dem zeitgenössischen europäischen Schönheitsempfinden nahekamen. Auf die in ihren Gesichtszügen an die australischen Aborigines erinnernden Melanesier traf dies weniger zu. Folgerichtig wurden sie den barbarischen Primitiven zugeordnet.121 Neben solchen ästhetischen Aspekten spielten dabei aber zweifellos auch Einschätzungen über deren angebliche kulturelle Rückständigkeit eine Rolle. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Theoretische Ansätze für eine Deutungsanalyse bieten etwa die Modelle von Tzvetan Todorov und Urs Bitterli. Dabei geht Todorov von »mindestens drei Achsen« der Beziehung zum Fremden aus: einer axiologischen Ebene des Wertens bzw. Beurteilens, einer praxeologischen Ebene der aktiven Annäherung bzw. Distanzierung sowie einer epistemologischen Ebene des Fremdverstehens.122 Dagegen unterscheidet Bitterli mehrere Begegnungsszenarien zwischen einander fremden Kulturen. Diese können als bloße Berührung, als Kontakt, als Zusammenstoß oder in Gestalt einer Akkulturation bzw. Verflechtung erfolgen.123 Aus diesen beiden Theoremen lassen sich einige Leitfragen ableiten, an denen sich die weitere Untersuchung orientieren soll. Ein erster Schwerpunkt bezieht sich auf die Frage, wie das äußere Erscheinungsbild der ›fremden‹ Menschen auf die Betrachter konkret wirkte. Handelt es sich bei der Wiedergabe des Gesehenen um pauschale, undifferenzierte Äußerungen im Sinne zeitgenössischer Vorurteile? Wurden Unterschiede zwischen den angetroffenen Ethnien thematisiert? Fand eine Individualisierung statt, indem auch Einzelpersonen beschrieben wurden? Ein zweiter Komplex sucht die Frage zu beantworten, wie die Gouverneure die Denkund Lebensweisen der angetroffenen Menschen deuteten. Wie schätzten sie deren intellektuelle Fähigkeiten ein? Wesentlich sind in diesem Zusammenhang die Konditionen, unter denen solche Werturteile zustande kommen: Handelt es sich um ernsthafte, lautere Einschätzungen, die wiederum auf eine Reduktion der sozialen Distanz und damit auf die Absicht eines Fremdverstehens hindeuten?124 Ein solches Vorgehen setzt keineswegs eine unkritische Idealisierung des jeweiligen Gegenüber voraus, sondern vielmehr die Bereitschaft, ›fremden‹ Menschen und ihren Kulturen möglichst unvoreingenommen gegenüberzutreten.125 Einem wirklichen Interesse am Gegenüber diametral entgegengesetzt wäre eine undifferenzierte Darstellung der Menschen als Kollektivsubjekte, als bloße Typen einer fremden, ›exotischen‹ Kultur oder einer anderen ›Rasse‹. Das geschieht in der Regel mittels schroff abgrenzender, abwertender Zuschreibungen.126 Doch selbst solche Rassismen müssen in ihrer jeweiligen Ausprägung präzisiert werden. Erfolgt die Kategorisierung nach der biologistischen Terminologie eines sich seit den 1880er Jahren ausbreitenden Sozialdarwinismus? Oder äußerten sich die Gouverneure in einer
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Hiery, Reich, S. 29, 92f.; Dürbeck, Paradiese, S. 30f.; vgl. Smith, Vision, S. 5. Todorov, Eroberung, S. 221. Bitterli, Wilden, S. 81–173. Vgl. Osterhammel, Verwandlung, S. 1159–1163. Vgl. Hiery, Reich, S. 324. Vgl. Wiener, Ikonographie, S. 42; Kleinert, Photographien, S. 109.
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eher kulturmissionarischen Art und Weise. Beide Formen gehen von einer selbstverständlichen Überlegenheit der Europäer und ihrer Kultur aus. Während aber die erste dieser Rassismus-Varianten dem vermeintlich inferioren Gegenüber kaum geistige oder kulturelle Entwicklungsmöglichkeiten einräumt, geht letztere von einer zeitlich befristeten, auf äußeren Einflüssen beruhenden Unterlegenheit der Bewohner Afrikas und Ozeaniens aus. Aus kulturmissionarischer Perspektive wäre ein solches vermeintliches Ungleichgewicht durch ein Einwirken der europäischen Zivilisation behebbar.127 Nicht zuletzt wird auch einzugehen sein auf die Frage, wie die Gouverneure ihre eigenen Kompetenzen im Hinblick auf die Deutung der ›fremden‹ Menschen einschätzten. Waren sie sich ihrer eigenen mentalen Standortgebundenheit bewusst? Lassen sich Zweifel an der Erfassbarkeit der Denk- und Handlungsmuster der Bewohner Afrikas und Ozeaniens feststellen? Stellten sie die gängigen Stereotype und Vorurteile in Frage? Eine solche selbstkritische Haltung hätte die ethnozentrische Perspektive zumindest aufgeweicht und damit eine transkulturelle Annäherung begünstigen können. Auf der Basis dieser Überlegungen werden die Deutungen der Gouverneure auszuloten sein. Da es sich bei den angetroffenen Menschen um die Bewohner von sechs Kolonien auf zwei Kontinenten handelt, erscheint ein Vorgehen sinnvoll, das sich an den größeren indigenen Gruppierungen orientiert. Diese Ethnien gilt es zunächst zu benennen. Vorab ist allerdings anzumerken, dass die Quellentexte zwangsläufig die zeitgenössischen Kategorisierungen widerspiegeln. Es liegt auf der Hand, dass eine solche ›rassische‹ Einteilung von Menschen nicht zur Grundlage einer wissenschaftlichen Analyse gemacht werden darf. Dem soll durch eine angemessenere Unterteilung nach Sprachfamilien Rechnung getragen werden. Aus Gründen des Erkenntnisinteresses ist dies zwar nicht lückenlos möglich, doch wird in abweichenden Fällen eine entsprechende Kontextualisierung vorzunehmen sein. Zuletzt muss noch angemerkt werden, dass die Überlieferungssituation einige Simplifizierungen unvermeidlich macht. In den afrikanischen ›Schutzgebieten‹ lässt sich die Mehrzahl der Menschen dem heute so bezeichneten Niger-Kongo-Sprachraum zuordnen. Dieser umfasst wesentliche Teile des subsaharischen Afrika. Eine Untergruppe dieser Sprachfamilie, firmierend unter dem Sammelbegriff des Bantu, fand sich mit etlichen Variationen und Dialekten auch im Süden Kameruns sowie in weiten Teilen des damaligen Deutsch-Ostafrika. Die Ewe im Süden Togos sowie die im Grasland Kameruns ansässigen Ethnien verständigten sich dagegen in den damals so genannten Sudansprachen, die heute aber ebenfalls teilweise der Niger-Kongo-Sprachengruppe zugerechnet werden.128 Auch angesichts des vorliegenden Quellenmaterials bietet sich somit die Niger-Kongo-Gruppe als – zweifellos recht grobe – Kategorie an, wobei bedarfsweise Ausdifferenzierungen vorgenommen werden. Wie noch zu zeigen sein wird, kam infolge ihrer kulturellen Besonderheiten einigen islamisch geprägten Ethnien, namentlich den Fulani (Fullah) in Nordkamerun, den Hausa (Haussah) in weiten Teilen Kameruns und Nordtogos sowie den sogenannten ›Ara-
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Schubert, Rassenbegriffe, S. 43, 46; Gründer, Stellenwert, S. 30–33; Osterhammel, Verwandlung, S. 145, 1172f. Allgemein: Kausen, Sprachfamilien 2, S. 249–402. Zu den zeitgenössischen Sichtweisen: Meinhof, Bantusprachen, S. 133f.; ders., Sudansprachen, S. 435.
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bern‹ im Norden Kameruns sowie in Ostafrika in den Augen der europäischen Betrachter eine Sonderstellung zu.129 Als herausgehobene Bevölkerungsgruppen galten für die Europäer ebenso die Masai (Massai), Hema (Wahuma) und Tutsi (Watussi), die – gemeinsam mit den Fulani – als Angehörige einer eingewanderten ›Hamitenrasse‹ angesehen wurden und im Norden bzw. Nordwesten Deutsch-Ostafrikas ansässig waren.130 Diese Ethnien werden ebenfalls gesondert zu berücksichtigen sein. Anschließend werden die Deutungen zu den in Deutsch-Südwestafrika lebenden Indigenen untersucht. Obwohl die dortigen Ovambo und Herero zu den bantusprechenden Ethnien gehören, erscheint es sinnvoll, die von ihnen seitens der Gouverneure gezeichneten Bilder zusammen mit denjenigen der nicht nur in sprachlicher Hinsicht abweichenden Nama (Hottentotten), Damara (Bergdamara) und Baster (Bastards) zu betrachten.131 Als weitere Ethnie Südwestafrikas sind zudem die San (Buschleute) einzubeziehen, die in manchen Quellen mit den Pygmäen-Gesellschaften Südkameruns und Ostafrikas in Verbindung gebracht wurden.132 Für Ozeanien fällt die Unterteilung übersichtlicher aus. Wenngleich zweifellos vereinfachend, erscheint es für die vorliegende Zielsetzung ausreichend, zwischen den melanesischen Ethnien des Bismarckarchipels, der Salomonen sowie Neuguineas einerseits und den Bewohnern Mikronesiens (Karolinen, Marianen, Marshall-Inseln) und des polynesischen Samoa andererseits zu differenzieren.133
3.2.1 Das äußere Erscheinungsbild Es überrascht kaum, dass etliche Passagen in den Selbstzeugnissen der Gouverneure, die sich mit den Menschen in den Kolonien befassen, deren äußeres Erscheinungsbild thematisieren. Diese physischen Wahrnehmungen bezogen sich auf Gesichtszüge, Körperbau, Hautfarbe und selbst Gerüche, aber auch auf Haartracht, Tätowierungen oder Schmuck. Eine gewisse Bedeutung kommt nicht zuletzt auch den Aspekten Nacktheit und Kleidung zu, da diese in der Regel als Indikatoren für die Taxierung des kulturellen ›Entwicklungsstandes‹ angesehen wurden.134 Ohnehin beeinflussten optische Sinnesreize die kognitive Einordnung des Gegenübers nachhaltig. Zwar hatten wohl alle Mitglieder des Korpus bereits vor ihrem Eintreffen in einem ›Schutzgebiet‹ Abbildungen zumindest von afrikanischen Menschen gesehen, doch bedeutete der unmittelbare Kontakt stets eine neue, konkrete Erfahrung mit dem Unbekannten.
3.2.1.1 Afrika Einen ersten Eindruck zu den Deutungen der Bewohner Westafrikas bieten die Tagebuchaufzeichnungen Schuckmanns aus dem Sommer 1891. Darin finden sich auffallend 129
In den Klammern werden die zeitgenössischen, von den Kolonisierenden verwendeten Bezeichnungen der Ethnien wiedergegeben. Gleiches gilt für die nachfolgenden Abschnitte. 130 Zur zeitgenössischen Interpretation: Weule, Hamiten, S. 14. 131 Bei den Baster handelte es sich um die Nachkommen von Nama-Frauen und holländischen Burenmännern. 132 Vgl. Thilenius, Pygmäen, S. 117f. 133 Zu den Ethnien Ozeaniens: Koch, Menschen, S. 113–131. 134 Vgl. Todorov, Eroberung, S. 47.
3. Deutungen des ›Andern‹
häufig Adjektive, wie »scheußlich« oder »stinkend«.135 Der cholerische Schuckmann blieb zwar während seiner Amtszeit als stellvertretender Gouverneur von Kamerun dieser deftigen Ausdrucksweise treu, doch nahm er einzelne Individuen auch als »recht gut aussehend« oder »stattlich« wahr.136 Nach Hause schrieb er zudem von zwei DualaKönigstöchtern, die er »gar nicht so scheußlich« fand, weshalb seine Ehefrau »wohl eifersüchtig« sein würde.137 Vergleichbare Empfindungen finden sich bei Köhler, der darüber klagte, dass er in Lomé jeden Tag die »Besuche unzähliger Chiefs mit ihren Fetischmännern, Freunden, Onkels, Vettern, Neffen pp. über mich ergehen« lassen müsse. Auch »drücke« er bei dieser Gelegenheit »jedem mehrmals die Hand und muss sie hinterher ebenso oft waschen.«138 Andererseits konstatierte er beim chief von Kpandu einen »freundlichen, ja fast sympathischen, vertrauenerweckenden Gesichtsausdruck«.139 Wie subjektiv Wertungen zu ein und derselben Person ausfallen konnten, verdeutlicht das Beispiel des Gidi-Gidi, eines kings aus Südtogo. Ihn beschrieb Puttkamer folgendermaßen: »Er ist unter Mittelgröße, hat kluge Augen und einen auffallend intelligenten, freundlichen Gesichtsausdruck.«140 Köhler fiel es dagegen in Gegenwart GidiGidis schwer, den »Ernst zu bewahren«, da dieser in alten Stiefeln, einem abgewetzten Frack sowie mit einem französischem Kürassierhelm auftrat und deshalb »unendlich komisch« auf ihn gewirkt habe.141 Generell wurden die Bewohner Afrikas in europäischer Kleidung fast immer negativ beschrieben. Besonders unangenehm reagierte Schuckmann, wenn diese sich nicht nur äußerlich zu assimilieren suchten, sondern darüber hinaus auf eine adäquate Behandlung pochten. Drastisch schilderte er eine solche Begegnung in Liberia:142 »Der King […] erschien nun in einem grünlich schwarzen Gehrock, mit einer weißen Nachtmütze und darüber einem Zylinder, an den Beinen trug er Ringe als Zeichen seiner königl[ichen] Würde. So etwas Gemeines und Scheußliches habe ich nie gesehen, das widerwärtigste Gaunergesicht ist nichts gegen diese Scheusäler. […] Das scheußlichste Geschöpf war der Sohn. Er wurde wegen seines widerwärtig versoffenen Gesichts angeödet und sagte sehr frech: ›Jam a gentleman, Sir, talk to me as to a gentleman.‹ Dieses Schwein.« Mit solchen Ansichten stand Schuckmann keineswegs allein. Während Soden in vergleichbarer Weise indigene Absolventen von Missionsschulen in pejorativer Absicht als »Missionschristen-Karikaturen« bezeichnete, empfand auch Seitz diese als »Karikatu-
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BA-B N 2272/4, S. 104f., 108f., Schuckmann, Tgb. (28.7., 1.8.1891); BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (20.8., 8.9.1891). 136 BA-B N 2272/4, S. 113f., Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 18.8.1891, Schreiben. 137 Ebd., S. 112, Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 11.8.1891, Schreiben. 138 BA-B N 2146/34, Köhler (Lomé) an König vom 30.5.1895, Schreiben. 139 Köhler, Reise, S. 489. 140 BA-B N 2231/8, Puttkamer an AA vom 26.4.1890, Bericht. 141 Köhler, Reise, S. 488. 142 BA-B N 2272/4, S. 105f., Schuckmann, Tgb. (29.7.1891).
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ren des Menschentums«.143 Nicht anders verhielt es sich beim Herzog zu Mecklenburg, dem schon der Anblick »bekleideter Hosenniger [sic!]« die Stimmung »verdarb«.144 Ebenso reichhaltige wie unmittelbare Eindrücke von den Menschen der Waldzone Südkameruns hielt Seitz in seinen Tagebüchern fest. Mehrfach berichtete er darin von der Praxis einiger chiefs, seiner Expedition »singende u[nd] tanzende Weiber« als Geleit mitzugeben.145 Da darin jeweils ein Dorf das andere ablöste, wähnte sich Seitz regelrecht verfolgt. Anstatt sich durch diese Geste aber geehrt zu fühlen, empfand er das »Geheul u[nd] das geschmacklose Getanze dieser nackten Scheusäler […] auf die Dauer unerträglich«.146 Seine Verärgerung über die vermeintliche Belästigung gipfelte schließlich in einem Analogieschluss der ihm fremdartig erscheinenden Frauen mit vertrauteren Vorstellungen:147 »Wie diese Scheusäler müssen die Hexen beim Ritt auf den Blocksberg schwitzen, riechen u[nd] speien. Es war der richtige Hexensabbath u[nd] es fehlte zur vollständigen Natürlichkeit, dass diese lediglich mit einem cul de Paris bekleideten alten u. jungen Hexen den Besenstiel zwischen die Beine nehmen. Wenn der selige Goethe diese Sirenen gesehen hätte, wäre die Walpurgisnacht sicher noch naturalistischer, derber u. orgi[asti]scher ausgefallen. Die Natur hat sich übrigens einen blutigen Scherz erlaubt, indem sie in diese herrlichen Gegenden derartige Menschen setzte.« An diesen Eindrücken mag die ihm fremd erscheinende Körperbemalung der Frauen beigetragen haben, doch war Seitz bei den Bewohnern der Kameruner Waldzone generell von der »Minderwertigkeit ihrer Abkunft« überzeugt, wie er wenig später auch publizistisch ausführte.148 Trotzdem finden sich selbst bei ihm auch differenziertere Ansichten. Das erfolgte aber stets nur auf konkrete Individuen bezogen. Beispielsweise glaubte er unter den Vertretern der Bane »meist abscheuliche Visagen« zu erkennen, »nur der alte Häuptling Amaige« habe eine »Ausnahme« dargestellt. Dieses Urteil verwundert auf den ersten Blick, habe doch ausgerechnet dieser Mann »im Jahre 1898 die sämtlichen Bane-Stämme gegen uns aufgehetzt u[nd] gut organisiert«. Dabei waren es gerade diese zurückliegenden Taten, die Amaige mit seiner »kleinen untersetzten Gestalt mit grauem Haar u[nd] einem intelligenten verschlagenen Gesichtsausdruck« für den Gouverneur aus der Masse fremdartig wirkender Menschen heraushoben. Fast bedauernd äußerte Seitz, dass der chief »inzwischen zum Säufer geworden« sei.149 Wie sehr die Bewertung der Menschen von subjektiven Empfindungen und damit auch von schwankenden Stimmungen abhing, belegen die Äußerungen zu benachbarten Ethnien. Einige schätzte Seitz wegen ihres »offenen u[nd] freundlichen Gesichtsaus-
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Soden (Kamerun) an KA vom 29.12.1885, zitiert nach: Ow, Soden, S. 257; Seitz, Verhältnisse, S. 326f.; ders., Aufstieg 2, S. 55; vgl. BA-K N 1175/3, Bl. 14–19, Seitz, Tgb. (25.8.1908). Mecklenburg, Kongo 1, S. 232. BA-K N 1175/1, Bl. 13–16, Seitz, Tgb. (5.9.1907). Ebd., Bl. 12f., Seitz, Tgb. (4.9.1907). Ebd., Bl. 13–16, Seitz, Tgb. (5.9.1907). Seitz, Verhältnisse, S. 325; vgl. BA-K N 1175/3, Bl. 11–14, Seitz, Tgb. (16.8.1908). BA-K N 1175/1, Bl. 13–16, Seitz, Tgb. (5.9.1907); vgl. Seitz, Aufstieg 2, S. 80, wo die Bane als »kräftige, schwarze Bauerngestalten« etwas besser wegkommen.
3. Deutungen des ›Andern‹
drucks« verhalten positiv ein.150 Die Bulu im Süden der Kolonie hielt er für einen »besseren Menschenschlag«, weil die Männer »schmale, beinahe scharfgeschnittene Gesichter« gehabt und die »Weiber nicht so stumpfsinnig wie sonst« ausgesehen hätten.151 Die uneinheitliche Sicht auf die Menschen lässt sich gerade anhand dieser Gruppe verdeutlichen, sprach Seitz doch bei anderer Gelegenheit von deren »singenden oder kreischenden Weibern […] mit kaum einem menschlichen Ausdruck im Gesicht«.152 Einen »alten, verschmitzten Bulu-Häuptling« skizzierte er als »verwitterte Negervisage«, während er einen anderen chief als »alten Mann mit gutem Gesicht« beschrieb und ihn prompt in seine Gouverneursresidenz nach Buea einlud, »damit er sich das Vieh ansieht«.153 Einige »Njem-Häuptlinge« bezeichnete Seitz wiederum als »schreckliche Exemplare des Menschengeschlechts«, wogegen er fasziniert war von der »Prachtgestalt des alten Ngutte [Ngrté]«.154 Zeichnen sich die Konstrukte von Schuckmann, Seitz oder Köhler durch ein hohes Maß an Emotionalität aus, unternahmen sowohl der Graf Zech als auch der Herzog zu Mecklenburg den Versuch, objektivere Menschenbilder zu zeichnen. Das war allerdings in erster Linie ihrer Selbststilisierung als Forschungsreisende mit wissenschaftlichem Anspruch geschuldet.155 Die Ethnien Westafrikas beschrieben sie daher in Form einer Datenaufnahme als »kräftig und ebenmäßig gebaut«, »von mittlerer Statur«, »von mittlerer Körpergröße«, »über mittelgroß« oder aber als »robust«, »sehr gut gebaut« und mit »muskulösen Gliedern«.156 Dazu kam bei Zech ein auffälliges Interesse für Tätowierungsmotive und Beschneidungspraktiken.157 Bezeichnenderweise blieben auch solche Typisierungsversuche keineswegs immer sachlich, wenn etwa Zech einem chief aus Nordtogo eine »ganz klägliche Erscheinung« bescheinigte oder bei den Basari »hübsche Gesichtszüge« als »ziemlich selten« konstatieren zu können glaubte.158 Die Intention wissenschaftlicher Beobachtung offenbart sich gleichermaßen bei der Beschreibung der für die jeweilige Bevölkerungsgruppe als charakteristisch befundenen Haartracht, Kleidung oder des Schmucks. Deren (Nicht-)Vorhandensein, Beschaffenheit und Qualität fungierte wiederum als Maßstab innerhalb eines interkulturellen Rankings. Für Zech standen daher die in Nordwesttogo beheimateten »Sangaleute […] auf einer wesentlich höheren Kulturstufe« als andere, hätten sie doch »Hemden und Umschlagetücher aus eingeborenen Zeugen« getragen.159 Die »äußerst bescheidene« Bekleidung der deklassierten Ethnien beschrieb er dagegen folgendermaßen:160
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BA-K N 1175/1, Bl. 13–16, Seitz, Tgb. (5.9.1907). Ebd., Bl. 16f., Seitz, Tgb. (6.9.1907). Zu den Bulu: Hausen, Kolonialherrschaft, S. 153f. BA-K N 1175/2, Bl. 11, Seitz, Tgb. (10.7.1908). Ebd.; BA-K N 1175/1, Bl. 23f., Seitz, Tgb. (30.11.1907). BA-K N 1175/3, Bl. 2–4, 14–19, Seitz, Tgb. (26.7., 25.8.1908). Hierzu allgemein: Essner, Afrikareisende, S. 37–47. Zech, Notizen, S. 95, 105, 113, 133; Mecklenburg, Kongo 1, S. 138. Zech, Notizen, passim; ders., Land, S. 129; Mecklenburg, Afrika, S. 69f. Zech, Notizen, S. 112, 133. Ders., Land, S. 135. Ebd., S. 129; vgl. ders., Notizen, S. 114, 133f., 144, 146; Mecklenburg, Kongo 1, S. 138.
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»Männer tragen eine Schnur oder Perlenschnur um die Hüften und bedecken die Schamteile mit einem schmalen, durch den Spalt gezogenen Zeugstreifen, der vorn und hinten um die Hüftschnur gelegt ist. […] Frauen tragen gleichfalls Schnüre und Perlen um die Hüften und decken Scham und Hinterteil mit grünen Blättern, indem sie geeignete Strauchzweige in die Hüftschnüre einhängen; Kinder gehen bis zum mannbaren Alter nackt. […] Die Körper der Weiber sind nicht selten mit Tätowierungsnarben nahezu bedeckt.« Dabei erlaubte der vermeintliche Dienst an der Wissenschaft selbst die Beschreibung ansonsten tabuisierter Details. Beispielsweise vergaß Zech nicht zu erwähnen, dass in der Landschaft Moab die »erwachsenen Männer […] zur Bedeckung des Gliedes eine Art Futteral aus Leder oder Zeug [tragen], welches mit einer Schnur um die Hüften befestigt ist«.161 Im persönlichen Tagebuch von Seitz ist für ein vergleichbares Kleidungsstück dagegen verschämt von einer »unsagbaren Ausrüstung« die Rede.162 Nicht anders als in Westafrika wurden auch die im Osten des Kontinents lebenden Menschen der Kongo-Niger-Sprachengruppe von den Mitgliedern des Korpus häufig in einer Kombination aus pauschalen Inferioritätspostulaten und vereinzelt positiveren Individualzuschreibungen wiedergegeben. Während Bennigsen beispielsweise die Wambugu als »schönes und kräftiges«, infolge ihrer Nacktheit aber »von der Kultur noch gänzlich unbelecktes Bergvolk« beschrieb, fand Götzen, dass seine somalischen Söldner »äußerlich sehr vorteilhaft von den [einheimischen] Negern abstechen« würden.163 Von den Waschamba aus Usambara gewann er dagegen einen »sehr guten« Eindruck, da der »Gesichtsschnitt« der Männer »eher kaukasisch als negerartig« gewesen sei. Die für ihn weniger vertraut aussehenden Frauen beschrieb er dagegen als »äußerst häßlich«.164 Ausschließlich in funktionaler Hinsicht bewertete er die Wassukuma, die »dank ihrer großen Körperkraft und Arbeitswilligkeit« ein »vorzügliches Trägermaterial« abgeben würden.165 An einigen Bewohnern der Landschaft Burungwe irritierten Götzen dagegen die »schräg geschlitzten Augen und vorstehenden Backenknochen«, so dass er sich an die Bewohner der Mongolei erinnert fühlte.166 Der Herzog zu Mecklenburg monierte schließlich an den Wahutu (Hutu) in Ruanda, sie seien ein »mittelgroßer Menschenschlag, dessen unschöne Formen harte Arbeit verraten«.167 Wißmann zeichnete ein beinahe positives, zugleich aber seinem Selbstverständnis als Forschungsreisender geschuldetes Bild der Waha:168 »Die Weiber haben einen angenehmen, kindlichen Gesichtsausdruck, der Oberkörper ist nackt und wird mit einer kreuzweis über Rücken und Brust reichenden Perlenschnur
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Zech, Land, S. 129; ähnlich: Puttkamer, Bericht, S. 122. BA-K N 1175/1, Bl. 12f., Seitz, Tgb. (4.9.1907). Bennigsen, Reise (1897), S. 488; Götzen, Reisebriefe, S. 411. Ebd., S. 443. Ders., Afrika, S. 5. Ebd., S. 22. Mecklenburg, Afrika, S. 88. Wißmann, Flagge, S. 236f.
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geschmückt. Ziegenhäute, oder sehr weich präparierte Rindshäute bedecken die Hüften bis auf die halbe Wade, Arm- und Fußgelenke sind mit Eisendraht umwunden. Die Haare liegen wie die Spitzen eines Weinblattes vom Hinterkopf aus nach allen Seiten. Die Männer haben harte Züge und eine freie, etwas freche Haltung; sie sind nur mit einer Ziegenhaut bekleidet, die, über eine Schulter befestigt, so weit herabhängt, dass sie meistens die Hüften, die sonst ganz nackt sind, bedeckt. Chignon- oder kappenartig sind die Haare am Hinterkopf zusammengenommen, ringsum rasiert oder kurz gehalten.« Selbst der mit den Alldeutschen sympathisierende Liebert überrascht teilweise durch die Wiedergabe seiner Eindrücke von einer Inspektionsreise durch den Süden DeutschOstafrikas. Zweifellos sprach der Generalstabsoffizier aus ihm, wenn er die Hehe als »durchweg schöne, große und schlanke Gestalten« beschrieb, die »unserem Ulanenschlag« gleichkämen. Dementsprechend imponierten ihm besonders die potentiell militärisch verwertbaren Fähigkeiten, sah er die Hehe doch als »großartige Bergsteiger, unermüdlich im Marschieren wie im Laufen«.169 Nicht nur bei Liebert forderte die langjährige Prägung in der preußischen Armee ihren Tribut: Auch Schele beurteilte die Hehe wohlwollend, seien sie doch ein »auffällig schöner großer Menschenschlag. Ein ebenmäßiger schlanker Körperbau und gut geschnittene Gesichtszüge, welche wenig eigentlichen Negertypus zeigen, zeichnen sie vor den Stämmen näher der Küste aus.«170 Im Hinblick auf die physische Konstitution war auch Wißmann von den Ostafrikanern durchaus angetan, sei doch der »schwarze Rekrut gewandter, abgehärteter und anspruchsloser« als der durchschnittliche Europäer. Nicht zuletzt durch ihre »Widerstandsfähigkeit gegen die klimatischen Einflüsse« seien die »schwarzen Soldaten den weißen sehr überlegen«.171 Derartige Äußerungen konnten aber rasch ins Gegenteil umschlagen, wenn etwa sowohl Götzen als auch Liebert eine vermeintlich »empfindungslose Negerzunge« als Voraussetzung dafür ansahen, die »dunkle Brühe« aus den Wasserlöchern zu trinken.172 Letzterer vertrat zudem die Ansicht, die Unempfindlichkeit der Einheimischen gegenüber dem Tropenklima sei nicht zuletzt auf deren »dickes Schädeldach« zurückzuführen.173 Ähnlich hatte sich auch Puttkamer allgemein über die Bewohner Afrikas geäußert, die aufgrund des »ganz anders gebauten Auges, die dicke Schädeldecke, das krause Wollhaar und die schwarze Haut« an die Umweltverhältnisse angepasst seien.174 Ein vergleichbares Vorurteil, das sich hervorragend dazu eignete, den wenig rücksichtsvollen Umgang der Europäer mit den Einheimischen zu rechtfertigen, hatte sich Leutwein zu eigen gemacht. Er war allen Ernstes der Meinung, dass die »lederartige Haut der Eingeborenen […] eine nur geringe Schmerzempfindung« zur Folge habe.175
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Liebert, Tage, S. 24. Schele, Uhehe, S. 71; ders., Organisation, S. 463. Wißmann, Afrika, S. 58–60, 63. Götzen, Afrika, S. 17; Liebert, Tage, S. 13f. Ebd., S. 13f. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 330f. BA-B R 1001/5378, Bl. 207f., Leutwein (Windhuk) an KA vom 30.8.1904, Bericht.
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Das unterbewusste Bestreben, die gewonnenen Eindrücke mit vorhandenen Wissensbeständen zu verknüpfen, äußerte sich auch in Ostafrika besonders anhand angetroffener Individuen. Götzen notierte beispielsweise im April 1894 in sein Expeditionstagebuch eine ungewöhnliche Analogie:176 »Der Kopf Pembes [chief von Ulangwa] erinnerte auffallend an den des Feldmarschalls Grafen v. Moltke; leider aber fand er es kleidsam, sein Haupt mit einer hässlichen Nachtmütze zu verzieren.« Wißmann zeichnete von dem Potentaten Mirambo ein ähnlich unerwartetes Bild. Für ihn war dieser »gewaltigste Krieger Ostafrikas« ein »Mann von ca. 50 Jahren, hohen sehnigen Wuchses, mit einem feinen Hüftentuch, sowie einfachem grauen europäischen Rock bekleidet. Das Haupt etwas geneigt und ein freundliches, stillvergnügtes Lächeln auf dem mageren Gesicht, das einen leidenden Ausdruck hat«.177 Auch bei der Wahrnehmung afrikanischer Frauen blieb die unterbewusste Suche nach dem Vertrauten nicht folgenlos. Neben den angeführten Beispielen, in denen Afrikanerinnen meist nicht den ästhetischen Erwartungen entsprachen und deshalb mit wenig schmeichelhaften Adjektiven bedacht wurden, gibt es auch entgegengesetzte Belege. Symptomatisch dafür ist eine Schilderung Wißmanns über eine Begegnung mit drei »ganz auffallend schönen Weibern« in Ostafrika. Der erstaunte, damals 29-jährige Leutnant beschrieb diese als »stolze, schlanke, ebenmäßige Figuren mit regelmäßigen Gesichtszügen, ganz hellbrauner Hautfarbe und wohlgeformtem Hals und Brüsten.« Kurzerhand erklärte er zwei von ihnen zu den »formvollendetsten Gestalten […], die ich je sah. Jede derselben hätte als Modell zu einer Aphrodite stehen können.«178 Mit vergleichbaren Zuschreibungen aus der antiken Terminologie wurden mitunter auch die physischen Fertigkeiten männlicher Afrikaner bedacht. Dementsprechend schrieb etwa der Herzog zu Mecklenburg, die Männer der Bana seien von »herkulischer Kraft« gewesen.179 Namentlich die letzten Beispiele lassen darauf schließen, dass das ›exotische‹ Fremde innerhalb gewisser Grenzen anziehend auf den europäischen Betrachter wirken konnte. Entscheidend war eine wenigstens partielle Adaptionsfähigkeit des Gesehenen an die bereits vorhandenen Wissensbestände und Erfahrungen. Je näher die fremden Menschen in ihrer äußeren Erscheinung den ästhetischen Erwartungen kamen, desto wohlwollender wurden sie in der Regel beschrieben. Das lässt sich auch am Beispiel der Hautfarbe zeigen. Wie kaum anders zu erwarten, galt für die Gouverneure der banale Grundsatz: Je heller, desto besser. Auf Schuckmann machten beispielsweise die Bewohner von Dahomey einen »besseren Eindruck als die bisher gesehenen Schwarzen«, da sie »heller in der Farbe und nicht so scheußlich« gewesen seien.180 Solche Empfindungen fehlen auch in den in quasi-wissenschaftlichem Duktus verfassten Texten Zechs nicht,
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Götzen, Afrika, S. 97. Wißmann, Flagge, S. 256–258. Ebd., S. 241. Ähnlich: Götzen, Afrika, S. 128. Mecklenburg, Kongo 1, S. 138 (Zitat); vgl. Bitterli, Wilden, S. 359. BA-B N 2272/4, S. 108f., Schuckmann, Tgb. (1.8.1891).
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wo »Leute mit hellerer Hautfarbe« häufiger positiv geschildert werden.181 Es dürfte auch kein Zufall sein, dass die von Wißmann als besonders attraktiv beschriebenen Frauen von »ganz hellbrauner Hautfarbe« gewesen sein sollen.182 Analog dazu lobte Götzen, unter den Ehefrauen des chiefs Ssambiro seien »einige von ganz hellbrauner Hautfarbe und fast hübsch zu nennendem Gesichtsschnitt« gewesen.183 Angesichts solcher Voraussetzungen stellten die Bewohner Afrikas auch für die Gouverneure keineswegs eine amorphe Masse fremdartiger Menschen dar. Tatsächlich brachten sie einigen Gruppen eine freundlichere Grundhaltung entgegen als anderen. Die Rede ist von den überwiegend muslimisch geprägten Fulani und Hausa Westund Zentralafrikas sowie von den Masai, Hema und Tutsi im Osten des Kontinents. Das ist kein Zufall, stuften die Europäer diese Ethnien doch als Abkömmlinge einer vermeintlich ›hamitischen Rasse‹ ein oder sahen diese in Abgrenzung zu den übrigen Bewohnern des subsaharischen Afrika zumindest als »muhammedanische Sudanneger« an.184 Die angeblich aus Nordafrika eingewanderten ›Hamiten‹ wurden auch von der damaligen Ethnologie ihrem Äußeren nach als vom »Bantutypus durchaus abweichend« beschrieben.185 Es verwundert daher nicht, dass sich analoge Deutungen auch in den Zeugnissen der Gouverneure finden. Seitz sah beispielsweise die Fulani in Nordkamerun als gänzlich »fremde Volksteile« an. Diese seien ihm durch ihren schlanken Körperbau, scharfe Gesichtszüge und eine teilweise helle Gesichtsfarbe aufgefallen.186 Aus seiner Sicht folgerichtig betrachtete er daher die eheliche Verbindung einer Fula-Frau mit einem Yaundé-Soldaten der Schutztruppe geradezu als »Versündigung an der Natur u[nd] dem Menschen«.187 Auch Puttkamer thematisierte solche Unterschiede. Den Fulani-Machthaber Buba aus Garua beschrieb er als »großen, hellfarbigen, freundlich dreinblickenden, echten Fulla«, der zusammen mit seinen »bunt gekleideten Reitern […] ein farbenprächtiges Bild« geboten habe.188 Bei diesen glaubte er generell eine »ausnehmend semitische Gesichtsbildung« feststellen zu können, was er als »sehr gut aussehend« bezeichnete.189 Ebenfalls seinem ästhetischen Empfinden entsprach offenbar Djagara von Gulfei, den Puttkamer als »über 6 Fuß langen, energisch dreinblickenden, gut aussehenden jungen Häuptling« beschrieb. Auch habe dieser in seiner »tscherkessenähnlichen Tracht sehr malerisch« auf ihn gewirkt.190 Der Herzog zu Mecklenburg berichtete ebenfalls von einem Empfang in Kusseri. Ebenso empfänglich für solche Spektakel wie Puttkamer, erfreute sich auch er an der zur
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Zech, Notizen, S. 105, 124. Wißmann, Flagge, S. 241. Götzen, Afrika, S. 128. Zur zeitgenössischen Sicht: Weule, Hamiten, S. 14; Passarge/Rathjens, Fulbe, S. 668f.; Passarge/ Rathjens, Haussa, S. 50; Liebert, Kolonien, S. 17 (Zitat). Weule, Hamiten, S. 14; vgl. Haeckel, Schöpfungs-Geschichte, S. 750. Seitz, Verhältnisse, S. 322; ähnlich: Zech, Notizen, S. 125; vgl. Midel, Fulbe, S. 173–175. BA-K N 1175/1, Bl. 13–16, Seitz, Tgb. (5.9.1907). Bezeichnenderweise verallgemeinerte Seitz diese Einzelepisode in: Seitz, Verhältnisse, S. 325. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 277. Ebd., S. 122f. Ebd., S. 188.
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Schau gestellten »Pracht und Herrlichkeit«. Vor allem begeisterte ihn die »gut gekleidete« Leibgarde ebenso wie die Reiterei, die eine »mächtige Staubwolke aufwühlte«. Die Pferde mit ihren wattierten Decken erinnerten nicht nur den Herzog an mittelalterliche Schlachtrösser.191 Auch die »wallenden, bis zur Erde reichenden Schleier […] der Frauen«, hätten im gleißenden »Sonnenlicht […] ein Farbenspiel von besonderer Wirkung« hervorgerufen.192 Zweifellos verraten gleichzeitige Bemerkungen über die »durchbohrten Nasenflügel und […] vom Betelkauen rotgefärbten Zähne« der Ehefrauen des Djagara sowie der Gesamteindruck einer »bunten, lärmenden Gesellschaft« letztlich aber eine kaum überbrückbare Distanz.193 Wo die Realität allzu sehr von der orientalisch-idealisierten Imagination abwich, etwa in den Zonen des Übergangs zu anderen Ethnien, ließen ohnehin die Sympathien selbst gegenüber den Fulani spürbar nach. Beispielsweise stellte Zech für den Norden Togos fest, dass die dortigen »Fulleleute« zwar mit »weißen Tüchern oder weißen Hemden« bekleidet gewesen seien, doch hätten sie sich im Hinblick auf ihr Äußeres nicht »rein erhalten«. Zwar erkenne man die Fulani-Abkunft »noch an der hellen Hautfarbe, ihren weniger hübsch geformten Zähnen, dem schlichteren Haar, dem schlanken, fast schwächlichen Körperbau und an ihrer Sprache«, doch sei »ihr Blut […] schon stark mit Negerblut vermischt« gewesen.194 Bei den Deutungen zu den Hausa, einer sich vor allem durch ihre gemeinsame Sprache definierenden Ethnie, scheinen in noch höherem Ausmaß Kleidung, Ausrüstung und Auftreten den Ausschlag gegeben zu haben. Erwähnt werden diese von Gleim und Seitz ebenso wie von Horn und Zech. In den Beschreibungen finden sich aber auffallend selten die sonst obligaten Angaben über Gesichtszüge und Körperbau. Dennoch sei Seitz zufolge jeder Europäer erfreut gewesen, wenn er in Kamerun auf Hausa-Händler mit ihren »stets freundlichen Gesichtern« traf.195 Ausführlich äußerten sich andere Gouverneure wiederum über die besondere Wirkung der »farbenprächtigen Gewänder«, des »Waffenschmucks« sowie der »reich geschmückten Rosse« dieser Ethnie.196 Seitz spricht von »phantastischen Gestalten […] im Haussah-Kostüm«.197 Ungewohnt malerisch beschreibt auch Zech seine Eindrücke:198 »Etwa 15 Reiter jagten den Europäern in rasendem Galopp entgegen […]. Die auf den kleinen Pferden gewandt und sicher ausgeführten Bewegungen, die weiten, im Winde flatternden, mit Amuletten benähten, bunten Gewänder der Reiter und die orientalische Aufzäumung der Pferde verleihen einem solchen Empfange ein phantastisches Gepräge.«
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Mecklenburg, Kongo 1, S. 68–70, 150. Praktisch identisch: Ebermaier, Entwicklung, S. 22. Mecklenburg, Kongo 1, S. 69. Ebd., S. 70, 79f.; vgl. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 279. Zech, Notizen, S. 125. Seitz, Verhältnisse, S. 323f. Gleim, Reise, S. 490; Horn, Bericht, S. 239. BA-K N 1175/3, Bl. 8f., Seitz, Tgb. (8.8.1908); vgl. ebd., Bl. 14–19, Seitz, Tgb. (25.8.1908). Zech, Land, S. 120.
3. Deutungen des ›Andern‹
Ebenso wie bei den Fulani beeinflusste das äußere, mit orientalischen Imaginationen verknüpfte Erscheinen der Hausa die Wahrnehmungsbilder entscheidend. Dabei unterscheiden sich die Beschreibungen signifikant von den Äußerungen über die Ethnien der Kongo-Niger-Gruppe. Da offensichtlich Kleidung und sonstige Ausstattung meist den Erwartungen der Gouverneure entsprachen, scheint die Tatsache, dass sich die Hausa physisch nur wenig von der übrigen Bevölkerung unterschieden, in den Hintergrund getreten zu sein. Die bislang genannten Mechanismen von Wahrnehmung und Deutung konnten sich aber durchaus unterschiedlich auswirken. Das wird anhand der Eindrücke von den als ›Araber‹ bezeichneten Bewohnern Nordkameruns und Ostafrikas deutlich. Beispielsweise scheint den Herzog zu Mecklenburg die dunklere Hautfarbe dieser Ethnie ebenso wenig gestört zu haben, wie die Tatsache, dass diese Menschen im »Busch notdürftig mit einem Fell bekleidet gehen«. Hatten sie auch seiner Ansicht nach praktisch »nichts mit ihren Stammesgenossen aus Syrien und Ägypten gemein«, glaubte er dennoch, bei ihnen »alle Merkmale einer höherstehenden Rasse« erkennen zu können.199 Puttkamer hatte dieselbe Ethnie ähnlich wahrgenommen, wobei ihn die jungen Mädchen mit ihrem »langen, in Zöpfe geflochtenen Haar, sehr zierlichen Gelenken und großen Metallohrringen und Armbändern« an europäische »Zigeunerinnen« erinnert hatten.200 Wißmann und Götzen sahen die als ›Araber‹ angesprochenen Gesellschaften Ostafrikas ebenfalls als »höherstehend« an. Dabei stellte ersterer fest, dass manche Individuen sich in der Hautfarbe kaum von den übrigen Bewohnern des Landes unterschieden hätten.201 Als entscheidend galt erneut ihre Tracht, besonders aber – darauf wird noch zurückzukommen sein – die herausgehobene soziale Stellung, weshalb die ›arabische‹ Minderheit stets »angenehm auffalle«.202 Wie die Fulani in Kamerun und Togo, wurden auch einige Ethnien in Ostafrika als ›Hamiten‹ angesehen. Dazu zählten vor allem die beiderseits des Victoria-Sees ansässigen Masai und Hema. Schnee nahm die ersteren als »schlanke Gestalten« wahr, die mit ihren »langen Speeren und ihren gemalten Büffelhautschilden«, vor allem aber aufgrund von »Gestalt und Wesen ansprechender« auf ihn gewirkt hätten als die übrigen Bewohner.203 Ähnliches glaubte Götzen bei den Hema feststellen zu können. Diese seien von der »ureingesessenen Negerbevölkerung deutlich […] zu unterscheiden« gewesen. Als Merkmal dienten ihm vor allem die hochgewachsenen, schlanken Gestalten.204 Übereinstimmend urteilte Haber, der dieser Ethnie ein »intelligentes und durchaus nicht tierisches« Aussehen bescheinigte.205 Als Idealfigur beschrieb Götzen den Machthaber Kassussura von Ussuwi, der eine »imponierende Gestalt« gehabt und dessen »noch jugendlicher Kopf […] fast klassisch schöne und edle Züge« aufgewiesen habe.206 199 200 201 202 203 204 205
Mecklenburg, Kongo 1, S. 93f. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 285. Wißmann, Flagge, S. 270; Götzen, Afrika, S. 308. Ders., Reisebriefe, S. 464; Wißmann, Expedition, S. 69 (Zitat). Schnee, Gouverneur, S. 124, 126f. Götzen, Afrika, S. 139, 156, 162. BA-B R 1001/1029, Bl. 97–105, Haber (Entebbe) an Gouvernement in Daressalam vom 30.6.1904, Bericht. 206 Götzen, Afrika, S. 138.
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Noch positiver wurden die Tutsi (Watussi) wahrgenommen, die die soziale Hierarchie in Ruanda und Urundi dominierten. Dabei war es wiederum die körperliche Beschaffenheit, die dem Herzog zu Mecklenburg besonders ins Auge fiel:207 »Die Watussi sind ein hochgewachsener Stamm von geradezu idealem Körperbau. […] Während die Schultern meist kräftig gebaut sind, zeigt die Taille oft eine fast beängstigende Dünne. Die Hände sind vornehm und überaus fein gebaut, die Handgelenke von fast weiblicher Zierlichkeit. Wie bei den orientalischen Völkerschaften finden wir auch hier den graziösen, lässigstolzen Gang, und an den hohen Norden Afrikas erinnert auch der bronzefarbene Ton der Haut, der neben der dunklen häufiger zu finden ist. Überaus charakteristisch ist der Kopf. Unverkennbare Merkmale fremden Einschlages verraten die hohe Stirn, der Schwung der Nase, das edle Oval des Gesichtes.« Wie bei den Fulani, fühlte sich der Herzog an imaginäre Orientbilder erinnert, kamen ihm die angetroffenen Menschen doch wie aus »einer anderen Welt« vor.208 Ähnlich erging es Götzen, der angesichts eines lokalen Machthabers an die »Darstellungen alt-assyrischer Königsgestalten« denken musste.209 Die Farbe der Haut trat dabei etwas in den Hintergrund, gehörten die Tutsi doch nicht nur für den Mecklenburger einer »anderen ›Klasse‹ von Menschen« an, die mit »dem ›Neger‹ nichts weiter als die dunkle Hautfarbe verband.«210 Diese Ansicht entsprach auffallend deckungsgleich der zeitgenössischen Interpretation einer aus Nordafrika eingewanderten ›hamitischen‹ Ethnie.211 Eine etwaige Solidarität zwischen den Vertretern des deutschen Adels und afrikanischen Herrschergestalten, wie sie vereinzelt seitens der Forschung vermutet wurde, geht aus solchen Äußerungen allerdings keineswegs zwingend hervor.212 Vielmehr fallen die Beschreibungen des äußeren Erscheinungsbildes der beiden ruandischen Königsgestalten Lwabugiri und Musinga keineswegs ausschließlich zu deren Gunsten aus. Zwar zeichnet Götzen den ersteren mit »wundervoll proportionierten und vollen Körperformen« und Gesichtszügen von »eigentümlicher Schönheit«. Gleichzeitig bemerkte er aber einen »grausamen, um den Mund spielenden Zug« ebenso wie »schwerfällige« Bewegungen. Letzteres führte der Graf auf ein vermeintlich dekadentes Herrschergebaren zurück, wodurch Lwabugiri des »Gehens fast gänzlich entwöhnt« worden sei.213 Zumindest hinsichtlich des Äußeren blieb auch das Urteil des Herzogs zu Mecklenburg über den inzwischen in Ruanda regierenden Musinga verhalten. Auch dessen Gestalt schien ihm »infolge seiner bequemen Lebensweise etwas rundliche Formen« aufzuweisen. Auch den »Ausdruck seiner gepriesenen Intelligenz« habe er in Musingas Gesicht vergebens gesucht. Zwar mache dieser durchaus einen sympathischen Eindruck,
207 Mecklenburg, Afrika, S. 88, ebenso: 68, 109, 113; ähnlich: Götzen, Afrika, S. 158, 179f.; Schnee, Gouverneur, S. 124, 126. 208 Mecklenburg, Afrika, S. 101. 209 Götzen, Afrika, S. 158. 210 Mecklenburg, Afrika, S. 101. 211 Vgl. Weule, Hamiten, S. 14. 212 So Diebold, Hochadel, S. 64–70; vgl. Cannadine, Ornamentalism, S. 6–8. 213 Götzen, Afrika, S. 180.
3. Deutungen des ›Andern‹
was jedoch durch einen »Augenfehler und stark vorspringende Oberzähne« beeinträchtigt gewesen sei.214 Wenngleich auf die Frage nach einer möglichen transkulturellen Elitensolidarität noch zurückzukommen sein wird, deutet sich an dieser Stelle aber bereits an, dass eine solche wenigstens im Hinblick auf die Beurteilung des Äußeren kaum konstatiert werden kann. Im Folgenden sollen noch die Deutungen hinsichtlich der Bewohner Südwestafrikas untersucht werden. Wie bereits erwähnt, unterteilen sich diese im Wesentlichen auf die Ethnien der Ovambo, Herero, Damara, Nama, Baster und San. Während die beiden ersten Gruppen vor allem den Norden und die Mitte des ›Schutzgebietes‹ bevölkerten, wurden weite Teile des Südens von den Nama bewohnt. Die Baster konzentrierten sich vor allem um die Ortschaft Rehoboth, während die Damara über weite Teile der Kolonie verstreut siedelten. Noch schwieriger zu lokalisieren sind die San, die als Nomaden vor allem in den besonders unwirtlichen Landstrichen lebten. Als erste, simplifizierende Beschreibung dieser Ethnien sei ein öffentlicher Vortrag Leutweins aus dem Januar 1898 angeführt, in dem dieser seine Eindrücke schilderte:215 »In Bezug auf die Hautfarbe sind bei uns alle Schattierungen vertreten, die Hottentotten und die Bastards sind gelb-weiß, die Hereros und Ovambos chokoladebraun [sic!], die Buschmänner rot und die Bergdamaras schwarz.« Dabei würden die »sämtlichen Christen, sowie die reicheren Heiden« unter den Einheimischen »europäische Kleidung« tragen.216 An anderer Stelle bemerkte Leutwein, dass die Herero »durchweg große Leute« seien und sich qualitätsbewusst kleiden würden. Dagegen seien Nama und Baster von kleinerem Wuchs, würden dafür aber auffälligere Kleidung bevorzugen.217 Angesichts der ethnischen Vielfalt im ›Schutzgebiet‹ konnte sich auch Seitz kaum zu einer detaillierteren Skizze durchringen. Für ihn hatten die Damara in »ihrem ganzen Typ« meist »Ähnlichkeit mit unseren Togoleuten«, während er die Hereros auch nach dem Imperialkrieg noch als »kräftiges, selbstbewusstes Volk« beschrieb.218 Dauerhafte Eindrücke scheinen bei ihm vor allem die Nama hinterlassen zu haben. Diese seien »klein, zierlich, schmutziggelb«, während sich die Frauen »durch eine phänomenale […] Entwicklung des Gesäßes ausgezeichnet« hätten. Den ihm aus Kamerun vertrauteren Ethnien seien die Nama lediglich durch ihr »schwarzes Büschelhaar« ähnlich gewesen.219 Seitz war zudem nicht der einzige Europäer, dem sie als »irgendwie mit der mongolisch-malaiischen Rasse zusammenhängen[d]« vorkamen.220 Sein Fazit über die Nama lautete, dass diese »im Ganzen kein sympathischer Typ des Genus homo« seien.221 Einschränkend ist allerdings zu bemerken, dass Seitz den Angehörigen dieser 214 215 216 217
Mecklenburg, Afrika, S. 109. Leutwein, Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 6. Ebd. Ders., Warenversorgung, S. 408f.; BA-B R 1001/5378, Bl. 21f., Leutwein (Windhuk) an KA vom 9.3.1900, Bericht. 218 Seitz, Aufstieg 3, S. 57f. 219 Ebd., S. 58f. 220 Ebd., S. 59; ähnlich: BA-MA N 134/1, S. 112f., Scherbening, Tgb. (23.9.1906). 221 Seitz, Aufstieg 3, S. 58f.
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Ethnie erst begegnete, als die Zeiten eines Hendrik Witboi und anderer bekannter Kapitäne längst vorbei waren. Nach dem großen Krieg waren die tribalen Strukturen nur noch in Ansätzen oder im Verborgenen vorhanden. Dass viele überlebende Nama ebenso wie die Herero ein karges Dasein als Farmarbeiter oder Dienstboten fristen mussten, spiegelt sich zweifellos auch in den Deutungen wider.222 Trotzdem gab es auch andere Wahrnehmungen, beschrieb doch etwa Schuckmann die Bondelzwarts – eine Nama-Ethnie – durchaus positiv als »energisch, entschlossen aussehend«. Solf gewann dagegen von den Rehobother Baster einen »verschmitzten, verstockten und durchtriebenen Eindruck«.223 Durchaus anders äußerte auch er sich über eine Nama-Gruppe unter dem Kapitän Christian Goliath, habe dieser doch einen »vorzüglichen Eindruck« bei ihm hinterlassen. Auch dessen Umgebung habe aus »freundlichen, wie Menschen aussehenden und mit höflichem Selbstbewusstsein auftretenden Eingeborenen« bestanden.224 Binnen weniger Tage änderte Solf diese Ansichten, was solche Quellentexte erneut als Stimmungsäußerungen auszeichnet.225 Am schwierigsten taten sich die Gouverneure in Südwestafrika mit den San, den sogenannten Buschleuten. Diese galten nicht wenigen Europäern als ein »Mittelglied zwischen Mensch und Tier«.226 Handelte es sich Lindequist zufolge bei ihnen um »Buschund Steppenmenschen«, waren sie nach Seitz »klein, schmutzig, scheu« bei gleichzeitiger Ähnlichkeit mit den »Zwergvölkern Zentralafrikas«.227 Erstaunlicherweise war es ausgerechnet Schuckmann, der positivere Töne für einen »Buschmannkapitän« fand, sei dieser doch ein »wohl gewachsener, muskulöser Geselle« gewesen.228 Auch in Bezug auf die anderen Ethnien Südwestafrikas finden sich bei ihm – anders als während seines früheren Kamerun-Aufenthalts – für die Zeit seiner Gouverneurstätigkeit kaum pejorativ angelegte Äußerungen über deren Erscheinungsbild. Dabei sind Lernprozesse im Sinne einer Gewöhnung an das Äußere der afrikanischen Menschen nicht auszuschließen. Schuckmann war immerhin sechs Monate lang stellvertretender Gouverneur in Kamerun gewesen und später für rund zweieinhalb Jahre als Generalkonsul nach Kapstadt gegangen, ehe er im Sommer 1907 nach Südwestafrika kam. Bezeichnenderweise glaubte auch Seitz im Sommer 1908 bei sich selbst feststellen zu können, dass ihm die Bulu in Südkamerun »vertrauter als im vorigen Jahre« geworden seien.229 Eine interessante Selbsteinschätzung – wenngleich zweifellos aus der Warte des sich überlegen wähnenden Europäers – liefert Wißmann zu diesem Aspekt:230 »Das Gefühl der Geringschätzung, das im Anfange oft der Europäer im Verkehr mit Wilden hat, verliert sich bald, die Nacktheit der Leute sieht man gar nicht mehr, ebenso
222 Vgl. Kapitel 4.5.2. 223 BA-B N 2272/4, S. 220, Schuckmann, Tgb. (1.12.1907); BA-K N 1053/36, Bl. 11f., Solf, Reise-Tgb. (1.7.1912). 224 Ebd., Bl. 7–9, Solf, Reise-Tgb. (28.6.1912). 225 Ebd., Bl. 11f., Solf, Reise-Tgb. (1.7.1912). 226 Spiecker, Tgb., S. 314 (30.6.1906); Franke, Tgb., S. 27f. (19.12.1896). 227 BA-K N 1669/1, S. 42f., Lindequist, Erlebnisse; Seitz, Aufstieg 3, S. 60. 228 BA-B N 2272/3, Schuckmann, Tgb. (21.5.1908). 229 BA-K N 1175/2, Bl. 8f., Seitz, Tgb. (5.7.1908). 230 Wißmann, Flagge, S. 151.
3. Deutungen des ›Andern‹
lernt man auch bald Gesichter unterscheiden, was zuerst sehr schwer ist. Ja, wir fanden häufig große Ähnlichkeiten mit Bekannten in Europa. Besondere Gesichtsausdrücke, wie Gutmütigkeit, Wildheit, Biederkeit, Verschlagenheit etc., erschienen mir mit der Zeit viel ausgeprägter, als bei Europäern, und sicherer zur Beurteilung des Individuums.« Solche Indizien für mögliche Gewöhnungseffekte werden wieder aufzugreifen sein, wenn es darum geht, die Deutungen zu den Denk- und Lebensweisen der Bewohner des afrikanischen Kontinents zu untersuchen. Zuvor gilt der Blick aber den Kolonien in Ozeanien.
3.2.1.2 Ozeanien Für die pazifischen Kolonien sollen zunächst die Deutungen zum äußeren Erscheinungsbild der Melanesier im Bismarckarchipel, auf den nördlichen Salomonen-Inseln sowie im Nordosten Neuguineas ausgelotet werden. Dabei stellt sich zugleich die Frage, inwieweit diese Fremdbilder dem zeitgenössischen Stereotyp entsprachen, wonach diese Menschengruppe als idealtypische Verkörperung des primitiven Barbaren angesehen wurde. Einschränkend ist aber zu bemerken, dass selbst in der deutschen Südseeliteratur des 19. Jahrhunderts eine einseitig negative Perzeption nicht durchgängig nachweisbar ist, vielmehr gab es durchaus relativierende Stimmen.231 Wenig schmeichelhaft, wenngleich nicht immer einheitlich fielen die Äußerungen Schnees über die melanesischen Bewohner Neuguineas aus. Aus der Beschreibung seines Erstkontakts spricht wohl nicht zuletzt Erstaunen über die ihm gänzlich fremden Menschen. So hätten die »schwarzen Kerle« von Kaiser-Wilhelmsland mit einem »LavaLava [Hüfttuch] um die Körperteile, wo es am nötigsten tut, einem ziegelrot gefärbten Haarbusch, einem dicken Rohre durch die Nase, von oben bis unten tätowiert, im Gesicht zum Teil zinnoberrot angestrichen« einen »unglaublichen« Eindruck bei ihm hervorgerufen.232 Später schrieb er allerdings an seinen Vater, er habe »selten so niedliche Kinder gesehen« wie auf Neumecklenburg und Neuhannover.233 Auch den Bewohnern der Admiralitätsinseln bescheinigte er, sie seien »zum Teil prachtvoll gewachsene Menschen« und »manchmal geradezu herkulisch gebaut«.234 Das positive Urteil galt freilich weniger den Gesichtszügen, die offenkundig nicht seinem ästhetischen Empfinden entsprachen. In Zusammenhang mit den »niedlichen« Kindern schrieb er bezeichnenderweise: »Wenn sie größer werden, geht es mit der Schönheit bergab.«235 Auch die melanesischen Frauen waren in seinen Augen schlicht »hässlich«.236 Die Deutungen Bennigsens fielen zum Teil ähnlich aus, doch bekam er auf seinen vielen Rundreisen ein größeres Spektrum an Südseebewohnern zu Gesicht. Seine kaum 231 Dürbeck, Paradiese, S. 55, 347. 232 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 23.12.1898, Schreiben; Schnee, Bilder, S. 3. 233 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.4.1899, Schreiben. 234 Ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben; Schnee, Bilder, S. 233. 235 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.4.1899, Schreiben; vgl. Schnee, Bilder, S. 233. 236 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben.
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gekürzten, im Kolonialblatt abgedruckten Berichte erwecken daher den Eindruck einer mehr oder minder systematischen Bestandsaufnahme über die in ›seiner‹ Kolonie lebenden Menschen. Dabei erschienen ihm die Bewohner des Bismarckarchipels als »schöne, hübsche Gestalten«.237 Das galt sowohl für die mitunter »perückentragenden, wundervoll gewachsenen Männer« als auch für die »zum Teil sehr schön gebauten jungen Mädchen«. Analog zu Schnee bemerkte auch Bennigsen vielerorts »hübsche vergnügte Kinder«.238 Weniger gefielen ihm die vom dauernden Betelkauen »roten Münder und die hässlichen Zahnruinen«. Gleiches galt für die häufigen Hautkrankheiten der Einheimischen.239 Aufgefallen waren ihm zudem deren Tätowierungen, ohne sich freilich über deren soziokulturelle Bedeutung tiefergehende Gedanken zu machen.240 Nicht anders als in Afrika wurden auch die Menschen Ozeaniens anhand der Art und Beschaffenheit ihrer Kleidung, des Schmucks und der Bewaffnung taxiert. Bennigsen machte dabei keine Ausnahme, doch war er ein besserer Beobachter als Schnee, der pauschal festgestellt hatte, dass die Einheimischen an der Küste meist das »um die Hüften geschlungene Tuch« tragen würden, während im Inneren »alles noch völlig nackt« umhergehe.241 Für Bennigsen schienen die Bewohner der Großen Admiralitätsinsel »in noch roherem Naturzustande zu sein, wie die der vorher besuchten Inseln.« Diese seien lediglich mit Blättern bekleidet gewesen und hätten »sehr roh gearbeitete« Waffen besessen.242 »Völlig nackt« waren ihm die Insulaner von St. Matthias begegnet, deren »Kopf mit ganz kurz geschorenem Haar […] noch nicht einmal mit Federn verziert« gewesen sei.243 Von einer Insel nahe Neumecklenburgs berichtete er ebenfalls, dass die Männer »fast sämtlich nackt« waren, »während die Weiber einen kleinen Schurz trugen, und die jungen Mädchen außerdem noch, was ich bisher nirgends in der Südsee gesehen hatte, über die Brüste kreuzweis gebundene Wülste aus Grasfasern trugen.«244 Die Kategorisierung der Menschen erstreckte sich auch auf wahrgenommene Unterschiede in Körperbau oder Gesichtsform. Solche Differenzierungen führten aber kaum zu einer wertungsfreien Wiedergabe der angetroffenen Vielfalt, sondern wiederum zu einem Ranking über den angeblichen ›Entwicklungsstand‹ der einzelnen Gruppen. Dabei spielten nicht zuletzt Nützlichkeitserwägungen eine wichtige Rolle. Beispielsweise beschrieb Bennigsen die Bewohner von St. Matthias als »schöne, schlankgebaute, aber nicht kräftige Leute«, weshalb sie ein »gutes Arbeitermaterial nicht liefern« würden.245 Dementsprechend urteilte er vermutlich nicht nur ästhetisch, dass es sich bei fünfzehn
237 238 239 240 241 242 243 244
Bennigsen, Expedition (1899), S. 700. Ebd., S. 698; ders., Bereisung, S. 633–635, 637; ders., Dienstreise, S. 640. Ders., Expedition (1899), S. 698; ders., Reise (1900), S. 758; ders., Dienstreise (1901), S. 633. Ders., Expedition (1899), S. 699. GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 10.9.1899, Schreiben. Bennigsen, Expedition (1899), S. 699f. Ders., Dienstreise, S. 639f. Ders., Bereisung, S. 633. Weitere Beispiele für Bekleidung/Nacktheit: ders., Expedition (1899), S. 698; ders., Reise (1899), S. 810; ders., French-Inseln, S. 757f.; ders., Neu-Guinea, S. 632; ders., Salomons-Inseln, S. 116. 245 Ders., Dienstreise, S. 640.
3. Deutungen des ›Andern‹
als Arbeiter angeworbenen Insulanern um »durchweg schön und muskulös gebaute Menschen« gehandelt habe.246 Andere Angaben legen Bennigsens ethnographische Interessen offen, doch äußerte sich dies wiederum in Typologisierungsversuchen. Beispielsweise glaubte er äußere Ähnlichkeiten bei den Bewohnern der Küstenstriche der Gazelle-Halbinsel ebenso feststellen zu können, wie eine engere Verwandtschaft der Menschen auf den St. Matthiasund den Admiralitätsinseln.247 Auf den French-Inseln und auf Neupommern seien die Menschen dagegen aufgrund von »Körperbau und Gesichtsform« dem »Papuatypus« zuzuordnen.248 Es wird kaum verwundern, dass derartige Feststellungen rasch in die Sphäre zeitgenössischer Rassentheorien einmünden konnten. Beispielsweise glaubte Bennigsen auf den Shortland-Inseln eine »im Niedergang begriffene, verkommene Rasse« gefunden zu haben, die »ohne die fortwährende Zufuhr des Bougainvilleblutes längst dem Aussterben nahe« sei.249 Von solchen Erscheinungen des Zeitgeistes blieb auch Bennigsens Nachfolger nicht verschont, schrieb doch Hahl über die Einwohner im Innern der Insel Bougainville in durchaus vergleichbarer Tendenz:250 »Die Leute machen einen schwächlichen, armseligen Eindruck. Der stete Kriegszustand hat sie offenbar ebenso verkommen lassen, wie die Abgesperrtheit von der See und vom Verkehr.« Auch im Hinblick auf eine Kategorisierung der Menschen ähneln Hahls Beschreibungen denen Bennigsens, zeichnen sich aber mitunter durch ein höheres Maß an Nüchternheit aus.251 Subjektive Einschübe finden sich aber auch bei ihm. Der bikman Turandawai sei beispielsweise eine »stattliche Erscheinung, hochgewachsen, breitschultrig, mit starker Muskulatur« gewesen, weshalb er ihm als »Held der Wildnis« erschienen sei. Sein Haar habe Turandawai in »langen Zotteln, die über die Stirn hereinhingen und noch die Augen beschatteten«, getragen. Wer »ihn nicht kannte«, habe deshalb einen furchteinflößenden Eindruck erhalten.252 In der Regel handelte es sich bei Hahl aber um Gruppenbeschreibungen. Die Baining aus dem Innern von Neupommern nahm er beispielsweise als unbekleidetes »Volk von Mittelgröße, dabei von ungemein kräftig entwickelter Muskulatur und lebhaft in der Bewegung«, wahr. Dabei seien sie in »Körperbau, Gesichtsbildung und Sprache […] von der Küstenbevölkerung verschieden« gewesen.253 Wenngleich in der Wortwahl zurückhaltender, erscheint auch Hahl zeittypisch, hätten ihm zufolge doch die Baining in erster Linie »der Rasse, nicht aber der Sprache nach eine Einheit« gebildet.254 Auch er vermutete eine Trennung der Melanesier in zwei Hauptgruppen, nämlich die Bewohner weiter 246 247 248 249 250 251 252 253 254
Ders., Bereisung, S. 633. Ders., Reise (1899), S. 812; ders., Bereisung, S. 640. Ders., Reise (1900), S. 756, 758. Ders., Reise (1901), S. 113. Hahl, Durchquerung, S. 1057. Ausnahme: Hahl, Reise, S. 50. Ders., Turandawai, S. 469. Ders., Reise, S. 47. Ders., Bismarck-Archipel, S. 114.
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Teile des Bismarckarchipels einerseits und diejenigen mit Schwerpunkt Neuguinea (Papua) andererseits, doch unterschied er vorrangig nach ›Stämmen‹ und – von ihm synonym benutzt – ›Rassen‹, wobei sich Hahl wiederum an der Hautfarbe orientierte.255 So seien die Papua ein »brauner Menschenschlag«, der »einheitlich in Rasse und Kultur« gewesen sei. Die Bewohner der Salomonen seien dagegen »dunkelbraun und schwarz gefärbt«, wobei im »Norden der Insel Isabel […] die Hautfarbe in lichtes Braun« übergehe.256 Bezeichnenderweise gäbe es dabei immer wieder »Beimischungen«, »stammverwandte« Gruppen und regelrechte »Mischvölker«.257 Wie weit die Kategorie ›Rasse‹ auf die äußeren Unterscheidungsmerkmale beschränkt blieb, wird noch zu klären sein.258 Am Ende dieses Abschnitts sollen noch die Wahrnehmungen der Gouverneure in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild bei den übrigen Südseeinsulanern – Mikronesier und Polynesier – skizziert werden. Das deutsche Mikronesien umfasste mit den Karolinen, Marianen und Marshall-Inseln zwar ein gewaltiges Meeresgebiet, doch waren die Landfläche der Eilande ebenso wie die Anzahl der indigenen Bewohner vergleichsweise gering. Letztere bezifferten sich auf nur etwas mehr als 50.000 Individuen.259 Im Vergleich zu anderen ›Schutzgebieten‹ besaß auch der deutsche Teil von Samoa mit etwa 33.000 Menschen eine überschaubare einheimische Bevölkerung.260 Es kam bereits zur Sprache, dass gerade Mikronesier und Polynesier seitens der Europäer wiederholt mit dem Prädikat des ›edlen Wilden‹ belegt wurden.261 Unter den Gouverneuren war es wiederum Bennigsen, der seine Wahrnehmungen über die Bewohner Mikronesiens auch schriftlich überliefert hat.262 Wie bereits bei den Melanesiern entsteht erneut der Eindruck einer Bestandsaufnahme der angetroffenen Menschen. Von Ponape über Truk bis zu den Palauinseln beschrieb er die Männer wiederum als »hochgewachsen, muskulös gebaut«, als »sehr schön, wenn auch etwas weibisch gebaut« oder von »auffallend schönem Wuchs«.263 Im Unterschied zu Melanesien fand Bennigsen positive Worte auch über die Bewohnerinnen Mikronesiens. Die »freundlich dreinschauenden Frauen und Mädchen« der Ost-Karolinen hätten ihr »langes, schwarzes, mit Blumen verziertes Haar geschmackvoll auf dem Kopfe gescheitelt« getragen, während die Frauen von Ponape mit ihrem »langwallenden schwarzen Haar und ihren schönen Figuren« sich »wohl bewusst« darüber gewesen seien, dass »sie nicht zu den hässlichsten ihres Geschlechts gehören.«264 Von Palau berichtete Bennigsen, die
255 256 257 258 259 260 261 262
Ders., Bevölkerung, S. 464. Ders., Bismarck-Archipel, S. 114. Ebd., S. 114f.; ders., Reise, S. 47f., 50. Siehe Kapitel 3.2.2.2. Schnee, Kolonien, S. 170f.; JB 1912/13 (Statistischer Teil), S. 58. Ebd., S. 59. Hiery, Einführung, S. 10, 16. Von Hahl sind mehrere Schriften über das kulturelle Leben auf Ponape vorhanden, doch sind diese zum äußeren Erscheinungsbild der Einheimischen wenig ergiebig. Das gilt ebenso für seine Memoiren. Vgl. Hahl, Mitteilungen; ders., Feste; ders., Gouverneursjahre. Ebenso wenig aussagekräftig hierzu: BA-B R 1001/2996, Bl. 91–97, Haber an RKA vom 2.6.1914, Bericht. 263 Bennigsen, Reise (1900), S. 103, 105; ders., Reise (1901), S. 449. 264 Ders., Reise (1900), S. 101, 103.
3. Deutungen des ›Andern‹
sich »zierlich und elegant bewegenden Weiber scheinen ihre gute Figur und Haltung bis in ein höheres Alter zu bewahren.«265 Regelrecht begeistern konnte er sich an dem »Häuptling Arikoko« von der Insel Korror, der »mit seinem lang wallenden weißgrauen Barte, hoher schöner Gestalt und beinahe europäischen Gesichtszügen fast den Eindruck eines alten nordischen Seehelden macht«.266 Im Gegensatz dazu hatte beispielsweise Schnee den Melanesier Toviringe, der immerhin der »mächtigste Häuptling auf der Gazelle-Halbinsel« war, lediglich als einen »alten, dreckigen Kerl« beschrieben.267 Dennoch schnitten auch in Mikronesien nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich gut ab. Bei Bennigsen traf dies besonders auf die Übergangszonen zwischen unterschiedlichen Ethnien zu. So schilderte er die Chamorros auf den Marianen, die nicht zu den Mikronesiern zählen, als klein und »schwächlich«.268 Bei den Bewohnern der Inseln im äußersten Südwesten der Karolinen glaubte er dagegen in »Gesichtszügen, Farbe und Figur solche Verschiedenheiten« zu erkennen, dass er dort ein »arges Völkergemisch, bei welchem wohl Papuablut vorherrscht«, postulierte. Aus seiner Sicht konsequent, sah er diese Insulaner daher vor allem als »wertvolles Menschenmaterial«, d.h. als Arbeitskräfte, an.269 Es wurde bereits angedeutet, dass die Samoaner fast noch positiver angesehen wurden als die Mikronesier. Auch die Gouverneure dieser kleinsten deutschen Kolonie machten dabei keine Ausnahme. Solf zufolge hätten sich die Samoaner in ihrem Äußeren ganz erheblich von allen anderen Ethnien im deutschen Kolonialreich unterschieden, weshalb man bei der Schilderung ihres Aussehens keinesfalls »an die afrikanischen Neger […] oder an die verschiedenartigen Bewohner von Südwest-Afrika oder an die Melanesier Australiens« denken dürfe.270 Entscheidend für eine solche Abgrenzung sei ihm zufolge, dass die »Farbe der Samoaner […] sowie ihr Rasse-Geruch […] bei den Weißen selten Widerwillen« hervorrufen würden.271 Wohl aus ähnlichen Gründen beanspruchte auch Schultz in seinen Memoiren »für die Polynesier im allgemeinen und für die Samoaner im Besonderen eine bevorzugte Stellung unter den farbigen Rassen«.272 Auch für Schnee, der zeitweise als stellvertretender Gouverneur in Apia fungierte, handelte es sich bei den Bewohnern dieser Inseln um »schön gewachsene, große Menschen von ebenmäßigen Gesichtszügen und bronzener Gesichtsfarbe«, wobei die Frauen »auch für europäische Begriffe schön« gewesen seien.273 Den letzteren Aspekt konkretisierte Schultz, indem er die Ehrenjungfrau eines Dorfes als »hübsches Mädchen mit viel natürlichem Charme« beschrieb.274 Auch der Landeshauptmann der Marshall-Inseln war von einigen, zeitweise dorthin deportierten samoanischen chiefs beeindruckt:275 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275
Ders., Karolinen, S. 449. Ebd., S. 448. GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 22.6.1900, Schreiben. Bennigsen, Reise (1900), S. 109; vgl. Bennigsen vom 6.3.1902, in: Verhandlungen RT, Bd. 183, S. 4637. Bennigsen, Reise (1901), S. 449. Solf, Eingeborene, S. 4. Ebd., S. 24f. Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 21. Schnee, Gouverneur, S. 36, 41. Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 93. BA-B N 2350/198, Irmer (Jaluit) an Bennigsen sen. vom 10.1.1895, Schreiben.
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»Dazu kommen die zwölf gefangenen Samoaner, gewaltige, kriegsgeübte Gestalten, die den Begriff des ›sich Fürchtens‹ nur dem Namen nach kennen. […] Ihr Auftreten ist überaus würdevoll und stolz; einer ist darunter, der wohl 6 34 Fuß misst.« Wie bereits angedeutet, handelte es sich auch in Bezug auf die Samoaner keineswegs nur um Lobgesänge. Solf bemängelte beispielsweise unter ihnen eine Häufung von Krankheiten, die das Resultat mangelhafter Hygiene gewesen seien.276 Schultz beschrieb dagegen deren Augenfarbe zwar als ein »klares, weiches, meist heiteres Schwarzbraun«, doch täusche dies den Ausdruck von Offenheit lediglich vor. Ihm zufolge sei »das Auge« des Samoaners weit weniger lesbar als des Europäers.277 Auch die Beschreibung der Menschen blieb keineswegs immer schmeichelhaft, skizzierte Schultz doch den Anblick eines älteren Samoaners folgendermaßen: »Er sah aus wie ein pensionierter Kannibale, riesengroß, steinalt, stockblind und klapperdürr –, die Jahre hatten das polynesische Fett- und Fleischpolster abgenagt.«278 Namentlich bei den langgedienten Samoa-Gouverneuren scheint gewissermaßen eine gegenläufige Form der Gewöhnung – im Sinne einer Korrektur des allzu einseitigen Klischees – wirksam geworden zu sein. Der Alltag on the spot rückte die anfängliche Idealisierung offenbar partiell zurecht. Wie noch zu zeigen sein wird, handelte es sich bei dem entstehenden Resultat aber keineswegs zwangsläufig um ein gänzlich reales Abbild der betreffenden Menschen. Insgesamt lässt sich an dieser Stelle in Bezug auf die Deutungen der äußeren Erscheinung von Afrikanern und Südseebewohnern festhalten, dass – kaum anders als bei den Landschaften – stets die eigenen Erwartungen der Gouverneure darüber entschieden, wie sie ihr Gegenüber wahrnahmen und bewerteten. Dass diese Einschätzungen in der Regel unbewusst getroffen wurden, liegt in der Natur der Sache. Prinzipiell erhielten dabei diejenigen unter den angetroffenen Menschen, die in einem mehr oder weniger beliebigen Aspekt ihres Äußeren den Erwartungen der Europäer entsprachen, eine positivere Wertung als diejenigen, bei denen das nicht der Fall war. Je mehr Ähnlichkeit ›dem Andern‹ dem Selbst gegenüber zugeschrieben wurde, desto leichter wurde es bis zu einem gewissen Grad akzeptiert. Diese Mechanismen konnten allerdings auch unerwartete Wirkungen entfalten, zog doch etwa eine als Mimikry empfundene Anpassung – in Gestalt europäischer Kleidung – mitunter das gegenteilige Resultat nach sich. Wo ein Mindestmaß an Kompatibilität zu den vorhandenen Wissensbeständen und Erfahrungen der Gruppenmitglieder nicht vorlag, wie bei den als besonders fremdartig empfundenen Ethnien der Kongo-Niger-Gruppe, bei den Herero, Nama und San oder den Melanesiern, finden sich häufig reine Typenbeschreibungen. Diese transportierten wiederum zugleich die zeitgenössischen Stereotypen und Klischees. Allerdings konnte gezeigt werden, dass einige Gouverneure dennoch den Versuch einer mehr oder weniger sachlichen Wiedergabe des optisch Wahrgenommenen unternahmen. Wenngleich dabei auch zweckrationale Beweggründe kaum verhüllt zutage traten, fand doch mitunter eine Differenzierung zwischen den einzelnen lokalen oder regionalen Gesellschaften statt.
276 Solf, Eingeborene, S. 14. 277 Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 140. 278 Ebd., S. 144.
3. Deutungen des ›Andern‹
Weder die Menschen in Afrika noch diejenigen in Ozeanien wurden in den ausgewerteten Zeugnissen der Gouverneure ausschließlich als amorphe Masse wiedergegeben. Neben der durchaus thematisierten Vielfalt finden sich oft Skizzen zum äußeren Erscheinungsbild konkreter Individuen. Dass es sich dabei in vielen Fällen um indigene Herrschaftspersonen handelte, kann verschiedene Ursachen haben. Neben einer Elitensolidarität sind auch naheliegendere Gründe denkbar, fand doch der unmittelbare soziale Kontakt der Gouverneure mit den Einheimischen zwangsläufig vor allem auf der Ebene von Machthabern, Würdenträgern oder anderen Honoratioren statt. Auch auf diesen Aspekt wird noch zurückzukommen sein.
3.2.2 Kulturelle Praktiken und kognitive Fähigkeiten Im Folgenden richtet sich der Fokus auf die Deutungen der Denkmuster und Lebensweisen von afrikanischen und ozeanischen Menschen. Basierend auf den bisherigen Erkenntnissen soll dabei nicht zuletzt ausgelotet werden, inwieweit sich eine Intention des Fremdverstehens in den Zeugnissen der Gouverneure nachweisen lässt. Gleichzeitig steht die Frage im Mittelpunkt, ob den jeweiligen Zuschreibungen ein kulturmissionarischer oder ein sozialdarwinistischer Standpunkt zugrunde lag. Verwendeten die Mitglieder der Untersuchungsgruppe den Begriff ›Rasse‹ überwiegend zur Kategorisierung der äußeren Merkmale der angetroffenen Menschen? Oder verknüpften sie diesen Terminus mit den kulturellen Praktiken und intellektuellen Fähigkeiten? Analog zur bisherigen Vorgehensweise wird erneut nach den jeweiligen Ethnien bzw. Sprachengruppen vorzugehen sein. Dabei wird besonders auf die Äußerungen der Gouverneure zum kognitiven Potential, zu Gemütsart, Ordnungssinn und Sittlichkeitsempfinden, aber auch zu Geschicklichkeit und Aktivität der für sie ›fremden‹ Menschen zu achten sein.
3.2.2.1 Afrika Wie schon anhand der Deutungen zu ihrem Äußeren gezeigt werden konnte, wurden auch die Denk- und Lebensweisen der hier zunächst interessierenden Bewohner Westafrikas in den Zeugnissen der Gouverneure keineswegs en bloc wiedergegeben. Dass diese erneut differenzierten, lässt sich durch einige Beispiele belegen. Puttkamer beschrieb etwa die Bewohner der Landschaft Atigbe (Togo) als »außerordentlich gutmütig, entgegenkommend, arbeitsam und liebenswürdig«. Auch sei deren Hauptort wegen seiner »lebhaften Industrie in Eisen, Weberei und Färberei« der »zivilisierteste Ort des ganzen Schutzgebiets« gewesen. Zugleich lobte er den bereits erwähnten Gidi-Gidi wegen seiner »sprichwörtlichen Gerechtigkeit und Weisheit beim Schlichten von Streitfällen«. Zwar sei dieser im Sinne der von Puttkamer erwarteten Umgangsformen »ganz unerzogen« gewesen, habe aber dennoch »auffallend viel Takt« besessen und »selbst leise Anspielungen« verstanden, was eine »Seltenheit in seiner Race« darstelle. Die Tatsache, dass der damalige stellvertretende Kommissar diesen king als »großen Freund der Deutschen« einschätzte, dürfte sein Urteil maßgeblich beeinflusst haben.279 Vergleichbare Ansichten finden sich auch bei anderen Togo-Gouverneuren. Köhler bescheinigte den Menschen im Bezirk Misahöhe ein »beachtenswertes Geschick« bei der 279 BA-B N 2231/8, Puttkamer an Bismarck vom 26.4.1890, Bericht; vgl. Puttkamer, Expedition, S. 94.
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»Bebauung des Bodens«, auch seien deren Behausungen von »peinlichster Sauberkeit« gewesen. Ebenso bemerkenswert fand er, dass »der Eingeborene […] die Mühe nicht scheut, einen Teil des dichtesten Urwaldes urbar zu machen, da er wohl weiß, dass der humusreiche Waldboden bedeutend ertragfähiger ist als derjenige der Savanne.«280 Horn fand dagegen anerkennende Worte für die Bewohner von Bafilo im Norden der Kolonie und bewunderte deren »peinlich sauber gehaltene Felder«. Auch die Bewohner der Landschaft Gridji hätten eine auffällige »Gewandtheit beim Ordnen der Lasten und Einrichtung des Lagers sowie anderen schwierigeren Arbeitsleistungen« besessen.281 Ähnlich gestalteten sich manche Einschätzungen Zechs. Ihm zufolge zeichneten sich die Siade-Leute durch ihre körperliche »Gewandtheit« aus, während er eine benachbarte Gruppe als »ruhig, friedliebend und gehorsam, aber etwas furchtsam« beschrieb. Würden diese »zur Arbeit herangezogen«, dann seien sie »fleißig«. Allerdings hingen sie seiner Ansicht nach zu »sehr an der heimatlichen Scholle«, weshalb sie keinerlei »Handelsgeschäfte« betreiben würden.282 Auch bei diesen Beobachtungen handelte es sich um eigene Wahrnehmungen und keineswegs etwa um die Wiedergabe von Hörensagen, bemerkte Zech doch beispielsweise, die Bewohner der Landschaft Kabre seien in ihrem Wesen »nicht wild, wie mir oft erzählt worden war«.283 Die genannten Zitate überraschen auf den ersten Blick durch ihren mitunter wohlwollend erscheinenden Tenor. Einschränkend ist zu bemerken, dass sie sich meist auf Individuen oder kleinere Gruppen beziehen. Sahen sich die Gouverneure zu allgemeineren Aussagen veranlasst, waren diese weitaus häufiger von Stereotypen geprägt. Nicht nur Köhler vertrat beispielsweise die Ansicht, dass »Arbeitsamkeit […] nun einmal nicht zu den starken Seiten des Negers« gehöre. Das schien ihm auch ursächlich dafür zu sein, dass die »Kultivierung des Bodens nur in langsamstem Tempo vorwärts« schreite und nach wie vor weite »Landstriche im Naturzustand brach daliegen«. Dieser Stillstand sei selbst an der Bauart der Häuser abzulesen, die im Hinterland selten aus Backsteinen bestünden, da die Einheimischen die »damit verbundenen Mühen« scheuten.284 Zech beschrieb die Bewohner mehrerer Landschaften als »sehr faul« sowohl in der Landwirtschaft als auch bei der »Kautschuk-Gewinnung«. Diese »schreckliche Faulheit« führe dazu, dass sie weder ihre Heimat verlassen noch Handel treiben würden und sich deshalb gänzlich in der Hand fremder Kaufleute befänden.285 Für besonders »faul, eigensinnig und schwer lenksam [sic!]« hielt er die Basari im Nordosten der Kolonie. Obwohl er zugab, nur einen »kurzen Aufenthalt« dort gehabt zu haben, beschrieb er diese pauschal als »gewalttätig, jähzornig, räuberisch, aufbrausend«. Auch bei ihren Nachbarn seien sie »von jeher« als »schlimme Räuber« verhasst und zudem als »Trunkenbolde« bekannt gewesen, die immer wieder »zu Exzessen« neigen würden.286
280 281 282 283 284 285 286
Köhler, Reise, S. 486f. Horn, Bericht, S. 238f. Zech, Notizen, S. 95, 108. Ebd., S. 147. Köhler, Reise, S. 486f. Zech, Notizen, S. 105f. Ebd., S. 132, 135f.
3. Deutungen des ›Andern‹
Neben einem angeblichen Hang vieler Einheimischer zu Müßiggang, Alkohol und Gewalt waren sich Köhler, Horn und Zech auch über deren vermeintlichen Mangel an Wahrhaftigkeit einig. Zech bescheinigte den Basari eine ausgeprägte »Neigung zum Lügen« und behauptete, auch die Dagamba hätten eine »geringe Scheu, bewußte Lügen auszusprechen«.287 Noch allgemeiner urteilte Horn, demzufolge es zum »Charakter des Negers« gehöre, als »Zeuge sehr leicht ganz anders aus[zu]sagen […], je nachdem er von einem gestrengen Bezirksleiter oder einem wohlwollenden Missionar verhört wird.«288 Auf eine vermeintliche Neigung zum Fabulieren wies auch Köhler hin, würden die Einheimischen dadurch doch alle »Streitsachen recht in die Länge […] ziehen«.289 Die postulierten Mängel interpretierten die Gouverneure einhellig als typische Kennzeichen »unzivilisierter Volksstämme«, die man folglich »als Kinder ansehen müsse«.290 Ganz in der zeitgenössischen Milieutheorie Hippolyte Taines verhaftet, glaubten sie in erster Linie die äußeren Umstände für ein solches Verhalten verantwortlich machen zu müssen. Vor allem die günstigen Umweltbedingungen in Togo hätten es den Menschen ermöglicht, ohne größeren Aufwand landwirtschaftliche Produkte mit einem »hohen Nährwert« zu erzeugen. Dies habe den »Hang zum Nichtstun« und letztlich eine angebliche »Anspruchslosigkeit des Negers« entscheidend gefördert. Wie Kinder würden die Bewohner »nur noch von der Hand in den Mund, ohne Sorge für den folgenden Tag oder die fernere Zukunft« leben.291 Solche Postulate schienen den Gouverneuren durch die Fest- und Tanzkultur der Landeseinwohner bestätigt, wurden die Darbietungen doch meist als eine Art lärmender Kinderspiele wahrgenommen. Wenig Begeisterung zeigte etwa Köhler, der das »unvermeidliche ›play‹« als einen »gliederverrenkenden Tanz« beschrieb. Dieser werde von »monotonem, ohrenzerreißendem Gesang begleitet […], zu dem wiederum unaufhörlicher Trommelschlag den Grundton liefert«. Für den begeisterten Klavierspieler handelte es sich um einen »Höllenlärm«, den er mit viel Geduld über sich habe ergehen lassen müssen. Einzig den Empfang beim king von Kpandu bezeichnete er als »glänzendes Schauspiel«.292 Horn sah in »Spiel und Tanz« zwar eine Gelegenheit, durch »eigenen Augenschein die Leute näher kennen zu lernen und Fühlung mit ihnen zu gewinnen«. Auch sein Fazit war jedoch zweifelhafter Natur. Er meinte in den Darbietungen den Ausdruck von Freude darüber erkennen zu können, dass sich die Menschen »unter der deutschen Herrschaft wohl fühlten.«293 Angesichts ihrer Beobachtungen waren sich die Togo-Gouverneure einig, die in ihren Augen unerwünschten Denk- und Verhaltensweisen der Einheimischen ändern zu müssen. Um ein solches Unterfangen zu verwirklichen, seien die Menschen am besten »in vä-
287 Ebd., S. 135; ders., Land, S. 121f. 288 BA-B R 1001/3915, Bl. 194, Horn vom 9.7.1903, Vermerk; vgl. BA-B R 1001/3916, Bl. 112–116, Schmidt (Atakpame) an Zech vom 11.10.1903, Bericht. 289 BA-B N 2146/34, Köhler (Lomé) an König vom 30.5.1895, Schreiben. 290 Zech, Land, S. 128; BA-B R 1001/3915, Bl. 188, Horn im Oktober 1902, Vermerk. 291 Köhler, Reise, S. 486. 292 Ebd., S. 487, 489; ähnlich: LHA-SN, Nl Großherzogin Marie/32, Bl. 130–139, Mecklenburg (Lomé) an seine Mutter vom 16.10.1913, Schreiben. 293 Horn, Bericht, S. 240.
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terlicher Weise zurechtzuweisen«.294 Köhler war gleichzeitig davon überzeugt, dass der Versuch, die »den Negern angeborenen Eigenschaften« zu verändern, gerade im Binnenland »noch auf Generationen hinaus heftigen Widerstand finden« würde. Lediglich in den Küstenbezirken, wo der Kulturkontakt schon länger bestehe, sei der europäische Einfluss »bereits deutlich bemerkbar«. Diesen glaubte er als einen »erweiterten Blick« der dortigen Einwohner für ökonomische Zusammenhänge erkannt zu haben.295 Auch Schuckmann wollte bei einem Kurzbesuch in Togo die Auswirkungen eines solchen Kulturtransfers gesehen haben, hätten doch die dortigen indigenen Zollbediensteten »deutsche Ordnung« gezeigt.296 Von einem vergleichbaren Sendungsbewusstsein war auch Zech erfüllt. Beispielsweise sah er in der »unüberwindlichen Trägheit« der Adéle-Leute den »Ruin des Landes«, weshalb die Regierung »nicht nur in Ausübung ihres Rechts, sondern sogar in ihrer Pflicht handelt, wenn sie gegenüber dieser fortschreitenden geistigen und körperlichen Versumpfung Zwangsmaßregeln anwendet.«297 Eine kontrollierte Heranziehung der »im allgemeinen« auch von ihm als »intelligent und arbeitsam« eingeschätzten Togolesen hielt auch der Herzog zu Mecklenburg für angezeigt, wobei aber ein »Überheben der Eingeborenen über die Europäer« verhindert werden müsse.298 Überhaupt waren sich die Gouverneure dieser Kolonie darin einig, dass die Bewohner des Landes nur schrittweise »zu brauchbaren Menschen« erzogen werden könnten.299 Bis dieses Endziel erreicht sei, bleibe der »natürliche Gegensatz der beiden Rassen« bestehen, da dieser letztlich auf der »überwältigenden Überlegenheit der weißen Rasse als Ganzen gegenüber der farbigen in kultureller Beziehung« beruhe.300 Solche Deutungen fielen in Kamerun ähnlich aus. Auch die Ansichten der dortigen Gouverneure schwankten zwischen Pauschalurteilen und differenzierteren Einschätzungen. Seitz stellte eine außerordentliche Vielfalt in dieser Kolonie fest. Er war davon überzeugt, dass die Bewohner Kameruns »nach Rasse und Kulturstufe mindestens ebenso verschieden sind wie die Bewohner des alten Europa«. Anders als in Deutschland oft angenommen werde, handele es sich keineswegs um eine »einheitliche, auf niederer, aber ungefähr gleicher Kulturstufe stehende Menschenrasse von mehr oder minder dunkler Hautfarbe«.301 Die entscheidende Grenze verlaufe entsprechend der naturräumlichen Gliederung zwischen der Graslandzone im Norden und der Waldzone im Süden der Kolonie. Diese Linie trenne zugleich die tribalen Großverbände aus »kräftigen Bauern« im offenen Hochland einerseits von einem »chaotischen Durcheinander von Stämmen und Stämmchen« in den Tropenwäldern andererseits.302
294 295 296 297 298 299 300 301 302
BA-B R 1001/3915, Bl. 188, Horn, o.D. [Oktober 1902], Vermerk; vgl. Horn, Bericht, S. 238f. Köhler, Reise, S. 486. BA-B N 2272/4, S. 108f., Schuckmann, Tgb. (1.8.1891). Zech, Notizen, S. 106. LHA-SN Nl Großherzogin Marie, Nr. 32, Bl. 161, Tägliche Rundschau vom 16.5.1913, Interview des Herzogs zu Mecklenburg. Horn, Bericht, S. 238f. BA-B R 1001/4775, Bl. 28–30, Zech (Lomé) an Octaviano Olympio vom 29.6.1909, Bescheid. Seitz, Aufstieg 2, S. 47f. Ders., Verhältnisse, S. 328.
3. Deutungen des ›Andern‹
Dementsprechend wurden die Graslandbewohner von Puttkamer, Seitz und Ebermaier stets idealisiert dargestellt. Ihren Einschätzungen zufolge kennzeichnete die »unbedingte Autorität des Häuptlings, dem alles Eigentum gehört« die gesellschaftliche Ordnung dieser Ethnien signifikant und lieferte zugleich den Beleg, dass »hier der Bantu aufhört«.303 Im Fokus der Gouverneure standen besonders die dortigen »Oberhäuptlinge«. Seitz zufolge habe es sich besonders bei Ibrahim Njoya von Bamum und dem VuteMachthaber Ngrté keineswegs um »Kinder, sondern [um] berechnende Männer, die häufig besser wissen, was sie wollen, als der andere [europäische] Teil«, gehandelt.304 Njoya bezeichnete er als »einen der besten Eingeborenen, die ich kennengelernt habe«, sei dieser doch ein »Mann voller Takt, mit einer angeborenen Würde« gewesen.305 Ob die Charakterisierung ebenso wohlwollend ausgefallen wäre, wenn dieser sich nicht »bei der Bekanntschaft mit den Europäern auf Seite der letzteren gestellt« hätte und auch dauerhaft »bei der Stange geblieben« wäre, muss allerdings bezweifelt werden.306 Waren die Herrschaftsgebilde der Graslandzone erst einmal unterworfen und in das koloniale Herrschaftssystem integriert, erleichterten sie eine Kontrolle der weiten Landstriche erheblich. Die Autorität der ›Oberhäuptlinge‹ beschränkte sich in der Folge nur noch auf ›innere‹ Angelegenheiten. Wer es dagegen nicht verstand, sich »geschickt den Verhältnissen anzupassen«, wurde kurzerhand in »Ehrenhaft« genommen und durfte bei repräsentativen Anlässen nur noch als farbenprächtige Staffage auftreten.307 Das galt beispielsweise für Ngrté. Seitz beschrieb in seinem Tagebuch ein solches Spektakel, das er anlässlich seiner Huldigung durch die indigenen Würdenträger der Umgegend von Yaundé inszenieren ließ:308 »Voraus speerschüttelnd die Schildträger, hinter ihnen die Häuptlinge in Haussah-Gewändern zu Pferd, umgeben von Gewehrträgern. Darunter als Führer der Wute’s die Prachtgestalt des alten Ngutte [Ngrté], der zu Pferd saß wie ein Jüngling. Im Hintergrund die Weiber u[nd] Jungens, die Krieger anfeuernd, mitunter in einer Art Tanzschritt, die Beine weit hinten hinaus werfend, durch die Reihen eilend. […] Zum Schluss kam der alte Ngutte [Ngrté] an unsere Wagen geritten, schüttelte ein Bündel Speere u[nd] sagte: ›Wenn Ihr nicht hier wärt, der ganzen Gesellschaft hierum – er meinte die tausende von Zuschauern, Jaunde’s etc. – hätten wir den Garaus gemacht.‹ Sic transit gloria mundi. Noch sind es nicht zwanzig Jahre her, dass [Curt] Morgen vor Ngutte [Ngrté] auf der Erde saß u[nd] um die Erlaubnis bat, durch sein Land ziehen zu dürfen
303 Puttkamer, Inspektionsreise, S. 383 (Zitate); vgl. BA-B R 1001/1029, Bl. 97–105, Haber (Entebbe) an Gouvernement in Daressalam vom 30.6.1904, Bericht. Dort finden sich auf Kamerun bezogene Randvermerke Ebermaiers. 304 Seitz, Verhältnisse, S. 327. 305 Ders., Aufstieg 2, S. 40, 48, 82, 84–87. Zu Ibrahim Njoya und Ngrté: Hausen, Kolonialherrschaft, S. 150f.; Hoffmann, Okkupation 1, S. 242f. 306 Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 42 (Zitate). 307 Seitz, Aufstieg 2, S. 51. 308 BA-K N 1175/3, Bl. 14–19, Seitz, Tgb. (25.8.1908); vgl. Seitz, Aufstieg 2, S. 80f. Morgen hatte zwischen 1889 und 1896 mehrere Expeditionen zur Eroberung des Binnenlandes geleitet. Zu den Kriegsspielen der Vute auch: Puttkamer, Inspektionsreise, S. 383.
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u[nd] jetzt sitzt der alte Despot in Ehrenhaft in Jaunde u[nd] betrachtet es als letzte Freude, wenn er seine Landsleute dem Gouverneur im Kriegsspiel vorführen kann.« Zwar wähnte sich Seitz durch die bei dieser Gelegenheit eintreffenden Grasland-Chiefs »an die englischen Großen, wie sie in Shakespeare’s siebten Heinrich mit ihren verschiedenen Feldzeichen in London einziehen«, erinnert, und auch Puttkamer zeichnete den Vute-chief Dandugu Mango als einen »jungen bildschönen Häuptling«, der einen »intelligenten, günstigen und zuverlässigen Eindruck« hinterlassen habe.309 Dennoch spricht aus diesen Äußerungen stets das oberflächliche Wohlwollen der sich selbst überhöhenden Herren gegenüber unterworfenen, keineswegs als gleichwertig anerkannten Vasallen. Wo solche Strukturen mit einflussreichen indigenen Ansprechpartnern fehlten, änderte sich der Ton ohnehin meist ins offen Negative. Seitz sah die Gegenden Südkameruns lediglich als Raum, in dem die »primitivsten Anfänge staatlicher Organisation« fehlten und deshalb ein »Kampf aller gegen alle« stattfinde.310 Als ursächlich galten auch für ihn die natürlichen Umweltbedingungen. In den schwer zugänglichen Sumpfund Urwaldgegenden seien die Menschen seit Jahrhunderten einem »dumpfen Dahindämmern« ausgesetzt gewesen und hätten sich daher zu »scheuen, menschenfressenden Jammergestalten« entwickelt.311 Dieser Lesart zufolge bedingten sich natürliches ›Chaos‹ und die vermeintliche ›Kulturlosigkeit‹ der dort lebenden Menschen wechselseitig. Aus seiner Sicht konsequent, vermutete Seitz, dass der Kannibalismus eine Folge des Mangels an Wild und Vieh gewesen sei, während Puttkamer die Ansicht vertrat, in diesen Regionen könne schlicht von »irgendeiner regelrechten Felderbestellung […] keine Rede« sein:312 »[…] der Mann arbeitet überhaupt nicht, sondern treibt, wenn es hoch kommt, etwas Handel, zu dem aber die Weiber die Träger liefern; im übrigen faulenzt er oder führt Kriege mit seinen Nachbarn. Die Weiber werden an irgendeine beliebige Stelle des Waldes geschickt, wo sie auf einer kümmerlichen Lichtung den Boden etwas aufkratzen und gerade so viel Jams, Kassada, Makabo und Planten bauen, wie die Familie zur Ernährung braucht […].« Diese »Art von systematischer Verwüstung des Landes« war in seinen Augen »vollkommen kulturfeindlich« und habe nur deshalb keine tiefgreifenden Auswirkungen, weil das Land so weitläufig und kaum besiedelt sei.313 Während Puttkamer lediglich ein einziges Mal die Ausläufer der Tropenwaldzone persönlich bereist hatte, konnte Seitz zwei ausgedehnte Rundreisen in den Süden der Kolonie vorweisen.314 Dabei habe er nirgends sonst eine »körperlich und geistig so tief-
309 310 311 312 313 314
BA-K N 1175/3, Bl. 14–19, Seitz, Tgb. (25.8.1908); Puttkamer, Inspektionsreise, S. 383. Seitz, Verhältnisse, S. 328; ders., Aufstieg 2, S. 49. Ebd., S. 48–50. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 103f. Ebd., S. 103. Ders., Inspektionsreise, S. 379–384.
3. Deutungen des ›Andern‹
stehende Bevölkerung gefunden«.315 Er verstieg sich schließlich zu der Behauptung, ihm seien die Bewohner dieser Gegenden, »je weiter nach Osten um so stumpfsinniger, um nicht zu sagen tierischer« vorgekommen.316 Durch seine Wahrnehmungen vor Ort fühlte er sich in seinen Ansichten immer wieder bestätigt. Beispielsweise hatte er in Ebolowa mit einigen chiefs ein »big palaver« veranstaltet, bei dem er den »schwarzen Mitbürgern vergeblich klar zu machen [suchte], dass es Blödsinn sei, unreife Mädchen zu verhandeln«:317 »Da sie nicht verstehen wollten, habʼ ich es einfach verboten. Ebenso habʼ ich verboten, untreue Weiber tot zu schlagen, was die Herren für ihr gutes Recht erklärten, besonders, wenn sich die Weiber mit Missionszöglingen eingelassen hätten. Nette Zustände!« Zehn Monate später verhandelte er am selben Ort mit »ein paar hundert Bulus«, wobei er erneut den Eindruck gewann, »alles dreht sich bei diesem Volk um den Schnaps u[nd] die Weiber.«318 Nichtsdestotrotz war Seitz auf der individuellen Ebene durchaus in der Lage, Unterschiede wahrzunehmen, wenngleich am Ende stets ein mehr oder minder ausgeprägtes Maß an Geringschätzung stand. Als Beispiel lässt sich etwa seine Beschreibung einer einheimischen Frau anführen, die den Gouverneur anstelle ihres Gatten empfangen hatte. An seine Ehefrau gerichtet, schrieb Seitz in sein Tagebuch:319 »Die Dame mag zwischen 30 bis 40 Jahren sein, trägt zum Unterschied von andern Bulu-Weibern europäische Kleidung, ein grün-bläuliches Kostüm, die Bluse mit Bausch unter der Brust, rote Schärpe u[nd] denke Dir Liebste, ein englisches Hütchen am Kopf, ganz wie Dein Reithut. Mich amüsierte die Dame, die zwar hässlich ist, aber ein halb gutmütiges halb schlaues Gesicht hatte u[nd] ihres Amtes mit Umsicht u[nd] Energie waltete. Ich traute mich aber nicht in ihre Nähe, sondern ließ v. P[uttkamer] mit ihr verhandeln, denn ich hatte den entfernten Eindruck, als ob sie ihr Berliner Kostüm so liebe, dass sie es seit seiner Besitznahme noch nicht wieder ausgezogen hat. Immerhin sah sie einigermaßen menschlich aus […].« Eine abweichende Sicht vertrat offenbar Seitzʼ Nachfolger, der mit ihm befreundete Gleim. Dieser berichtete nach einer Reise in den Süden Kameruns, dort durchweg eine »starke und intelligente Bevölkerung« angetroffen zu haben.320 Besonders aufschlussreich für die unterschiedlichen Deutungsmuster ist Gleims Beurteilung der Maka. Zwar seien diese eine »jetzt noch tiefstehende« Ethnie gewesen, doch glaubte er in ihnen ei-
315 316 317 318 319
Seitz, Aufstieg 2, S. 49. BA-K N 1175/2, Bl. 15–17, Seitz, Tgb. (15.7.1908). BA-K N 1175/1, Bl. 17f., Seitz, Tgb. (7.9.1907). BA-K N 1175/2, Bl. 9, Seitz, Tgb. (7.7.1908). Ebd., Bl. 15–17, Seitz, Tgb. (15.7.1908). Bei dem erwähnten Puttkamer handelt es sich nicht um den Gouverneur, sondern um Seitzʼ Adjutanten Jesco v. Puttkamer (1876–1959). 320 Gleim, Reise, S. 484. Besonders die Bewohner der Bezirke Yaundé, Akonolinga und Ebolowa hätten sich durch ihre »Intelligenz und Rührigkeit« ausgezeichnet. Vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 153.
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nen »sehr entwicklungsfähigen […] Volksstamm« erkennen zu können.321 Ausgerechnet über dieselben Maka vertrat Seitz die Ansicht, es gäbe unter ihnen »Individuen, in deren Augen man vergebens einen Funken menschlichen Fühlens suchte.«322 Einig waren sich beide Gouverneure aber darin, dass die Umwelteinflüsse für das kulturelle Niveau der Menschen verantwortlich zeichneten.323 Die Yaundé stellten nicht nur bei Gleim, sondern auch in den Zeugnissen von Seitz, Puttkamer und Zimmerer eine mehr oder minder positive Ausnahme unter den Waldlandbewohnern dar. Den Ausschlag gaben dabei ähnliche Gründe wie bei der Beurteilung der Graslandbevölkerung. Nach übereinstimmender Ansicht hätten sich die Yaundé rasch den kolonialen Machtverhältnissen angepasst, weshalb aus ihnen »sehr bald ein Volk gerissener Händler und tapferer Soldaten geworden« sei.324 Diese zugeschriebene Anpassungsfähigkeit spiegelt sich beispielsweise in einer Versammlung »sämtlicher Jaunde-Häuptlinge« im August 1907 wider. Seitz konstatierte dabei knapp, er habe mit diesen ein »gutes Palaver« gehabt.325 Die Yaundé wurden dennoch keineswegs nur wohlwollend beurteilt. Beispielsweise werden deren Behausungen mitunter als »verlaust, ganz u[nd] gar verunreinigt« beschrieben, wobei vor allem die Unterkünfte der Soldaten dieser Ethnie ein »Dorado schwarzer Weiber« gewesen seien. Ohne Aufsicht durch ihre europäischen Offiziere seien sie zudem undiszipliniert im Lande umhergezogen und hätten die übrige Bevölkerung drangsaliert, die dann häufig in die Wälder geflüchtet sei.326 Von ähnlichen Vorgängen berichtete der Herzog zu Mecklenburg aus dem äußersten Norden der Kolonie.327 Dort glaubte er ebenfalls »primitive Volksstämme« vorgefunden zu haben, die über keine »einflussreichen Häuptlinge« verfügt hätten.328 Die Tatsache, dass die Menschen bei Annäherung seiner Expedition »aus allen Dörfern […] in Scharen« flohen, »als säße ihnen der Teufel im Genicke«, führte er allerdings zutreffend auf die »Art, wie sie behandelt werden« zurück.329 Seine Amtskollegen vermuteten bei derartigen Reaktionen dagegen in der Regel ein »böses Gewissen« aufgrund vermeintlicher Verfehlungen der Einheimischen.330 Dass mancher Gouverneur diesen durchaus mit einem Mindestmaß an Offenheit begegnen konnte, belegen einige Äußerungen Zimmerers. Er besuchte im Frühjahr 1893 die Bewohner der Umgebung von Buea, die sich knapp eineinhalb Jahre zuvor ein Gefecht mit Schuckmann und dem Truppenführer Gravenreuth geliefert hatten.331 Rasch
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Gleim, Reise, S. 484f.; vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 156f. Seitz, Aufstieg 2, S. 48. Ders., Verhältnisse, S. 326; Gleim, Reise, S. 484. Seitz, Aufstieg 2, S. 50; Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 208; vgl. Gleim, Reise, S. 484; Zimmerer, Verhältnisse, S. 16. BA-K N 1175/1, Bl. 10f., Seitz, Tgb. (2.9.1907). Ebd.; BA-K N 1175/3, Bl. 1–4, Seitz, Tgb. (23.7., 26.7.1908). Mecklenburg, Kongo 1, S. 105. Ebd., S. 139. Ebd., S. 139, 142. BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (29.8.1891); Puttkamer, Inspektionsreise, S. 381. Siehe hierzu Kapitel 4.3.2.
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war Zimmerer davon überzeugt, dass die Ursache des damaligen Konflikts auf das Verhalten eines Europäers zurückzuführen sei, der vereinbarte »Weibermieten« nicht habe bezahlen wollen und daraufhin um militärischen Beistand gegenüber seinen indigenen Gläubigern nachgesucht hatte. Auch die »Befangenheit der Eingeborenen« wusste Zimmerer mit diesen Ereignissen in Verbindung zu bringen.332 Nichtsdestotrotz standen auch bei ihm kulturmissionarische Erwägungen im Vordergrund. Über die Vorgänge im Binnenland konnte Zimmerer mangels zuverlässiger Informationen zwar lediglich mutmaßen, doch glaubte er, dass bei »vielen Stämmen im Innern […] der Kriegszustand oft bloß darin zu beruhen [scheint], dass sie sich gegenseitig Leute abfangen und als Sklaven verkaufen.«333 Ein wirksames Gegenmittel sah auch er darin, dass man die Menschen »zur Arbeit erzieht.« Dabei ging er davon aus, dass die »große Mehrzahl der so arbeitsscheuen Eingeborenen […] schon jetzt das Vorurteil abgelegt [hat], als ob Arbeit entwürdigt, und wird es mit der Zeit allgemein tun.«334 Nach wie vor war allerdings auch er der Ansicht, dass es in der »Natur aller Schwarzen« liege, von ihrem Gegenüber »möglichst viele Vorteile […] erpressen« zu wollen.335 Einen weiteren Indikator für den vermeintlich niedrigen Kulturstand der Einheimischen glaubte er darin erkennen zu können, dass »in Bezug auf Rechtlosigkeit […] die Frauen den Sklaven nahezu gleich« wären. Seine Anordnung zur »rechtlichen Gleichstellung der Frauen mit den Männern als Prinzip« hätte jedoch Widerspruch hervorgerufen, da sich die männlichen Einheimischen »mit dieser neuen Ordnung der Dinge nicht aussöhnen« wollten. Auch Zimmerer war davon überzeugt, dass erst die »heranwachsende Generation […] das als selbstverständlich annehmen [wird], wogegen sich die Alten noch sträuben.«336 Sein Selbstverständnis als Kolonisator trat letztlich zutage, da auch er die »nachdrückliche Züchtigung« als probates Mittel ansah, falls die Einheimischen seinen Versuch, sie »in Güte […] zum Gehorsam zu bringen« ausschlugen.337 Am Beispiel der Bakwiri glaubte auch Puttkamer den vermeintlichen Nutzen seiner kolonisatorischen Betätigung demonstrieren zu können. Dabei vertrat er das Postulat, einer Beschäftigung auf den Plantagen der Europäer käme bei den »faulen Bakwiri« ein »ungemein erzieherischer Wert« zu. Erst durch »regelmäßige Arbeit« werde ihnen die »Art und Weise« vermittelt, »auf welche sie allein das ihnen zugewiesene und nunmehr gehörige Land nutzbringend bewirtschaften« könnten. Zwar suchte Puttkamer mit solchen Äußerungen gleichzeitig sein Regierungsprogramm zur Förderung der Plantagenwirtschaft zu rechtfertigen. Er war aber davon überzeugt, dass »Negererziehung« nur mittels eines Zwangs zu regelmäßiger Arbeit möglich sei.338 Wie die meisten seiner Gouverneurskollegen begriff auch er eine solche ›Erziehung‹ als kulturmissionarische Tat.339 Auch Schuckmann war als stellvertretender Gouverneur mit den Bewohnern des Kameruner Küstenstreifens in Berührung gekommen. Wie seine Togoer Amtskollegen 332 333 334 335 336 337 338 339
BA-B R 1001/4284, Bl. 125–133, Zimmerer an KA vom 9.4.1893, Bericht. Zimmerer, Verhältnisse, S. 15. Ebd., S. 15f. BA-B R 1001/4284, Bl. 125–133, Zimmerer an KA vom 9.4.1893, Bericht. Zimmerer, Verhältnisse, S. 15. Ders., Bestrafung, S. 341. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 105, 308. Hierzu allgemein: Fiedler, Abenteuer, S. 205, 290; Gründer, Stellenwert, S. 34.
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glaubte er feststellen zu können, dass den Menschen dort »alles in den Mund« wachse und sie deshalb nur wenig arbeiten müssten.340 Unter Bezugnahme auf heimische Vorstellungen folgerte der ostelbische Gutsbesitzersohn: »Man muss sehr streng sein hier, wenn man sich Respekt verschaffen will.«341 Glaubt man seinen Aufzeichnungen, war er bald »unter den Schwarzen schon so gefürchtet, dass die Kerls kaum etwas anderes herausbekommen als ›I fear you Governor‹«. Zufrieden stellte er fest: »Wo ich mich sehen lasse, laufen und arbeiten die Kerls, dass es nur so raucht.«342 Ebenso freute er sich über eine Gesangsdarbietung von Missionsschülern, die »famos in Zucht« gewesen und bei seinem Eintreffen »wie Soldaten« aufgesprungen seien.343 Selbst Schuckmanns Deutungen waren aber nicht immer eindimensional. Beispielsweise rief eine »sehr selbstbewusst und energisch« auftretende »Frau eines Headman« durchaus wohlwollende Äußerungen bei ihm hervor. Er schilderte die Frau als mit einem Kostüm bekleidet und mit wertvollem Goldschmuck versehen. Besonders amüsierte ihn, dass diese beim Wareneinkauf ihren Gatten »nicht eher losließ, als bis er gehörig geblecht hatte«.344 Wenig schmeichelhafte Urteile seitens der Gouverneure bezogen sich besonders auf die Duala, die – in mehrere Dorfgemeinschaften untergliedert – unmittelbar an der Küste in und um den gleichnamigen Hafenort und langjährigen Gouverneurssitz lebten.345 Die Kolonialverwaltung unterhielt mit ihnen daher den längsten und wohl auch unmittelbarsten Kontakt. Eine Sammlung der Zeugnisse der betreffenden Gouverneure ergibt ein wenig sympathisches Bild. Bereits für den ersten Kommissar von Kamerun, Max Buchner, zeichneten sich die Duala durch »Aufgeblasenheit, Jähzorn und Rachsucht, Neigung zu Raub und Gewalt« aus, dazu kämen eine ausgeprägte Faulheit bei der Feldbestellung und ein Hang zu Wuchergeschäften. Für Buchner zählten sie daher »zu den schlechtest erzogenen Halbwilden, die der Erdball kennt«.346 Diese Negativskizze zieht sich als roter Faden durch die Äußerungen seiner Nachfolger. Am weitesten ging dabei Puttkamer in seiner Rechtfertigungsschrift aus dem Jahr 1912. Darin bezeichnete er die Duala zwar als vielseitig begabt, doch sprach er ihnen gleichzeitig alle »brauchbaren Charaktereigenschaften« ab, seien sie doch das »faulste, falscheste und niederträchtigste Gesindel, welches die Sonne bescheint«.347 Dabei steigerte er sich schließlich zu der Aussage, »es wäre sicher am besten gewesen, wenn sie bei Eroberung des Landes im Jahre 1884, wenn nicht ausgerottet, so doch außer Landes gebracht worden wären. Leider ist das damals versäumt worden und jetzt ist es natürlich zu spät.«348
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BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (1.9.1891). BA-B N 2272/4, S. 115f., Schuckmann (Kamerun) an seine Ehefrau vom 28.8.1891, Schreiben. Ebd. BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (28.8.1891). BA-B N 2272/4, S. 102, Schuckmann, Tgb. (26.7.1891). Allgemein zu den Duala: Hausen, Kolonialherrschaft, S. 157–160; Eckert, Duala. In den ersten Jahren der deutschen Kolonialherrschaft hieß der Ort ›Kamerun‹, ehe er 1901 in Duala umbenannt wurde. ANY FA 1/48, Puttkamer vom 17.5.1901, Erlass. 346 Buchner, Kamerun, S. 22–24; ders., Aurora, S. 323. 347 Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 51f. (Zitat), 27, 130f., 143, 189f. 348 Ebd., S. 51f.
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Zweifellos sprach aus diesen Worten der blanke Hass, war doch eine Petitionsschrift einiger Duala-chiefs einer der Auslöser für seine Absetzung als Gouverneur gewesen.349 Allerdings hatte Puttkamer schon zuvor mehrere Zeugnisse seiner geringen Meinung über diese Küstenbewohner geliefert. Beispielsweise schrieb er im Dezember 1897 privatim an den Legationsrat König, er sei froh, dass seine Stationsleiter sich nicht mit »DuallaHuren abgeben, die ihnen regelmäßig scheußliche Geschlechtskrankheiten zuziehen« würden. Zugleich äußerte er, dass auch die jugendlichen Duala eine »faule, unbrauchbare und verlogene […] Bande« seien, die »nun einmal nicht arbeiten« wolle.350 Dem Vorurteil einer ausgeprägten ›Faulheit‹ der Duala konnte sich auch Zimmerer nicht entziehen. Ihm zufolge hätten »einzelne Duallas« andere arbeitende Einheimische »wegen ihrer ›sklavenwürdigen‹ Beschäftigung […] verhöhnt«.351 Lediglich sein Vorgänger Soden hatte im Sommer 1886 festgehalten, dass man »bis zu einem gewissen Grade die landläufige Meinung [als] widerlegt« ansehen müsse, »als ob der Eingeborene unter keinen Umständen zu irgend einer körperlichen Arbeit zu bewegen sei«. Allerdings schränkte er diese Feststellung zugleich ein, hielt doch auch er eine »stetige Anleitung und Aufsicht und unaufhörliche Palaver« für unerlässlich.352 Auch Seitz betonte einerseits, dass die Küstenbewohner durchaus »tüchtige Leute« mit einer »angeborenen Schlauheit« seien, doch klagte er andererseits, er habe »mit den Herrn Dualas […] fortgesetzt Scherereien«, da diese nicht nur hochmütig seien, sondern als »geriebene« Händler stets nur ihren Vorteil im Blick hätten.353 Zwar seien die Duala nicht ohne weiteres mit »Kindern« gleichzusetzen, doch stünden sie keineswegs auf Augenhöhe mit Europäern, vielmehr bedürften auch sie der »Erziehung des Negers«.354 Ohnehin hatte sich deren schlechter Ruf inzwischen soweit verfestigt, dass selbst Gouverneure ohne eigene Kamerun-Erfahrungen diese Vorurteile transportierten, schrieb doch beispielsweise Solf an seinen Stellvertreter in Samoa: »Das Allerungeheuerlichste ist aber, dass man Puttkamer auf Grund der Beschwerde des versoffenen Kings Aqua zurückgerufen hat.«355 Die Eindrücke der Kamerun-Gouverneure ergeben ein Bild, das mit dem ihrer Kollegen in Togo praktisch deckungsgleich ist. Trotz ihrer zum Teil recht vielschichtigen Deutungen und ihren Absichtserklärungen, Pauschalisierungen vermeiden zu wollen, blieben sie häufig in ihren mitgebrachten Vorurteilen befangen. Das belegen insbesondere die vielen generalisierenden Zuschreibungen, die eine angebliche »Oberflächlichkeit des Charakters«, einen »ausgeprägten Sinn für Äußerlichkeit«, eine latente »Indolenz« und »Faulheit« als unumstößliche Tatsachen darstellen. Dies mündete in das generelle Postulat, dass man es bei den Indigenen mit »primitiven Völkern« zu tun habe.356 Vorherrschend war letztlich wiederum die patriarchalische Sichtweise, wonach »die Neger, ehe
349 350 351 352 353
Siehe Kapitel 4.3.2. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Buea) an König vom 9.12.1897, Schreiben. Zimmerer, Verhältnisse, S. 16. BA-B R 1001/4282, Bl. 26–30, Soden (Kamerun) an Bismarck vom 30.7.1886, Bericht. HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142 Bü 765, Seitz (Buea) an Hohenlohe-Langenburg vom 8.1.1908, Schreiben; Seitz, Verhältnisse, S. 327; ders., Aufstieg 2, S. 43f. 354 Seitz, Verhältnisse, S. 327. 355 BA-K N 1053/132, Bl. 70–78, Solf (Berlin) an Schultz vom 18.8.1906, Schreiben. 356 Seitz, Verhältnisse, S. 327, 332; ders., Aufstieg 2, S. 3, 39, 114.
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sie wirklich zuverlässige Untertanen werden, unter allen Umständen erst einmal blutigen Ernst fühlen wollen und auf die Dauer nur dem gehorchen, der sie im Kampf besiegt hat.« Erst wenn das geschehen sei, könne man diese »mit der größten Freundlichkeit und Milde behandeln und zu brauchbaren Menschen erziehen.«357 Auch zu den Menschen in Deutsch-Ostafrika liegt eine Vielzahl von Äußerungen deutscher Gouverneure vor. Diese gilt es im Folgenden zu analysieren. Das Spektrum ähnelt in vielerlei Hinsicht dem der westafrikanischen Kolonien, doch sind auch einige Abweichungen erkennbar. Erneut finden sich bei einigen Gouverneuren vergleichsweise positive Bewertungen. Den südlich des Victoria-Sees ansässigen Wassumbwa diagnostizierte beispielsweise Götzen nicht nur eine gute »Auffassungsgabe« und hohe »Anpassungsfähigkeit«. Er sprach diese zugleich als ein »hochintelligentes und vor Allem entwicklungsfähiges Volk« an.358 Als »intelligenten Volksstamm« beschrieb er auch die in derselben Gegend lebenden Waschirombo.359 Ähnliche, zumindest auf den ersten Blick anerkennende Worte finden sich selbst bei einem Hardliner wie Liebert. Wie bereits ausgeführt, war der Berufsoffizier angesichts des äußeren Erscheinungsbildes der Hehe angetan, obwohl diese doch wenige Jahre zuvor der ostafrikanischen Schutztruppe ihre größte Niederlage zugefügt hatten.360 Bei seiner Begegnung mit ihnen war Liebert erstaunt über ihre »Mannszucht«. Als geborene Krieger hätten sie zwar »rauhe Seelen«, doch will er sie dennoch »liebgewonnen« haben.361 Generell waren sie in seinen Augen zwar ein »tiefer stehender Feind«, doch erinnerten sie ihn zugleich an die »Abenteuer von Chinchachgook, Mahua und des letzten Mohikaners«, was in diesem Fall auf eine idealisierte Wahrnehmung als ›edle Wilde‹ hinweisen könnte.362 Es fällt auf, dass Schele gemäß seines analogen Wertekanons die Hehe zum Teil ähnlich beurteilte, lobte er sie doch ebenfalls als »kriegerisch und tapfer«.363 Sowohl Liebert als auch Schele waren aber auch weniger kämpferischen Gesellschaften gegenüber zu wohlwollenden Urteilen fähig. Liebert gestand etwa den Wakumi ein gewisses Maß an »Intelligenz und Arbeitsamkeit« zu.364 Über seinen Besuch auf der Insel Schole berichtete er, dass er diese in Begleitung der »vornehmen Häupter der uralten gediegenen Edelgeschlechter« durchwandert habe.365 Schele fand dagegen unter den östlich des NyassaSees ansässigen Gesellschaften »vorzügliche Ackerbauer[n]«, auch habe er dort »allenthalben […] die fleißige Hand des Menschen« erkannt.366 Zwar seien ihm bei den Mafiti
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Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 42, 67; vgl. BA-K N 1121/13, S. 12, Gustedt, Kamerun. Götzen, Afrika, S. 82f. Ebd., S. 76. Zu dieser sogenannten Schlacht bei Rugaro (17.8.1891): Arnold, Schlacht, S. 94–113; Morlang, Wahehe, S. 82f. Liebert, Tage, S. 23f., 30f. Ebd., S. 27, 30, 36f. Schele, Uhehe, S. 71. Liebert, Reise, S. 620; vgl. Liebert vom 18.3.1908, in: Verhandlungen RT, Bd. 231, S. 4069. BA-B R 1001/237a, Bl. 67, Liebert (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 21.4.1897, Bericht. Schele, Bericht, S. 228f.
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auch »räuberische Gewohnheiten« aufgefallen, doch wären ihm diese meist »freundlich und friedliebend« gegenübergetreten.367 Ähnliche Äußerungen finden sich bei Wißmann. Dabei verwundert am wenigsten, dass der damals noch junge Offizier den Warlord Mirambo als den »bedeutendsten Neger« bezeichnete, »dem ich in Afrika begegnet bin«.368 Zwar lassen solche Bemerkungen keine Zweifel aufkommen, dass er seinem Gegenüber jede Gleichwertigkeit verweigerte, doch fiel Wißmanns Beschreibung vom Wesen des Mannes durchaus günstig aus:369 »Bescheiden, fast schüchtern war sein Wesen, mild seine Sprache […]. Es hätte kaum Jemand in diesem ruhigen Mann den großen Krieger, der Ostafrika erzittern machte, erkennen können.« Ebenso positiv äußerte sich Wißmann über dessen engsten Ratgeber, den er als einen »sehr feinen Diplomaten« einschätzte. Von den in seinen Augen wenig disziplinierten Kriegern, den Ruga Ruga, hielt er dagegen wenig und bezeichnete sie als »raub- und kriegslustiges Gesindel«.370 Namentlich über die ihm persönlich näherstehenden Individuen konnte Wißmann durchaus detailreiche Skizzen entwerfen. So erzählte er von seinem Dolmetscher namens Kashawalla, der zwar genusssüchtig und von »phänomenaler Feigheit« gewesen sei. Auch habe dieser sich im Zustand der Trunkenheit mitunter zu aufbrausenden Reden hinreißen lassen, so dass er einem »schwarzen Ajax glich«. Andererseits sei Kashawalla ihm gegenüber »durchaus ehrlich« und wegen seines »großartig entwickelten Sprachtalents« ein »unschätzbar« wertvoller Begleiter gewesen. »Mit viel natürlichem Witz begabt«, »europäische[m] Geschmack« und viel »Gutherzigkeit« schätzte er ihn zugleich als »recht unterhaltenden Gesellschafter«.371 Noch vorteilhafter beschrieb Wißmann eine einheimische Führerin. Seinem Reisebericht zufolge schätzte er an der »alten Dame« besonders, dass sie »in ihrem Äußeren durchaus etwas Distinguiertes« gehabt habe. Auch habe sie es verstanden, »geschickt und freundlich alle Leute auszufragen, Misstrauen zu beschwichtigen, Streit zu verhindern«. Wißmann zufolge habe »unsere liebenswürdige Führerin« eine Ausstrahlung besessen, die »uns vergessen ließ, dass wir nur eine halbbekleidete Negerin aus dem wilden Innern vor uns hatten«. Er sei ihr daher gegenübergetreten, »wie einer älteren Dame in unserer Heimat.«372 Die Summe dieser Beispiele belegt erneut, dass die Gruppenmitglieder durchaus in der Lage waren, die indigenen Menschen nicht ausschließlich durch die Brille gängiger Vorurteile wahrzunehmen. Gleichzeitig fällt aber auch auf, dass sich die einschlägigen Beschreibungen wiederum auf Individuen oder überschaubare Personengruppen bezogen. Ein anderes Bild entsteht, wenn man ihre generalisierenden Aussagen über die Bewohner Ostafrikas mit einbezieht. Namentlich die Reisebeschreibungen von Götzen und 367 368 369 370 371 372
Ebd., S. 227–229. Wißmann, Flagge, S. 257. Ebd., S. 257f. Ebd., S. 258–261. Ebd., S. 44f. Ebd., S. 151; vgl. Fabian, Tropenfieber, S. 111.
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Wißmann bieten in dieser Hinsicht reichhaltige Einblicke. Die Mehrzahl der Afrikaner empfanden beide als wild, grausam, lärmend, frech und reizbar auf der einen und als träge, harmlos, indolent, feige und ängstlich auf der anderen Seite.373 Ebenso hielten sie diese für körperlich außerordentlich leistungsfähig, gleichzeitig aber auch für faul, planlos und unpünktlich.374 Götzen stand daher keineswegs allein, wenn er generalisierend resümierte, dass »ein Weißer so viel leistet wie drei Schwarze«.375 Es dürfte wenig überraschen, dass auch Soden, Schele und Liebert kaum anders über das Gros der indigenen Bevölkerung dachten. Von einer Reise in die Umgebung von Daressalam nahm Soden kaum positive Eindrücke mit. Ihm zufolge hätten die angetroffenen Bewohner im Vergleich zur Küstenbevölkerung »auf einer sehr tiefen Stufe der Intelligenz« gestanden. Dieses Urteil begründete er nicht zuletzt damit, dass die Menschen bei seiner Annäherung zum Teil ihre Dörfer verlassen, andere »Einwohner stumpfsinnig die weißen Männer« angestarrt und »kaum den Gruß derselben zu erwidern« gewusst hätten.376 Ähnliches berichtete er aus dem Hinterland von Tanga, wo er sich von der »Jämmerlichkeit der ganzen Bevölkerung persönlich überzeugt« habe. Die dortigen Wadigo waren für ihn lediglich »armselige, furchtsame, höchstens mit Bogen und Pfeil bewaffnete« Menschen, die »niemals den Mut hätten«, sich gegen die deutsche Herrschaft zu erheben.377 Auch berichtete Soden von einem »düsteren Aberglauben«, habe er doch sogar von »Hexenverbrennungen« erfahren.378 Vergleichbares war auch Wißmann begegnet, der von der Tötung einer »Wahazauberin« in der Nähe seines Zeltes durch zwei mit Keulen bewaffnete Einheimische berichtete. Auch ihm habe die »empörende Tat« vor Augen geführt, »unter welchen Wesen ich hier lebte.«379 Über einen verbreiteten Aberglauben, den damit angeblich zusammenhängenden »Fatalismus und die hierdurch erzeugte Energielosigkeit des Negers« sollte sich Jahre später noch der durchreisende Herzog zu Mecklenburg ereifern.380 Auch für Liebert waren die Einheimischen auf der einen Seite leicht zu begeistern, während sie sich andererseits bei Rückschlägen leicht einem »stumpfen Fatalismus« hingeben würden.381 Ohnehin war auch er davon überzeugt, dass »der Neger […] in seiner Trägheit und Gleichgültigkeit« es kaum zu eigenständigen Leistungen bringen könne.382 Nach dem Ende seiner Karriere als Gouverneur wurden Lieberts Aussagen deutlich radikaler, behauptete er doch in einer Rede auf dem Alldeutschen Verbandstag im Jahr 1912,
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Götzen, Afrika, S. 2f., 8, 13, 25, 60, 120f., 244, 249, 283; Götzen (Meran) vom 17.5.1906, Interview, abgedruckt in: Deutsche Tageszeitung Nr. 233 vom 19.5.1906; Wißmann, Flagge, S. 62, 179, 252, 265–267, 280, 297; ders., Afrika, S. 59. Götzen, Afrika, S. 5, 120f.; Wißmann, Expedition, S. 69; ders., Flagge, S. 297; ders., Afrika, S. 65. Ders., Reise, S. 412. Soden, Reise, S. 164. BA-B R 1001/280, Bl. 72–74, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 10.3.1892, Bericht. Soden, Reise, S. 164. Wißmann, Flagge, S. 252. Mecklenburg, Afrika, S. 200, 229, 281, 286. Liebert, Bericht, S. 318; GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 96f., Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 8.3.1899, Schreiben. Liebert, Tage, S. 13f.; ders., Kolonien, S. 37, 41, 49; Liebert vom 18.3.1908, in: Verhandlungen RT, Bd. 231, S. 4069, 4071.
3. Deutungen des ›Andern‹
die »Ursache des Tiefstandes der schwarzen Rasse« zu kennen: »Das ganze Leben der Farbigen dreht sich um die Ausübung des Geschlechtstriebes, der in einer Weise ausgebildet ist, wovon wir Kinder einer kühleren Zone keine Ahnung haben.«383 Liebert zufolge sei das »Ausleben in dieser Richtung« dafür verantwortlich, dass sich die anfangs noch vorhandene »geistige Aufnahmefähigkeit der Kinder zu der völligen Stumpfheit der Geschlechtsreifen beiderlei Geschlechts« wandle.384 Weniger drastisch, im Prinzip aber einer ähnlichen Deutung folgte Schele. Auch für ihn war »der Neger […] nicht gewöhnt, anhaltend und regelmäßig zu arbeiten, er kommt und geht, wie es ihm passt.«385 Angesichts dieser vermeintlichen Defizite hielten die Mitglieder des Korpus auch die Masse der Ostafrikaner »in geistiger Hinsicht [für] Kinder«.386 Als eine »von der Kultur noch gänzlich unbeleckte« und gewissermaßen »in den Kinderschuhen steckende Rasse« seien diese ebenso naiv wie einfältig und vornehmlich auf die körperliche Existenz fixiert. Zu eigenständigen Gedanken und Entschlüssen seien sie daher vorläufig nicht befähigt.387 Im Gegensatz zu einer biologistischen Sichtweise, die auf einer Unveränderlichkeit physischer wie psychischer Eigenschaften von vermeintlichen »Rassen« basiert, vertraten auch die meisten der in Ostafrika tätigen Gouverneure die Ansicht, dass eine »Erhebung aus dem zum großen Teil unverschuldeten jetzigen tiefen Standpunkte« hin zu einem »uns gleichstehenden Mitglied der Menschheit« grundsätzlich möglich sei.388 Dass ein solcher, kulturmissionarisch fundierter Rassismus bei den Gouverneuren keine Ausnahmeerscheinung darstellte, manifestiert sich wiederum in der bereits für Togo und Kamerun konstatierten Formel, dass es vorrangig darum gehe, die Indigenen zu »brauchbaren Kulturmenschen [zu] erziehen« und ihnen die »Grundbegriffe der Gesittung […] beizubringen«.389 Ein solches Unterfangen könne bezeichnenderweise nur unter Anleitung der Europäer gelingen und würde zudem die Spanne mehrerer Generationen erfordern. Nicht nur Wißmann vertrat den Standpunkt, dass vorläufig »der Neger eine höhere Kultur wieder verliert, sobald die fortdauernde Einwirkung der Zivilisation aufhört«.390 Auch Liebert rechnete für eine dauerhaft wirksame ›Zivilisierung‹ mit einem Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, vielleicht sogar einem halben Jahrhundert.391 Auch angesichts einer im Gefolge des Maji-Maji-Aufstands eintretenden Ernüchterung schien diese Perspektive keineswegs pessimistisch. Götzen erklärte beispielsweise nach seiner Demissionierung, dass sich »der Neger […] mit der europäischen Kultur […] in den nächsten Jahrzehnten noch nicht abfinden« werde. Vorläufig
383 384 385 386 387
Liebert, Mischehen, S. 342. Ebd., S. 341f. Schele, Werth, S. 232. Götzen, Afrika, S. 62. Bennigsen, Bericht (1897), S. 488; Wißmann, Afrika, S. 67; Götzen, Reise, S. 464; ders., Afrika, S. 25, 76. 388 Wißmann, Flagge, S. 298f. 389 Götzen, Afrika, S. 34, 62 (Zitate). 390 Wißmann, Flagge, S. 62; 299; ders., Afrika, S. 68. 391 Liebert, Kolonien, S. 9.
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sei vielmehr jederzeit mit einem Hervorbrechen des »›Wilden‹ in seiner Natur« zu rechnen.392 Auch über die Methoden der ›Erziehung‹ waren sich die meisten Ostafrika-Gouverneure einig, was ebenfalls Hinweise auf deren Deutungsmuster liefert. Entsprechend der damals gängigen Vorstellungen autoritärer Kindererziehung hielt etwa Götzen es für entscheidend, den Einheimischen stets unmissverständlich zu zeigen, »dass mein Wille feststand«.393 Eine Kombination aus »Furcht und Hoffnung« erschien ihm das »bewährte pädagogische Hilfsmittel« zu sein. Ein energisches Auftreten bei einer »richtigen Verteilung von freundlicher Behandlung und wirklicher Fürsorge einerseits, und von wirklich handgreiflicher, aber gerecht angewandter Strenge andererseits« würde letztlich das gewünschte Resultat zeitigen.394 Auch der Herzog zu Mecklenburg glaubte, dass der »Stumpfsinn des Negers […] durch sachgemäße Behandlung« – er verstand darunter ebenfalls »Strenge gepaart mit Gerechtigkeit« – »sehr wohl überwunden werden kann«.395 In auffälliger Analogie sah Wißmann das »wichtigste Erziehungsmittel darin«, die Einheimischen zwar »als Menschen, dem man Mitgefühl schuldig ist«, anzuerkennen. Doch sei die »Aufrechterhaltung einer Grenze der Annäherung« angezeigt. Ohnehin müsse »der Wilde erst die Überlegenheit [des Europäers] unbedingt anerkennen«, da er andernfalls »Güte […] leicht als Schwäche auslegen würde.«396 Damit vertrat auch er das vielzitierte Ideal einer »gerechten, streng unparteiischen« Behandlung, da »der Wilde […] wie das Kind ein feines Gefühl für ungerechte Behandlung, Zurücksetzung oder Bevorzugung« besitze.397 Liebert sah das nicht anders: »Der Neger will Macht sehen und fühlen«, wogegen er durch »Güte und Wohlwollen allein nicht zu leiten« sei.398 Trotzdem stimmten die Gouverneure darin überein, dass die postulierte ›Erziehung‹ letztlich »nur mit Geduld und richtiger Behandlung« zu erreichen sei.399 Von diesen vorherrschenden Ansichten wichen nur wenige in Deutsch-Ostafrika wirkende Angehörige des Samples ab. Zwar konnten auch sie sich nie gänzlich von den Vorurteilen ihrer Zeit frei machen, doch gelangten Schnee, Solf und Rechenberg wenigstens teilweise zu etwas differenzierteren Ansichten. Der entscheidende Unterschied zu ihren Kollegen findet sich gerade in den generalisierenden Deutungen über ›die‹ Bewohner Ostafrikas. Beispielsweise sah Schnee in den »Bantu-Negern« generell »gutartige Menschen«, die »offen und heiter« seien und eine »große Sprachgewandtheit und Phantasie« besässen.400 Mit seinen Gouverneurskollegen konform ging allerdings
392 Interview des Grafen Götzen (Meran) vom 17.5.1906, in: Deutsche Tageszeitung Nr. 233 vom 19.5.1906; vgl. Liebert, Kolonien, S. 52; Liebert, Schwarz gegen Weiß, in: Der Tag vom 24.5.1908, S. 1. 393 Götzen, Reise, S. 444. 394 Ders., Afrika, S. 62. 395 Mecklenburg, Afrika, S. 286. 396 Wißmann, Afrika, S. 67, 69. 397 Ebd., S. 67. 398 Liebert, Kolonien, S. 52. 399 Schele, Werth, S. 232 (Zitate); Wißmann, Afrika, S. 68f.; Götzen, Afrika, S. 346; Liebert vom 18.3.1908, in: Verhandlungen RT, Bd. 231, S. 4068, 4071; Liebert, Schwarz gegen Weiß, in: Der Tag vom 24.5.1908, S. 1. 400 Schnee, Gouverneur, S. 125.
3. Deutungen des ›Andern‹
seine gleichzeitige Vorstellung einer ethnisch basierten Rollenverteilung, da er gerade die Bantu als »geduldige Träger und Dauerarbeiter« ansah, die ihm als besonders nützlich für die »kolonisatorische Entwicklung« erschienen.401 Solf, der als Gouvernementsbeamter und später als Staatssekretär des Reichskolonialamts Teile der Kolonie aus eigener Anschauung kennengelernt hatte, bezeichnete es als »falsch, den Neger im allgemeinen für dumm und faul und für indolent zu halten.«402 Vielmehr bleibe »von dem Begriff des faulen Negers, wie ihn die Pflanzer schildern und wie das große Laienpublikum in der Heimat sich den Schwarzen malt«, angesichts der Realitäten nur »wenig über«.403 Zwar sah auch er vermeintliche Defizite, doch berichtete er von »aufgeweckten« und lernbegierigen ostafrikanischen Kindern und nahm vom Fortgang des Eisenbahnbaus den Eindruck mit nach Hause, er könne sich »nicht vorstellen, dass man in zivilisierten Ländern mit Arbeitern unserer Rasse schneller und prompter arbeiten kann« als mit den einheimischen Kräften.404 Ein ähnliches Mindestmaß an Empathie für die indigene Bevölkerung lässt sich für Rechenberg konstatieren. Dieser hatte schon als Beamter im Gouvernement von Daressalam und später als Konsul von Sansibar angesichts hoher Steuersätze für eine sozialverträglichere Belastung der Einheimischen plädiert, da »für die armen Leute […] dieser Betrag fast unerschwinglich« sei.405 Bei der Erhebung müsse deshalb mit »Milde« vorgegangen werden.406 Seit September 1906 Gouverneur in Deutsch-Ostafrika, nutzte Rechenberg die nunmehr erweiterten Möglichkeiten, seine Ansichten auch einem größeren Publikum gegenüber auszuführen. In seinem Jahresbericht aus dem Frühjahr 1908 äußerte er sich vergleichsweise differenziert über die vermeintlichen Eigenschaften der Menschen ›seiner‹ Kolonie:407 »Es soll hier noch einmal der so oft verbreiteten Ansicht entgegengetreten werden, alle Neger seien arbeitsscheu und bedürfnislos. Ist es schon schwer, von Eigenschaften der Neger im allgemeinen zu sprechen, da die einzelnen Stämme auch innerhalb des Schutzgebiets unter sich die denkbar größten Verschiedenheiten aufweisen, größer als die Verschiedenheiten der europäischen Nationen untereinander, so hat die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt, daß auch bei den als besonders faul verschrienen Küstennegern diese Behauptung in keiner Weise zutrifft. Daß sie sich, besonders früher, der Arbeit in den Plantagen gegenüber ablehnend verhalten haben, hat wohl das ungünstige Urteil in erster Linie herbeigeführt. Abgesehen davon, daß in früheren Jahren die Behandlung der Arbeiter manches zu wünschen übrig ließ, ist doch aber zu berücksichtigen, daß es sich um eine dem Neger bis dahin gänzlich unbekannte Arbeit unter Aufsicht stundenlang hintereinander ohne Unterbrechung handelte. Wenn der Neger hierbei häufiger versagte oder sich der Arbeit durch Weglaufen zu entziehen versuchte, so ist das nicht zu verwundern. Dagegen hat es sich jetzt gezeigt, daß der Neger, wenn ihm ein entsprechender Gewinn in Aussicht steht, sich willig der Arbeit 401 402 403 404 405 406 407
Ebd., S. 126f. BA-K N 1053/36, Bl. 80, Solf (Tanga), Tgb. (31.8.1912). Ebd., Bl. 65f., Solf (Tabora), Tgb. (18.8.1912). Ebd., Bl. 66–68, Solf, Tgb. (19.8.1912). TNA G 3/43, Bl. 21, Rechenberg an Gouvernement in Daressalam vom 30.7.1894, Bericht. Ebd., Bl. 65, Rechenberg an Liebert vom 18.12.1897, Schreiben. JB 1907/08, S. 6531.
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unterzieht. Wenn man überhaupt eine allgemeine Eigenschaft des Negers anerkennen will, so wird man sie in seinem Erwerbssinn zu suchen haben.« Zweifellos waren auch die drei Genannten nicht frei von simplifizierenden Vorurteilen, sprach Solf doch gleichzeitig von einer »durch mangelnde Ausdauer und durch den bisher noch wenig entwickelten selbständigen Trieb zur Arbeit und zu ideellen Leistungen« beeinträchtigten Fähigkeit der Einheimischen zur Aus- und Weiterbildung.408 Bereits seit seinem ersten Aufenthalt in Ostafrika hatte sich zudem bei ihm die Überzeugung verfestigt, dass »die Neger […] zu höherem […] wohl nie fähig« seien, wenngleich man sie angesichts ihrer »viel tieferen Bildungsstufe« nicht unterschätzen dürfe.409 Ähnlich stereotyp glaubte Rechenberg der »Natur des Negers« das Vorhandensein eines ausgeprägten »Nachahmungstriebs« sowie einen besonderen Hang zu Sinnesfreuden zuschreiben zu müssen.410 Ohnehin fällt auf, dass auch Schnee, Solf und Rechenberg immer wieder auf die Themen ›Arbeit‹ und ›Produktivität‹ zu sprechen kamen. Das resultierte nicht zuletzt aus der verbreiteten, für das Gesamtphänomen des neuzeitlichen Kolonialismus geradezu axiomatischen Grundüberzeugung, wonach das Bemühen der Europäer, die »tiefer stehende Rasse […] langsam zu heben« keineswegs uneigennützig zu sein brauche.411 Bereits Wißmann hatte behauptet, dass demjenigen, der die zeitweilige »Vormundschaft« über die Afrikaner übernehme, eine »entsprechende Entschädigung« zustehe. Dabei wollte er »den Eingeborenen zwingen zu seinem späteren Glück«, indem dieser die vermeintlichen Wohltaten durch körperliche Arbeit abgelten müsse.412 Diese Interpretation einer Kulturvermittlung durch und gegen Arbeitsleistung blieb nicht ohne Modifikationen. In einer späteren Abhandlung Lieberts, war vor allem davon die Rede, die Afrikaner »zu Bedürfnissen« zu erziehen und dadurch »aufnahmefähig für europäische Industrieerzeugnisse« zu machen. Der kulturmissionarische Aspekt spielte inzwischen offenbar nur noch eine nachrangige Rolle. Stattdessen seien die Kolonien in erster Linie »für uns und zu unserem Nutzen erworben«, wobei »die Neger für uns zu arbeiten bestimmt sind«.413 Auch Götzen glaubte das Hauptziel inzwischen darin erkennen zu müssen, »dem Neger […] größere Bedürfnisse anzuerziehen und dadurch seinen Erwerbssinn zu steigern«.414 Gerade vor diesem Hintergrund lassen sich die Deutungen von Schnee, Solf und Rechenberg besser einordnen. Auch deren Zuschreibungen entsprangen weniger humanen Empfindungen, als vielmehr ökonomischen bzw. utilitaristischen Überlegungen, vertraten sie doch lediglich eine andere Herangehensweise hinsichtlich einer in ihren Augen
408 409 410 411 412 413 414
BA-K N 1053/36, Bl. 80, Solf (Tanga), Tgb. (31.8.1912). BA-K N 1053/1, Bl. 104f., Solf (Daressalam) an seinen Vater vom 25.8.1898, Schreiben. JB 1907/08, S. 6526; JB 1908/09, S. 404. Liebert vom 18.3.1908, in: Verhandlungen RT, Bd. 231, S. 4071 (Zitat). Wißmann, Flagge, S. 298. Liebert, Kolonien, S. 9, 50; vgl. ders., Vortrag, S. 23. Interview Götzen (Meran) vom 17.5.1906, abgedruckt in: Deutsche Tageszeitung Nr. 233 vom 19.5.1906.
3. Deutungen des ›Andern‹
zweckmäßigeren Ausrichtung der Produktionsverhältnisse.415 Somit verdeutlichen die ausgewerteten Selbstzeugnisse der ostafrikanischen Gouverneure, dass trotz ihrer Bindung an die gängigen Stereotypen und Vorurteile eine differenzierte Deutung der für sie fremden Menschen zwar möglich war. Bezeichnenderweise stellte aber keiner von ihnen die postulierte Superiorität der Europäer zu irgendeinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise in Frage. Das galt ebenso für die Einschätzung der vom Islam geprägten bzw. unter dem Begriff ›Hamiten‹ subsumierten Bevölkerungsgruppen in Kamerun, Togo oder Ostafrika. Selbst die Tatsache, dass diese mitunter als Gesellschaften »auf höherer Kulturstufe« akzeptiert wurden, vermochte nichts an der grundlegenden Überzeugung der Gouverneure zu ändern, selbst einer überlegenen Zivilisation anzugehören.416 Neben der beschriebenen, vergleichsweise günstigen Beurteilung des äußeren Erscheinungsbildes imponierte ihnen auch die als autokratisch wahrgenommene Machtstellung der Fula-Oberen ebenso wie die der Tutsi- und Hema-Eliten. Dementsprechend fanden einzelne Herrscherpersönlichkeiten ebenso wie deren Hofhaltung und Regierungspraktiken Berücksichtigung in den Selbstzeugnissen. Einer dieser Fula-Herrscher war der bereits erwähnte Djagara von Gulfei. Puttkamer sah in ihm einen zwar unterworfenen, aber doch »energischen« Vertreter der lokalen Eliten, der ein »brauchbarer Freund«, aber auch ein »nicht zu unterschätzender Gegner« sei.417 Auch der Herzog zu Mecklenburg billigte Djagara »Geschmack« und ein hohes Maß an Kriegstüchtigkeit zu.418 Freilich glaubte er in diesem zugleich die Verkörperung eines orientalischen Despoten erkennen zu können, habe doch Djagara neben seinem »pomphaften Auftreten« häufig eine ausgeprägte »Grausamkeit« an den Tag gelegt.419 Puttkamer urteilte ähnlich, verschwieg die eigentliche Ursache für seine meist wohlwollenden Urteile aber keineswegs. Nachdem sie sich der deutschen Oberherrschaft unterworfen hatten, genüge dank der »hohen Intelligenz der Fulla-Herrscher […] in ganz Adamaua ein [deutscher] Resident als Ratgeber«.420 Vor allem aber könne man bei »ruhiger und gerechter Behandlung sich auf diese Leute fest verlassen«.421 Galten die Fulani als »herrschende Klasse«, wurden dagegen die Hausa als »betriebsames Handelsvolk« wahrgenommen.422 Deren Rolle bei der Aufrechterhaltung des Warenaustausches zwischen den westafrikanischen Küstenregionen und dem Landesinnern machte die Hausa für die Europäer praktisch unentbehrlich. Obwohl nicht zuletzt deshalb von den Gouverneuren meist als »intelligenter Stamm« wahrgenommen, blieb
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Vgl. Schubert, Fremde, S. 280, Anm. 342, der bei Rechenberg eine »gefühlslose Rationalität« vermutet. Im Gegensatz dazu schätzt Tetzlaff, Entwicklung, S. 225, den Gouverneur als »ehrlich empört« über die Behandlung der Afrikaner ein. Siehe hierzu Kapitel 4.5.3. Liebert, Kolonien, S. 40 (Zitat). Puttkamer, Bericht, S. 187f. Allgemein zur europäischen Sicht auf die Lebensäußerungen der Fula: Midel, Fulbe, S. 175–180. Mecklenburg, Kongo 1, S. 80. Ebd., S. 98, 100. BA-B R 1001/3308, Bl. 22–32, Puttkamer (Garua) an KA vom 26.9.1903, Bericht. Puttkamer, Bericht, S. 82; vgl. ders., Gouverneursjahre, S. 322f. Liebert, Kolonien, S. 17 (Zitat 1); Puttkamer, Bericht, S. 322; ders., Gouverneursjahre, S. 280 (Zitat 2).
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es abermals nicht aus, dass auch »Schattenseiten« benannt wurden.423 Seitz behauptete etwa, die Hausa würden sich regelmäßig Übergriffe gegen die Waldlandbewohner zuschulden kommen lassen, auch wären sie aufgrund ihrer mobilen Lebensweise für die Verbreitung von Krankheiten verantwortlich und würden heimlich weiterhin Sklaven verhandeln.424 Zech bemängelte ihre angeblich halbherzige Religionsausübung, die ein »merkwürdiges Gemenge mohammedanischer Sitten und Anschauungen mit heidnischen Gebräuchen« gewesen sei.425 Darüber hinaus hätten die »Hausaleute recht wenig Lust und Talent zur Erlernung von fremden Sprachen« gezeigt.426 Im Gegenzug besäßen sie aber »außerordentliches« Geschick bei der Anfertigung von Webe- und Lederarbeiten.427 Die Rolle, die den Hausa in Westafrika zugeschrieben wurde, nahmen im Osten des Kontinents diejenigen Teile der Bevölkerung ein, die arabische oder indische Wurzeln besaßen. Zwar hatte Wißmann während der Frühphase der deutschen Expansion das »Arabertum« noch als eine den »afrikanischen Kontinent verwüstende Pest« bezeichnet.428 Nach der Niederwerfung des sogenannten ›Araberaufstandes‹ und der darauffolgenden Etablierung des kolonialen Staats änderte sich aber der Blick auf diese bis dahin vor allem als Konkurrenz wahrgenommene Bevölkerungsgruppe.429 Ohnehin hatten selbst Wißmann und Götzen eingeräumt, dass »die Araber, wohin sie auch kommen, eine gewisse kulturelle Verbesserung vornehmen« würden und dabei das »unleugbare Talent« besäßen, überall eine »blühende Ansiedlung ins Leben zu rufen«.430 Das geschehe jedoch stets aus »rein egoistischen« Beweggründen, hätten sie es doch verstanden, »sich den Neger im schlechten wie im guten Sinn dienstbar zu machen und ihn zur Arbeit zu erziehen.«431 Nach der Einrichtung des kolonialen Regimes entlang der ostafrikanischen Küste zog nicht nur Götzen den Schluss, dieser Teil der Bevölkerung sei »heute als brauchbares Element im deutschen Schutzgebiet anzusehen, dessen man sich mit Vorteil in deutschem Interesse bedienen kann«.432 Auch Soden glaubte nach nur einem Jahr in Daressalam feststellen zu können, dass sich namentlich der »intelligentere Teil dieser Leute« mit dem Ende der Herrschaft des Sultans abgefunden und die deutsche Kolonialregierung »als das kleinste aller dieser Übel« akzeptiert habe.433 Auch im Hinblick auf einen vermeintlich religiös-motivierten Konflikt machte man sich – von zeitweiligen Beunruhigungen abgesehen – keine übermäßigen Sorgen. Analog zu Zechs Einschätzungen für den Norden Togos glaubte auch Götzen den »islamitischen Fanatismus der Küstenara-
423 424 425 426 427 428 429 430 431 432 433
Liebert, Kolonien, S. 18 (Zitat 1); Seitz, Verhältnisse, S. 324 (Zitat 2). Ebd. Zech, Land, S. 119. Ders., Notizen, S. 139. Ebd., S. 126; Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 281; vgl. Liebert, Kolonien, S. 17. Wißmann, Durchquerung, S. 240 (Zitate); ders., Flagge, S. 179, 297–300. Zu diesem Konflikt von 1889/90: Bührer, Forschungsreisender. Siehe auch Kapitel 4.2. Wißmann, Flagge, S. 179 (Zitat 1); Götzen, Afrika, S. 319 (Zitate 2+3). Wißmann, Flagge, S. 179 (Zitat 1); Götzen, Afrika, S. 319 (Zitat 2); vgl. Liebert, Kolonien, S. 34. Götzen, Afrika, S. 319. BA-B R 1001/764, Bl. 67–71, Soden (Daressalam) an KA vom 4.4.1892, Bericht.
3. Deutungen des ›Andern‹
ber« Ostafrikas als »außerordentlich gering entwickelt« taxieren zu können, während dieser im Binnenland »überhaupt verloren gegangen« sei.434 Auch im Hinblick auf ihre generellen Eigenschaften wurde die arabische Minorität meist entsprechend gängiger Orient-Klischees wahrgenommen. Nicht ohne Widersprüche galten sie einerseits als »sehr intelligent« mit »angeborenem Anstand« sowie einer »wundervollen Haltung und gemessenen Ruhe« versehen, während ihnen andererseits das Vorurteil einer brutal-grausamen, »herrschgewohnten«, gegenüber dem Stärkeren »ergebenen« und über einen »geringen Gesichtskreis« verfügenden Ethnie zugeschrieben wurde.435 Auch Rechenberg konnte oder wollte sich von derartigen Vorurteilen nicht freimachen:436 »Wenn vereinzelt Steuerhinterziehungen vorkamen, so ist nicht außer acht zu lassen, dass der dem Orientalen durch jahrhundertelange Verwaltungspraxis anerzogene Hang zur Bestechlichkeit und Unterschlagungen sich nicht so schnell ausrotten lässt; dass vielmehr nur die Furcht vor Strafe diesen Hang niederhalten kann.« Dabei war er es, der sich für eine teilweise Begünstigung dieser Bevölkerungsteile ausgesprochen hatte. Das galt nicht zuletzt für die indischen Kauf- und Geschäftsleute sowie Handwerker, denen in Deutsch-Ostafrika eine besondere Stellung zukam. Einerseits besorgten sie große Teile des Warenverkehrs zwischen Küste und Binnenland, zum anderen halfen sie durch ihre weitverzweigten Handelsbeziehungen mit, »das Land auf[zu]schließen«.437 Abermals hielt bereits Soden es für wichtig, diese Gruppe durch Zölle und Steuern nicht übermäßig zu belasten.438 Rechenberg ging noch weiter und regte eine Beteiligung von Indern bei der Wahl künftiger Bezirksräte an, was ihm namentlich seitens der deutschen Pflanzer erhebliche Kritik einbrachte.439 Solf, der im Sommer 1912 als Kolonialstaatssekretär Ostafrika bereiste, verurteilte zwar dieses »War Cry« der Plantagenlobby, doch glaubte auch er einige »Missstände« bei den indischen Kaufleuten wahrzunehmen. Diese würden die übrige Bevölkerung notorisch übervorteilen, indem sie Wucherkredite vergäben. Seiner Überzeugung nach hätten einzelne indische Großhändler durch solche Praktiken ganze Landstriche im Innern unter ihre Kontrolle gebracht.440 Hielt man die Minderheiten von Hausa, Arabern und Indern als kaum entbehrlich für den Warenverkehr einerseits und als Stütze der Lokalverwaltung andererseits, so stellten die ostafrikanischen Tutsi und Hema in den Augen der Europäer insofern ein Pendant zu den Fulani im Westen des Kontinents dar, als auch sie in größeren politischen Einheiten
434 Götzen, Afrika, S. 308; Wißmann, Flagge, S. 281; vgl. JB 1907/08, S. 6527; JB 1908/09, S. 398; JB 1909/10, S. 12f. 435 Liebert, Kolonien, S. 38, 65; Schele, Bericht, S. 227; Wißmann, Flagge, S. 277, 299. 436 JB 1907/08, S. 6522. 437 Liebert, Kolonien, S. 39; BA-K N 1130/49, Sitzung vom 5.6.1907, Protokoll (Zitat: Dernburg); BA-K N 1053/36, Bl. 67f., Solf (Tanganyjka-Bahn) vom 19.8.1912, Reisebericht; vgl. BA-B R 1001/237a, Bl. 126f., Schnee (Daressalam) an RKA vom 26.4.193, Bericht. 438 BA-B R 1001/764, Bl. 67–71, Soden (Daressalam) an KA vom 4.4.1892, Bericht. 439 TNA G 4/10, Bl. 91f., Rechenberg (Daressalam) an RKA vom 16.10.1909, Bericht. 440 BA-K N 1053/36, Bl. 67f., Solf (Tanganyjka-Bahn) vom 19.8.1912, Reisebericht.
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organisiert waren. Dieser Sonderstatus äußerte sich in administrativer Hinsicht durch die Einrichtung sogenannter Residenturen, wobei sich die Kolonialmacht nach den Prinzipien von indirect rule auf die indigenen Machthaber stützte. Besonders im Hinblick auf die Tutsi war der ebenso eingängige wie idealisiert-verklärende Eindruck einer »herrschenden Stellung dieses hamitischen Elements über die alteingesessene Bantubevölkerung« entstanden. Besonders »scharf ausgeprägt« sei diese Dominanz in Ruanda gewesen.441 Dieses wurde als »monarchisch regiertes Land« wahrgenommen, das »in absoluter Autorität von einem souveränen Sultan beherrscht« worden sei.442 Schnee glaubte mittels europäischer Kategorisierungen die dortigen Verhältnisse als eine »Art Lehnsverfassung mit gut organisierter Polizei« beschreiben zu können.443 Von einer »straffen Sultanatsverfassung« berichtete auch Haber.444 Es kam bereits zur Sprache, dass die überwiegende Mehrzahl der Gouverneure den monarchischen Staatsgedanken favorisierte.445 Die meist positiven Urteile über die als streng hierarchisch wahrgenommenen Gesellschaftsstrukturen scheinen diese Diagnose zu bestätigen. Götzen vertrat etwa die Ansicht, dass »ein Land, das unter einheitlicher, starker Herrschaft steht«, nicht nur gegen äußere Feinde gewappnet sei, sondern auch »zu weit höherer Blüte gelangen« könne.446 Zwar glaubte er gleichzeitig erkennen zu können, dass das Gros der ruandischen Bevölkerung »unter dem Druck« dieser Herrschaft »seufzt«. Das sei jedoch ein geringer Preis angesichts der bestehenden Sicherheit und Ordnung sowie von Lebensbedingungen, unter denen »jedermann sein tägliches Brot, seine wärmende Hütte« habe.447 Zwar bezeichnete der Graf die Praktiken der Tutsi gegenüber den von ihnen beherrschten Ethnien als »rohe Barbarei«, doch glaubte er, solche Auswüchse ließen sich durch den zunehmenden Einfluss der europäischen Zivilisation beheben.448 Generell schlossen die Gouverneure angesichts »organisierter Sultanate« auf eine »geistig höher stehend[e]« Bevölkerung.449 Diese Einschätzung galt jedoch keineswegs für die deklassierten Hutu, sondern ausschließlich für die Tutsi-Elite, die nach den Worten Schnees einen Status als »herrschende Rasse« erlangt habe.450 Folgerichtig glaubte Haber, dass diese zur Aufrechterhaltung ihrer exklusiven Stellung streng auf eine »Rein-
441 442 443 444 445 446 447 448 449 450
Weule, Watussi, S. 692. Götzen, Afrika, S. 255 (Zitat 1); Mecklenburg, Afrika, S. 77 (Zitat 2). Schnee, Gouverneur, S. 125 (Zitat); vgl. Götzen, Afrika, S. 138, 162; Liebert, Kolonien, S. 39. BA-B R 1001/767, Bl. 65–69, Haber (Daressalam) an KA vom 18.6.1906, Bericht. Siehe Kapitel 2.3. Götzen, Afrika, S. 255 (Zitate); vgl. Mecklenburg, Afrika, S. 81, 92, 105f., 126; Schnee, Gouverneur, S. 125. Götzen, Afrika, S. 255; vgl. BA-B R 1001/1029, Bl. 97–105, Haber (Entebbe) an Gouvernement in Daressalam vom 30.6.1904, Bericht. Götzen, Afrika, S. 172. Schnee, Gouverneur, S. 125–127. BA-B R 1001/237a, Bl. 104–130, Schnee (Daressalam) an RKA vom 26.4.1913, Bericht; vgl. Diebold, Hochadel, S. 145, der dem Herzog zu Mecklenburg eine ähnliche Äußerung zuschreibt. Im Original (Mecklenburg, Afrika, S. 88) ist jedoch nicht von »Herrenrasse«, sondern von »der Ruanda beherrschenden, später eingewanderten Rasse der Watussi« die Rede.
3. Deutungen des ›Andern‹
haltung des Stammes durch Heirat ebenbürtiger Frauen« achten würde.451 In solchen Kategorien dachten auch Liebert und der Herzog zu Mecklenburg, die sowohl die Tutsi als auch die Hema »auf höherer Kulturstufe« im Vergleich zu den übrigen Bewohnern dieser Landstriche verorteten.452 Diese Deutungen setzen sich in den Schilderungen der Herrschergestalten fort. Bei deren Beschreibung durch Götzen, Mecklenburg und Schnee fällt zweierlei auf: Einerseits wurden die angetroffenen Tutsi- und Hema-Machthaber in der Regel als würdevolle, sich ihrer Bedeutung bewusste, zum Teil durchaus sympathische und häufig »sehr intelligente, ihren Vorteil wahrnehmende Leute« wiedergegeben.453 Den Kontrast zu diesen Schilderungen bilden andererseits mehrere angebliche Negativeigenschaften, wodurch ein Bild »alter innerafrikanischer Despotenherrlichkeit« entstand.454 Dementsprechend hätten sich die Tutsi- und Hema-Machthaber durchweg durch ihre Neigung zur Grausamkeit ausgezeichnet.455 Schnee zufolge sei im Königshaus von Urundi die Ermordung von Verwandten eine »herkömmliche Einrichtung« gewesen.456 Ebenfalls in die Sphäre von Orient-Klischees verweisen die Beschreibungen einer »verweichlichten« Lebensweise, aber auch das Postulat des Herzogs zu Mecklenburg, wonach das Gehöft des Sultans Msinga den »Schauplatz mancher wüster Orgien« abgegeben habe.457 Götzen beklagte sich schließlich, dass dessen Vorgänger, Lwabugiri, »auf unsere Kosten Witze zu machen« schien, woraufhin dem Grafen die »Vertraulichkeit etwas zu ›dick‹ wurde«.458 Andere Schattenseiten wiegelte er dagegen mit dem Verweis ab, es sei »verfehlt, einem afrikanischen Potentaten aus Handlungen einen Vorwurf zu machen, die noch vor wenig Jahrhunderten selbst im zivilisierten Europa für durchaus ehrenhaft und berechtigt« gegolten hätten.459 Überwiegend akzeptiert wurden auch die kulturellen Praktiken der Tutsi und Hema, wie beispielsweise deren Tanz- und Musikaufführungen. Einzig Götzen differenzierte in dieser Hinsicht kaum, nahm er doch Trommel- und Flötenmusik stets als »Höllenlärm« wahr.460 Anders verhielt es sich mit Schnee und dem Herzog zu Mecklenburg. Beide empfanden die traditionellen Tänze der Tutsi als ein Schauspiel »gemessener und vornehmer« Bewegungen, das sich durch »künstlerische Vollendung und treue Naturnachahmung« ausgezeichnet habe.461 Im Gegensatz zu Götzen betonte der Herzog, dass 451 452
453 454 455 456 457 458 459 460 461
BA-B R 1001/1029, Bl. 97–105, Haber (Entebbe) an Gouvernement in Daressalam vom 30.6.1904, Bericht. Liebert, Kolonien, S. 40; Mecklenburg, Afrika, S. 92; vgl. ebd., S. 101, wo der Herzog die Tutsi in diesem Sinne als eine »andere ›Klasse‹ von Menschen« bezeichnet. Rechenberg zählt die Tutsi – neben Masai und Hehe – zu den »alten Krieger- und Herrenvölkern« Ostafrikas. JB 1908/09, S. 403. Götzen, Afrika, S. 138, 158, 161, 181f., 186; Mecklenburg, Afrika, S. 109f.; BA-B R 1001/237a, Bl. 104–130, Schnee (Daressalam) an RKA vom 26.4.1913, Bericht (Zitat). Götzen, Afrika, S. 186. Ebd., S. 138, 180. BA-B R 1001/237a, Bl. 104–130, Schnee (Daressalam) an RKA vom 26.4.1913, Bericht. Götzen, Afrika, S. 160 (Zitat 1), 180; Mecklenburg, Afrika, S. 88 (Zitat 2), 109. Götzen, Afrika, S. 182. Ebd., S. 140. Ebd., S. 139. Mecklenburg, Afrika, S. 117 (Zitat 1); Schnee, Gouverneur, S. 126 (Zitat 2); BA-B R 1001/237a, Bl. 104–130, Schnee (Daressalam) an RKA vom 26.4.1913, Bericht.
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sein Empfang beim ruandischen König gänzlich ohne das sonst obligate Lärmen, Schreien und Gedränge, sondern »in feierlicher Ruhe« stattgefunden habe.462 Wie bereits bei den Begegnungen mit Fulani und Hausa oder ›Arabern‹ und Indern äußerten sich die Gouverneure auch in Bezug auf Tutsi und Hema überwiegend positiv. Insgesamt fällt auf, dass es sich bei diesen Ethnien sämtlich um Minoritäten handelte, die mehr oder minder als ›höherstehend‹ im Vergleich zur übrigen Bevölkerung kategorisiert wurden. Anders als bei einer wirklichen Elitensolidarität zu erwarten wäre, kann von einer auch nur annähernden Begegnung auf Augenhöhe dagegen nicht die Rede sein. Die genannten Ethnien wurden stattdessen ausschließlich entsprechend der ihnen zugedachten Rolle als nützliche Helfer oder Mittler gegenüber den übrigen Bevölkerungsteilen eingeordnet. Im Folgenden gilt es noch die Einschätzungen der Gouverneure zu den Menschen im Südwesten des afrikanischen Kontinents zu untersuchen. Leutwein, der sich am längsten dort aufgehalten hatte, zeichnete ein teilweise vielschichtiges Bild, wobei er fast alle dortigen ethnischen Gruppen einbezog. Es erscheint deshalb angängig, dessen Schilderungen exemplarisch anzuführen und diesen die Deutungen seiner Nachfolger gegenüberzustellen. Zwar skizzierte Leutwein die indigene Bevölkerung nicht ausschließlich als amorphe Masse von Menschen, doch endeten die Differenzierungen auch bei ihm häufig auf einer mehr oder weniger kollektiven Ebene. Dementsprechend verlieh er lediglich den Kapitänen den Status von Individuen, während er die übrigen Einheimischen meist pauschal abhandelte. Die banale Ursache für diesen verengten Blickwinkel bestand wohl nicht zuletzt darin, dass es sich bei den führenden Persönlichkeiten der Herero und Nama um seine maßgeblichen Ansprechpartner handelte. Mit ihnen unterhielt Leutwein die unmittelbarsten Kontakte. Zugleich verrät die Fokussierung auf die indigenen Eliten aber auch seinen militärisch geprägten Wahrnehmungshorizont, nahm er das jeweilige Gegenüber doch vorrangig als Anführer einer Kriegergruppe wahr, weshalb diese aus seiner Perspektive entweder (inferiore) Bündnispartner oder potentielle Gegner darstellten. Ein wirkliches Interesse an den Lebensumständen der Einheimischen geht aus seinen schriftlichen Zeugnissen dagegen kaum hervor. Angesichts dieses Befundes lässt es sich erklären, weshalb er beispielsweise für die im Osten der Kolonie lebenden Betschuanen freundliche Worte fand. Diese beschrieb er pauschal als fleißige Ackerbauern und Viehzüchter mit sauber gehaltenen Gärten und Häusern, weshalb sie »mit zu unseren besten Elementen gehören«. Gleichzeitig schätzte er sie als »durchaus unkriegerisch« und wenig waffentauglich ein, so dass er es bei diesen Feststellungen beließ und kaum ein weiteres Wort über diese Ethnie verlor.463 Nicht viel anders nahm Leutwein die Damara wahr. Diese sah er als ›Arbeitervolk‹, das von den Herero unterworfen worden sei und ebenfalls kaum über kriegerische Fertigkeiten verfüge. Zwar beabsichtigte er, die Damara »von ihren bisherigen Unterdrückern« loszulösen und als »dritten selbständigen Stamm neben die Hereros und Namaquas« zu stellen. Ein näheres Eingehen auf ihre Lebensweisen hielt er aber offenbar nicht für angezeigt.464 Als einziges Individuum beschrieb er lediglich den »sogenannten Kapitän Apollo«, den er 462 Mecklenburg, Afrika, S. 105f., 109. 463 Leutwein, Bestrafung, S. 321 (Zitate); ders., Heranziehung, S. 547; ders., Jahre, S. 23. 464 Ders., Omaruru, S. 78 (Zitate); vgl. ders., Heranziehung, S. 547; ders., Jahre, S. 529f.
3. Deutungen des ›Andern‹
bezeichnenderweise als Witzfigur skizzierte.465 Auch in den Schilderungen seiner Gouverneurskollegen spielten weder Betschuanen noch Damara eine besondere Rolle. Die Erinnerungen von Seitz bestätigen diesen Befund, charakterisierte er doch die letzteren knapp als »primitiven Eingeborenenstamm«.466 Diese selektive Wahrnehmung, die sich vorrangig auf die ›nützlichen‹ Individuen bzw. Gruppen fokussierte, betraf in gleichem Maß die San. Diese bezeichnete Leutwein einerseits als »sehr dienstwillig, dabei sehr genügsam, so dass sie gute und billige Arbeitskräfte abgeben würden«. Gleichzeitig konstatierte er aber, dass sie ihre bisherige »schrankenlose Freiheit« selbst »dem angenehmsten Dienst« vorziehen würden.467 Von einem fehlenden Verständnis für die in kleinen und kleinsten Familienverbänden lebenden San zeugt auch deren Beschreibung durch Seitz. Für ihn waren sie »merkwürdig«, »äußerst primitiv« und »bildungsunfähig«. Gleichzeitig offenbart sich bei ihm eine von sozialdarwinistischen Überlegungen beeinflusste Interpretation, sah Seitz die San doch als ein dem »Untergang geweihtes Völkchen«.468 Auch Lindequists Einschätzung, der sie als scheue »Naturkinder« charakterisierte, weist in die gleiche Richtung.469 Das gilt erst recht, wenn diese Äußerung durch eine Mitteilung des Missionars Spiecker ergänzt wird. Dieser hatte mehrmals mit Lindequist über die ›Eingeborenenpolitik‹ in DeutschSüdwestafrika diskutiert und dabei festgestellt, dass im Rahmen von Lindequists »offizieller Unterdrückungspolitik« den San lediglich die Position eines »Mittelglieds zwischen Mensch und Tier« zugestanden wurde.470 Durchaus abweichend lesen sich dagegen die Eintragungen im Tagebuch Schuckmanns über eine Inspektionsreise im Mai 1908. Darin schilderte er das Zusammentreffen mit einigen Angehörigen dieser Ethnie. Es folgte ein Tauschhandel von Antilopengeweihen gegen Tabak. Zwar vermochte sich auch Schuckmann der gängigen Vorurteile nicht entziehen, wenn er annahm, dass einer der San, »ein alter Kerl, […] wohl bald [von seinen Angehörigen] totgeschlagen wird, sobald Nahrungsmangel eintritt«. Andererseits hielt der Gouverneur aber auch fest, dass die San, »wenn sie gut behandelt werden, ganz anständig sind, sie stehlen dann nicht pp.« Auch beschrieb er die Männer als »außerordentlich eifersüchtig«, gerieten diese doch »in die größte Wut, wenn ihren Frauen etwas angetan wird.« Dabei würden sie den Täter tagelang verfolgen und schließlich mit ihren Giftpfeilen töten.471 Während die Ovambo, deren Siedlungsgebiete sich im äußersten, schwer zugänglichen Norden der Kolonie befanden, den Gouverneuren mehr vom Hörensagen als durch eigene Anschauung bekannt waren, standen die Nama ebenso wie die Herero im Mittelpunkt ihres Interesses.472 Besonders bei den ersteren blieben die Deutungsmuster häufig auf machtpolitische Aspekte begrenzt. Dementsprechend generalisierend fiel etwa 465 466 467 468 469 470 471 472
Ebd., S. 26. Seitz, Aufstieg 3, S. 58. Leutwein, Jahre, S. 203, 530. Seitz, Aufstieg 3, S. 60. BA-K N 1669/1, S. 43, Lindequist, Erlebnisse. Spiecker, Tgb., S. 314 (30.6.1906). BA-B N 2272/3, Schuckmann, Tgb. (21.5.1908). Zu den Ovambo: Leutwein, Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 7; ders., Jahre, S. 170–208; Seitz, Aufstieg 3, S. 64.
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Leutweins Beschreibung der »Khauas-« und »Franzmann-Hottentotten« aus. Pauschal bescheinigte er beiden Gruppen »räuberische Neigungen«.473 Lindequist urteilte in dieser Hinsicht ähnlich.474 Leutwein glaubte zudem, dass es sich bei diesen Gruppen um »aalglatte und gewandte Eingeborene« handele, die angesichts der Weite und Unüberschaubarkeit des Landes einen schier »unfassbaren Gegner« darstellten.475 Daher müssten sie erst gebändigt und sesshaft gemacht werden, ehe sie an ein geregeltes Arbeiten gewöhnt werden könnten.476 Das überschaubare Maß an Empathie, das er dem Denken und Fühlen der Indigenen entgegenbrachte, äußerte sich nicht zuletzt in seinem Unverständnis über das »leider immer noch nicht zu bannende Misstrauen der Eingeborenen gegen die Weißen«. So zeigte er sich beispielsweise verwundert über den Nama-Kapitän Claas Matros, der im Februar 1895 mit seinen Leuten geflüchtet und sich in den unzugänglichen Bergen verschanzt hatte. Dieser habe sich »allen Ernstes eingeredet, die Deutschen wollten ihn aufhängen«.477 Dabei hatte Leutwein scheinbar vergessen, dass er selbst im Jahr zuvor die Hinrichtung des Khauas-Kapitäns Andries Lambert verfügt hatte.478 Bezeichnend waren auch Leutweins holzschnittartige Charakterbilder, die er von den Kapitänen entwarf. Lambert war beispielsweise für ihn lediglich ein Räuberhauptmann, der von seinem schlechten Gewissen gepeinigt worden sei und sich deshalb durch Flucht seiner Strafe zu entziehen gesucht habe. Dessen Bruder Eduard habe dagegen in einem »für einen Hottentotten denkbar besten Ruf« gestanden, sei er doch von einem tiefen »Gefühl der Legitimität« beseelt gewesen, wie es für »Eingeborenenmachthaber« untypisch gewesen sei.479 Allerdings schätzte er diesen aber als zu »energielos« ein, um seine »Stammesgenossen auf die Dauer im Zaume halten« zu können.480 Simon Cooper von den »Franzmann-Hottentotten« schnitt bei Leutwein kaum besser als Andries ab. Da auch er sich »an den Räubereien seines Freundes Lambert vielfach beteiligt« habe, sei er bei seiner Begegnung mit Leutwein wegen seines »bösen Gewissens nervös« geworden.481 Bei der Aushandlung eines ›Schutzvertrages‹ habe er zudem einen »hohen Starrsinn« an den Tag gelegt, den Leutwein erst habe »brechen« müssen. Immerhin erkannte er aber einen »ritterlichen Zug« an Cooper: »Als er sah, dass wir beide unbewaffnet waren, schnallte er seinen Revolver ab und warf ihn hinter einen Busch.«482 Dieses nachträgliche Urteil resultierte wiederum aus der Tatsache, dass Cooper sich bis 1904 an die einseitig diktierten Vereinbarungen »ehrlich gehalten« habe. Leutwein folgte dabei erneut dem Prinzip, die chiefs ausschließlich nach machtpolitischen Kategorien zu beurteilen. Damit stand er keineswegs allein, wie auch anhand des Nama-Ka473 Leutwein, Bestrafung, S. 321; ders., Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 14; ders., Jahre, S. 18, 21, 28. 474 BA-K N 1669/1, S. 24–28, 59f., 64–66, Lindequist, Erlebnisse; BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 27.3.1896, Schreiben. 475 Leutwein, Bestrafung, S. 321 (Zitat 1); ders., Khauas-Hottentotten, S. 211 (Zitat 2). 476 Ders., Reise, S. 407. 477 Ders., Keetmanshoop, S. 211. 478 Ders., Bestrafung, S. 320f.; ders., Jahre, S. 23f. 479 Ebd., S. 26. 480 Ders., Bestrafung, S. 321; vgl. ders., Reise, S. 407. 481 Ders., Jahre, S. 28. 482 Ebd.
3. Deutungen des ›Andern‹
pitäns Christian Goliath erkennbar ist. Da es sich bei dessen Gruppe um den »einzigen geschlossenen Hottentottenstamm [handelte], der sich 1904 dem Aufstande nicht angeschlossen hat«, erhielt Goliath von Leutwein das ansonsten selten verwendete Prädikat »intelligent« zugesprochen.483 Auch Seitz bezeichnete diesen als einen »politisch klugen und als Mensch durchaus anständigen Häuptling«, während Solf bei seinem Besuch als Staatssekretär einen »vorzüglichen Eindruck« von Goliath erhalten habe.484 Dass es sich dabei kaum um wirkliche Sympathiebekundungen handelte, belegt das gleichzeitige Fazit, wonach er Goliath keineswegs über den Weg traue.485 Vergleichbare Einschätzungen finden sich für die Baster von Rehoboth. Auch sie beurteilte Leutwein in erster Linie nach ihrem Nutzen zur Aufrechterhaltung der deutschen Herrschaft und schätzte sie unter allen Indigenen als diejenigen ein, die »uns politisch immerhin noch am nächsten stehen«.486 Obwohl er angesichts der »erreichten Kulturstufe« bei ihnen einen »bedeutenden Unterschied« zu den anderen indigenen Gruppen konstatierte, seien sie nichtsdestotrotz mit dem »gewöhnlichen Misstrauen der Eingeborenen« behaftet gewesen.487 Für den Militärdienst seien sie daher lediglich als Hilfstruppe verwendbar.488 Immerhin berichtete Leutwein abweichend zu seinen sonst eher distanzierten Erwägungen, dass von den Basterfrauen »viel Haushaltungsgeschirr begehrt« würde, was für ihn ein Indiz für einen höheren Zivilisierungsgrad war.489 Er war daher überzeugt, dass die jungen Frauen einiger Baster-Familien im Hinblick auf Erziehung und Lebensgewohnheiten »unmöglich mit jedem Hottentotten- oder Hereromädchen auf eine Stufe gestellt werden« könnten.490 In den Einschätzungen von Seitz und Solf spielten zusätzlich Überlegungen über den ›rassischen‹ Status der Baster eine Rolle. Trotz analoger Kategorien gelangten sie durchaus zu unterschiedlichen Resultaten. Während Seitz letztlich auch positive Eigenschaften bei den Baster erkennen zu können glaubte, gewann der allerdings nur durchreisende Solf von deren Ratsmännern einen »verschmitzten, versteckten und durchtriebenen Eindruck«. Er zog daraus den Schluss, dass diese »mehr Hottentotteneigenschaften […] besitzen als Weiße [sic!]«.491 Eine besondere Aufmerksamkeit galt seitens der Gouverneure den Witboi, einer weiteren Teilgruppe der Nama. Sie imponierten Leutwein besonders wegen ihrer kriegerischen Fähigkeiten und zählten daher für ihn zum »besten Material unter unseren Eingeborenenstämmen«.492 Allerdings hätten ihre Streitbarkeit und die daraus resultierenden Konflikte dazu geführt, dass sie ebenso »verwildert« wie »zerlumpt« und dabei »durch-
483 484 485 486 487 488 489 490 491 492
Ebd., S. 29. Seitz, Aufstieg 3, S. 59; BA-K N 1053/36, Bl. 7–9, Solf, Reise-Tgb. (28.6.1912). Ebd., Bl. 11f., Solf, Reise-Tgb. (1.7.1912). Leutwein, Heranziehung, S. 547. BA-B R 1001/5423, Bl. 34f., Leutwein an KA vom 23.8.1898, Bericht (Zitate 1+2); Leutwein, Ansiedelung, S. 548 (Zitat 3). Ebd. Ders., Warenversorgung, S. 409. BA-B R 1001/5423, Bl. 34f., Leutwein an KA vom 23.8.1898, Bericht. Seitz, Aufstieg 3, S. 61; BA-K N 1053/36, Bl. 11f., Solf, Reise-Tgb. (1.7.1912). Siehe auch Kapitel 4.6. Leutwein, Heranziehung, S. 547; vgl. ders., Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 8; ders., Kämpfe, S. 58, 68.
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aus verarmt« seien.493 Anders als die meisten anderen einheimischen Führungspersönlichkeiten schilderte Leutwein ihren Kapitän Hendrik Witboi lange ungewöhnlich positiv. Nicht zuletzt verdankte er seine Ernennung zum Landeshauptmann und Gouverneur in erster Linie dem Vorgehen gegen die Witboi. Im September 1894 hatte er Hendrik zur Annahme eines ›Schutzvertrages‹ genötigt und damit den Grundstein seiner Karriere in Südwestafrika gelegt.494 Es verwundert daher wenig, wenn der Berufsoffizier Leutwein den unterworfenen Gegner zwecks Herausstellung der eigenen Leistungen als einen Mann von »besonderer Genialität und Tatkraft« beschrieb, der ihm durch seine »unbeugsame Willensstärke« imponiert habe.495 Keineswegs handele es sich um »einen Halbwilden«, vielmehr sei Hendrik ein »logisch denkender Mensch mit verhältnismäßig guter Schulbildung« und einem »anerkannten taktischen Verständnis«.496 Auch seine »feineren und einnehmenderen« Gesichtszüge hätten sich von den »gewöhnlichen Hottentotten« unterschieden. Nicht zuletzt habe Hendrik das »Kriechende wie das protzenhaft sich Überhebende« seiner Landsleute ferngelegen.497 Nachdem Witboi im Oktober 1904 den Deutschen erneut den Kampf angesagt hatte, modifizierte Leutwein sein Urteil. Zwar bezeichnete er den Kapitän nach wie vor als »Nationalhelden«, der kraft seiner persönlichen Autorität Einfluss auf die übrigen Kapitäne ausgeübt und zudem eine »christliche und anständige Seele« besessen habe.498 Mit seiner neuerlichen Erhebung habe Hendrik aber ein »seiner ganzen Vergangenheit widersprechendes Verhalten« gezeigt und offenbart, dass auch er über eine »grausame, fanatische Hottentottenseele« verfügte, die mehrere Jahre lang »anscheinend nur geschlummert« habe.499 Durch dieses Handeln habe er »sein Leben […] verwirkt« und sei zum »letzten Nationalheros einer dem Untergange geweihten Rasse« geworden.500 Dieser vermeintliche Wandel Hendriks vom »früher besten Freund« zum »gefährlichsten Gegner« verweist wiederum auf eine keineswegs auf Leutwein beschränkte Einordnung der indigenen Machthaber: Gleichgültig, ob in Togo, Kamerun, Ost- oder Südwestafrika konnten sich diese nur solange eines mehr oder minder positiven Urteils erfreuen, als sie sich der Kolonialregierung gegenüber als willfährig zeigten und sich somit als nützlich erwiesen. Mit einer wie auch immer gearteten Elitensolidarität hatte das zweifellos nichts gemein. Eine Detailanalyse offenbart dennoch partielle Unterschiede. Lindequists nachträgliche Erinnerungen lassen in Übereinstimmung mit seinen zeitnah entstandenen Aufzeichnungen ein weitgehend unterschiedsloses Misstrauen gegenüber den Einheimischen erkennen. Dabei vertrat Lindequist die Ansicht, dass diese jede »Milde […] als
493 Ders., Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 28 (Zitat 1); ders., Kämpfe, S. 58 (Zitat 2); ders., Hendrik Witbooi, S. 212 (Zitat 3). 494 Siehe Kapitel 4.3.3. 495 Leutwein, Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 8; ders., Kämpfe, S. 53. 496 Ders., Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 15, 26. 497 Ders., Kämpfe, S. 53. 498 Ebd., S. 6, 52, 57, 59. 499 Ebd., S. 57. 500 Ebd., S. 58f.
3. Deutungen des ›Andern‹
Schwäche auslegen« und für sich ausnützen würden.501 Bei ihm war dieser Standpunkt keineswegs erst eine Folge des Krieges von 1904–07. Bereits im Sommer 1896 hatte er die angeblich »übergroße Nachgiebigkeit« Leutweins kritisiert.502 In seinen Erinnerungen fand auch Seitz kaum ein freundliches Wort für die Nama. Er hielt diese generell für »schlau, verschlagen [und] für die schlechten Seiten westlicher Zivilisation außerordentlich empfänglich«. Sie seien deshalb »kein sympathischer Typ« gewesen.503 Dass diese Urteile kaum über Allgemeinplätze hinausgingen, war nicht zuletzt ein Resultat der zwischenzeitlichen Erosion der tribalen Strukturen. Die von Leutwein noch mehr oder weniger ausführlich beschriebenen Kapitäne spielten während der Amtszeit von Seitz – sofern sie überhaupt noch lebten – praktisch keine Rolle mehr als intermediäre Akteure. Durchaus vergleichbare Sichtweisen sind in Bezug auf die Herero zu konstatieren. Wegen ihrer Wohn- und Weideplätze standen diese von Anfang an im Fokus der Kolonialregierung. Außerdem war diese Ethnie auch in quantitativer Hinsicht eine der bedeutendsten in Südwestafrika. Namentlich die Lebensweise der Herero als Rinderzüchter war der Kolonialregierung ein Dorn im Auge. Bereits ein knappes Jahr nach seiner Ankunft stellte Leutwein fest, die Herero »scheuen vor zwei Dingen zurück, die mit unseren kolonialen Bestrebungen in direktem Widerspruch stehen«. Einerseits weigerten sie sich, ihr »nicht bewirtschaftetes Land« zu veräußern, zum anderen kritisierte er das »Anhäufen der Ochsenherden«. In seinen Augen war beides »unproduktiv«, während er die Herero selbst für »arbeitsscheu« hielt.504 Interessanterweise griff er dabei auf ein heimisches Bild zurück, verglich er deren Handeln doch mit dem eines »habgierigen Europäers«, der seine »Gold- und Silbermünzen« ohne praktischen Nutzen horte.505 Im Dezember 1894 glaubte Leutwein allerdings noch an eine Umerziehung der Herero, wenngleich dieser Prozess »lange währen« würde. Seine Absichten sah er aber durch die »fortschreitende Zivilisation« begünstigt.506 Ein »endgültiger Wandel« sei jedoch erst dann zu erwarten, wenn die Herero »sich soviel europäische Bedürfnisse angewöhnt haben werden, dass ihre Ochsen rechtzeitig in die Hände weißer Händler übergehen.«507 Das schien sich in seinen Augen abzuzeichnen, würden die Herero doch zunehmend europäische Produkte kaufen und bei guter Ware »anstandslos die höchsten Preise« bezahlen.508 Nachdem sich die Übertragung des Landes an die Europäer aber schleppend vollzog, nahm auch Leutwein die Herero zunehmend als unzuverlässig, misstrauisch, dis-
501 BA-K, N 1669/1, S. 40, Lindequist, Erlebnisse; BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 4.2.1896, Schreiben. 502 Ebd., Lindequist (Seeis) an König vom 26.7.1896, Schreiben. 503 Seitz, Aufstieg 3, S. 55, 58f. 504 Leutwein, Okahandja, S. 80; vgl. ders., Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 38f. 505 Ders., Okahandja, S. 80. 506 Ebd. 507 Ders., Hereros, S. 490. 508 Ders., Warenversorgung, S. 408.
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ziplinlos und »hochfahrend« wahr.509 Im Herbst 1895 äußerte er gegenüber dem Missionar Gottlieb Viehe, dass die Herero ihre »Sitte und Anschauung […] völlig ändern« müssten, da andernfalls ein »friedliches Zusammenwirken mit denselben auf die Dauer nicht denkbar« sei und dann ein »Vernichtungskampf« die ultima ratio darstelle.510 Dabei handelte es sich um eine zwar handfeste, zu diesem Zeitpunkt aber gänzlich unrealistische Drohung, die vor allem darauf abzielte, die Rheinische Mission zu einem entsprechenden Einwirken auf die Herero zu veranlassen.511 Mit ähnlichen Vorurteilen vermochte Lindequist aufzuwarten. Die Herero waren auch für ihn »übermütig«, »unverschämt«, »frevelhaft«, »rinderstolz«, »schwer zu beaufsichtigen«, mitunter aber auch ebenso »devot« wie naiv.512 Abweichend von Leutwein bezeichnete er die Herero aber offen abwertend als »Kaffern« und berichtete bereits im Februar 1896 privatim nach Berlin, dass »an eine friedliche Lösung der Hererofrage […] kaum noch zu denken sein dürfte.«513 Seine Vorstellung, wonach die Herero »ruhig gehalten und zu guten Dienern der Weißen gemacht werden« müssten, vertrat Lindequist auch als Gouverneur.514 In seinen Erwartungen wich auch Schuckmann kaum von dieser Prämisse ab. Er forderte von den Hereros ebenfalls, sie sollten »ordentlich und gehorsam« sein, wobei es »ihnen nicht gestattet werden wird, wie früher lediglich bei dem Vieh herum zu liegen«.515 Der erst seit Ende 1910 in Windhuk amtierende Seitz empfand die Herero dagegen als »sehr viel zurückhaltender« als andere Indigene, gleichzeitig aber als »empfindlich und schwerer zu behandeln«.516 Auch erschienen sie ihm nach dem großen Krieg »keineswegs innerlich gebrochen«, sondern nach wie vor als ein »kräftiges, selbstbewusstes Volk«. Besonders hob er die »unabhängige Stellung ihrer stolzen Frauen« hervor, die ihm ebenso eigensinnig wie »anspruchsvoll« vorkamen.517 Eine detailliertere Beschreibung einzelner Individuen findet sich weder bei Schuckmann noch bei Seitz; beides war zweifellos eine Folge der zumindest äußerlichen »Atomisierung« der tribalen Organisation.518 Bei Leutwein und Lindequist war das noch anders gewesen. Allerdings folgen deren Charakterisierungen dem bekannten Schema, wonach etwa Manasse von Omaruru oder Samuel Maharero aufgrund ihres zeitweiligen Wohlverhaltens als »durchaus friedlich gesinnt«, »äußerst intelligent«, 509 Ders., Niederwerfung, S. 2; Leutwein an Samuel Maharero vom 21.6.1895, zitiert nach: Pool, Maharero, S. 138; Leutwein, Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 4; ders., Jahre, S. 20; BA-B R 1001/5378, Bl. 207f., Leutwein (Windhuk) an KA vom 30.8.1904, Bericht. 510 Leutwein (Windhuk) an Viehe vom 22.10.1895, zitiert nach: Pool, Maharero, S. 143f. 511 Dass ein »Vernichtungskampf« vorläufig kein ernsthafter Bestandteil von Leutweins Erwägungen war, belegt auch sein weiteres Vorgehen: Siehe hierzu Kapitel 4.3.3. 512 BA-K N 1669/1, S. 27, 46, 83, Lindequist, Erlebnisse; BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 5.7.1897, Schreiben; ebd., Lindequist (Windhuk) an König vom 4.2.1896, Schreiben; BA-B R 1001/2119, Bl. 14, Lindequist vom 1.12.1905, Bekanntmachung. 513 BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 4.2.1896, Schreiben; ebd., Lindequist (Windhuk) an König vom 5.7.1897, Schreiben. 514 Spiecker, Tgb., S. 56 (28.10.1905). 515 BA-B R 1001/2140, Bl. 127, Schuckmann vom 25.9.1907, Aufruf an die Herero in Betschuanaland. 516 Seitz, Aufstieg 3, S. 55, 57. 517 Ebd., S. 57. 518 Ebd., S. 65 (Zitat).
3. Deutungen des ›Andern‹
»klug« oder sogar als »politischer Kopf« geschildert werden.519 Widersetzliche Kapitäne erscheinen dagegen als »frevelhaft«, von »Misstrauen« oder einem »ungemessenen Ehrgeiz« beseelt.520 Dass die beiden Gouverneure keine wirkliche Erfassung des jeweiligen Gegenüber anstrebten, sondern auch bei den Herero in erster Linie machtpolitische Erwägungen den Ausschlag gaben, verraten wiederum Leutweins Auslassungen über die Rivalitäten zwischen den einzelnen Teilgruppen. Dementsprechend schrieb er an den Reichskanzler, es könne »nur in unserem Interesse liegen, wenn die Hereros in zahlreiche, untereinander eifersüchtige Kapitänschaften zerfallen«.521 Ohnehin lässt sich erkennen, dass die thematisierten Differenzierungen letztlich konterkariert wurden durch ein bei allen Südwestafrika-Gouverneuren virulentes Repertoire an Vorurteilen und Stereotypen über die afrikanischen Menschen. Das lässt sich durch wenige Beispiele verdeutlichen: Leutwein stellte fest, dass alle »Eingeborenen […] nun einmal nicht für eine Sache, sondern nur für eine Person zu haben« seien. Auch habe er die Erfahrung gemacht, dass diese nur das glauben würden, was sie mit eigenen Augen gesehen hätten.522 Neben der angeblichen »grausamen, fanatischen Hottentottenseele« Hendrik Witbois deuten nicht zuletzt Leutweins Ausführungen über Samuel Maharero, der ihn »nach Negersitte« habe »antichambrieren lassen«, kaum auf ein wirkliches Bemühen zur Erfassung ›des Andern‹ hin.523 Einen vermeintlich großen Abstand zwischen Europäern und Afrikanern glaubte er nicht zuletzt anhand »verschiedener sittlicher Anschauungen« feststellen zu können.524 Noch weiter ging Seitz, der für sämtliche Bewohner Afrikas (und Ozeaniens) glaubte feststellen zu können, diese befänden sich in einem »mehr oder minder primitiven Kulturzustand«. Dabei seien sie zwar »meist gutmütige«, stets jedoch »naive und urwüchsige Naturmenschen«, die über ein »angeborenes Talent zur Nachahmung« verfügen würden.525 Interessanterweise lässt sich angesichts der angeführten Äußerungen aber auch erkennen, dass die Alteritätskonstrukte der in Südwestafrika amtierenden Gouverneure sich von denen ihrer übrigen ›afrikanischen‹ Kollegen kaum unterschieden. Alle nahmen die vorhandenen sozialen, politischen oder kulturellen Unterschiede, durch die sich die einzelnen Ethnien oder Gruppen auszeichneten, durchaus wahr. Allerdings reichten diese Differenzierungen nicht aus, um die gängigen Vorurteile über die afrikanischen Menschen zu überwinden. Trotz aller individuellen Unterschiede in der Deutung ›des Andern‹ lässt sich ein Minimalkonsens erkennen, demzufolge die Afrikaner generell als rückständig, träge und wenig zuverlässig angesehen wurden. Dabei interpretierten die Gouverneure alle davon abweichenden Beobachtungen lediglich als Ausnahmen, welche die vermeintlich unumstößliche Regel bestätigten.
519 Leutwein, Omaruru, S. 77f.; ders., Okahandja, S. 80; BA-K N 1669/1, S. 58, Lindequist, Erlebnisse. 520 Leutwein, Beendigung, S. 491; BA-K N 1669/1, S. 38–40, Lindequist, Erlebnisse; BA-B N 2146/40, Lindequist (Seeis) an König vom 26.7.1896, Schreiben. 521 Leutwein an Reichskanzler vom 20.3.1896, zitiert nach Pool, Maharero, S. 148f.; ähnlich: Leutwein, Deutsch-Süd-West-Afrika, S. 30; ders., Jahre, S. 41. Siehe auch Kapitel 4.3.3. 522 Leutwein, Kämpfe, S. 60, 63f. 523 Ebd., S. 57; ders., Jahre, S. 20. 524 Ebd., S. 235. 525 Seitz, Aufstieg 3, S. 139f., 141.
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3.2.2.2 Ozeanien Abschließend sollen noch die Deutungen der Gouverneure zu den kulturellen Praktiken und intellektuellen Fähigkeiten der in den ›Schutzgebieten‹ Ozeaniens lebenden Menschen untersucht werden. Erneut scheint dort eine Unterteilung nach den drei ethnischen Hauptgruppen sinnvoll. Zu den Melanesiern existiert wiederum eine Fülle von Zeugnissen aus der Feder von Bennigsen, Hahl und Schnee. Dabei lässt sich vorausschicken, dass deren Alteritätskonstruktionen nur wenig voneinander abweichen. In der Mehrzahl der Fälle schildern alle drei das Aufeinandertreffen mit den indigenen Kleingruppen in der Weise, dass die Einheimischen anfangs ein »sehr scheues und zurückhaltendes« Verhalten gezeigt hätten.526 Nach vorsichtiger Annäherung hätten sich die (männlichen) Melanesier aber meist als freundlich und zugänglich erwiesen. Nichtsdestotrotz hätten sie ihre Frauen und Kinder vor den Besuchern zu verbergen gesucht.527 Bennigsen interpretierte dieses Verhalten als »dumme Ängstlichkeit«, die er vor allem auf frühere »Ausschreitungen« von Händlern zurückführte.528 Auch Hahl erwähnt in diesem Zusammenhang Übergriffe von Walfangschiffen sowie gewaltsame Anwerbungen von Arbeitern.529 Eine weitere Ursache für das »scheue Wesen« der Melanesier sei auf deren »tiefe Stufe der Kultur« zurückzuführen.530 Da nur in Ausnahmefällen größere soziale Gruppen existierten, habe das Recht des Stärkeren praktisch die einzige Rechtsinstanz dargestellt. Die Folge seien Blutrache und Fehden untereinander gewesen. Dementsprechend konstatierten die Gouverneure, dass die Bewohner benachbarter Landschaften und Inseln gegeneinander »häufig gewaltsam vorgehen« würden.531 Die Admiralitätsinseln waren in dieser Hinsicht besonders verrufen. Während Bennigsen glaubte, dass es dort Gruppen gäbe, die »aus grundsätzlichen Mördern, Räubern und Menschenfressern« bestünden, schrieb Schnee seinem Vater von den dort generell »heimtückischen Eingebo-
526 Bennigsen, Expedition (1899), S. 699 (Zitat), 700; ders., Reise (1899), S. 809; ders., Bereisung, S. 631, 633f., 637; ders. Dienstreise, S. 639; ders., French-Inseln, S. 756f.; ders., Expedition (1900), S. 325; ders., Salomons-Inseln, S. 116; Hahl, Reise, S. 49f.; ders., Gouverneursjahre, S. 67; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben; Schnee, Gouverneur, S. 28f. 527 Bennigsen, Bereisung, S. 633; ders. Dienstreise, S. 639; ders., Deutsch-Neu-Guinea, S. 283; ders., Salomons-Inseln, S. 116; Hahl, Reise, S. 50; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben. 528 Bennigsen, French-Inseln, S. 754 (Zitate); ders., Dienstreise, S. 639. 529 Hahl, Gouverneursjahre, S. 67. 530 Bennigsen, Expedition (1900), S. 324; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 23.12.1898, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben; Schnee, Bilder, S. 89; ders., Gouverneur, S. 28 (Zitat 1); Hahl, Bismarck-Archipel, S. 115 (Zitat 2). 531 Bennigsen, Expedition (1899), S. 698; ders., Bereisung, S. 633; ders., French-Inseln, S. 758 (Zitat); ders., Weberhafen, S. 561; ders., Neu-Guinea, S. 632f.; Hahl, Reise, S. 47; ders., Gouverneursjahre, S. 66, 181; ders., Rechtsanschauungen, S. 70; ders., Bismarck-Archipel, S. 115; ders., Lage, S. 180; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 14.12.1898, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 11.9.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 24.9.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 3.10.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 27.11.1899, Schreiben; Schnee, Gouverneur, S. 30f.
3. Deutungen des ›Andern‹
renen«.532 Hahl stellte auch nach über zwanzig Jahren nomineller deutscher Herrschaft fest, dass dort nach wie vor Streitigkeiten auf dem Wege der Gewalt ausgetragen würden.533 Auch die Bewohner von Kaiser-Wilhelmsland waren seiner Einschätzung nach »trotzigen und kriegerischen Sinne[s]«.534 Dem Vorurteil, wonach die Melanesier »ausnahmslos wie im Steinzeitalter« leben würden, entsprachen auch die latenten Vorwürfe, sie würden kannibalischen Praktiken huldigen.535 Der angebliche Zusammenhang zwischen einem besonders niedrigen ›Entwicklungsstand‹ und Anthropophagie lässt sich auch in den Zeugnissen der ›afrikanischen‹ Gouverneure feststellen. Wie bereits anhand von Seitz für die Waldlandbewohner Kameruns oder bei Schuckmann für die südwestafrikanischen San gezeigt werden konnte, betrafen solche Zuschreibungen stets die als besonders ›rückständig‹ wahrgenommenen Menschengruppen. Die zeitgenössische Behauptung, dass das Verzehren von Menschenfleisch generell ein Attribut ›primitiver‹ Völker gewesen sei, brachte Schultz selbst auf Mitteleuropa zur Anwendung, wenn er etwa feststellte, dass in dieser Hinsicht »unsere Urahnen gleichfalls nicht ganz stubenrein gewesen sein dürften«.536 Im Gegensatz zu den Samoanern, die diese »Unsitte« aufgrund des ihnen zugeschriebenen kulturellen Fortschritts überwunden hätten, schienen die Melanesier voll und ganz dem Bild des ›Menschenfressers‹ zu entsprechen.537 Es lässt sich daher für die betreffenden Mitglieder des Korpus die einhellige Ansicht belegen, dass die »Papua und Melanesier […] bis heute fast ausnahmslos Kannibalen« seien.538 Demzufolge »verzehren [sie] nicht nur die erschlagenen Feinde, sondern treiben Menschenjagd um der Fleischgewinnung willen«.539 Wenngleich die fast penetrante Wiederkehr dieser Thematik in den Briefen Schnees an seinen Vater wohl auch die Stilisierung seiner Tätigkeit als ›kulturverbreitendem‹ Kolonisator bezweckte, konnten die in Melanesien wirkenden Beamten durchaus auf Begegnungen mit dem Phänomen der Anthropophagie verweisen.540
532 BA-B R 1001/2987, Bennigsen an KA vom 26.2.1900, Bericht (Zitat 1); Bennigsen, Strafexpedition, S. 331; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 3.10.1899, Schreiben (Zitat 2); Schnee, Gouverneur, S. 29f. 533 Hahl, Admiralitätsinseln, S. 1104; JB 1911/12, S. 147; Hahl, Gouverneursjahre, S. 102–104, 174, 181f., 195. 534 Ders., Zusammenstöße, S. 1193f. 535 Schnee, Gouverneur, S. 28 (Zitat); Hahl, Bismarck-Archipel, S. 115. Zum Kannibalismus in Melanesien: Haberberger, Kolonialismus. Allgemein: Peter-Röcher, Mythos, S. 103–153. 536 Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 61. 537 Ebd. (Zitat); vgl. GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 27.11.1899, Schreiben. 538 Hahl, Bismarck-Archipel, S. 115 (Zitat). 539 Ebd. (Zitat). Analoge Zuschreibungen: Bennigsen, Expedition (1899), S. 698; ders., Bereisung, S. 633; Hahl, Gouverneursjahre, S. 70, 153f.; GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (an Bord ›Kudat‹) an Schnee vom 9.12.1899, Schreiben; Bennigsen, Reise (1900), S. 104; Hahl, Rechtsanschauungen, S. 77; JB 1911/12, S. 147; BA-B R 1001/2987, Bl. 90–92, Schnee (Herbertshöhe) an KA vom 8.4.1899, Bericht; Schnee, Bilder, S. 222; ders., Gouverneur, S. 28f., 31; GStA PK Nl Schnee/52, Schultz (Apia) an Schnee vom 19.11.1905; Schreiben. 540 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.4.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe)
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Beispielsweise erwähnt Hahl eine Begegnung mit einem Clanältesten, der als Replik auf seine Ansprache selbstbewusst erwidert haben soll, er »[…] wolle den Feind erschlagen und verzehren, das ist unsere Art, bei dieser will ich bleiben.«541 Auch habe Hahl im Zuge einer Strafexpedition seinen Hilfskriegern verbieten müssen, dass die getöteten »Feinde nach Hause gebracht und verspeist« würden.542 Bennigsen fand dagegen auf den Admiralitätsinseln einige »vor den Hütten aufgehängte Menschenknochen«, die seiner Überzeugung nach ebenfalls »Zeugnis davon ab[legten], dass die Insulaner Menschenfressen als Lieblingsbeschäftigung betreiben«.543 Ein unmittelbares Erlebnis hatte auch Schnee, als er in einem Dorf »frisches Menschenfleisch, noch warm und zum Essen bereit«, vorfand:544 »Es sah etwa wie Kalbfleisch aus, roch ganz angenehm, verursachte aber durch den Gedanken an den Ursprung Ekel, ganz besonders, wenn man die menschliche Form erkannte, wie bei einem Schulterblatt der Fall war.« An dieser Stelle kann und soll nicht bewertet werden, inwiefern es sich bei den geschilderten Wahrnehmungen um realen Kannibalismus, die Präparation von Kriegstrophäen oder um Handlungen im Rahmen von Ahnenkulten o.ä. handelte.545 Wesentlich ist vielmehr die Deutung des Gesehenen seitens der Gouverneure, hegten diese doch offenbar keinerlei Zweifel am Vorkommen von Anthropophagie, was wiederum zur Folge hatte, dass sie sich in ihren vorgefassten Stereotypen von einer erheblichen kulturellen Inferiorität der Melanesier bestätigt sahen. Neben einer kaum ausdifferenzierten Gesellschaftsordnung, häufigen kriegerischen Zusammenstößen untereinander und kannibalischen Praktiken berichten Bennigsen, Hahl und Schnee auch von einer dürftigen materiellen Kultur. Während man den vorgefundenen »ursprünglichen« Waffen und Werkzeugen nur ausnahmsweise einen »ethnographischen« Wert zumaß, vermochten auch die Behausungen kaum zu imponieren.546 Im Hinblick auf die Wohn- und Lebensverhältnisse etwa der Baining auf Neupommern stellte sich Bennigsen die Frage, »wer hier reinlicher ist, der Mensch oder das geliebte Haustier. Ich bin überzeugt, dass viele erwachsene Baining’s, die beim Regen sich fröstelnd in ihre Hütten verkriechen sollen, sich nie in ihrem Leben gewaschen haben und sich unter der sie bedeckenden Dreck- und Aschenkruste sehr wohl fühlen.«547
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an seinen Vater vom 10.9.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 27.11.1899, Schreiben. Hahl, Gouverneursjahre, S. 66f. Ebd., S. 60f.; vgl. Haberberger, Kolonialismus, S. 71. BA-B R 1001/2987, Bl. 198f., Bennigsen an KA vom 26.2.1900, Bericht. GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 24.4.1900, Schreiben (Zitate); Schnee, Bilder, S. 341–343; vgl. Haberberger, Kolonialismus, S. 44–48. Allgemein: Ebd., passim; Peter-Röcher, Mythos, S. 127–131, 135f., 150–152. Die Kontroverse setzt in gewisser Weise die Auseinandersetzungen über die Existenz mehr oder weniger ›edler Wilder‹ fort: Mead, Sex, passim; Fortune, Warfare, S. 22–41. Bennigsen, Bereisung, S. 631; ders., Dienstreise, S. 639. BA-B R 1001/2987, Bl. 126, Bennigsen an KA vom 28.8.1899, Bericht.
3. Deutungen des ›Andern‹
Ähnlich urteilten Hahl und Schnee über die Bewohner derselben Gegend, seien doch deren »Hütten […] ungemein schmutzig und elend; man kann sich eine armseligere Lebenshaltung von Menschen kaum vorstellen.«548 Zwar galten die Baining im Vergleich zu anderen Gruppen als »geistig am wenigsten entwickelt«, doch wurden sie einhellig als ebenso friedfertige wie »geschickte, fleißige Ackerbauern« mit »wohlgepflegten Pflanzungen« beschrieben.549 Solche Zugeständnisse konnten auch anderen Sozialverbänden zuteilwerden, wenn beispielsweise Bennigsen die »schönen sorgfältigen Webereien« der Bewohner von St. Matthias oder Hahl die »Flechtarbeiten« im Norden der Gazelle-Halbinsel bewunderten.550 Wenn es darum ging, die Wesenszüge der angetroffenen Menschen zu charakterisieren, fällt in scheinbarem Gegensatz zum gleichzeitig vorhandenen Generalverdacht der »Menschenfresserei« auf, dass diese in den Zeugnissen der betreffenden Gouverneure oft mit den Adjektiven »freundlich«, »sympathisch«, »liebenswürdig«, »heiter«, »friedlich« und mitunter auch »intelligent« bedacht wurden.551 Diesen Widerspruch suchte Hahl zu reflektieren, als er die Melanesier insgesamt zwar als »kriegerisch, grausam, habsüchtig, dem Fremden feind« einstufte, ihnen zugleich aber auch »gute Eigenschaften« zusprach, seien sie doch beispielsweise »treu gegen den Freund und Verwandten.«552 Dem bereits erwähnten bikman Turandawai bescheinigte er gar ein »ehrliches Gemüt«, habe dieser doch sein Wort gehalten, »nachdem er einmal gelobt hatte, die Blutfehde ruhen zu lassen.«553 Auch Schnee schrieb an seinen Vater, die Melanesier besäßen ein »einnehmendes, schmeichlerisches Wesen«, könnten aber zugleich die »heimtückischsten und grausamsten Kerle sein«, weshalb sie seiner Einschätzung nach die »Harmlosigkeit eines Kindes mit der Natur eines Raubtiers vereinigen« würden.554 Bezeichnenderweise glaubte Bennigsen einerseits feststellen zu können, dass ihr »Wesen auch nicht im Geringsten darauf schließen ließ, dass ein verständiger Europäer mit ihnen nicht stets in gutem Einvernehmen leben könnte«. An anderer Stelle konstatierte er dagegen, dass der »umsitzenden Bevölkerung […] nicht vollkommen zu trauen« sei und im Verkehr mit den Einheimischen es »bei der geringsten Unvorsichtigkeit zu einer Katastrophe« kommen könne.555 548 Hahl, Reise, S. 48; ähnlich: Schnee, Bilder, 220–222. 549 BA-B R 1001/2985, Bl. 139–144, Hahl (Herbertshöhe) an Kayser vom 25.8.1896, Schreiben; Hahl, Bismarck-Archipel, S. 115 (Zitat 1); Bennigsen, Reise (1899), S. 810 (Zitat 2); ders., Weberhafen, S. 561; Hahl, Reise, S. 47 (Zitat 3); ders., Rechtsanschauungen, S. 69f.; Schnee, Bilder, S. 220; JB 1911/12, S. 147. 550 Bennigsen, Dienstreise, S. 639; Hahl, Rechtsanschauungen, S. 71. 551 Bennigsen, Expedition (1899), S. 698, 700; ders., Reise (1899), S. 810; ders., Bereisung, S. 632, 637; ders., Dienstreise, S. 639; ders., French-Inseln, S. 758; ders., Deutsch-Neu-Guinea, S. 282f.; ders., Neu-Guinea, S. 631f.; Hahl, Reise, S. 48; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 10.9.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 27.11.1899, Schreiben. 552 Hahl, Bismarck-Archipel, S. 115; vgl. ders., Gouverneursjahre, S. 66. 553 Ders., Turandawai, S. 469. 554 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben (Zitate 1+2); ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.4.1899, Schreiben (Zitat 3). 555 Bennigsen, Bereisung, S. 634; ders., Dienstreise, S. 639.
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Solche Urteile deuten letztlich darauf hin, dass die Lebensweisen und Denkmuster der Indigenen von den europäischen Betrachtern als besonders fremdartig empfunden wurden und deshalb nur schwer eingeordnet werden konnten. Andererseits verraten die Zeugnisse aber auch Ansätze einer differenzierteren Deutung des Gesehenen. Die dabei immer wieder auftauchenden rassistisch gefärbten Werturteile bezogen sich in erster Linie auf die vermeintlich niedrige kulturelle Entwicklungsstufe der Melanesier. Indizien für eine biologistische Sichtweise bleiben im Rahmen der gesichteten Selbstzeugnisse dagegen selten oder wenig eindeutig.556 Andererseits waren die europäischen Betrachter auch nicht in der Lage, die Distanz gegenüber den Indigenen zu überwinden, was allerdings durch die stets vorrangige kolonisatorische Intention erschwert wurde. Trotzdem Bennigsen mitunter sogar von »unseren neu erworbenen schwarzen Freunden« berichtete, stand in der Regel nicht die Lebenswelt der Menschen im Fokus.557 Stattdessen bestand die Absicht der Gouverneure meist in deren Taxierung als »Arbeitermaterial«.558 Nicht anders als bei ihren Amtskollegen in Afrika findet sich dementsprechend häufig die Feststellung über die angebliche Faulheit der Einheimischen.559 Besonders betraf diese Einschätzung die Männer, die oft dem Müßiggang huldigen würden. Für die Stellung der melanesischen Frau stellte dagegen nicht nur Schnee fest, dass diese im Allgemeinen das »Arbeitstier« abgeben würde.560 Hahl zufolge hätten die Männer zwar das Land zu roden, Hütten zu bauen, zu jagen und zu fischen, doch seien die Frauen für die Feldbestellung, den Handel und die Vorbereitung des »Materials zu den Männerarbeiten« zuständig, vor allem aber obliege ihnen »jede Arbeit, die mit dem Tragen einer Last verbunden ist.«561 An dieser durchaus als befremdlich empfundenen Rollenverteilung habe auch das vielzitierte ›Mutterrecht‹ nichts zu ändern vermocht.562 Angesichts ihrer Beobachtungen und deren Ausdeutung waren sich die Mitglieder der Untersuchungsgruppe nicht nur einig über die vermeintliche Rückständigkeit der angetroffenen Menschen, sondern – wiederum in Analogie zu ihren Amtskollegen in Afrika – auch darüber, dass die ›Zivilisierung‹ der Einheimischen in erster Linie durch deren Heranziehung zu körperlicher Arbeit zu erreichen sei. Nicht nur Hahl hatte frühzeitig die Überzeugung gewonnen, dass der Versuch unternommen werden müsse, die »Kanakennatur […] aus ihrem Schlafe aufzurütteln und ihr den Kampf um geistige Güter zum Bedürfnisse zu machen«.563 Der einzig praktikable Weg dahin war auch für ihn
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Vgl. hierzu: Hahl, Durchquerung, S. 1057; Bennigsen, Salomons-Inseln, S. 113. Ders., French-Inseln, S. 757. Ders., Dienstreise, S. 640. Ders., Strafexpedition, S. 328, 330; ders., Dienstreise, S. 639f.; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 3.10.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.4.1900, Schreiben. 560 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 1.3.1900, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.6.1899, Schreiben; ähnlich: Schnee, Gouverneur, S. 30f. 561 Hahl, Rechtsanschauungen, S. 71; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 10.9.1899, Schreiben. 562 Ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.6.1899, Schreiben; Schnee, Gouverneur, S. 30. 563 BA-B R 1001/2985, Bl. 139–144, Hahl (Herbertshöhe) an Kayser vom 25.8.1896, Schreiben.
3. Deutungen des ›Andern‹
die »Erziehung« der Melanesier »zu Arbeit und Gehorsam«.564 Dabei sah er eine Ausnutzung der »Arbeitskraft ihrer Hände« als entscheidend auch für den Fortbestand der Kolonie an. Zu diesem Zweck sei es unumgänglich, die Indigenen daran zu »gewöhnen, zu uns emporzusehen und unserer Denkweise sich anzubequemen.«565 Wie bereits in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild thematisiert, nahmen die Gouverneure die Melanesier anders wahr als die übrigen Südseeinsulaner. Wurden die Bewohner Mikronesiens und in noch höherem Maße die Samoaner häufig als äußerlich anziehend empfunden, scheinen die Gruppenmitglieder dieses Urteil auf andere Aspekte übertragen zu haben. Wohl am deutlichsten brachte dies Bennigsen zum Ausdruck, der nach seinem ersten Besuch auf dem ostkarolingischen Ponape an Schnee schrieb, die dortigen Einwohner hätten auf ihn einen »sehr sympathischen Eindruck gemacht«, seien sie doch »äußerst freundlich und zuvorkommend« gewesen. Sein Fazit offenbart die Unterschiede beider Alteritätskonstrukte: »Wenn wir doch diese famosen Leute auf unseren Inseln [Bismarckarchipel] statt der Betel- und Menschenfleischkauenden Melanesier hätten.«566 Solche Urteile resultierten keineswegs aus Sympathie, vielmehr glaubte Bennigsen, dass der »Volkscharakter« der Bewohner von Ponape »der Verwaltung […] die Wege« ebnen würde, seien sie doch »stets gern bereit, die […] verlangte Arbeit zu leisten.«567 Bennigsen glaubte bei den Ponapesen aber auch negative Eigenschaften erkannt zu haben, hätten diese doch einen »stolzen, rachsüchtigen Charakter«, während den Friedensbeteuerungen der rivalisierenden chiefs »kaum viel zu trauen« sei.568 Ein zwiespältiges Bild zeichnete auch Hahl. Er bemängelte in erster Linie den Verlust der Ursprünglichkeit. Europäische Händler, Walfänger und die Missionen hätten die »guten alten Sitten […] hinweggefegt«, so dass dort »nur der seines Kulturwertes stolz sich bewusste Nigger« übriggeblieben sei.569 Analog zu den Bemerkungen der Europäer über die sogenannten »Hosennigger« in den afrikanischen Kolonien äußere sich seiner Meinung nach die oberflächliche Zivilisierung dadurch, dass die Bewohner von Ponape nur außerhalb ihrer Wohnungen europäische Kleidung trügen, während sie »in der Hütte« diese »lästigen Zutaten der Gesittung schnell von sich« werfen würden.570 Neben einer Aushöhlung der »ursprünglichen Herrschaftsverhältnisse« glaubte Hahl den kulturellen Verfall auch in einer »Sucht nach leichtem Erwerb mit vielem Gewinn« erkennen zu können, was dazu geführt habe, dass Diebstahl inzwischen »an der Tagesordnung« sei.571 Die Insulaner seien daher weder als ›edle Wilde‹ noch als ein – im europäischen Sinn – kultiviertes
564 Hahl, Bismarck-Archipel, S. 115. 565 Hahl, Ansprache im Rabaul-Club vom 11.4.1914, abgedruckt in: Amtsblatt DNG 8 (1914), S. 123; ähnlich: Hahl, Gouverneursjahre, S. 45f. 566 GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (an Bord ›Kudat‹) an Schnee vom 9.12.1899, Schreiben; ähnlich: BA-B R 1001/2999, Bennigsen an KA vom 7.12.1899, Telegramm; Bennigsen, Reise (1900), S. 102–104. 567 Ders., Reise (1901), S. 447. 568 Ders., Reise (1900), S. 104; vgl. BA-B R 1001/2996, Bl. 93, Haber an RKA vom 2.6.1914, Bericht. 569 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Ponape) an Schnee vom 4.12.1900, Schreiben; ähnlich: Hahl, Mittheilungen, S. 12; ders., Feste, S. 95, 102; ders., Gouverneursjahre, S. 131. 570 Ders., Mittheilungen, S. 12. 571 Ders., Gouverneursjahre, S. 131 (Zitat 1); ders., Mittheilungen, S. 12 (Zitate 2+3).
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Volk anzusehen; vielmehr befänden sie sich Hahl zufolge »in einem halbfertigen Zustande«.572 Die letzten Reste der alten Kultur glaubte er lediglich in der Fest- und Tanzkultur erkennen zu können.573 Darüber hinaus stellte er fest, dass zumindest »Stolz, Tapferkeit, Verachtung gegen den Fremden, bei aller Nachahmung seiner Kultur […] den Leuten geblieben seien.« Dabei handle es sich zwar um »keine schlechten Eigenschaften«, doch sei fraglich, ob die »alte Kultur« noch zu retten sei.574 Nach mehr als einem Jahr Aufenthalt auf der Insel schrieb Hahl bezeichnenderweise an Schnee, er sehne sich wieder »nach dem schwarzen Mann« auf dem Bismarckarchipel.575 Dass es sich dabei keineswegs um eine momentane Stimmung handelte, belegt ein Bericht seines Nachfolgers. Danach habe Hahl ihm gegenüber geäußert, er wünsche »Ponape nicht wiederzusehen«.576 Diese Abneigung besserte sich auch nach mehreren Jahren kaum, schrieb Hahl doch noch im Januar 1911 – allerdings vor dem Hintergrund der Ermordung mehrerer Beamter durch die Insulaner – über das »intrigante Wesen der Eingeborenen.«577 Stellt man Hahls Äußerungen über die Bewohner von Ponape denen über die Melanesier gegenüber, dann wird deutlich, dass seine Vorstellung vom kolonialen Projekt offenbar darin bestand, vermeintlich primitive Völker mit den Mitteln staatlicher Verwaltung schrittweise zu ›zivilisieren‹. Neben seinen eigenen Zeugnissen, findet sich Hahls Absicht, im Gegenzug alle als schädlich eingestuften Einflüsse von den Insulanern fernzuhalten, auch in anderen Quellen. Beispielsweise beschrieb der Maler Max Pechstein, der mit ihm auf dem Weg nach Palau zusammentraf, die von Hahl kommunizierten Absichten folgendermaßen:578 »Der Betreuer dieser Inselgebiete […] war ein kluger Beamter, der ängstlich darauf achtete, dass nichts Europäisches eindrang und die Insulaner verdarb. […] Abgehetzt stand der Mann […] vor mir und beschwor mich, um Gottes willen die Palauer selbst und ihre naturgebundenen Gewohnheiten nicht durch europäische Nichtigkeiten zu zerstören.« Im Gegensatz zu den von ihm als ›unverdorben‹ wahrgenommenen Melanesiern sah Hahl in den Mikronesiern ein bereits durch Händler und Missionare geschädigtes und deshalb »erst zur Heilung zu bringendes Volk«. Dass er seinen Zivilisierungsauftrag keineswegs auf das ›Volkswohl‹ alleine beschränkt sah, vielmehr stets politische
572 573 574 575 576 577
Ebd. Ders., Feste, S. 95. Ders., Mittheilungen, S. 12f. (Zitate 1+2); ders., Feste, S. 99 (Zitat 3). GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Ponape) an Schnee vom 4.12.1900, Schreiben. BA-B R 1001/3002, Bl. 18, Berg (Ponape) an KA vom 8.6.1902, Bericht. Ebd., Bl. 73f., Hahl (Germersheim) an RKA vom 8.1.1911, Bericht. Zu diesem Aufstand und dessen Niederschlagung: Hiery, Reich, S. 282–284; Hempenstall, Mikronesier, S. 593–595; Morlang, Rebellion; Krug, Hauptzweck, S. 313–347. 578 Pechstein, Erinnerungen, S. 54f.
3. Deutungen des ›Andern‹
Rücksichten, vor allem aber die »Erwartung des größtmöglichen Nutzens« für die Kolonialmacht im Blick hatte, wurde bereits angedeutet.579 Unter staatlicher Aufsicht und somit unter vermeintlich kontrollierten Bedingungen hielt auch Hahl es keineswegs für verwerflich, wenn man den Einheimischen »deutsche Ware näher bringt und die Verwertung ihrer Erzeugnisse zu guten Preisen gewährleistet.«580 Wenngleich mit geringerer Sensibilität für die Auswirkungen des europäischozeanischen Kulturkontakts sah Bennigsen das kaum anders.581 Er beurteilte die in Mikronesien angetroffenen Menschen ebenfalls nach ihrer Friedfertigkeit, Freundlichkeit und Intelligenz ebenso wie nach ihrer Eignung und Bereitschaft, als Arbeiter zu fungieren.582 Auch sein Gesamtbild fiel daher keineswegs ausschließlich positiv aus. Zwar findet sich in Bennigsens Beschreibungen ein hoher Anteil von »außerordentlich friedlich und gutmütig«, »zutraulich« oder »auffallend intelligent« auf ihn wirkenden Menschen, doch schilderte er einige von ihnen auch als »sehr wilde, von der Kultur noch kaum berührte«, »sehr faule und indolente« oder »sehr träge« Insulaner.583 Wie bereits anhand Ponapes gezeigt werden konnte, ging es Bennigsen auch im übrigen Mikronesien vor allem darum, »gute Arbeiter« zu erhalten, die sich »gern nach auswärts« anwerben ließen.584 Sein Plädoyer im Reichstag, wonach deren Kolonisierung praktisch ausschließlich den »hohen ideellen Zweck« verfolge, die Menschen »in ihrem Bestande zu erhalten und allmählich zur Kultur zu erziehen«, dürfte daher vorrangig auf die mediale Außenwirkung abgezielt haben.585 Auch Haber, der kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs als designierter Nachfolger Hahls in die Südsee entsandt wurde, berichtete im Juni 1914, dass er sowohl auf den Marshall-Inseln als auch auf den Ostkarolinen »nicht nur intelligente, sondern auch kulturgierige« Menschen vorgefunden habe. Diese würden sich durch Einbindung in die kolonialen Wirtschaftskreisläufe die »materiellen Mittel« verschaffen, um an der »europäischen Kultur« teilhaben zu können.586 Negativ nahm er dagegen zur Kenntnis, als er auf den West-Karolinen den Eindruck einer »recht verschlossenen Bevölkerung« gewonnen hatte, die »am liebsten an ihren alten Gewohnheiten festhalten möchte.«587 Wie seine Kollegen vermochte auch Haber offenbar den inneren Widerspruch nicht zu erkennen, wenn er einerseits nicht nur der auf Palau vorgefundenen »uralten Kultur« mit ihren Bauten, Sitten und Denkweisen seine Bewunderung zollte, es andererseits aber
579 Hahl an RKA vom 21.6.1912, Bericht, zitiert aus: Hardach, König, S. 121, 126; vgl. BA-B R 1001/2474, Bl. 3f., Hahl (Berlin) an Lindequist vom 28.10.1910, Bericht; ebd., Bl. 16–18, Hahl an Lindequist vom 5.8.1911, Bericht. Siehe auch Kapitel 4.4.1. 580 Ebd., Bl. 3f., Hahl (Berlin) an Lindequist vom 28.10.1910, Bericht. 581 Bennigsen, Reise (1900), S. 100, 106. 582 GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (an Bord ›Kudat‹) an Schnee vom 9.12.1899, Schreiben; Bennigsen, Reise (1900), S. 100–109; ders., Reise (1901), S. 447–450; BA-B R 1001/2999, Bennigsen an KA vom 7.12.1899, Telegramm. 583 Bennigsen, Reise (1900), S. 100–109; ders., Reise (1901), S. 447–450. 584 Ebd., S. 449. 585 Bennigsen im Reichstag am 6.3.1902, in: Verhandlungen RT, Bd. 183, S. 4637. 586 BA-B R 1001/2996, Bl. 93–95, Haber an RKA vom 2.6.1914, Bericht. 587 Ebd.
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als unumgänglich ansah, den »intelligenten und angenehmen Eingeborenen« Mikronesiens die »Segnungen der europäischen Kultur« näherzubringen und ihnen dadurch zu einer »verfeinerten Lebenshaltung und Erlangung reichlicher und reinlicher Kleidung« zu verhelfen.588 Ebenfalls einen hohen ›Entwicklungsstand‹ registrierten die Gouverneure bei den Samoanern. Als Indikator wurde dabei auch das Bewusstsein der Menschen über ihre eigene kulturelle Vergangenheit gesehen. In dieser Beziehung wirkten dagegen die Melanesier als Paradebeispiel einer vermeintlich geschichtslosen Ethnie.589 Im Gegensatz dazu postulierte Hahl in Bezug auf die polynesischen Südseeinsulaner, dass diese eine »Überlieferung ihrer Wanderungen« besäßen und nicht zuletzt deshalb »auf einer höheren Stufe der Kultur« stünden.590 Diese Einschätzung teilte er mit denjenigen Mitgliedern des Korpus, die für längere Zeiträume in Samoa tätig waren. Nicht nur Schultz beanspruchte deshalb »für die Polynesier im allgemeinen und für die Samoaner im besonderen eine bevorzugte Stellung unter den farbigen Rassen«. Als Begründung führte er an, dass die Samoaner das »gesittetste aller eingeborenen Völker« seien.591 Auch Schnee zeichnete ein überwiegend positives Bild, wobei ihm vor allem die »liebenswürdigen Sitten und bezaubernde Höflichkeit« der Samoaner imponierten. Mit sichtlicher Begeisterung beschrieb er deren »außerordentliche Gastlichkeit«, die sich durch »herrliche Begrüßungsansprachen«, ein ausgeklügeltes Zeremoniell, ansprechende Tischsitten und »kunstvolle« Tanzvorführungen auszeichne.592 Gleiches galt für die »liebenswürdigen Samoanerinnen«, die noch dazu »verhältnismäßig tugendhaft« gewesen seien.593 Andererseits verschwieg Schnee nicht die ihn weniger ansprechenden Eindrücke, empfand er die Freundlichkeiten der Samoaner doch gleichzeitig als übertrieben und unaufrichtig. Darüber hinaus hielt er sie für ein »unruhiges Völkchen«, dessen Clans fortwährend untereinander zerstritten wären. Daneben frönten die Samoaner seiner Ansicht nach häufig dem Müßiggang und zeichneten sich durch eine ausgeprägte Neigung zur Lüge sowie Unzuverlässigkeit aus. Ohnehin seien sie weniger intelligent als die Europäer, allerdings auch von geringerer »Bösartigkeit«.594 Die Briefe aus seiner Amtszeit verraten zudem, dass Schnee die Samoaner letztlich als nachgiebig und – wenn von starker Hand regiert – lenkbar einschätzte.595 Das Bild, das Solf von den Bewohnern der beiden Hauptinseln Upolu und Savai’i zeichnete, fiel etwas differenzierter aus. Sein tatsächlicher Aufenthalt erstreckte sich auf etwa sechseinhalb Jahre, doch hielt er sich bereits nach kurzer Zeit für kompetent in Bezug auf die Erfassung der Denk- und Lebensweisen der dortigen Menschen. Nach weniger als einem Jahr schrieb er nach Deutschland, dass er – im Vergleich zu den übrigen 588 589 590 591 592 593 594 595
Ebd. Bennigsen, Expedition (1899), S. 699. Hahl, Bismarck-Archipel, S. 115f. Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 21. Schnee, Gouverneur, S. 36–38. Ebd., S. 41. Ebd., S. 37f., 41. BA-K N 1053/131, Bl. 29–34, Schnee (Apia) an Solf vom 2.2.1902, Schreiben; ebd., Bl. 43–46, Schnee (Apia) an Solf vom 16.3.1902, Schreiben; ebd., Bl. 58–64, Schnee (Apia) an Solf vom 7.4.1902, Schreiben; ebd., Bl. 65–68, Schnee (Apia) an Solf vom 28.4.1902, Schreiben.
3. Deutungen des ›Andern‹
Europäern vor Ort – eine »bessere Kenntnis des Wesens und der Gedankengänge der Eingeborenen« besäße.596 Immerhin scheinen die Modalitäten des Umgangs mit den indigenen Würdenträgern durchaus seiner eigenen Vorstellung von kolonialer ›Diplomatie‹ entsprochen zu haben, stellte er doch fest: »Meine Waffe ist Geduld und die Kunst mit den Häuptlingen stundenlange Verhandlungen zu pflegen, dabei immer angenehme Dinge zu sagen, ohne irgend eine Verpflichtung einzugehen.«597 Stärker als Schnee passte sich Solf rasch den lokalen Gepflogenheiten an, nutzte dies aber zugleich für seine Zwecke aus. Seine Einstellung rechtfertigte er nicht zuletzt damit, dass nach seiner Einschätzung die Samoaner »alle mir bekannt gewordenen Nationen im Lügen« überträfen.598 Solfs Briefe aus Apia lassen allerdings auch erkennen, dass es im Laufe der Zeit zu einer Abmilderung seines Urteils gekommen zu sein scheint. Nach rund zweieinhalb Jahren schrieb er:599 »[…] im Großen und Ganzen sind die Samoaner ein Volk, das unseres Interesses und unserer Zuneigung wohl wert ist. Je mehr man in den Geist der Leute eindringt, desto mehr charmante Eigenschaften treten dem Hang zur Intrigue und direkten, selbst durchaus unnötigen Lüge entgegen. In Savaii, meinem Lieblingsaufenthalt, sind die Samoaner in ihrem Wesen teilweise geradezu entzückend und stechen auf allen Inseln in der Ausübung von gesellschaftlichen Formen vorteilhaft von den fremden Ansiedlern ab.« Zwar blieb er seinen Ansichten über die vermeintlich unaufrichtigen und »leichtgläubigen Samoaner« treu, doch bestand er schließlich darauf, dass die sprichwörtliche »Faulheit der Samoaner […] sehr cum grano salis zu verstehen« sei.600 Die Notwendigkeit einer Relativierung ergab sich für ihn aus deren traditioneller Lebensweise:601 »In jedem samoanischen Dorfe, das für sich ein Gemeinwesen bildet, hat jede Klasse von Eingeborenen ihre überlieferungsgemäß bestimmte zugeteilte Arbeit. […] Die Idee der Samoaner ist die, dass jeder, der außerhalb seiner Gemeinde arbeitet, seinen Verdienst der Gemeinde schuldet, da seine Tätigkeit für die Gemeinde in Fortfall kommt. Daher das geringe Interesse der Samoaner, für Fremde zu arbeiten. […] Dazu kommt die Ansicht, dass Arbeiten als Knecht für Bezahlung als verächtlich gilt.« Solche Ansichten dürfe man Solf zufolge keineswegs als »Albernheiten« ansehen, vielmehr müsse man versuchen, die fremden Denkweisen verstehen zu lernen.602 Freilich war ein solches ›Verstehen‹ keineswegs Selbstzweck, vielmehr blieben die Bewohner 596 BA-K N 1053/130, Bl. 12–22, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 20.3.1900, Schreiben. 597 BA-K N 1053/20, Bl. 139f., Solf (Apia) an Oberlandesgerichtsrat Dietz vom 15.3.1900, Schreiben; vgl. Vietsch, Solf, S. 61f. 598 BA-K N 1053/130, Bl. 86–93, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 5.10.1900, Schreiben. 599 Ebd., Bl. 121f., Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 25.11.1901, Schreiben; auch abgedruckt in: Vietsch, Solf, S. 65. 600 BA-K N 1053/28, Bl. 2–6, Solf (Berlin) an Passarge vom 29.10.1906, Schreiben (Zitate); BA-K N 1053/127, Bl. 28–33, Solf (Apia) an Rose vom 21.5.1904, Schreiben; Solf, Eingeborene, S. 6–8. 601 BA-K N 1053/28, Bl. 2–6, Solf (Berlin) an Passarge vom 29.10.1906, Schreiben. 602 Solf, Eingeborene, S. 5f.
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Samoas auch in den Augen Solfs stets »kindlich«, »schwach« und »wankelmütig«.603 Als »große Kinder« bedürften sie daher – entsprechend einem Kernbestandteil kolonialer Ideologie – »der Erziehung […] und der Leitung« durch die deutsche Verwaltung.604 Als Gouverneur sah sich Solf somit für die Samoaner idealiter als »Vater«, der ein »Herz für sie hat« und »sie leiten und nicht unterdrücken will«.605 Entsprechend dieser Vorstellung eines ebenso gestrengen wie wohlwollenden Patriarchen, gab sich Solf überzeugt, dass die Menschen der beiden Hauptinseln zum Gehorsam gebracht werden könnten. Dabei dürfe deren Behandlung aber nicht »zu milde oder zu hart oder ungerecht« sein, doch müsse zugleich das »Schlechte, Barbarische und Dumme« aus den Lebensweisen der Samoaner »ausgemerzt« werden. Auch alles übrige solle »nach unseren Formen und Anschauungen« umgeformt werden.606 Dies wiederum könne nicht ohne »Strenge und wenn nötig Härte« geschehen, doch ließen sich Solf zufolge auf diese Weise die Samoaner zur »höheren Kultur« führen und »in langsamem Tempo und mit Geduld [zu] brauchbare[n] Menschen machen«.607 Die Vorstellungen Solfs verraten, dass er – ungeachtet seines zweifellos vorhandenen Einfühlungsvermögens – im Prinzip nicht wesentlich von den Ansichten der meisten anderen Samplemitglieder abwich. Während Solf sich selbst für den besten Kenner der Samoaner hielt, erwuchs ihm mit seinem Stellvertreter und Nachfolger in dieser Beziehung ein ernstzunehmender Konkurrent. Wenngleich nur rund siebzehn Monate als Gouverneur, konnte Schultz mit knapp elf Jahren auf eine wesentlich längere Anwesenheit in diesem ›Schutzgebiet‹ zurückblicken. Auch nutzte er seine Amtstätigkeit als Oberrichter dafür, sich mit den Rechtsvorstellungen und der Sprache der Insulaner intensiv auseinanderzusetzen.608 Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass auch seine Werturteile über die Denkund Lebensweisen der Samoaner durchaus unterschiedlich ausfielen, je nachdem, ob es sich um seine unveröffentlichten, zeitnah entstandenen Selbstzeugnisse oder um publizierte Äußerungen handelt. Insbesondere in den nach 1918 entstandenen Schriften kombinierte er seine Südsee-Wahrnehmungen mit unverhohlener Kritik an der vermeintlich dekadenten Republik von Weimar sowie der Wegnahme der deutschen Kolonien durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges. Doch selbst aus seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1926 lässt sich eine mit Solf (und anderen Gouverneuren) vergleichbare Grundhaltung gegenüber den Indigenen herauslesen:609 »Meinen alten samoanischen Freunden […] bin ich noch das Zeugnis schuldig, dass keiner von ihnen jemals den mir schuldigen Respekt auch nur durch den Schatten eines Anspruchs auf Gleichberechtigung zu mindern versucht hat. Sie blieben innerhalb ihrer Voraussetzungen und missbrauchten nie die herzlich-kameradschaftliche Vertrau-
603 BA-B N 2146/58, Solf (Apia) an König vom 30.4.1904, Schreiben (Zitate 1+2); BA-K N 1053/28, Bl. 2–6, Solf (Berlin) an Passarge vom 29.10.1906, Schreiben (Zitat 3); vgl. Solf, Eingeborene, S. 27. 604 Ebd., S. 15. 605 Ebd., S. 4f. 606 Ebd., S. 5. 607 Ebd., S. 17f. (Zitat 1+2); BA-B R 1001/2975, Bl. 3, Solf (Apia) an RKA vom 3.5.1910, Bericht (Zitat 3). 608 Schultz[-Ewerth], Grundsätze; ders., Redensarten; ders., Erbrecht; ders., Recht; ders., Erinnerungen; ders., Samoa, S. 657–712. 609 Ders., Erinnerungen, S. 22.
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lichkeit, die sich unter patriarchalischen Verhältnissen so gut mit der Autorität verträgt.« Das damit ausgesprochene Axiom, als Europäer in jedem Fall der »Höherstehende« zu sein, findet sich noch augenfälliger in den überlieferten Briefen, die Schultz in den Jahren zwischen 1905 und 1914 an unterschiedliche Adressaten gerichtet hat.610 Darin verglich er etwa seinen Umgang mit aufgebrachten samoanischen Würdenträgern »mit einer Lärmszene, die eine Schar ungezogener Kinder vollführt, um ihren Vater […] herbeizurufen, damit er mit ihnen spricht.«611 Auch seine sonstigen Zuschreibungen überraschen wenig, hielt doch auch Schultz die Samoaner für faul, unaufrichtig, »misstrauisch«, »halsstarrig« und zu Gewaltausbrüchen neigend.612 Dementsprechend glaubte er, diese seien, »wenn aufgeregt, zu allem fähig & dann mit Vorsicht zu behandeln, wenn ruhig oder gar mit einem schlechten Gewissen behaftet, sind diese Leute wie eine Herde Schafe.«613 Auch in den Augen von Schultz erhielten die Insulaner damit Objektstatus. Als Gouverneur schrieb er dementsprechend an Solfs Ehefrau, unter seiner Leitung seien die Samoaner »wie früher nett & vergnügt«. Dabei bereite es ihm »viel Freude, sie mit allerhand zu beschäftigen«.614 Angesichts seiner Imagination eines patriarchalischen Umgangs mit rückständigen ›Eingeborenen‹ äußerte Schultz im Mai 1914 aber auch Ängste vor einem sich abzeichnenden Ende des einseitigen Idylls:615 »Taio ist ein Beispiel dessen, was wir von den heranwachsenden samoanischen Generationen […] zu erwarten haben: gute Schulbildung und Begabung ergänzen in diesen jungen Halbbarbaren bei gänzlichem Mangel an Selbstkritik & aus ähnlichem Verständnis den törichten Glauben, daß sie als Rasse den papalazi [Europäern] gleichwertig seien & daher auch gleichgestellt werden sollten. Ich habe einen persönlichen Widerwillen gegen alle jungen Samoaner, die eine fremde Sprache sprechen, und bedauere es immer aufrichtig, wenn einer von der alten Garde in Tagaloa’s Himmel […] eingeht.« Alle mit ernsthaften Absichten betriebenen Studien über die indigene Sprache und Kultur sowie der langjährige Kontakt mit den Menschen selbst hatten es bei Schultz offenbar nicht vermocht, ihn von seiner Ansicht abzubringen, selbst einer »Kulturelite« anzugehören, der gegenüber die Samoaner lediglich als »große Kinder« ihre Rolle zu spielen hatten.616 Dabei lehnte er – wie die meisten seiner Amtskollegen – die biologistische Variante des Rassismus allerdings ab und bekannte sich stattdessen ausdrücklich
610 Ebd. (Zitat). 611 BA-K N 1053/132, Bl. 20–23, Schultz (Apia) an Solf vom 2.2.1905, Schreiben; ähnlich: GStA PK Nl Schnee/52, Schultz (Apia) an Schnee vom 21.6.1905, Schreiben. 612 Ebd. 613 Ebd., Schultz (Apia) an Schnee vom 19.11.1905, Schreiben. 614 BA-K N 1053/132, Bl. 107–117, Schultz (Vailima) an Hanna Solf vom 20.10.1913, Schreiben. 615 Ebd., Bl. 122–124, Schultz (Apia) an Solf vom 5.5.1914, Schreiben; vgl. Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 18. 616 Ebd., S. 21 (Zitat 1), 62f. (Zitat 2), 145.
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dazu, ein »Verfechter des Milieuprinzips« zu sein. Demensprechend verneinte er in seinen Memoiren ein Aufrollen der »Rassenfrage« in den (ehemaligen) deutschen Kolonien. Stattdessen wollte er die Indigenen als »Beispiel des Wachstums menschlicher Einrichtungen« verstanden wissen.617 Gerade dieses nachträglich beschworene ›Wachstum‹ war ihm in den letzten Jahren seines Aufenthalts offenbar allzu rasch vonstattengegangen, schien doch dadurch die koloniale Dichotomie in Frage gestellt.
3.3 Exkurs: Sexuelle Kontakte mit Indigenen Während sich die Selbstzeugnisse der Gouverneure im Hinblick auf ihre Deutungen der Landschaften und Menschen Afrikas und Ozeaniens als ergiebig erweisen und dabei selbst pikantere Themen nicht aussparen, thematisieren die obersten Beamten in den Kolonien ihre eigenen sexuellen Kontakte mit Indigenen praktisch überhaupt nicht. Selbst in den zeitnah entstandenen und nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Privatbriefen und Tagebüchern finden sich hierzu kaum eindeutige Belege. Die folgenden Ausführungen basieren daher vorrangig auf den Aussagen Dritter; mitunter lassen sich Erkenntnisse sogar aus dem offiziösen Schriftgut gewinnen. Dass einschlägige Verbindungen zwischen Europäern und Indigenen auch in den deutschen Kolonien keine Seltenheit waren, dürfte kaum überraschen. Ungeachtet einer den zeitgenössischen Konventionen geschuldeten Zurückhaltung, solche Kontakte zu kommunizieren, war diese Tatsache selbst im imperialen Zentrum keineswegs unbekannt. Über die mediale Berichterstattung sowie das Forum des Reichstags war selbst die interessierte Öffentlichkeit im Bilde über solche Vorkommnisse im Allgemeinen.618 Nichtsdestotrotz ergab sich insbesondere für die exponierten Gouverneure die Notwendigkeit, ihre Sexualkontakte mit Einheimischen im Verborgenen zu halten. Das vielzitierte und für andere Europäer in den Kolonien zu konstatierende erhöhte Maß an Freizügigkeit traf auf sie deshalb nicht zu. Das konnte bereits anhand der ›Affäre‹ Leutweins verdeutlicht werden, obwohl es sich dabei nicht um eine afrikanische, sondern um eine europäische Geliebte handelte.619 Vergleichsweise eindeutig zu den Beziehungen zwischen europäischen Männern und afrikanischen Frauen äußerte sich lediglich Max Buchner, der nicht in die Untersuchungsgruppe aufgenommene Kommissar von Kamerun. Er vertrat schon 1887 in seinem Buch über die dortigen Lebensverhältnisse die Ansicht: »Eine intime schwarze Freundin zu haben, schützt vor manchen Gefahren.«620 Ebenso ungeschminkt beschrieb er die Umstände des Zustandekommens solcher Verbindungen, würden doch 617 Ebd., S. 16–21. 618 Beispiele: Kladderadatsch Nr. 12 vom 22.3.1896, zitiert nach: Bösch, Geheimnisse, S. 280 (Abb. 7); Rede des Abgeordneten Georg Ledebour im Reichstag am 2.5.1912, in: Verhandlungen RT, Bd. 285, S. 1651. 619 Zur sexuellen Freizügigkeit der Europäer in den Kolonien: Hyam, Empire, S. 88; Hiery, Reich, S. 51–57; Walther, Sex, S. 11. Auf der Stations-/Bezirksleiterebene waren die Konventionen offenbar weniger streng: Zurstrassen, Beamte, S. 83, 93f.; Graichen/Gründer, Kolonien, S. 139; Ebert, SüdseeErinnerungen, S. 25. Zu Leutwein siehe Kapitel 2.4. 620 Buchner, Kamerun, S. 154f.
3. Deutungen des ›Andern‹
die afrikanischen »Männer ihre Weiber an die Europäer als Konkubinen vermieten«.621 Wenngleich nicht auf sich selbst bezogen, berichtete auch sein Nachfolger Soden an das Auswärtige Amt von einem Handelsstreit mit den Duala, die daraufhin »alles Dienstpersonal, sämtliche Bettschätze inbegriffen«, abgezogen hätten.622 Angesichts der Häufigkeit dieser Praxis sah sich der erste Gouverneur Kameruns wenig später dazu veranlasst, sich selbst und seine Behörde für sämtliche Klagen, die mit »Ankauf oder zeitweiliger Überlassung eingeborener Frauenzimmer« zusammenhingen, für unzuständig zu erklären.623 Über die auch im Bismarckarchipel übliche Praxis des Frauenkaufs äußerten sich ebenso Hahl und Schnee.624 Besonders die Schilderungen des ersteren über die Geschlechterverhältnisse unter den Indigenen fallen derart detailliert aus, dass auch bei ihm die Verarbeitung persönlicher Erfahrungen wahrscheinlich ist. Einen konkreten Beleg liefert zudem die Hahl wohlgesonnene Missionarsgattin Johanna Fellmann, die im Dezember 1901 nach Hause schrieb:625 »Du fragst, wer Repräsentantin ist in Dr. Hahls Hause. […] Er ist wie all die anderen mit einem eingeborenen Mädchen auf eingeborene Art verheiratet, und sagte mal zu Heinrich [Fellmann], dass er den Gedanken, sich je zu Hause zu verheiraten, aufgegeben habe.« Einen visuellen Hinweis für Hahls intime Kontakte liefert nicht zuletzt eine Fotografie, die den damaligen Richter und Bezirksamtmann zusammen mit einer Melanesierin und einem Säugling zeigt. Allein das Arrangement lässt kaum Zweifel am Vorliegen einer engeren persönlichen Beziehung ebenso wie an der Vaterschaft Hahls.626 Gleichzeitig suggeriert die Bemerkung Fellmanns eine gewisse Normalität solcher Sexualverhältnisse, was wiederum die anderen in Neuguinea amtierenden Mitglieder der Untersuchungsgruppe in den Fokus rücken lässt. Zwar mangelt es auch bei ihnen an eindeutigen Belegen, doch korrespondierte beispielsweise der damalige stellvertretende Gouverneur Schnee mit seinem Förderer in der Kolonialabteilung, dem ebenfalls südseeerfahrenen Ernst Schmidt-Dargitz, über die »in der Südsee allerdings betrübend rückständige Frauenfrage«. Schmidt-Dargitz äußerte vielsagend, dass den meisten Beamten in dieser Hinsicht das »Aushalten […] schwer« falle. Gleichzeitig distanzierte sich der Referent in der Kolonialabteilung allerdings vom gewaltsamen Vorgehen eines Carl Peters oder eines Heinrich Leist, die in den Kolonien »die Weiber für fungible Sachen« ansähen.627 Bei
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Ebd., S. 33. Soden (Duala) an KA, 1885, zitiert nach: Ow, Soden, S. 256. BA-B R 1001/4282, Soden (Duala) vom 28.5.1886, Bekanntmachung Nr. 20. Hahl, Rechtsanschauungen, S. 77–82; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.6.1899, Schreiben. 625 Johanna Fellmann vom 2.12.1901, Schreiben, zitiert nach: Steenken, Südsee, S. 173. 626 Die Abbildung findet sich u.a. in: Hiery, Reich, S. 55; Graichen/Gründer, Kolonien, S. 198. 627 GStA PK Nl Schnee/52, Schmidt-Dargitz an Schnee vom 6.1.1900, Schreiben. Zu Peters bzw. Leist siehe Kapitel 4.2 und 4.3.2.
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Schnee fällt in diesem Kontext eine weitere Passage in einem Brief an seinen Vater auf. Darin schrieb er über das weibliche Personal in seinem Wohnhaus:628 »In einem überdachten Plättraum sehe ich schon die gute Buru-Buru, mein Hausmädchen, mit ihrem ewig freudestrahlenden runden Gesicht bei der Arbeit. Mit einem lobenden ›you work too much‹ begrüße ich sie, worauf sie in das ihr eigene, nicht enden wollende fröhliche, schallende Gelächter ausbricht, das immer so komisch wirkt, dass man mitlachen muss. Das liebliche Geschöpf stammt von der Gerrit-Denys-Insel östlich von Neu-Mecklenburg. Wie es übrigens mit der Arbeitskraft dieser Wesen bestellt ist, trat neulich mal besonders hervor. Ich hatte zur Hülfe noch eine Frau engagiert – notabene nur zum Waschen und Plätten für meine Wäsche – schließlich erschien noch ein drittes Weib dazu auf der Bildfläche. Alle drei erklärten eines Tages überarbeitet zu sein und wollten noch eine vierte heranziehen, worauf ich schließlich der Sache ein Ende machte und den Betrieb wieder auf zwei einschränkte.« Der vorsorgliche Hinweis an den Vater, einem ehrenwerten Landgerichtsrat, dass die Frauen für nichts anderes als für seine Kleidung zuständig seien, erscheint an dieser Stelle überflüssig und lässt vermutlich auf Gegenteiliges schließen. Zwar bleiben Schnees Selbstzeugnisse den definitiven Nachweis schuldig, doch ist zumindest denkbar, dass auch er zu denjenigen Europäern zählte, bei denen – analog zu den Dienstmädchen in vielen bürgerlichen Haushalten in Deutschland – indigene ›Wäscherinnen‹ zugleich als heimliche Sexualpartner fungierten.629 Mitunter konnte sich ein solches ›Verhältnis‹ aber auch anders entwickeln als ursprünglich gedacht. Haber soll bereits auf seiner ersten Rundreise durch die Inselwelt Mikronesiens eine ›Haushälterin‹ von den Marshall-Inseln engagiert haben. Anstatt die diskret-unauffällige Geliebte zu geben, habe die resolute Frau sich jedoch rasch in die Rolle der Dame des Gouverneurshauses in Rabaul eingefunden und ihrerseits das übrige Personal kommandiert.630 Die sich aus geschlechtlichen Verbindungen zwischen sozial ungleichen ›Partnern‹ ergebenden Spannungen konnten allerdings auch in offene Gewalt einmünden. Zwar ist die Beweislage wiederum dürftig, doch ist zumindest nicht gänzlich auszuschließen, dass ein Amoklauf von Bennigsens ›Hausjungen‹ mit einem möglichen Intimverkehr zwischen beiden zusammenhing. Im März 1900 hatte dieser im Gouverneurshaus in Herbertshöhe während einer Abendgesellschaft einen tödlichen Schuss abgegeben. Das Opfer war ein Marinezahlmeister. Auch der Täter nahm sich daraufhin selbst das Leben. Ob dieser in Wirklichkeit die Absicht verfolgt hatte, den Gouverneur zu ermorden, bleibt jedoch Spekulation. Zeitnah entstandene Selbstzeugnisse scheinen eher das Ergebnis der offiziellen Untersuchung zu bestätigen, wonach der »Buka, sonst ein ausgezeichnet brauchbarer Junge, plötzlich nach einem Fieberanfall übergeschnappt« sei. Mit dem Jagdgewehr Bennigsens soll er aus Eifersucht beabsichtigt haben, »erst seine Frau,
628 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.6.1899, Schreiben. Wenig ergiebig hierzu: Abermeth, Schnee, S. 183f. 629 Hiery, Reich, S. 41; Grosse, Kolonialismus, S. 149. Zum ›Dienstmädchenverhältnis‹: Budde, Bürgerleben, S. 40; dies., Dienstmädchen, S. 168; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 99–101. 630 Die kaum überprüfbare Erzählung stammt von James Lyng, zitiert nach: Hiery, Germans, S. 301; ders., Reich, S. 54.
3. Deutungen des ›Andern‹
dann den chinesischen Koch des Gouverneurs [zu] erschießen«. Erst als diesen beiden die Flucht gelungen war, habe er »den ihm nächstsitzenden Europäer niedergeknallt«.631 Bei Bennigsens Amtskollegen in Daressalam lagen die Dinge etwas anders. Rechenberg wurde seitens des Redakteurs der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung, einem gewissen Willy v. Roy, öffentlich zum Vorwurf gemacht, er habe nicht nur mit seinem afrikanischen Diener Max geschlechtlich verkehrt, sondern auch einen männlichen Prostituierten in seinem Palast empfangen.632 Zwar blieben Roys Versuche, mit Hilfe bezahlter Informanten den Gouverneur gewissermaßen in flagranti zu ertappen, erfolglos. Auch wagten es die gedungenen einheimischen Zeugen am Ende nicht, vor dem Bezirksgericht gegen den höchsten Beamten der Kolonie auszusagen.633 Andererseits monierte Rechenberg aber auch nach der Verurteilung des Redakteurs, er fühle sich weiterhin in der Öffentlichkeit »als ganz oder halb entlarvter Päderast hingestellt«.634 Um jeglichen Verdacht von sich zu weisen, hatte er sogar vor Gericht erklärt, zeitlebens nicht nur niemals gegen den Strafparagraphen 175 verstoßen, sondern während seiner Amtszeit als Gouverneur überhaupt keine sexuellen Kontakte gehabt zu haben.635 Zweifellos handelte es sich bei den Anschuldigungen um eine Diffamierungskampagne, die sich gegen die von der Mehrzahl der Ansiedler und Pflanzer abgelehnte Arbeiterpolitik des Gouverneurs richtete.636 Im Ergebnis zeigte sich trotzdem, dass Roy mit seiner Beschwörung eines »Eulenburgskandals« innerhalb des Gouvernements nicht gänzlich falsch lag.637 »Dass irgendetwas Wahres an der Sache sein muss«, hatte der aus der Ferne beobachtende Solf allein aus dem halbherzigen Dementi des Kolonialamts geschlossen.638 Allerdings war es am Ende nicht Rechenberg, sondern einer seiner Referenten, dessen homosexuelle Orientierung im Zuge der Kampagne offengelegt wurde. Auch war herausgekommen, dass es bis März 1910 in Daressalam ein »Männerbordell
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GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.4.1900, Schreiben (Zitate); Fellmann vom 23.4.1900, Schreiben, zitiert nach: Steenken, Südsee, S. 163f.; vgl. Abermeth, Schnee, S. 184–188, die den Fall zwar detailliert auf Grundlage der Dienstakten beschreibt, alternative Quellen jedoch ungenutzt lässt. Zum Teil spekulativ: Sack, History, S. 448f.; Krug, Hauptzweck, S. 67–70. Wenig ergiebig: Hedwig Koch-Freiberg, Mein Weg mit Robert Koch, zitiert nach: Grüntzig/Mehlhorn, Koch, S. 485f.; Vieweg, Man, S. 81f.; Wendland, Wunderland, S. 143. Die Ermittlungsakten finden sich in: BA-B R 1001/2988. Allgemein zu Homosexualität im kolonialen Kontext: Aldrich, Colonialism; Walther, Sex. Schmidt, Intimacy, S. 44–47, 49; vgl. BA-B R 1001/4836, Bl. 19f., 36, Bezirksgericht Daressalam vom 6.12.1910, Urteile gegen Willy v. Roy und Julius Klein; Methner, Gouverneuren, S. 258–260. BA-B N 2272/1, Rechenberg (Daressalam) an Schuckmann vom 12.11.1910, Schreiben; Schmidt, Intimacy, S. 44–47, 49. BA-B N 2272/1, Rechenberg (Daressalam) an Schuckmann vom 12.11.1910, Schreiben. Schmidt, Intimacy, S. 33. Schröder, Prügelstrafe, S. 106. Siehe auch Kapitel 4.5.3. Roy hatte in seinem Artikel »Öffentlichkeit und Privatleben« in der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung Nr. 55 vom 13.7.1910 mit Blick auf die höheren Beamten des Gouvernements behauptet, es »könnte ein Eulenburgskandal in Daressalam unschwer seine Kreise ziehen«. Zu diesem wenige Jahre zurückliegenden Skandal in Deutschland: Bösch, Geheimnisse, S. 119–142. BA-K N 1053/132, Bl. 96–106, Solf (München) an Schultz vom 19.4.1911, Schreiben. Über einen mangelnden Rückhalt durch die Berliner Zentrale klagte Rechenberg selbst: BA-B N 2272/1, Rechenberg (Daressalam) an Schuckmann vom 12.11.1910, Schreiben.
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aus zehn bis zwölf Köpfen« gegeben hatte.639 Letztlich zeigt dieses Beispiel wiederum, welche hohen politischen Wellen das Platzieren von Gerüchten oder Spekulationen, namentlich im Zusammenhang mit angeblicher Homosexualität selbst in den ›Schutzgebieten‹ schlagen konnte.640 Im Prinzip galt dort ebenso wie in Deutschland, dass solche ›Verfehlungen‹ bei höheren Beamten oder Offizieren nur solange geduldet wurden, als sie nicht öffentlich bekannt wurden. Die meisten Gouverneure waren daher bestrebt, die Wahl ihrer außerehelichen Sexualpartner gar nicht erst zum Thema öffentlicher Diskussionen werden zu lassen. Ihre schriftlichen Zeugnisse enthalten daher bestenfalls Andeutungen, die manchmal kurios anmuten. Ausgerechnet seiner Ehefrau schrieb beispielsweise Schuckmann während seines Kamerun-Aufenthalts, dass er zeitweise zwei »schwarze Königstöchter« in Schuldhaft genommen habe, da deren »Vater die aufgebrummte Strafe nicht zahlen will«. Dabei sei ihm eine der beiden jungen Frauen »gar nicht so scheußlich« erschienen. Dass Schuckmanns deftige Diktion auch in diesem Fall nicht ganz wörtlich zu nehmen ist, belegt der gleichzeitige Hinweis an seine Gattin: »Freilich würdest Du wohl eifersüchtig sein.«641 Angesichts der angeblichen Praxis, dass der »geschlechtliche Gebrauch von Pfandweibern in Kamerun in Anbetracht der sozialen Stellung der dortigen Weiber nichts auf sich hat«, lassen sich weitergehende Kontakte des damaligen stellvertretenden Gouverneurs mit den genannten Frauen zumindest nicht ausschließen.642 Auch Wißmanns bereits erwähnte Begeisterung angesichts des Äußeren dreier Afrikanerinnen deutet in eine ähnliche Richtung. Die zitierten Passagen, in denen er die »stolzen, schlanken, ebenmäßigen Figuren mit regelmäßigen Gesichtszügen, ganz hellbrauner Hautfarbe und wohlgeformtem Hals und Brüsten« beschrieb, unterscheiden sich durch ihre erotische Komponente durchaus von den anderen Personenbeschreibungen seiner Texte. Dass auch Wißmann dabei möglicherweise die Sphäre des Betrachters verlassen haben könnte, lässt sich erneut erahnen: »Meine Bewunderung war den Schönen sehr schmeichelhaft, so oft sie kamen, erschienen sie von Neuem geschmückt mit Perlen.«643 Auch Seitz, der als verheirateter Gouverneur sexuelle Beziehungen seiner Beamten mit »schwarzen Weibern« als »Schweinerei« monierte, soll während seiner ersten Kameruner Dienstperiode – damals noch als Junggeselle – die »schönste Frau« des chiefs Fred 639 BA-B R 1001/4836, Bl. 13ff., 22, Strafanzeige Willy v. Roy gegen Frhr. v. Wächter vom 1.8.1911; Schmidt, Intimacy, S. 39, 43. Nachträglich relativierte der Bezirksrichter Knake das »Männerbordell« bezeichnenderweise als Treffpunkt »einiger eingeborener Päderasten«, die inzwischen »nach Zanzibar abgeschoben worden sind«. BA-B R 1001/4836, Bl. 48, Knake vom 29.12.1911, Stellungnahme. 640 Vgl. Bösch, Geheimnisse, S. 122f. 641 BA-B N 2272/4, S. 112, Schuckmann (Duala) an seine Ehefrau vom 11.8.1891, Schreiben. 642 BA-B N 2146/37, Leist (Berlin) an König vom 30.6.1894, Schreiben (Zitat). Die dortige Behauptung muss freilich mit einiger Vorsicht gesehen werden, handelte es sich doch um einen Rechtfertigungsversuch Leists angesichts seiner eigenen Verfehlungen. Puttkamer bestätigte aber ebenfalls die Häufigkeit solcher Kontakte: BA-B N 2146/50, Puttkamer (Buea) an König vom 9.12.1897, Schreiben. 643 Wißmann, Flagge, S. 241, vgl. Fabian, Tropenfieber, S. 118f., der auf Wißmann, Innern, S. 183, verweist und eine andere Passage als Anspielung auf einem möglichen Geschlechtsverkehr mit Afrikanerinnen deutet.
3. Deutungen des ›Andern‹
Mokuri offiziell »zur Wirtschaftsführung« für sich gefordert haben. Damals sei ihm aber »dieser Wunsch […] recht deutlich abgeschlagen worden«.644 Ob es sich bei solchen Zeitungsmeldungen um die Wiedergabe von Tatsachen oder um bewusste Diffamierungsversuche handelt, lässt sich jedoch ebenso wenig entscheiden, wie der Wahrheitsgehalt einer Erzählung eines ehemaligen Regimentskameraden des Grafen Zech unklar bleibt. Im Jahr 1940 lieferte Anton Staubwasser Material für eine panegyrisch angelegte Biographie über den längst verstorbenen Gouverneur. Dabei postulierte er, Zech sei in Togo nach afrikanischem Ritus mit einer indigenen Frau verheiratet gewesen.645 Diese sei die »Lieblingstochter« eines »freundschaftlich gesinnten Haussa-Häuptlings« gewesen, der sie dem Gouverneur angeboten haben soll. Zech sei zwar anfangs nur der »Form halber oder zum Schein darauf« eingegangen, da die Zurückweisung eine »tödliche Beleidigung des Haussa-Mannes« bedeutet hätte. Später habe er aber das »Vertrauen der Tochter« gewonnen, die im Gegenzug »durch kluge Ratschläge ihn vor unbedachten Regierungsmaßnahmen« bewahrt haben soll.646 Staubwassers Story ist wahrscheinlich ein Beispiel für den im kolonialen Kontext nicht seltenen Klatsch. Er selbst war niemals in Afrika gewesen und konnte das Erzählte bestenfalls vom Hörensagen kennen.647 Mit dieser Einschränkung soll allerdings nicht gesagt werden, dass Zech sich jeglichen Verkehrs mit indigenen Frauen enthalten hätte. Zumindest lässt sich anführen, dass er solche Verbindungen bei anderen Angehörigen seiner Verwaltung keineswegs problematisierte, sondern ausdrücklich duldete.648 Die zweifellos sichersten Belege für intime Verhältnisse zwischen europäischen Männern und afrikanischen bzw. ozeanischen Frauen stellten gemeinsame Nachkommen dar. Neben dem bereits angeführten Hahl lassen sich auch für die Gouverneure afrikanischer Kolonien Beispiele anführen. In Lomé hatte etwa Köhler mit der togolesischen Frau Hanna Duaha einen Sohn. Dieser wurde im Frühjahr 1897, also zwei Jahre nach Köhlers Amtsantritt, geboren. Eine dauerhafte Verbindung zwischen den Eltern scheint jedoch nicht bestanden zu haben, gebar die Mutter doch einige Zeit später
644 GStA PK Nl Schnee/50, Seitz (Buea) an Schnee vom 5.4.1910, Schreiben (Zitate 1+2); Berliner Neueste Nachrichten vom 20.6.1906 (Zitate 3–5). 645 Staubwasser kannte Zech seit der gemeinsamen Zeit im Münchner Kadettenkorps sowie im bayerischen Infanterieregiment 2. Auch nach Zechs Weggang nach Afrika riss der Kontakt zwischen den beiden nicht ab, wie mehrere Briefe und Postkarten Zechs an Staubwasser aus den Jahren 1905 bis 1914 belegen: BA-B N 2340/2. Zech war als Kommandeur des I./Reserve-Infanterieregiment Nr. 16 am 29.10.1914 an der Westfront gefallen. In seinem Bataillon befand sich auch der Kriegsfreiwillige Adolf Hitler, weshalb im ›Dritten Reich‹ ein gewisses öffentliches Interesse an der Person Zechs bestand. Solleder, Westfront, S. 5, 19–22; Hitler an Hepp vom 5.2.1915, Schreiben, abgedruckt in: Hitler, Aufzeichnungen, S. 64–69. 646 BA-B N 2340/2, Bl. 44, Anton Staubwasser, o.D. [ca. 1940]. 647 Vgl. Zurstrassen, Beamte, S. 80f., die Staubwassers Angaben ungenau zitiert und diese uneingeschränkt übernimmt. Ähnlich problematisch in Bezug auf den Wahrheitsgehalt ist ein offensichtlich mit politischer Absicht verfasster Zeitungsartikel aus dem Jahr 1913, worin behauptet wird, dass Zech elf Jahre zuvor ein Kind mit einer Afrikanerin gehabt haben soll. Diese habe er auf eine Expedition mitgenommen, wo sie dann umgekommen sei. African Times and Orient Review, Nov.-Dez. 1913, zitiert nach: Seemann, Zech, S. 46. Ohne konkrete Belege behauptet auch Sebald, Kolonialregime, S. 114, dass Zech ein Kind mit einer einheimischen Frau gehabt haben soll. 648 Beispiel: Massow, Tgb., S. 628f. (1.5.1898).
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dem Zollamtsassistenten Otto Jacobi ebenfalls ein Kind. Bezeichnenderweise beklagte Köhlers Sohn, Josef Komla, noch im hohen Alter, dass er seinen leiblichen Vater nie persönlich kennengelernt habe.649 Immerhin fühlte sich einige Jahre später Zech verpflichtet, sich an die deutschen Erben seines inzwischen verstorbenen Vorgängers zu wenden, um diese aufzufordern, die »Kosten der Erziehung und des Unterhalts des Mulattenkindes Josef Comla« zu übernehmen.650 Tatsächlich wurden daraufhin aus Deutschland 500 Mark geschickt, mit denen auf Wunsch der Mutter ein Grundstück gekauft und ein kleines Haus für sie selbst und ihre beiden Söhne errichtet wurde.651 Von 1906 bis 1914 besuchte Komla die Schule der katholischen Mission und arbeitete dann für die Eisenbahngesellschaft.652 Nach Ansicht des Bezirksamtes in Lomé soll es sich bei diesem Vorgehen um den »hier herrschenden Brauch der Europäer, ihre aus dem außerehelichen Verkehr mit einer Eingeborenen hervorgegangenen Kinder abzufinden«, gehandelt haben.653 Unterschieden sich somit Köhlers außereheliche Aktivitäten kaum von den Praktiken vieler bürgerlicher Männer in Deutschland, erregte der Herzog zu Mecklenburg größeres Aufsehen. Zwar finden sich in den vielen Briefen, in denen er seiner Mutter ein idyllisches Bild ›seiner‹ Kolonie zu zeichnen suchte, keinerlei Hinweise auf Bekanntschaften mit einheimischen Frauen.654 Bald nach seinem Amtsantritt drangen jedoch Gerüchte nach Hause, wonach er sich »mehrere schwarze Weiber halte.«655 Schon über seine erste Rundreise durch das Hinterland Togos feixten seine Beamten, dass dem »Herzog 2 Weiber, die man ihm zwangsweise herangeholt hatte, nachts mit großem Hallo ausgerissen seien«.656 Angesichts dieser Indiskretionen deutete der Gouverneur bald darauf seinem Referenten gegenüber »Angst vor den Kol[onial-]Debatten im Reichstag« an, wobei er neben den obligatorischen Haushaltsfragen auch ein Anschneiden des Themas »Weiber« befürchtete.657 Vorwürfe gegen den Mecklenburger wurden nicht nur in Deutschland laut. Auch von afrikanischer Seite kamen einschlägige Monita. In einer Petition des Togolesen Herald Patrior Diasempa an den Reichstag hieß es unter anderem, dass der Herzog eine in Anecho geborene »Negerfrau [ge]heiratet« habe und diese sich nun mit »Adjowovi Friedrich, Frau Gouverneur« anreden und im Automobil des Herzogs durch Lomé spazieren 649 Das Interview mit Josef Komla führte Dadja Halla-Kawa Simtaro am 27.3.1981 in Lomé. Es ist abgedruckt in: Simtaro, Togo 2, S. 664–670. Köhler starb am 19.1.1902 in Lomé, als sein Sohn kaum fünf Jahre alt war. 650 ANT FA 3/185, Bl. 162, Zech (Lomé) an BA Lomé-Stadt vom 21.3.1907, Erlass. 651 Ebd., Bl. 171, BA Lomé-Stadt vom 25.5.1908, Vermerk; ebd., Bl. 174, BA Lomé-Stadt vom 15.12.1908, Vermerk. Siehe auch die weiteren Unterlagen in dieser Akte. Josef Komla bestätigte diese Angaben im Wesentlichen: Simtaro, Togo 2, S. 664–670. 652 ANT FA 3/185, Bl. 232, Polizeimeister Bähr vom 14.4.1913, Vermerk; Josef Komla (Lomé) vom 27.3.1981, Interview, abgedruckt in: Simtaro, Togo 2, S. 664–670. 653 ANT FA 3/185, Bl. 230, BA Lomé-Stadt, o.D. [1912], Vermerk. 654 Briefe in: LHA-SN, Nl Großherzogin Marie, 5.2-4/1-4, Nr. 32. 655 Spiecker an Missionsausschuss vom 14.1.1913, zitiert nach: Kundrus, Imperialisten, S. 254, Anm. 141. 656 PA-AA NL 8/50, Bl. 72–78, Hermans (Lomé) an Asmis vom 26.2.1913, Schreiben. Als Gewährsmann nannte Hermans den Bezirksleiter von Sansane Mangu, den Freiherrn v. Seefried auf Buttenheim. Vgl. Zurstrassen, Beamte, S. 79f. 657 PA-AA NL 8/50, Bl. 72–78, Hermans (Lomé) an Asmis vom 26.2.1913, Schreiben.
3. Deutungen des ›Andern‹
fahren lasse.658 Erschien das dem Petenten vermutlich in erster Linie als öffentliches Ärgernis, waren die Anschuldigungen mehrerer chiefs aus Anecho schwerwiegender. Diese behaupteten, der Herzog habe mehrere Mädchen im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren »verbraucht«, obwohl er zuvor von Jackson Lawson und Ayite Ayavon zwei junge Frauen erhalten habe, mit denen er aber »nicht zufrieden« gewesen sei.659 Ähnliche Vorwürfe über den Missbrauch Minderjähriger erhob auch das im britischen Lagos ansässige Oppositionsorgan ›Gold Coast Leader‹.660 Auch wenn sich solche Anschuldigungen schwer verifizieren lassen, deutet eine Reihe von Rechtsbestimmungen aus den Jahren 1901, 1902 und 1907 darauf hin, dass sexuelle Handlungen an Kindern und Jugendlichen auch in den ›Schutzgebieten‹ wiederholt vorkamen. Als erster hatte deshalb Horn als stellvertretender Gouverneur explizit eine Verordnung zum »Schutz weiblicher Missionszöglinge« herausgegeben, wonach diese nur noch mit ausdrücklicher »Genehmigung des Gouvernements zu Dienstleistungen an Europäer vermietet« werden durften. Die damit verbundene Strafandrohung von 2.000 Mark Geldstrafe oder Gefängnis bis zu einem Jahr belegt, dass diese Vorschrift keineswegs ein Bagatelldelikt unterbinden sollte.661 Galt Horns Dekret nur für einen begrenzten Personenkreis, sah sich der neue Kolonialdirektor Bernhard Dernburg im Januar 1907 genötigt, einen Runderlass herauszugeben, der in sämtlichen deutschen Kolonien das »Halten unerwachsener weiblicher Eingeborener als Dienerinnen seitens der Gouvernementsangestellten« untersagte.662 Auch wenn manche Beamte empört auf den damit implizierten Generalverdacht reagierten, deutet allein die vor Ort umgangssprachlich gebrauchte Bezeichnung »kleine Mädchen Erlass« darauf hin, dass es sich beim Gegenstand des Verbots keineswegs um etwas gänzlich Unbekanntes gehandelt haben dürfte.663 Für den Herzog zu Mecklenburg, der die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen kurzerhand als »Lügen, Übertreibungen oder Entstellungen« zurückwies, ist lediglich der geschlechtliche Verkehr mit einer Afrikanerin aus Anecho tatsächlich nachweisbar.664 Diese gebar ihm spätestens 1914 einen Sohn, der sich bezeichnenderweise selbst Koffi Herzog nannte. Dessen Tochter Frieda Herzog erhielt wiederum auf Betreiben ihres 658 BA-B R 1001/4235, Bl. 198, Herald Patrior Diasempa an den Reichstag vom 12.5.1914, Petition. Ebenfalls abgedruckt in: Sebald, Togo, S. 659–675. 659 BA-B R 1001/4235, Bl. 154–162, Chiefs von Anecho an Reichstag vom 1.5.1914, Petition. Auch abgedruckt in: Sebald, Togo, S. 654–658. 660 Zitiert nach: Diebold, Hochadel, S. 151. 661 Horn (i.V., Lomé) vom 5.6.1901, VO betr. Schutz weiblicher Missionszöglinge, abgedruckt in: DKG 6, S. 343f.; Horn (i.V., Lomé) vom 25.4.1902, VO betr. Schutz weiblicher Missionszöglinge, abgedruckt in: ebd., S. 466; vgl. Sebald, Togo, S. 267. Dessen Postulat, wonach europäische Männer generell afrikanische Mädchen im Kindesalter bevorzugt hätten, müsste durch Quellenbelege erst noch untermauert werden. Die Behauptung übernehmen: Zurstrassen, Beamte, S. 83, Anm. 182; Diebold, Hochadel, S. 151, Anm. 120. 662 KA (Dernburg) vom 19.1.1907, Runderlass betr. Verbot des Haltens unerwachsener weiblicher Eingeborener als Dienerinnen seitens der Gouvernementsangestellten, abgedruckt in: DKG 11 (1907), S. 57f.; vgl. Kundrus, Imperialisten, S. 254, Anm. 143. 663 PA-AA NL 8/51, Bl. 57, Asmis (Lomé) an Kersting vom 21.6.1907, Schreiben. 664 BA-B R 1001/4235, Bl. 152f., Mecklenburg an RKA vom 7.7.1915, Bericht (Zitat); Komla Hans Gruner vom 6.8.1981, Interview, abgedruckt in: Simtaro, Togo 2, S. 896f.
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hochadligen Großvaters bis 1979 einen »Unterhaltszuschuss« der Bundesregierung.665 Eine Verordnung des Herzogs vom 18. Oktober 1913, wonach ›Mischlingskindern‹ die Führung des (europäischen) Vaternamens verboten sein sollte, hatte ausgerechnet in seinem Fall nur begrenzte Wirkung entfaltet.666 Entgegen der bisherigen Forschungsmeinung handelte es sich dabei ohnehin keineswegs um ein privates Projekt des Mecklenburgers, der damit angeblich habe verhindern wollen, dass »ein kleiner farbiger Herzog« seinen Namen tragen könnte.667 Einerseits war ein erster Entwurf für das Verbot schon im Oktober 1909, also noch unter Zech, vorgelegt worden. Andererseits trafen auch Hahl und Schultz analoge Regelungen für Neuguinea und Samoa.668 Solche Versuche waren ohnehin kaum von Erfolg gekrönt. Beispielsweise lässt sich für Kamerun der Fall des ›Mischlingskindes‹ Else v. Puttkamer anführen, die 1910 geboren wurde. Allerdings handelte es sich bei ihr nicht um die Tochter des gleichnamigen Gouverneurs, der sich selbst als »gegen die Reize schwarzer Schöner völlig unempfindlich« bezeichnet hatte.669 Stattdessen kam die Vaterschaft dem Adjutanten seines Nachfolgers zu, der ebenfalls den Namen Jesco v. Puttkamer trug.670 Aus den angeführten Beispielen für sexuelle Beziehungen zwischen Gouverneuren und Indigenen lässt sich trotz aller Mängel in der Überlieferung ablesen, dass solche Kontakte auch bei den höchsten Beamten der ›Schutzgebiete‹ vorkamen. Anders als bei vielen anderen Europäern in den Kolonien achteten die Gouverneure aber in der Regel auf Diskretion, waren sie doch angesichts ihrer exponierten Stellung besonders angreifbar, wie das Beispiel Rechenbergs zeigt. Soweit rekonstruierbar, zogen die Mitglieder der Untersuchungsgruppe nicht zuletzt deshalb die ›exotische‹ Variante des heimischen ›Dienstmädchenverhältnisses‹ einer Begegnung auf Augenhöhe vor. Zwar kam es dabei zweifellos zum partiellen Transfer kultureller Praktiken, etwa in den Bereichen Ernährung, Lebensweisen oder Sprachkenntnisse.671 Trotzdem ging es für den obersten Be665 Ebd.; Sebald, Togo, S. 268; ders., Kolonialregime, S. 116; Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Lomé an Simtaro vom 18.5.1981, Bescheid, abgedruckt in: Simtaro, Togo 2, S. 888. 666 Mecklenburg (Lomé) vom 18.10.1913, VO betr. Namensgebung und -führung seitens Eingeborener, abgedruckt in: DKG 24 (1913), S. 1056; vgl. die Begründung des Herzogs in: BA-B R 1001/4013, Bl. 111, Mecklenburg (Lomé) an St./RKA vom 25.7.1913, Entwurf einer VO betr. Namengebung an Eingeborene. 667 Sebald, Togo, S. 268 (Zitat); Knoll, Missionsgesellschaft, S. 171. Vorsichtiger urteilt: Kundrus, Imperialisten, S. 219, Anm. 1. 668 ANT FA 3/185, Bl. 143–147, BA Lomé vom 30.10.1909, VO (Entwurf) betr. Namensgebung und -führung seitens Eingeborener; BA-B R 1001/5429, Bl. 79, Hahl (Rabaul) vom 5.7.1913, VO (Entwurf) betr. Mischlinge; Schultz (Apia) vom 20.5.1914, VO betr. Rechtsverhältnisse der unehelichen Mischlinge, abgedruckt in: DKG 25 (1914), S. 700. 669 BA-B N 2146/50, Puttkamer (Buea) an König vom 9.12.1897, Schreiben (Zitat). Der Gouverneur Puttkamer verließ Kamerun am 9.1.1906 ohne je zurückzukehren. Allein deshalb ist eine Vaterschaft für diesen Fall auszuschließen. Anders: Puttkamer, Geschichte, S. 696. Auch Gerlach, Rechts, S. 202, lässt die tatsächliche Vaterschaft offen. Die unspezifische Behauptung des ersten Präfekten der Steyler Mission, wonach Puttkamer in seiner Zeit als Landeshauptmann von Togo in eine Affäre mit »notzüchtigen Weibern« verwickelt gewesen sein soll, lässt sich aus anderen Quellen nicht verifizieren. Habermas, Skandal, S. 70. 670 Rüger, Suche, S. 339–343. Zum Leutnant der Schutztruppe Jesco v. Puttkamer (1876–1959): Puttkamer, Geschichte, S. 315f. 671 Hiery, Reich, S. 39f.; Zurstrassen, Beamte, S. 80.
3. Deutungen des ›Andern‹
amten einer Kolonie darum, peinlichst alles zu vermeiden, was von der europäischen Umgebung vor Ort wie auch im imperialen Zentrum als ein ›Verkaffern‹ oder ›Verkanakern‹ hätte ausgelegt werden können. Ein solches Urteil hätte zweifellos die Karriere des Betreffenden rasch beendet. Die meisten Gouverneure zogen es deshalb vor, früher oder später in Deutschland ›standesgemäß‹ zu heiraten und damit die Zugehörigkeit zu ihrer sozialen Schicht und zu ihren kulturellen Wurzeln eindeutig nach außen zu dokumentieren.672 Anders als vereinzelt bei Stationsleitern der Fall, wurden die unehelichen ›Mischlingskinder‹ der Gouverneure zwar mehr oder minder adäquat versorgt, in keinem einzigen Fall aber legitimiert.673 Die Mitglieder der Untersuchungsgruppe handelten damit vollkommen im Sinne ihrer bürgerlichen oder adligen Sozialisation.
3.4 Zwischenergebnisse In diesem zweiten Hauptkapitel standen die Deutungen der Gouverneure in Bezug auf die Landschaften und Menschen in den Kolonien im Vordergrund. Dabei lag der Fokus insbesondere auf den folgenden Fragen: Welche Rolle spielten die zeittypischen Stereotypen und Vorurteile bei der Konstruktion von Alterität? Welche Rückschlüsse lassen sich aus den Deutungsmustern für die Gouverneure selbst ziehen? Der Analyse wurden drei Themenfelder zugrunde gelegt. Erstens ging es um die Landschaften Afrikas und Ozeaniens, zweitens um die Skizzen des äußeren Erscheinungsbildes der dort angetroffenen Menschen und drittens um die Einschätzungen von deren Denk- und Lebensweisen. Im Hinblick auf die imperialen Räume war davon auszugehen, dass die im Zuge der Sozialisation vermittelten Klischeebilder den anfänglichen Erfahrungs- und Wissensbestand der Gouverneure ausmachten. Demzufolge galt der afrikanische Kontinent südlich der Sahara als üppiger, chaotischer und gefahrvoller Naturraum. Dagegen wurden die Südseelandschaften in der Regel als ›paradiesisch‹ gezeichnet. Den heimischen Vorstellungen beider Räume gemein war ihre Naturnähe und Ursprünglichkeit. Sowohl beim Tropenwald als auch bei den afrikanischen Steppen und Wüsten lässt sich anhand der Selbstzeugnisse erkennen, dass diese Landschaftstypen nur schwer mit den bereits vorhandenen Erfahrungen adaptierbar waren und deshalb meist eine ablehnende Bewertung erfuhren. Umgekehrt lassen sich daran die Erwartungen der Gouverneure ablesen. Ihrer Sozialisation gemäß stellte der von menschlicher Hand gestaltete, eingehegte und somit kontrollierbare Kulturraum das Landschaftsideal des untersuchten Personenkreises dar. Diesen glaubten sie selbst in Afrika und – in abstrakterer Gestalt – auch in Ozeanien wiederzuerkennen. Vor allem Hügel- oder Berglandschaften mit gemischter Vegetation wurden als ›Parklandschaften‹ positiv wahrgenommen und mit vertrauteren, heimischen Vorbildern gleichgesetzt. Obwohl äußerlich noch weniger vergleichbar mit mit-
672 Siehe Kapitel 2.4. 673 Vgl. etwa zur Tochter des Stationsleiters Hans Klink und der Melanesierin Ambo aus Neumecklenburg: BA-B R 1001/5429, Bl. 7, Klink (Morobe) an Haber vom 8.5.1914, Bericht; ebd., Bl. 106, Haber (Rabaul) an RKA vom 7.6.1914, Bericht.
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teleuropäischen Landschaften, funktionierte diese imaginäre ›Verheimatung der Fremde‹ auch bei der vielzitierten ›Südseeinsel‹, wurde diese doch ebenfalls als geordnet und kultiviert wahrgenommen. Ebenso wie bei den afrikanischen Landschaften war erst auf diesem Wege eine kognitive Aneignung möglich. Auch in Bezug auf die in den Kolonien angetroffenen Menschen formten Klischees und Stereotypen den Ausgangspunkt für die reale Begegnung. Den Kern bildete die zeitgenössische Vorstellung einer kulturellen Hierarchie menschlicher Gemeinschaften. Danach standen die Europäer im Sinne eines am stärksten ausgeprägten Zivilisationsstandes an der Spitze der Menschheit, während den Gegenpol die sogenannten ›Wilden‹ oder ›Unzivilisierten‹ repräsentierten. Für die letzteren existierten wiederum zwei gegensätzliche Konstrukte. Während die Bewohner des subsaharischen Afrika ebenso wie die ozeanischen Melanesier als ›barbarische Primitive‹ galten, wurden namentlich Polynesier und Mikronesier als ›edle Wilde‹ kategorisiert. Die Deutungen der Gouverneure orientierten sich im Wesentlichen an diesen Konstanten, doch lassen sich auch Differenzierungen feststellen. In erster Linie nahm das kulturell konstruierte und während der Sozialisation erworbene ästhetische Empfinden der Mitglieder der Untersuchungsgruppe eine zentrale Position beim Taxieren des äußeren Erscheinungsbildes ihres Gegenübers ein. Die Urteile fielen umso negativer aus, je fremdartiger die Menschen auf die Betrachter äußerlich wirkten. In solchen Fällen war die Anschlussfähigkeit des Wahrgenommenen an die unterbewussten Erwartungen nicht ausreichend gegeben. Die äußerlich als besonders fremdartig eingeordneten San in Südwestafrika repräsentierten beispielsweise das untere Ende der Skala, während im Gegensatz dazu die weit mehr dem europäischen Ideal entsprechenden Samoaner stets vorteilhaft geschildert wurden. Die vielen anderen Ethnien rangierten zwischen diesen beiden Extremen, woran zugleich die zeittypische Neigung zur Unterteilung und Klassifizierung ablesbar ist.674 Der Begriff der ›Rasse‹ fand dabei vorrangig als Kategorie zur Unterscheidung äußerlicher Merkmale Verwendung. In den Zeugnissen meist unausgesprochen, kam diesem Aspekt jedoch eine zusätzliche Dimension zu, da die Taxierungen indirekt auch auf andere vermeintliche Eigenschaften der Menschen ausgeweitet wurden. Dieses vor allem auf Äußerlichkeiten fußende Ranking wirkte daher letztlich immer wieder auch als generalisierende Bewertungsskala. Gleichzeitig fällt aber auf, dass auf der individuellen ebenso wie auf der Ebene von Kleingruppen solche Klassifizierungen bis zu einem gewissen Grad durchbrochen werden konnten, sofern sich kognitive Adaptionsmöglichkeiten etwa anhand von einzelnen äußerlichen Merkmalen ergaben. Bei den Einschätzungen zu Denkmustern und Lebensweisen stand einerseits die Frage im Vordergrund, ob die Intention des Fremdverstehens bei den Gouverneuren nachweisbar ist. Andererseits ging es um den über Äußerlichkeiten hinausgehenden Gebrauch des Begriffs ›Rasse‹. Fand diese Kategorie in erster Linie eine kulturmissionarische oder eine sozialdarwinistische Verwendung? Erneut lässt sich feststellen, dass auf der individuellen Ebene oder angesichts überschaubarer Gruppen die gängigen Vorurteile mitunter aufgeweicht werden konnten. Besonders im Hinblick auf einzelne, 674 Gerade das 19. Jahrhundert zeichnet sich besonders durch die allgegenwärtigen Versuche der Europäer aus, die Welt zu beschreiben und zu vermessen. Hierzu etwa: Osterhammel, Verwandlung, S. 45–57.
3. Deutungen des ›Andern‹
bestimmte Interaktionspartner unter den Indigenen überraschen die Äußerungen der Gouverneure dann durch um Wertneutralität bemühte Urteile. Trotzdem änderten solche Einzelaussagen nichts am Fortbestand des Axioms einer unbedingten Superiorität der europäischen Kultur und ihrer Vertreter. Kein Mitglied der Untersuchungsgruppe stellte dieses Postulat zu irgendeinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage. Die Bewohner Afrikas und Ozeaniens galten daher prinzipiell als inferior. Die Ursachen für den postulierten Rückstand glaubten die meisten Gouverneure nicht zuletzt in den Umweltbedingungen ausmachen zu können. Die vermeintlich sorgenfrei lebenden Menschen wurden daher im übertragenen Sinne als ›Kinder‹ wahrgenommen. Gleiches galt selbst für die Samoaner, die zwar innerhalb des kulturellen Rankings als höherstehend, trotzdem aber lediglich als ›große Kinder‹ angesehen wurden. Fast alle ausgewerteten Zeugnisse deuten darauf hin, dass die Indigenen von den Gouverneuren prinzipiell als ›entwicklungsfähig‹ eingeschätzt wurden. Die Extremposition einer ausschließlich sozialdarwinistischen Sichtweise ist dagegen kaum nachweisbar. Allerdings deuten einige Äußerungen, wie beispielsweise in den späten Reden Lieberts, auf eine zumindest teilweise Internalisierung einschlägiger Gedankengänge bzw. der entsprechenden Terminologie hin.675 Einig waren sich die Gouverneure, dass keine der indigenen Ethnien dazu in der Lage sei, sich selbst zu ›zivilisieren‹, was wiederum auf eine vermeintlich latente Trägheit der ›Unzivilisierten‹ zurückgeführt wurde.676 Auch in dieser Hinsicht wähnten sich die Gruppenmitglieder durch ihre eigenen Wahrnehmungen bestätigt. Entgegenstehende Eindrücke klassifizierten sie kurzerhand als Ausnahmeerscheinungen. Dieser konstruierte Gegensatz zwischen ›tatkräftigen‹ Europäern und ›faulen Wilden‹ fungierte wiederum als Legitimation für die eigenen Herrschaftsansprüche. Entsprechend dem bürgerlichen Ideal des Tätigseins galten die postulierten Mängel auf Seiten der Indigenen nur durch deren zwangsweise Heranziehung zu körperlicher Arbeit überwindbar. Die dabei erbrachten Leistungen wären wiederum als Gegengabe für die als ›Erziehung‹ umgedeutete Fremdherrschaft anzusehen. Die enge Verknüpfung von ideologischen, herrschaftspraktischen und ökonomischen Motiven ist dabei unübersehbar. Angesichts des skizzierten patriarchalischen Selbstbildes als überlegene Kulturträger finden sich in den Quellen kaum Äußerungen, die auf ein Bewusstsein für die Begrenztheit des Fremdverstehens und der eigenen Perspektive hindeuten würden. Trotz einzelner gegenteiliger Absichtserklärungen kann auch von einer Begegnung auf Augenhöhe keine Rede sein.677 Ebenso wenig lässt sich eine vermeintliche Elitensolidarität verifizieren. Auch die manuellen Fertigkeiten und intellektuellen Fähigkeiten der angetroffenen Menschen wurden in der Regel am Nutzwert für das koloniale Projekt gemessen. Positive Urteile behielten dabei nur solange ihre Gültigkeit, wie die Betreffenden sich als nützlich und willfährig erwiesen. In diesem Sinne ist auch die von erstaunlich vielen Mitgliedern der Untersuchungsgruppe ins Zentrum ihrer Absichten gestellte Wendung
675 Vgl. hierzu Kapitel 4.6. 676 Allgemein zum Topos des ›faulen‹ Primitiven: Gronemeyer, Neger; Markmiller, Erziehung. 677 Vgl. Brockmeyer, Karrierewege, S. 129; Michels, Held, S. 81.
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einzuschätzen, wonach es ihnen in erster Linie darum gegangen sei, die Indigenen zu »brauchbaren Menschen« erziehen zu wollen.678
678 Die Wendung findet sich u.a. in: Götzen, Afrika, S. 34; Horn, Bericht, S. 238f.; Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 42; Solf, Eingeborene, S. 17f.; BA-B R 1001/4235, Bl. 16–75, Zech (Lomé) an RKA vom 26.5.1907, Programm. Allein die Langlebigkeit dieser Formulierung – 1895 (Götzen) bis 1912 (Puttkamer) – spricht für sich.
4. Herrschaftspraktiken
Der Fokus dieser Arbeit war zunächst auf das Sozialprofil der Gouverneure gerichtet, um das Spektrum der ihrem Denken, ihren Wahrnehmungen und Handlungen »dauerhaft eingeprägten Dispositionen« auszuloten.1 Anschließend wurde untersucht, inwieweit sich diese »Sedimentierung vergangener Erfahrung« anhand der Begegnung mit den afrikanischen und ozeanischen Landschaften und Menschen in den Fremddeutungen wiederfinden lässt.2 In logischer Fortsetzung dazu wird in den folgenden Abschnitten zu analysieren sein, ob auch die Herrschaftspraktiken der Gouverneure als Folge der »dialektischen Beziehung zwischen einer Situation und einem als System dauerhafter und versetzbarer Dispositionen begriffenen Habitus« interpretiert werden können.3 Das erscheint vor allem mit Hilfe eines Vorgehens möglich, das strukturelle, situative und individuelle Einflüsse gleichermaßen berücksichtigt. Nicht zuletzt sollen dadurch die von den Akteuren tatsächlich wahrgenommenen Handlungsoptionen sowie ihre Gestaltungsintentionen herausgearbeitet werden.4 In diesem Zusammenhang muss zunächst aber der spezifische Erfahrungs- und Handlungsraum der Gouverneure definiert werden. Die Gouverneure standen an der Spitze der Administration in den ›Schutzgebieten‹. Damit zählen sie prinzipiell zu den Akteuren on the spot. Im Gegensatz zu vielen Stationsleitern, Kaufleuten, Pflanzern oder Missionaren hielten sie sich aber die meiste Zeit am Sitz ihres Gouvernements auf. Ihr konkretes Umfeld setzte sich dementsprechend vor allem aus Beamten, Offizieren und anderen Europäern zusammen. Dazu kamen indigene Mittler in Gestalt von lokalen Eliten, Dolmetschern, Angehörigen der Hilfsverwaltung, der Polizei- oder Schutztruppe sowie das oft nichteuropäische Hauspersonal. Der Kontakt zum Gros der indigenen Gesellschaften blieb den Gouverneuren dagegen häufig verwehrt. War dieser Effekt in der Anfangsphase des deutschen Kolonialreichs noch weniger ausgeprägt, verstärkte er sich tendenziell mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Verwaltung, die nicht zuletzt mit einer erheblichen personellen Vergröße-
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Bourdieu, Entwurf, S. 167f. (Zitat). Schütz/Luckmann, Strukturen 1, S. 95f. (Zitat). Bourdieu, Entwurf, S. 169 (Zitat). Allgemein hierzu: Vierhaus, Handlungsspielräume.
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rung der Gouvernementsbehörden einherging. Die Inspektionsreisen der Gouverneure konnten bis zu einem gewissen Grad zwar ausgleichend wirken, doch vermochten sie die prinzipielle Distanz des obersten Beamten zur Lebenswelt der Kolonisierten kaum aufzuheben. Von solchen Entwicklungen partiell ausgenommen blieb lediglich eine flächenmäßig kleine Kolonie wie Samoa. Auch die Tatsache, dass einige Mitglieder der Untersuchungsgruppe zuvor in der Lokalverwaltung tätig gewesen waren, konnte diesem Problem bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Das eigentliche Aktionsfeld praktisch aller Gouverneure bestand in der verantwortlichen Leitung ›ihrer‹ Administration zur Realisierung der kolonialen Zielsetzungen. Diese wiederum wurden seitens der Metropole vorgegeben, so dass auch die Abstimmung mit der Berliner Zentralbehörde den Dienstalltag der Gouverneure prägte. Die daraus resultierende Mittelposition zwischen der Metropole einerseits und den Lokalbehörden an der Peripherie andererseits bildete den maßgeblichen Erfahrungs- und Handlungsraum dieser Positionselite.
4.1 Kolonialismus und Herrschaft Bevor auf die Praktiken der Gouverneure eingegangen werden soll, erscheint es zweckmäßig, einige allgemeine Überlegungen zu kolonialer Staatlichkeit voranzustellen. Dass diese nicht von einem »spezifisch kolonialen Kontext« zu trennen ist, hat Georges Balandier bereits 1952 mit seinem Konzept einer situation coloniale formuliert.5 Folgerichtig habe sich der Kontakt zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten »unter ganz besonderen Umständen entwickelt«.6 Als entscheidend gilt dabei, dass eine kleine Gruppe fremder Eroberer eine zahlenmäßig überlegene autochthone Bevölkerung unterwirft und sich in der Folge konsequent von dieser abzugrenzen sucht.7 Ihre Herrschaft stützen die Europäer auf ihre »materielle Überlegenheit« sowie auf einen »zu ihrem Vorteil errichteten Rechtszustand und […] ein im Grunde mehr oder weniger rassisches Rechtfertigungssystem«.8 Nach Balandier sei die auf diesem Wege errichtete künstliche Distanz zwischen beiden Gruppen aber fragil, so dass der Vormachtanspruch der Minderheit latent in Frage gestellt sei. Eine ständige »Furcht vor einer Umbildung« sei die zwangsläufige Folge.9 Die Ängste der Kolonisierenden äußerten sich wiederum in einem fortgesetzten Bemühen um eine Aufrechterhaltung der Segregation. Ein »Kontakt von Kulturen« fände dennoch auf vielfältige Weise statt, weshalb sich die koloniale Situation insbesondere durch ihre Wandelbarkeit auszeichne.10 Ungeachtet dieser früh aufgestellten Thesen hielt die Forschung lange an einer abweichenden Vorstellung über den Charakter kolonialer Herrschaft fest. Frederick Cooper bezeichnete diese ältere Sichtweise zutreffend als eine »dichotomous vision«.11 5 6 7 8 9 10 11
Balandier, Situation; vgl. Spittler, Verwaltung, S. 178–180; Eckert, Herrschen, S. 16. Balandier, Situation, S. 106, 120. Ebd., S. 116f. Ebd., S. 115. Ebd., S. 111, 117; vgl. Trotha, Herrschaft, S. 145f. Balandier, Situation, S. 117, 119f. Cooper, Conflict, S. 1517.
4. Herrschaftspraktiken
Danach hätten sich Kolonisatoren und Kolonisierte als zwei jeweils »homogene monolithische Blöcke« gegenübergestanden.12 Die vielschichtigen indigenen Gesellschaften nahmen dabei den Status einer »relatively undifferentiated mass« ein, die entweder aus »exploited, impoverished and impotent victims« oder alternativ aus mehr oder weniger ohnmächtigen Widerstandskämpfern bestanden habe.13 Demgegenüber wurden die Fähigkeiten des kolonialen Staates als sehr weitreichend eingeschätzt.14 Nicht ohne innere Logik sah sich letzterer mitunter in die Nähe der totalitären Regimes im Europa des 20. Jahrhunderts gerückt. In diesem Zusammenhang häufig rezipiert wurde Hannah Arendt, die im modernen Kolonialismus sogar einen der »Ursprünge totaler Herrschaft« erblickte.15 Danach hätten die Europäer in den Kolonien bürokratische Apparate mit umfassenden Zugriffsmöglichkeiten auf die Indigenen und dadurch letztlich eine »geregelte Unterdrückung auf dem Verordnungswege« errichtet.16 Auch in anderen Studien war lange die Rede vom starken kolonialen Staat, der einer »irresistible hegemony« nahegekommen sei.17 An diesem binären Modell wurden zunehmend Zweifel laut. Zumindest bei den »early colonial governments« habe es sich lediglich um »embryo« oder »weak governments« gehandelt.18 Helmut Bley skizzierte schließlich ein Bild der in letzter Konsequenz von den Indigenen »abhängigen ›Herren‹« in Deutsch-Südwestafrika.19 In ähnlicher Weise zeigte sich Gerd Spittler am Beispiel der französischen Verwaltung in Westafrika von den begrenzten Zugriffsmöglichkeiten des kolonialen Staates überzeugt. Anstelle einer effektiven und flächendeckenden Kontrolle sei dort stets ein »großer herrschaftsfreier Bereich« verblieben.20 Koloniale Administration habe sich daher durch ihre ebenso punktuellen wie temporär begrenzten Zugriffsmöglichkeiten auf die Kolonisierten ausgezeichnet.21 Andere Autoren äußerten in ähnlicher Einschätzung, dass es der ›thin white line‹ (Anthony Kirk-Greene) aus Kolonisierenden fast zu keinem Zeitpunkt gelungen sei, über bloße Ansätze einer bürokratisch organisierten Verwaltung hinaus zu gelangen.22 An-
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Brandstetter, Kolonialismus, S. 76. Berman, Structuralism, S. 180 (Zitate); Brandstetter, Kolonialismus, S. 76–84. Ebd., S. 80–83; Spittler, Verwaltung, S. 183f. Arendt, Elemente, S. 307–357. Dieser Interpretation folgen u.a.: Helbig, Frühfaschismus; Melber, Kontinuitäten; zum Teil auch: Zimmerer, Herrschaft, S. 129f. Arendt, Elemente, S. 307. Kritisch in Bezug auf die dürftige Untermauerung mancher der dortigen Postulate: Gerwarth/Malinowski, Holocaust, S. 441. Young, State, S. 1f. (Zitat), 139. Oliver, Introduction, S. 6f.; vgl. Reinhard, Unterwerfung, S. 979. Bley, Kolonialherrschaft, S. 213. Spittler, Verwaltung, S. 24 (Zitat), 184–188. Ähnlich: Hauck, Gesellschaft, S. 24; Eckert, Herrschen, S. 10. Spittler, Verwaltung, S. 66–68; Kennedy, Islands; Trotha, Herrschaft, S. 37–44; Wirz, Einleitung, S. 12; Pesek, Herrschaft, S. 244–265; Zollmann, Herrschaft, S. 9–16, 213–240. In der Forschung haben sich zur Beschreibung dieses eingeschränkten Zugriffs die Begriffe ›Islands of White‹ (Dane Kennedy) oder ›Inseln der Herrschaft‹ (Albert Wirz) etabliert. Berman/Lonsdale, Contradictions, S. 77–100; Berry, Hegemony; Jackson, Africa, S. 139; Berman, Perils; Andersson, Administrators; Comaroff, Governmentality; Spear, Neo-Traditionalism, S. 25f.; Eckert, Verheißung, S. 273; ders., Herrschen, S. 17f.; Zollmann, Herrschaft, S. 349f.
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stelle einer auf rationalen Grundsätzen basierenden Administration nach europäischem Muster sei koloniale Herrschaft stattdessen von einer Dominanz intermediärer einheimischer Akteure gekennzeichnet gewesen, die seitens der Europäer kaum hätten kontrolliert werden können. Die Folge sei eine kaum entwirrbare Mixtur aus bürokratischen, willkürlichen und despotischen Praktiken gewesen, so dass es sich bei kolonialer Staatlichkeit letzten Endes um eine ›hegemony on a shoestring‹ (Sara Berry) gehandelt habe. Die eklatanten Gegensätze zwischen Anspruch und Wirklichkeit führten nicht zuletzt dazu, im kolonialen Staat lediglich eine »Utopie der staatlichen Herrschaft« zu sehen.23 Im Zuge dieser Diskussion blieb allerdings häufig die Frage unterrepräsentiert, ob das bürokratische Ideal als Vergleichsmaßstab für koloniale Kontexte überhaupt tragfähig ist oder ob Staatlichkeit in den Kolonien nicht eher als eine »politische Form sui generis« zu werten ist, wie etwa Jürgen Osterhammel vermutet hat.24 In diesem Zusammenhang erscheint ebenfalls kaum ausgelotet, inwieweit die Akteure sich dieser Defizite selbst bewusst waren. Gerd Spittler und Trutz v. Trotha setzen voraus, dass die Kolonialbürokratie sich eine »fiktive Welt« erschaffen und an diese selbst ›geglaubt‹ habe.25 Auch diese Einschätzung ist bislang durch aussagekräftige Quellen kaum abgesichert worden.26 Eine ›Utopie‹ wird schließlich erst dann zu einer solchen, wenn auf Seiten der Akteure markante Differenzen zwischen ihren eigenen Konstrukten von Wirklichkeit und den tatsächlichen Verhältnissen nachweisbar sind. Die Gouverneure eigenen sich für eine solche Überprüfung zweifellos besser als irgendeine andere Akteursgruppe innerhalb der Kolonialbürokratie. Auf dieses Problem wird in den folgenden Abschnitten zurückzukommen sein. In diesem Zusammenhang liegt zudem die Frage nahe, wann sich überhaupt von Herrschaft sprechen lässt und anhand welcher Kriterien diese als ›bürokratisch‹ gelten kann. Nach der Definition von Max Weber handelt es sich bei Herrschaft um einen »Sonderfall von Macht«.27 Während aber Macht jede Gelegenheit umfasst, den »eignen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen«, sei Herrschaft durch die potentielle Möglichkeit gekennzeichnet, für einen »Befehl bestimmten Inhalts«, der an einen Kreis von »angebbaren Personen« adressiert ist, »Gehorsam zu finden«. Der entscheidende Unterschied besteht somit vor allem darin, dass Herrschaft eine »Verfestigung« von Macht darstellt, also einen gewissen Grad von Institutionalisierung aufweist.28 Diesen Konsolidierungsprozess unterteilt wiederum Heinrich Popitz in mehrere Phasen.29 Den Ausgangspunkt bildet eine lediglich auf den Einzelfall beschränkte »spo-
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Spittler, Verwaltung, S. 31, 74–81; Trotha, Herrschaft, S. X, 12 (Zitat 1), 220–331, 338, 342–344; Eckert/ Pesek, Ordnung, S. 88. Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 69 (Zitat); vgl. Wirz, Körper, S. 269f. Spittler, Verwaltung, S. 91–95; Trotha, Herrschaft, passim. Spittler stützt sich vor allem auf die Jahresberichte der Gouverneure in Französisch-Westafrika. Auch Trothas Annahmen basieren in diesem Zusammenhang überwiegend auf Geschäftsschriftgut, das sich für solche Fragestellungen aber nur bedingt eignet. Zusätzlich beziehen sich beide auf isolierte Aussagen in der Memoirenliteratur. Zeitnahe Selbstzeugnisse von den Akteuren im deutschen Kolonialreich wurden dagegen nicht herangezogen. Weber, Wirtschaft, S. 541. Ebd., S. 28f., 544; Popitz, Phänomene, S. 32f., 232f. Ebd., S. 236–255. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben.
4. Herrschaftspraktiken
radische Macht«. Diese könne verstetigt werden, wenn dauerhaft wirkende Machtmittel vorhanden seien, mit deren Hilfe sich wiederholbare Leistungen der Unterworfenen sowie deren Bindung an ein bestimmtes Territorium erzwingen lassen. Der nächste Schritt besteht aus einer Etablierung von »normierender Macht«. Dabei gelingt es dem Machthaber durch Standardisierung seiner Handlungen, bei den Unterworfenen gleichartige Verhaltensweisen in vergleichbaren Situationen durchzusetzen. Diese Normierung steigert nebenbei wiederum die Planbarkeit und Koordinierbarkeit der Maßnahmen. Ferner präzisieren Formvorschriften und Rituale den Machtwillen und lassen diesen für die Unterworfenen berechenbarer erscheinen. Die Chancen einer gesellschaftlichen Integration des Machtausübenden steigen dadurch erheblich. Eine solche Entwicklung fördere Popitz zufolge gleichzeitig eine »Positionalisierung«, bei der die Machtstellung entpersonalisiert, also auf andere Individuen übertragbar wird. Das Umfeld des Machthabers verfestigt sich zu einem »Positionsgefüge«, einem Machtapparat, der aus austauschbaren Funktionsträgern besteht. Handelt es sich bei dem Herrschaftsgebilde um einen »politischen Anstaltsbetrieb«, dann erfolgt die über ein exakt definiertes Territorium und die darin lebenden Bewohner sich erstreckende Herrschaft durch einen mehr oder minder bürokratisch organisierten »Verwaltungsstab«. Dieser wiederum reklamiert das »Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen« für sich.30 Diese Überlegungen eignen sich zugleich als Analyserahmen für die Transformationsprozesse im Kontext von kolonialer Staatlichkeit. Ein Schwachpunkt bei Weber lässt sich aber in der Statik der von ihm angenommenen Interaktionsformen zwischen Herrschenden und Beherrschten ausmachen, beschränken sich diese doch auf die bloße Vorstellung von »Befehl« auf der einen und »Gehorsam« auf der anderen Seite. Alf Lüdtke hat demgegenüber auf die »vielfältigen Ensembles von verdeckten und ›sanften‹ Übermächtigungen« hingewiesen, die jenseits eines solchen »direkten Zugriffs« der Machthaber denkbar sind. Herrschaft müsse deshalb als »soziale Praxis« verstanden werden, die eine Vielzahl von Facetten und Beziehungsgefügen aufweise und keineswegs nur in eine Richtung wirke.31 Lüdtke bezieht sich dabei wiederum auf die Überlegungen von Pierre Bourdieu und Michel Foucault. Während Bourdieu in seiner Untersuchung über die kabylische Gesellschaft feststellt, dass die »Strategien der symbolischen Gewalt oft sehr viel ökonomischer sind, als es die […] rein ökonomische Gewalt wäre«, plädiert Foucault dafür, jede einseitige Vorstellung von Machtausübung aufzugeben.32 Folgerichtig dürfe die »Allgegenwart der Macht« keineswegs ausschließlich als »Regierungsmacht« in Gestalt von »Institutionen und Apparaten« oder als Unterwerfung mittels offener Gewalt oder Regularien verstanden werden. Ebenso wenig handele es sich dabei um ein bestimmtes »Herrschaftssystem«, das in »sukzessiven Zweiteilungen den gesamten Gesellschaftskörper durchdringt«. Stattdessen betont Foucault die »Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen«. Diese
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Ebd., S. 233f.; Weber, Wirtschaft, S. 29 (Zitate); vgl. Alber, Gewand, S. 32. Zum Territorialitätsprinzip in kolonialen Kontexten: Jureit, Herrschaft. Zum Gewaltmonopol: Grimm, Gewaltmonopol. Lüdtke, Herrschaft, S. 10, 29; vgl. Alber, Gewand, S. 36; Eckert, Herrschen, S. 6f.; ähnlich: Adams, Power, S. 395. Bourdieu, Entwurf, S. 368 (Zitat); Foucault, Sexualität 1, S. 93f.
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würden ständig »verwandelt, verstärkt, verkehrt« und dadurch »unablässig Machtzustände erzeugen«, die wiederum stets »lokal und instabil« seien. Dementsprechend sei jede strikte »Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegensetzt«, zu verwerfen.33 Diese Interpretation von Herrschaft, die sich durch eine Vielfalt von Interaktionsmöglichkeiten zwischen den Akteuren und Akteursgruppen auszeichnet, wurde seitens der Forschung auch und gerade für koloniale Kontexte aufgegriffen. Am prägnantesten hat dies wohl Christoph Marx formuliert, der Kolonialherrschaft generell als einen »Prozess ständigen Neuaushandelns von Machtchancen« definiert.34 Auch Leonhard Harding charakterisiert koloniale Praxis als »ständigen Machtkampf«, bei dem die Kolonisierten keineswegs zu einem »passiven und amorphen Block« reduziert werden dürften, sondern immer wieder aktiven Einfluss auf die ›koloniale Situation‹ hätten ausüben können.35 In diesem Sinne hatte bereits Spittler betont, dass mit Hilfe von »defensiven Strategien« insbesondere mobile Gesellschaften die direkten Zugriffsmöglichkeiten der Kolonialadministration regelmäßig unterlaufen hätten.36 Die nicht zu unterschätzende Wirksamkeit solcher weapons of the weak, aber auch die geringe Präsenz der Europäer vor Ort, hätten eine Einschaltung intermediärer Organe unerlässlich gemacht. Dabei handelte es sich neben Dolmetschern, Aufsehern, Polizisten oder Soldaten nicht zuletzt um die vielzitierte ›Häuptlingsadministration‹.37 Zu diesem Zweck wurden entweder bereits vorhandene tribale Strukturen und Hierarchien instrumentalisiert oder es wurden solche mittels »Konstruktion von Ethnizität« künstlich geschaffen.38 Nur mit Hilfe von intermediären Akteuren sei es dem kolonialen Staat überhaupt möglich gewesen, den unablässigen Kontakt zur indigenen Bevölkerung herzustellen und aufrechtzuhalten. Dabei hätten diese Mittler über lokales Herrschaftswissen verfügt, ohne das die Zielsetzungen der Kolonisierenden – Kontrolle der indigenen Gesellschaften, Rekrutierung von Arbeitskräften, Erhebung von Steuern und Abgaben – kaum hätten umgesetzt werden können. Das Erreichen einer partiellen Loyalität der intermediären Organe habe allerdings begrenzte Zugeständnisse erfordert. Dabei handelte es sich häufig um materielle Vergünstigungen, immer wieder aber auch um eine Teilhabe an der Macht.39 33
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Ebd.; vgl. ders., Überwachen, S. 207. Mitunter wurden aber auch Zweifel an der Zweckmäßigkeit dieser schier grenzenlosen Ausweitung des Machtbegriffs geäußert: Alber, Gewand, S. 37f.; vgl. Scott, Governmentality; Pesek, Foucault. Marx, Geschichte, S. 137. Harding, Geschichte, S. 35. Spittler, Verwaltung, S. 19–25, 69–71. Scott, Weapons; vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 165–169; Robinson, Foundations; Spittler, Verwaltung, S. 74; Wirz, Körper, S. 255, 258, zufolge habe die Stärkung der Notabeln zu einer Festschreibung bestehender sozialer Strukturen geführt. Ähnlich: Reinhard, Unterwerfung, S. 1319, der im Bündnis zwischen Kolonisierenden und indigenen Eliten die gemeinsame Absicht einer Kontrolle und Ausbeutung der indigenen Unterschichten erkennt. Ranger, Invention; ders., Tradition Revisited; Lentz, Konstruktion u.a. S. 31–34. In Bezug auf die Funktionsweisen des kolonialen Staats findet sich die Erkenntnis einer künstlichen Schaffung ethnischer Formationen schon in der Studie von Karin Hausen (1970): Hausen, Kolonialherrschaft, S. 165–169. Wirz, Einleitung, S. 18.
4. Herrschaftspraktiken
Nicht zuletzt im unmittelbaren Kontakt hätten sich die europäischen Akteure des kolonialen Staats immer wieder veranlasst gesehen, sich der »politischen Grammatik« der kings, chiefs oder bikmen zu bedienen.40 Die daraus resultierende Notwendigkeit, sich »zu den einheimischen Lokalherrschern [zu] begeben« und sich ihres Wissensmonopols zu bedienen, habe es diesen wiederum ermöglicht, die Europäer gezielt zu manipulieren.41 Anstatt der anvisierten bürokratischen Verwaltung seien nicht zuletzt die Beziehungen zwischen intermediären Akteuren und indigenen Gesellschaften von traditionellen Klientelverhältnissen und selektiver Lastenverteilung geprägt gewesen.42 Angesichts der vielfältigen Handlungsoptionen auf Seiten der in ihrer Mobilität, aber auch in ihrer Kenntnis der lokalen Verhältnisse überlegenen Indigenen habe es für die Europäer näher gelegen, sich in die Gegebenheiten und die sich aus ihnen ergebenden Machtchancen zu fügen. Zwar sei die Androhung oder Anwendung offener Gewalt durch die Kolonisierenden keineswegs selten gewesen, doch habe sich selbst das brutalste und rücksichtsloseste Kolonialregime weder ausschließlich noch dauerhaft auf Terrormaßnahmen stützen können.43 Folglich konnte die Realisierung der kolonialen Zielsetzungen mitunter sogar »sanft und verschleiert« erscheinen, ohne aber ihren eigentlichen Zweck, die »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« zu vernachlässigen.44 An diesen Grundannahmen über den Charakter und die Funktionsweisen des kolonialen Staates wird sich die nachfolgende Analyse über die Herrschaftspraktiken der Kolonialgouverneure zu orientieren haben. Dabei treffen erneut die Kernthemen der bisherigen Untersuchung aufeinander, nämlich die Frage nach den Denk- und Wahrnehmungsmustern der Gouverneure einerseits und ihren Praktiken angesichts von Situationen und Strukturen andererseits. Es liegt nahe, dass dabei nicht alle Aspekte gouvernementalen Handelns berücksichtigt werden können. Vielmehr erscheint es praktikabel, einige zentrale Themenfelder herauszugreifen und diese einer gezielten Untersuchung zu unterziehen. Angesichts der Kernaufgaben und des stets provisorischen Zustandes der kolonialen Herrschafts- und Verwaltungsapparate, stellen die Aktivitäten der Gouverneure im Hinblick auf die Fortentwicklung der Gouvernements und der Lokalverwaltungen sowie deren Funktionsweisen einen Schwerpunkt dar. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang auch die Verortung dieser Positionselite innerhalb der Verwaltungshierarchie. Wie weit gingen angesichts der vorgesetzten Aufsichtsbehörde die Möglichkeiten der Gouverneure, eine eigenständige Politik zu konzipieren und umzusetzen? Welche Strategien verfolgten sie, um sich ein Minimum an Selbständigkeit zu sichern? Welche Anstrengungen unternahmen sie, um die ihnen unterstellten Lokalbehörden kontrollieren zu können? Ein wesentliches Moment für die Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit der Gouverneure sowohl gegenüber übergeordneten als auch gegenüber nachgeordneten
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Crais, Introduction, S. 1–25; Reinhard, Unterwerfung, S. 980 (Zitat). Spittler, Verwaltung, S. 84–88; Trotha, Herrschaft, S. 119 (Zitat); Wirz, Einleitung, S. 18f. Spittler, Verwaltung, S. 81–83; Trotha, Herrschaft, S. 327–331. Spittler, Verwaltung, S. 23f. Bourdieu, Entwurf, S. 370 (Zitate). Danach kämen indirekte Methoden vor allem dann zur Anwendung, wenn aus unterschiedlichen Gründen eine »direkte und brutale Ausbeutung unmöglich« sei.
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Hierarchieebenen bestand nicht zuletzt in der Sammlung, Aufbereitung und Interpretation der in den Gouvernements eingehenden Informationen. Die Gewinnung von Kenntnissen über Land und Leute war für die Kolonisierenden ein unerlässliches Herrschaftsinstrument.45 Im Sinne Michel Foucaults lassen sich diese Wissensbestände geradezu als integraler Bestandteil imperialer Machtstrukturen interpretieren.46 Die Forschung hatte bislang vor allem diejenigen Wissensgebiete im Blick, denen eine spezifisch koloniale Ausrichtung zugeschrieben wurde und die zugleich Eingang in die akademischen Disziplinen gefunden haben. Als Beispiele sind etwa zu nennen die Ethnologie, die Anthropologie, die Tropenmedizin oder die Geographie.47 Diesen sogenannten ›Kolonialwissenschaften‹ kam zweifellos bei der Ausprägung und Verfestigung von Stereotypen und Narrativen im Hinblick auf die kolonisierten Landstriche und die dort lebenden Menschen eine Schlüsselrolle zu.48 Erheblich weniger Beachtung fand dagegen das vor Ort generierte, »handlungsleitende Wissen«, obwohl diesem eine wesentliche Bedeutung für die koloniale Praxis zugeschrieben werden muss.49 Solche herrschaftsrelevanten Kenntnisse wurden mitunter als »allgemeines Wissen« mit einem nur »geringen Grad der Systematisierung und inneren Ordnung« deklassiert.50 Die Strategien der Akteure zur Generierung dieses unmittelbaren Herrschaftswissens wurden daher ebenso wie dessen Anwendung im Rahmen der Verwaltungspraxis bislang vergleichsweise wenig untersucht.51 Wie noch zu zeigen sein wird, war aber gerade die gezielte Akkumulation eines solchen Praxiswissens ein wesentliches Fundament, auf dem die Koordinationsfunktion der Gouvernements aufbauen konnte. Neben den institutionellen Spielräumen der Gouverneure und ihren Interaktionen mit Zentrale und Lokalverwaltung sowie den Ansätzen zur Generierung von Herrschaftswissen werden exemplarisch einige weitere Aspekte in den Blick zu nehmen sein. Dazu zählen etwa die Monopolisierung physischer Gewalt, die Einbeziehung intermediärer Akteure, die Ausbeutung einheimischer Arbeitskräfte oder die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Rassentrennung. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei stets den Konfliktlösungsstrategien der Gouverneure. Die genannten Themenfelder können zweifellos nicht das gesamte Spektrum kolonialer Herrschaft abbilden, doch ist eine lückenlose Darstellung weder beabsichtigt noch notwendig. Allgemein stehen vielmehr die jeweiligen Interessen, Initiativen, die Beteiligung und Einflussnahme der Gouverneure und somit die Frage nach der Nutzung bzw. Nichtnutzung von Handlungsoptionen im Vordergrund. Gleichzeitig soll die Analyse von Machtverhältnissen,
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Hierauf hat bereits früh hingewiesen: Spittler, Verwaltung, S. 21f. Foucault, Überwachen; vgl. auch Stoler, Race; Thomas, Culture. Beispiele für Studien zu den ›Kolonialwissenschaften‹: Fabian, Time; ders., Language; Sandner, Identity; Cohn, Colonialism; Eckart, Medizin; Demhardt, Entschleierung; Zimmerman, Anthropology; Pugach, Afrikanistik; Penny, Objects; Fiedler, Abenteuer; Harrison, Science; Stuchtey, Science; Laukötter, Kultur; Tilley u.a., Africa; Errington, Linguistics; Conrad, Wissen. Neben der grundlegenden Arbeit von Said, Orientalismus, lassen sich u.a. anführen: Thomas, Culture; Marx, Völker; Mudimbe, Invention; Gouaffo, Kulturtransfer. Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 117 (Zitat); vgl. Thomas, Culture, S. 43; Schaper, Verhandlungen, S. 276–383; Buschmann, Anthropology. Schaper, Verhandlungen, S. 287. Vgl. Eckert/Pesek, Ordnung S. 100; Schaper, Verhandlungen, S. 283–287.
4. Herrschaftspraktiken
Herrschafts- und Verwaltungspraktiken Erkenntnisse über das konkrete Funktionieren bzw. Nichtfunktionieren kolonialer Verwaltung liefern. Am Anfang richtet sich der Blick auf die Frühzeit des Amtes, die untrennbar mit der Person des Freiherrn v. Soden verbunden ist. Dieser bekleidete während der Anfangsjahre des deutschen Kolonialreichs als erster den Gouverneursposten in Kamerun, um anschließend nach Deutsch-Ostafrika zu wechseln. Bis 1891 war Soden der einzige Träger des Titels Gouverneur. Wie noch zu zeigen sein wird, gehen auf ihn wesentliche Initiativen für die normative und praktische Ausgestaltung dieses Amtes zurück. Im darauffolgenden Abschnitt wird das Herrschaftshandeln ausgewählter Gouverneure in den afrikanischen Schutzgebieten bis zur Krise des kolonialen Projekts um 1904/05 zu untersuchen sein. Deutsch-Ostafrika kommt dabei gewissermaßen eine Referenzrolle zu, weshalb die einschlägigen Ausführungen einen etwas größeren Raum als die zu anderen ›Schutzgebieten‹ einnehmen. Dem liegen einerseits praktische Überlegungen zugrunde, sollen doch identische oder ähnliche normative Einflussnahmen der Berliner Zentrale nicht für jede Kolonie aufs Neue thematisiert und damit unnötige Wiederholungen vermieden werden. Andererseits lohnt der intensivere Blick auf Ostafrika vor allem deshalb, weil sich die Genese der Gouverneursbefugnisse in den anderen deutschen Kolonien während der 1890er und frühen 1900er Jahre häufig an den Entwicklungen in diesem flächenmäßig größten ›Schutzgebiet‹ orientierte. Auch andere Aspekte kolonialer Herrschaftspraxis lassen sich anhand dieser Kolonie besonders gut untersuchen. Erwähnt seien etwa die Ansätze zur Ausdehnung der Herrschaft in das Landesinnere, der Ausbau des Verwaltungsapparates, die Besteuerung der indigenen Gesellschaften, die Instrumentalisierung lokaler Eliten, nicht zuletzt aber auch vielfältige Konflikte innerhalb der kolonialen Administration, namentlich zwischen Zivilverwaltung und Militär. Den Abschluss des Kapitels über die afrikanischen Kolonien bis zur großen Krisis bilden die Amtszeiten der beiden langjährigen Gouverneure von Kamerun und DeutschSüdwestafrika, Puttkamer und Leutwein. Dem folgt ein Blick nach Ozeanien, wo aufgrund der verzögerten Übernahme der Verwaltung durch das Reich in Neuguinea sowie wegen der späten Inbesitznahme (West-)Samoas das Gouverneursamt sich erst seit der Jahrhundertwende etablieren konnte. Auch dort werden mit Hahl und Solf zwei ungewöhnlich lange amtierende und für die dortigen kolonialen Regimes prägende Funktionsträger und ihre Praktiken auszuleuchten sein. Anschließend richtet sich der Fokus wieder nach Afrika.52 Konkret stehen dabei im Mittelpunkt der Graf Zech in Togo, Lindequist in Deutsch-Südwestafrika sowie die drei 52
Die Darstellung orientiert sich teilweise an einer dreistufigen Periodisierung deutscher Kolonialherrschaft. Demnach seien die 1880er Jahre vor allem durch chartered companies mit teilweisen hoheitlichen Funktionen geprägt gewesen, während im Laufe der 1890er Jahre die Verwaltung zunehmend durch die öffentliche Hand übernommen worden sei. Im Gefolge der Imperialkriege habe dann ab 1907 unter Bernhard Dernburg, dem Staatssekretär des neu gegründeten Reichskolonialamts, neben einer administrativen Neuordnung auch eine Modifizierung der kolonialen Zielsetzungen stattgefunden. Gann/Duignan, Rulers, S. 45–55; Conrad, Kolonialgeschichte, S. 35–37; vgl. Laak, Infrastruktur, S. 132, der 1907 als »Wendejahr« der deutschen Kolonialpolitik bezeichnet. Zweifellos stellt dieses Modell nach wie vor eine praktikable Orientierungshilfe dar. Zu Recht wurde aber auch bemerkt, dass die damit implizierten Zäsuren keine allgemeinverbindlichen Größen
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›Dernburg-Gouverneure‹ Rechenberg, Schuckmann und Seitz. Abschließend gilt es, die generellen Bestrebungen der Gouverneure zur Aufrechterhaltung der kolonialen Dichotomie in Gestalt einer Rassentrennung sowie die Frage nach der Professionalisierung und Bürokratisierung der Kolonialverwaltung in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu untersuchen.
4.2 Die Anfänge des Gouverneursamts unter dem Freiherrn von Soden Die ersten Jahre der kolonialen Betätigung des Kaiserreiches markieren zugleich den Beginn des Gouverneursamtes. So selbstverständlich diese Aussage auch scheinen mag, ist doch zu bedenken, dass es noch bis zur Jahrhundertwende dauern sollte, bis sich dieser Titel mit den damit verbundenen Befugnissen in sämtlichen ›Schutzgebieten‹ durchzusetzen vermochte. Eine wesentliche Ursache für den schleppenden Aufbau kolonialer Administration bestand nicht zuletzt darin, dass die Reichsregierung lange auf ein stärkeres privatwirtschaftliches Engagement gehofft hatte, um die mit einer unmittelbaren Verwaltung der Kolonien verbundenen Kosten und Verpflichtungen zu minimieren.53 Diese Vorgabe hatte wiederum zur Folge, dass staatlicher Initiative anfangs enge Grenzen gesetzt waren. Allerdings sollte sich rasch zeigen, dass ein Delegieren von Hoheitsaufgaben an sogenannte chartered companies auf Dauer keine praktikable Lösung darstellte. Lediglich in Ostafrika und Neuguinea blieb die Verwaltung bis 1891 bzw. 1899 in den Händen solcher Gesellschaften.54 In den westafrikanischen Kolonien Kamerun, Togo und Südwestafrika, wo ein solches Konzept überhaupt nicht oder nur unzulänglich funktioniert hatte, kam es bezeichnenderweise bereits im Frühjahr 1885 zur Einsetzung oberster Beamter, die die ›Schutzherrschaft‹ des Kaisers unmittelbar ausüben sollten. Angesichts der dürftigen Verhältnisse vor Ort klaffte allerdings von Anfang an zwischen Anspruch und Realität eine beträchtliche Lücke.55 Bereits der bis dahin lediglich provisorisch als Kaiserlicher Kommissar in Kamerun amtierende Buchner hatte darüber geklagt, »dass ich allerlei Pflichten habe, aber keine Rechte. […] Und dabei scheint erwartet zu werden, dass ich mich Aufgaben unterziehe, für die Zuhause bei den Ämtern ganze Beamtenstäbe da sind […].«56 Es waren nicht zuletzt die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen, die Buchner um seine Ablösung nachsuchen ließen. Zuvor hatte er der Reichsregierung noch seine Vorschläge für
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darstellen, vielmehr handelt es sich oft um sukzessive Übergänge, die nicht in jedem ›Schutzgebiet‹ gleichzeitig messbar sind. So etwa: Bösch, Geheimnisse, S. 227, Anm. 12. Bismarck zog daher in den Kolonien den »regierenden Kaufmann« einem »regierenden Bureaukraten« vor. Bismarck vom 28.11.1885, in: Verhandlungen RT, Bd. 86, S. 117; vgl. Gründer, Geschichte, S. 55–65. Bührer, Chartergesellschaft, S. 237–244; Bückendorf, Kolonialpläne, S. 194–251, 290–364; Hiery, Verwaltung Neuguineas, S. 280–299. Ähnlich war der Status der Jaluit-Gesellschaft auf den Marshall-Inseln: Hardach, Herrschaft, S. 514f. Zum Scheitern von Bismarcks Konzeption: Laak, Infrastruktur, S. 112. Gründer, Geschichte, S. 89–93. Buchner, Tgb. (10.4.1885), abgedruckt in: Buchner, Aurora, S. 309; vgl. Hoffmann, Okkupation 1, S. 41.
4. Herrschaftspraktiken
die in der Kolonie »zunächst einzurichtende Regierungsform« übermittelt.57 Darin riet der Arzt und Afrikaforscher von einer Übertragung unabhängiger hoheitlicher Rechte an die europäischen Kaufleute generell ab. Stattdessen regte er die Einsetzung »eines Oberkommissars, eines Unterkommissars mit einem Sekretär, Dolmetscher, Polizisten u. Lotsen« an, daneben aber auch die »Schaffung einer Landtruppe von mindestens 200 Mann«, die für die »Ausdehnung unseres Besitzes u. Aufrechterhaltung der Ordnung« sorgen sollten.58 Nicht zuletzt mit Blick auf die Grundzüge des künftigen kolonialen Herrschaftsapparates äußerte Buchner gegenüber einer etwaigen »Gleichstellung der Weißen u. der Eingeborenen erhebliche Bedenken«. Stattdessen schlug er eine strikte Trennung der Gerichtsbarkeit vor, um einem erst noch zu bildenden »Rat der Häuptlinge die gesamte Jurisdiktion in Zivil- u. Strafsachen der Eingeborenen untereinander zu lassen«.59 Wenig später, am 18. Mai 1885, wurde der Berufsdiplomat Soden zum Gouverneur von Kamerun ernannt.60 Bismarck zufolge war die neue Amtsbezeichnung wegen der »Bedeutung und der Ausdehnung« dieser Kolonie gewählt worden. Entsprechend den Vorschlägen Buchners war Soden gleichzeitig Oberkommissar und als solcher dem Leiter der Verwaltung im nächstgelegenen Togogebiet übergeordnet.61 Dort und in Südwestafrika war der Reichsregierung die »Bestellung je eines Kommissars [als] ausreichend erschienen«.62 Ein von Kaiser Wilhelm I. ebenfalls im Mai 1885 unterzeichneter Erlass legte die sich daraus ergebenden Rangverhältnisse fest. Während Soden für die Dauer seiner Amtszeit den Rang eines »Raths I. Klasse« erhielt, wurden seine beiden Kollegen lediglich als »Räthe III. Klasse« eingestuft.63 Vorerst ließen jedoch weder der aus dem Vokabular anderer europäischer Kolonialverwaltungen übernommene Gouverneurstitel noch dessen herausgehobene Stellung auf weitergehende Ambitionen der Reichsregierung schließen, sich künftig stärker in den ›Schutzgebieten‹ zu engagieren. Eine gewisse Zurückhaltung deutete sich vielmehr in einer Instruktion Bismarcks vom 27. Mai 1885 an, die bezeichnenderweise sowohl an den Gouverneur von Kamerun als auch an den Kommissar von Togo adressiert war. Nennenswerte Machtmittel wurden darin keinem der beiden zugestanden, im Notfall sollten sie stattdessen auf das 57 58
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Buchner, Tgb. (17.4.1885), abgedruckt in: Buchner, Aurora, S. 314. BA-B R 1001/4738, Bl. 17, AA, o.D. [Mai 1885], Vermerk (Zitate); Buchner, Aurora, S. 314f.; vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 74. Danach hätten die Hamburger Großkaufleute eine Übernahme der Landeshoheit in Kamerun auch von sich aus abgelehnt. BA-B R 1001/4738, Bl. 17, AA, o.D. [Mai 1885], Vermerk. GStA PK Rep. 89/32474, Bl. 1, Geh. Zivilkabinett, o.D. [Mai 1885], Vermerk. Weshalb explizit Soden für diesen Posten ausgewählt wurde, geht aus den Quellen nicht hervor. Meinrad Freiherr v. Ow[-Wachendorf], ein Nachfahre Sodens, mutmaßt, dass der künftige Gouverneur generell als erfahrener Jurist, Diplomat und Verwaltungsfachmann geeignet gewesen sei. Ow, Soden, S. 253. Naheliegend ist nicht zuletzt eine gewisse Weltläufigkeit, die sich Soden als Diplomat in Bukarest, Algier, Kanton, Hongkong, Havanna, Lima und St. Petersburg angeeignet haben dürfte. Bismarck vom 22.11.1885, Denkschrift, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Anlagen, Bd. 4 (1886), S. 89. Ebd. (Zitat); Erbar, Platz, S. 11; Kaulich, Geschichte, S. 78f. Wilhelm I. vom 25.5.1885, Allerhöchster Erlass, abgedruckt in: DKG 1, S. 177. Die Titel galten nur außerhalb Europas. Das Exzellenz-Prädikat stand dem Gouverneur vorläufig noch nicht zu. Siehe hierzu weiter unten.
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nächst erreichbare Kriegsschiff der Kaiserlichen Marine zurückgreifen. Die Ausübung der »Schutzmacht« sollte ohnehin möglichst auf Basis der »Vereinbarungen, welche mit den Königen und Häuptlingen der Eingeborenen bei Erwerbung der einzelnen Gebietsteile getroffen wurden«, erfolgen. Dieser Absicht entsprach auch der Hinweis, nach Möglichkeit die »Sitten und Gebräuche« der Einheimischen »zu schonen«.64 Unbedingter Vorrang kam jedoch der Kernaufgabe von Gouverneur und Kommissar zu: Mit Blick auf die Handelsinteressen hatten sie vor allem für »Ruhe und Ordnung« zu sorgen und dieses Ansinnen notfalls »mit allen Mitteln« durchzusetzen.65 Waren deutsche Streitkräfte involviert, konnten auch gegen Einheimische die Strafbestimmungen des Reiches zur Anwendung kommen. Alles in allem stellen diese Anweisungen aber zweifellos ein Provisorium dar, erwartete Bismarck doch von den neuen Amtsträgern eine rasche Berichterstattung über den »vorgefundenen Rechtszustand« sowie »gutachterliche Vorschläge über die der Gesetzgebung wie der Rechtspflege weiter zu gebende Gestaltung«.66 Analog zu diesen Anweisungen gestaltete sich die personelle Ausstattung der Verwaltung überschaubar. Soden verfügte mit seinem Kanzler Jesko v. Puttkamer zumindest über einen ständigen Vertreter. Dazu kamen lediglich ein Sekretär, ein Dolmetscher und ein Amtsdiener. Jeder der beiden Kommissare von Togo und Südwestafrika musste sich vorläufig sogar mit nur zwei Mitarbeitern begnügen.67 Angesichts dieser Voraussetzungen verwundert es kaum, dass sowohl Soden als auch Puttkamer nach ihrer Ankunft im Juli 1885 die »hiesigen Zustände« als »unfertig und embryonenhaft« bezeichneten.68 Der Gouverneur selbst schrieb über seinen Amtssitz inmitten von »Sumpf und Mangroven«, es handele sich um eine Umgebung, in der »vielleicht ein außergewöhnlich nervenstarkes Krokodil, ein Weißer aber gewiß nicht vegetieren kann.«69 Nach allgemeiner Einschätzung hätten selbst die Unterkünfte »in ihrer Dürftigkeit der Stellung des Gouverneurs gegenüber der Bevölkerung nicht entsprochen«.70 Ohnehin konnte von einer Behörde längst keine Rede sein. Selbst nach fünfjährigem Bestehen umfasste Sodens ›Verwaltungsstab‹ kaum zehn Europäer, von denen zudem ein Teil stets krankheitsbedingt ausfiel. Der Gouverneur schrieb daher nach Hause, er sei »Mädchen für alles« und habe »buchstäblich keine Sekunde Ruhe«.71
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BA-B R 1001/4738, Bl. 21f., Bismarck an Soden und Falkenthal vom 27.5.1885, Instruktion; Grohmann, Verfassung, S. 18f. Zur Instruktion für Goering (Südwestafrika) vom 23.4.1885: Kaulich, Geschichte, S. 78f. Diesen Zusatz brachte der Reichskanzler einige Monate später unmissverständlich zum Ausdruck: Bismarck vom 22.11.1885, Denkschrift zum Etat des AA, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Anlagen, Bd. 4 (1886), S. 89. BA-B R 1001/4738, Bl. 21f., Bismarck an Soden und Falkenthal vom 27.5.1885, Instruktion. Ebenfalls von einem Provisorium gehen aus: Nagl, Grenzfälle, S. 23; Schaper, Verhandlungen, S. 43. Bismarck vom 22.11.1885, Denkschrift, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Anlagen, Bd. 4 (1886), S. 89; vgl. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 318; Kaulich, Geschichte, S. 79. BA-B R 1001/4238, Bl. 4–12, Puttkamer (Kamerun) an AA vom 5.8.1885, Bericht. Obwohl von Puttkamer gezeichnet, dürfte das Schreiben nach Stil und Inhalt von Soden entworfen worden sein. Soden an AA, o.D., zitiert nach Ow, Soden, S. 254. Centralblatt der Bauverwaltung 5 (1885), Nr. 45, S. 455. BA-B N 2160/8, Soden (Kamerun) an Kusserow vom 11.10.1886, Schreiben. Zum Personalstand im Gouvernement: DKB 1 (1890), S. 9; DKB 6 (1895), S. 268f.; vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 77.
4. Herrschaftspraktiken
Auch seine Oberaufsicht über die Verwaltung in Togo erwies sich als wenig effektiv. Sollte der dortige Kommissar Ernst Falkenthal anfangs noch alle für Berlin bestimmten Berichte vorab dem Gouverneur vorlegen, wurde diese schwerfällige Praxis bald eingeschränkt. Fortan brauchten von den weniger wichtigen Schriftstücken nur noch knappe Zusammenfassungen an Soden übersandt werden.72 Bald darauf beschwerte sich dieser jedoch bei Bismarck, dass Falkenthal ihm nun überhaupt keine Berichte mehr vorlege.73 Einerseits deutete Soden dieses Vorgehen als »Rücksichtslosigkeit«, da dadurch sein Titel als Oberkommissar eine »lächerliche Rolle« erhalte. Andererseits sah er aber auch »keinen Grund, mich über diese Umgehung zu beklagen«. In richtiger Einschätzung seiner begrenzten Möglichkeiten legte der Gouverneur dem Reichskanzler stattdessen nahe, Falkenthal aus seiner Aufsicht zu entlassen. Als Begründung führte er an, dass ihm die »Verhältnisse in Togo nicht einmal aus Berichten […], geschweige denn aus eigener Anschauung bekannt sind; auch getraue ich mir nicht anhand eines Aufenthalts von wenigen Tagen die Lage dort besser zu übersehen als der Kommissar selbst; ich müsste also zum Mindesten schon einen langen Aufenthalt dort nehmen, um Land u. Leute mit eigenen Augen […] zu sehen […].« Letzteres sei aber »unter den gegenwärtig in Kam[erun] herrschenden Verhältnissen nicht möglich«.74 Die letzte Andeutung belegt, dass auch in Kamerun die Spielräume des Gouverneurs begrenzt waren. Nach wie vor ohne eigene Machtmittel, beschränkte sich Soden auf das nähere Umfeld seines Amtssitzes und begann, den äußeren Rahmen sowie den Charakter seiner ›Administration‹ erst einmal durch Normensetzung abzustecken. An heimischen Maßstäben gemessen, bewegte er sich dabei durchaus in einem rechtsfreien Raum, erließ er doch im ersten Jahr seines Kamerun-Aufenthalts zehn Verordnungen, ohne dafür überhaupt bevollmächtigt zu sein.75 Zwar konnten die im selben Zeitraum ebenfalls von ihm herausgegebenen ›Bekanntmachungen‹ noch mit Hilfe des Konsulatsgerichtsbarkeitsgesetzes vom 10. Juli 1879 einigermaßen legitimiert werden.76 Von einem Verordnungsrecht war jedoch längst nicht die Rede. Trotzdem wurde Sodens Handeln durch den Reichskanzler sanktioniert, erklärte dieser doch gegenüber dem Reichs72 73
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Erbar, Platz, S. 15. ANY FA 1/1, Bl. 217–219, Soden (Kamerun) an Bismarck vom 20.7.1886, Bericht. Den Anlass für das Schreiben lieferte ein privatdienstlicher Brief, den Puttkamer nach seinem Besuch in Togo an Soden gerichtet hatte. Darin schilderte er Falkenthals eigenmächtiges Vorgehen und dessen hochfliegende Pläne, so dass ihm »ganz schwindlich« geworden sei. Ebd., Bl. 220f., Puttkamer an Soden vom 25.6.1886, Schreiben. Ebd., Bl. 217–219, Soden (Kamerun) an Bismarck vom 20.7.1886, Bericht. Abschriften der Verordnungen befinden sich in: BA-B R 1001/4238. Lediglich ein kleiner Teil wurde publiziert: DKG 1, S. 234f., 239f., 248f.; DKG 6, S. 23. Im Wesentlichen handelte es sich um Regelungen über Zollabgaben und Lizenzgebühren, die Geschäftspraktiken der Händler, die Einsetzung eines Verwaltungsrats und eines Schiedsgerichts sowie über den Schiffsverkehr. Zu den ›Bekanntmachungen‹ siehe: BA-B R 1001/4238. Die Instruktion Bismarcks hatte ausdrücklich festgestellt, dass die ›Schutzgebiete‹ als Ausland gelten würden und explizit auf die Bestimmungen der Konsularischen Gerichtsbarkeit Bezug genommen. BA-B R 1001/4738, Bl. 21f., Bismarck an Soden (Kamerun) und Falkenthal (Togo) vom 27.5.1885, Instruktion; vgl. das Schutzgebietsgesetz vom 17.4.1886, in: RGBl. 1886, S. 75f. Formaljuristisch wurde die Konsulargerichtsbarkeit erst zum 1.1.1888 in Südwestafrika und zum 1.10.1888 in Kamerun und Togo in Kraft gesetzt. DKG 1, S. 181–185, 282f.; siehe auch: Schaper, Verhandlungen, S. 44.
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tag, die in Kamerun erlassenen Verordnungen seien lediglich »provisorisch in Kraft getreten« und lägen zur endgültigen Prüfung dem Auswärtigen Amt vor.77 Dabei hatte Soden keineswegs aus Selbstherrlichkeit gehandelt. Vielmehr zielte bereits die erste von ihm erlassene Regelung auf das glatte Gegenteil ab, sah diese doch die Bildung eines Verwaltungsrats vor, in welchen drei Vertreter der Kaufmannschaft berufen wurden, die den Gouverneur bei seiner Amtstätigkeit beraten sollten.78 Wenig später ordnete Soden auch für Togo die Einführung eines solchen Aufsichtsorgans an.79 Allzu viel Freude mit dieser Form kollegialer Entscheidungsfindung scheint der Gouverneur aber nicht gehabt zu haben, waren die vorrangig profitorientierten Händler für ihn doch häufig Anlass zu Konflikten. Über den Zusammenschluss der Hamburger Kaufleute schrieb er schließlich privatim an Kusserow: »Ich wollte der Teufel holt im nächsten Jahre das Syndikat«.80 Dementsprechend geriet auch die Einrichtung des Verwaltungsrats wieder außer Übung, wenngleich sie Jahre später in modifizierter Gestalt zuerst in Samoa und anschließend auf Weisung der Berliner Zentralbehörde in sämtlichen ›Schutzgebieten‹ wiedereingeführt werden sollte.81 Der Vorrang des Gouverneurs gegenüber den Kommissaren lässt sich nicht zuletzt daran ermessen, dass weder Heinrich Goering in Südwestafrika noch Falkenthal in Togo vergleichbare Aktivitäten im Hinblick auf die Rechtsetzung an den Tag legten. Während Soden sich bislang vermutlich infolge einer mündlichen Absprache mit Bismarck über dessen Rückendeckung sicher sein konnte, hielt der Reichskanzler erst im Sommer 1886 den Zeitpunkt für gekommen, alle drei Amtsträger in den westafrikanischen Kolonien offiziell mit dem Recht zum Erlass von Verordnungen für die allgemeine Verwaltung sowie für das Zoll- und Steuerwesen auszustatten.82 Gegenüber dem Kaiser begründete der Regierungschef diesen Schritt mit der »Schwierigkeit des Verkehrs zwischen dem Reich und den Schutzgebieten«. Dabei sollte auf eine »Umgrenzung des Verordnungsrechts im Einzelnen« verzichtet werden, da dessen »Gegenstände […] von sehr verschiedener Art« und daher am besten durch den »obersten Beamten« vor Ort festzulegen seien. Zum Zwecke der Kontrolle sollten die Verordnungen nach ihrer Verkündung aber dem Reichskanzler vorgelegt werden, der sie notfalls wieder aufheben konnte.83 Die Ausübung des vielzitierten gouvernementalen Verordnungsrechts blieb jedoch von Anfang an nicht ohne Unzuträglichkeiten. Besonders die beiden Kommissare muss77 78
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Bismarck vom 22.11.1885, Denkschrift, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Anlagen, Bd. 4 (1886), S. 89; Grohmann, Verfassung, S. 19. BA-B R 1001/4238, Soden (Kamerun) vom 10.7.1885, VO betr. Einsetzung eines Verwaltungsrates; ebd., Bl. 4–12, Puttkamer (Kamerun) an AA vom 5.8.1885, Bericht; vgl. Seitz, Aufstieg 2, S. 25f.; Erbar, Platz, S. 22–24; Ow, Soden, S. 255. Bismarck vom 2.12.1885, Denkschrift, in: Verhandlungen RT, Bd. 89, S. 135; BA-B R 1001/4256, Bl. 10f., Falkenthal vom 16.1.1886, VO betr. Einführung eines Verwaltungsrats; Erbar, Platz, S. 23. BA-B N 2160/8, Soden (Kamerun) an Kusserow vom 11.10.1886, Schreiben. Siehe hierzu Kapitel 4.4.2 und 4.5.1. Kurz vor Bismarcks Initiative war das erste Schutzgebietsgesetz erlassen worden: Wilhelm I./ Bismarck vom 17.4.1886, Gesetz betr. die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete, abgedruckt in: RGBl. 1886, S. 75f. BA-B R 1001/4237, Bl. 10f., Bismarck (Kissingen) an Wilhelm I. vom 12.7.1886, Immediatbericht; Wilhelm I./Bismarck vom 19.7.1886, VO betr. Erlass von Verordnungen für die westafrikanischen Schutzgebiete, abgedruckt in: DKG 1, S. 177f.
4. Herrschaftspraktiken
ten sich ungeachtet ihrer theoretischen Befugnisse Einschränkungen gefallen lassen. Beispielsweise erreichte Goering bald eine Anweisung aus Berlin, wonach er künftig »Verordnungen von prinzipieller Wichtigkeit […], sofern nicht eine besondere Dringlichkeit vorhanden ist, nur nach eingeholter Genehmigung […] publizieren« dürfe.84 Auch das Togoer Kommissariat sah sich in seinen Kompetenzen eingegrenzt, nachdem Soden über die dortigen »etwas verfahrenen Verhältnisse« nach Berlin berichtet hatte.85 Den Abgang Falkenthals im Frühjahr 1887 wegen »ernster Nervenkrankheit« benutzten Gouverneur und Reichskanzler daher für eine Klärung der Rangverhältnisse.86 Falkenthals Nachfolger Zimmerer erhielt eine Instruktion mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass er dem Kameruner Gouverneur untergeordnet sei und daher alle Berichte zuerst an Soden zu senden habe.87 Ein weiterer Baustein, den Kommissar enger an das Oberkommissariat zu binden, fand in einem Erlass Bismarcks aus dem Frühjahr 1889 seinen Ausdruck. Danach durfte Soden »polizeiliche und sonstige die Verwaltung betreffende Vorschriften« nicht nur für Kamerun, sondern auch für Togo erlassen. Gleichzeitig musste Zimmerer die von ihm selbst herausgegebenen Verordnungen dem Gouverneur unverzüglich vorlegen, der diese wiederum – analog zu den Befugnissen des Reichskanzlers – jederzeit abändern oder aufheben konnte.88 Auch in personeller Hinsicht mangelte es nicht an Versuchen, den strukturellen Defiziten der frühen kolonialen Verwaltung entgegenzuwirken. So war die Bestellung Zimmerers zum Kommissar keineswegs zufällig erfolgt, sondern vielmehr von Soden selbst initiiert worden. Bereits durch die von ihm ausdrücklich begrüßte Abberufung des auf seine Eigenständigkeit bedachten Falkenthal hatte sich für ihn die Gelegenheit ergeben, sich gleichzeitig seines eigenen Kanzlers und Stellvertreters zu entledigen. Puttkamers »Entfernung aus Kamerun« sei notwendig, schrieb Soden im Sommer 1887 an Bismarck, da dessen »höchst prekäre Vermögensverhältnisse, insbesondere seine Schuldverbindlichkeiten gegenüber der hiesigen Firma C. Woermann[,] […] ihn zur Stellvertretung des Gouverneurs nichts weniger als geeignet erscheinen lassen.«89 Als Ersatz erbat sich Soden den damals gerade neu in den Kolonialdienst eingetretenen Zimmerer, der sich in der Folgezeit »sowohl in längerer Vertretung des Gouverneurs wie in Wahrnehmung der Kanzlergeschäfte wohl bewährt« haben soll.90 Nach dem Willen des Gouverneurs durfte Puttkamer angesichts der mit ihm »gemachten Erfahrungen« lediglich »interimistisch u. probeweise« die Geschäfte auf Falkenthals vakantem Posten übernehmen, ehe die Stelle an Zimmerer ging.91 Anschließend wurde der immerhin von Bismarck protegierte Puttkamer vorübergehend als
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BA-B R 1001/4237, Bl. 25, Reichskanzler (i.V. Derenthall) an Goering vom 6.9.1887, Erlass. ANY FA 1/2, Bl. 69f., Soden (Vorra) an Bismarck vom 16.7.1887, Bericht. Ebd., Bl. 71f., AA (Berchem) an Soden vom 30.7.1887, Erlass. PA-AA P1/17195, AA an Zimmerer vom 8.8.1888, Instruktion. Bismarck vom 29.3.1889, Erlass betr. Übertragung konsularischer Befugnisse sowie des Rechts zum Erlasse polizeilicher und sonstiger die Verwaltung betreffender Strafvorschriften auf Beamte der Schutzgebiete von Kamerun und Togo, in: DKG 1, S. 180f. ANY FA 1/2, Bl. 69f., Soden (Vorra) an Bismarck vom 16.7.1887, Bericht. PA-AA P1/17195, Marschall an Wilhelm II. vom 14.4.1891, Immediatbericht. ANY FA 1/2, Bl. 69f., Soden (Vorra) an Bismarck vom 16.7.1887, Bericht.
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Wahlkonsul nach Lagos abgeschoben. Erst im November 1889 kehrte er vertretungsweise nach Togo zurück, als sich wiederum Zimmerer anschickte, Soden in Kamerun zu beerben. Soden war inzwischen dazu auserkoren worden, das Gouverneursamt nach DeutschOstafrika auszuweiten, nachdem diese Kolonie mit Wirkung vom 1. Januar 1891 in die Reichsverwaltung überführt worden war.92 Von einer erneuten Zuteilung Puttkamers wollte er jedoch auch dort nichts wissen. Auf einen entsprechenden Vorschlag des neuen Reichskanzlers Caprivi antwortete Soden in seiner ironisch-deftigen Art:93 »Bei dem heutigen Kurs der Kolonialpolitik scheint mir der Vorschlag, Jesco v. Puttkamer als meinen Stellvertreter herauszuschicken, der allerbeste; er hat noch viel mehr Talente als ich und, was die Hauptsache ist, gar keinen Charakter. […] Er wird jede Allerhöchste Schnurre als genial preisen und Ihnen nur diejenigen Berichte servieren, die im Auswärtigen Amt gewünscht werden.« Nur dank der hervorragenden Konnexionen Puttkamers blieben solche Beurteilungen ohne schwerwiegendere Folgen für ihn. Im Gegenteil: Zwar kam er nicht als stellvertretender Gouverneur nach Ostafrika, doch erfolgte im Dezember 1891 seine Ernennung zum neuen Kommissar für Togo. Nahezu gleichzeitig gelang es ihm, aus der Oberaufsicht des Kameruner Gouverneurs entlassen zu werden.94 Selbst diese Schritte sollten nicht die letzten Erfolge in Puttkamers Karriere bleiben.95 Vorläufig blieb aber Soden der erfahrenste unter den höheren Beamten des jungen Kolonialreiches. Sein Wort besaß in Berlin Gewicht, wobei sich das Vertrauen der Reichsregierung nicht zuletzt auf seine kostensparende Verwaltungsführung gründete. Dabei vertrat er die originelle Devise, »je mehr Gold desto mehr Blech wird in der Regel gemacht.«96 Auch die nicht immer regelkonforme »Herrlichkeit Sodenscher Kraftausdrücke und Witze«, durch die sich seine Berichte auszeichneten, konnte nichts daran ändern, dass seine Expertise von Bismarck ebenso anerkannt wurde wie von dessen Nachfolger Caprivi.97 Als Soden im Herbst 1889 an Schwarzwasserfieber erkrankte und darum bat, entweder pensioniert oder mit »irgendeinem nichtssagenden Konsulat« außerhalb Afrikas betraut zu werden, lautete die lapidare Antwort aus Berlin, er könne in den Ko-
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Tetzlaff, Entwicklung, S. 36; Bückendorf, Kolonialpläne, S. 438–442. Soden (Daressalam) an Caprivi vom 26.8.1891, Bericht, zitiert nach: Ow, Soden, S. 267. Puttkamer wurde zum 16.12.1891 zum Kommissar für Togo ernannt, nachdem er zuvor zeitweise als kommissarischer ›Hülfsarbeiter‹ im Auswärtigen Amt beschäftigt war. Dort war zur selben Zeit der Sohn eines engen Freundes von Puttkamers Vater, Ferdinand Freiherr v. Nordenflycht, als Wirklicher Legationsrat und Vortragender Rat tätig. BA-B N 2139/14, Nordenflycht (Charlottenburg) an Kayser vom 26.5.1892, Schreiben; BA-B N 2146/50, Puttkamer (Buea) an König vom 9.12.1897, Schreiben. Zur Beendigung des Oberkommissariats: Erbar, Platz, S. 13, 15. Das galt allerdings nicht für das Kameruner Obergericht, das weiterhin für Togo zuständig blieb. Siehe Kapitel 4.3.2. BA-B N 2160/8, Soden (Vorra) an Kusserow vom 19.4.1890, Schreiben. BA-B N 2139/14, Nordenflycht (Berlin) an Kayser vom 26.5.1892, Schreiben (Zitat); vgl. BA-MA N 227/11, Bl. 26, Morgen, Lebenserinnerungen.
4. Herrschaftspraktiken
lonien keinesfalls entbehrt werden und solle einen längeren Kuraufenthalt antreten, um möglichst bald wieder »afrikareif« zu werden.98 Längst verfolgte man in der im Sommer 1890 innerhalb des Auswärtigen Amtes eingerichteten Kolonialabteilung unter dem Dirigenten Paul Kayser, den Plan, Soden den künftigen Gouverneursposten in Deutsch-Ostafrika zu übertragen.99 Dort hatte Wißmann unter dem Titel eines ›Reichskommissars‹ bereits im Frühjahr 1889 eine Söldnertruppe aus europäischem Rahmenpersonal und afrikanischen Soldaten aufgestellt und in der Folge den Küstenstreifen gewaltsam unter seine Kontrolle gebracht. Teile der dortigen Bevölkerung hatten sich zuvor gegen die Ausbeutungspraktiken der Deutschostafrikanischen Gesellschaft (DOAG) zur Wehr gesetzt, doch wurde dieser sogenannte ›Araber-Aufstand‹ mittels waffentechnischer Überlegenheit und rücksichtslosem Vorgehen rasch niedergeschlagen.100 Als sich die Übernahme der Kolonie durch das Deutsche Reich abzeichnete, glaubte Wißmann, seinen militärischen Erfolg in einen persönlichen Anspruch auf das Gouverneursamt ummünzen zu können. Die zuvor erfolgte Entlassung Bismarcks, der bis dahin sein wichtigster Förderer gewesen war, aber auch seine unverhohlene Kritik am soeben geschlossenen Helgoland-Sansibar Vertrag minderten seine Chancen jedoch erheblich.101 Dazu kamen Unregelmäßigkeiten im Finanzgebaren der Truppenverwaltung sowie Gerüchte über Wißmanns Lebensführung, wobei der Fokus auf Alkoholexzessen und Morphiumsucht lag.102 Selbst Wißmanns Kernkompetenzen waren nicht unumstritten. Längst ging die Rede von einem »modernen Landsknechtswesen«, durch das sich seine Truppe auszeichne, wobei er selbst als eine Art Militärdiktator auftrete, der
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BA-K N 1067/21, Soden an Kayser, o.D. [Herbst 1889], Bericht; ebd., AA an Soden, o.D. [Herbst 1889]; vgl. BA-MA N 227/22, Liebert (Berlin) an Morgen vom 26.5.1890, Schreiben. 99 Zu Sodens Ernennung: Kiderlen-Wächter an Holstein vom 7.7.1890, Schreiben, abgedruckt in: Holstein, Papiere 3, S. 308. Kiderlen-Wächter suchte damals den jungen Kaiser Wilhelm II. für die Wahl Sodens zu gewinnen. Einen Monat später war dessen Entsendung beschlossene Sache: BA-K N 1067/21, Soden an Holstein vom 7.8.1890, Schreiben; vgl. BA-MA N 227/22, Liebert (Berlin) an Morgen vom 16.10.1890, Schreiben; Reuss, Disgrace, S. 114f. Zur Einrichtung der Kolonialabteilung: Hausen, Kolonialherrschaft, S. 24f.; Bückendorf, Kolonialpläne, S. 443; Sippel, Kolonialabteilung, S. 29; Kilian, Kolonialzentralverwaltung. 100 Zu ›Wißmanntruppe‹ und ›Araber-Aufstand‹: Bückendorf, Kolonialpläne, S. 383–409; Morlang, Weg, S. 38–41; Bührer, Schutztruppe, S. 57–86; Bührer, Forschungsreisender, S. 50–56. Zur DOAG: Bückendorf, Kolonialpläne, S. 210–236. 101 Hierzu etwa: Liebert, Leben, S. 136; vgl. BA-MA N 227/22, Liebert (Berlin) an Morgen vom 16.10.1890, Schreiben; Bückendorf, Kolonialpläne, S. 428–436. Mit seiner Kritik war Wißmann freilich nicht allein: Laak, Infrastruktur, S. 112. 102 Bückendorf, Kolonialpläne, S. 445; BA-K N 1067/21, Kleines Journal vom 19.1.1891; BA-B N 2345/6, Bl. 1f., Blümcke (Sansibar) an Zimmermann vom 28.11.1891, Schreiben; BA-B N 2345/15, Bl. 33, Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 5.5.1896, Schreiben. Die Kolonialabteilung scheint den zu Beginn 1891 nach Ostafrika entsandten Victor Eschke eigens zur inoffiziellen Berichterstattung über den Alkoholkonsum in der Wißmann-Truppe aufgefordert zu haben: BA-B N 2146/22, Eschke (Bagamoyo) an König vom 1.4.1891, Schreiben. Selbst wohlgesonnene Weggefährten räumten Wißmanns Morphiumsucht ein: Perbandt u.a., Wißmann, S. 376f.; Estorff (Outjo) an seine Eltern vom 1.1.1899, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 205; ders., Wanderungen, S. 73; vgl. Bührer, Forschungsreisender, S. 56.
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in Ostafrika ein regelrechtes »Säbelregiment« errichtet habe.103 Der kommandierende Admiral des vor der Küste kreuzenden Blockadegeschwaders sandte schließlich ein vernichtendes Urteil nach Berlin:104 »Ich hatte in dem Reichskommissar einen hochgebildeten Mann von hervorragenden Fähigkeiten zu finden erwartet, und finde stattdessen einen recht mäßig begabten Menschen, der weder als Offizier noch als Organisator noch administrativ hervorragt, nur sich selbst anerkennt, alles hängen will und jeden Anderen für einen schlappen Ignoranten ansieht, gewöhnlich mit ›ich‹, ›mir‹ etc. seine Reden spickt, dass es einem schließlich auf [den] Nerven kratzt als ob eine Säge geschliffen wird. Dabei ist er taktlos, nicht im Stande seine Instruktionen zu verstehen, und vom Größenwahn völlig verblendet. […] Ich muss zu meinem Bedauern meine Ansicht dahin äußern, dass ich ihn nicht seiner Stellung und des sehr großen in ihn gesetzten Vertrauens gewachsen erachte.« Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte auch Soden auf einer noch vor seiner Ernennung unternommenen Ostafrikareise. Er hielt Wißmann nicht einmal für den Posten des Kommandeurs der künftigen Schutztruppe geeignet. Auch unter dessen Offizieren sei eine »im gehörigen Alter und zugleich vorurteilslos über den Parteien stehende Persönlichkeit […] nicht vorhanden« gewesen.105 Wißmann strebte aber ohnehin nach dem Gouverneursposten und schrieb kurzerhand unter Bezugnahme auf Soden nach Berlin, dass »eine Verwendung meiner Dienste unter seinem Kommando durchaus nicht opportun erscheint.« Offen lehnte er die Leitung der Schutztruppe ab, da diese zwangsläufig »zu einem militärischen Verwaltungsposten und damit eines höheren Polizeichefs ohne jede größere Verantwortung herabsinken« müsse. Auf eine derart »von dem zukünftigen Gouverneur abhängige« Position glaubte er vielmehr verzichten zu können.106 Dar-
103 Kayser an Baron vom 6.7.1890, Schreiben, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 543 (Zitat 1); BA-B N 2345/6, Bl. 1f., Blümcke (Sansibar) an Zimmermann vom 28.11.1891, Schreiben (Zitat 2), wo von den »unglaublichsten Sachen« die Rede ist, die unter Wißmann »passiert« seien. Ein positiveres Bild zeichnet der Kolonialbeamte Eschke: BA-B N 2146/22, Eschke (Bagamoyo) an König vom 1.4.1891, Schreiben; vgl. Bückendorf, Kolonialpläne, S. 445. 104 BA-B R 1001/749, Bl. 3–13, Deinhard (an Bord ›Leipzig‹) an Obkdo. d. Marine vom 13.5.1889, Bericht. Vermutlich wurden auf diesem Wege auch dem Kaiser die Augen über Wißmann geöffnet. Auch Bismarck hatte den Bericht gelesen, worauf er den Reichskommissar zurechtwies, er habe »als Soldat das richtige militärische Gefühl dem älteren Offizier gegenüber« zu entwickeln und in erster Linie die Interessen des Reiches zu beachten. BA-B R 1001/738, Bl. 62–66, Bismarck (Varzin) an Wißmann vom 22.6.1889, Erlass; vgl. Bührer, Forschungsreisender, S. 55f. Es kam aber keineswegs zum Bruch, vielmehr suchte Wißmann den inzwischen entlassenen Bismarck nach seiner Rückkehr nochmals privat auf. Waldersee, Denkwürdigkeiten 2, S. 156 (28.10.1890). In dieselbe Richtung deuten die späteren, positiven Äußerungen Bismarcks über Wißmann in: BA-K N 1067/21, Hamburger Korrespondent vom 11.1.1891. 105 BA-B R 1001/763, Bl. 94f., Soden an Caprivi vom 1.12.1890, Bericht. 106 BA-K N 1067/21, Wißmann an Caprivi vom 3.1.1891, Bericht (Zitate); Reuss, Disgrace, S. 115; anders: Bührer, Schutztruppe, S. 84, die davon ausgeht, Wißmann habe sich um die Stelle des Kommandeurs beworben, sei dann aber abgelehnt worden. Dass dies nicht zutrifft, geht auch aus einem Schreiben Caprivis hervor, in welchem dieser sein »Bedauern« über Wißmanns Ablehnung ausspricht: BA-B R 1001/747, Bl. 187f., Caprivi an Wißmann vom 17.2.1891, Erlass.
4. Herrschaftspraktiken
über hinaus scheute er sich nicht, Soden jegliche militärischen Kompetenzen abzusprechen.107 Folgerichtig wurde Wißmann zum 8. Februar 1891 von den Geschäften als Reichskommissar »in Gnaden entbunden«.108 Als ihn diese Nachricht im Norden der Kolonie erreichte, soll der 47-jährige in Tränen ausgebrochen sein, was insofern bemerkenswert ist, als dies auch Eingang in die afrikanische Überlieferung gefunden hat.109 Ein unbekannter Swahili-Dichter schrieb zu dieser Episode:110 »Bei seiner Rückkehr zur Küste, zur Stadt Daressalama, traf er einen anderen Gouverneur an, es war der bwana kartasi [›der schreibselige Herr‹, d.h. Soden]. Da stutzte er plötzlich: ›Jetzt ist meines Bleibens nicht mehr hier, ich bin zuerst hierhergekommen, und die Gouverneurschaft soll ich nicht bekommen?‹ Da weinte er plötzlich vor Eifersucht. ›Mir sollen nur fünf Schuss als Salut zufallen? Da geh’ ich lieber meiner Wege, auch werde ich mich nicht von ihnen verabschieden, denn der Zorn hat mich zu sehr erfasst;‹ er bestieg ein Schiff und begab sich nach Bombay.« Zweifellos gibt die Quelle Wißmanns ebenso aufbrausendes wie geltungsbewusstes Wesen zutreffend wieder. Allerdings entsprach die Übergabe der Geschäfte aber zumindest äußerlich den Gepflogenheiten, berichtete doch Soden selbst an den Reichskanzler, dass von Seiten Wißmanns »alles geschehen ist, um mir den Antritt meines Amtes in jeder Weise zu erleichtern«.111 Dieser Übergang war im Vorfeld etwas entschärft worden, nachdem Caprivi dem ehemaligen Kommissar angeboten hatte, weiterhin an der »Erschließung eines Teils unserer Interessensphäre« mitzuwirken. Ein Jahresgehalt von 20.000 Mark und die Erteilung eines erneuerten ›Kommissariums‹ erhöhten zweifellos die Attraktivität dieser Offerte.112 107 108 109 110 111 112
Ebd., Bl. 141–162, Wißmann an Caprivi vom 31.12.1890, Bericht; vgl. Bührer, Schutztruppe, S. 161. BA-B R 1001/747, Bl. 187f., Caprivi an Wißmann vom 17.2.1891, Erlass. Perbandt u.a., Wißmann, S. 373f. Zitiert nach: Velten, Suaheli-Gedichte, S. 12. TNA G 1/2, Bl. 9f., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 17.4.1891, Bericht. BA-K R 1001/747, Bl. 187f., Caprivi an Wißmann vom 17.2.1891, Erlass. Soden gegenüber erklärte Wissmann, dass er »im Interesse der Sache u. um seinerseits den Schein zu vermeiden, als lasse er sich von persönlichen Gefühlen und Rücksichten leiten, bereit sei, die ihm […] angebotene Stellung anzunehmen, obwohl er es schwer überwinden könne, sich […] so ohne Weiteres mit den Herren Peters u. Emin in einen Topf geworfen zu sehen, da doch sowohl seine bisherige Stellung als auch seine Vergangenheit in wesentlichen Punkten von der dieser Herren abweiche.« BA-B R 1001/756, Bl. 6, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 15.4.1891, Bericht. Als Kommandeur der Schutztruppe hätte Wißmann jährliche Dienstbezüge in Höhe von 15.000 Mark (zzgl. 10.000 Mark Repräsentationszulage) erhalten. TNA G 1/1, Bl. 76–79, KA vom 28.2.1891, Etat für das ostafrikanische Schutzgebiet (1891/92).
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Neben Wißmann bekleideten auch der Kolonialagitator Carl Peters sowie der Forschungsreisende Emin Pascha (alias Eduard Schnitzer) vergleichbare Posten in Ostafrika.113 Trotzdem die Verwendung dieser drei unterschiedlichen Männer im Ermessen Sodens liegen sollte, sah dieser fortan seine »Hauptschwierigkeit« darin, den »beneidenswerten Überfluss an großen Männern unterzubringen«. Ironisch fügte er hinzu, dass man doch »etwas von dem Überfluss an die übrigen Schutzgebiete abgeben« solle.114 Diese Klage bezog sich zugleich auf die gut zwei Dutzend Offiziere der ehemaligen Wißmann-Truppe, die in die künftige Schutztruppe überführt werden sollten.115 Anders als in Westafrika, wo Soden meist mit Kaufleuten, untergeordneten Beamten und zeitweise mit den Kapitänen der Kaiserlichen Marine zu tun gehabt hatte, sah er sich an seinem neuen Dienstort diesen selbstbewusst auftretenden Offizieren gegenüber, die zudem mit ihren sudanesischen Söldnern über eigene Machtmittel verfügten. Ihre distanzierte Haltung gegenüber dem Zivilgouverneur resultierte nicht zuletzt daraus, dass diese aus der regulären Armee verabschiedeten Offiziere ihre Stellung in Ostafrika ausschließlich Wißmann verdankten. Ihre Selbstzuschreibung als ›alte Afrikaner‹ wirkte zusätzlich gemeinschaftsstiftend.116 Ein weiteres Novum bedeutete die große Zahl militärischer Stützpunkte in der Kolonie. Während Soden in Kamerun neben dem damals noch gleichnamigen Gouverneurssitz lediglich einen einzigen, nahegelegenen Außenposten (Victoria) zu überwachen gehabt hatte, gab es in Deutsch-Ostafrika zum Zeitpunkt seiner Ankunft eine größere Anzahl von Stationen, die sich teils entlang der Küste, teils im Landesinnern befanden.117 Da auch sie mit Wißmann-Offizieren besetzt waren, mussten diese möglichst rasch einer effektiven Kontrolle unterworfen werden, wollte Soden seine Tätigkeit nicht von vornherein auf die nähere Umgebung seines Amtssitzes beschränkt sehen. Die Befugnisse, mit denen der Gouverneur für seine Aufgaben ausgestattet war, glichen im Wesentlichen denen in Kamerun, wurde Soden doch seitens des Kaisers wiederum mit der »obersten und verantwortlichen Leitung« der Kolonie betraut.118 Ein gravierender Unterschied bestand jedoch in den für einen Zivilbeamten ungewöhnlichen Kompetenzen auf militärischem Gebiet. Zwar oblagen die keineswegs zu unterschätzenden Organisations-, Personal- und Disziplinarangelegenheiten der Schutztruppe fortan 113 114 115 116
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BA-B R 1001/273, Bl. 29, Kayser an Soden vom 14.3.1891, Erlass; Reuss, Disgrace, S. 115; Schneppen, Fall, S. 870; vgl. Peters, Lebenserinnerungen, S. 94–98. Soden (Daressalam) an Kayser, o.D. [Frühjahr 1891], Bericht, zitiert nach: Ow, Soden, S. 260. DKB 2 (1891), S. 274f.; DKB 3 (1892), S. 44–46. Zum Schutztruppengesetz vom 22.3.1891: Bührer, Schutztruppe, S. 87–89. Der Text findet sich abgedruckt in: DKG 1, S. 330–334. Vgl. DKB 3 (1892), S. 44–46. Einige waren zuvor lediglich Offiziere der Reserve oder Feldwebeldienstgrade gewesen. Bührer, Schutztruppe, S. 114. Zum Teil war die Anwerbung von Liebert besorgt worden, der Wißmann von Deutschland aus mit Personal und Material unterstützt hatte. BA-B R 1001/6677, Bl. 23, AA vom 28.4.1890, Notiz; Liebert, Leben, S. 126–128; Waldersee, Denkwürdigkeiten 2, S. 193f.; Langheld, Jahre, S. 1. Bückendorf, Kolonialpläne, S. 407, 445. Zu diesem Zweck wurden die für die westafrikanischen Kolonien geltenden Bestimmungen auf Ostafrika ausgedehnt: Caprivi vom 1.1.1891, Verfügung betr. Ausübung konsularischer Befugnisse und den Erlass polizeilicher und sonstiger die Verwaltung betreffender Vorschriften in DOA, abgedruckt in: DKG 1, S. 326f. BA-B R 1001/747, Bl. 187f., Caprivi an Wißmann vom 17.2.1891, Erlass (Zitat); vgl. Bückendorf, Kolonialpläne, S. 450f.
4. Herrschaftspraktiken
dem Reichsmarineamt, doch waren die Bestimmungen über die konkrete Verwendung der zehn Kompanien umfassenden militärischen Macht eindeutig:119 »[…] sowohl zu militärischen Unternehmungen als auch zu Zwecken der Civilverwaltung untersteht sie [die Schutztruppe] dem Gouverneur von Deutsch-Ostafrika und weiterhin dem Reichskanzler (Auswärtiges Amt, Kolonialabteilung).« Soden war daher befugt, dem an seinem Amtssitz befindlichen Kommando der Schutztruppe und in besonderen Fällen auch einzelnen Truppenteilen Weisungen zu erteilen. Hatte der »Kommandeur in militärischer Beziehung Bedenken«, dann durfte er das zwar dem Gouverneur gegenüber zur Sprache bringen, beharrte Soden aber auf seiner Anordnung, dann waren keine weiteren Einsprüche zulässig.120 Bei ziviler Verwendung unterstanden die Offiziere dem Gouverneur sogar unmittelbar. Dann hatten ihre Berichte »unter fliegendem Siegel durch die Hände des Gouverneurs« zu gehen. Gleiches galt für den Schriftverkehr zwischen dem Truppenkommandeur und dem Reichsmarineamt.121 Zweifellos war man sich seitens der Reichsregierung darüber bewusst, dass nicht wenige Offiziere diesen Befugnissen kritisch gegenüberstanden. Die meisten von ihnen empfanden sich auch in Afrika als Angehörige des ›ersten Standes‹, demgegenüber die zivile Sphäre zurückzutreten habe. Diesem Problem sollten zwei weitere Maßnahmen entgegenwirken: Zum einen wurde Soden für seine Amtszeit in Deutsch-Ostafrika das Prädikat ›Exzellenz‹ beigegeben, was ihn zugleich gegenüber Zimmerer, der diesen Titel nicht erhielt, gewissermaßen als Senior-Gouverneur auswies.122 Diese ansonsten nur Ministern, höchsten Beamten, Generälen oder Admirälen zustehende Ehrung sollte den absoluten Vorrang des Gouverneurs innerhalb der Amtshierarchie vor Ort dokumentieren und somit seine Autorität gegenüber den drei Kommissaren und dem Offizierkorps stärken. Die zweite Maßnahme verfolgte die gleiche Absicht: Mit Allerhöchstem Erlass vom 3. Juni 1891 gestand der Kaiser den Zivilbeamten in Deutsch-Ostafrika zugleich militärische Ränge einschließlich der entsprechenden Uniformen zu. Fortan galten dort Oberrichter und Kommissare als Oberstleutnants, während Kanzler, Bezirksrichter, Zolldirektor und Intendant als Hauptleute rangierten.123 Da auch diese Regelung sich auf Ostafrika beschränkte, ist der Zweck einer Stärkung der dortigen Zivilverwaltung offenkundig, waren damit doch die Mitglieder der ersten Gruppe zumindest pro forma dem Kom119
Wilhelm II./Caprivi vom 9.4.1891, Allerhöchste Ordre betr. die Organisatorischen Bestimmungen für die Kaiserliche Schutztruppe für DOA, abgedruckt in: DKG 1, S. 334–353, hier: 334; Zu Entstehung und Inhalt siehe: Bührer, Schutztruppe, S. 90–93. 120 Wilhelm II./Caprivi vom 9.4.1891, Allerhöchste Ordre betr. die Organisatorischen Bestimmungen für die Kaiserliche Schutztruppe für DOA, abgedruckt in: DKG 1, S. 334–353, hier: 337. 121 Ebd., S. 335, 337. 122 Wilhelm II./Caprivi vom 14.2.1891, Allerhöchster Erlass betr. Führung des Prädikats ›Exzellenz‹ durch den Gouverneur von DOA, abgedruckt in: ebd., S. 325. Die in der Forschungsliteratur oft betonte Befugnis sämtlicher deutschen Kolonialgouverneure zur Führung des Exzellenz-Titels gab es dagegen erst ab Ende 1905. Siehe hierzu Kapitel 4.5.2. 123 Wilhelm II./Caprivi vom 3.6.1891, Allerhöchster Erlass betr. Rangverhältnisse und Uniformen der Kaiserlichen Beamten in DOA, abgedruckt in: ebd., S. 325f. Als Premierleutnants galten die Vorsteher des Gouvernements-Büros, der Hauptkasse und des Hauptzollamts.
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mandeur der Schutztruppe ebenbürtig, während die zweite Gruppe sich auf die gleiche Stufe mit den Kompanieführern gestellt sah. Da Soden zu Beginn nur über einen kleinen Mitarbeiterstab verfügte, war es vorläufig nicht möglich, die Außenstationen mit Zivilbeamten zu besetzen.124 Überhaupt war die Zahl vorhandener Militärs viel zu groß für sein Empfinden, schwebte ihm doch keinesfalls eine Kolonie vor, deren Zweck vor allem darin bestände, dass sich »der Offizier Lorbeeren holen kann«.125 An Caprivi schrieb er stattdessen über seine eigentlichen Absichten:126 »Wenn ich ganz freie Hand hätte, dann würde ich versuchen, allmählich die Kosten so zu reduzieren, dass man mit dem gegenwärtigen Etat vielleicht auskäme und nebenbei noch Produktives leistete. Mit dem jetzigen Apparat ist dies unmöglich, er kostet noch ein Heidengeld.« Kaum in Ostafrika angekommen, suchte Soden diese Gedanken in die Tat umzusetzen. Als erstes modifizierte er die Verwaltung entlang der Küste, indem er die dortigen Stationen Tanga, Bagamoyo, Daressalam, Kilwa und Lindi in zivile Bezirksämter umwandelte.127 Die Chefs der dort stationierten Kompanien der Schutztruppe ernannte er gleichzeitig zu Bezirkshauptleuten.128 Diese hatten künftig die »gesamte Zivilverwaltung des Bezirkes« wahrzunehmen und in dieser Eigenschaft »unmittelbar« an ihn zu berichten. Seine Anweisungen verraten allerdings, dass Soden nicht allzu viel von den Fähigkeiten seiner militärischen Beamten hielt. Vielmehr glaubte er, diese zunächst mit den Grundzügen des Berichtswesens vertraut machen zu müssen, vor allem aber wies er sie an, sich »bei jeder dienstlichen Handlung von irgendwelcher politischen Tragweite vorher meines Einverständnisses [zu] versichern und insbesondere auch alle solche Maßnahmen [zu] vermeiden, durch die ein außerordentlicher Kostenaufwand und somit eine Überschreitung des Etats verursacht werden könnte.« Die gute Erreichbarkeit der Bezirksämter per Schiff erlaubte ihm gleichzeitig die Ankündigung, dass er sich einen »demnächstigen Besuch des Bezirkes und persönliche Rücksprache« vorbehalte.
124 Soden hatte lediglich mit drei Subalternbeamten die Ausreise nach Ostafrika angetreten. Zuvor war dort sein künftiger Kanzler, der Gerichtsassessor Eschke, eingetroffen. DKB 2 (1891), S. 99, 146, 148, 182. Für das Gouvernement waren neben Gouverneur, Oberrichter und Kanzler lediglich ein Intendant, ein Landrentmeister, ein Bürovorsteher und drei Buchhalter vorgesehen. Dazu kamen noch 46 Beamte von Bau- und Zollverwaltung. Außerdem rechnete man mit einer Anzahl nicht verbeamteter Hilfskräfte. TNA G 1/1, Bl. 76–79, KA vom 28.2.1891, Etat für das ostafrikanische Schutzgebiet (Rechnungsjahr 1891/92). Erst gegen Ende von Sodens Amtszeit erreichte der personelle Umfang des Gouvernements 56 Beamte sowie 53 subalterne Hilfskräfte. Jahresbericht 1893/94, S. 21. 125 Soden (Daressalam) an Caprivi, o.D. [Frühjahr 1891], Bericht, zitiert nach: Ow, Soden, S. 260. 126 Ebd. 127 TNA G 1/1, Bl. 108, Soden (Bagamoyo) vom 9.4.1891, Gouvernements-Befehl Nr. 2, auch abgedruckt in: DKB 2 (1891), S. 334. 128 TNA G 1/1, Bl. 109f., Soden vom 12.4.1891, Circular-Erlass Nr. 1. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben.
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Gut zwei Wochen danach folgte ein weiterer Runderlass, in dem der Gouverneur die bisherige Berichterstattung kritisierte, zugleich aber die Bezirksämter aufforderte, ihm einige grundlegende Informationen zu übermitteln:129 »1. Wie weit reicht der Einfluss des Bezirksamts in das Innere und wie wäre etwa der Bezirk nach dem Hinterlande hin abzugrenzen, wenn es sich darum handelte, neue Bezirke anzuschließen. 2. Welches sind die politisch wichtigsten [einheimischen] Persönlichkeiten des Bezirkes und welches war ihr bisheriges Verhalten uns gegenüber. 3. Welches sind die Hilfsquellen des Bezirks und in wie weit sind dieselben bislang entwickelt (Handel, Ackerbau, Viehzucht, Mineralschätze und dergl. mehr).« Einen Tag später übersandte Soden den Bezirkschefs sein Regierungsprogramm und forderte sie zugleich auf, dieses als »Richtschnur für Ihr künftiges Verhalten« anzusehen.130 Aus diesen Ausführungen geht zweifelsfrei hervor, dass für ihn die küstennahen Bezirksämter mit ihrem unmittelbaren Hinterland im Vordergrund standen. Nur dort sei eine »zwar den örtlichen Verhältnissen Rechnung tragende, im Allgemeinen aber nach europäischen Grundsätzen geführte Verwaltung einzurichten.« Der unmittelbare Kontakt mit der Bevölkerung solle indigenen Mittelspersonen vorbehalten bleiben, nämlich den in der Regel von den Bezirkschefs eingesetzten bzw. bestätigten Valis, Akiden und Jumben. Für deren Besoldung waren im ersten Etat der Kolonie insgesamt 30.000 Mark vorgesehen.131 In zweiter Linie zielte Sodens Programm darauf ab, die »nach dem Innern gehenden Karawanenstraßen zu sichern«. Den dort gelegenen Binnenstationen falle ferner die Aufgabe zu, mit den afrikanischen »Stämmen und Häuptlingen friedliche Beziehungen anzuknüpfen«. Dazu sollten diese mit »Geld und guten Worten – vor allem aber mit guten Worten«, notfalls aber auch mit »Waffengewalt in ein derartiges Schutz- und Abhängigkeitsverhältnis« gebracht werden, dass im Landesinnern die »Mühe eines komplizierten Verwaltungsapparates erspart« bleibe. Zugleich sollten der Kolonialverwaltung »soviel Macht und Einfluss« gesichert werden, um den »geradezu barbarischen Zuständen und Grausamkeiten wie Krieg, Menschenraub und dergleichen ein Ende zu bereiten«, aber auch einer »europäischen Gesinnung allmählich die Wege zu bahnen«, den Handel zu fördern sowie die deutschen Interessen gegen andere Mächte abzusichern. Auch wenn Soden die ehemaligen Wißmann-Offiziere insgeheim für das »non plus ultra an Unwissenheit und Beschränktheit« hielt, sah er sich dazu veranlasst, den Bezirkshauptleuten weitreichende Befugnisse auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit über die
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Ebd., Bl. 112, Soden vom 27.4.1891, Circular-Erlass Nr. 9; ähnlich bereits der Erlass Nr. 4 vom 11.4.1891, worin Soden Auskunft über die jeweiligen Karawanenstraßen der Bezirke und deren Bedeutung für den Handel sowie über die bisherigen Sicherungsmaßnahmen verlangt hatte. Dieser findet sich in: BA-B R 1001/776, Bl. 17. 130 TNA G 1/1, Bl. 114, Soden vom 28.4.1891, Circular-Erlass Nr. 15. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben. 131 Ebd., Etat für das ostafrikanische Schutzgebiet 1891/92.
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einheimische Bevölkerung zu übertragen.132 Zwar forderte er, dass bei diesem provisorischen Verfahren die »unter gebildeten Völkern geltenden Rechtsgrundsätze, der gesunde Menschenverstand und die landesüblichen Gewohnheiten und Überlieferungen maßgebend« sein sollten und dass in komplexeren Fällen das »Gutachten des gelehrten [indigenen] Richters seines Bezirks beziehungsweise des Gouvernements« einzuholen sei. Gleichzeitig erlaubte Soden ausdrücklich aber auch die Verhängung von bis zu 25 Stockschlägen sowie die Strafe der sogenannten Kettenhaft.133 In dieser Hinsicht unterschied sich sein Vorgehen auf normativem Gebiet durchaus gegenüber Kamerun, wo es lange Zeit überhaupt keine näheren Anweisungen über das Strafverfahren gegenüber den Einheimischen gegeben zu haben scheint. Dort hatte lediglich sein Kanzler »in Übereinstimmung mit den maßgebenden Häuptlingen« einmal wöchentlich einen Gerichtstag abgehalten und bei dieser Gelegenheit in Zivil- und Strafsachen nach Gutdünken entschieden.134 In Ostafrika waren jedoch selbst die Küstenbezirke zu weitläufig, als dass eine nahtlose Übernahme dieses Verfahrens möglich gewesen wäre. Sodens Hoffnung bestand allerdings darin, die Offiziere in den Bezirksämtern früher oder später durch Zivilbeamte ersetzen und somit eine einheitlichere Rechtspraxis erreichen zu können.135 Zugleich ließ Soden keine Gelegenheit aus, die Spielräume der Militärs zu begrenzen. Nachdem der Kommandeur der Schutztruppe, Emil v. Zelewski, im Kampf gegen die Hehe nicht nur eine Niederlage erlitten, sondern dabei auch sein Leben verloren hatte, zog Soden dessen Befugnisse kurzerhand an sich.136 Dabei konnte er sich gegenüber dem Reichskanzler darauf berufen, dass der missglückte Kriegszug einzig auf Zelewskis Antrag hin unternommen worden sei. Tatsächlich hatte Soden diesen zuvor als überflüssig bezeichnet. Von seinem Einspruchsrecht habe er aber keinen Gebrauch gemacht, da er über zu wenig Informationen über die Lage im Innern verfügt hätte und außerdem die Schutztruppe außerhalb der Küstenbezirke habe beschäftigen wollen.137 Mit Zustimmung des Kaisers übernahm Soden daher seit dem 12. September 1891 auch das Kommando über die Schutztruppe.138 Wenige Wochen später nutzte er diese
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Ow, Soden, S. 263 (Zitat); Soden vom 14.5.1891, VO betr. Gerichtsbarkeit und Polizeibefugnisse der Bezirkshauptleute, auszugsweise abgedruckt in: DKG 6, S. 33f. Soden vom 14.5.1891, VO betr. Gerichtsbarkeit und Polizeibefugnisse der Bezirkshauptleute, auszugsweise abgedruckt in: ebd., S. 33f. Leider sind dort die eigentlichen Strafbestimmungen nicht abgedruckt. Die originale Verordnung konnte nicht ausfindig gemacht werden. Ein Teil der Bestimmungen lässt sich aber durch die Änderungs-VO vom 29.6.1893 rekonstruieren. Diese findet sich in: BA-B R 1001/779, Bl. 52. BA-B R 1001/4238, Bl. 4–12, Gouv. von Kamerun (i.V. Puttkamer) an AA vom 5.8.1885, Bericht; ebd., Bl. 33, Soden vom 6.10.1885, Bekanntmachung. Darin heißt es explizit, dass »alle Strafsachen […] nur unmittelbar von dem Regierungsrichter entschieden werden« durften. Schaper, Verhandlungen, S. 48f. BA-B N 2139/62, Kayser an Caprivi vom 15.8.1892, Bericht über Informationsreise nach DOA. Zur Zelewski-Expedition: Morlang, Wahehe, S. 82f.; Bührer, Schutztruppe, S. 242–245. BA-B R 1001/279, Bl. 7f., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 15.6.1891, Bericht (vertraulich); ebd., Bl. 12–15, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 8.7.1891, Bericht. Ebd., Bl. 28, Soden an Caprivi vom 11.9.1891, Telegramm; ebd., Bl. 29/31, Caprivi an Wilhelm II. vom 12.9.1891, Immediatbericht; ebd., Bl. 32, KA an Soden vom 12.9.1891, Telegramm.
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Position, um kurzerhand einen Teil der Kompanien aufzulösen und aus den freiwerdenden Soldaten eine Polizeitruppe aufzustellen. Während die Schutztruppe künftig ausschließlich im Landesinnern operieren sollte, beließ Soden den Bezirksämtern ausschließlich Polizeikräfte, so dass sich die Bezirkshauptleute unvermittelt auf ihre zivilen Funktionen beschränkt sahen.139 Angesichts derart weitreichender Eingriffe in die bisherigen Machtstrukturen drohten Widerspruch und Insubordination, die sich wiederum nur durch eine effektive Kontrolle ausschalten ließen. Das gelang vergleichsweise reibungslos in den Bezirksämtern an der Küste. Anders als die auf Sodens angeblichen Bürokratismus abzielende Spottbezeichnung bwana kartasi – schreibseliger Herr – glauben machen will, unternahm der Gouverneur allein im ersten Jahr seiner Amtszeit mindestens sechs Inspektionsreisen, von denen fünf die Bezirksorte an der Küste zum Ziel hatten.140 Zusätzlich sekundierte ihm die Kaiserliche Marine, wobei ihm möglicherweise seine Kontakte aus Kamerun, mit Sicherheit aber die seines Stellvertreters, des Korvettenkapitäns Hugo Rüdiger, zugutekamen. Beispielsweise führte der Kommandierende Admiral des ostafrikanischen Flottengeschwaders eine Besichtigungsreise zu allen Bezirksämtern durch, bei der er sich alles »zeigen und vorführen« ließ, was »für die Beurteilung der Verhältnisse interessant und wünschenswert war«.141 Das im Landesinnern häufige Gefühl des Unbeobachtetseins war in den Küstenbezirken daher kaum vorhanden. Soden selbst visitierte besonders häufig Tanga, den nördlichsten Küstenort der Kolonie.142 Das war kein Zufall, registrierte er doch Auffälligkeiten in den Berichten des dortigen Bezirkshauptmanns Eugen Krenzler. Bereits im Frühjahr 1892 ging der Gouverneur »wiederholten Klagen sowohl seitens der europäischen wie auch der einheimischen Bevölkerung« nach, wobei er Krenzler zwar als »äußerst pflichteifrigen«, zugleich aber als »höchst nervösen, herrschsüchtigen und zugleich beschränkten Mensch[en]« charakterisierte. Dieser habe durch eine »wohlgemeinte aber kleinliche« Anweisung die Ethnie der Wadigo beunruhigt, sollten diese doch ihre Hütten und Palmbäume zählen. Die Folge sei passiver Widerstand gewesen. Die Reaktion des Bezirkshauptmanns habe dann in einer »in so ungeschickter, ja geradezu ›dämlicher‹ Weise« durchgeführten Machtdemonstration bestanden, wodurch die Situation eskaliert sei. Zwar sei ein blutiger Zusammenstoß durch Einlenken der Wadigo verhindert worden, doch habe nur der plötzliche Tod Krenzlers weitere Untersuchungen gegen ihn verhindert.143 Das Beispiel Tanga
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Soden vom 21.11.1891, Gouvernementsbefehl, abgedruckt in: DKG 1, S. 353f.; vgl. Soden vom 1.2.1892, Gouvernementsbefehl, abgedruckt in: ebd., S. 354–358; Bührer, Schutztruppe, S. 165. 140 Die Bezeichnung dürfte aus dem Kreis der Wißmann-Truppe stammen. Sie wurde nicht nur in etlichen zeitgenössischen Selbstzeugnissen kolportiert, sondern häufig auch von der Forschung unhinterfragt übernommen. So z.B. Koponen, Development, S. 99f.; Pesek, Herrschaft, S. 272. Eine der wenigen Ausnahmen: Bührer, Schutztruppe, S. 169f. Zu Sodens Inspektionsreisen: Soden, Reise, S. 162–164 (praktisch identischer Originalbericht in: BA-B R 1001/237a, Bl. 3–9); Götzen, Reisebriefe, S. 412; BA-B R 1001/280, Bl. 72–74, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 10.3.1892, Bericht; Pawelsz, Bericht, S. 357; DKB 2 (1892), S. 370. 141 Pawelsz, Bericht, S. 356f. 142 Soden war dort im Juni 1891, im Februar/März 1892 und im Mai 1892. 143 BA-B R 1001/280, Bl. 72–74, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 10.3.1892, Bericht. Den Vorfall erwähnt auch: Bührer, Schutztruppe, S. 166f.
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zeigt wiederum, dass der Gouverneur in den für ihn leicht erreichbaren Küstenbezirken durchaus im Stande war, ein Minimum an effektiver Kontrolle über ›seine‹ Verwaltungsorgane zu realisieren. Weitaus begrenzter waren die Möglichkeiten des Gouverneurs im Innern der Kolonie. Wie Sodens Instruktionen an den Stationsleiter von Tabora belegen, konnte er diesem lediglich »allgemeine Verhaltensmaßregeln« mitgeben.144 Darin ordnete er an, dass die Leitlinie im Umgang mit den indigenen Gesellschaften eine »diplomatisch-vermittelnde«, aber keine »militärisch-diktatorische« zu sein habe. Seine vorrangig utilitaristisch motivierten Intentionen brachte er nicht zuletzt in der Anordnung zum Ausdruck, »niemals mehr zu verlangen, als nach Maßgabe der verfügbaren Kräfte nötigenfalls auch wirklich erzwungen werden kann«. Schließlich müsse aus der Not eine Tugend gemacht werden, indem man die eigene »Schwäche durch persönliche Langmut« kompensiere. Zudem sei eine »Schonung berechtigter Eigentümlichkeiten« der Einheimischen zu gewährleisten. Erst nach einer Verstärkung der eigenen Machtmittel könne zu einer »etwas aktiveren Politik« übergegangen werden. Dann allerdings schloss auch Soden eine »Stunde der Abrechnung« ebenso wenig aus wie eine »Anwendung radikaler Mittel« gegen das »dortige Arabertum und seine widerspenstigen Elemente«. Die Analogien zur »sporadischen Macht« als einer bloßen Vorstufe von Herrschaft sind unübersehbar.145 Tatsächlich zielte Soden darauf ab, zunächst eine »dominierende Stellung in Tabora« zu erreichen. Erst dann sei daran zu denken, den »Frieden unter den umwohnenden Häuptlingen aufrecht zu erhalten, oder doch jeden Friedensbruch mit Erfolg [zu] bestrafen«. Als ein Jahr später der Stationsleiter in Tabora ausgetauscht wurde, erneuerte Soden diese Anweisungen, indem er wiederum »Frieden an Ort und Stelle und die Sicherheit der Karawanenstraße« als vordringlichste Aufgaben bezeichnete.146 Dagegen sei jede »Einmischung in Dinge und Verhältnisse, die diesen Zwecken nicht dienen, […] nach wie vor zu vermeiden«. Dazu zählten für den Gouverneur auch Konflikte der indigenen Machthaber untereinander, sofern der Handelsverkehr von und nach der Küste nicht beeinträchtigt würde. Generell sah er wiederum friedliche und diplomatische Mittel als vorrangig an. Im Hinblick auf den Einsatz von Gewalt ordnete er erneut als Richtschnur an, »sich möglichst auf nichts einlassen, wozu die vorhandenen Machtmittel nicht auch unbedingt ausreichen«. Über eine Möglichkeit, die tatsächliche Umsetzung seiner Anordnungen zu kontrollieren, verfügte Soden bezeichnenderweise nicht. Stattdessen war er für die Beurteilung der Situation auf der etwa 900 Kilometer von Daressalam entfernten Station fast ausschließlich von den schriftlichen Äußerungen des dortigen Leiters abhängig. Selbst für den Fall, dass deren Inhalte einigermaßen den Tatsachen entsprachen, erreichten diese Berichte erst nach mehreren Wochen ihren Adressaten. Dementsprechend musste der Gouverneur seine Instruktion vom 24. Dezember 1892 mit dem Bekenntnis einleiten,
144 BA-B R 1001/274, Bl. 160–163, Soden an Schwesinger vom 6.12.1891, Allgemeine Verhaltensmaßregeln. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben. 145 Popitz, Phänomene, S. 236f. (Zitat). 146 Soden, Instruktion, S. 56–58. Das Papier datiert auf den 24.12.1892. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben. Schwesinger wurde nunmehr durch Sigl ersetzt, der schon einmal die Station geleitet hatte.
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dass ihm derzeit keine zuverlässigen Nachrichten über die »politische Lage« in Tabora vorlägen. Der begrenzte Einfluss des Gouvernements auf die Aktivitäten von Offizieren und Beamten im Landesinnern lässt sich auch anhand der Kommissare skizzieren, die Soden nicht zuletzt wegen ihrer schwierigen Kontrollierbarkeit als »notwendiges Übel« bezeichnete.147 Sein geringstes Problem stellte zweifellos Emin Pascha dar, der sich auf eine Forschungsreise außerhalb der deutschen Interessensphäre begeben hatte und dabei schließlich den Tod fand.148 Nach wie vor problematisch war der Umgang mit Wißmann. Nach der Niederlage Zelewskis hatte dieser angeboten, eine Strafexpedition gegen die Hehe anzuführen. Unbescheiden schrieb Wißmann an Caprivi, dass »ohne Zweifel hier Niemand über die Verhältnisse im Innern besser instruiert sein konnte als ich«. Zudem sei er rangmäßig der »älteste Offizier« am Ort. Soden habe ihn jedoch zurückgewiesen und Dritten gegenüber geäußert, er sei ein »unbrauchbarer Mensch, könne noch nicht einmal einen ordentlichen Bericht abfassen.«149 Auf diese Abfuhr reagierte Wißmann mit einem kalkulierten Rücktrittsgesuch, worin er dem Gouverneur eine »kränkende Behandlung und Zurücksetzung« vorwarf, zugleich aber dessen Regierungsmethoden als »aussichtslos, ja gefährlich« bezeichnete.150 Zuvor hatte Soden noch versucht, den Kommissar einschließlich seines vielköpfigen Gefolges nach dem Landesinnern abzuschieben. Dort sollte Wißmann als »Kommissar für das Seengebiet« mit Sitz in Tabora Verwendung finden. In zutreffender Einschätzung über dessen Rastlosigkeit sagte Soden zugleich aber voraus, dass er den »Circus Wißmann« selbst dann nur für begrenzte Zeit los sein würde.151 Er sollte recht behalten, doch bot sich bald die Gelegenheit, den Kommissar nach Ägypten zu entsenden, um dort sudanesische Soldaten für die Schutztruppe anzuwerben.152 Als sich Wißmanns Rückkehr nach Daressalam abzeichnete, bot Soden dem Reichskanzler seinerseits den Rücktritt an, da ihm »ein ersprießliches beiderseitiges Zusammenarbeiten als ausgeschlossen« erschien. Wißmanns Bestreben gehe vielmehr »einzig und allein dahin, mit einer möglichst großen Truppenmacht einen Heereszug ins Innere zu unternehmen und die Welt und die Zeitungen mit seinem Ruhme zu erfüllen«.153 Caprivi unterstützte erneut Soden und stellte Wißmann vor die Wahl, entweder die geplante Expedition durchzuführen oder die Beendigung seiner Anstellung
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BA-B R 1001/756, Bl. 7–11, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 25.7.1891, Bericht. Zu dieser letzten Expedition Schnitzers: Kirchen, Pascha, S. 170–176. BA-B R 1001/756, Bl. 38–40, Wißmann (an Bord ›Rio Grande‹) an Caprivi vom 12.10.1891, Schreiben. BA-K N 1067/21, Wißmann an Soden vom 28.9.1891, Rücktrittsgesuch. Soden leitete das Schreiben an Caprivi weiter und bemerkte lediglich, dass die angegebenen Gründe für ihn nicht nachvollziehbar seien, er das Gesuch aber befürworte. BA-B R 1001/756, Bl. 15–18, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 1.9.1891, Bericht. Ebd., Bl. 33f., Soden (Daressalam) an Wißmann vom 23.9.1891, Instruktion. BA-K N 1067/21, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 18.11.1891, Bericht; vgl. Ow, Soden, S. 263, wonach Soden an die Kolonialabteilung geschrieben habe: »Der Herr Reichskanzler muss seine Majestät vor die Wahl stellen: Entweder macht Wißmann die Sache, dann geht der Soden, oder aber macht sie der Soden, und dann glaubt der Wißmann dran.« Angesichts der Umstände ist Ows Datierung (Herbst 1892) wenig plausibel. Anzunehmen wäre stattdessen ein Datum etwa zwölf Monate zuvor.
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zu riskieren. An Soden schrieb der Reichskanzler gleichzeitig, »dass ich Herrn von Wißmann geradeso beurteile wie Sie und dass es an mir nicht fehlen wird, ihn unschädlich zu machen«, repräsentiere dieser doch eine »Generation, die nun einmal den Stempel der ersten schrankenlosen Zeit trägt.« Im Gegenzug sah Caprivi die weitere ›Entwicklung‹ in Ostafrika eng mit Soden verknüpft und lobte dessen Tätigkeit ausdrücklich: »Sie können sich kaum vorstellen, wie wohltätig sich Ihre Einwirkung im Vergleich zur Wißmannschen Zeit auch hier fühlbar macht.«154 Da der Kommissar schließlich einlenkte und wenig später seine Expedition zum Transport eines Dampfbootes – jetzt zum Nyassa-See – antrat, blieb Soden im Amt.155 Dramatischer entwickelte sich das Verhältnis gegenüber dem gut vernetzten Carl Peters. Dieser benutzte seine Stellung dazu, um im Umland des Kilimandscharo ein Terrorregiment zu errichten. Immerhin blieben dessen Aktivitäten dem Gouverneur nicht lange verborgen, was eine entsprechende Berichterstattung an den Reichskanzler nach sich zog. Im Hinblick auf die Strafzüge, die der Kommissar in der Umgegend seiner Station unternommen hatte, schrieb Caprivi allerdings lapidar an den Rand von Sodens ablehnender Stellungnahme: »Ich habe doch […] diese Expeditionen nicht angeordnet. Warum lässt er [Soden] sie zu, wenn er sie missbilligt.«156 Damit sprach der Reichskanzler zugleich ein Kernproblem kolonialer Verwaltung an: Die Schwierigkeit, Akteure fern der Küstenregion wirksam zu kontrollieren. Das Beispiel Peters macht dies besonders deutlich. Zwar hatte Soden diesen im Vorfeld persönlich instruiert und dabei betont, Peters möge sich an die für die Bezirksleiter geltenden Weisungen halten und vor größeren Unternehmungen stets um Genehmigung nachsuchen.157 Der Kommissar soll darauf aber lediglich erklärt haben, dass diese Einschränkungen »weder mit seinen eigenen Wünschen und Absichten noch mit denen seiner Freunde noch auch mit den mündlichen Erklärungen des Herrn Geheimrat Kayser im Einklang« stünden.158 Entsprechend gestalteten sich seine Praktiken. Wie sich selbst aus seinen offiziellen Berichten herauslesen ließ, bestand die ›Verwaltung‹ des Kommissars vor allem darin, »so und soviele Dorfschaften niederzubrennen, die Felder zu zerstören und das Vieh wegzutreiben«.159 Andere Vorkommnisse berichtete Peters vorsorglich nicht, wobei er im Nachhinein kurzerhand behauptete, dass sein Schweigen dem Gouverneur selbst wohl »am genehmsten« gewesen sei.160 Konkret handelte es sich um die Hinrichtung zweier Einheimischer, bei denen es sich um den Diener und die Geliebte des Kommissars handelte. Beide waren vermutlich aus Eifersucht von Peters zum Tode verurteilt worden. Während die Untat selbst ausführlich seitens der Forschung thematisiert wurde, fand der sich 154 155
BA-K N 1067/21, Caprivi an Soden vom 10.12.1891, Schreiben. Ebd., Wißmann an KA vom 17.12.1891, Telegramm. Zur Expedition Wißmanns an den Nyassa-See: DKB 1891, S. 445. 156 BA-B R 1001/280, Bl. 9f.; Soden (Daressalam) an Caprivi vom 18.10.1891, Bericht. Hervorhebung durch den Autor. 157 BA-K N 1067/21, Soden an Peters vom 6.5.1891, Instruktion. 158 So wiedergegeben in: Ebd., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 5.6.1891, Bericht. 159 Das folgerte der Gouverneur aus den amtlichen Schriftstücken, die er von Peters erhalten hatte. BA-B R 1001/280, Bl. 9f., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 18.10.1891, Bericht. 160 BA-K N 1067/21, Peters (an Bord ›Admiral‹) an Soden vom 18.4.1892, Bericht; ebd., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 6.5.1892, Bericht.
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daraus entwickelnde Konflikt mit Soden bislang keine Beachtung.161 Dabei belegt das von den Zeitgenossen als »Hängegeschichte« bezeichnete Verbrechen zugleich, dass selbst die vermeintliche Abgeschiedenheit des Landesinnern nicht zwangsläufig eine gänzlich unkontrollierte Zone darstellte. Zwar dauerte es einige Monate, doch wurde Peters schließlich von der nächstgelegenen Missionsstation beim Gouverneur angezeigt. Während der Kommissar inzwischen nach Kapstadt abgereist war, ließ Soden den Vorfall untersuchen.162 An Caprivi schrieb er, dass es sich namentlich bei der Erhängung der jungen Frau »um einen Akt gemeiner Willkür und Rohheit« gehandelt habe. Dabei fügte er in Bezug auf die Person des Kommissars hinzu, dass ein solches Vorgehen nicht unerwartet käme, »wenn man einem derartigen Burschen eine verantwortungsreiche und zugleich unabhängige Stellung einräume«.163 Peters verfügte jedoch nicht nur über großen Einfluss auf die kolonialbegeisterten Kreise in Deutschland; gleichzeitig erhielt er vom Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt die nötige Rückendeckung.164 Das dürfte kaum verwundern, hatte doch Kayser bis zu seinem Amtsantritt einen Aufsichtsratsposten in der von Peters geleiteten DOAG bekleidet. Auch als politischer Beamter betrieb er weiterhin eifrig Lobbyarbeit für die Gesellschaft. Nur wenige Wochen nach Bekanntwerden der Mordtat am Kilimandscharo begab sich Kayser persönlich nach Ostafrika in der Absicht, die Wogen zu glätten. Bezeichnenderweise hatte er noch vor seiner Abreise darauf gedrängt, für die Dauer des Aufenthalts den formalen Rang eines Gouverneurs zu erhalten, um Soden gegenüber ebenbürtig auftreten zu können. Caprivi hatte das allerdings abgelehnt und erklärt, dass die Reise ausschließlich zu Informationszwecken diene und Kayser keinerlei Befugnis habe, »an Ort und Stelle in die Verwaltung einzugreifen«. Vielmehr hielt der Reichskanzler »jedes Auftreten, welches die Stellung des Gouverneurs drücken könnte« für fehl am Platze. Komme die »Rangfrage überhaupt zur Sprache […], so kann es nicht zweifelhaft sein, dass Ew. Hochwohlgeboren hinter dem Gouverneur rangieren.«165 In Daressalam angekommen, gelang es Kayser, den Gouverneur zu überreden, die Angelegenheit Peters vorläufig dilatorisch zu behandeln. Dabei wies er darauf hin, dass es einen Skandal unbedingt zu vermeiden gelte, weshalb Soden den Kommissar »nicht jetzt sich vom Halse schaffen« dürfe.166 Am Ende seines Aufenthalts musste Kayser dennoch feststellen, dass die »Spannung zwischen Peters und Soden […] unversöhnlich« sei.167 Tatsächlich war der Gouverneur inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass die neuerdings im Kilimandscharo-Gebiet aufflammenden Unruhen einzig aus der
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Zu dem Verbrechen bzw. den daraus resultierenden Folgen für Peters: Reuss, Disgrace; Perras, Peters, S. 197–200; Schneppen, Fall; Bösch, Geheimnisse, S. 275–288. 162 BA-K N 1067/21, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 19.4.1892, Bericht. 163 Ebd., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 6.5.1892, Bericht. 164 Vgl. BA-B N 2350/198, Irmer an Bennigsen sen. vom 9.6.1893, Schreiben: »[…] seit einigen Tagen Dr. Peters hier wieder eingetroffen […]. Er hat vorher noch Geh.R. Kayser in Tölz aufgesucht. Die Beiden sind ein Herz und eine Seele.« 165 BA-K N 1067/21, Kayser an Caprivi vom 10.4.1892, Bericht; ebd., Caprivi an Kayser vom 11.4.1892, Erlass. 166 BA-B N 2139/63, S. 64, Kayser, Tgb. (4.6.1892). 167 Ebd., S. 147, Kayser, Tgb. (7.7.1892).
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»Tyrannis« und der »Haremswirtschaft« des Kommissars resultierten.168 Wenig später schrieb Soden dem Reichskanzler, dass Peters sogar auf seinem Rückweg zur Küste »3 kaum dem Kindesalter entwachsene Mädchen mit sich [führte], die er von eingeborenen Häuptlingen gekauft oder geschenkt erhalten hatte; wie groß der Harem auf der Station war und ob die Käufe und Schenkungen seitens der Eingeborenen immer ganz freiwillig waren, lasse ich dahingestellt; wenn aber jeder Untergebene des Herrn Kommissars denselben Passionen huldigte, so kann man sich – auch wenn das Aufhängen der Mädchen lediglich als ein Vorrecht des Kaiserlichen Kommissars betrachtet wurde – die dort vorherrschende Wirtschaft vorstellen […].« Seinen Bericht schloss Soden mit den Worten, er hoffe, dass die »Geduld und Nachsicht des hohen Auswärtigen Amtes gegen diesen Herrn erschöpft sein wird«.169 Kayser hatte sein Ziel verfehlt. Fortan suchte er deshalb nach indirekten Möglichkeiten, um Peters aus der Schusslinie zu bringen. Dazu suchte er einerseits den Weg über den Reichskanzler, diesmal offenbar mit Erfolg. Hatte Caprivi am 29. Juni 1892 noch erklärt, er wünsche über die Vorfälle »vollständiges Material zu haben«, entschied er nach einem Vortrag Kaysers am 27. August, »dass er insbesonders aus politischen Gründen nicht gegen Dr. Peters vor[zu]gehen wünsche. Die Sodenschen Berichte sollen lediglich zur Kenntnis genommen werden.«170 Parallel dazu richtete Kayser ein Privatschreiben an den Oberrichter Sonnenschein in Daressalam, der ebenfalls »in diesem Sinne den Gouverneur beeinflussen solle«.171 Von einem solchen Einwirken ist in Sodens weiteren Berichten an den Reichskanzler nichts zu erkennen.172 Vielmehr handelte es sich weiterhin um kompromisslose Abrechnungen mit dem Kommissar und dessen Aktivitäten, wobei der Gouverneur schließlich so weit ging, dass er von Caprivi wegen seiner drastischen Ausdrucksweise gerügt werden musste.173 Ein vorläufiges Ende fand die Angelegenheit, nachdem die europäischen Mittäter die Verfehlungen Petersʼ erwartungsgemäß geleugnet hatten. Zugleich hatte
168 BA-K N 1067/21, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 6.7.1892, Bericht; vgl. BA-B N 2139/63, S. 142, Kayser, Tgb. (6.7.1892). 169 BA-K N 1067/21, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 31.7.1892, Bericht. 170 Ebd., KA vom 29.6.1892, Vermerk; ebd., Randvermerk Kaysers zum Bericht Sodens vom 31.7.1892. 171 Ebd., Kayser vom 7.9.1892, Vermerk. Der Dirigent hatte Sonnenschein während seiner Ostafrikareise wieder getroffen und über diesen in seinem Tagebuch vermerkt: »Sonnenschein ist ein Prachtmensch.« BA-B N 2139/63, Kayser, Tgb. (21.6.1892). Kaysers Versuch, den Gouverneur mit Hilfe inoffizieller Berichte Sonnenscheins beim Reichskanzler zu diskreditieren, war aber nicht erfolgreich. Gelegentlich einer solchen Kritik über Sodens Amtsführung mahnte Caprivi stattdessen die Einhaltung des Dienstweges an und schrieb an den Rand: »Wenn Herr Sonnenschein diese Ansicht hat, so wäre es seine Pflicht, sie zunächst bei Herrn von Soden zur Sprache zu bringen.« BA-K N 1067/14, Sonnenschein an Kayser vom 24.10.1892, Schreiben. 172 Soden war dieses Zusammenwirken ohnehin bekannt, telegraphierte er doch am Ende seiner Amtszeit an Caprivi: »Sonnenschein zur Durchführung der Dr. Kayserschen Pläne viel geeigneter, mir unmöglich.« BA-K N 1067/21, Soden an Caprivi vom 13.1.1893, Telegramm. 173 BA-B R 1001/281, Bl. 93–96, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 16.9.1892, Bericht; ebd., Bl. 113–123, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 2.10.1892, Bericht; BA-K N 1067/21, Caprivi an Soden vom 22.10.1892, Erlass.
4. Herrschaftspraktiken
Kayser entschieden, der belastenden Aussage des lokalen chiefs Mareale »irgendwelches Gewicht nicht weiter bei[zu]legen«.174 Inzwischen hatte auch Soden erkannt, dass es sich bei den ›Ermittlungen‹ um eine Farce oder, wie er es ausdrückte, um ein »juristisches Brimborium« handelte. Auch die kaum verdeckte Unterstützung Peters durch Kayser war ihm nicht entgangen. Allerdings äußerten sich beim Gouverneur – nicht zuletzt aus Krankheitsgründen – nun zunehmend Anzeichen von Resignation. Nach mehreren Rücktrittsdrohungen war er offenbar im Dezember 1892 entschlossen, seinen Abgang zu beschleunigen. Zu diesem Zweck griff er mit ungewöhnlich scharfen Worten die DOAG an. Diese trete gegenüber der Verwaltung überheblich auf und sei ein Ausbund an »Verlogenheit«. Ein solches Vorgehen könne sich die Gesellschaft nur deshalb leisten, weil Kayser stets bereit sei, »für die Ehrenhaftigkeit der sauberen Gesellschaft eine Lanze zu brechen.«175 In einem weiteren Bericht an den Reichskanzler verbat er sich jede »Bevormundung« durch die Kolonialabteilung. Auch solle man dort nicht glauben, angesichts des nur »sechswöchentlichen Aufenthalts ihres Dirigenten [Kayser] an der Küste« in Angelegenheiten mitreden zu können, »deren Entscheidung nach meinem Dafürhalten dem obersten Beamten des Schutzgebietes allein zusteht und im Interesse des Ganzen auch allein zustehen muß.«176 Die Behauptung einer einseitigen Begünstigung bestimmter Firmen mit einem gleichzeitigen Seitenhieb auf die jüdischen Wurzeln Kaysers zementierte schließlich den Bruch. Der Dirigent notierte dazu lapidar: »Gegenüber diesen Angriffen ist mir eine Mitarbeit mit Herrn von Soden unmöglich.«177 Der Konflikt mit der Zentralbehörde wurde flankiert von latenten Auseinandersetzungen Sodens mit dem Offizierkorps der Schutztruppe. Vor allem die im Innern eingesetzten Offiziere verstießen immer wieder gegen seine Instruktionen und unternahmen Strafexpeditionen, von denen der Gouverneur erst im Nachhinein erfuhr.178 Unumwunden erklärte er, dass die ihm »unterstellten und oft kaum oder richtiger garnicht kontrollierbaren Organe zumindest an demselben Strang ziehen« müssten, wie er selbst. Die Ursache für die Eigenmächtigkeiten bestünde jedoch darin, dass die Militärs in der Anwendung von Gewalt gerade ihre Existenzberechtigung sähen. Nicht zuletzt deshalb hielt Soden die Truppe generell für eine »verfehlte« Einrichtung. Seiner Ansicht nach
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Ebd., Kayser an Soden vom 4.11.1892, Erlass. Zu einer eindeutigen Aussage hatte sich nur der Freiherr v. Bülow bereitgefunden, dabei aber einen offiziellen Bericht abgelehnt. Ebd., Bülow an Soden vom 7.6.1892, Schreiben; ebd., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 6.7.1892, Bericht. Ebd., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 20.12.1892, Bericht. Ebd., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 21.12.1892, Bericht. Ebd., Soden (Daressalam) an Caprivi vom 20.12.1892, Bericht; Kiderlen-Wächter an Eulenburg vom 9.3.1893, Schreiben, abgedruckt in: Eulenburg, Korrespondenz 2, S. 1042; Kayser an Baron vom 22.1.1893, Schreiben, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 330f. Kayser bot wenig später selbst seinen Rücktritt an: BA-B N 2139/40, Kayser an Caprivi vom 21.1.1893, Rücktrittsgesuch. Bührer, Schutztruppe, S. 168f.; Zirkel, Power, S. 98.
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wolle man aber »Seiner Majestät den Spaß nicht verderben«.179 Auch eine Generalabrechnung mit dem Kaiser und dessen ›neuem Kurs‹ sparte er nicht aus:180 »Anstelle der vorsichtigen, lediglich auf praktische Ziele gerichteten Bismarckschen Kolonialpolitik ist eine getreten, deren Ziele niemand kennt. Majestät macht die Sache und im übrigen heißt es Maul halten und Beifall nicken. Dazu bin ich aber zu wenig Hofmann. Sie werden mir daher gestatten, daß ich mich zurückziehe, denn der Hehler ist schließlich wie der Stehler.« Nachdem bereits zur Monatsmitte des Dezember 1892 sein potentieller Nachfolger eingetroffen war und in der Presse offen ausgesprochen wurde, dass eine Neubesetzung seines Postens bevorstehe, verließ Soden im Januar 1893 Ostafrika und beantragte kurz darauf seine Versetzung in den Ruhestand. Wenngleich gesundheitliche Gründe dabei nicht ohne Bedeutung waren – in der Kolonialabteilung war später von einer »unter dem Einfluss des Tropenklimas« zunehmenden »Gereiztheit« die Rede –, kann nicht zweifelhaft sein, dass es vor allem die Widerstände vor Ort wie auch seitens der Zentralbehörde waren, die zu Sodens Rücktritt geführt hatten.181 Von einer unrealistischen Einschätzung der Möglichkeiten seiner Verwaltung kann dagegen kaum die Rede sein. Soden war sich der Schwierigkeiten stets bewusst und vertrat die zutreffende Ansicht, dass die deutsche Herrschaft »kaum an der Küste festen Fuß gefasst« habe und dass das »wenige bisher Erreichte« jederzeit durch riskante Eroberungszüge ins Innere »wieder in Frage gestellt werden« könne.182 Namentlich die Schlappen der Schutztruppe gegen die Hehe sowie am Kilimandscharo machten deutlich, wie zutreffend diese Beurteilung war. In Berlin zog man daraus aber eine für Deutsch-Ostafrika folgenreiche Konsequenz: Vorläufig sollten dort nur noch Militärs als Gouverneure Verwendung finden.
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Soden (Daressalam) an Caprivi vom 21.9.1891, Bericht, zitiert nach Ow, S. 263f., 267. Vermutlich ist die Datierung nicht korrekt. Es handelt sich wahrscheinlich um ein Schreiben aus dem Spätjahr 1892. 180 Soden (Daressalam) an Caprivi vom 26.8.1891, Bericht, zitiert nach Ow, Soden, S. 267. Auch diese Datierung ist wohl fehlerhaft. Es handelt sich wiederum vermutlich um ein Schreiben aus dem Jahr 1892. 181 HStA Stuttgart P 10 Bü. 1759, Varnbüler an Württ. Staatsministerium, o.D. [nach 23.3.1899], Bericht; BA-K N 1067/21, KA an Varnbüler vom 23.3.1899, Schreiben (Zitat); vgl. Bührer, Schutztruppe, S. 170, die Soden als »alten und kranken Mann« charakterisiert. Dies sei ihr zufolge der Hauptgrund seines Rückzuges gewesen. Zweifellos war Soden gesundheitlich angeschlagen, doch war er zum Zeitpunkt seiner Abreise erst 47 Jahre alt. Pesek, Herrschaft, S. 272, nimmt dagegen irrtümlich an, die Niederlage Zelewskis sei für Sodens Absetzung verantwortlich gewesen. 182 BA-B R 1001/274, Bl. 115–118, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 1.11.1891, Bericht.
4. Herrschaftspraktiken
4.3 Die afrikanischen Kolonien bis zur Krise des kolonialen Projekts 4.3.1 Militärgouverneure in Deutsch-Ostafrika 4.3.1.1 Friedrich Freiherr von Schele Ungeachtet der gegenteiligen Zusicherungen Caprivis an die Adresse Sodens war man in Berlin spätestens seit der zweiten Jahreshälfte 1892 mit dem als zögerlich wahrgenommenen Vorgehen des Gouverneurs unzufrieden. Die für den Herbst anvisierte Neubesetzung im Kommando der Schutztruppe wurde daher benutzt, um einen höheren Armeeoffizier zugleich mit der Stellvertretung des Gouverneurs zu betrauen.183 Der Posten ging an Schele, den mit dem Reichskanzler eine frühere Zugehörigkeit zum Stab des X. Armeekorps sowie eine Tätigkeit im preußischen Kriegsministerium verbanden. Eine gezielte Auswahl durch Caprivi ist daher wahrscheinlich.184 Gleichzeitig entsprach Schele dem Anforderungsprofil, verfügte er doch einerseits über einen militärischen Rang, der hoch genug war, um seine Autorität gegenüber den zahlreichen Offizieren im ›Schutzgebiet‹ zu gewährleisten. Zum andern ließen seine bisherigen Dienstbeurteilungen einen ebenso tatkräftigen wie entschlossenen militärischen Anführer erwarten. Angesichts solcher Voraussetzungen überrascht es kaum, dass Schele, nachdem er am 12. Dezember 1892 in Daressalam eingetroffen war, unverzüglich zu einer Informationsreise ins Landesinnere aufbrach. Obwohl nur kommissarisch im Amt begann er nach seiner Rückkehr mit einer umfassenden Neuorganisation der Schutztruppe. Dabei beantragte er nicht nur eine Erhöhung des Militäretats sowie eine Angleichung der Wißmannschen Offiziersdienstgrade an diejenigen der regulären Armee.185 Gleichzeitig verdoppelte er zu Lasten von Sodens Polizeitruppe die Zahl der Feldkompanien.186 Seinem Selbstverständnis als höherer Truppenführer preußisch-deutscher Prägung entsprachen auch die Vorstellungen über das äußere Erscheinungsbild der meist aus Sudanesen, zum geringeren Teil aus Einheimischen bestehenden Truppe. Bereits auf seiner ersten Reise stellte er fest, dass die »Marschdisziplin und die Ordnung überhaupt bei
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Der Neue wurde keineswegs gezielt als künftiger Gouverneur nach Ostafrika entsandt, vielmehr sollte er gemäß Allerhöchster Ordre vom 26.10.1892 zunächst für sechs Monate als Nachfolger des bisherigen Gouverneur-Stellvertreters Rüdiger fungieren, der wiederum nach Neuguinea versetzt wurde. 184 Zwar waren beide nicht zur selben Zeit in den genannten (Kommando-)Behörden tätig, doch ist eine enge Bindung Caprivis an das X. Armeekorps, in dem er sowohl Chef des Stabes (1870–71) als auch Kommandierender General (Juli 1888-März 1890) gewesen war, anzunehmen. Keineswegs unwichtig ist zudem, dass Schele längere Zeit der persönliche Adjutant des Prinzen Heinrich v. Preußen gewesen war, der wiederum der Vorgänger Caprivis an der Spitze dieses Generalkommandos war. 185 BA-MA RM 2/1844, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 14.3.1893, Bericht. Ausführlich zur ›afrikanischen Anciennität‹: Bührer, Schutztruppe, S. 94–96, 172f. 186 Ebd., S. 171. Die Reduktion der Polizeitruppe ergibt sich aus: DKB 4 (1893), Beilage nach S. 530. Danach betrug deren Stärke am 30.9.1893 nur noch 234 Mann gegenüber rund vierhundert unter der Ägide Sodens.
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den Askaris« noch unbefriedigend seien. Seiner Ansicht nach müssten die Soldaten einen »strammeren, militärischeren Eindruck machen«.187 Solchen Vorstellungen kam auch Scheles Skizze des idealen Schutztruppenoffiziers nahe. Im Gegensatz zu den meist jüngeren Wißmann-Leuten gab er »in erster Linie älteren, gereiften« Männern den Vorzug, die eine »genügende Autorität dem weißen, wie farbigen Personal gegenüber besitzen, denen eine große Selbständigkeit, Reife, Überlegung, Umsicht und Tatkraft eigen sind.«188 Mit diesen Eigenschaften zeichnete er – bewusst oder unbewusst – gleichzeitig ein Bild von seinem eigenen Auftreten, nahm sein Umfeld den 46-jährigen doch als eine ebensolche »stattliche, militärische Erscheinung, energisch und klug«, wahr.189 Der Swahili-Dichter Mwalim Mbaraka bin Shomari sah das ähnlich. Dessen Lobgesang auf Schele bietet zugleich ein anschauliches Beispiel für eine kulturraumgebundene Perspektive, weckt doch dessen Darstellung Assoziationen an ein afrikanisches Kriegerideal:190 »Er ist strenge, so streng wie heißes Eisen; er, der einen großen Verstand hat, ist tapfer wie ein Löwe, wenn er zum Kampfe zieht, ist seine Seele beruhigt.« Kaum hatte Schele die Geschäfte des Gouvernements übernommen, kritisierte er in seinen Berichten offen die Politik seines Vorgängers. Vor allem monierte er, dieser habe nicht einmal im unmittelbaren Küstenhinterland eine effektive Herrschaft durchsetzen können. Während Soden nach Berlin meist über eine »im ganzen friedliebende Bevölkerung« berichtet hatte, behauptete Schele, dass unter derselben inzwischen »Ungehorsam […] bis zur offenen Widersetzlichkeit und zur Beschimpfung der deutschen Flagge« an der Tagesordnung seien.191 Bezeichnend ist nicht zuletzt seine Reaktion auf diese vermeintlichen Missstände, verschärfte er doch umgehend die Strafbestimmungen gegenüber der einheimischen Bevölkerung und verdoppelte die bei der Prügelstrafe maximal zulässigen Hiebe auf fünfzig und erweiterte zugleich den Kreis der Delinquenten auf Frauen und Kinder.192 Besonders die letzte Bestimmung ging selbst der Berliner Zentral-
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BA-B R 1001/282, Bl. 137–143, Schele (Kilossa) an Gouvernement in Daressalam vom 16.1.1893, Bericht. 188 BA-MA RM 2/1844, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 14.3.1893, Bericht. 189 Aufzeichnung des Sanitätsoffiziers Ernst Julius Berg aus dem Sommer 1894, zitiert nach: Grüntzig/Mehlhorn, Koch, S. 363; vgl. Prince, Araber, S. 228, der Schele »Energie und klaren Verstand« bescheinigt. Darüber hinaus sei er »die Verkörperung des Soldaten und Edelmanns« gewesen. 190 Zitiert nach: Velten, Suaheli-Gedichte, S. 69f. Allgemein zur Interpretation solcher Texte: Bromber, Lied. 191 BA-B R 1001/279, Bl. 12–15, Soden (Daressalam) an Caprivi vom 8.7.1891, Bericht (Zitat 1); BA-B R 1001/282, Bl. 165f., Schele (Daressalam) an KA vom 15.3.1893, Bericht (Zitat 2). 192 BA-B R 1001/779, Bl. 52, Schele (i.V.) vom 29.6.1893, Abänderung der VO vom 14.5.1891 betr. Gerichtsbarkeit und Polizeibefugnisse der Bezirkshauptleute.
4. Herrschaftspraktiken
behörde zu weit, so dass knapp drei Jahre später diese Verordnung wieder aufgehoben wurde.193 Neben verschärften Körperstrafen entschied sich Schele für ein weiteres Abschreckungsmittel gegen die angeblich renitenten Teile der Bevölkerung, ließ er doch die Schutztruppe einen Marsch durch die Küstenregionen zum Zwecke der Machtdemonstration durchführen. Diese Aktion sah er als Auftakt für weitere Unternehmungen, wobei er sich der Zustimmung seiner Offiziere sicher sein konnte. Diese hatten sich ebenfalls für einen größeren »Kriegszug in das Innere von Uhehe« ausgesprochen. Auch glaubte Schele bereitwillig den Behauptungen, die Hehe würden das gesamte Umland von Kilossa verwüsten, die Handelswege gefährden und weiträumige Eroberungsabsichten verfolgen.194 Vorerst wandte er sich allerdings nach dem Norden der Kolonie, um am Kilimandscharo einen Zug gegen den Wadschagga-chief Meli zu unternehmen. Als Vorwand führte Schele wiederum »unsere dortige Machtlosigkeit und die offene Auflehnung Melis gegen die deutsche Herrschaft« ins Feld.195 Erneut gab der SwahiliDichter Scheles Wesen anschaulich wieder:196 »[Er] hat [es] nicht nötig, seine Untertanen zu fürchten; wenn ein Aufstand ausbricht und die Leute sich ihm widersetzen, dann gürtet er seine Patronentaschen um und macht sich auf den Weg.« Tatsächlich beabsichtigte Schele im Unterschied zu seinem Vorgänger die Unternehmung persönlich anzuführen. Ganz sicher war er sich seiner Sache aber offenbar nicht, hingen doch seine Entschlüsse ebenfalls von kaum überprüfbaren Informationen ab. An Caprivi schrieb er deshalb, dass der Ausgang am Kilimandscharo keineswegs vorherzusehen sei, verfüge er doch nicht einmal über zuverlässiges Kartenmaterial.197 Dennoch hinderten ihn weder solche Unwägbarkeiten noch eine akute Brustfellentzündung, im Juli 1893 seinen ersten ›Feldzug‹ in Ostafrika anzutreten.198 Dass Schele damit keineswegs gegen den Willen der Reichsleitung handelte, wird nicht zuletzt durch die nach dem Zug zum Kilimandscharo vollzogene Ernennung zum Gouverneur deutlich.199 Auch 193
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Hohenlohe-Schillingsfürst vom 22.4.1896, Verfügung betr. Strafgerichtsbarkeit und Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in DOA, Kamerun und Togo, abgedruckt in: DKG 2, S. 215–218. Auslöser für die Aufhebung des Schele-Erlasses waren die Ausschreitungen des Regimes Leist/ Wehlan in Kamerun. Siehe hierzu Kapitel 4.3.2 und 4.3.3. BA-B R 1001/282, Bl. 137–143, Schele (Kilossa) an Gouvernement in Daressalam vom 16.1.1893, Bericht. BA-B R 1001/283, Bl. 51–54, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 29.6.1893, Bericht (Zitat); vgl. ebd., Bl. 47f., Schele (Daressalam) an Caprivi vom 10.6.1893, Bericht. Zitiert nach: Velten, Suaheli-Gedichte, S. 69. BA-B R 1001/283, Bl. 51–54, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 29.6.1893, Bericht. GStA PK Rep 7/3897, Erkrankungen Scheles vom 30.3.1904; Schele, Kämpfe, S. 449–452; vgl. BA-B R 1001/283, Bl. 138–144, Schele (Moschi) an Caprivi vom 21.8.1893, Bericht. BA-MA RM 2/1845, Bl. 19f., Wilhelm II. vom 15.9.1893, Allerhöchste Ordre. Die Ernennung erfolgte mit Wirkung vom 4.10.1893. Bührer, Schutztruppe, S. 171, vermutet, dass die Einsetzung Scheles
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sah Caprivi nichts Verwerfliches daran, Schele für das massenhafte Niederschießen von schlecht bewaffneten Afrikanern mit einem Schwerterorden zu belohnen.200 Das gängige Bild des »eingefleischten ›Falken‹« unter den Gouverneuren DeutschOstafrikas muss trotzdem etwas modifiziert werden.201 Tatsächlich nahm Schele von dem ebenfalls geplanten Zug gegen die Hehe vorerst Abstand. Zwar hatte er noch im Juni 1893 selbstbewusst an Caprivi geschrieben, nach der Rückkehr vom Kilimandscharo sofort die gesamte »disponible Truppenmacht« nach Uhehe entsenden zu wollen, um auch dort »unsere Macht nachdrücklich zur Geltung zu bringen«.202 Obgleich er befugt war, eine solche militärische Expedition in eigener Verantwortung anzuordnen, zögerte er dennoch, um sich zunächst der Unterstützung des Reichskanzlers zu versichern. Dieser kam ihm ungewöhnlich weit entgegen. Einerseits teilte er Schele schriftlich mit, für kriegsbedingte Etatüberschreitungen die Verantwortung übernehmen zu wollen. Andererseits stellte Caprivi dem Gouverneur einen regelrechten Blankoscheck aus, wies er doch die Kolonialabteilung an: »Nun wollen wir Ex[zellenz] v. Schele ruhig das Seine tun überlassen ohne uns einzumischen.«203 Während Schele ursprünglich für ein frühes Losschlagen plädiert hatte, sprach er sich am 25. September 1893 gegen einen sofortigen Zug aus. Neben der fortgeschrittenen Jahreszeit, fehlender Maschinengewehre und unzureichend ausgebildeter Rekruten hätten ihn auch das Wohlverhalten der Hehe sowie die mit diesen laufenden Verhandlungen dazu bewogen, von einem Angriff vorläufig abzusehen. Einige Wochen später äußerte er Befürchtungen über einen möglichen Misserfolg. Besonders die beschwörenden Worte, dass die »Möglichkeit einer Katastrophe aber nach Kräften ausgeschlossen werden muss«, offenbaren ungeachtet allen martialischen Auftretens die innere Unsicherheit des Gouverneurs.204 Tatsächlich dauerte es noch fast ein volles Jahr, ehe Schele sich zum Aufbruch durchringen konnte. Angesichts seiner Unkenntnis über die tatsächliche Anzahl der Hehe-
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mehr als ein halbes Jahr nach der Abreise Sodens auf einen »umstrittenen Personalentscheid« hindeuten könnte. Tatsächlich kann jedoch von einer Vakanz keine Rede sein. Vielmehr zog sich die Versetzung Sodens in den vorläufigen Ruhestand bis zum 15.9.1893 hin. Da eine Doppelbesetzung etatrechtlich nicht möglich war, konnte die Ernennung des neuen Gouverneurs frühestens zu diesem Zeitpunkt erfolgen. Insofern ist dieser Vorgang keineswegs ungewöhnlich. Die Verluste der Wadschagga sollen sich auf 135 Tote belaufen haben, gegenüber fünf Toten auf Seiten der Schutztruppe. Schele, Kämpfe, S. 452; ders., Unterwerfung, S. 490; BA-MA RM 2/1845, Bl. 22, Caprivi vom 24.9.1893, Randvermerk: »Bitte die Ordensvorschläge, die Herr von Schele macht, Seiner Majestät zu unterbreiten und ihn selbst ebenfalls vorzuschlagen. Soviel ich aus der Rangliste sehe, kann er R.A.O. 3 mit Schwertern bekommen.« Die Verleihung erfolgte am 1.11.1893. Vereinzelt regte sich auch Kritik, doch zielte diese vor allem darauf ab, dass es Schele »nicht gelungen ist, sich Melis zu bemächtigen.« BA-B N 2350/198, Irmer an Bennigsen sen. vom 1.10.1893, Schreiben. Zu dieser nicht gänzlich falschen, aber doch zu wenig differenzierten Einschätzung: Koponen, Development, S. 100f.; Pesek, Herrschaft, S. 272f.; Bührer, Schutztruppe, S. 171 (Zitat). BA-B R 1001/283, Bl. 51–54, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 29.6.1893, Bericht. Ebd., Bl. 59, Caprivi an Schele vom 30.7.1893, Erlass; ebd., Bl. 73, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 18.9.1893, Telegramm (Randvermerk Caprivis). Ebd., Bl. 51–54, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 29.6.1893, Bericht (Zitat 1); ebd., Bl. 145, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 25.9.1893, Bericht; ebd., Bl. 164, Schele (Daressalam) an Caprivi vom 22.10.1893, Bericht; vgl. Morlang, Wahehe, S. 84f.
4. Herrschaftspraktiken
Krieger hatte er den Umfang seiner Streitmacht immer weiter erhöht und bot schließlich zwei Drittel der ostafrikanischen Schutztruppe auf.205 Allerdings waren seine Befürchtungen nicht unbegründet. Scheles Truppe zerstörte zwar die Residenz des chiefs Mkwawa und tötete mindestens dreihundert von dessen Kriegern. Dazu kamen eine ansehnliche Beute sowie eine große Zahl gefangener Frauen und Kinder. Mkwawa selbst konnte jedoch mit dem Gros seiner Kämpfer entkommen und war keineswegs entscheidend geschlagen, ja nicht einmal in Reichweite für einen weiteren Angriff der Schutztruppe.206 Schele marschierte daher unverrichteter Dinge zur Küste zurück, wo er davon erfuhr, dass Wilhelm II. ihm inzwischen den Orden Pour le Mérite verliehen hatte. Ungeachtet dessen kursierten gleichzeitig Gerüchte über einen bevorstehenden Rücktritt des Gouverneurs.207 Wie sein Vorgänger war inzwischen auch Schele in Konflikt mit der DOAG geraten. Den Quellen zufolge entzündete sich dieser an einer Verordnung aus dem November 1893, in der Schele den absoluten Vorrang des Gouvernements bei der Anwerbung von Lastenträgern festschrieb. Die Behörden sollten bei Vorliegen einer militärischen Notwendigkeit sogar bereits anderweitig angeworbene Kräfte requirieren dürfen.208 Der Einspruch seitens der Direktion der DOAG folgte prompt an die Adresse der Kolonialabteilung:209 »Die Weiterführung wirtschaftlicher Betriebe in der Kolonie steht in der Tat unter drohenden Gefahren, wenn man darauf gefasst sein muss, dass das Kaiserliche Gouvernement nicht Anstand nimmt, die völlig unvorbereiteten wirtschaftlichen Faktoren in Ostafrika mit Verordnungen von der Art der vorliegenden, welche ungefähr darauf hinausläuft, dass dem Gouvernement alles erlaubt sei, zu überraschen.« Zwar stellte Caprivi dem Gouverneur anheim, die Verordnung etwas abzuschwächen, während Kayser die Befürchtungen innerhalb der ihm nach wie vor eng verbundenen Gesellschaft zu zerstreuen suchte.210 Deren Direktion kritisierte jedoch weiterhin das Vorgehen des Gouverneurs, da dieser mit seiner Vorschrift das »für ein gesundes Wirtschaftsleben« unverzichtbare »Gefühl der Rechtssicherheit« gefährdet habe.211
205 Am Beginn seiner Amtszeit hatte Schele 500–600 Askari, 42 Europäer und einige Schnellfeuergeschütze für ausreichend gehalten. BA-B R 1001/282, Bl. 145, Schele (Mpapua) an Gouvernement in Daressalam vom 21.1.1893, Bericht. Tatsächlich bestand seine Streitmacht im September 1894 aber aus etwa 1.250 Askari und mehr als 50 Europäern. Morlang, Wahehe, S. 85. Die gesamte Schutztruppe umfasste damals 141 Europäer und 1.834 Askari. DKB 5 (1894), S. 472–477. 206 Zum Verlauf des Kriegszugs: Bührer, Schutztruppe, S. 252–254; Morlang, Wahehe, S. 85f. 207 Sitzung des Kolonialrats vom 18.10.1894, abgedruckt in: DKB 5 (1894), S. 569. Kayser dementierte diese Mutmaßungen. 208 Schele vom 20.11.1893, VO betr. Anwerbung von Trägern, abgedruckt in: DKG 6, S. 68f.; BA-B R 1001/118, Bl. 4, Schele vom 20.11.1893, Runderlass zur VO betr. Anwerbung von Trägern. 209 Ebd., Bl. 8, Direktion der DOAG an KA vom 27.12.1893, Eingabe. 210 Ebd., Bl. 10, Caprivi an Schele vom 5.1.1894, Erlass; ebd., Bl. 15, Kayser an Direktion der DOAG vom 31.3.1894, Schreiben. Zusätzlich erklärte das Gouvernement, es werde die Gesellschaft von den Bestimmungen ausnehmen. Ebd., Bl. 13f., Wrochem (Daressalam) an DOAG (Sansibar) vom 14.2.1894, Schreiben. 211 Ebd., Bl. 16f., Direktorium der DOAG an KA vom 14.4.1894, Eingabe.
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Insbesondere durch seine restriktive Haltung im Hinblick auf die Privilegien der Konzessionsgesellschaften zog Schele deren Unmut auf sich, und geriet deshalb auch mit der Kolonialabteilung in Konflikt.212 Dazu kam, dass der Gouverneur nach Caprivis Rücktritt am 26. Oktober 1894 erheblich an Rückhalt verlor. Der neue Reichskanzler Chlodwig v. Hohenlohe-Schillingsfürst ließ fortan dem Kolonialdirektor in »kolonialen Dingen […] alle Freiheit«, was dieser wiederum auch in normativer Hinsicht festzuschreiben suchte.213 Um leichteres Spiel zu haben, verbreitete Kayser die übertriebene Behauptung, Schele beabsichtige die Aufwertung des Gouverneursamtes in das eines »Vizekönigs«, was den vermeintlich bestehenden Zustand einer »gouvernementalen Omnipotenz und der zentralen Impotenz« weiter verschärfen würde. Daher forderte er unter erneuter Androhung seines Rücktritts, die gesamte Schutzgebietsverwaltung umgehend der Kolonialabteilung zu unterstellen.214 Ein Blick auf Scheles Berichtspraxis verrät allerdings, dass dieser – anders als seitens der Forschung bislang angenommen – keineswegs die Kolonialabteilung systematisch umgangen und dabei ausschließlich dem Reichskanzler oder gar dem Kaiser persönlich berichtet hätte.215 Während zu der letzteren Behauptung jeder positive Nachweis fehlt, hielt sich der Gouverneur nachweislich an das gängige Verfahren, Routineberichte an die »Kolonial-Abtheilung« zu adressieren. Lediglich bei grundsätzlichen oder bedeutsamen Anliegen richtete er seine Berichte an die Adresse des Reichskanzlers. Diese Praxis bedeutete im Vergleich zu seinem Vorgänger sogar eine stärkere Einbeziehung der Kolonialabteilung. Unter Soden war es noch üblich gewesen, die meisten Schreiben direkt an Bismarck bzw. Caprivi zu richten. Kaysers Strategie ging trotzdem auf, erwirkte doch der Reichskanzler bei seinem kaiserlichen Neffen eine Allerhöchste Kabinettsordre, wonach ab sofort die »gesamte Verwaltung der Schutzgebiete, einschließlich der Behörden und Beamten« der Kolonialabteilung unterstellt wurde. Kayser als deren Direktor fungierte damit in kolonialen Angelegenheiten künftig als ordentlicher Stellvertreter des Reichskanzlers.216 Dabei ging es vor allem darum, der Berliner Zentrale die »nötige Autorität gegenüber den von ihr ressortierenden Behörden und Beamten der Schutzgebiete« zu sichern, zugleich aber war damit ein erster Schritt zu einer von Kayser anvisierten »Umwandlung der Col.-
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BA-MA RM 2/1846, Bl. 103–110, Hellwig vom 19.2.1895, Vermerk; BA-B R 1001/118, Bl. 20, Hamburger Nachrichten vom 17.5.1894; BA-K N 1067/21, Nationalzeitung vom 11.2.1895; ebd., Magdeburgische Zeitung vom 16.2.1895; ebd., Kölnische Zeitung vom 23.2.1895. 213 Kayser an Baron vom 15.12.1894, Schreiben, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 335 (Zitat); vgl. Bührer, Schutztruppe, S. 174. 214 Kayser an Marschall vom 21.11.1894, Bericht, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 541f.; ähnlich: BA-K N 1067/21, Kayser vom 12.2.1895, Vermerk. 215 Dieses Postulat durchzieht die einschlägige Forschungsliteratur. Beispiele: Koponen, Development, S. 100; Bührer, Schutztruppe, S. 173f. 216 BA-B R 1001/6677, Bl. 55–57, Hohenlohe-Schillingsfürst an Wilhelm II. vom 10.12.1894, Immediatbericht; Wilhelm II./Hohenlohe-Schillingsfürst vom 12.12.1894, A.K.O., abgedruckt in: DKG 2, S. 133.
4. Herrschaftspraktiken
Abtheilung in ein Amt« und damit einer Emanzipation gegenüber dem übergeordneten Fachministerium, dem Auswärtigen Amt, getan.217 Schele reagierte prompt auf diese Vorgänge: Unmittelbar nach Bekanntwerden der Kaiserlichen Ordre bot er Hohenlohe-Schillingsfürst seinen Rücktritt an. Dabei erklärte er ausdrücklich, dass er »nicht beabsichtige, mich der Kolonialabteilung zu unterstellen«. Auch berief er sich auf eine ihm »früher von dem Reichskanzler Grafen von Caprivi gemachte […] Zusicherung«, wonach er unmittelbar dem Reichskanzler unterstehe. Überhaupt sei er »nur unter dieser Bedingung nach Ostafrika gegangen«.218 Wenige Tage später trat Schele seinen geplanten Heimaturlaub an. In Deutschland angekommen, wurde er vom Kaiser »gnädig« empfangen; auch verweigerte dieser die Annahme des Demissionsgesuchs.219 An den Reichskanzler schrieb der Monarch, er sei von dem verlangten Rücktritt peinlich überrascht, habe er doch kurz zuvor dem Gouverneur noch den höchsten preußischen Tapferkeitsorden verliehen. Auch könne er angesichts der angeblichen Zusagen Caprivis den Standpunkt Scheles nachvollziehen, weshalb er ihn unbedingt im Amt halten wolle.220 Es bedurfte einigen Drucks, ehe Wilhelm schließlich doch einwilligte. Dabei stellte er wohlwissend fest, er lasse den Gouverneur »Hohenlohes wegen auch gehen, obwohl er den Halunkereien Kaysers, der Kolonialminister werden will, zum Opfer fällt!«221 Andere Beobachter vertraten dagegen die Ansicht, Schele sei derjenige gewesen, der sich »unglaublich benommen« habe und sogar regelrechte Anzeichen von »Größenwahn« hätte erkennen lassen.222 Dabei soll er »in einem gegenüber dem obersten Beamten Ew. K.u.K. Majestät wenig geziemenden Tone« es abgelehnt haben, unter dem »›Juden‹ Kayser« zu arbeiten.223 Gegenüber dem Ostafrika-Referenten der Kolonialabteilung bedauerte Schele am Ende aber, »dass die Sache sich persönlich so zugespitzt habe.«224 217 218 219 220 221
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BA-B R 1001/6677, Bl. 66f., IB (Humbert)/AA vom 27.12.1894, Notiz (Zitat 1); BA-B N 2350/198, Irmer an Bennigsen vom 18.9.1892, Schreiben (Zitat 2). GStA PK Rep. 7/3897, Schele an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 9.1.1895, Rücktrittsgesuch. BA-MA RM 2/1846, Bl. 103–110, Hellwig vom 19.2.1895, Vermerk. BA-K N 1067/21, Wilhelm II. an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 17.2.1895, Handschreiben. Wilhelm II. an Eulenburg vom 21.2.1895, Schreiben, abgedruckt in: Eulenburg, Korrespondenz 3, S. 1480 (Zitat). Der entsprechende Schriftwechsel findet sich in: BA-K N 1067/21; BA-MA RM 2/1846, Bl. 96–102; vgl. Bührer, Schutztruppe, S. 176. Holstein an Eulenburg vom 21.2.1895, Schreiben, abgedruckt in: Eulenburg, Korrespondenz 3, S. 1479. BA-K N 1067/21, Hohenlohe-Schillingsfürst an Wilhelm II. vom 13.2.1895, Immediatbericht (Zitat 1). Von dieser antisemitisch-gefärbten Entgleisung berichtet allerdings als einziger der erst 1897 in den Kolonialdienst eingetretene Schnee in seinen Memoiren, zudem erwähnt er den Sachverhalt im Konjunktiv. Schnee, Gouverneur, S. 12f. (Zitat 2). Zweifellos dürfte aber zutreffen, dass Kayser von seinen politischen Gegnern mitunter »schamlos als ›Jude‹ behandelt« wurde. So in: Spitzemberg, Tgb., S. 365 (14.2.1898). BA-MA RM 2/1846, Bl. 103–110, Hellwig vom 19.2.1895, Vermerk. Bezeichnenderweise antwortete dieser, ihm sei von einer »persönlichen Zuspitzung« nichts bekannt. Nach dem Abgang Kaysers scheint Schele zeitweise als Kandidat für den Posten des Kolonialdirektors gegolten zu haben: Kayser an Eulenburg vom 18.3.1896, Schreiben, abgedruckt in: Eulenburg, Korrespondenz 3, S. 1654; Kayser an Baron vom 19.3.1896, Schreiben, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 555; Holstein an Fürst Radolin vom 22.3.1896, Schreiben, in: Holstein, Papiere 3, S. 538; HStA Stuttgart, Q 2/48 Bü. 10, Ganßer (Kerenge) an seine Eltern vom 13.5.1898, Schreiben.
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4.3.1.2 Hermann Wißmann War der Ausgang der Machtprobe zwischen Kolonialabteilung und Schele keineswegs vorhersehbar gewesen, formierte sich doch frühzeitig eine Riege potentieller Nachfolger.225 Es dürfte kaum überraschen, dass Wißmann erneut um den Gouverneursposten kandidierte. Er war nach seinen Querelen mit Soden schwerkrank nach Deutschland zurückgekehrt, doch war sein ›Kommissarium‹ trotzdem verlängert worden.226 Auch verfügte er inzwischen über einen direkten Draht zu Kayser. Bereits in den ersten Tagen des November 1894 wandte er sich an den Kolonialdirektor und teilte diesem seine Ambitionen mit. Dabei versicherte er, im Erfolgsfalle »kein sehr unbequemer Untergebener« sein zu wollen.227 Da Kayser angesichts seiner Konflikte mit Soden und Schele nichts weniger haben wollte, als einen »so gut wie unabhängig[en]« Gouverneur, traf Wißmann damit den richtigen Ton.228 Kurz darauf – Schele befand sich immer noch im Amt – wurde Wißmann in die Kolonialabteilung kommandiert, wo er eine Denkschrift über die derzeitigen »Mängel der Kolonialverwaltung« ausarbeiten sollte. Dieses Papier entstand kurz nach der Jahreswende 1894/95, wobei Wißmann in gewohnter Manier »von Seiten des praktischen Afrikaners« darauf verwies, »dass die heutige Regierung unserer Kolonien nicht mehr so organisiert ist, dass sie den heutigen Anforderungen genügen kann.« Während er die Amtstätigkeit der bisherigen Gouverneure als eine »absolut bureaukratische« unter Soden und eine »absolut militärische« unter Schele simplifizierte, käme es jetzt darauf an, durch eine Neuordnung »der KolonialRegierung in der Heimat die richtige praktische, allen Anforderungen […] gerecht werdende Verwaltung oder vielmehr Regierung zu finden.« Konkret bedürfe es dazu einer Erhöhung der Etats für die ›Schutzgebiete‹ ebenso wie der Schaffung eines »KolonialAmts« mit einem Staatssekretär an der Spitze.229 Diese Ausführungen waren wohl kalkuliert, entsprachen sie doch exakt den Vorstellungen Kaysers. Der reagierte wie gewünscht und entwarf einen Immediatbericht an den Kaiser, der die Annahme von Scheles Entlassungsgesuch nahelegte und Wißmann als dessen Nachfolger empfahl. Begründet wurde dieser Vorschlag mit Wißmanns Afrika-Expertise, aber auch mit der vermeintlichen Notwendigkeit, diesem gegenüber eine »früher begangene Zurücksetzung wieder gut zu machen«.230 Wilhelm II. zeigte sich je225 Da Schele neben dem Kaiser auch große Teile der Armeeführung auf seiner Seite hatte, urteilte Friedrich v. Holstein, der Kolonialdirektor hätte leicht auch »den Kürzeren […] ziehen« können. Holstein an Bülow vom 21.2.1895, Schreiben, in: Holstein, Papiere 3, S. 448. Kayser selbst war sich seiner Sache ebenfalls keineswegs sicher gewesen: Kayser an Baron vom 15.2.1895, Schreiben, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 542. 226 BA-B R 1001/756, Bl. 63, Caprivi an Wilhelm II. vom 16.5.1894, Immediatbericht; ebd., Bl. 64–66, Kayser an Wißmann vom 26.5.1894, Verlängerung des Kommissariums. Zwar war damit die Übernahme als Beamter verbunden, doch wurde das Jahresgehalt von 25.000 Mark nur für Zeiten der Anwesenheit in Afrika gezahlt. Wißmann erfuhr davon erst im Nachhinein und reagierte verärgert: BA-B N 2139/89, Bl. 42–46, Wißmann (Lauterberg) an Hellwig vom 12.11.1894, Schreiben. 227 BA-K N 1067/21, Wißmann an Kayser vom 10.11.1894, Schreiben. Bereits im Sommer 1894 hatte er sich Kayser empfohlen, sei dieser doch der einzige Vorgesetzte, der ihn mit »gütigem Wohlwollen« behandle. Ebd., Wißmann (Konstanz) an Kayser vom 2.6.1894, Schreiben. 228 Ebd., Kayser vom 12.2.1895, Vermerk. 229 BA-B N 2139/41, Wißmann, o.D. [Anfang 1895], Mängel der Kolonialverwaltung. 230 BA-K N 1067/21, Hohenlohe-Schillingsfürst an Wilhelm II. vom 13.2.1895, Immediatbericht.
4. Herrschaftspraktiken
doch wenig erfreut. Zwar erkannte er an, dass Wißmann ein »gründlicher Kenner afrikanischer Verhältnisse, auch […] ein glücklicher Führer in kriegerischen Unternehmungen« sei. Andererseits sei sein »Charakter jedoch sehr schwer zu nehmen«. Darüber hinaus sei Wißmann für die »Leitung des Offizierskorps« der Schutztruppe »absolut nicht geeignet, da ihm der militärische Sinn für Leitung und Erziehung völlig abgeht; er bedarf der beiden noch selbst.« Auch habe Wißmann sich als Reichskommissar kaum für Verwaltungsfragen empfohlen und besonders auf finanziellem Gebiet »geradezu horrend« gewirkt. Das Fazit des Kaisers lautete daher:231 »Also zu ersprießlicher Friedenstätigkeit eignet er sich nicht. Frisch und fröhlich eine Expedition kommandieren, drauf und dreinschlagen kann er; ein Condottieri, aber weiter nichts.« Selbst als Kayser und Hohenlohe die Unregelmäßigkeiten Wißmannscher Buchführung unter Verweis auf die damaligen militärischen Unwägbarkeiten abzumildern suchten, wollte Wilhelm von dessen Ernennung nichts hören. Knapp bemerkte er gegenüber dem Reichskanzler, man solle sich bei der Auswahl eines Nachfolgers »gut und genau umsehen«, wobei sein Militärkabinett »für Nachfragen jeden Augenblick zur Verfügung« stehe.232 Kaum zufällig bewarb sich nur wenige Tage später der gut informierte Oberst und Regimentskommandeur Liebert beim Kolonialdirektor ebenfalls für den Posten in Daressalam. Auch er wusste scheinbar ganz genau, worauf es ankam, erklärte er doch, er würde sich »im Gegensatz zu Herrn v. Schele« stets den Weisungen der Kolonialabteilung fügen und sein Hauptaugenmerk der »wirtschaftlichen Entwicklung des Landes im Peters’schen Sinne« zuwenden. Trotz seiner hervorragenden Verbindungen – er konnte führende Militärs, wie Waldersee und Schlieffen, ebenso als Fürsprecher aufbieten wie die Lobbyisten Bennigsen Senior und Hammacher – waren Lieberts Bemühungen vorläufig nicht von Erfolg gekrönt.233 Als mindestens ebenso gut vernetzt erwies sich Peters, der wie Wißmann noch immer pro forma als Kommissar amtierte. Auch er hatte seit dem Abgang Sodens keine praktische Verwendung mehr in der Kolonie erhalten und war daher nach Deutschland zurückgekehrt. Erwartungsgemäß ließ er nach dem Bekanntwerden von Scheles Abgang ebenfalls für sich werben.234 Peters war freilich aufgrund seiner Praktiken am Kilimandscharo auch innerhalb des Auswärtigen Amtes umstritten. Als Kayser ihn beispielsweise für eine Auszeichnung vorschlagen wollte, verwahrte sich Schuckmann als damaliger Leiter des ›Ordensreferats‹ vehement gegen ein solches Anliegen. Er plädierte stattdessen dafür,
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Ebd., Wilhelm II. an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 17.2.1895, Antwort auf Immediatbericht; vgl. Frank, Kayser, S. 543; Schnee, Gouverneur, S. 13; Bührer, Forschungsreisender, S. 57. 232 BA-MA RM 2/1846, Bl. 96–98, Hohenlohe-Schillingsfürst an Wilhelm II. vom 18.2.1895, Immediatbericht; BA-K N 1067/21, Wilhelm II. an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 20.2.1895, Antwort auf Immediatbericht (Zitate). 233 Ebd., Liebert an Kayser vom 24.2.1895, Schreiben. 234 Ebd., Frankfurter Zeitung vom 14.3.1895.
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»Dr. Peters zu sagen, dass mit Rücksicht auf die dunkle Hängegeschichte eine Auszeichnung für seine Kilimandscharozeit überhaupt niemals in Frage kommen könne, damit dieser gefährliche Demagoge weiß, dass das Auswärtige Amt noch etwas hat, um ihn kurz zu halten […]. Wird er noch für die Grausamkeiten dekoriert, so ist die Sache beschönigt.«235 Kayser wies dies zwar umgehend zurück. Da Schuckmann aber von seinem Vorgesetzten gedeckt wurde, unterblieb nicht nur die Auszeichnung. Sogar der Kolonialdirektor hielt einen angreifbaren Kandidaten wie Peters für den Gouverneursposten für ungeeignet. Er sollte recht behalten: Als Wilhelm II. einige Zeit später von Peters Ambitionen erfuhr, vermerkte er an den Rand des Schriftstücks lapidar: »Der Himmel bewahre uns davor!«236 Nachdem Schele am 25. Februar 1895 von seinen Amtspflichten entbunden worden war, unterbreitete der Reichskanzler dem Monarchen kurzerhand keine alternativen Personalvorschläge. Zugleich wurde die Vakanz des ostafrikanischen Gouverneurspostens offen in der Presse thematisiert, so dass Wilhelm am 26. April schließlich einlenkte. Davon, dass Wißmann diese Stellung »angetragen« worden sei, wie seine Weggefährten später behaupteten, kann angesichts dieser Vorgänge jedenfalls keine Rede sein.237 Zudem hatte der Kaiser erst nachgegeben, nachdem die Befugnisse des künftigen Gouverneurs deutlich eingegrenzt worden waren.238 Bislang von der Forschung unbeachtet, in den Augen der Zeitgenossen aber kaum ohne Signalwirkung, dürfte die wenige Tage vor Wißmanns Ernennung verfügte Streichung des ›Exzellenz‹-Prädikats für den ostafrikanischen Gouverneur gewesen sein.239 Noch schmerzlicher empfand dieser die ebenfalls auf den Willen des Kaisers zurückgehende Verweigerung des unmittelbaren 235 BA-K N 1067/14, Schuckmann vom 14.2.1894, Vermerk. 236 BA-K N 1067/21, Hohenlohe-Schillingsfürst an Wilhelm II. vom 6.11.1895, Immediatbericht; vgl. BA-B N 2345/41, Bl. 5–8, Exzerpt aus den Akten zum Fall Peters. Danach schwebten von Mai bis November 1895 Verhandlungen zwischen Reichskanzler, Kolonialabteilung und Peters über dessen weitere Verwendung. Peters lehnte dabei eine erneute Unterstellung unter den Gouverneur vehement ab. Die Reichsleitung signalisierte zwar Bereitschaft, ihm eine Stellung als Landeshauptmann am Tanganyika zu verschaffen, doch sei eine Einbindung in die Gesamtverantwortung Wißmanns dann nicht zu umgehen. Die Verhandlungen endeten mit der Versetzung Peters in den einstweiligen Ruhestand unter der Begründung, dass er »sich Wißmann nicht unterordnen wolle.« Vgl. Kayser an Baron, Ende Mai 1895, Schreiben, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 543. Aufgrund seiner Amtsführung in Ostafrika wurde Peters Ende 1897 ohne Pensionsanspruch aus dem Reichsdienst entlassen, 1905 aber durch den Kaiser begnadigt. Perras, Peters, S. 205–230, 234; Schneppen, Fall, S. 875–884. 237 Perbandt u.a., Wißmann, S. 430 (Zitat). 238 BA-K N 1067/21, Kayser an Kiderlen-Wächter vom 25.4.1895, Patent zur Ernennung Wißmanns. Der am 26.4.1895 vollzogenen Ernennung waren Besprechungen Wißmanns mit Hohenlohe (11.4.) und Kayser (18.4.) vorausgegangen, im Zuge derer der künftige Gouverneur die Einschränkungen akzeptiert hatte. Vgl. Schnee, Gouverneur, S. 13. 239 Kabinettsordre vom 17.4.1895 betr. Rang des Gouverneurs von DOA, abgedruckt in: DKG 2, S. 155. Bezeichnenderweise gab der Kommandeur der Schutztruppe per Gouvernementsbefehl bekannt, dass »die Allerhöchste Ordre vom 14. Februar 1891, betreffend die Beilegung des Prädikats ›Exzellenz‹ an den Gouverneur, aufgegeben worden« sei. BA-B R 1001/783, Bl. 159, Trotha vom 31.5.1895, Gouvernementsbefehl Nr. 20.
4. Herrschaftspraktiken
Kommandos über die Schutztruppe.240 Wenn Wißmann sein neues Amt dennoch antrat, dann nur deshalb, weil der Kolonialdirektor ihm eine spätere Korrektur wenigstens der letzteren Entscheidung zugesagt hatte.241 Die Einschränkungen sollten sich rasch auf die Praxis auswirkten. Bereits während der Schiffspassage nach Ostafrika, geriet der neue Gouverneur mit einem Offizier der Kaiserlichen Marine in Streit, da dieser seine Vorrangstellung nicht anerkennen wollte.242 Wiederum anders als von seinen Weggefährten später behauptet, war auch Wißmanns Empfang in der Kolonie keineswegs »von ungekünstelter Freude und Herzlichkeit« geprägt.243 In Wirklichkeit musste er beschämt nach Berlin berichten, dass der Bezirksamtmann in Tanga verspätet zu seinem Empfang gekommen sei, während in Daressalam nicht einmal die Schutztruppe zu seinen Ehren angetreten war. Deren Kommandeur, der aus militärischer Perspektive ranghöhere Oberstleutnant Lothar v. Trotha, war – angeblich wegen unzulänglicher Kommunikation – gar nicht erst zu Wißmanns Begrüßung erschienen.244 Tatsächlich war der Gouverneur nach Ansicht eines Teils seiner Umgebung nicht einmal ein vollwertiger Stabsoffizier, war er doch bereits 1883 aus der Armee ausgeschieden und danach nur vorübergehend reaktiviert worden. Der außer der Reihe verliehene ›Charakter‹ als Major vermochte daran nur wenig zu ändern.245 Als Gouverneur und Zivilbeamter fungierte er formal zwar als »Rath 1. Klasse«, doch verfügte er selbst nach dieser Seite nicht über den ›Stallgeruch‹ des üblicherweise juristisch vorgebildeten höheren Staatsdieners. Darüber hinaus ohne den ausgleichenden Exzellenz-Titel fand Wißmann weder in den Augen vieler Militärs noch der Beamtenschaft eine vorbehaltlose Anerkennung. Nicht wenige sahen in ihm einen bloßen Abenteurer oder »einjährigen Gouverneur«.246 Wißmanns Rückhalt basierte im Wesentlichen auf seiner »Bundesgenossenschaft« mit dem Direktor der Kolonialabteilung sowie dessen Ostafrika-Referenten Anton
240 Bührer, Schutztruppe, S. 85. Dagegen ist die Angabe in Zirkel, Power, S. 98, wonach Wißmann das Kommando über die Schutztruppe besessen habe, unzutreffend. 241 BA-K N 1067/21, Kayser an Wißmann vom 29.4.1895, Schreiben. 242 Ebd., Frankfurter Zeitung vom 22.9.1895. 243 Perbandt u.a., Wißmann, S. 431 (Zitat). 244 BA-K N 1037/21, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 19.10.1895, Bericht; Arenberg vom 13.3.1896, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Bd. 144, S. 1419; vgl. BA-K N 1067/21, Münchner Allgemeine Zeitung vom 23.11.1895, wo von einer »auffallenden Nonchalance« die Rede ist, die Trotha dem neuen Gouverneur gegenüber »an den Tag gelegt« habe. 245 Wißmann war zwischen dem 15.11.1883 und dem 1.1.1889 formal kein Angehöriger der preußischen Armee gewesen. Ab dem 22.5.1889 war er erneut á la suite gestellt. Die ›Charakterisierung‹ als Major erfolgte während seiner Tätigkeit als Reichskommissar und somit wiederum außerhalb eines regulären Kommandos. Nicht nur deshalb ist die Einschätzung bei Zirkel, Power, S. 97, mit Wißmann sei ein »military technocrat« zum Gouverneur ernannt worden, unzutreffend. Vgl. Kapitel 2.3.1. 246 BA-K N 1067/21, Wißmann an Kayser vom 9.7.1895, Schreiben (Zitat). Der Spottbegriff soll in Marinekreisen kursiert haben. Dabei ist ›einjährig‹ nicht etwa chronologisch zu verstehen. Vielmehr handelte es sich um einen Seitenhieb, wonach Wißmann kein vollwertiger Stabsoffizier gewesen und daher einem ›Einjährig-Freiwilligen‹ gleichzustellen sei.
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Hellwig.247 Nicht zuletzt durch die Fürsprache Kaysers, aber auch aufgrund seiner Bekanntschaft mit dem ersten Präsidenten des Deutschen Kolonialvereins, Hermann zu Hohenlohe-Langenburg, konnte Wißmann auch auf die Unterstützung des Reichskanzlers zählen.248 Vor Ort unterstützten ihn dagegen in erster Linie die verbliebenen, häufig aber von den etablierten Kreisen ebenfalls nicht als ebenbürtig eingestuften Genossen aus seiner Zeit als Reichskommissar. Besonders an seinem Regierungssitz Daressalam scheint sich Wißmann regelrecht als Fremdkörper vorgekommen zu sein. Das dortige Gouvernement hatte sich inzwischen zu einer ansehnlichen Behörde entwickelt. Während diese unter Soden noch in drei Fachabteilungen (Allgemeine, Bau-, Zollverwaltung) gegliedert war, waren inzwischen Abteilungen für Finanzen, Landeskultur und Landesvermessung hinzugekommen. Darüber hinaus gab es eine – teilweise eigenständige – Abteilung für Justizverwaltung. War Soden von einem anfänglichen Personalbedarf für das Gouvernement von 57 Beamten ausgegangen, hatte sich deren Anzahl auf mehr als das Doppelte erhöht.249 In den Augen mancher Betrachter war aus dem Verwaltungssitz daher »eine richtige Beamtenstadt« geworden, so dass sich die ehemals dominierenden Militärs dort in der Unterzahl befanden. Dabei mangelte es offenbar nicht an entsprechenden Vorurteilen, hielt doch beispielsweise der Sanitätsoffizier Ernst Julius Berg die »Gouvernements-Beamten, die ›Papiermüller‹«, für die »schlimmsten« unter den Staatsdienern.250 Selbst in Wißmanns Antritts-Proklamation trat diese Distanz offen zu Tage, warnte er seine Verwaltungsbeamten doch davor, einem »unfruchtbaren Bureaukratismus zu verfallen«. Ihre »vornehmste Aufgabe« sei stattdessen in einer »Förderung jeder wirtschaftlichen oder sonstigen kulturellen Bestrebungen anzusehen«.251 In bewusster Übertreibung schrieb er bezeichnenderweise an Kayser, die Europäer der Kolonie bestünden zu achtzig Prozent aus Beamten.252 Dem Zeugnis Schnees zufolge soll er deshalb die Entsendung weiterer Staatsdiener kategorisch abgelehnt haben. Stattdessen setzte er seinen langjährigen Adjutanten und Vertrauten Theodor Bumiller als 247 BA-K N 1067/21, Wißmann (an Bord ›Preußen‹) an Kayser vom 8.7.1895, Schreiben (Zitat). 248 Vgl. Bührer, Schutztruppe, S. 85, die eine direkte Förderung durch Hohenlohe-Schillingsfürst vermutet. Tatsächlich zeichnete für diesen Rückhalt aber in erster Linie der Kolonialdirektor verantwortlich. Wißmanns keineswegs unmittelbare Zugangsmöglichkeit zum Reichskanzler erschließt sich aus der folgenden Passage: »Wenn Herr Geheimrat glaubt, dass es angebracht ist, will ich durch [Hermann zu] Hohenlohe Langenburg den Herrn Reichskanzler dementsprechend fragen lassen, derselbe hat mir das sehr gütig nahegelegt.« BA-B N 2139/89, Bl. 42–46, Wißmann (Lauterberg) an Hellwig vom 12.11.1894, Schreiben. Die Tatsache, dass Wißmann im Januar 1893 zu Ehren von Hermann zu Hohenlohe-Langenburg einer Station am Nyassa-See den Namen ›Langenburg‹ gab, belegt diesen Konnex ebenfalls. 249 TNA G 1/1, Soden, o.D. [Frühjahr 1891], Etatvoranschlag für Rj. 1891/92; DKB 6 (1895), S. 268f.; JB 1896/97, S. 944. 250 Aufzeichnung Ernst Julius Berg, Sommer 1894, zitiert nach: Grüntzig/Mehlhorn, Koch, S. 363. 251 Wißmann, Ansprache, S. 289f. 252 BA-K N 1067/21, Wißmann (Daressalam) an Kayser vom 21.10.1895, Schreiben. Tatsächlich kamen keineswegs »auf je 10 Europäer der Kolonie 8 Staatsbeamte«, wie Wißmann schrieb. Vielmehr weisen die amtlichen Zahlen zur Jahreswende 1895/96 182 Beamte und rund 160 Schutztruppenangehörige bei einer Gesamtzahl von 922 Europäern aus. JB 1896/97, S. 944; DKB 6 (1895), S. 644–649.
4. Herrschaftspraktiken
Verwaltungschef ein.253 Die Abneigung gegen seinen Verwaltungsapparat offenbart sich nicht zuletzt aus einem Bericht, in dem der Gouverneur behauptete, bei seiner ersten Antrittsreise sei er überall »auf das Freundlichste empfangen« worden, mit Ausnahme im »europäisch gewordenen Dar-es-Salam«.254 Leider mangelt es an verlässlichen Zeugnissen, ob diese distanzierte Haltung von Seiten der Beamtenschaft erwidert wurde, doch ist dies anzunehmen.255 Im Hinblick auf sein Regierungsprogramm suchte sich Wißmann erwartungsgemäß von seinen Vorgängern abzusetzen, gleichzeitig aber auch den Wünschen seiner Unterstützer in Deutschland nachzukommen. Bereits nach der Rückkehr von den beiden sofort angetretenen Inspektionsreisen in sämtliche Küstenbezirke behauptete er selbstbewusst, dass die Kolonie seit seiner letzten Anwesenheit »kaum nennenswerte Fortschritte« aufzuweisen habe, da Soden »außer dem Straßenbau von Daressalam nur Verordnungen erlassen«, Schele dagegen »seine Hauptaufgabe in dem Wahehe- und Kilimandscharokrieg gesehen« hätte.256 Angesichts dieser Voraussetzungen hielt er den Zeitpunkt für gekommen, die »eigentlich koloniale Aufgabe der Verwaltung« in Angriff zu nehmen. Er verstand darunter die »wirtschaftliche Erschließung der Kolonie für das Mutterland« einerseits und eine »kulturelle Hebung der eingeborenen Bevölkerung« andererseits.257 Ungeachtet dieser Abgrenzungsversuche setzte Wißmann zugleich die Bestrebungen seiner Vorgänger fort, den deutschen Einfluss ins Landesinnere auszudehnen.258 Nicht zuletzt aus Mangel an Geld und Personal hatte bereits Schele gegen Ende seiner Amtszeit den Versuch unternommen, durch eine Neuordnung der Verwaltungsbezirke eine Stabilisierung des administrativen Torsos zu erreichen. Zwar hatte er festgestellt, dass die Fixierung einiger Stationsgrenzen »nach dem Innern zu« vorläufig noch »keinen Zweck« habe, während bei den drei besonders fern der Küste gelegenen Stationen Victoria-Nyanza, Tabora und Langenburg Grenzziehungen generell illusorisch seien. Zugleich hatte Schele die übrigen Bezirks- und Stationsleiter angewiesen, die Einheimischen »in freundlicher Weise über die neue Einteilung zu unterrichten und anzuweisen«.259 Dabei hegte er vermutlich die Hoffnung, auf diese Weise die Existenz der rudimentären Verwaltungsstrukturen im Bewusstsein der afrikanischen Gesellschaften ver253 Schnee, Gouverneur, S. 11. Angeblich soll Wißmann nach Berlin gedrahtet haben: »Sendung Beamter nicht nötig, Bumiller macht alles.« Zu Bumiller neuerdings: Gißibl, Kolonialismus; Niederau, Akteur. 254 BA-B R 1001/237a, Bl. 23–35, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 24.8.1895, Bericht. 255 Eine Ausnahme dürfte der inzwischen zum Oberrichter aufgestiegene Victor Eschke darstellen, der Wißmann bereits 1891 positiv dargestellt hatte. BA-B R 2146/22, Eschke (Bagamoyo) an König vom 1.4.1891, Schreiben. 256 BA-K N 1067/21, Wißmann (Daressalam) an Kayser vom 21.10.1895, Schreiben. Wißmann hatte im August und September 1895 die Küstenbezirke bereist. Die entsprechenden Berichte finden sich in leicht gekürzter Form in: DKB 6 (1895), S. 478–481 und S. 537–540. Vollständige Berichte in: BA-B R 1001/237a, Bl. 23–35 und Bl. 36–47. 257 Wißmann vom 24.7.1895, Programm, abgedruckt in: DKZ 8 (1895), S. 289f. 258 Vgl. Pesek, Herrschaft, S. 271f. 259 Schele vom 25.8.1894, Runderlass betr. Abgrenzung der Bezirke, abgedruckt in: DKG 2, S. 123–125; Schele vom 4.1.1895, Runderlass betr. Abgrenzung der Bezirke, abgedruckt in: ebd., S. 135.
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ankern zu können. Aus seiner Perspektive war das durchaus konsequent, wurden doch die Grenzziehungen ohne jede Rücksicht auf die lokalen Interessen der Indigenen vorgenommen.260 Auch wenn er die Kernaufgabe der Stationen im Inneren, nämlich die Aufrechterhaltung der »Ruhe in ihrem Bezirke«, in erster Linie als eine militärische sah, hatte auch Schele auf intermediäre, einheimische Organe gesetzt. Dabei sollten sich die Stationsleiter vor allem auf die »Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Häuptlingen« beschränken, sich ansonsten aber jeglicher »Einmischung in die inneren Angelegenheiten enthalten« und – nicht anders als das Soden angeordnet hatte – dafür Sorge tragen, »dass die Gebräuche der Eingeborenen berücksichtigt werden und die einheimischen Häuptlinge deutsch-freundlich erhalten bleiben, ohne dass das Ansehen der Regierung darunter leidet.«261 Im Sinne einer simplen divide et impera-Politik war Schele nicht zuletzt darum bemüht gewesen, den status quo unter den einheimischen Autoritäten zu wahren. Als er beispielsweise den Eindruck gewonnen hatte, der Einfluss des Jumben von Kikundi gegenüber seinen nachgeordneten Amtskollegen habe sich verringert, bestellte er kurzerhand die »verschiedenen Jumben […] nach Dar-es-Salam […], um in einem Schauri die Angelegenheit zu entscheiden.« Dasselbe Spiel inszenierte er mit »denjenigen des Distrikts von Mrogoro […], wo die Herrschaft des Kingo mkuba auch etwas ins Wanken gekommen zu sein scheint.«262 Für eine wenigstens partielle Auflockerung des gängigen Bildes vom Nur-Soldaten Schele spricht ferner ein Minimum an äußerlicher Anpassung an die vermuteten Erwartungen einheimischer Machthaber. An den »hochgelobten und gerechten Wali von Tabora Schech Sef bin Sad« richtete er beispielsweise am 25. März 1893 folgendes Schreiben:263 »Friede sei mit Dir und Segen Gottes des Barmherzigen! Ich habe Dein Schreiben erhalten, welches Du am 7. Rahab 1310 [27. Januar 1893] an mich gerichtet hast, und danke Dir dafür. Ich habe mich über die guten Nachrichten gefreut, die aus Unyanyembe gekommen sind, und hoffe, dass jetzt nach dem Tode des Übeltäters Sike wieder dort Ruhe, Frieden und ungestörter Handel sein wird. Ebenso habe ich mit Genugtuung gehört, dass die Karawanen aus Ujiji zur Küste kommen werden und dass nach der Regenzeit auch Eure Karawanen nach der Küste aufbrechen werden. Ich hoffe, dass Du Dein dem Gouverneur v. Soden, an dessen Stelle ich jetzt vom Kaiser hierhergeschickt bin, gegebenes Versprechen halten und die Karawanen nach Dar-es-Salam über die Mafifi-Fähre senden wirst. […] Ich hoffe, die Karawanen werden bald kommen, so Gott will. Ich bin Dein Freund.« Bei Schech Sef bin Sad handelte es sich zweifellos um einen etablierten indigenen Machthaber, mit dem man sich angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse einstweilen besser gut stellte, so dass auch eine weitergehende Einmischung in die inneren Verhältnisse unterblieb. Etwa zeitgleich berichtete der damalige Forschungsreisende Götzen 260 261 262 263
Vgl. Eckert, Herrschen, S. 34. JB 1893/94, S. 12. Schele, Expedition, S. 147. Schele, Schriftwechsel, S. 225f.
4. Herrschaftspraktiken
über die Bandbreite indirekt ausgeübter Herrschaft auf der lokalen Ebene. Im Hinterland von Pangani begegnete ihm beispielsweise ein »erschreckend magerer, freundlich lächelnder alter Mann, mit der Erklärung, er sei hier der Häuptling und freue sich, wieder einmal weiße Männer bei sich zu sehen. Dabei überreichte er mir ein Packet [sic!] schmutziger Papiere, von denen das erste eine Bestätigung seiner Würde für den Häuptling Damasi – so nannte er sich – durch das Kaiserlich deutsche Gouvernement war, während die anderen Bescheinigungen über anständiges Benehmen europäischen Karawanen gegenüber enthielten.«264 Diesem Beispiel eines von der Kolonialmacht eingesetzten und vollständig abhängigen Amtsträgers stellte Götzen den Vali und Distriktchef von Kondoa, Mohamed ben Omar, gegenüber. Dieser habe nicht nur die lokale Verwaltung repräsentiert, sondern auch über Streitfragen unter den Einheimischen selbständig entschieden. Zwar diente auch ihm die deutsche Flagge als äußeres Zeichen seiner Befugnisse, doch ist anzunehmen, dass angesichts der in Kondoa damals noch gänzlichen Abwesenheit deutscher Amtsträger traditionelle Herrschaftspraktiken und Beziehungsgeflechte die dominante Rolle im Alltagsleben spielten.265 Auch unter der Ägide Wißmanns stellte der Ausbau des nach wie vor rudimentären Herrschaftsapparates im Landesinnern einen Tätigkeitsschwerpunkt dar. Binnen dreier Monate gab er mehrere Erlasse heraus, die alle auf eine effektivere Verwendung der knappen Ressourcen abzielten.266 Nicht zuletzt galt das für das Personal, war doch lediglich jeder Fünfte der in der Kolonie befindlichen Offiziere und Beamten auf den meist als Militärstationen ausgewiesenen Verwaltungsplätzen im Innern eingesetzt.267 Zwecks stärkerer Konzentration der verfügbaren Mittel teilte Wißmann die Stationen in zwei Kategorien ein. Danach galten diejenigen der I. Klasse als »voraussichtlich für lange Zeit bleibend«, weshalb sie im Hinblick auf Ausstattung, Bauten und Personal »reichhaltiger bedacht« werden sollten. Der Fortbestand der Stationen II. Klasse sei dagegen als »zweifelhaft« anzusehen.268 Bei dieser Ankündigung blieb es nicht, ließ der Gouverneur doch wenig später die beiden nachrangigen Stationen Masinde und Kisaki auflösen.269 Im Gegenzug forderte er, die »Stationen am Victoria, Tabora, Tanganyka u. Nyassa müssen Bezirke werden, auch Mpwapwa, dann wird sich alles besser machen.«270 264 Götzen, Afrika, S. 21. 265 Ebd., S. 23f. Generell zur Konstruktion von ›Häuptlingstümern‹: Alber, Gewand, S. 153–179. Zur Instrumentalisierung von Akiden und Jumben in DOA: Tetzlaff, Entwicklung, S. 39–46; Eckert, Herrschen, S. 34. 266 Die einschlägigen Erlasse vom 5.10., 13.11., 21.11., 14.12.1895 und 7.1.1896 sind abgedruckt in: DKG 2, S. 184, 199, 200, 204f., 206f. 267 JB 1896/97, S. 944. In den Küstenbezirken befanden sich 272, auf den Innenstationen dagegen etwa siebzig Beamte und Offiziere. Allein die Tatsache, dass der Jahresbericht die zweite Zahl als »schätzungsweise« kennzeichnet, besagt einiges über die wenig kontrollierbaren Verhältnisse im Landesinnern. 268 Wißmann vom 21.11.1895, Gouvernementsbefehl, abgedruckt in: DKG 2, S. 200. 269 Wißmann vom 7.1.1896, Gouvernementsbefehl, abgedruckt in: ebd., S. 206f. 270 BA-MA N 2139/89, Bl. 49–58, Wißmann (Lauterberg) an Kayser vom 20.7.1896, Schreiben.
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Konkreter als die beiden ersten Gouverneure scheint sich Wißmann auch mit der praktischen Tätigkeit von Bezirksämtern und Stationen auseinandergesetzt zu haben. Anlässlich einer Reise nach dem Binnenland im Frühjahr 1896 glaubte er feststellen zu können, dass die »Organe des Gouvernements sich noch nicht genügend mit den Eingeborenen ihres Bezirkes beschäftigen«.271 Daher forderte er seine Verwaltungschefs auf, in einen »näheren Verkehr mit denselben zu treten, die Häuptlinge mehr zu überwachen, vor allem aber auch Anforderungen zu stellen an die Eingeborenen, die denselben klar machen, dass sie für den Schutz, den sie von uns genießen, auch Gegenleistungen zu erlegen haben.« Die damit angesprochene Einführung einer Besteuerung der Indigenen würde nach den Vorstellungen Wißmanns eine »ganz neue Periode der Verwaltung« einläuten.272 Dabei schwebte ihm eine weit engere Anbindung einheimischer Autoritäten an die Stationen vor, als das bis dahin der Fall war. Im Einzelnen sollten Abgabenerhebung und intermediäre Verwaltungstätigkeit Hand in Hand gehen: »Es darf natürlich nicht daran gedacht werden, dass der Stationschef die einzelnen Dörfer oder Gehöfte abschätzt und zahlungspflichtig macht, sondern es muss ein Instanzenweg geschaffen werden, der die Durchführung erleichtert. Der Stationschef wird zunächst die größeren Stammeshäuptlinge verantwortlich machen, er wird ihnen bei den statistischen Vorarbeiten helfen, sie ihren Unterorganen gegenüber unterstützen und zur Durchführung der Zahlung verpflichten. Der Stammeshäuptling hält sich an die Dorfhäuptlinge oder Dorfältesten, diese an die Dorfbewohner. Überall steht die Station, die Autorität, schützend hinter den verantwortlichen Dorfschulzen und Häuptlingen.« Als entscheidend für den Erfolg dieses Vorhabens erschien ihm die individuelle »Begabung des Stationschefs oder Bezirkshauptmanns« im persönlichen Verkehr mit den intermediären Akteuren. Da jedoch vorläufig die Leitung der meisten Stationen im Landesinnern in der Hand von Offizieren lag, wurden Wißmann rasch die Grenzen seiner überwiegend auf den zivilen Bereich beschränkten Befugnisse vor Augen geführt. Ein Beispiel stellt der Stationsleiter von Kilossa, Georg v. Elpons, dar. Dieser führte im Herbst 1895 Friedensverhandlungen mit den Hehe, von denen sich der Gouverneur viel versprach. Um Elpons auch weiterhin für diesen Zweck einsetzen zu können, musste er aber erst den Reichskanzler bitten, das für einschlägige Personalfragen zuständige Reichsmarineamt um eine Genehmigung zu ersuchen.273 Auch die Schutztruppe war für Wißmann nur mit Einschränkungen nutzbar. Zwar konnte er deren taktische Verwendung prinzipiell in Abstimmung mit dem Kommandeur anordnen. Bei größeren Unternehmungen war das aber nicht immer einfach, wie
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BA-B R 1001/237a, Bl. 48–52, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 26.3.1896, Bericht. 272 BA-B R 8023/885, Wißmann vom 9.1.1897, Ein neues Kultursystem für Deutsch-Ostafrika (Beilage zu DKZ Nr. 1, S. 1–3). Die Schrift erschien zwar kurz nach seiner Abberufung, spiegelt aber die wesentlichen Absichten Wißmanns wider. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben. 273 BA-B R 1001/286, Bl. 99, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 24.10.1895, Bericht. Zu den Friedensverhandlungen: Morlang, Wahehe, S. 86.
4. Herrschaftspraktiken
ein Beispiel verdeutlichen soll. Nachdem Wißmann im Herbst 1895 gemeldet worden war, dass das Hinterland von Kilwa durch angebliche Räuberbanden beunruhigt werde, erteilte er Trotha die Order, eine militärische Expedition in Stärke von vier Kompanien zusammenzustellen.274 Zuvor hatte der Gouverneur dem Reichskanzler nicht nur von seinen Absichten berichtet, sondern von diesem auch eine telegraphische Genehmigung für die Durchführung des Unternehmens erbeten. Der Befehl an Trotha zum Abmarsch erging tatsächlich erst nach Eingang der Zustimmung aus Berlin.275 Zu diesem schwerfälligen Verfahren kam ein latenter Konflikt zwischen Gouverneur und Kommandeur. Dessen Ursachen lagen jedoch keineswegs einzig in der Person Trothas begründet, wie von den zeitgenössischen Wißmann-Anhängern kolportiert.276 Ausweislich der Quellen hielt sich vielmehr Trotha im Wesentlichen an die Instruktionen des Gouverneurs, so dass von einer angeblichen Insubordination wenig zu erkennen ist. Die Berichte des Kommandeurs aus dem Feldlager bestätigen diese Einschätzung:277 »Ich gedenke, wenn das Gouvernement keine Änderung in der ganzen Anlage [der Operation] […] beabsichtigt, 14 Tage bis 3 Wochen zu dieser Expedition zu verwenden. Wenn ein exekutives Einschreiten gegen Machemba notwendig ist, so gehe ich natürlich mit den 3 verfügbaren Kompagnien herunter, wenn ein friedlicher, sozusagen repräsentativer Zug zu Machemba im Plane des Gouvernements liegt, so bitte ich, den Kompagnieführer Ramsay oder Fromm damit beauftragen zu dürfen, da ich das Maruji-Gebiet für unendlich wichtig für kolonisatorische Gedanken halte und gern das Gebirgsland noch genau kennen lernen möchte. […] Wenn das Gouvernement damit einverstanden ist, bitte ich, mich telegraphisch nach Kilwa zu benachrichtigen.« Dementsprechend beruht das neuerdings seitens der Forschung aufgestellte Postulat, Trotha habe alle ihm von Wißmann erteilten Direktiven als »zwecklos« verworfen, auf einer verkürzten Wiedergabe der Quelleninhalte.278 Tatsächlich hatte der Kommandeur gegenüber dem Gouverneur lediglich den Bau einer Straße durch das Hinterland von Kilwa aufgrund der ungünstigen Geländeverhältnisse abgelehnt.279 Neben den weiterhin ungeklärten Rangverhältnissen verhinderten stattdessen vor allem Wißmanns Am274 BA-B R 1001/286, Bl. 136f., Wißmann (Daressalam) an Trotha vom 4.10.1895, Instruktion. 275 Ebd., Bl. 86–89, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 1.10.1895, Bericht; ebd., Bl. 95, KA an Wißmann vom 25.10.1895, Telegramm; ebd., Bl. 130–133, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 20.11.1895, Bericht. Die Genehmigungspflicht für größere Unternehmungen ging auf eine Kabinettsordre vom 12.12.1894 zurück. Vgl. Bührer, Schutztruppe, S. 173. 276 Perbandt u.a., Wißmann, S. 456; Leutwein, Wißmann, S. 40. Bei Paul Leutwein liegt noch ein weiteres Motiv für seine Aversion gegen Trotha vor, hatte dieser doch im Herbst 1904 maßgeblich zum Rücktritt seines Vaters als Gouverneur von DSWA beigetragen. Diese einseitige Lesart wurde dennoch ungeprüft von der Forschung übernommen: Bührer, Schutztruppe, S. 85, 176f.; Kamissek, Trotha, S. 82–84. Zum Konflikt zwischen Leutwein und Trotha siehe Kapitel 4.3.3. 277 BA-B R 1001/286, Bl. 136f., Wißmann (Daressalam) an Trotha vom 4.10.1895, Instruktion; ebd., Bl. 139–142, Trotha (Lager am Marnji) an Wißmann vom 15.11.1895, Bericht (Zitat). 278 Vgl. Kamissek, Trotha, S. 83. 279 Trotha, Bericht, 99–102. Kaum haltbar ist auch die Vermutung in Kamissek, Trotha, S. 82, Wißmann habe nach seiner Ankunft in DOA die Inspektionsreisen entlang der Küste nur deshalb unternommen, um die Aufgabenteilung zwischen Gouverneur und Kommandeur zu unterlaufen. Siehe hierzu die Ausführungen weiter oben.
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bitionen eine wirkliche Kooperation zwischen beiden. Sein Drang, den Verlauf der Expedition von Daressalam aus zu kontrollieren, äußerte sich beispielsweise in etlichen telegraphischen Rückfragen. Überdrüssig antwortete Trotha schließlich, er habe innerhalb zweier Wochen vier Berichte an das Gouvernement abgeschickt und nur deshalb über das Vorgehen des chiefs Machemba noch nichts verlauten lassen, »da nichts passierte«.280 Den ungeduldigen Wißmann hielt es schließlich nicht länger in Daressalam, so dass er selbst nach Kilwa und Lindi aufbrach, um über den inzwischen gefangenen Hassan bin Omari und seine Gefolgsleute persönlich zu richten.281 Es ist offenkundig, dass der Gouverneur mit einem solchen Vorgehen zugleich in aller Öffentlichkeit seine Vorrangstellung zu demonstrieren suchte. Dazu kam seine Selbstwahrnehmung als Herr über Leben und Tod, so dass die Urteile vorhersehbar waren. Ein bemerkenswertes Zeugnis des Augenzeugen Mwalim Mbaraka bin Shomari liefert ein plastisches Bild des Geschehens aus afrikanischer Perspektive:282 »Vier Tage lang blieben sie [Wißmann und sein Gefolge] dorten, Gericht in der Feste [zu Kilwa] zu halten, da wurde für Hassan befohlen, für ihn eine Schlinge zu wählen. Es wurde das Horn nun geblasen, Mitteilung den Leuten zu machen: ›Hassani den Tod soll erleiden, kommt alle und schaut die Vollstreckung.‹ […] Und als es anfing zu tagen beschlich die Leute ein Zittern. Sobald die achte Stunde gekommen, hingen alle Schlingen bereit. […] Sofort knüpfte man sie auf dort mit Binden vorher noch bekleidet, ihr Gesicht damit zu bedecken, dahin drauf schwanden die Seelen. So wurden die Männer gerichtet, Tatkraft besitzende Leute, dazu auch aus gutem Geschlechte; die Augen uns standen voll Tränen. Und andre man führte von dannen und lud sie in einen Dampfer, den Tod dort in Lindi zu leiden, […]. Der Herrscher von uns Herr Wißmann fuhr hin mit ihnen den vieren,
280 BA-B R 1001/286, Bl. 139–142, Trotha (Lager am Marnji) an Wißmann vom 15.11.1895, Bericht. 281 BA-B R 1001/287, Bl. 9–12, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 16.12.1895, Bericht. 282 Zitiert nach: Velten, Suaheli-Gedichte, S. 130f.
4. Herrschaftspraktiken
sie dort an die Schlinge zu hängen, den Leuten von Lindi zur Warnung.« Während Wißmann über die ›Rebellen‹ persönlich zu Gericht saß und mehrere Todesurteile verhängte, forderte er dagegen wenig später seine Bezirkschefs zur Mäßigung auf. Sie sollten die Vorschriften peinlich genau beachten und Verurteilungen nur dann vornehmen, wenn die Angeklagten zweifelsfrei überführt seien.283 Anordnungen wie diese liefern allerdings in erster Linie Eindrücke einer vermutlich entgegengesetzten Rechtspraxis. Auch hatte Wißmann sie nicht aus freien Stücken herausgegeben. Vielmehr waren aus fast allen ›Schutzgebieten‹ Nachrichten nach Berlin gelangt, aus denen sich keineswegs ein ›zivilisiertes‹ Vorgehen gegen die Einheimischen ablesen ließ. Hohenlohe-Schillingsfürst hatte daher die Notwendigkeit gesehen, eine Verfügung zu erlassen, nach der es künftig untersagt war, in »Gerichtsverfahren über Eingeborene […] zur Herbeiführung von Geständnissen und Aussagen andere als die in den deutschen Prozeßordnungen zugelassenen Maßnahmen« zu ergreifen. Darüber hinaus verbot er ausdrücklich »außerordentliche Strafen, insbesondere […] Verdachtsstrafen« zu verhängen.284 Die faktische Wirkung dieser und anderer Erlasse darf jedoch als begrenzt angenommen werden. Ohnehin erschienen dem Gouverneur andere Angelegenheiten wichtiger. Besonders hart traf es ihn, dass der Kaiser auch seine Ernennung zum stellvertretenden Kommandeur der Schutztruppe ablehnte. Gegenüber dem Kolonialdirektor beklagte sich Wißmann bitter:285 »Ich habe mehr als 30 Gefechte geführt, deren Ausgang nie zweifelhaft blieb und jetzt muss ich Trotha als dem Kommandeur der Schutztruppe, der eigentlich afrikanische Verhältnisse des Inneren kaum beurteilen kann und noch nie in Afrika gefochten hat, die Erledigung dieser militärischen ziemlich schwierigen Aufgabe überlassen.« Dabei erklärte er, die Verantwortung als Gouverneur weiterhin nur dann übernehmen zu können, wenn er neben den zivilen auch die militärischen Kompetenzen erhalte. Eine eigene Eingabe an den Kaiser wagte der Gouverneur jedoch nicht, da er befürchtete, »dass Seine Majestät dies als Misstrauensvotum gegen den von ihm ernannten Kommandeur auffassen könnte.«286 Wißmanns Klage blieb nicht ungehört. Bald darauf begann Kayser eine Neukonfiguration des Verhältnisses zwischen Schutztruppe und Kolonialverwaltung vorzubereiten. Dazu entwarf er eine erste Denkschrift an den Reichskanzler, in der er die angeblichen
283 Wißmann vom 4.4.1896, Gouvernementsbefehl betr. Gerichtsverfahren gegen Eingeborene, abgedruckt in: DKG 2, S. 215. 284 Hohenlohe-Schillingsfürst vom 27.2.1896, Verfügung betr. Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen Schutzgebieten, abgedruckt in: ebd., S. 213f. 285 BA-K N 1067/21, Wißmann (Daressalam) an Kayser vom 21.10.1895, Schreiben. Zur Ablehnung Wißmanns als stellvertretender Kommandeur: Ebd., Hollmann (Reichsmarineamt) an KA vom 21.8.1895, Erlass; vgl. BA-B N 2345/15, Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 27.4.1896, Schreiben. 286 BA-K N 1067/21, Wißmann (Daressalam) an Kayser vom 21.10.1895, Schreiben.
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Verdienste Wißmanns unterstrich und diesen als den eigentlichen Schöpfer der Schutztruppe in Ostafrika rühmte.287 Unter dem Einfluss Caprivis habe die Entwicklung jedoch einen verhängnisvollen Weg genommen, da diesem eine Truppe vorgeschwebt habe, die »einem heimischen Regiment gleichwertig sein u. der Dienst in ihr demjenigen in Armee u. Marine gleichkommen sollte.« Das Resultat sei das an sich zwar durchaus zweckmäßige Schutztruppengesetz von 1892 gewesen, doch sei durch die darin geregelte Einschaltung des Reichsmarineamts ein unheilvoller »Dualismus« zwischen Militärs und Zivilverwaltung geschaffen worden. Kayser zufolge hätte man besser dem »Vorbild der ausländischen Kolonien und besonders der englischen« nacheifern sollen, wo die Streitkräfte aus guten Gründen dem Gouverneur unmittelbar unterständen: »Denn in einer jungen Kolonie darf nur einer regieren und der Heimat gegenüber die volle Verantwortlichkeit tragen.« Die Schutztruppe sei daher besser in eine »Gendarmerie« umzuformen. Mit Blick auf Wißmann forderte Kayser, dass dann der Gouverneur auch den »Kommandobefehl haben« müsse. Gleichzeitig seien die organisatorischen und personellen Fragen vom Reichsmarineamt an die Kolonialabteilung überzuleiten. Am Ende seiner Denkschrift entwarf der Kolonialdirektor für den Fall, dass seine Forderungen nicht erfüllt würden, ein überzogenes Szenario. Dann sei es ihm zufolge besser, »wenn die gesamten Kolonien der Militär- oder Marineverwaltung ausschließlich unterstellt würden. Dann wird wenigstens dieselbe Behörde, die die Ausgaben macht u. das Geld fordert, ihre Forderungen vor Bundesrat u. Reichstag zu vertreten haben u. sich in dieser Hinsicht wenigstens einige Schranken auferlegen. Dann werden unsere Kolonien freilich reine Militärkolonien werden. Ob dort wirtschaftliche Unternehmungen gedeihen werden, ist nicht mehr die Frage.« Die Wirkung des Papiers blieb nicht aus. Nach der Lektüre suchte Hohenlohe-Schillingsfürst beim Kaiser um einen Immediatvortrag nach, der am 8. Januar 1896 zustande kam.288 Für diesen Termin hatte Kayser eine zweite Denkschrift verfasst, in der aber mit Blick auf den Monarchen das Loblied auf Wißmann bewusst weggelassen wurde.289 Auch sonst ging das Schriftstück geschickt auf den Adressaten ein, enthielt es doch den Vorschlag, die Schutztruppen aus der »Weltmachtspolitik des Reichs über See« auszunehmen und stattdessen eine »Vergrößerung unserer Kriegsmarine« sowie der »für überseeische Aktionen bestimmten Marine-Infanterie« ins Auge zu fassen.290 Ohnehin seien die Kolonialtruppen lediglich für die »Aufrechterhaltung von Ruhe und Sicherheit 287 BA-B N 2139/42, Kayser vom 12.12.1895, Denkschrift (Entwurf). Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Vgl. Bührer, Schutztruppe, S. 104, 106f., die dieses aufschlussreiche Papier leider nicht berücksichtigt. 288 Ebd., S. 104, 107. Dort ist der 10.1.1896 als Termin für den Immediatvortrag angegeben, doch scheint dieser bereits zwei Tage früher stattgefunden zu haben: Kayser an Baron vom 8.1.1896, Schreiben, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 551. 289 BA-MA RM 2/1558, Bl. 53–62, Kayser vom 7.1.1896, Denkschrift. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben. Ausführlich hierzu: Bührer, Schutztruppe, S. 106f. 290 Vgl. Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 32 (Journal, 31.1.1895). Danach habe sich der Kaiser bereits gut ein Jahr zuvor unzufrieden über die Organisation der kolonialen Truppen geäußert und gefordert, dass die Marine-Infanterie den Kern einer künftigen »Kolonialarmee« bilden solle. Die Schutztruppen sollten dieser lediglich angegliedert werden.
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in der Kolonie, insbesondere gegen die Übergriffe der eingeborenen Stämme«, geeignet. Die bisherige Anbindung an die Marineverwaltung hätte deshalb nicht nur keinen Nutzen, sondern sie führe angesichts der »unfertigen, dauernd in Fluss begriffenen Verhältnisse« in den Kolonien zwangsläufig zu »Mißstimmungen und Zwistigkeiten«. Solche »Reibungen« würden nicht zuletzt auf die Einheimischen einen ungünstigen Eindruck ausüben, während sie in den eigenen Reihen den »Blick von der Erfüllung der großen zivilisatorischen und wirtschaftlichen Aufgaben« ablenken würden. Im Hinblick auf die »Besetzung der Militärstationen im Innern« wurde moniert, dass der »Gouverneur, der für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und des Friedens allein die Verantwortung trägt, […] bei der Auswahl der Offiziere für solche Stellen und bei der Ausführung seiner Befehle […] ausschließlich von dem Kommandeur abhängig« sei. Aus den genannten Gründen ergäbe sich zwingend die Notwendigkeit des Handelns: »Muss der Gouverneur […] als Vertreter des Souveräns angesehen werden, so kann es folgerichtig neben ihm keine zweite gleichgeordnete Gewalt geben. Dem Gouverneur liegt das Wohl und Wehe der gesamten Bewohner der Kolonie ob; von seinem Tun und Lassen ist Gedeih und Verderb des Schutzgebiets abhängig. Es erscheint geboten, ihm die Truppe vollkommen unterzuordnen, da er in seiner Person und für die Zeit seines Postens für Deutsche, wie für Ausländer und Eingeborene den Allerhöchsten Herrn darstellt, dessen Autorität in keiner Hinsicht gemindert werden sollte.« Auch die postulierte Zuspitzung, wonach man in den Kolonien »an einen Wendepunkt gelangt« sei, an dem die weitere Entwicklung entscheidend von Infrastrukturmaßnahmen abhinge, für die das notwendige Kapital nur durch Einsparungen an anderer Stelle gewonnen werden könne, blieb offenbar nicht ohne Wirkung auf Wilhelm II. Tatsächlich konnte der Kolonialdirektor das Ergebnis als Erfolg verbuchen, hatte der Kaiser doch »alle […] Vorschläge wegen der Schutztruppen genehmigt«. Der damit erzielte »große Schritt vorwärts« bestand im Ausscheiden des Reichsmarineamts, während die Truppe als eine »Art von Gendarmerie organisiert und direkt der Kolonialabteilung unterstellt« werden sollte.291 Das unmittelbare Resultat war eine Allerhöchste Verordnung, die die Schutztruppen fortan dem Reichskanzler in seiner gleichzeitigen Funktion als Quasi-Kolonialminister zuordnete. Vor Ort unterstanden sie danach dem »betreffenden Gouverneur oder Landeshauptmann und demnächst dem Kommandeur«.292 Der ursprünglich angedachte Umbau der Truppe in Polizeiformationen unterblieb jedoch.
291 Kayser an Baron vom 8.1.1896, Schreiben, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 551. 292 Wilhelm II./Hohenlohe-Schillingsfürst vom 16.7.1896, Allerhöchste VO betr. Stellung der Schutztruppen unter den Reichskanzler, abgedruckt in: DKG 2, S. 251; vgl. die kurz darauf verabschiedete Neufassung des Schutztruppengesetzes, wonach die Kolonialabteilung zur obersten Verwaltungsund Reichsbehörde für die Schutztruppen berufen wurde. Gesetz vom 18.7.1896 betr. die Kaiserlichen Schutztruppen in den afrikanischen Schutzgebieten und die Wehrpflicht daselbst, abgedruckt in: ebd., S. 252–256. Zu den Details: Bührer, Schutztruppe, S. 109f.; Kuß, Militär, S. 128. Zur Interpretation des Reichskanzlers als ›Kolonialminister‹: Stengel, Rechtsverhältnisse, S. 65; Florack, Schutzgebiete, S. 34; vgl. dagegen Laak, Infrastruktur, S. 113, demzufolge noch unter dem Kolonialdirektor Stuebel (1900–05) die Marine für die Schutztruppen zuständig gewesen sei.
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Auch verzögerte sich die Neufassung der auf dem neuen Schutztruppengesetz basierenden »Organisatorischen Bestimmungen« um ganze zwei Jahre. Erst mit deren Herausgabe wurde nicht nur für Ostafrika, sondern auch für Südwestafrika und Kamerun, noch deutlicher als 1891 festgestellt:293 »Dem Gouverneur steht die oberste militärische Gewalt im Schutzgebiete zu. Er kann die Schutztruppe nach eigenem Ermessen, sowohl im Ganzen wie in ihren einzelnen Teilen, zu militärischen Unternehmungen verwenden.« Dabei durfte er zu »Zwecken der Civilverwaltung Teile der Schutztruppe soweit verwenden, als die militärischen Rücksichten nicht entgegenstehen.« Während der Kommandeur die zugewiesenen Aufgaben durchführen sollte, galt nach wie vor der Grundsatz, dass der vom Gouverneur erteilte Auftrag Priorität genoss. Bei Bedenken konnte der Truppenführer lediglich nach Berlin berichten, wo in der Folge ein mit Offizieren besetztes Oberkommando der Schutztruppen eingerichtet wurde. Dieses unterstand jedoch dem Reichskanzler bzw. in dessen Vertretung dem Kolonialdirektor und wurde der Kolonialabteilung angegliedert. Eine Stärkung des Gouverneurs stellte nicht zuletzt die neue Bestimmung dar, wonach dieser auch disziplinarische Befugnisse gegenüber den Angehörigen ›seiner‹ Schutztruppe erhalten sollte. Von der Forschung bislang kaum beachtet, kam es zugleich zu Veränderungen in Bezug auf den Status der »Landesbeamten« in den Schutzgebieten. Keineswegs zufällig wurden auch sie gemäß Allerhöchster Verordnung vom 9. August 1896 fortan der »Dienstaufsicht und Disziplinargewalt« der Kolonialabteilung unterstellt. Dadurch erhielt der Gouverneur die Befugnis, gegen die ihm unterstellten Beamten Geldbußen bis zur Höhe eines Monatseinkommens zu verhängen und – mit Einschränkungen – auch deren Entlassung herbeizuführen.294 Wenig später wurden zwei bereits bestehende Aufsichtsbehörden, die Disziplinarkammer für Reichsbeamte in Potsdam sowie der Disziplinarhof des Reichsgerichts in Leipzig, damit beauftragt, sich künftig auch mit den Verfehlungen von Angehörigen der Kolonialadministration zu befassen.295 Davon waren auch die Gouverneure nicht ausgeschlossen, worauf noch zurückzukommen sein wird. Von den Auswirkungen der Änderungen bei den Unterstellungsverhältnissen sowie der Ausweitung seiner Disziplinarbefugnisse sollte Wißmann jedoch nicht mehr profitieren. Im Frühjahr 1896 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand erheblich, so
293 Hohenlohe-Schillingsfürst vom 25.7.1898, Organisatorische Bestimmungen für die Kaiserlichen Schutztruppen in Afrika, abgedruckt in: DKG 3, S. 49–61 (Anlagen: S. 62–112). Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Hierzu auch: Bührer, Schutztruppe, S. 110f.; Kuß, Militär, S. 129. 294 Wilhelm II./Hohenlohe-Schillingsfürst vom 9.8.1896, Allerhöchste VO betr. Rechtsverhältnisse der Landesbeamten in den Schutzgebieten, abgedruckt in: DKG 2, S. 265–267. Die Dienstentlassung konnte der Gouverneur nicht bei Beamten mit kaiserlicher Bestallung (Finanzverwaltungschef in Ostafrika sowie Oberrichter) aussprechen. Auch die übrigen Staatsdiener besaßen ein Beschwerderecht beim Reichskanzler, der gegebenenfalls die Entlassung rückgängig machen konnte. 295 Hohenlohe-Schillingsfürst vom 3.3.1897, Geschäftsordnung betr. Disziplinarbehörden für die Schutzgebiete, abgedruckt in: ebd., S. 330–333.
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dass er am 10. April den Reichskanzler um einen sechsmonatigen Erholungsurlaub bitten musste.296 Vorläufig hegte er aber noch keineswegs die Absicht zum Rücktritt.297 Auch hatte Wißmann kurz zuvor durchgesetzt, Trotha auf eine einjährige Inspektionsreise in den Nordwesten der Kolonie zu entsenden und damit für längere Zeit kaltzustellen.298 Gegen die These des vorzeitig resignierenden Gouverneurs spricht zudem ein Bericht an den Reichskanzler aus dem März 1896, in dem Wißmann seine mittel- und längerfristigen Absichten für den Ausbau der Verwaltung, die Einführung direkter Steuern sowie die Einrichtung von Wildreservaten ausbreitete.299 Wenig später verließ er zwar zusammen mit seiner Ehefrau die Kolonie, hatte sich aber in Deutschland nach wenigen Wochen »famos wieder erholt«, wie einer seiner Militärärzte feststellte.300 Auch schrieb der Gouverneur am 20. Juli einen vertraulichen Brief an den Kolonialdirektor mit Vorschlägen zur personellen Besetzung des künftigen Oberkommandos der Schutztruppen sowie des Medizinalreferats der Kolonialabteilung.301 Darüber hinaus beabsichtigte er, einige Bezirksämter und Stationen in Ostafrika neu zu besetzen, wobei er wiederum seine Weggefährten bevorzugte. Außerdem empfahl er dem Direktor, möglichst »nur junge Offiziere« nach Afrika zu entsenden, da die älteren Hauptleute oder Stabsoffiziere eine »zweifelhafte Rolle alten Afrikanern gegenüber« spielen würden. Offensichtlich blind gegenüber dem eigenen Vorgehen versprach er, dass Kayser dann auch vor deren »Protektionen, mit denen Sie so gequält werden«, sicher sein werde. Angesichts solcher Zukunftsplanungen kann von einer vorzeitigen Amtsmüdigkeit des Gouverneurs sicher nicht gesprochen werden. Tatsächlich machte Wißmann die Entscheidung über seine Rückkehr nach Daressalam in erster Linie abhängig von der »Art und Weise, wie sich die Personalien der Endorganisation in Berlin gestalten.« Nachdem der Kolonialdirektor bereits im Zuge der Auseinandersetzungen mit Soden 296 BA-K N 1067/21, Wißmann an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 10.4.1896, Bericht. Zuvor hatte die Kolonialabteilung im Gouvernement wegen Gerüchten über einen exzessiven Alkoholgenuss des Gouverneurs angefragt. Wißmanns Stellvertreter teilte jedoch mit, dass der Gouverneur sehr zurückgezogen lebe und von seiner Schwester versorgt werde. Ebd., Stuhlmann (Daressalam) an Kolonialabteilung vom 21.12.1895, Bericht. Die Anfrage datierte auf den 4.11.1895. Wenig später, zu Beginn des Februar 1896 traf zudem Wißmanns Ehefrau in Daressalam ein. Langheld, Jahre, S. 238. 297 Die Vermutung frühzeitiger Rücktrittsabsichten geht wiederum zurück auf Wißmanns Bewunderer oder die Wiedergabe von bloßem Hörensagen: Perbandt u.a., Wißmann, S. 465; Leutwein, Wißmann, S. 40; Schnee, Gouverneur, S. 14. Diese Sichtweise hat dennoch häufig Eingang in die Forschung gefunden: Morlang, Weg, S. 42; Pesek, Herrschaft, S. 273; Bührer, Schutztruppe, S. 85, 177. 298 TNA G 1/3, Bl. 111, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 14.1.1896, Bericht; ebd., Bl. 109f., Wißmann an Trotha vom 15.1.1896, Instruktion. Trotha kehrte erst im Februar 1897 zurück. Siehe hierzu den – entschärften – Reisebericht: Trotha, Bereisung; vgl. Kamissek, Trotha, S. 84. 299 BA-B R 1001/237a, Bl. 48–52, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 26.3.1896, Bericht. Der Bericht ist gekürzt wiedergegeben in: Wißmann, Reise, S. 247f. 300 BA-B N 2231/3, Kohlstock (Berlin) an Puttkamer vom 5.10.1896, Schreiben (Zitat); vgl. BA-B R 1001/765, Bl. 67, Berliner Lokal Anzeiger vom 18.7.1896, Interview: Darin erklärte Wißmann, er könne über seine Gesundheit »gegenwärtig nicht klagen«. 301 BA-MA N 2139/89, Bl. 49–60, Wißmann (Lauterberg) an Kayser vom 20.7.1896, Schreiben. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben.
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und Schele mehrmals seinen Rücktritt angedroht hatte, war Kayser im Sommer 1896 aber fest entschlossen, seinen Posten endgültig aufzugeben. Damit hätte Wißmann seinen wichtigsten Rückhalt in Berlin verloren. Es suchte deshalb Kayser unter allen Umständen zum Bleiben zu bewegen: »Sie schreiben mir, Sie wollen nicht auf Ihren Posten zurück. Das würde sehr schwerwiegend ins Gewicht fallen, dass auch ich nicht wieder hinausginge. Denn wer würde Ihr Nachfolger werden?! Würde ich bei demselben ebenso Unterstützung finden, würde sich unser Verhältnis ebenso, ich darf wohl sagen fast freundschaftlich gestalten? Das ist doch eine enorm wichtige Frage.« Beschwörend schloss Wißmann seinen Brief, dass der Direktor im Hinblick auf Schutztruppe und Beamtenschaft alle wesentlichen Ziele erreicht habe und dadurch jetzt über enorme Handlungsspielräume verfüge. Er müsse daher im Amt bleiben, »sonst…, ja was sonst wird ist ja garnicht einmal zu ahnen.« Trotz aller Überredungsversuche und Loyalitätsbekundungen ließ sich Kayser von seinem Vorhaben nicht abbringen und trat zum 14. Oktober 1896 in den einstweiligen Ruhestand über.302 Erst jetzt resignierte auch Wißmann und signalisierte seine Bereitschaft, ebenfalls zurückzutreten. Das Maß an Unterstützung, das er ohne seinen wichtigsten Gönner zu erwarten hatte, lässt sich anhand des Ablaufs seiner Absetzung erahnen. Lapidar notierte der Reichskanzler über den entsprechenden Antrag bei Wilhelm II.: »Hierauf trug ich dem Kaiser die Frage vor, ob Wissmann zur Disposition gestellt und der Kolonialabteilung beigegeben werden könne, was S[eine] M[ajestät] bejahte.«303 Offiziell wurde der Rücktritt mit gesundheitlichen Defiziten begründet, was zum Teil zwar stimmte, durch die bald darauf angetretenen Fernreisen, die Wißmann nach Sibirien und ins südliche Afrika führten, aber konterkariert wurde. Im Sommer 1899 erklärte sich der Ex-Gouverneur sogar bereit, die Leitung einer Expedition zum Tschad-See zu übernehmen.304
4.3.1.3 Eduard Liebert Mit der zehnmonatigen Amtszeit Wißmanns endete für Deutsch-Ostafrika eine Periode rascher Personalwechsel an der Spitze der Verwaltung. Tatsächlich waren bis dahin innerhalb von nur fünf Jahren drei Gouverneure ein- und wieder abgesetzt worden.305 302 Zwar ist hier nicht der Ort, eine Gesamtbeurteilung über das Wirken Kaysers abzugeben, doch wird man ihn als Leiter der Kolonialabteilung kaum als »weitgehend machtlos« bezeichnen können, wie die vorgehenden Abschnitte gezeigt haben dürften. So aber: Laak, Infrastruktur, S. 113. 303 Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 284 (2.12.1896); vgl. BA-K N 1067/21, Exzerpt aus Wißmanns Personalunterlagen. 304 DKB 1899, S. 433. Die Reisen sind ausführlich beschrieben in: Perbandt u.a., Wißmann, S. 467–523. Episoden über seinen Aufenthalt in DSWA im Sommer und Herbst 1898 finden sich in: BA-K N 1669/1, Bl. 63, Lindequist, Erlebnisse; Franke, Tagebuch, S. 110f., 122; Estorff, Kameldornbaum, S. 203, 205; ders., Wanderungen, S. 72–78. Wenig zuverlässig: Leutwein, Wißmann, S. 41. 305 Während die offiziellen Amtszeiten wenig Aussagekraft besitzen, bietet ein Vergleich der faktischen Dienstzeiten vor Ort mehr Aufschluss: Demnach war Soden rund 28 Monate als Gouverneur in Daressalam gewesen, während Schele dort knapp zwei Jahre als geschäftsführender bzw. regulärer Gouverneur gewirkt hatte. Wißmann war nicht einmal ein volles Jahr als Gouverneur vor Ort.
4. Herrschaftspraktiken
Zwar wurde auch weiterhin militärischen Anwärtern der Vorzug eingeräumt, doch verlängerten sich die Anwesenheitszeiten der Amtsinhaber von jetzt an deutlich. Den Anfang machte Liebert. Wie bereits erwähnt, hatte er schon anlässlich von Scheles Abgang sein Interesse bekundet, war damals aber nicht berücksichtigt worden. Dass er nach wie vor über Unterstützer einer bestimmten Couleur verfügte, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass er von Teilen der Presse als »Kandidat der Kolonialwüteriche« für den ebenfalls vakanten Posten des Kolonialdirektors gehandelt wurde.306 Nachdem Liebert bereits während des ›Araberaufstands‹ die Aktivitäten Wißmanns gegenüber dem Reichstag vertreten und anschließend als Regimentskommandeur in Frankfurt/Oder junge Offiziere für den Dienst in den Kolonien angeworben hatte, hoffte er diesmal auf seine Chance.307 Während er als Nachfolger Kaysers nicht zum Zuge kam, brachte der neue Kolonialdirektor Oswald Freiherr v. Richthofen seinen Ambitionen Wohlwollen entgegen und bot ihm den Gouverneursposten in Ostafrika an.308 Nach Lieberts eigener Darstellung habe er sofort zugesagt, da sich sein »Herz lange nach den deutschen Kolonien« gesehnt und er sich – getreu dem militärischen Ethos – dem »Gedanken, als Kaiserlicher Gouverneur direkt meinem Vaterland zu dienen«, verbunden gefühlt habe.309 An anderer Stelle schrieb er profaner, es sei ihm darum gegangen, dem »ewigen Einerlei des Friedensdienstes zu entgehen, die Welt zu sehen und mich in größeren Verhältnissen zu bewegen.«310 Ganz reibungslos ging aber auch diese Ernennung nicht vonstatten. Zwar fungierte Hohenlohe-Schillingsfürst erneut als Sprachrohr des Kolonialdirektors beim Kaiser. Dieser scheint sich spontan aber einen anderen Kandidaten ausersehen zu haben, so dass er auf Liebert erst eingestimmt werden musste.311 Ungeachtet dessen blieb eine längere Vakanz des Postens aus, erfolgte doch Lieberts Ernennung wenige Tage nach Wiß306 BA-B N 2139/40, Berliner Börsenkurier vom 21.8.1895; vgl. Waldersee, Denkwürdigkeiten 2, S. 384 (6.1.1897); HStA Stuttgart, Q 2/48 Bü. 10, Ganßer (Kerenge) an seine Eltern vom 13.5.1898, Schreiben. 307 Mit seiner Werbetätigkeit lassen sich mehrere spätere Kolonialoffiziere in Verbindung bringen: Hans Dominik, Ernst Albrecht Freiherr v. Eberstein, Paul v. Heydebreck, Wilhelm Langheld, Curt Morgen, Kurd Schwabe. Liebert, Leben, S. 125, 153 (Zitat); BA-MA N 227/11, Bl. 16, Morgen, Lebenserinnerungen; BA-MA N 227/22, Liebert an Morgen vom 26.5.1890, Schreiben; Langheld, Jahre, S. 1; Dominik, Kamerun, S. 1f.; vgl. Hoffmann, Okkupation 2, S. 32. 308 Die beiden kannten sich seit Frühjahr 1890, als Liebert auf der Rückreise aus Ostafrika in Kairo einen Zwischenstopp eingelegt hatte. Richthofen war damals als deutscher Vertreter bei der ägyptischen Staatsschuldenverwaltung tätig gewesen. Liebert, Leben, S. 133. Zu Lieberts Auswahl: Ebd., S. 155f.; Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 280f.; Waldersee, Denkwürdigkeiten 2, S. 384 (6.1.1897); vgl. Bührer, Schutztruppe, S. 177. 309 Liebert, Leben, S. 156. 310 Ebd., S. 153. 311 Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 285 (2.12.1896); Fischer an Eulenburg vom 16.12.1896, Schreiben, abgedruckt in: Eulenburg, Korrespondenz 3, S. 1769: »[…] Gerüchte, dass Se. Majestät das oder jenes beschlossen und seine Minister erst nach und nach Gelegenheit gehabt hätten, Se. Majestät umzustimmen (so noch neuerdings im Falle Liebert).« Auch Schele hat offenbar nach dem Abgang Kaysers versucht, Wilhelm II. für seine Wiedereinsetzung zu gewinnen. Kayser an Baron vom 25.2.1897, Schreiben, zitiert nach: Frank, Kayser, S. 557; Kamissek, Trotha, S. 85, vermutet dagegen Ambitionen Trothas.
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manns Entlassung.312 Ebenfalls abweichend von seinem Vorgänger vollzog sich auch der Empfang im ostafrikanischen Tanga reibungslos und gemäß den zeitgenössischen Konventionen. Zwar befand sich Trotha noch immer auf seiner Expedition im Binnenland, doch war Bennigsen als stellvertretender Gouverneur eigens zur Begrüßung Lieberts angereist. Ein ebenfalls anwesender Premierleutnant beschrieb das Prozedere anschaulich, weshalb dessen Aufzeichnungen hier wiedergegeben werden:313 »Am Sonntag früh um 7 Uhr lief der ›General‹ hier ein. Er hatte über die Toppen geflaggt u. führte am Vordermast die Gouverneursflagge. Sämtliche im Hafen liegenden Schiffe hatten auch über die Toppen geflaggt. Das Bezirksamt hatte hier ausgegeben, es habe der Hauptempfang an Land zu sein, wo die Beamten sich aufstellen sollten. […] Dr. Plehn meldete sich zuerst beim Gouverneur, welcher in Gala oben stand und bat dann um Erlaubnis die Quarantäne zu erledigen, ich blieb an Bord. Die Quarantäne war bald erledigt, aber der stellvertretende Gouverneur [Bennigsen] u. der Bezirksamtmann [St. Paul] ließen auf sich warten. Als diese ankamen, gingen wir 3 zusammen nach oben, und meldeten uns nacheinander. […] Wir wurden nun vom Gouverneur zum Frühstück eingeladen und fuhren nachher an Land, unter dem Salut der Geschütze; dort waren die Beamten etc. aufgestellt, und die Walis der verschiedenen benachbarten Ortschaften […]. Weither waren die Leute gekommen, um den neuen Gouverneur zu sehen; […] Nach Vorstellung der Ober- und Unterbeamten ging es zu einer kurzen Besprechung in die Boma, in welcher der Gouverneur seinen Standpunkt uns entwickelte. […] Von der Boma gings durch mehrere Straßen der Stadt nach dem Bahnhof der Usambara-Eisenbahn. Dort stand ein geschmückter Extrazug bereit u. dieser entführte uns ca. 7 km ins Innere […]. Nach kurzer Besichtigung wurde die Heimfahrt angetreten. […] Um 12 Uhr war Begrüßungsmahl in der Boma; der stellv. Gouv[erneur] von Bennigsen hieß den Gouverneur willkommen, der Gouverneur dankte. […] Nachher empfing der Gouverneur auf der Terrasse den Major und Haushofmarschall des früheren Sultans, Soliman bin Nasr, welcher den Gouverneur im Namen seines Herrn willkommen hieß. Nachher besichtigte der Gouverneur noch das Hospital und dann konnte er sich noch für einige Stunden auf seinem Schiff der Ruhe hingeben. Um 7 Uhr war Diner bei St. Paul.« Anhand dieser Episode – angefangen mit dem Erscheinen des Komitees an Bord des Dampfers, der Präsentation des neuen Gouverneurs in Galauniform, der Besichtigung der Örtlichkeiten einschließlich inszenierter Huldigung durch die Bevölkerung bis hin zum standesgemäßen Salut – lässt sich ohne Mühe ablesen, dass der bürgerliche Offizier Liebert, aber auch dessen Umgebung, die Stellung des Gouverneurs mit der eines Landesherrn im Wortsinne gleichsetzten.314 Zumindest in formaler Hinsicht war das keineswegs abwegig. Einerseits reiste der ohnehin rangniedere Trotha kurz nach Lieberts Ankunft nach Deutschland ab, so dass dem neuen Gouverneur bald darauf zusätzlich die
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Liebert, Leben, S. 156. HStA Stuttgart, Q 2/48, Bü. 10, Ganßer an seine Eltern vom 21.1.1897, Schreiben; ähnlich: Ganßer, Tgb., S. 70–72. Eine ›Boma‹ bezeichnet hier eine befestigte Kaserne. Vgl. Eckert/Pesek, Ordnung, S. 95.
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Funktionen des Kommandeurs der Schutztruppe übertragen wurden.315 Damit waren sowohl die zivile als auch die militärische Gewalt wieder in einer Person vereinigt. Angesichts der gleichzeitigen Beförderung zum Generalmajor stand Liebert im Gegensatz zu Wißmann zudem automatisch das Prädikat ›Exzellenz‹ zu. Die faktische Durchsetzungsfähigkeit dieser Machtvollkommenheit musste sich freilich noch erweisen. Nicht viel anders als seine Vorgänger unternahm Liebert nach seiner Ankunft Inspektionsreisen in alle größeren Küstenorte sowie in den Plantagendistrikt von Usambara.316 Seinen Berichten zufolge interessierte ihn dabei vor allem der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung einschließlich der Prognosen für die nähere Zukunft. Offener als gegenüber der Kolonialabteilung äußerte er sich über seine Eindrücke in einem Brief an seinen Förderer Waldersee.317 Danach glaubte Liebert in Übereinstimmung mit Wißmann feststellen zu können, dass nach den letzten Kämpfen gegen die »Räuberstämme des Inneren« praktisch »überall Friede und Ruhe« herrsche.318 Unerwähnt ließ er dabei aber, dass auch er sich für dieses Urteil fast ausschließlich auf die Berichte seiner Lokalverwaltung stützen musste. Immerhin stellte er fest, dass »meine Kolonie doppelt so groß als das Deutsche Reich ist«, weshalb er »eine Anzahl von Jahren brauchen« würde, um alle Gegenden persönlich in Augenschein nehmen zu können. Sowohl gegenüber dem Reichskanzler als auch gegenüber Waldersee zeichnete Liebert ein Bild friedlicher Prosperität, namentlich in Bezug auf die Küstenorte, die er noch »vor 7 Jahren sämtlich in Schutt und Trümmern gesehen« habe. Inzwischen seien diese nicht nur »neu aufgebaut, erheblich vergrößert und verschönert« worden, sondern sie hätten sich auch zu pulsierenden Handelszentren entwickelt. Auch die »prächtigen Kaf[fe]e- und Tabakspflanzungen« bestärkten ihn in dieser Ansicht. Da die Einheimischen begonnen hätten, »regelmäßig ihr Feld zu bestellen und der Arbeit nachzugehen«, glaubte er, die »Zeit des Probierens und Experimentierens« in Ostafrika für beendet erklären zu können. Er schätzte daher den »Zeitpunkt, in dem ich das Gouvernement übernahm« als »besonders günstig« ein. Dabei unterschieden sich Lieberts Absichten kaum von denen Wißmanns, plante er doch ebenfalls, »hier Steuern einzuführen«, um »dann langsam die Kolonie auf eigene Füße zu stellen und vom Reichstage unabhängig zu machen.« Abweichend von seinem Vorgänger, der eine Kopfsteuer bevorzugt hatte, verließ er sich aber auf seinen Finanzdirektor Bennigsen, der bereits im Zusammenwirken mit Solf begonnen hatte, die Ver-
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Vgl. HStA Stuttgart, Q 2/48 Bü 10, Ganßer an seine Eltern vom 26.2.1897, Schreiben. Diesem war offenbar bereits bekannt, dass die Stellung des Kommandeurs der Schutztruppe nach dem Weggang Trothas »auf den jeweiligen Gouverneur« übergehen würde. Liebert, Bericht, S. 313–319; ders., Inspektionsreise, S. 409–412; BA-B R 1001/237a, Bl. 57–68, Liebert an KA vom 21.4.1897, Bericht; vgl. HStA Stuttgart, Q 2/48 Bü. 10, Ganßer (Lewa) an seine Eltern vom 6.2.1897, Schreiben; Ganßer, Tgb., S. 82f. (5.2.1897). GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 86f., Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 7.3.1897, Schreiben. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Auch sein Vorgänger hatte wenige Monate vor der Abreise gemutmaßt, dass »alle nennenswerten Gegner der Regierung entweder niedergeworfen« seien oder »unsere Oberhoheit anerkannt« hätten. Daher könne »wohl zum ersten Male von der Kolonie gesagt werden […]: Alles ruhig.« BA-B R 1001/287, Bl. 9–12, Wißmann (Daressalam) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 16.12.1895, Bericht.
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ordnungsentwürfe für eine Hüttensteuer auszuarbeiten.319 Ein weiteres Reglement, das auf eine stärkere Heranziehung der Einheimischen zur Plantagenarbeit abzielte, hatte Bennigsen unter Ausnutzung der Vakanz noch vor dem Eintreffen Lieberts herausgegeben.320 Tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass der neue Gouverneur in Bezug auf seinen Verwaltungsapparat mit ähnlichen Problemen wie Wißmann zu kämpfen hatte. Bezeichnenderweise richtete auch Liebert am Beginn seiner Amtszeit eindeutige Worte an die Beamtenschaft. Dabei sprach er die Hoffnung aus, dass »seinen praktischen Vorschlägen und Anordnungen […] von Seiten der Beamten nicht ebenso passiver Widerstand begegnen [würde,] wie denen seiner Vorgänger«. Nach kurzer Zeit schrieb er allerdings an Wißmann, dass auch er mit dem »jetzigen Apparat nicht gut zurechtkomme.«321 Auch Solf, der bald darauf als Bezirksrichter nach Daressalam kam, berichtete seinen Eltern von »denkbar ungünstigsten« Eindrücken »von der hiesigen Verwaltung« sowie über seine »von Ehrgeiz und Einbildung und Hitze etwas nervösen und soupconeusen [sic!] Kollegen«.322 Als besonders problematisch empfand er, dass der Gouverneur kaum in der Lage gewesen sei, seine »Ressort-Chefs« wirksam zu kontrollieren, wobei besonders Bennigsen dem Gouverneur »das Regieren möglichst schwer« gemacht habe.323 Auch andere Untergebene stellten bald fest, dass Liebert alle seine Vorhaben zuerst »mit den Ressortchefs ausfechten« müsse. Bei manchen entstand dabei der Eindruck, dass der »Gouverneur selbst mehr Dekoration & Repräsentationsfigur ist und selbst nur wenig machen kann.«324 Liebert suchte das Problem dagegen zu beschönigen und schrieb an Waldersee, er gewähre bewusst »allen meinen Beamten möglichste Spielräume«.325 Tatsächlich dürfte aber auch ihm nicht entgangen sein, dass seine inzwischen auf rund zweihundert Europäer angewachsene Zivilverwaltung sich nicht ebenso lenken ließ, wie er das als Stabschef von seinen militärischen Kommandobehörden gewohnt war.326 Gerade die Beamten in den Küstenbezirken hatten seit den Tagen Sodens deutlich an Selbstbewusstsein gewonnen. Ein Indiz für diese Tendenzen liefert nicht zuletzt 319
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Liebert vom 1.11.1897, VO betr. Häuser- und Hüttensteuer, abgedruckt in: DKG 2, S. 368f.; Liebert, Leben, S. 159; Bald, Deutsch-Ostafrika, S. 53; Tetzlaff, Entwicklung, S. 49f. Zur Mitwirkung Solfs, der zu dieser Zeit in der Kolonialabteilung Dienst tat: BA-K N 1053/17, Bl. 3, Richthofen (Sassnitz) an Solf vom 6.8.1897, Schreiben; vgl. Vietsch, Solf, S. 35. Bennigsen (i.V.) vom 27.12.1896, VO betr. Arbeitsverträge mit Farbigen, abgedruckt in: DKG 2, S. 318–321. BA-B N 2139/56, Berliner Tageblatt Nr. 346 vom 11.7.1897. BA-K N 1053/1, Bl. 94f., Solf (Daressalam) an seinen Vater vom 30.4.1898, Schreiben (Zitat 1); ebd., Bl. 92f., Solf (Daressalam) an seinen Vater, Oster-Sonnabend 1898, Schreiben (Zitat 2); vgl. Vietsch, Solf, S. 36. BA-K N 1053/1, Bl. 94f., Solf (Daressalam) an seinen Vater vom 30.4.1898, Schreiben. HStA Stuttgart, Q 2/48 Bü. 10, Ganßer (Kerenge) an seine Eltern vom 5.4.1898, Schreiben. Ähnlich: ebd., Ganßer (Kerenge) an seine Eltern vom 13.5.1898, Schreiben: Danach sei Liebert »alles in allem in Händen des Ressortchefs und ein schwacher Mann« gewesen. GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 92–95, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 22.7.1898, Schreiben. Ebd., Bl. 92–95, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 22.7.1898, Schreiben. Am 1.1.1898 befanden sich 360 europäische Angehörige von Verwaltung und Schutztruppe in DOA, dabei umfasste die Zahl der letzteren 160–170 Personen. JB 1897/98, S. 209.
4. Herrschaftspraktiken
eine Anweisung Bennigsens, die dieser kurz nach der Abreise Wißmanns ausgegeben hatte. Danach wurde das bisher übliche Uniformtragen bei Zivilbeamten als entbehrlich, ja unerwünscht bezeichnet. Lediglich bei besonderen Anlässen oder auf Inlandsreisen sei gegen die Uniform nichts einzuwenden.327 Einen Verbündeten unter der Beamtenschaft scheint Liebert zumindest in Solf gefunden zu haben, doch sollte dieser nach wenigen Monaten Ostafrika wieder verlassen.328 Ironisch sprach der Gouverneur daraufhin von »Fahnenflucht« und beschwor Solf, von seinem Weggang abzusehen. Später versprach er diesem, ihn im Fall einer Rückkehr »als Adlatus des Gouverneurs mit erweiterten Rechten und erhöhten Kompetenzen« verwenden zu wollen.329 Zweifellos hatte Liebert in der Person Solfs ein Korrektiv gefunden, das ihn vor seinen sprunghaften, zum Teil widersprüchlichen Entschlüssen und deren Folgen bewahren konnte. Andererseits sollte das kurze ostafrikanische Gastspiel des späteren Gouverneurs von Samoa in seinen Auswirkungen aber auch nicht überschätzt werden.330 Ein Indiz für die nicht immer effektive Kontrolle über seine eigene Administration kann in der Flut von Lieberts Befehlen, Runderlassen und Verordnungen gesehen werden, die auch den Zeitgenossen in Deutschland nicht entging.331 Bereits im Sommer 1898 versuchte die Kolonialabteilung unter ihrem neuen Direktor Gerhard v. Buchka aus der Ferne gegenzusteuern und ordnete an, die bis dahin in fachlicher Hinsicht autonomen Abteilungen des Gouvernements stärker zusammenzufassen. Liebert scheint diesen Vorstoß jedoch als Einmischung der »allmächtigen bureaukratischen Behörde« missverstanden zu haben:332 »Jetzt wird mir von Berlin – trotz meines und des Finanzdirektors v. Bennigsen energischen Widerspruchs – eine ganz neue Geschäftsorganisation oktroyiert. Während ich kräftig dezentralisierte […], wird jetzt streng zentralisiert, ein riesiges Zentralbureau soll alle Akten umfassen. Der Apparat wird unübersichtlich, der Geschäftsgang schleppend, aber wir haben das System der Wilhelmstraße – das genügt!«
327 Bennigsen (i.V.) vom 7.6.1896, Gouvernementsbefehl betr. Uniformtragen der Zivilbeamten, abgedruckt in: DKG 2, S. 231f. 328 BA-K N 1053/1, Bl. 94f., Solf (Daressalam) an seinen Vater vom 30.4.1898, Schreiben. 329 BA-K N 1053/17, Bl. 4f., Liebert (Berlin) an Solf vom 5.11.1898, Schreiben (Zitat 1); ebd., Bl. 8f., Liebert (Daressalam) an Solf vom 25.2.1899, Schreiben (Zitat 2); vgl. BA-K N 1053/19, Liebert (Daressalam) an Solf vom 30.10.1899, Schreiben; vgl. BA-K N 1669/1, Bl. 69, Lindequist, Erlebnisse; Vietsch, Solf, S. 40. 330 BA-K N 1053/1, Bl. 98f., Solf (Daressalam) an seine Mutter vom 15.7.1898, Schreiben; ebd., Bl. 100f., Solf (Daressalam) an seine Mutter vom 29.7.1898, Schreiben. Zur Überbewertung der Rolle seines Protagonisten neigt zweifellos: Vietsch, Solf, S. 36–41; vgl. HStA Stuttgart, Q 2/48 Bü. 10, Ganßer (Kerenge) an seine Eltern vom 5.4.1898, Schreiben. Danach sei der Referent Hans Zache die »rechte Hand« des Gouverneurs gewesen. 331 Wagner, Propheten, S. 8, spricht von der »Unmenge seiner Erlasse«. Tatsächlich weist das keineswegs vollständige Sammelwerk zur Deutschen Kolonial-Gesetzgebung für Lieberts Amtszeit weit mehr als zweihundert Erlasse und Verordnungen aus (DKG, Bde. 2–6). 332 GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 92–95, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 22.7.1898, Schreiben.
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Tatsächlich blieb dem Gouverneur nichts anderes übrig, als die neue Organisation seiner Behörde umzusetzen.333 Zum 1. Oktober 1898 wurden daraufhin die Ressorts Finanzen, Justiz, Medizinalwesen, Bauwesen und Landeskulturen in Referate umgebildet und dem Gouvernement unmittelbar eingegliedert. Gleichzeitig gingen sämtliche Befugnisse, die zeitweilig an die Abteilungen delegiert worden waren, an das Gouvernement zurück. Auch der Schriftverkehr lief nun ausschließlich über das dortige ›Zentralbureau‹. Wenigstens in organisatorischer Hinsicht schien damit eine effektivere Steuerung des Verwaltungskerns möglich. Angesichts der geschilderten Schwierigkeiten stellt sich aber die Frage, welchen Einfluss Liebert auf die weit entfernten Bezirksämter und Stationen der Kolonie besaß, wenn er nicht einmal seine Zentralbehörde in Daressalam fest in der Hand hatte. Auch in dieser Hinsicht folgte er zunächst seinen Amtsvorgängern und suchte die inzwischen 19 Verwaltungseinheiten per Dekret voneinander abzugrenzen und damit das riesige Territorium überschaubarer und vermeintlich handhabbarer zu machen. Zu dieser vor allem auf der Karte stattfindenden Neuordnung des Raumes gehörte auch die Umgliederung, Auflösung oder Neubildung von Bezirken.334 Solche papiernen Maßnahmen änderten jedoch nur wenig daran, dass nach wie vor lediglich die Bezirke entlang der Küstenlinie überhaupt Ansätze von Verwaltung erkennen ließen. Neben einer erheblichen Anzahl von indigenen Mittelspersonen waren dort fast sämtliche Zivilbeamten der Kolonie konzentriert. Ungeachtet aller Unwägbarkeiten bei kolonialen Statistiken sowie gewisser regionaler Unterschiede kamen daher in den an den Indischen Ozean grenzenden Verwaltungsbezirken auf jeden europäischen Administrator im Durchschnitt an die zweitausend Einheimische.335 Gänzlich anders stellte sich die Situation im Landesinnern dar. Einerseits blieben dort nach wie vor die Militärs tonangebend, fungierten doch auch weiterhin in fast allen Bezirken Offiziere als Stationschefs. Im Gegensatz zu den mehr als dreihundert europäischen Beamten und Schutztruppenangehörigen im Einzugsbereich der Küste befanden sich in den riesigen Arealen des Binnenlandes kaum einhundert deutsche Amtsträger. Auf einen von ihnen kamen dort mindestens 50.000 Einwohner, ein Wert, der zumindest 333
Liebert vom 12.9.1898, Runderlass betr. Behörden des Schutzgebietes, abgedruckt in: DKG 3, S. 124f. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben. 334 Liebert vom 24.10.1897, Runderlass betr. Abgrenzung der einzelnen Bezirke, abgedruckt in: DKG 2, S. 365–368; Liebert vom 25.3.1898, Runderlass betr. Bezirk Westusambara, abgedruckt in: DKG 3, S. 24; Liebert vom 12.4.1898, Runderlass betr. Bezirk Kisaki, abgedruckt in: ebd., S. 27; v.d. Decken (i.V.) vom 24.11.1898, Runderlass betr. Bildung eines neuen Verwaltungsbezirks, abgedruckt in: DKG 4, S. 3f.; Liebert vom 15.4.1899, Runderlass betr. Bezirkseinteilung, abgedruckt in: ebd., S. 61; Liebert vom 26.5.1899, VO betr. Verlegung des Bezirksamtes von Mikindani, abgedruckt in: ebd., S. 66f.; Liebert vom 17.8.1899, VO betr. Neubildung des Verwaltungsbezirks Mahenge, abgedruckt in: ebd., S. 87; Natzmer (i.V.) vom 25.8.1899, Runderlass betr. Verlegung Bezirksnebenamt Usimbe nach Mohorro, abgedruckt in: ebd., S. 94; Natzmer (i.V.) vom 25.8.1899, VO betr. Grenzen des Bezirks Rufiyi-Mohorro, abgedruckt in: ebd., S. 95; Estorff (i.V.) vom 28.8.1900, Bekanntmachung betr. Grenze der Bez. Kilwa und Mahenge, abgedruckt in: DKG 5, S. 142. 335 Der angegebene Wert basiert auf den Angaben in den Jahresberichten für DOA. Danach lebten in den Küstenbezirken zwischen 594.000 und 664.000 Einheimische. Gleichzeitig befanden sich dort einschließlich Gouvernement und Schutztruppenkommando 259 Beamte und 53 Schutztruppenangehörige (nur Europäer). JB 1898/99, S. 2865f., 2884–2910; JB 1899/1900, S. 936.
4. Herrschaftspraktiken
einen Eindruck von den erheblichen Unterschieden der administrativen (Un-)Möglichkeiten der Innenstationen im Vergleich zu den Küstenbezirken vermittelt.336 Einen weiteren Indikator für die begrenzte Reichweite kolonialer ›Verwaltung‹ im Landesinnern liefert das Jahresaufkommen aus der mit Wirkung vom 1. April 1898 eingeführten Hüttensteuer, wobei zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass das Binnenland eine vermutlich achtmal höhere Einwohnerzahl als der Küstensaum aufwies.
Tabelle 8: Einnahmen aus der Hüttensteuer in DOA, 1898–99337 Rechnungsjahr
1898
1899
Küstenbezirke
316.740 Mark
355.371 Mark
Innenstationen
85.141 Mark
78.494 Mark
Die Steuererhebung gestaltete sich hier wie dort in den bereits von Wißmann projektierten Formen: Einheimische Funktionsträger wurden mit der Einziehung der Summen beauftragt, wobei die Kolonialverwaltung kaum Einfluss auf die konkreten Modalitäten vor Ort besaß. Etliche Berichte über sogenannte »Steuerunruhen« belegen die ebenso uneinheitlichen wie unkontrollierbaren Praktiken der ausführenden Organe. Gegen diese richtete sich dann allerdings auch der Volkszorn. Beispielsweise musste der Stationschef von Tabora im Mai 1899 ausrücken, um einen chief »gegen seine eigenen Leute zu schützen«, nachdem dieser »verjagt und beraubt« worden war. Ähnlich erging es einem Akiden im Rufiyi-Bezirk. Dessen Amtssitz wurde im Januar 1900 von aufgebrachten Umwohnern überfallen, wobei die Steuerkasse geplündert und ein indigener Schreiber misshandelt worden war.338 Andererseits beförderte gerade die Einführung der Hüttensteuer die Bemühungen der Verwaltung, sich Informationen über die Anzahl der in den einzelnen Bezirken tatsächlich lebenden Menschen zu verschaffen. Dieses Vorhaben einer Generierung praktisch verwertbaren Wissens nahm zum Teil aber kuriose Formen an, was wiederum Rückschlüsse auf die Zuverlässigkeit solcher Erhebungen zulässt. Beispielsweise wurden im Bezirk Bukoba am Victoria-See »verlässige Askaris« für die Datenerhebung herangezogen. Diese hatten im Beisein der Dorfältesten zunächst die einzelnen Wohnhäuser mit weißen Fähnchen zu markieren, um bei einer zweiten Begehung erkennen zu können, »ob etwa die eine oder die andere Hütte übersehen worden war.« Zur eigentlichen Zählung mussten sich die Bewohner vor ihren Behausungen aufstellen, wobei »für jede gezählte Hütte und für jeden gezählten Einwohner […] in verschiedene mit
336 Errechnet nach: JB 1899/1900, S. 936. Die Angabe dient lediglich als grober Anhalt. 337 Zwar fehlen zuverlässige Angaben zur Bevölkerungszahl, doch dürften die im JB 1899/1900, S. 936, angegebenen Größenverhältnisse als Anhaltspunkt ausreichen: 664.000 (Küste) gegenüber 5,44 Mio. (Inneres). Zu den Erträgen der Hüttensteuer: JB 1898/99, S. 2881; JB 1899/1900, S. 950f. Allgemein zur Einführung der Hüttensteuer: Tetzlaff, Entwicklung, S. 49–51; vgl. Bald, Deutsch-Ostafrika, S. 57. 338 BA-B R 1001/1053, Bl. 91–96, Stuhlmann (Daressalam, i.V.) an KA vom 21.11.1900, Bericht.
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Zeichen versehene Säcke ein kleines Holzstäbchen o.ä. gesteckt« wurde. Auf diese Weise will der dortige Stationsleiter 180.000 Seelen erfasst haben.339 Ungeachtet derart vormoderner Methoden war man sich seitens des Gouvernements über die Unzulänglichkeiten kolonialer Administration durchaus bewusst. Beispielsweise sprach der stellvertretende Gouverneur in Daressalam, Franz Stuhlmann, von einem »typisch mittelalterlichen Zustand« und berichtete dementsprechend nach Berlin.340 Von utopischen Vorstellungen, wonach das Gouvernement von der Existenz einer vermeintlich effizient arbeitenden, modernen Bürokratie im Landesinnern ausgegangen sei, kann daher kaum gesprochen werden. Trotz mancher Irrtümer und Wahrnehmungsdefizite suchte auch Liebert seine aus Berichten stammenden Kenntnisse durch persönliche Eindrücke zu erweitern.341 Auf die beiden Antrittsreisen in die Küstenbezirke folgte daher eine dreimonatige Expedition nach Uhehe, die allerdings vor allem der Unterdrückung des dortigen Widerstandes galt. Bei dieser Gelegenheit scheute sich auch Liebert nicht, die Strategie der verbrannten Erde anzuwenden, um den ›Rebellen‹ die Lebensgrundlagen zu entziehen und diese zur Aufgabe zu zwingen.342 Im Jahr 1898 folgten zwei weitere Inspektionstouren. Nach Beendigung der ersten im Frühjahr 1898 teilte Liebert im Stil einer Manöverkritik allen seinen Ämtern und Stationen mit, dass er in den Bezirken Bagamoyo, Pangani, Masinde und Kilimandscharo »nur sehr Erfreuliches bezüglich der Verwaltung und politischen Ordnung gesehen« habe. Ebenfalls an die Gepflogenheiten militärischer Kommunikation erinnerte die namentliche Erwähnung derjenigen Bezirksleiter, die in seinen Augen »volle Anerkennung […] für das in der inneren Verwaltung ihrer Bezirke geleistete« verdienten. Bei dieser Gelegenheit erläuterte Liebert gleichzeitig seine Vorstellungen von erfolgreicher Herrschaftsausübung: Man könne erst zufrieden sein, wenn man das »sichere Gefühl« habe, die »Leute werden wirklich regiert, sie kennen ihren bana schauri, sie fürchten und lieben ihn, sie stehen mit dem Bezirksamt tatsächlich in direkter Verbindung.«343 Wenn Liebert dieses Ziel in den von ihm gelobten Bezirken für erreicht hielt, so schrieb er das nicht zuletzt sich selbst und seinen Anweisungen zu. So erklärte er ausdrücklich, dass der angebliche Wandel zum Besseren vor allem seinem Erlass vom 20. März 1897 zu verdanken sei. Damals hatte der Gouverneur angeordnet, dass »die Herren Bezirksamtleute […] sich möglichst häufig und ausgiebig persönlich in ihrem Bezirk bewegen und größere Touren durch denselben unternehmen« sollten.344 Tatsächlich
339 JB 1898/99, S. 2903. Bei solchen Zahlen handelt es sich um vorläufige Ergebnisse, die angesichts einer Zunahme der ›abgearbeiteten‹ Dörfer und einer stufenweisen Verfeinerung der Erhebungsmethoden, ein erhebliches virtuelles ›Bevölkerungswachstum‹ zur Folge haben konnten. Häufig handelte es sich aber auch um Schätzungen, schwankte doch die in den Jahresberichten angegebene Anzahl der Bewohner des in dieser Hinsicht allerdings nicht repräsentativen Bezirks Bukoba zwischen 250.000 und 450.000. JB 1898/99, S. 2866; JB 1899/1900, S. 936. 340 BA-B R 1001/1053, Bl. 91–96, Stuhlmann (Daressalam, i.V.) an KA vom 21.11.1900, Bericht. 341 Vgl. Estorff (i.V.) vom 25.9.1900, Runderlass betr. statistische Berichte, abgedruckt in: DKG 5, S. 150. 342 Zum Marsch Lieberts nach Uhehe: Morlang, Wahehe, S. 88–90. 343 BA-B R 1001/237a, Bl. 83, Liebert vom 6.4.1898, Runderlass; vgl. GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 90f., Liebert (Moschi) an Waldersee vom 27.2.1898, Schreiben. Mit ›bana schauri‹ ist der jeweilige Bezirksleiter gemeint. 344 BA-B R 1001/786c, Bl. 25, Liebert vom 20.3.1897, Runderlass.
4. Herrschaftspraktiken
war damit eine frühere Anweisung, die Trotha während der Vakanz zwischen Schele und Wißmann ausgegeben hatte, korrigiert worden. Trotha hatte damals den Bezirksamtmännern aufgegeben, ihre Rundreisen stets erst nach vorheriger Genehmigung durch das Gouvernement anzutreten.345 Lieberts Erlass zur Förderung der Reisetätigkeit lagen wiederum handfeste Absichten zugrunde. Durch ein gesteigertes Maß an »persönlicher Fühlung mit den Eingeborenen« sollten die Bezirkschefs »Einfluss auf sie ausüben, sie zur Arbeit anregen und anhalten, den Wegebau einrichten und besichtigen.«346 Seiner Ansicht nach müssten die deutschen Amtsträger ohnehin »mehr in ihren Bezirken als in ihren Hauptorten sich tätig erweisen«. Die Idee einer solchen Verwaltungsführung, bei der der Mangel an Personal durch Mobilität kompensiert werden sollte, war freilich alles andere als neu und auch keineswegs genuin ›afrikanisch‹. Liebert selbst erläuterte, dass er dabei das Bild des »heimischen Landrats« vor Augen habe, der seinen Kreis mit geringem Kostenaufwand bereise und persönlich bei jeder wichtigen Versammlung zugegen sei.347 Tatsächlich utopisch war dabei aber nicht nur die Verkennung der flächenmäßigen Unterschiede zwischen einem ostafrikanischen Bezirk und einem preußischen Landkreis, sondern vor allem die Vernachlässigung der gänzlich andersartigen lokalen Verhältnisse. Liebert selbst glaubte sich trotzdem im Frühjahr 1898 in der »angenehmen Lage«, sich über »alle Verwaltungsfragen […] ein selbständiges Urteil bilden« zu können, nachdem er »sämtliche wirtschaftlich wichtigen Gebiete der Kolonie persönlich kennen gelernt« hätte.348 Ein ihm wohlgesonnener Untergebener, der Premierleutnant Rudolf Ganßer, erhielt jedoch einen anderen Eindruck. Auf seiner provisorisch angelegten Vermessungsstation im Hinterland von Pangani hatte er den Gouverneur festlich empfangen. Darauf folgte eine gemeinsame Besichtigung der »ganzen Basis«, wonach Ganßers Fazit eindeutig ausfiel: »Leider versteht der Gouverneur von diesen Sachen nichts, was seine verschiedenen Fragen bewiesen und er auch halb eingestand«.349 Ähnlich äußerte sich Solf mehrmals gegenüber seinen Eltern. Dabei charakterisierte er den Gouverneur zwar als vielseitig interessiert und überaus begeisterungsfähig, zugleich aber auch als »schlapp« und »ewig schwankend« in seinen Entscheidungen, was nicht zuletzt aus dessen gänzlicher Unkenntnis von Verwaltung und ihrer Funktionsweisen resultiere.350 Wenig später führte den sich dennoch tatkräftig inszenierenden Gouverneur eine weitere Tour nach Kilossa und in die Uluguru-Berge.351 Damit hatte er während der ers-
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BA-B R 1001/783, Bl. 155, Trotha vom 21.5.1895, Gouvernementsbefehl Nr. 16. BA-B R 1001/786c, Bl. 25, Liebert vom 20.3.1897, Runderlass. BA-B R 1001/237a, Bl. 83, Liebert vom 6.4.1898, Runderlass. Ebd., Bl. 71–82, Liebert (Daressalam) an KA vom 6.4.1898, Bericht. Es ist bezeichnend, dass die Kolonialabteilung diese Bemerkung aus der publizierten Fassung des Berichts tilgte: Liebert, Reisebericht, S. 265–268. 349 HStA Stuttgart, Q 2/48 Bü. 10, Ganßer (Kerenge) an seine Eltern vom 5.4.1898, Schreiben. 350 BA-K N 1053/1, Bl. 94f., Solf (Daressalam) an seinen Vater vom 30.4.1898, Schreiben; ebd., 100f., Solf (Daressalam) an seine Mutter vom 29.7.1898, Schreiben (Zitat 2); ebd., Bl. 104f., Solf (Daressalam) an seinen Vater vom 25.8.1898, Schreiben (Zitat 1). 351 BA-B R 1001/237a, Bl. 84–94, Liebert (Daressalam) an KA vom 26.8.1898, Bericht; Liebert, Reise, S. 618–621.
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ten eineinhalb Jahre seiner Amtszeit die Küstenbezirke, das nördliche Binnenland bis zum Kilimandscharo sowie das Zentrum der Kolonie bereist. Da er im darauffolgenden Jahr ausweislich der Quellen lediglich zwei kurze Inspektionstouren in bereits besuchte Gegenden unternahm, sollte auch er weite Teile der Kolonie niemals zu Gesicht bekommen.352 Inzwischen war zudem ein Konflikt mit seiner vorgesetzten Behörde eskaliert. Erste Anzeichen dafür liefert ein zunehmend scharfer Ton in den Berichten Lieberts, die etwa seit der Jahreswende 1897/98 kaum mehr an den Reichskanzler, sondern fast ausschließlich an die Kolonialabteilung adressiert waren.353 Das auslösende Moment für die Auseinandersetzungen waren die Vorstellungen des Gouverneurs über den Ausbau der noch kaum vorhandenen Infrastruktur im ›Schutzgebiet‹, denen nur unzureichende Mittelzuweisungen aus Deutschland gegenüberstanden. Konkret forderte er den Bau zweier Eisenbahnlinien im Norden (Tanga – Moschi) und in der Mitte (Daressalam – Kilossa) der Kolonie, war er doch der Ansicht, dass dann »das weitere Hinterland sofort sich der Kultur erschließen« würde. Für einen amtlichen Bericht höchst ungewöhnlich, hatte er martialisch hinzugefügt: »Unterbleibt der Bahnbau, so sind wir Deutschen es nicht wert, jene herrlichen Landschaften zu besitzen.«354 Auch bei Waldersee beklagte sich Liebert über den zähen Fortgang der »Kolonisationsarbeit«, da »man in Berlin so ängstlich verfährt.«355 Neben seinen Bauvorhaben gelte das auch für den Wettbewerb mit anderen Kolonialmächten. Namentlich gegenüber Großbritannien plädierte Liebert – Solf zufolge ein »leidenschaftlicher Feind der Engländer« – für ein aggressiveres Vorgehen.356 Vor allem forderte er, Schwächen des Empire unverzüglich auszunutzen: »Wenn wir Deutschen alsdann nur nicht den Moment verpassen, sondern tüchtig zugreifen.« Dabei schreckte er selbst vor eigenmächtigen Handlungen nicht zurück und erklärte gegenüber Waldersee, er sei für einen solchen Fall »schon heute völlig vorbereitet und stets auf der Lauer«.357 Angesichts des britischen Engagements gegen die Buren in Südafrika ließ er kurzerhand das »nominell dem Kongostaat gehörige Gebiet bis zum Kiwu-See besetzen«, auch hinderte er einen seiner »unternehmungslustigen« Schutztruppenoffiziere nicht daran, von dort aus weiter nach Uganda vorzustoßen.358 Liebert gab zwar offen zu, dass dieses Gebiet vertraglich den Briten zustehe, doch habe er Fakten schaffen wollen. Seiner Selbstwahrnehmung zufolge stand wieder einmal seine soldatische Entschlusskraft
352 Langheld, Jahre, S. 277, 280. Danach fand eine Südreise im März/April 1899 statt, während Liebert die Landschaften Ukami, Usagara und Usegua im Sommer 1899 bereiste. 353 Für die daraus ablesbare Institutionalisierung des Berichtsweges spricht neben dem Geschäftsschriftgut eine Anordnung des AA: Bülow vom 30.8.1897, Geschäftsverkehr im Bereich des Auswärtigen Amtes, abgedruckt in: LGG Togo, S. 209–211. 354 BA-B R 1001/237a, Bl. 71–82, Liebert (Daressalam) an KA vom 6.4.1898, Bericht. Der letzte Satz wurde in der publizierten Fassung weggelassen: Liebert, Reisebericht, S. 265–268. 355 GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 90f., Liebert (Moschi) an Waldersee vom 27.2.1898, Schreiben. 356 BA-K N 1053/1, Bl. 98f., Solf (Daressalam) an seine Mutter vom 15.7.1898, Schreiben. 357 GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 90f., Liebert (Moschi) an Waldersee vom 27.2.1898, Schreiben. 358 Ebd., Bl. 102–104, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 30.10.1899, Schreiben; vgl. Bindseil, Ruanda, S. 141.
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dem ängstlichen Zögern der heimischen Zivilbehörden gegenüber. Spöttisch schrieb er an Waldersee:359 »Ich habe den Vorfall einfach nach Berlin gemeldet und einen Vorschlag gemacht, wie wir durch Tausch eine Grenzberichtigung mit England erzielen, dabei das Ufer des Albert Edward Sees aber für uns gewinnen könnten. […] Nunmehr freue ich mich zunächst auf die bleichen Gesichter der Diplomaten über einen solch kecken, England gegenüber angeschlagenen Ton und dann auf das Lamento, das sie erheben werden.« Ungeachtet seiner Selbstinszenierung und der wenig später tatsächlich vollzogenen Vorverlegung der Interessengrenze befand sich Liebert als Gouverneur jedoch längst in der Defensive.360 Ohnehin glaubte er feststellen zu müssen, dass seine »offiziellen Berichte nicht wirken« würden und er von Daressalam aus »nur im Einzelnen verwalten und kleines schaffen« könne, während seine vermeintlich großen »Ideen nur in Berlin anzuregen und durchzudrücken« seien.361 Letztlich zeigt sich darin aber seine eigene Überforderung, die umso schärfer hervortrat, als sich gerade in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit eine Reihe von Schwierigkeiten auftürmte. Einerseits hatten vorausgehende Dürreperioden und Heuschreckenplagen in Teilen der Kolonie seit der Jahreswende 1898/99 regelrechte Hungersnöte unter den Einheimischen ausgelöst. Angesichts vieler Todesopfer und erheblicher Ernteausfälle sanken dadurch naturgemäß auch die Erträgnisse der Hüttensteuer. Im Gegenzug sah sich das Gouvernement gezwungen, in begrenztem Ausmaß Lebensmittel in die Notstandsgebiete zu liefern. Für die mehr oder weniger verschont gebliebenen Gegenden ordnete Liebert dagegen an, die dortigen Steuern auch weiterhin in voller Höhe einzuziehen, um die Ausfälle zu kompensieren. Die bereits angesprochenen lokalen Unruhen waren die unvermeidliche Folge eines solchen Vorgehens.362 Gleichzeitig machte Liebert seine Eisenbahnprojekte immer mehr zu seiner Kernforderung. Dabei monierte er, dass Kolonialdirektor Buchka dem Reichstag gegenüber viel zu ängstlich vorgehe. Auch stänkerte er, dass dieser eben »Jurist und bloß Jurist« sei und »immer Bedenken« hege.363 Schließlich beging der Gouverneur den Fauxpas, Buchka »vor seinen eigenen Räten« in der Kolonialabteilung zu warnen und der Zentralbehörde eine »miserable Art zu arbeiten« zu unterstellen. Das Resultat war neben einer »ärger359 GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 102–104, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 30.10.1899, Schreiben. 360 Zwar reichte das deutsche Territorium seit der Grenzregulierung im April und Juli 1900 weder bis zum Edward- noch bis zum Albert-See, doch erfolgte ein Vorschieben der Grenze bis an den KivuSee. Vgl. DKB 11 (1900), S. 864; Hubatsch, Grundriss 22, S. 370f. 361 GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 90f., Liebert (Moschi) an Waldersee vom 27.2.1898, Schreiben (Zitat 1); ebd., Bl. 92–95, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 22.7.1898, Schreiben (Zitate 2+3). 362 BA-K N 1053/1, Bl. 96ff., Solf (Daressalam) an seine Mutter vom 29.5.1898, Schreiben; GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 96f., Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 8.3.1899, Schreiben. 363 Ebd., Bl. 92–95, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 22.7.1898, Schreiben. Die Annahme bei Buchsteiner, Buchka, S. 243f., dass zwischen Buchka und Liebert ein besonderes Vertrauensverhältnis bestanden habe, ist nicht haltbar und beruht auf einer isolierten Interpretation des zeitweiligen Briefwechsels zwischen beiden. Zu Lieberts Abneigung gegen die vermeintlichen Bürokraten in der KA: Liebert, Kolonien, S. 33, 47f., 66.
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lichen Dienstkorrespondenz« eine formale Zurechtweisung Lieberts wegen ungebührlichen Betragens.364 Ungeachtet dessen desavouierte er wenig später seine vorgesetzte Behörde auch öffentlich. Diese hatte zuvor die Aufhebung eines seiner Runderlasse angeordnet. Wiederum entgegen allen Gepflogenheiten leitete Liebert den Rücknahmeerlass mit den Worten ein, er sei durch die Kolonialabteilung zu diesem Schritt »genötigt« worden, nachdem sein »Einspruch« ungehört geblieben sei.365 Hatte der Reichskanzler zuvor noch eine mündliche Aussprache mit Liebert angeregt, wurde der Gouverneur am 23. Juni 1900 kurzerhand beurlaubt.366 Auch die Mobilisierung seiner heimischen Unterstützer konnte Lieberts koloniale Karriere nicht mehr retten. Dabei hatte er Waldersee noch gebeten, ihn gegenüber dem Reichskanzler als einen »sehr friedlichen, gutmütigen Menschen« zu schildern, der lediglich »sachlich mit soldatischem Freimut das vertrete, was ich für Pflicht und Recht halte.«367 Hohenlohe-Schillingsfürst war jedoch längst im Bilde, dass hinter der zeitgleich einsetzenden Hetzkampagne gegen den Kolonialdirektor vor allem Liebert und seine Unterstützer aus dem Alldeutschen Lager standen. Bereits im Mai 1900 stellte sich der Reichskanzler die Frage, »ob Buchka auf die Dauer bleiben kann und will«.368 Tatsächlich erfolgte wenige Wochen später dessen Rücktritt.369 Im Gegenzug erschien kurz nach Lieberts Ankunft in Deutschland ein gedrucktes Pamphlet, das dessen Verfehlungen öffentlich ausbreitete.370 Der Gouverneur, der in einer Privataudienz vom Kaiser empfangen worden war, suchte sich dagegen in der Kolonialen Zeitung zu rechtfertigen.371 Dabei behauptete er, dass in der ganzen Kolonie friedliche Zustände herrschen würden, während die Verwaltung sich über das ganze Land erstrecke und regelmäßig Steuern eingingen. Auch habe er die Aufschließung des Landes durch Straßen und Eisenbahnen vorbereitet und alle wirtschaftlichen Unternehmungen gefördert. Seine Amtsführung sei ohne »bürokratischen Zopf« ausgekommen, er habe »alle Konzepte durchgesehen und gezeichnet und alle Reinschriften unterschreiben müssen«, habe etliche Dienstreisen »mit höchstem Rekord ausgeführt« und treffe jetzt bei seiner Rückkehr auf groben Undank, dem er lediglich ein »gutes Gewissen treuer Pflichterfüllung« sowie die »volle Zustimmung meiner afrikanischen [!] Mitarbeiter« entgegenhalten könne. Bei öffentlichen Auftritten, wie etwa während einer Rede in Stuttgart, konterkarierte Liebert seinen Rechtfertigungsversuch aber teilweise. Einem der Vorwürfe in der erwähnten Anklage, wonach die Schutztruppe zum Jahreswechsel 1899/1900 am Kilimandscharo ein Massaker unter den Einheimischen angerichtet habe, hielt er die 364 GStA PK, Nl Waldersee/32, Bl. 110–113, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 6.5.1900, Schreiben; BA-K N 1067/21, KA an Liebert vom 23.3.1900, Erlass. 365 Liebert vom 2.6.1900, Aufhebung des Runderlasses vom 14.12.1899 betr. Entvölkerung der Karawanenstraßen, abgedruckt in: DKG 5, S. 85; vgl. Wagner, Propheten, S. 12. 366 Ebd., S. 7f. 367 GStA PK Nl Waldersee/32, Bl. 110–113, Liebert (Daressalam) an Waldersee vom 6.5.1900, Schreiben. 368 Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 572 (12.5.1900). 369 Allgemein zu Gerhard v. Buchka: Buchsteiner, Buchka. 370 Wagner, Propheten. 371 Liebert, Jahre, S. 446–448. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben.
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ungeschickte Stellungnahme entgegen, dass dabei »einige Hundert Neger getötet wurden – nicht aber 2.000 niedergemacht wurden.«372 In der inzwischen von Oscar Stuebel geleiteten Kolonialabteilung nutzte man solche Schwächen und forderte Aufklärung über die Untat.373 Keinen günstigen Eindruck hinterließen zudem Lieberts Versuche, alle im Zusammenhang mit der Hüttensteuer aufgetretenen Unzuträglichkeiten und Missstände auf seinen früheren Finanzdirektor Bennigsen abzuwälzen. Dieser – inzwischen Gouverneur von Neuguinea – sprach im Gegenzug von einer »Schwindelei Lieberts« und verwahrte sich gegen dessen Behauptungen.374 Einen Schlussstrich unter die Amtszeit Lieberts hatte aber ohnehin der Kolonialdirektor bereits am 31. Oktober 1900 gezogen. Da eine Wiederaufnahme der Amtsgeschäfte in Daressalam erst nach einer gerichtlichen Widerlegung der Anschuldigungen ratsam, ein solcher Versuch aber nicht empfehlenswert und er ohnehin mit seiner vorgesetzten Behörde unzufrieden sei, beantragte Stuebel beim Reichskanzler, den Gouverneur zur Disposition zu stellen.375 Verärgert schrieb Liebert daraufhin einem seiner Untergebenen, er wolle die Schutztruppenuniform »nie wieder sehen«, während er seiner Ehefrau zufolge »die letzten 4 Jahre ganz aus seiner Erinnerung« zu streichen suchte.376
4.3.1.4 Adolf Graf von Götzen Als Lieberts Entlassung am 4. Dezember 1900 vom Kaiser bestätigt wurde, stand sein Nachfolger bereits fest. Der damals erst 34-jährige Götzen erfreute sich nicht nur guter Kontakte zum Kaiserhaus, er war auch in der Kolonialabteilung durch seine AfrikaReisen als ein »Mann von ernstem wissenschaftlichen Streben bestens bekannt«.377 Darüber hinaus hatte er sich in der Deutschen Kolonialgesellschaft ebenso wie im Kolonialwirtschaftlichen Komitee engagiert, war also hervorragend vernetzt.378 Im Großen Generalstab hatte er zudem mit anderen afrikabegeisterten Offizieren, wie Ludwig v. Estorff oder Paul v. Lettow-Vorbeck, zusammengearbeitet.379 Für seine Ernennung dürfte nicht zuletzt ein gemeinsames Arbeitsfrühstück mit Waldersee am 18. August 1900 bedeutsam gewesen sein, für den damals Lieberts Abgang bereits absehbar war.380 Kurz danach erfolgte die obligatorische Kommandierung in die Kolonialabteilung. Wenngleich die Ernennungen zum Gouverneur und zum Kommandeur der Schutztruppe diesmal gleichzeitig erfolgten, regten sich angesichts dieser Personalie aber auch
372 BA-K N 1067/21, Liebert vom 16.10.1900, Rede in Stuttgart; vgl. Wagner, Propheten, S. 27. 373 BA-B R 1001/1053, Bl. 86, KA an Liebert vom 19.10.1900, Erlass. 374 GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (Herbertshöhe) an Schnee vom 21.12.1900, Schreiben (Zitat); BA-B R 1001/1053, Bl. 173, KA vom 2.2.1901, Notiz. 375 BA-K N 1067/21, Stuebel an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 31.10.1900, Bericht. 376 Liebert an Ganßer vom 10.1.1901, Schreiben, abgedruckt in: Ganßer, Tgb., S. 234; Ganßer an seine Eltern vom 4.3.1901, Schreiben, abgedruckt in: ebd., S. 233; vgl. Liebert, Leben, S. 168, 221. 377 BA-B R 1001/260, Bl. 74f., KA an Schele vom 19.9.1893, Erlass (Zitat); vgl. GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (Herbertshöhe) an Schnee vom 21.12.1900, Schreiben. Zu Götzens Kontakten zum Kaiserhof: Methner, Gouverneuren, S. 103f.; BA-B N 2146/26, Götzen (Daressalam) an König vom 1.[6].1901, Schreiben; Valentini, Kaiser, S. 119. 378 Bindseil, Ruanda, S. 127. 379 Estorff, Wanderungen, S. 79; Lettow-Vorbeck, Leben, S 46f.; vgl. Bindseil, Ruanda, S. 123. 380 Vgl. ebd., S. 123, 127.
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Bedenken. Zwar stellte der Bezirksleiter von Tabora, der den neuen Gouverneur ebenfalls aus dem Generalstab kannte, einerseits fest, dieser sei ein »klarer ruhiger Kopf und weiß, was er will«, weshalb dessen Ernennung »nicht für ungünstig« anzusehen sei. Andererseits stehe aber zu befürchten, dass das jugendliche Alter des Grafen »natürlich bei vielen Leuten wieder ein Stein des Anstoßes und Ärgernisses« sein werde.381 Ein potentielles Problem konnte auch darin gesehen werden, dass Götzen soeben außer der Reihe den ›Charakter‹ eines Majors verliehen bekommen hatte, was ihn – mit Ausnahme von Angehörigen regierender Fürstenhäuser – zum jüngsten Träger dieses Dienstranges in der gesamten Armee machte.382 Alle regulären Schutztruppenkommandeure waren bis dahin wesentlich dienstälter gewesen.383 Ungeachtet solcher Bedenken fällt auf, dass Götzen von vielen Zeitgenossen erstaunlich positiv charakterisiert wurde. Am wenigsten verwundert das bei dem mit ihm befreundeten Estorff, für den er ein »ernster, ruhiger, vornehmer, sehr gebildeter und tüchtiger Mann, einer der nettesten Menschen, die ich kennenlernte«, gewesen sei.384 Auch andere Weggefährten aus Offizierkorps und höherer Beamtenschaft bescheinigten Götzen einen »ganz vortrefflichen, reinen Charakter von höchstem Idealismus« ebenso wie eine »wahrhaft vornehme Persönlichkeit« mit einem »weichen, poetischen Gemüt«.385 Neben solchen nachträglich verfassten Urteilen lassen sich auch unmittelbare Quellen anführen. Der Offizier Rudolf v. Hirsch schrieb beispielsweise im September 1905 an seine Eltern, dass Götzen ihm »sehr höflich, sehr Diplomat, aber sympathisch« erschienen sei und dabei den »Eindruck eines gescheiten Mannes« vermittelt habe.386 Auch der Leutnant Philipp Correck notierte, der Gouverneur sei ihm »sehr freundlich« begegnet.387 Offensichtlich konnte Götzen seine vermeintlichen Defizite an Lebens- und Dienstalter durch sein Auftreten wettmachen. Einen nicht geringen Anteil daran hatte wohl auch die höfisch anmutende Inszenierung des gesellschaftlichen Lebens am Gouverneurssitz, gaben doch der Graf und seine Frau regelmäßige Teestunden und Diners für das standesgemäße Umfeld.388 Dort erschien Götzen dann als »verbindlich lächelnder
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Ganßer an seine Eltern vom 12.2.1901, Schreiben, abgedruckt in: Ganßer, Tgb., S. 231; vgl. Kandt, Caput Nili 2, S. 242. DKB 12 (1901), S. 182, 230. Vgl. Estorff, Wanderungen, S. 79, 89, 148. Ebd., S. 79. Eine gewisse Oberflächlichkeit äußert sich freilich darin, dass Estorff in seinen Erinnerungen dem ›Freund‹ irrtümlich den Vornamen ›Friedrich‹ verlieh. BA-MA N 103/24, S. 80, Lettow-Vorbeck, Lebenserinnerungen (Zitat 1); Methner, Gouverneuren, S. 103f. (Zitate 2+3); Kandt, Caput Nili 2, S. 242f. Methner war Referent im Gouvernement von Daressalam, während Richard Kandt als Forschungsreisender und späterer Resident von Ruanda den Grafen näher kennengelernt hatte. Diese positiven Urteile finden sich zum Teil in der Forschungsliteratur wieder. Besonders gilt dies für Bührer, Schutztruppe, S. 179, die Götzen zum »idealen Gouverneur« stilisiert. Ähnlich: Bindseil, Ruanda, S. 129. Vgl. dagegen das Negativbild in: Bald, Deutsch-Ostafrika, S. 38f., 45–47, 55, 64–75. Hirsch an seine Eltern vom 25.9.1905, Schreiben, abgedruckt in: Morlang, Sache, S. 507. BayHStA HS 908, Correck, Tgb. (3., 12.2.1906). Eine erste Begegnung war freilich »so lala« ausgefallen. Methner, Gouverneuren, S. 21, 74, 104, 112; BayHStA HS 908, Correck, Tgb. (10., 12., 17.2.1906); BA-B R 1001/767, Bl. 33–37, Eiffe (Johannesburg) an Stuebel vom 26.5.1904, Schreiben.
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Diplomat, der jedem seiner Gäste etwas Angenehmes sagte«.389 Dass es sich dabei häufig um Äußerlichkeiten handelte, blieb allerdings nicht jedem Beobachter verborgen, wurde doch in Anspielung auf den heimischen Kaiserhof die Residenz des Gouverneurs mitunter als »Klein-Potsdam« bezeichnet, wo »noch mehr intriguirt [sic!] [werde] als früher«.390 Der von Seiten des gräflichen Ehepaars vollzogene Transfer gesellschaftlicher Konventionen an die koloniale Peripherie scheint generell nicht nur positive Wirkungen entfaltet zu haben. Nach dem Urteil Schnees habe Götzen »den großen Fehler begangen, die verwöhnten Subalternbeamten nicht mit zu Gesellschaften einzuladen«, so dass er »dieselben nun alle gegen sich« aufgebracht habe.391 Tatsächlich schrieb Götzen bereits wenige Wochen nach seiner Ankunft in Daressalam, er würde sich dort, »wenn die ›Personalien‹ nicht wären, […] glücklich und zufrieden wähnen«.392 Gleichzeitig scheute er nicht davor zurück, ausgiebig von seinen Befugnissen Gebrauch zu machen. Dabei ließ er unter seiner mittleren Beamtenschaft diejenigen ablösen, die ihm als allzu »misstrauisch, empfindlich und streitsüchtig« erschienen.393 Nichtsdestotrotz zog er am Ende seiner Amtszeit gegenüber seinem Vetter das Fazit, dass die ständigen »Personalschwierigkeiten« für ihn wesentlich aufreibender gewesen seien als die »sachliche Arbeitslast« als Gouverneur.394 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern fällt vor allem auf, dass es Götzen gelang, sich gegenüber der Berliner Zentralbehörde dauerhaft ein »gutes Einvernehmen« zu bewahren.395 Dabei spielte zweifellos sein konziliantes Wesen eine wichtige Rolle. Mindestens ebenso bedeutsam war jedoch, dass die Absichten und Methoden des neuen Gouverneurs den Vorstellungen der Kolonialabteilung entgegenkamen. Weitgehender Konsens bestand im Hinblick auf die anstehenden Infrastrukturmaßnahmen. Dabei sah es die Zentralbehörde als unumgänglich an, die »Produktionsmöglichkeiten in den Binnengebieten der afrikanischen Kolonien […], insbesondere durch die Schaffung leistungsfähiger und billiger Verkehrsmittel, in größerem Maßstabe« dem eigenen Zugriff zu erschließen.396 Götzen positionierte sich entsprechend und erklärte, dass es für ihn in Ostafrika nur zwei Optionen gäbe: Entweder ein »Verzicht auf jeden Fortschritt« oder die »Aufschließung des Landes durch Eisenbahnen«.397 Im Unterschied zum ungeduldigen Liebert, der dasselbe Ziel vor Augen gehabt hatte, war der Graf aber der Ansicht, dass »Ordnung in den Finanzen […] die Grundlage« jeder Regierungstätigkeit sei und dementsprechend die Kassenlage das Tempo der be-
389 Methner, Gouverneuren, S. 105. 390 Ganßer, Tgb., S. 273 (6.12.1901). Dieser bezieht sich auf eine Schilderung von Franz Stuhlmann, dem ersten Referenten des Gouvernements. 391 BA-K N 1053/131, Bl. 8–11, Schnee (Berlin) an Solf vom 19.9.1901, Schreiben. 392 BA-B N 2146/26, Götzen (Daressalam) an König vom 1.[6].1901, Schreiben. 393 Ebd., Götzen (Daressalam) an König vom 17.11.1901, Schreiben. 394 BA-B N 2225/173, Bl. 9f., Götzen (an Bord ›Feldmarschall‹) an Pfeil vom 25.4.1906, Schreiben. 395 BA-K N 1053/131, Bl. 8–11, Schnee (Berlin) an Solf vom 19.9.1901, Schreiben. 396 JB 1902/03, S. 82. 397 Götzen in der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung vom 31.10.1903, zitiert nach: Tetzlaff, Entwicklung, S. 70.
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absichtigten Maßnahmen bestimmen müsse.398 Seine Äußerungen dürften in Berlin, wo man mit Blick auf das Budgetrecht des Reichstags ebenfalls auf »strengste Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung« pochte, mit Genugtuung aufgenommen worden sein.399 Bereits kurz nach seinem Amtsantritt meldete Götzen auf inoffiziellem Wege, dass die Vorhaben seines Vorgängers angesichts der verfügbaren Ressourcen »allzu großartig« gewesen seien, weshalb er dessen Projekte entweder ganz einstellen, zumindest aber zurechtstutzen lassen habe. Ironisch bescheinigte er auch den beiden früheren Finanzreferenten Bennigsen und Eberstein ein unnötiges Maß an »Genialität«. Seiner Meinung nach wäre ein »geübter Techniker und Fachmann« auf diesem Feld angezeigter gewesen. Besonders die Methoden des langgedienten Wißmann-Protegés Eberstein konnte der Graf kaum fassen: »So etwas von Ignorierung des Etats hätte ich nicht für möglich gehalten!«400 Neben Einsparungen bei seiner Zentralbehörde in Daressalam, kürzte Götzen auch die Zuweisungen an die Regionalverwaltung, wobei seiner Ansicht nach »am meisten […] zunächst die Militärstationen leiden« würden.401 Tatsächlich hob er eine kurz zuvor ergangene Bestimmung wieder auf, wonach diesen die Hälfte der Einnahmen aus der Hüttensteuer für lokale Zwecke verblieben wäre. Außerdem drohte er den Stationsleitern, dass Haushaltsüberschreitungen nach wie vor »nicht zulässig« seien und er bei Zuwiderhandlungen die Beträge dem »verantwortlichen Bezirkschef persönlich zur Last« legen würde. Überhaupt forderte er, dass sich künftig alle »Aufwendungen sachlicher Natur auf das unumgänglich Notwendige zu beschränken« hätten.402 Götzens Sofortmaßnahmen blieben nicht ohne Resonanz. Bald registrierte der im entfernten Tabora amtierende Ganßer einen »eigentümlichen Ton«, der neuerdings aus den Erlassen des Gouvernements hervorgehe.403 Zudem entstand für ihn der Eindruck, es kämen »mit jeder Post […] widersprüchliche Befehle«.404 Auch mutmaßte der Stationschef zutreffend, dass der neue Gouverneur »vor allem streng darüber zu wachen« scheine, dass »keine Überschreitungen gemacht werden«. Solche Sparmaßnahmen aus der Feder der »wohlweisen Herren an der Küste […], welche von den Bedürfnissen etc. des Inneren keine Ahnung haben und klug reden«, lehnte Ganßer jedoch ab. Seiner Ansicht
398 BA-B N 2146/26, Götzen (an Bord ›Kaiser Wilhelm‹) an König vom 16.6.1901, Schreiben; vgl. Bindseil, Ruanda, 165. 399 JB 1902/03, S. 82. 400 BA-B N 2146/26, Götzen (an Bord ›Kaiser Wilhelm‹) an König vom 16.6.1901, Schreiben (Zitate 1+3+4); ebd., Götzen (Daressalam) an König vom 1.[6].1901, Schreiben (Zitat 2); vgl. BA-K N 1053/131, Bl. 8–11, Schnee (Berlin) an Solf vom 19.9.1901, Schreiben. Darin ist davon die Rede, dass »Eberstein seine Unfähigkeit zum Finanzleiter in O[st-]A[frika]« geradezu »glänzend« unter Beweis gestellt habe. 401 BA-B N 2146/26, Götzen (an Bord ›Kaiser Wilhelm‹) an König vom 16.6.1901, Schreiben. 402 Götzen vom 26.4.1901, Runderlass betr. Einnahmen und Ausgaben der Militärbezirke, abgedruckt in: DKG 6, S. 304–306; vgl. Götzen vom 15.11.1901, Runderlass betr. Einnahmen der Militärbezirke, abgedruckt in: ebd., S. 306. Auch die Kolonialabteilung vertrat diese Sparpolitik: KA (Schmidt-Dargitz, i.V.) vom 9.8.1902, Runderlass betr. Pflichten der in der Zivilverwaltung verwendeten Offiziere der Schutztruppe, abgedruckt in: ebd., S. 496. 403 Ganßer an seine Eltern vom 8.7.1901, Schreiben, abgedruckt in: Ganßer, Tgb., S. 260. 404 Ganßer an seine Eltern vom 31.7.1901, Schreiben, abgedruckt in: ebd., S. 262.
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nach würde auf diese Weise nur am »unrechten Ende gespart«.405 Von anderen Binnenstationen wurden ähnliche Vorwürfe laut, wobei erneut behauptet wurde, in Daressalam stünden unter dem neuen Gouverneur »Intriguenwesen und bureaukratische Zivilverwaltung […] in voller Blüte«.406 Ganßer bat schließlich um seine Ablösung, wobei er augenzwinkernd seinem Vater gegenüber bemerkte, er halte es »für besser, wenn ich jetzt gehe und die Götzendienerei aufhört!«407 Dessen Sparkurs wirkte sich nicht zuletzt auf den Personalstand aus. Während die Anzahl der europäischen Schutztruppenangehörigen angesichts wenig flexibler Sollstärken kaum unter das Minimum von 165 Offizieren, Ärzten und Unteroffizieren sank, erfasste der Abbau in erster Linie die zivilen Beamten. Ihre Zahl hatte unmittelbar vor Götzens Ankunft 249 Köpfe erreicht, ging jedoch binnen des ersten Jahres seiner Ägide auf weniger als zweihundert zurück.408 Dabei war es in erster Linie die bereits von seinen Vorgängern wenig geschätzte Zentralverwaltung in Daressalam, die am meisten Personal einbüßte. Hatten sich dort zuletzt bis zu zweihundert Beamte und Offiziere angesammelt, schickte Götzen rund ein Drittel von diesen entweder nach Hause oder versetzte sie ins Landesinnere. Das europäische Personal auf den Stationen wuchs daher auf das Doppelte an.409 In Daressalam gestaltete der Graf das Gouvernement entsprechend seinen Vorstellungen um. Anstelle eines effizient arbeitenden, verschlankten Verwaltungsapparates führten seine Umbesetzungen und Stellenstreichungen am Ende aber zu einer »absoluten Zentralisation« mit ausschließlicher Ausrichtung auf die Person des Gouverneurs. Das hatte zwar einerseits den Effekt, dass er in sämtliche Entscheidungsvorgänge eingebunden war, andererseits resultierte daraus aber auch eine »übertriebene Detailarbeit«. Der oberste Beamte der Kolonie litt daher bald unter latenter Arbeitsüberlastung. Ein außenstehender Beobachter gewann den Eindruck, der Gouverneur sei angesichts seiner acht- bis neunstündigen Bürotage nur noch eine »reine Arbeitsmaschine, arbeitet sogar die ganzen Sonntage«, so dass er »natürlich nie Zeit« habe. Götzens Unfähigkeit zum Delegieren führte dazu, dass die »Stellung des Gouverneurs heruntergedrückt« wurde, wo dieser doch eigentlich »mehr regieren als verwalten« sollte.410 Auch er selbst stellte bald fest, dass ihm die Dinge zu entgleiten drohten. An den Leiter des Berliner Personalreferats schrieb er schließlich, er könne »bei dem Umfang meiner Arbeit, lange nicht alles ordentlich lesen, was ich unterschreibe«. Anstatt die fehlerhafte Organisation aber zu korrigieren, kam Götzen auf die absonderliche Idee, den Adressaten zu bitten, ihn via Privatbrief zu informieren, sollten ihm »irgendwelche Unregelmäßigkeiten oder Merkwürdigkeiten bei meiner Berichterstattung aufstoßen«.411 Eine erneute Aufstockung des 405 406 407 408 409 410 411
Ganßer an seine Eltern vom 22.7.1901, Schreiben, abgedruckt in: ebd., S. 261. BayHStA Nl Hirsch/9, Bl. 20, Hirsch, Tgb. (8.10.1905). Ganßer an seine Eltern vom 10.12.1901, Schreiben, abgedruckt in: Ganßer, Tgb., S. 272. JB 1900/01, S. 2965; JB 1901/02, S. 5320; JB 1902/03, S. 148; JB 1903/04, S. 3017. JB 1896/97, S. 944; JB 1903/04, S. 3017. BA-B R 1001/767, Bl. 33–37, Eiffe (Johannesburg) an Stuebel vom 26.5.1904, Schreiben. BA-B N 2146/26, Götzen (Daressalam) an König vom 25.8.1901, Schreiben; vgl. BA-B R 1001/767, Bl. 33–37, Eiffe (Johannesburg) an Stuebel vom 26.5.1904, Schreiben. Eiffe stellte fest, dass Götzen praktisch sämtliche Schriftstücke eigenhändig unterzeichnete, wodurch er jede Nebensächlichkeit »mit seinem Namen« decke und dementsprechend »für alles […] persönlich verantwortlich«
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Personals lehnte er dagegen ab, erklärte er doch, er wolle »nicht mehr höhere Beamte beantragen, weil er fürchten müsse, in Berlin auf Schwierigkeiten zu stoßen.«412 Götzens Überbeanspruchung mit Routineangelegenheiten äußerte sich auch darin, dass ausgerechnet er als früherer Forschungsreisender vergleichsweise wenige Inspektionstouren unternahm und sich stattdessen die meiste Zeit in Daressalam als unabkömmlich wähnte. Auf seinen Amtsantritt folgten daher lediglich die obligatorischen Kurzbesuche der Küstenstationen. Diese wurden ergänzt durch zwei Aufenthalte in Usambara sowie eine Reise nach Morogoro, wo es sich um die Besichtigung von Plantagen und Eisenbahntrassen handelte.413 Auf keiner dieser Touren gelangte Götzen weiter als zweihundert Kilometer ins Landesinnere. Einzig seine letzte Reise im Sommer 1905 führte ihn noch einmal in die Gegenden seiner früheren Expeditionsrouten. Auf dem Weg in den äußersten Nordwesten der Kolonie wurden die großen Entfernungen allerdings mit der britischen Uganda-Bahn sowie per Schiff auf dem Victoria-See zurückgelegt, so dass dem Gouverneur nur wenig von der Lebenswirklichkeit vor Ort vermittelt worden sein dürfte.414 Ohnehin sollte auch Götzen die riesigen Flächen im mittleren und südlichen Teil seiner Kolonie niemals zu Gesicht bekommen. Da durch die Personalkürzungen in Daressalam auch die Reisetätigkeit seiner Referenten eingeschränkt war, wuchs zwangsläufig die Abhängigkeit des Gouvernements von der schriftlichen Berichterstattung der Bezirks- und Stationsleiter.415 Nicht zu Unrecht gewannen einige Zeitgenossen daher den Eindruck, der Graf und seine Mitarbeiter würden in erster Linie »vom grünen Tisch aus von oben herab« entscheiden.416 Gleichzeitig trug eine Neuaufteilung der normativen Kompetenzen zwischen Zentrale und Peripherie dazu bei, die Entscheidungsvorgänge erheblich zu verzögern und somit den Abstand zwischen Theorie und Praxis noch mehr zu vergrößern. Das war wiederum das Resultat eines Runderlasses vom 14. März 1901, in dem der Kolonialdirektor die Gouverneure sämtlicher Schutzgebiete instruiert hatte, »zukünftig in allen Fällen, in denen dies ohne Schaden für die Sache angängig erscheint, die zu erlassenden Verordnungen im Entwurfe hier zur Genehmigung vor-
gemacht werden könne. Vgl. BA-B N 2146/25, Gerstmeyer (Daressalam) an König vom 12.4.1904, Schreiben: »Graf Götzen klagte mir übrigens wiederholt, dass er wie seine Referenten übermäßig zu arbeiten hätten.« 412 Ebd. 413 DKB 12 (1901), S. 482; BA-B N 2146/26, Götzen (Daressalam) an König vom 25.8.1901, Schreiben; DKB 13 (1902), S. 462; DKB 15 (1904), S. 135. Allgemein zum Bahnbau in DOA: Tetzlaff, Entwicklung, S. 63–70, 81–100. 414 DKZ 22 (1905), S. 276. 415 Methner, Gouverneuren, S. 68f., 75; vgl. die Inspektionsreisen der sogenannten Revisionskommission, die offenbar jährlich durchgeführt wurden: BA-B R 1001/290, Bl. 177f., Stuhlmann an Mil.Station Ujiji (Müller) vom 4.2.1903, Erlass; BA-B R 1001/278, Bl. 57–61, Schleinitz an Gouvernement vom 7.9.1903, Bericht. 416 Ganßer an seine Eltern vom 31.7.1901, Schreiben, abgedruckt in: Ganßer, Tgb., S. 262 (Zitate); BA-B R 1001/767, Bl. 33–37, Eiffe (Johannesburg) an Stuebel vom 26.5.1904, Schreiben; Methner, Gouverneuren, S. 68f.; vgl. Bindseil, Ruanda, S. 165.
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zulegen und grundsätzlich von dem Verordnungsrecht einen möglichst sparsamen Gebrauch zu machen.«417 Damit wurde die bisherige Übung, Verordnungen erst nach ihrer Verkündung der Berliner Zentrale vorzulegen, durch eine vorherige Genehmigungspflicht ersetzt.418 Begründet hatte Stuebel diese Beschneidung der gouvernementalen Befugnisse mit der pauschalen Behauptung einer »zu häufigen und zu weit gehenden Handhabung des Verordnungsrechts«.419 Deutet dieser Vorwurf auf Unstimmigkeiten zwischen Zentralbehörde und Gouvernements hin, wusste wenig später Schnee privatim zu berichten, dass die Kolonialabteilung »zur Zeit nicht gerade besonders gut mit den Gouverneuren« zusammenarbeite. Vor allem die Beziehungen zu den Verwaltungsspitzen in Kamerun, Südwestafrika und Neuguinea würden zeitweise einen regelrechten Konfliktcharakter aufweisen. Eine Ausnahme konnte der damals im Berliner Personalressort tätige Schnee aber verzeichnen: »Der einzige, mit dem noch ein gutes Einvernehmen besteht, ist Götzen.«420 Dieser erneute Beleg für dessen Übereinstimmung mit seiner vorgesetzten Behörde verwundert wenig, da der Graf als neu eingesetzter Gouverneur sich kaum mit der Kritik der Kolonialabteilung an der bisherigen Verordnungspraxis zu identifizieren brauchte. Auch sonst hatte Götzen aus den Konflikten seines Vorgängers die notwendigen Lehren gezogen. Gemessen an den Worten des Bezirkschefs von Tabora, der für Lieberts Nachfolger zwei Optionen erkannt zu haben glaubte, nämlich dass dieser »entweder […] nach der Pfeife der Alles am besten wissenden (Juristen) Geheimräthe in der Kolonial-Abtheilung« tanzen müsse oder aber »als unbequemes Glied in der Familie möglichst bald unschädlich gemacht« würde, entschied sich der Graf eindeutig für die erste Möglichkeit.421 Anders als die meisten seiner Kollegen konnte er selbst nach dreijähriger Amtszeit feststellen, dass er sich »überhaupt von oben […] einer sehr guten Behandlung erfreue. Von einer zu großen Bevormundung des Gouverneurs merke ich nichts.«422 Wie aus seiner Sparpolitik hervorgeht, zielte Götzen gleichzeitig auf eine Neuausrichtung des Verhältnisses zwischen Gouvernement und Regionalverwaltung ab. Dabei ging es ihm angesichts der nach wie vor knappen Ressourcen hauptsächlich um eine Steigerung der administrativen Effizienz, daneben aber auch um eine verbesserte Kontrolle der peripheren Organe. Ein probates Mittel erschien ihm eine längere Verweildauer der Bezirks- und Stationsleiter an ihren Dienstorten zu sein. Aber auch hier sah er sich von Anfang an Schwierigkeiten gegenüber. Konstatierte Götzen den »ewigen Wechsel in den Personen« generell als »schlimm«, musste er gleichzeitig einsehen, dass sich dieses Problem kurzfristig »schwerlich ändern lassen« würde. Vorläufig sollte zumindest in den zivilen Verwaltungsbezirken Abhilfe geschaffen werden: »Überhaupt will ich die Bez[irks-]Amtsleute möglichst wenig wechseln; jetzt wo die Kommunen geschaffen sind 417 418 419 420 421 422
Stuebel vom 14.3.1901, Runderlass betr. Handhabung des Verordnungsrechts, abgedruckt in: DKG 6, S. 287. Zur bis dahin geltenden Regelung siehe Kapitel 4.2. Stuebel vom 14.3.1901, Runderlass betr. Handhabung des Verordnungsrechts, abgedruckt in: DKG 6, S. 287. BA-K N 1053/131, Bl. 8–11, Schnee (Berlin) an Solf vom 19.9.1901, Schreiben. Ganßer an seinen Vater vom 13.3.1901, Schreiben, abgedruckt in: Ganßer, Tgb., S. 233. Götzen an Hans Meyer vom 7.4.1904, Schreiben, zitiert nach: Bindseil, Ruanda, S. 133.
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und sich immer mehr entwickeln, muss der Bezirksamtmann ganz mit seinem Bezirk verwachsen.«423 Vor allem für die Küstenbezirke blieb es keineswegs bei Absichtserklärungen, vielmehr gelang es dem Grafen tatsächlich, die durchschnittlichen Amtszeiten der dortigen Bezirksleiter mehr als zu verdoppeln. Auch die Dienstzeiten der Leiter der Stationen im Binnenland verlängerten sich im Schnitt um einige Monate, wenngleich diese Fristen nach wie vor unzureichend blieben, um die gewünschte Kontinuität zu erreichen.424 Angesichts verhältnismäßig kurzer Amtszeiten in den Binnenbezirken stellt sich gleichzeitig die Frage, ob sich die seitens der Forschung für Togo postulierte, außergewöhnliche Machtstellung der Stationschefs ohne Weiteres auf Ostafrika übertragen lässt.425 Bei einer durchschnittlichen Anwesenheit von etwa zwei Jahren, der Abhängigkeit von Mittelzuweisungen und ihrer Dienstbeurteilung durch den Gouverneur, nicht zuletzt aber auch der Gefahr, dass Verstöße durch den jeweiligen Nachfolger aufgedeckt und gemeldet werden konnten, erscheint eine Relativierung angebracht. Zwar soll keineswegs bestritten werden, dass sich den Stationschefs im Hinterland angesichts notorischer Kommunikations- und Kontrollprobleme immer wieder Möglichkeiten eröffneten, ihr Verwaltungshandeln ins rechte Licht zu rücken und Verfehlungen zu vertuschen. Andererseits erscheinen jedoch Schlagworte, die den Stationsleitern den Status von »wahren Herrschern« zuschreiben, schwerlich generalisierbar. Anhand einiger Beispiele zur Kontrolle von Innenstationen durch das Gouvernement lassen sich diese Zweifel zumindest für Deutsch-Ostafrika untermauern. Zwischen September 1902 und Frühjahr 1903 stellte man im Gouvernement von Daressalam eine Häufung militärischer Strafzüge fest, die von mehreren Stationen in den nördlichen Teilen der Kolonie durchgeführt wurden. In fast allen Fällen behaupteten die Bezirkschefs, ein Fehlverhalten der indigenen Bevölkerung habe den Anlass für ihr Einschreiten gegeben. Gleichzeitig fällt auf, dass sich während dieses Zeitraums Götzen auf Urlaub in Deutschland befand.426 Es oblag somit dessen Stellvertreter, dem Zoologen Franz Stuhlmann, die Vorgänge im Binnenland vom Sitz des Gouvernements aus zu bewerten und bedarfsweise einzugreifen. Der erste dieser bewaffneten Konflikte betraf die Ethnie der Sandawe, in deren Wohnbezirken sich die beiden Militärposten Kondoa-Irangi (Bezirk Mpapua) und Mkalama (Bezirk Kilimatinde) befanden. Aufgrund der Nachrichten stellten sowohl der noch anwesende Gouverneur als auch Stuhlmann fest, dass es dort zur Ermordung einiger europäischer Viehhändler gekommen war, die zuvor die Einheimischen zu übervorteilen versucht hatten.427
423 BA-B N 2146/26, Götzen (Daressalam) an König vom 25.8.1901, Schreiben. 424 Das ergibt eine Auswertung der Dienstzeiten der Leiter fast sämtlicher Bezirke und Stationen. Franz/Geissler, Deutsch-Ostafrika-Archiv, S. 80–136. Einschränkend ist zu bemerken, dass die dortigen Aufstellungen nicht ganz vollständig sind. Angesichts der großen Datenmenge ist trotzdem eine ausreichende Repräsentativität gegeben. 425 Trotha, Herrschaft, S. 106f. Dort werden für einige Bezirks-/Stationsleiter extrem lange Amtszeiten angeführt. Derartige Einzelfälle gab es auch in Ostafrika. Zur Situation in Togo siehe Kapitel 4.5.1. 426 Götzen reiste zu Anfang Oktober 1902 ab und traf am 10.5.1903 wieder in Daressalam ein. 427 BA-B R 1001/290, Bl. 166, Götzen (Daressalam) an KA vom 27.7.1902, Telegramm; BA-B R 1001/699, Bl. 100f., Stuhlmann (Daressalam) an KA vom 11.8.1902, Bericht.
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Da im Zuge der dadurch ausgelösten Unruhen der Posten in Mkalama belagert, einige Jumben der Umgegend angegriffen sowie mehrere ihrer Leute getötet worden sein sollen, ergriffen die nächstgelegenen Stationschefs die Initiative. Zunächst geschah das in Übereinstimmung mit dem Gouvernement. Von dort entsandte man sogar eine Abteilung Askari unter dem Kommando des bayerischen Offiziers Rudolf Kohlermann als Unterstützung.428 Die Stationsberichte lassen jedoch keine Zweifel an den darauffolgenden Maßnahmen aufkommen. Bei fünf Zusammenstößen tötete die durch irreguläre ›Hilfskrieger‹ verstärkte Schutztruppe mehr als 350 Einheimische, so dass in Daressalam davon ausgegangen wurde, der Widerstand sei nunmehr »vollständig gebrochen« und eine »Wiederholung derartiger Unruhen für die Folge ausgeschlossen«.429 Es sollte anders kommen. Die beiden Postenchefs von Mkalama und Kondoa-Irangi, Kohlermann und Eugen Styx, meldeten bald darauf erneute Übergriffe der Sandawe, weshalb sie von ihren vorgesetzten Bezirkschefs die Order erhielten, »zur Bestrafung der Aufständischen abzurücken«. Die Gefechtsberichte offenbaren erneut, worum es sich bei diesen ›Expeditionen‹ wirklich handelte: Kohlermann schrieb von einer »gründlichen Säuberung«, bei der er die »Rebellen zu Paaren« getrieben habe, wobei deren »Rädelsführer […] mit ihrem Leben gebüßt« hätten. Styx meldete, er habe mehrere Salven auf »1.000 bewaffnete Wilde« abgeben lassen und diese dann bis zu ihren Wohnstätten verfolgt. Letztere seien dann niedergebrannt worden, wobei etliche Bewohner umgekommen seien.430 Als Stuhlmann von dem Geschehen erfuhr, schrieb er angesichts der großen Anzahl getöteter ›Rebellen‹ an die Kolonialabteilung von einem »Verlust ungezählter Menschenleben bei den beteiligten Eingeborenen«, der einzig auf die »Anwendung übertriebener militärischer Schärfe« zurückzuführen sei.431 Gleichzeitig wies er die beiden Stationschefs zurecht und warf ihnen vor, ihre Befugnisse überschritten zu haben. Nach Stuhlmanns Ansicht hätte das »alleinige Erscheinen geschlossener und geordneter Truppen-Detachements schon genügen« müssen, um die Sandawe einzuschüchtern. Die Expeditionsführer hätten demgegenüber nicht einmal den Versuch unternommen, die »aufgeregten und irregeleiteten Massen durch ruhige Behandlung und ohne derart ausgiebiges Blutvergießen zur Vernunft zurückzuführen«. Kohlermann bescheinigte er, dass einzig »Abenteuerlust und willkürliches Draufgehen« sein Handeln bestimmt hätten. Neben den »Erwägungen der Humanität« widersprach Stuhlmann zufolge das »Opfern so zahlreicher Menschen« auch den »Interessen des Schutzgebiets«. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ebenso wie die fiskalischen Erträge würden »in Frage gestellt, wenn Tausende der kräftigsten Männer ohne Wahl geopfert werden.« Für die Zukunft ordnete er deshalb an, dass »kriegerische Maßregeln
428 Ebd. 429 Ebd., Bl. 103–105, Stuhlmann (Daressalam) an KA vom 16.10.1902, Bericht. 430 Ebd., Bl. 113, Kohlermann (Mkalama) an Gouvernement vom 30.10.1902, Bericht; ebd., Bl. 107f., Styx (Kondoa-Irangi) an Gouvernement vom 31.10.1902, Bericht. 431 Ebd., Bl. 105b, Stuhlmann (Daressalam) an KA vom 12.12.1902, Bericht. Unter Einbeziehung der von dem Detachement des Stationsleiters August Fonck getöteten Einheimischen belief sich die Zahl der Opfer auf mehr als 1.600 Tote. Ebd., Bl. 105c-106, Fonck (Mpapua) an Gouvernement vom 6.11.1902, Bericht.
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nur dann zur Durchführung« gelangen dürften, »wenn die eigene Sicherheit es unbedingt erfordert«.432 Damit waren die Maßnahmen des Gouvernements aber keineswegs erschöpft. Kohlermann, der seinem Bericht zufolge allein 1.100 Menschen hatte massakrieren lassen, wurde aufgefordert, die schriftlichen Todesurteile für die von ihm »zur Rechenschaft gezogen[en]« Rädelsführer dem Gouvernement vorzulegen, woraufhin der Oberleutnant ausweichend erklärte, dieselben seien im Gefecht getötet und nicht exekutiert worden.433 Da Kohlermann kurz darauf verstarb, unterblieben weitere Ermittlungen gegen ihn.434 Auch der Stationsleiter von Mpapua August Fonck und sein Untergebener Styx wurden zur Rechtfertigung aufgefordert. Gleichzeitig hatte Stuhlmann sich mittels »privater Rücksprache« mit Ansiedlern, Händlern und Missionaren weitere Informationen verschafft und war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass die Unruhen teils durch Einsetzung ungeeigneter Jumben, teils durch eine »verhältnismäßig enorme Besteuerung« ausgelöst worden seien.435 Die Offiziere beharrten dagegen darauf, es habe sich um einen »äußerst human geführten Krieg« gehandelt. Auch bei der Steuereintreibung sei mit »weitgehendster Milde« vorgegangen worden.436 Die bloßen Zahlen sprechen allerdings gegen diese Aussage, verzeichnete doch der Bezirk Mpapua im Jahr zuvor einen auffälligen Zuwachs beim Steueraufkommen. Dieses hatte sich von 1901 auf 1902 etwa um das Achtfache erhöht. Auch wenn solche absoluten Zahlen angesichts der ungleichmäßigen Besteuerung nur als Anhalt dienen können, lässt sich eine »Anziehung der Steuerschraube« kaum leugnen.437 Als Gegenmaßnahme ließ der stellvertretende Gouverneur die Steuern im Bezirk wieder reduzieren, so dass sich das Aufkommen im darauffolgenden Jahr nur mehr auf ein Viertel des Vorjahres bezifferte.438 Nahezu gleichzeitig mit den Ereignissen in den Bezirken Mpapua und Kilimatinde sah sich das Bezirksamt Pangani in die lokalen Rivalitäten zweier Jumben involviert. Zwar waren dort weitaus weniger Opfer zu beklagen, doch hatte sich ein Unteroffizier der Polizeitruppe ebenfalls zu »gewalttätigen Akten gegen die gänzlich unbeteiligten Bewohner der Ortschaften […] hinreißen lassen«. War es zunächst um die Fahndung nach einem mutmaßlichen Viehdieb gegangen, bestand das Resultat in drei eingeäscherten
432 Ebd., Bl. 114–117, Stuhlmann (Daressalam) an Reitzenstein vom 12.12.1902, Erlass. 433 Ebd., Bl. 113, Kohlermann (Mkalama) an Gouvernement vom 30.10.1902, Bericht; BA-B R 1001/700, Bl. 19, Gouvernement an Mil.-Station Kilimatinde vom 20.12.1902, Telegramm; ebd., Bl. 20, Kohlermann (Mkalama) an Mil.-Station Kilimatinde vom 8.1.1903, Bericht. 434 Kohlermann war erst am 21.3.1902 zur Schutztruppe für DOA übergetreten. Er starb am 12.3.1903 in Mkalama. 435 BA-B R 1001/700, Bl. 10f., Stuhlmann (Daressalam) an KA vom 20.3.1903, Bericht. 436 Ebd., Bl. 26f., Styx (Kondoa-Irangi) an Gouvernement vom 28.3.1903, Bericht; vgl. ebd., Bl. 12f., Fonck (Mpapua) an Gouvernement vom 26.12.1902, Bericht; ebd., Bl. 28f., Styx (Kondoa-Irangi) an Fonck (Mpapua) vom 29.3.1903, Bericht; ebd., Bl. 30, Fonck (Mpapua) an Gouvernement vom 30.3.1903, Bericht. 437 Ebd., Bl. 23f., Stuhlmann (Daressalam) an KA vom 24.4.1903, Bericht. 438 JB 1905/06, S. 199. Das Steueraufkommen im Bezirk Mpapua bezifferte sich in den drei Rechnungsjahren 1901, 1902 und 1903 auf 5.128, 39.771 bzw. 11.151 Rupien.
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Dörfern und etlichen beschlagnahmen Rindern. Angesichts der Tragweite der Ereignisse entsandte Stuhlmann diesmal den Referenten Haber zur Untersuchung des Falls. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass es sich beim Vorgehen der Polizeitruppe wiederum um einen »durch nichts gerechtfertigten, willkürlichen Akt« gehandelt habe. Im Resultat wurde das Vieh zurückgegeben und der betreffende Unteroffizier nach Daressalam strafversetzt.439 Auch im äußersten Nordwesten der Kolonie, wo zwei Stationen den Auftrag hatten, riesige Räume mit zahlreicher Bevölkerung zu kontrollieren, kam es in diesen Monaten zum Konflikt über die Wahl der zulässigen Mittel. Sowohl der Hauptmann Robert v. Beringe in Usumbura als auch sein Amtskollege in Udjidji, der Hauptmann Alfred v. Müller, stellten um die Jahreswende 1902/03 Anträge auf eine »größere Machtentfaltung« gegenüber dem Mwezi Kisabo in Urundi einerseits sowie ein »strafendes« Eingreifen gegen den chief Luassa in der Landschaft Uha andererseits.440 Es verwundert nicht, dass Stuhlmann beide Gesuche ablehnte. Dabei konnte er sich gegenüber Beringe auf eine Instruktion Götzens berufen, der die schon länger beabsichtigte Expedition nach Urundi nicht als »kriegerische Handlung, sondern die Reise zum Mwezi als den Besuch eines Großen zu einem anderen Großen« hatte verstanden wissen wollen.441 Auch Müller wurde telegraphisch angewiesen, etwaige »Unruhen tunlichst friedlich bei[zu]legen«. Ausdrücklich untersagte Stuhlmann auch die von Müllers Vorgängern vorgeschlagene Option eines »Vernichtungskrieges« ebenso wie die eines »auf das Allerstrengste geführten Kleinkriegs, der an Ausrottung streift«.442 Zweifellos dürfte der stellvertretende Gouverneur sich darüber bewusst gewesen sein, dass er aus dem über eintausend Kilometer entfernten Daressalam das Geschehen in Urundi und Ruanda kaum wirksam zu steuern vermochte. Nach den Erfahrungen in Mpapua, Kilimatinde und Pangani wollte sich Stuhlmann zudem nicht mehr mit einem bloßen Reagieren auf bereits vollzogene Tatsachen zufriedengeben. Mit seinem Bericht vom 17. Januar 1903 übersandte er deshalb den Entwurf eines Runderlasses an die Kolonialabteilung.443 Darin war eingangs von mehreren »kriegerischen Ereignissen« in den vergangenen Monaten die Rede, die »bedauerlicherweise einen großen Verlust an Menschenleben und eine Zerstörung des Wohlstandes der betreffenden Gegenden zur Folge gehabt« hätten. Ein solches Vorgehen könne sich nur zum Nachteil der weiteren 439 BA-B R 1001/699, Bl. 137f., Stuhlmann (Daressalam) an BA Pangani vom 29.12.1902, Erlass; ebd., Bl. 132, Mgaya bin Kivia an BA Pangani vom 2.10.1902, Bericht; ebd., Bl. 123, Modoé an BA Pangani vom 7.11.1902, Bericht. 440 BA-B R 1001/290, Bl. 193–225, Beringe (Usumbura) an Gouvernement vom 27.11.1902, Bericht; BA-B R 1001/699, Bl. 153f., Beringe (Usumbura) an Gouvernement, o.D. [Dezember 1902), Bericht; BA-B R 1001/290, Bl. 236, Müller (Udjidji) an Gouvernement vom 20.1.1903, Bericht. 441 BA-B R 1001/699, Bl. 152f., Götzen (Daressalam) an Beringe vom 13.9.1902, Erlass; ebd., Bl. 159f., Stuhlmann (Daressalam) an Beringe vom 11.2.1903, Erlass. 442 BA-B R 1001/290, Bl. 176, Stuhlmann (Daressalam) an Müller vom 31.1.1903, Telegramm; ebd., Bl. 177f., Stuhlmann (Daressalam) an Müller vom 4.2.1903, Erlass; vgl. ebd., Bl. 145f., Münchhausen (Kwa Marni) an Gouvernement vom 18.12.1900, Bericht; ebd., Bl. 147f., Grawert (Usumbura) an Gouvernement vom 12.1.1901, Bericht; ebd., Bl. 171, Stuhlmann (Daressalam) an KA vom 4.2.1903, Bericht. 443 BA-B R 1001/699, Bl. 142–148, Stuhlmann (Daressalam) an KA vom 17.1.1903, Bericht (inkl. Runderlass-Entwurf). Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben.
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Entwicklung der Kolonie auswirken, da dadurch die »betroffenen Landschaften auf das Empfindlichste« geschädigt und die »Produktions- und Steuerkraft auf Jahrzehnte« reduziert würden. Innerhalb des tatsächlichen Einflussbereichs der Stationen und Bezirksämter sollten daher »Strafzüge«, soweit sie in »kriegsmäßiger Weise summarisch gegen ganze Gemeinden oder Stämme von Eingeborenen gerichtet« seien, nur noch dann zulässig sein, wenn zuvor der »Kriegszustand« für die betreffende Landschaft festgestellt worden sei. Dieser Akt sei wiederum allein dem Gouvernement vorbehalten. Auch außerhalb des »friedlichen Machtbereichs« der Stationen wollte Stuhlmann Strafexpeditionen fortan »nur als Ultima Ratio« zulässig sehen. Vor jedem bewaffneten Einschreiten sei daher die Genehmigung des Gouvernements einzuholen oder zumindest nachzuweisen, dass sämtliche friedlichen Mittel ausgeschöpft worden seien. Dass es Stuhlmann vor allem um die Verbesserung der Kontrolle über die Stationen im Landesinnern sowie um die Bewahrung wirtschaftlicher Werte ging, steht außer Zweifel. Auch handelte es sich bei dem Papier um die Festlegung einer Methode zur Beherrschung des Landes, keineswegs dagegen um die Infragestellung des kolonialen Projekts an sich, bestände doch auch ihm zufolge für die deutschen »Eroberer von Gebieten einer inferioren Race […] die Pflicht«, diese durch »geduldige Belehrung und andere friedliche Mittel an unsere Herrschaft zu gewöhnen.« Dass die Kolonialabteilung Stuhlmanns Vorhaben, die ohnehin kostspieligen Militäraktionen einzudämmen, als wünschenswert einstufte, belegt nicht nur ein zustimmendes Schreiben des Kolonialdirektors, sondern auch die Weiterleitung des Runderlass-Entwurfs an das Gouvernement in Windhuk als mögliche Blaupause für eigene Regelungen. Leutwein sah die Thesen des Papiers immerhin als »beachtenswert genug […] um dieselben auszüglich auch hier in Umlauf zu setzen«. Für das Gros seiner Stationschefs glaubte der Gouverneur von Südwestafrika jedoch konstatieren zu können, dass diese generell nicht zu einem »unnötigen kriegerischen Einschreiten« neigen würden.444 Auch in Kamerun, der dritten Kolonie, die über eine Schutztruppe verfügte, war Gouverneur Puttkamer wenige Wochen vor Stuhlmanns Initiative zu einem ähnlichen Entschluss gelangt. Bereits am 20. Dezember 1902 hatte Puttkamer einen Gouvernementsbefehl erlassen, der ebenfalls jede »kriegerische Maßnahme« von seiner vorherigen Genehmigung abhängig machte.445 In Ostafrika sollte Stuhlmanns Initiative dagegen nicht über das Stadium des Entwurfs hinausgelangen. Während die Kolonialabteilung das Papier begrüßt hatte, verfügte der in Berlin weilende Götzen, dass die Verkündung des Runderlasses bis zu seiner Rückkehr zurückzustellen sei.446 Stuhlmann blieb daher nichts anderes übrig, als sich übergangsweise zu behelfen. Zwar ordnete er an, dass Expeditionen seitens der Militärstationen vorab vom Gouvernement genehmigt werden müssten. Dabei konnte er sich
444 BA-B R 1001/2033, Bl. 46, Stuebel an Leutwein vom 28.5.1903, Erlass; ebd., Bl. 58, Leutwein (Windhuk) an KA vom 21.8.1903, Bericht. 445 BA-B R 1001/4225, Bl. 5, Puttkamer (Buea) vom 20.12.1902, Gouvernementsbefehl. Siehe hierzu auch Kapitel 4.3.2. 446 BA-B R 1001/699, Bl. 149f., Götzen (Berlin) an KA (v.d. Decken) vom 8.3.1903, Bericht.
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aber lediglich auf die höchst fragile Rechtsgrundlage der Reisetagegeldregelung berufen.447 Anders als bislang von der Forschung vermutet, sollte sein ursprünglicher Runderlass-Entwurf vom 17. Januar 1903 jedoch nie Umsetzung gelangen.448 Götzen verfolgte stattdessen eine andere Strategie. Um die Kontrolle des Gouvernements über die nach wie vor von Militärs dominierten Stationen im Landesinnern zu verbessern, bediente er sich mehrerer Instrumente: Einerseits glaubte der Graf die wichtigste Motivation vieler Offiziere zur Ausführung bewaffneter Übergriffe in ihrem Streben nach militärischen Auszeichnungen erkannt zu haben. Seitens der Kolonialabteilung erbat er sich daher im Februar 1903 eine Weisung, in Zukunft bei »Vorschlägen zur Dekorierung mit Kriegsorden« die jeweilige Berechtigung genau zu prüfen. Dabei seien »insbesondere solche Vorschläge niemals zu unterstützen, wenn nicht die unbedingte Notwendigkeit eines über eine polizeiliche Tätigkeit hinausgehenden Vorgehens der Truppe überzeugend nachgewiesen werden kann und außerdem der Kampf unter schweren Verlusten der eigenen Truppe stattfand.«449 Die letzte Bemerkung spielte zweifellos auf die vorangegangenen Strafzüge an, bei denen es sich um höchst asymmetrische Zusammenstöße gehandelt hatte. Beispielsweise hatte der Oberleutnant Kohlermann angesichts von rund 1.100 getöteten und angeblich »wohlbewaffneten« Sandawe seine eigenen Verluste auf nur 60 ›Hilfskrieger‹ beziffert, dabei aber keinen einzigen seiner Askari-Soldaten eingebüßt.450 Ein weiteres Mittel, das Götzen einzusetzen gedachte, waren personalrechtliche oder disziplinarische Konsequenzen für die betreffenden Stationschefs. Beispielsweise ließ er Fonck an eine andere Station versetzen.451 Bei Styx entschied sich der Gouverneur gegen ein Einschreiten, obgleich die Kolonialabteilung empfohlen hatte, diesen künftig »an einer weniger selbständigen und verantwortlichen Stellung zu verwenden«.452 Müller wurde stattdessen abberufen und nach Deutschland beurlaubt.453 Die von Beringe in
447 BA-B R 1001/291, Bl. 19, Stuhlmann vom 18.3.1903, Runderlass. 448 Vgl. Bührer, Schutztruppe, S. 273, die den Entwurf vom 17.1.1903 unmittelbar Götzen zuschreibt und von der Umsetzung desselben ausgeht. Ebenso: Kuß, Militär, S. 246–249, die zwar sowohl den Entwurf als auch die Stellungnahme der Kolonialabteilung ausführlich thematisiert, die Frage des Vollzugs jedoch unbeantwortet lässt. 449 BA-B R 1001/699, Bl. 139f., Götzen (Berlin) vom 24.2.1903, Vermerk. Die KA setzte dieses Ansinnen wörtlich um: BA-B R 1001/290, Bl. 229f., Stuebel an Gouvernement in Daressalam vom 3.4.1903, Erlass. 450 BA-B R 1001/699, Bl. 109–122, Kohlermann (Mkalama) an Gouvernement vom 30.10.1902, Bericht. 451 Fonck blieb noch bis November 1903 in Mpapua und übernahm dann die Station in Moschi. Wegen der überhöhten Besteuerung glaubte der Graf den Stationschef allerdings entlasten zu müssen: BA-B R 1001/700, Bl. 54, Götzen (Daressalam) an KA vom 8.8.1903, Bericht. 452 Ebd., Bl. 32, KA an Gouvernement in Daressalam vom 25.5.1903, Erlass. 453 Müller, der erst im Dezember 1902 die Station Udjidji übernommen hatte, wurde im Mai 1903 abgesetzt und verließ Ostafrika im September desselben Jahres. Nach Ablauf seines Urlaubs schied er zum 29.5.1904 aus der Schutztruppe aus. Auch andere Stationsleiter sahen sich aus vergleichbaren Gründen mit ihrer Absetzung konfrontiert: BayHStA Nl Hirsch/9, Bl. 20, Hirsch, Tagebuch (8.10.1905); BayHStA HS 908, Correck, Tagebuch (26.2.1906): »Hptm. Fiedler von Udjije zurück […]. Scheint den Schwarzen gegenüber zu scharf zu sein & ist nicht gut angeschrieben. Wurde hie[r]her abberufen.«
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Urundi eigenmächtig durchgeführte Expedition fand zwar angesichts ihres vergleichsweise glimpflichen Verlaufs die nachträgliche Billigung Götzens. Als »Ungehorsam gegen einen Befehl in Dienstsachen durch Nichtbeachtung« sah der Gouverneur es jedoch an, dass Beringe versucht hatte, sich von den Nachbarstationen zusätzliche Truppenkontingente zu unterstellen. Der Stationschef wurde daher mit drei Tagen Stubenarrest disziplinarisch bestraft und anschließend ebenfalls versetzt.454 Zweifellos war sich Götzen darüber im Klaren, dass er mit dieser Kombination aus Belohnungen für Wohlverhalten und einer vergleichsweise milden Ahndung von Verstößen kaum durchschlagende Erfolge erzielen würde. Im Juni 1904 – vermutlich unter dem Eindruck des kurz zuvor ausgebrochenen Herero-Krieges in Südwestafrika – rang er sich daher doch noch dazu durch, einen eigenen Runderlass über die polizeilichen Befugnisse der Militärstationen herauszugeben. Erst jetzt, gut eineinhalb Jahre nach Stuhlmanns Entwurf, forderte der Graf ausdrücklich, dass bei »lokaler Unbotmäßigkeit, Straßenraub, ja selbst Ermordung von Europäern« zwar ein »energisches polizeiliches Einschreiten und Sühne« geboten seien.455 Ein »kriegerisches Unternehmen gegen eine ganze Völkerschaft« sei dadurch aber keineswegs gerechtfertigt. Eine größere Strafexpedition dürfe nur in »einzelnen ganz unzivilisierten Gegenden« sowie »bei wiederholten Vergehungen« der dortigen Bewohner das »letzte Mittel der Verwaltung« darstellen. In diesem Falle sei aber seine »vorherige Genehmigung einzuholen, sofern nicht Gefahr im Verzug ist oder der Fall der Notwehr vorliegt.« Neben solchen Ansätzen zur direkten Steuerung der Regionalbehörden verfolgte Götzen eine grundlegende Modifizierung der Verwaltungsorganisation in Deutsch-Ostafrika. Dabei zielten seine Absichten auf eine Umwandlung der militärisch dominierten Stationen in zivile Behörden ab. Gleichzeitig würde sich mit zunehmendem Ausbau der Eisenbahnlinien die dann mobilere Schutztruppe in ihrer Stärke vermindern lassen.456 Diese erstmals im Dezember 1903 geäußerten Absichten erweiterte der Graf schließlich zu einem Konzept, das langfristig die gänzliche Ausschaltung der Militärs aus der Landesverwaltung vorsah. Einen entsprechenden Vorschlag unterbreitete er der Kolonialabteilung im Sommer 1904. Danach hielt er inzwischen den »Zeitpunkt für gekommen, die Umwandlung aller Militärstationen in Bezirksämter […] ins Auge zu fassen und die Truppe ihrer eigentlichen Bestimmung wiederzugeben.« Im Verein mit einer Verkleinerung der Schutztruppe könne zudem die Landespolizei verstärkt werden.457 Diese Gedanken konkretisierte er schließlich während eines Heimaturlaubs in einer Denkschrift, die er unter dem auf den ersten Blick irreführenden Signum einer »Stärkung der militärischen Machtstellung in Deutsch-Ost-Afrika« herausgab.458 Tatsächlich zielte das 454 BA-B R 1001/291, Bl. 23, Götzen (Daressalam) an KA vom 20.9.1903, Bericht; ebd., Bl. 25f., Götzen (Daressalam) an Beringe vom 23.9.1903, Erlass; ebd., Götzen (Daressalam) an KA (geheim) vom 4.10.1903, Bericht. 455 Götzen vom 16.6.1904, Runderlass betr. polizeiliche Befugnisse der Militärstationen und Offizierposten, abgedruckt in: DKG 8, S. 135f. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. 456 BA-B R 1001/766, Bl. 55–60, Götzen (Daressalam) an KA vom 1.12.1903, Bericht. 457 Ebd., Bl. 82f., Götzen (Daressalam) an KA vom 2.7.1904, Bericht. 458 Ebd., Bl. 109–115, Götzen (Berlin) an KA vom 23.12.1904, Denkschrift. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben.
4. Herrschaftspraktiken
Papier auch auf die flexiblere Verwendung einer nicht mehr durch Verwaltungsaufgaben gebundenen Schutztruppe ab. Bedeutsamer erschien dem Grafen aber der Ansatz, dass nach der anvisierten Übernahme aller 22 Verwaltungsbezirke durch Zivilbeamte eine kontinuierliche administrative Tätigkeit ungeachtet etwaiger Truppenverlegungen stets gewährleistet sei. Auch stellte er fest, dass bei »kleineren Unbotmäßigkeiten« der indigenen Bevölkerung »polizeiliche Exekutionen« dann auch ohne Hinzuziehung der Militärs durchgeführt werden könnten. Dass es ihm in seiner Denkschrift ungeachtet ihres Titels in erster Linie um die künftigen Belange der Zivilverwaltung ging, belegt nicht zuletzt Götzens Forderung, dass auch nach der vorgeschlagenen Reorganisation in der »Stellung des Gouverneurs zu dem Truppen-Commando keine Veränderung in den Befugnissen« eintreten dürfe. Stets müsse »allein der Gouverneur für die Leitung der Landes-Verwaltung und Politik verantwortlich sein«. Die Schutztruppe sei »nur ein Werkzeug dieser Politik.«459 Dass Götzen mit dieser Position keineswegs allein stand, belegt die Tatsache, dass auch Puttkamer kurz darauf diese Vorschläge aufgriff und für Kamerun die Lösung vieler Probleme ebenso in einer Verstärkung der zivilen Polizeiorganisation und einer Loslösung der Schutztruppe von allen Verwaltungsaufgaben erkannt zu haben glaubte.460 Ähnlich sahen das der Kolonialdirektor Stuebel und – mit Abstrichen – sogar das Berliner Oberkommando der Schutztruppen, so dass Götzen die Umsetzung seiner Pläne umgehend in Angriff nehmen konnte.461 Mit Wirkung vom 1. April 1905 erfolgte daher die Umwandlung einer ersten Militärstation in ein ziviles Bezirksamt.462 Danach geriet das Vorhaben angesichts der den gesamten Süden der Kolonie erfassenden Maji-MajiUnruhen zeitweilig ins Stocken. Von Götzen vorbereitet, wurde der Kern seiner Reform erst nach seiner Abreise umgesetzt: Aus den Stationen Mpapua, Tabora, Muansa und Moschi wurden ebenfalls Bezirksämter. Gleichzeitig erfolgte die Einrichtung dreier Residenturen in Bukoba, Ruanda und Urundi, was ebenfalls den Versuch einer Reduktion des militärischen Einflusses auf die dortigen Landstriche widerspiegelt.463 Einen vorläufigen Abschluss fanden die Maßnahmen in einer schärferen Trennung zwischen Schutzund Polizeitruppe.464
459 Vgl. Bald, Deutsch-Ostafrika, S. 64–66; Bührer, Schutztruppe, S. 181f. Während Bald der Denkschrift eine einseitig militärische Zielsetzung unterstellt, sieht Bührer dies differenzierter, wenngleich auch ihr zufolge eine »massive Erhöhung der militärischen Schlagkraft der Schutztruppe« den Kern der Absichten Götzens dargestellt haben soll. 460 BA-B R 1001/4289, Bl. 33–41, Puttkamer (Buea) an KA (geheim) vom 8.3.1905, Bericht. Zu den vergleichbaren Schwierigkeiten in Kamerun siehe Kapitel 4.3.2. 461 TNA G 3/11, Bl. 4, Stuebel an Götzen vom 11.1.1905, Erlass; BA-B R 1001/766, Bl. 118f., Oberkommando der Schutztruppen (Ohnesorg) an KA vom 10.2.1905, Bericht. Dort bemängelte man lediglich zu geringe Kompanie- und Offiziersstärken in Götzens Vorschlag. 462 Götzen vom 25.4.1905, Bekanntmachung betr. Umwandlung der Militärstation Ssongea in ein Bezirksamt, abgedruckt in: DKG 9, S. 136. 463 Haber (i.V.) vom 20.6.1906, Bekanntmachung betr. Errichtung von Bezirksämtern in Mpapua, Tabora, Muansa, Moschi, sowie von Residenturen in Bukoba, Ruanda, Urundi, abgedruckt in: DKG 10, S. 267; vgl. zu ähnlichen Entwicklungen in Nord-Kamerun: Kapitel 4.3.2. 464 Schleinitz vom 27.8.1906, Loslösung der Polizeitruppe von der Schutztruppe, abgedruckt in: DKG 10, S. 304.
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Alle diese Reformversuche dienten einer Entflechtung von Militär und Zivil und somit einer Vereinheitlichung der regionalen Verwaltungsbehörden. Sie waren jedoch keineswegs Selbstzweck. Götzen suchte dadurch die Einheitlichkeit und die Effizienz seiner Administration zu erhöhen. Konkret betraf dies neben der obligatorischen Durchsetzung und Aufrechterhaltung einer effektiven Landesherrschaft – nach zeitgenössischer Lesart ›Ruhe und Ordnung‹ – eines der Leitziele kolonialer Staatlichkeit schlechthin, nämlich die Selbstfinanzierung der Verwaltung und ihrer Infrastrukturmaßnahmen.465 Auch Götzen setzte daher auf eine möglichst umfassende Einbeziehung intermediärer Akteure. Seinen Stationschefs im Binnenland gegenüber vertrat er den Standpunkt, dass namentlich dort, wo bereits indigene Herrschaftsstrukturen beständen und diese sich der deutschen Oberhoheit unterworfen hätten, »keine Veranlassung« bestehe, »uns überall sofort einzumischen«.466 Dieses Prinzip von indirect rule kam in vielerlei Varianten und Abstufungen zur Anwendung. Am ausgeprägtesten geschah das durch das erwähnte Residentur-System im äußersten Nordwesten der Kolonie. Dort kam es dem Gouverneur darauf an, dass die »Macht des eingeborenen einflussreichen Ruanda-Sultans von den Organen des Gouvernements gestützt wird«. Die Regierung über Land und Leute sollte durch diesen selbst, wenngleich unter der Oberaufsicht der deutschen Behörden erfolgen.467 Im Gegensatz dazu sahen sich die Küstenbezirke auch weiterhin am unmittelbarsten von der Kolonialadministration beeinflusst. Dort kam es mitunter seitens der Bezirksämter zu Ansätzen, die auf eine »allzu direkte Einwirkung der lokalen Verwaltungsbehörden auf das einzelne Individuum« hinausliefen. Götzen sah in einem solchen Vorgehen einen »grundlegenden Irrtum und Fehler in den Anschauungen über eine praktische Verwaltungstätigkeit«. Er pochte darauf, »nicht nur die vorhandenen Gemeinschaften, Sultanate, Jumbenschaften etc. zu erhalten und in ihrem Zusammengehörigkeitsbewusstsein zu befestigen, sondern auch neue derartige Organisationen zu schaffen.« Vor allem gelte es dabei, den »Einfluss und die Autorität des Jumben zu verstärken und zu stützen«.468 Trotz aller Defizite von Götzens ›persönlichem Regiment‹ und seiner zeitweiligen Zurückhaltung bei der Inaugenscheinnahme des Binnenlandes, spricht nichts dafür, dass das Gouvernement ein grundlegend falsches Bild von den Vorgängen außerhalb Daressalams erhalten hätte. Nicht zuletzt aufgrund einer systematischen Ausnutzung aller verfügbaren Informationsquellen fungierte das Gouvernement gleichermaßen als Sammlungs-, Speicherungs- und Auswertungsstelle für koloniales Wissen. Konkret registrierten, begutachteten und verglichen Götzen und seine Referenten nicht nur die regelmäßig eingehenden Berichte sämtlicher Bezirksämter und Stationen, sondern ergänzten bzw. modifizierten die daraus gewonnenen Wissensinhalte durch die vielfältigen Nachrichten, die sie von Missionen, Pflanzern oder Händlern erhielten. Innerhalb dieses Systems einer gezielten Informationsbeschaffung und -verarbeitung kam nicht
465 Vgl. Wirz, Körper, S. 256. 466 BA-B R 1001/291, Bl. 25f., Götzen (Daressalam) an Beringe vom 23.9.1903, Erlass. 467 BA-B R 1001/278, Bl. 36, Götzen (Daressalam) an KA vom 14.10.1901, Bericht; BA-B R 1001/290, Bl. 191f., Götzen (Daressalam) an Beringe vom 27.2.1902, Instruktion. 468 BA-B R 1001/766, Bl. 138, Götzen (Daressalam) an ein BA vom 29.8.1904, Erlass.
4. Herrschaftspraktiken
zuletzt der ›Häuptlingsadministration‹ eine wesentliche Rolle zu, da sich die indigenen Funktionsträger unter Umgehung der Bezirkschefs nicht selten auch direkt an das Gouvernement wandten. Ein Beispiel für ein in seinen Grundzügen durchaus zutreffendes Bild, das Götzen angesichts dieser Rahmenbedingungen von den administrativen Realitäten gewann, stellt die Erhebung der Häuser- und Hüttensteuer dar. Die dabei festgestellten Praktiken berichtete er im Dezember 1903 in einem umfangreichen Papier an die Berliner Zentrale.469 Zuvor hatten Reichsrechnungshof und Reichsschatzamt bemängelt, dass die Steuererhebung im ›Schutzgebiet‹ zu uneinheitlich erfolge. Götzen konterte daraufhin, dass sich in einer tropischen Kolonie »nicht jede Verwaltungstätigkeit nach schematischen und schematisierenden Rechnungsvorschriften« leiten lasse. Die Vielfalt in der fiskalischen Praxis ergäbe sich letztlich aus den höchst unterschiedlichen lokalen Bedingungen. Eine »bis ins Einzelne gehende Kontrolle« der Erhebung sei lediglich in den wenigen Küstenstädten möglich. Bereits außerhalb dieser Zentren stoße ein solches Vorhaben an seine Grenzen. Zwar habe man in den »unter ganz intensiver Verwaltung stehenden« Landbezirken von Tanga und Daressalam das Verfahren einer unmittelbaren Zahlung der Steuer durch die einheimischen Hausbesitzer gegen Quittungsbeleg ebenfalls eingeführt, doch sei dort eine lückenlose Umsetzung angesichts einer mobilen Bevölkerung schon nicht mehr möglich. Mit Abstufungen seien die Praktiken in den übrigen Küstenbezirken ähnlich. Je weiter man aber ins Landesinnere blicke, desto häufiger werde ein Verfahren sichtbar, wonach der jeweilige »Jumbe für die ganze Ortschaft nach Maßgabe der Anzahl der Hütten in den Steuerlisten ohne Rücksicht auf die Einzelleistungen der Hüttenbesitzer« die Steuerschuld pauschal entrichte. Damit sei die Besteuerung zunehmend von Unwägbarkeiten geprägt. Beispielsweise sei selbst eine Kontrolle der Anzahl der Hütten »gänzlich ausgeschlossen«, da ansonsten »stets mehrere Europäer im Bezirk umherreisen« müssten. Man bleibe daher auf die Angaben der indigenen Hilfsorgane angewiesen. Bei dieser Gelegenheit konkretisierte Götzen diese Abhängigkeit noch weiter, hatte doch seiner Ansicht nach jeder Jumbe die Möglichkeit, etwa neu errichtete Behausungen gegenüber der Kolonialverwaltung zu »verschweigen und die Steuer entweder in die eigene Tasche [zu] stecken oder mit dem Hüttenbesitzer [zu] teilen.« Galt dieses Erhebungsverfahren in vielen Küstenbezirken und einem Teil der Militärbezirke, war die Kolonialadministration in den meisten Teilen des Landesinnern »mangels ausreichenden Kontrollpersonals« darauf angewiesen, sich auf die »unsicheren Angaben der steuerpflichtigen Dorfoberhäupter selbst [zu] verlassen«. Götzen zufolge orientierten sich diese intermediären Organe gezielt an der »Energie oder Reiselust des betreffenden Stationschefs«. Selbst wenn eine der seltenen und oft vorhersehbaren Kontrollen bevorstände, könne der jeweilige Dorfälteste immer noch die »überzähligen Hütten […] wegreißen und wenn ihre Zahl dann noch nicht mit der angegebenen Hüttenzahl oder der gezahlten Steuer übereinstimmt, sich mit neuem Zuzug von Leuten entschuldigen und die Steuer nachträglich zahlen.« Nur selten werde es daher einem Bezirkschef gelingen, die einheimischen Hilfskräfte des »Schwindels zu überführen«. Auch ein 469 BA-B R 1001/1054, Bl. 132–163, Götzen (Daressalam) an KA vom 8.12.1903, Bericht. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben.
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personeller Wechsel bei der Stationsleitung eröffne diesen stets eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Anzahl der vorhandenen Hütten und damit die Steuerschuld zu manipulieren. Ohnehin sei angesichts der leichten Bauweise der Wohnstätten eine lückenlose Kontrolle unmöglich, ganz abgesehen von den nach wie vor »merkwürdigsten Mitteln«, die bei den Zählungen selbst zur Anwendung kämen. Den geringsten Einfluss sah Götzen in den am weitesten von der Küste entfernten, noch kaum »aufgeschlossenen« Binnenstationen. Dort trage die Steuer, »sofern sie überhaupt geleistet wird, mehr den Charakter der Tributzahlung, d.h. der Stationschef muss mit dem zufrieden sein, was er bekommt, und das letztere hängt von unendlich vielen Zufälligkeiten ab.« Auch diese Feststellung erscheint wenig überraschend, lag doch beispielsweise der Station Tabora noch nicht einmal ein vollständiges Verzeichnis über die im Bezirk vorhandenen ›Sultane‹ und Landschaften vor. Selbst die neu eingesetzten chiefs kannten oft »weder die Namen ihrer Untersultane oder deren Dörfer, noch die Lage derselben genau.« Angesichts einer solchen Vielzahl an Hindernissen konstatierte Götzen, er wundere sich, dass überhaupt Steuern eingingen und sogar jährliche Zuwächse erzielt würden. Zu den Monita der Finanzbehörden in Deutschland stellte er daher unumwunden fest, dass eine »Veranlagung zur Hüttensteuer im heimischen Sinne für das Schutzgebiet undenkbar« sei. Für realisierbar hielt er lediglich, dass jeder Stationschef am Beginn des Jahres sich »im allgemeinen klar darüber ist, was zu seinem friedlichen Machtbereich gehört und wie viel Steuern er voraussichtlich erhalten kann«. An diesen Verhältnissen müssten sich sowohl die weiteren Planungen als auch die Vorschriften orientieren. Dabei müssten die letzteren aber stets so weit gefasst sein, dass die in den Bezirken etablierten »Gebräuche« bei der Veranlagung und Erhebung weiterhin praktiziert werden könnten.470 Die ungewöhnlich detaillierte Stellungnahme des Gouverneurs belegt vor allem zweierlei: Erstens geht daraus eindeutig hervor, dass eine ansatzweise als bürokratisch zu nennende Verwaltung, wenn überhaupt, dann bestenfalls in den wenigen Küstenstädten existierte. Bereits in deren Umland waren die Möglichkeiten der Administration beschränkt. Noch mehr gilt das für das Landesinnere, wo nach wie vor lediglich von punktueller Herrschaft im unmittelbaren Umfeld der Stationen gesprochen werden muss. In der Fläche war der koloniale Staat dagegen lediglich in der Lage, »sporadische Macht« auszuüben.471 Zweitens geht aus Götzens Papier aber auch hervor, dass man sich im Gouvernement zu Daressalam über diese Tatsachen keinerlei Illusionen hingab. Der Gouverneur und sein Umfeld waren sich der eklatanten Defizite ihrer Verwaltung bewusst. Auch wurde keineswegs versucht, ein utopisches Bild einer funktionierenden Bürokratie zu zeichnen oder ein solches gegenüber den heimischen Behörden zu vertreten. Tatsächlich realitätsfremde Vorstellungen kursierten stattdessen in den Finanzbehörden in Deutschland, wo man offenbar mit dem Gedanken spielte, mitteleuropäische Fiskalmethoden nahtlos nach Ostafrika zu transferieren.
470 Götzen vom 16.10.1901, Runderlass betr. Erhebung der Häuser- und Hüttensteuer, abgedruckt in: DKG 6, S. 402. 471 Vgl. Popitz, Phänomene, S. 236f. (Zitat).
4. Herrschaftspraktiken
Die Diagnose von im Allgemeinen zutreffenden Kenntnissen über die administrativen Realitäten schließt natürlich gleichzeitige Irrtümer oder Fehleinschätzungen nicht aus. Götzens Deutungen zur indigenen Bevölkerung hatten sich beispielsweise ungeachtet seiner fünfjährigen Amtszeit kaum verändert. Wie seine Vorgänger war auch er nach wie vor davon überzeugt, dass das vordringlichste Ziel kolonialer Betätigung darin bestehe, »aus dem Neger […] einen arbeitsamen Menschen zu machen«.472 Dementsprechend lebte er weiterhin in der Vorstellung, sich »in einem von 7 Millionen Wilden oder Halbwilden bewohnten Lande« zu befinden.473 Analog dazu unterschied er lediglich oberflächlich zwischen den Binnenbewohnern, die für ihn gänzlich unzivilisierte »Buschneger« darstellten, und den »Küstennegern«, die nur geringfügige Anzeichen einer kulturellen Hebung aufweisen würden.474 Beide Gruppen stellten für ihn in erster Linie »Arbeitermaterial« dar, das über eine »einer regelmäßigen und anstrengenden Beschäftigung abholden Natur« verfüge und deshalb entsprechend ›erzogen‹ werden müsse.475 Auch in Bezug auf die arabische und indische Ethnie in Ostafrika hatten sich die generalisierenden wie simplifizierenden Zuschreibungen des Grafen keineswegs verändert. Die Araber sah er als besonders geeignet an, »den Neger […] zur Arbeit zu erziehen«, während er den in Ostafrika ansässigen indischen Händlern eine »geschäftliche Findigkeit« zuschrieb.476 Beiden Gruppen gestand Götzen daher Funktionen innerhalb der kolonialen Administration zu. Ein Dorn im Auge war ihm aber die Einbindung dieser Eliten in die mancherorts entstehende lokale Selbstverwaltung. Zwar lässt sich das Postulat, wonach ausgerechnet sein Vorgänger Liebert den einheimischen Notabeln Sitz und Stimme in den Kommunalräten gewährt haben soll, nicht belegen. Nachweisbar ist lediglich die Heranziehung einheimischer Valis bei der fiskalischen Veranlagung, was tatsächlich einen Nebeneffekt der Hüttensteuerverordnung von 1897 darstellt.477
472 BA-MA RM 121-I/460, Götzen (Daressalam) an Hohenlohe-Langenburg vom 26.12.1905, Denkschrift; vgl. die fast identische Formulierung in: Götzen, Afrika, S. 86 (Tgb., 24.3.1894), sowie die im Tenor ähnlichen Aussagen seiner Vorgänger: JB 1893/94, S. 17 (Schele); BA-B R 8023/885, S. 1–3, Wißmann, Ein neues Kultursystem für Deutsch-Ostafrika; BA-B R 1001/118, Bl. 38, Liebert (Daressalam) an KA vom 24.2.1897, Bericht; Liebert, Bericht, S. 315, 318f. 473 BA-MA RM 121-I/460, Götzen (Daressalam) an Hohenlohe-Langenburg vom 26.12.1905, Denkschrift. 474 BA-B R 1001/1055, Bl. 166f., Götzen (Daressalam, im Entwurf gezeichnet) an KA vom 7.4.1906, Bericht. 475 BA-B R 1001/118, Bl. 102–106, 109–111, Götzen (Daressalam) an KA vom 26.8.1901, Bericht. 476 Götzen, Afrika, S. 319; BA-B R 1001/118, Bl. 102–106, 109–111, Götzen (Daressalam) an KA vom 26.8.1901, Bericht. 477 Vgl. Bald, Deutsch-Ostafrika, S. 38–43. Die dort in Zusammenhang mit den Kommunalverbänden aufgestellte Schlussfolgerung, dass Lieberts angeblich »zukunftsweisende Politik« durch Götzens »Anti-Farbigen-Politik« ersetzt worden sei, ist gänzlich unhaltbar. Vielmehr kann Bald seine Behauptung, unter Liebert seien kommunale Räte unter Beteiligung von Einheimischen geschaffen worden, nicht belegen. Auch kann keine Rede davon sein, diese Räte hätten ohne Kenntnis der Kolonialabteilung existiert. Dessen Thesen wurden dennoch seitens der Forschung übernommen: Bindseil, Ruanda, S. 165. Vgl. Liebert vom 1.11.1897, VO betr. Erhebung einer Häuser- und Hüttensteuer in DOA, abgedruckt in: DKG 2, S. 368f.; JB 1900/01, S. 2912.
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Eine formaljuristische Grundlage erhielten die Kommunalräte erst nach Götzens Amtsantritt, wobei eine Verordnung des Reichskanzlers vorsah, dass die indigenen Einwohner dort wenigstens durch ein Mitglied vertreten sein sollten. Da die Räte über die Verwendung der Hälfte der Steuereinkünfte entscheiden konnten, drängte Götzen darauf, dass stets eine europäische Stimmenmehrheit gewährleistet sein müsse. Tatsächlich waren zum Jahresende 1901 knapp dreißig Prozent aller Ratsmitglieder Nichteuropäer, in der Regel ortsansässige Notabeln mit arabischen oder indischen Wurzeln.478 Götzen erwirkte daher zur Jahreswende 1903/04 die Zustimmung des Reichskanzlers, dass Einheimische nur noch dann als Kommunalräte berufen werden dürften, wenn »sie der deutschen Sprache mächtig sind«. Damit wähnte sich Götzen am Ziel, glaubte er doch damit die »farbige Bevölkerung von der Vertretung im Bezirksrat für die nächsten 20 Jahre ausgeschlossen« zu haben.479 Es wurde bereits thematisiert, dass Götzens Verwaltungshandeln im Allgemeinen mit den Vorstellungen der Berliner Zentrale konform ging. Daher verwundert es nicht, dass er schließlich auch als Nachfolger für den scheidenden Kolonialdirektor Stuebel gehandelt wurde. Mit dem 7. August 1905 stand sogar ein Termin für die Heimreise fest, wobei die Presse mutmaßte, mit der Ankunft des Grafen in Deutschland würde zugleich die Aufwertung der Kolonialabteilung in eine eigenständige Ministerialbehörde sowie die Rangerhöhung des Direktors zum Staatssekretär einhergehen.480 Mit der üblichen Zeitverzögerung stellte sich selbst in Samoa der damalige Oberrichter Schultz die Frage, ob in der Berliner Zentrale künftig die »alten ergrauten Priester dem jungen Götzen dienen wollen«.481 Es sollte erneut anders kommen. In der zweiten Hälfte des Juli 1905 ging in Daressalam eine Nachricht aus dem Bezirk Kilwa ein, wonach ein ›Zauberer‹ in den Matumbi-Bergen die Bevölkerung zur Unbotmäßigkeit gegen die Regierungsorgane anstachele. Binnen kurzem verdichteten sich die Hilferufe und Meldungen über bewaffnete Zusammenstöße zu einem Bild sich rasch ausweitender Unruhen.482 Für Götzen kam dieser bald als Maji-Maji-Krieg bezeichnete Konflikt nicht nur überraschend, zugleich unterschätzte er zu Beginn auch dessen Potential.483 Widersprüchlich behandelte der Graf diesen Aspekt auch in seiner Erinnerungsschrift unter dem Titel »Deutsch-Ostafrika im Aufstand«. Einerseits behauptete er darin, er sei von Anfang an überzeugt gewesen, einer »wohlorganisierten aufständischen Bewegung« gegenübergestanden zu haben. Andererseits schrieb er aber auch, er
478 Bald, Deutsch-Ostafrika, S. 45f. 479 BA-B R 1001/798, Bl. 188f., Götzen (Daressalam) an KA vom 28.12.1903, Bericht; ebd., Bl. 195, KA an Bülow vom 29.1.1904, Bericht einschl. VO-Entwurf. 480 Methner, Gouverneuren, S. 77; BA-B N 2225/173, Berliner Morgen-Zeitung vom 5./7.9.1905. 481 GStA PK Nl Schnee/52, Schultz (Apia) an Schnee vom 19.11.1905, Schreiben. 482 Methner, Gouverneuren, S. 76–78; Beez, Wasser, S. 62–70. 483 Zu diesem – neben Boxer- und Herero-Nama-Krieg – dritten größeren Imperialkrieg des Kaiserreichs existiert eine große Zahl an Forschungsarbeiten, so dass hier das Kriegsgeschehen weitgehend außer Acht gelassen werden kann. Hierzu: Bald, Kampf; Becker/Beez, Maji-Maji-Krieg; Bell, Rebellion; Bührer, Schutztruppe, S. 226–232; Giblin/Monson, Maji Monsun; Iliffe, Organization; Iliffe, Tanganyika, S. 9–29; Kuß, Militär, S. 102–126; Monson, Maji Organisation; Sunseri, Famine.
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habe die »volle Gewissheit, dass mit einer ernsten und weit verbreiteten Rebellion zu rechnen war«, erst nach mehreren Wochen erlangt.484 Tatsächlich blieb Götzen trotz aller Alarmmeldungen die ganze Zeit über in Daressalam und gewann sein Lagebild aus den eingehenden Telegrammen und Berichten der Stationen und Bezirke. Dementsprechend meldete er in den ersten Wochen lediglich über lokale Unruhen nach Berlin.485 Selbst der Kaiser war zeitweise über seine maritimen Nachrichtenkanäle besser über die Kampfhandlungen unterrichtet als der Gouverneur vor Ort. Wilhelm II. beschwerte sich bald über dessen verspätete Berichterstattung, während sich die Kolonialabteilung über die unterschiedlich lautenden Meldungen des vor der ostafrikanischen Küste operierenden Kreuzers ›Bussard‹ und denen des Grafen wunderte.486 Hochmütig kabelte Götzen schließlich nach Berlin, dass seine Berichte ohne vermeintlich aufbauschende »Negergerüchte« zustande gekommen und deshalb die zutreffenderen seien.487 Erst verspätet begann er seine optimistischen Ansichten zu revidieren und gestand ein, dass die Unruhen doch umfangreicher als gedacht seien, weshalb er umgehend Verstärkungen für die Schutztruppe benötige.488 Am offensten schilderte er bezeichnenderweise seinem Vetter, dem Grafen Pfeil, seine Eindrücke und Gedanken.489 Dabei behauptete Götzen, dass kein Europäer in der Kolonie »an die Möglichkeit solcher Unruhen geglaubt« habe. Selbst der zuständige Bezirksamtmann habe in seinem letzten Bericht »ausdrücklich« betont, »dass irgendwelche Unruhen im Bezirk Kilwa für alle Zukunft ausgeschlossen wären.« Über deren Ursachen tappe er daher völlig im Dunkeln, doch sei eine »allgemeine Unzufriedenheit gegen alle Fremden, Europäer, Araber und Inder« nicht auszuschließen. Zwar sei die Hüttensteuer bis zuletzt »ohne jede Widerrede bezahlt worden«, allerdings hielt er es für »möglich […], dass die Akidas, gegen die sich die Bewegung zuerst richtete, stellenweise zu sehr für ihre eigene Tasche gearbeitet haben und an einzelnen Stellen, um sich Liebkind bei dem Bezirksamt zu machen, Baumwollbau zu sehr forciert haben, dessen zwangsweiser Anbau vom Gouvernement niemals und vom Bezirksamt auch meines Wissens nicht befohlen worden ist.« Trotzdem könne er sich aber »vorläufig nicht erklären, wie die Bewegung bis Liwale […] übergegriffen hat.« In den darauffolgenden Monaten, als die Unruhen sich zunächst ausweiteten, schließlich aber unter horrenden Verlusten der ›Rebellen‹ und der unbeteiligten Landeseinwohner schrittweise unterdrückt wurden und sich schließlich in langwierige Guerillakämpfe auflösten, ließ die Frage nach den Ursachen des Aufstandes dem Grafen
484 Götzen, Aufstand, S. 63f. 485 BA-B R 1001/721, Bl. 4, Götzen (Daressalam) an KA vom 4.8.1905, Telegramm; ebd., Bl. 16, Götzen (Daressalam) an KA vom 7.8.1905, Telegramm; ebd., Bl. 21, Götzen (Daressalam) an KA vom 10.8.1905, Telegramm. 486 Ebd., Bl. 12, Gesandter Tschirschky an KA vom 7.8.1905, Telegramm; ebd., Bl. 27, KA an Bülow vom 8.8.1905, Telegramm; ebd., Bl. 32, KA an Götzen vom 12.8.1905, Telegramm. 487 Ebd., Bl. 37, Götzen (Daressalam) an KA vom 13.8.1905, Telegramm. 488 Ebd., Bl. 45, Götzen (Daressalam) an KA vom 16.8.1905, Telegramm; vgl. ebd., Bl. 88f., Götzen (Daressalam) an KA vom 20.8.1905, Telegramm. Zur anfänglichen Fehleinschätzung der Unruhen durch das Gouvernement: Becker, Feldschlacht, S. 75. 489 BA-B N 2225/173, Bl. 2f., Götzen (Daressalam) an Pfeil vom 19.8.1905, Schreiben. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben.
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keine Ruhe. Angesichts des öffentlichen Rechtfertigungsdrucks entsandte er zunächst seinen Referenten Haber an den Ausgangsort der ›Rebellion‹ und ließ bald darauf eine Untersuchungskommission zusammenstellen.490 Deren Ergebnisse sowie eigene Schlussfolgerungen fanden Eingang in eine Denkschrift über die »Ursachen und treibenden Kräfte der Bewegung«, die auch dem Reichstag vorgelegt wurde.491 Darin glaubte Götzen feststellen zu können, dass es sich um eine auf den Südteil von Deutsch-Ostafrika begrenzte Erhebung handele, die weder Teil einer »äthiopischen Bewegung« sei noch einen dezidiert religiösen Charakter aufweise. Seiner binären Sichtweise entsprechend, die lediglich zwischen ›wilden‹ und ›halbwilden‹ Afrikanern unterschied, stellte er den Konflikt als ein »Reagieren des ›Buschnegers‹ gegen die vordringende Kultur« dar. Wenngleich Götzen eine zentrale Koordination der Unruhen nicht festzustellen vermochte, glaubte er aber »gewisse verwandtschaftliche Stammesbeziehungen« ausmachen zu können, die einen »erheblichen Einfluss auf die Beteiligung am Aufstand« gehabt hätten. Eine mobilisierende Wirkung hätten zudem falsche Nachrichten entfaltet, wonach der Gouverneur getötet und die Küstenstädte erobert worden seien. Viele Indigene hätten daher geglaubt, das Ende der europäischen Herrschaft stünde unmittelbar bevor. Dazu sei die Weissagung etlicher Heiler gekommen, wonach die Anwendung eines Schutzzaubers gegen die Gewehrkugeln der Askari immunisieren würde. Auch dadurch sei eine »beim ostafrikanischen Neger völlig neue Erscheinung der Todesverachtung und des Fanatismus im Kampf« hervorgerufen worden. Unumwunden gab Götzen zu, dass diese mit einer besseren Bewaffnung eine ernsthafte Gefahr für die Schutztruppe hätten darstellen können. Am Ende postulierte er, dass letztlich eine »unvermeidbare Unzufriedenheit des Naturmenschen mit der vordringenden Zivilisation und ihrer Forderung zur Arbeit« für den Ausbruch des Konfliktes verantwortlich zeichne.492 Auch wenn Götzen in erster Linie sich selbst und seine Verwaltung von jeder Verantwortung freizusprechen suchte, lag er nicht gänzlich falsch mit seiner Analyse. Tatsächlich kamen die Imperialkriege in Südwest- und Ostafrika keineswegs zufällig fast zeitgleich zum Ausbruch.493 Bei allen Unterschieden zwischen Herero-/Nama- und MajiMaji-Krieg lassen sich jeweils gemeinsame systemische Ursachen ausmachen: Die wachsende Ausprägung kolonialer Staatlichkeit und deren zunehmende Beeinflussung von Lebensweisen, Besitzverhältnissen und sozialen Strukturen der indigenen Gesellschaften.494 Der Beginn des großen Konflikts markierte auch in Ostafrika einen vorläufigen Höhepunkt des Zugriffs der Kolonialadministration auf die dort lebenden Menschen. 490 BA-B R 1001/723, Bl. 37, Götzen (Daressalam) an KA vom 22.8.1905, Bericht; ebd., Bl. 152f., Haber an Gouvernement in Daressalam vom 9.9.1905, Bericht (Auszug); ebd., Bl. 150f., Götzen (Daressalam) vom 18.10.1905, Instruktion; ebd., Bl. 149f., Götzen (Daressalam) an KA vom 10.11.1905, Bericht. 491 BA-MA RM 121-I/460, Götzen (Daressalam) an Hohenlohe-Langenburg vom 26.12.1905, Denkschrift. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, soweit nicht anders angegeben. Das Papier ist abgedruckt in: Verhandlungen RT, Bd. 222, S. 3080–3085. Auszugsweise auch in: Gründer, Deutschland, S. 156–158. 492 Ähnlich fiel das Resümee einer Umfrage unter den Führern der im Süden der Kolonie eingesetzten Marine-Detachements aus: BA-MA RM 121-I/460, Schlichting vom 15.12.1905, Zusammenstellung. 493 Generell zu diesem Begriff: Walter, Imperialkriege. 494 Siehe auch Kapitel 4.3.3.
4. Herrschaftspraktiken
Der anschließende Versuch, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, ist nicht zuletzt an der Spitze des Gouvernements ablesbar, waren doch die Tage Götzens als Gouverneur gezählt. Nachdem eine Gefahr für die deutsche Herrschaft nicht mehr bestand, bereitete er sich im Frühjahr 1906 auf seine Abreise vor. Dabei hatte er dem Grafen Pfeil bereits im November des Vorjahres geschrieben, dass seine »Gesundheit und Arbeitskraft […] nachzulassen« begännen.495 Der ihm zugedachte Posten an der Spitze der Kolonialverwaltung war allerdings inzwischen an den Erbprinzen Hohenlohe-Langenburg gegangen.496 Zwar sollte diesem nur eine kurze Amtszeit beschieden sein, doch galt Götzen in Berlin inzwischen »mit seinen Kräften und seinen Nerven vollständig fertig«, so dass an eine neuerliche Kandidatur nicht zu denken war.497 Als er am 12. April 1906 Daressalam verließ, stand auch sein Nachfolger für Ostafrika bereits fest: Albrecht Freiherr v. Rechenberg.498 Nicht ohne Bitterkeit über sein Karriereende im Kolonialdienst, nicht zuletzt aber auch dem Zeitgeist entsprechend, modifizierte der Graf wenig später seine Ansichten über den Charakter des Maji-Maji-Krieges und dessen Ursachen. Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr sprach er von einem wachsenden »Solidaritätsgefühl« der Afrikaner, das sich aus deren prinzipieller Ablehnung der »europäischen Kultur« speise.499 Dabei ging er so weit, dass es »einerlei ist, wie der Eingeborene behandelt wird; er wird immer Aufstand machen, wenn es gewissen Elementen glückt, seinen Aberglauben auszunützen.«500 In seiner 1909 erschienenen Rechtfertigungsschrift vertrat er schließlich die Überzeugung, dass es sich um »eine Art nationalen Kampfes gegen die Fremdherrschaft« und damit um ein Vorspiel zu einem »allgemeinen Rassenkampf« zwischen Schwarz und Weiß gehandelt habe.501 Für die künftige koloniale Praxis empfahl Götzen daher dem zwischenzeitlichen Staatssekretär im Reichskolonialamt Dernburg die Schutztruppe zu verstärken und diese durch Forcierung des Eisenbahnbaus beweglicher zu machen. Auch seien die »Reibungsflächen« vor Ort zu minimieren und dabei die »Neger möglichst in Ruhe zu lassen«, um keine erneuten Unruhen zu provozieren.502 Dieses Szenario hätte eine 495 BA-B N 2225/173, Bl. 5, Götzen (Daressalam) an Pfeil vom 30.11.1905, Schreiben. 496 Vgl. GStA PK Nl Schnee/31, König (Berlin) an Schnee vom 8.10.1905, Schreiben; BA-K N 1053/131, Bl. 96–98, Solf (Berlin) an Schnee vom 12.12.1905, Schreiben; BA-B N 2225/173, Bl. 6, Götzen (Daressalam) an Pfeil vom 16.12.1905, Schreiben. Siehe auch Kapitel 4.5.3. 497 Carl Bachem vom 21.3.1906, Unterredung mit dem Reichskanzler, abgedruckt in: Loebell, Erinnerungen, S. 321; Bülow an Wilhelm II. vom 30.5.1906, Telegramm, abgedruckt in: ebd., S. 345, Anm. 3; vgl. Schiefel, Dernburg, S. 37. 498 Götzen hatte den Grafen Pfeil, vorgeschlagen. Auch Solf stand zeitweise auf der Kandidatenliste. BA-B N 2225/173, Bl. 9f., Götzen (an Bord ›Feldmarschall‹) an Pfeil vom 25.4.1906, Schreiben; BA-K N 1053/132, Bl. 38–42, Solf (Berlin) an Schultz vom 20.2.1906, Schreiben; ebd., Bl. 56–60, Solf (Berlin) an Schultz vom 6.4.1906, Schreiben. 499 Götzen (Meran) vom 17.5.1906, Interview, abgedruckt in: Deutsche Tageszeitung Nr. 233 vom 19.5.1906. 500 BA-B R 1001/768, Bl. 93f., Götzen (Berlin) an Dernburg vom 16.1.1908, Schreiben. 501 Götzen, Aufstand, S. 63. 502 BA-B R 1001/768, Bl. 93f., Götzen (Berlin) an Dernburg vom 16.1.1908, Schreiben (Zitat 1); BA-B R 1001/6938, Bl. 19–22, Götzen (Berlin) an Dernburg vom 23.2.1908, Schreiben (Zitat 2).
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Variante der Rassentrennung bedeutet, bei der die Europäer innerhalb abgeschotteter Plantagenbezirke und unter Einsatz von Maschinen sowie asiatischer Arbeitskräfte die besten Nutzflächen der Kolonie weitgehend autonom bewirtschaftet hätten. Abseits solcher ›islands of white‹ (Dane Kennedy) wäre die indigene Bevölkerung zwar wenig behelligt worden, doch hätte eine schlagkräftige Kolonialarmee jeden potentiellen Widerstand sofort gewaltsam unterdrückt. Es ist kaum zu übersehen, dass die jahrelangen Afrikaaufenthalte beim Grafen keine emotionale oder zumindest kognitive Annäherung an die Menschen dieses Kontinents bewirkt hatten. Das Gegenteil war der Fall.
4.3.2 »Puttkamerun« Nach dem Weggang Sodens war der Gouverneursposten in Kamerun auf Zimmerer übertragen worden.503 Dessen Amtszeit sollte jedoch nicht von allzu langer Dauer sein, bestand doch Zimmerers größte Schwierigkeit darin, seine Beamten wirksam zu kontrollieren. Dass es sich dabei nicht zuletzt um ein persönliches Defizit handelte, trat früh zutage. Bereits während seiner Zeit als Kommissar von Togo war es zu Auseinandersetzungen gekommen. Einem Bericht Zimmerers zufolge hätten der Regierungsarzt und der Zollverwalter »widerwärtige Sachen« über ihn behauptet, habe er sich doch angeblich von seinem Sekretär übermäßig »beeinflussen […] lassen«. Diese Marginalie hielt den korrekten Oberbeamten nicht davon ab, eine Disziplinaruntersuchung gegen sich selbst zu beantragen.504 Das Auswärtige Amt löste die Angelegenheit dadurch, indem es den Regierungsarzt darauf hinwies, dass er »in allen Angelegenheiten von allgemeinem Dienstinteresse den Anordnungen des Kaiserlichen Kommissars Folge zu leisten« habe.505 Für Zimmerers Prestige wirkte sich diese Form der Konfliktlösung jedoch kontraproduktiv aus, stichelte doch Puttkamer noch Jahre später über den Vorfall: »Hat Zimmerer schon wieder eine Untersuchung gegen sich selbst beantragt?«506 Auch als Gouverneur von Kamerun blieb dessen Autorität nicht unbehelligt. Zu einer ersten Auseinandersetzung kam es mit dem Expeditionsleiter Eugen Zintgraff. Dieser wähnte sich durch das Gouvernement unzureichend gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung unterstützt. Wie Zintgraff in seinen publizierten »Beschwerden gegen das Kaiserliche Gouvernement in Kamerun« behauptete, habe Zimmerer stattdessen in »beklagenswerter Untätigkeit und in trauriger Verkennung der Situation« verharrt. Beides sei eine Folge der Praxisferne und des Zauderns auf Seiten des Gouverneurs und seiner Mitarbeiter gewesen.507 Zimmerer berichtete dagegen über die Rückkehr von Zintgraffs Expedition zur Küste: Dieser »tobte wie ein Verrückter, drohte, er gehe direkt zu Majestät, um mich zu verklagen, er werde mich telegraphisch zur Verantwortung nach Berlin zitieren lassen u.
503 Siehe Kapitel 4.2. 504 PA-AA P1/17194, Zimmerer (Klein Popo) an AA vom 15.5.1889, Bericht; vgl. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 8.4.1894, Schreiben. 505 PA-AA P1/17194, AA (i.V. Berchem) an Regierungsarzt Wicke vom 4.11.1889, Erlass. 506 BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 15.9.1892, Schreiben. 507 Zintgraff, Beschwerden, S. 7 (Zitat), 19–22.
4. Herrschaftspraktiken
dergleichen mehr.«508 Dazu sollte es nicht kommen. Wieder stellte sich das Auswärtige Amt hinter den Gouverneur und unterband nicht nur einen Immediatvortrag Zintgraffs, darüber hinaus verurteilte die Zentralbehörde auch dessen ebenso brutale wie kostspielige Praktiken.509 Dafür war nicht zuletzt die äußerlich loyale Haltung von Zimmerers Mitarbeitern ausschlaggebend gewesen. Seine Assessoren Heinrich Leist und Karl Alwin Wehlan hatten sich mit dem Gouverneur aber vor allem deshalb solidarisch gezeigt, weil sie sich durch die Behauptungen Zintgraffs selbst angegriffen sahen. Wehlan stellte sogar sein Verbleiben im Kolonialdienst infrage:510 »Jedenfalls halte ich es mit meiner Ehre nicht vereinbar, dem Gouvernement eine Stellung zuweisen zu lassen, wie sie ihm ein Dr. Z[intgraff] und Geistesverwandte zumuten wollen. Zu Hause würde man so etwas nicht einem Dorfschulzen anzutun wagen.« Angesichts der vereinten Gegenwehr blieb Zintgraff nichts anderes übrig, als »unter Beschwörung sämtlicher Teufel gegen den Gouverneur die Flinte ins Korn« zu werfen.511 Wie in Togo handelte es sich erneut um einen Scheinerfolg Zimmerers. Privat schrieb Wehlan an den Personalreferenten der Kolonialabteilung in augenfälliger Übereinstimmung mit den Angriffen Zintgraffs über die Verhältnisse im Gouvernement: »Hier wird viel gewurstelt. Der Gouverneur hat zuviel Angst um den Verlust seines Postens und daher nicht die Courage, jemandem die Wahrheit zu sagen.«512 In der Praxis nutzten die Untergebenen die mangelnden Führungsqualitäten ihres Vorgesetzten zur Ausweitung der eigenen Handlungsspielräume. Dieser Effekt wurde durch häufige Absenzen des Gouverneurs noch verstärkt. Tatsächlich war der mehrmals erkrankte Zimmerer nur etwas mehr als die Hälfte seiner Amtszeit tatsächlich in Kamerun anwesend. Bereits die Stellvertretung durch Schuckmann in der zweiten Jahreshälfte 1891 zeichnete sich durch einen gänzlich anderen Stil aus. Zwar verfolgte dieser keine eigenen Karriereambitionen vor Ort, doch unterschied sich sein gutsherrlich-burschikoses Auftreten eklatant von den zurückhaltenden Formen des Gouverneurs. Während in den Augen des langgedienten Landgerichtsrats Zimmerer jede Amtshandlung zuallererst einen bürokratischen ›Vorgang‹ darstellte, der im regulären ›Geschäftsgang‹ und unter Berücksichtigung formal- und haushaltsrechtlicher Vorschriften zu erledigen sei, bestand Schuckmanns »ganze juristische Bibliothek hier in der Flusspferdpeitsche oder frischem Handeln ohne Kopfzerbrechen.«513 Dementsprechend war der Stellvertreter davon überzeugt, »sehr streng sein« zu müssen, »wenn man sich Respekt verschaffen will.«514 In seinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen
508 BA-B R 1001/4353, Bl. 77–81, Zimmerer (Berlin) an AA vom 7.8.1893, Bericht. Der Auftritt Zintgraffs hatte ein knappes Jahr vor diesem Bericht stattgefunden. 509 Zintgraff, Beschwerden, S. 4; vgl. Hoffmann, Okkupation 1, S. 53f. 510 BA-B N 2146/60, Wehlan (Kamerun) an König vom 29.8.1892, Schreiben. 511 Ebd. 512 Ebd. 513 BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (2.10.1891) (Zitat). Zu Zimmerers Neigung zum Formalismus: BA-MA N 227/11, Bl. 81, Morgen, Lebenserinnerungen; Seitz, Aufstieg 1, S. 9f.; Zintgraff, Beschwerden, S. 12. 514 BA-B N 2272/4, S. 115f., Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 28.8.1891, Schreiben.
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zeichnete Schuckmann ein anschauliches Bild seiner Praktiken. Sich selbst schilderte er dabei als polternden Patriarchen, der fortwährend damit beschäftigt gewesen sei, seine vermeintlich unvernünftigen und zum Müßiggang neigenden Schutzbefohlenen – die indigene Bevölkerung – zu Ordnung und Arbeit anzuhalten. Beim »Palaver« mit einheimischen chiefs, deren Zeremoniell für ihn lediglich eine Aneinanderreihung von »allen möglichen Faxen« darstellte, gab er sich kurzerhand so, »als wenn ich ein Herrscher wäre, und blies mich so dick und lang auf, wie ich konnte«.515 Neben einer niedrigen Hemmschwelle, Einheimische mit Strafen zu belegen, stellten seine öffentlichen Schießübungen ein weiteres Mittel der Einschüchterung dar.516 Daneben berichtete er von einem Todesurteil: »Den einen König habe ich aber gleich in seiner Stadt erbarmungslos aufziehen lassen. Er war ein Verräter erster Klasse.«517 Dieses Vorgehen blieb nicht ohne Wirkung. Bald schrieb er seiner Frau, er sei unter den Einheimischen so gefürchtet, »dass die Kerls kaum etwas anderes herausbekommen als ›I fear you Governor‹«.518 Auch behauptete er, es sei mittels der »Palaver Trommeln der Eingeborenen verkündet worden, ›The Governor lives for kill‹«.519 Unternahm Schuckmann eine Inspektionsreise, fand er die Dörfer meist verlassen vor, was er in seinem Tagebuch dementsprechend zu kommentieren wusste: »Die Leute haben ja furchtbare Angst, weil das Gerücht verbreitet [wurde], ich wollte sie alle töten.«520 Anlässlich eines Besuchs beim »König von Toko« sei auch dieser ihm »zitternd vor Angst« entgegengetreten, habe schließlich aber geäußert, Schuckmann »sehe zwar sehr grimmig aus, aber [er] sei doch gut«.521 Gerade diese von ihm selbst niedergeschriebene Äußerung liefert einen wichtigen Hinweis auf sein Selbstverständnis als Kolonialbeamter. Während er die Abende damit zubrachte, noch »ein bisschen aus meinem Gebetbuch [zu] lesen«, sah er sich vor allem in der Rolle des pflichteifrigen und ebenso gestrengen wie gerechten, äußerlich gerade deshalb »grimmigen Gouverneurs«.522 Als solcher war er davon überzeugt, »alle Augenblick Gewalt anzuwenden gezwungen« zu sein, um die an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen.523 An seinen Bruder schrieb er in diesem Zusammenhang: »Man wird hier herzlos, aber meine Pflicht tue ich und nicht verzage ich einen Moment.«524 Diese Selbstbeschwörung verrät zugleich Unsicherheit. Bezeichnenderweise zeigten sich bei dem rabiat auftretenden Schuckmann nach wenigen Monaten Anzeichen von Erschöpfung. Nachdem er sich stets »gehetzt von früh bis spät« fühlte,
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Ebd., S. 113f., Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 18.8.1891, Schreiben. Ebd., S. 114, Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 22.8.1891, Schreiben. BA-B N 2272/2, Schuckmann an seinen Vater vom 1.11.1891, Schreiben. BA-B N 2272/4, S. 115f., Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 28.8.1891, Schreiben. Ebd., S. 114, Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 22.8.1891, Schreiben. BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (28.8.1891). Ebd., Schuckmann, Tgb. (29.8.1891). Ebd., Schuckmann, Tgb. (19.9.1891) (Zitat 1); ebd., Schuckmann (Kamerun) an seinen Bruder vom 3.10.1891, Schreiben (Zitat 2). Die Bezugnahme auf die Erfüllung seiner Pflicht findet sich an mehreren Stellen: BA-B N 2272/4, S. 102, Schuckmann, Tgb. (26.7.1891); BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (31.8.1891, 2.10.1891); BA-B N 2272/4, S. 116–120, Schuckmann (Kamerun) an Eltern und Geschwister vom 22.11.1891, Schreiben. 523 BA-B N 2272/2, Schuckmann, Tgb. (8.9.1891). 524 Ebd., Schuckmann (Kamerun) an seinen Bruder vom 3.10.1891, Schreiben.
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klagte er immer häufiger über seine angespannten Nerven. Dabei sprach er zugleich die Hoffnung aus, bald abgelöst zu werden.525 Hinzu kam ein lediglich den offiziellen Berichten zufolge erfolgreicher Kriegszug gegen Buea. Dieser hatte nicht nur dem Truppenführer Gravenreuth das Leben gekostet; in Wirklichkeit war es Schuckmann nur unter großen Anstrengungen gelungen, die Expedition überhaupt wieder zurück zur Küste zu bringen.526 Vor seiner Abreise aus Kamerun am 29. Dezember 1891 fühlte er sich daher »nervös und kaputt« und zeigte sich über die rasche Heimkehr nach Deutschland hocherfreut, da er länger »kaum ausgehalten« hätte, »bei meiner Nervosität«.527 Es ist leicht nachvollziehbar, dass die rüden Vorgehensweisen mit Schuckmanns Abreise nicht einfach endeten. Vielmehr war dieser durch den Kanzler Leist stets unterstützt worden. Auch weiterhin blieb Leist der zweite Mann im ›Schutzgebiet‹, wobei sich eine Arbeitsteilung abzuzeichnen begann, die auch unter dessen zeitweiligem Stellvertreter Wehlan aufrechterhalten blieb. Während Zimmerer sich nach seiner Rückkehr weiterhin vor allem mit juristischen Detailfragen befasste und seine Residenz lediglich zu kürzeren Abstechern ins nähere Umland verließ, verkehrten seine beiden Assessoren mit den einheimischen chiefs selbständig und unternahmen mit der Polizeitruppe unkontrollierte Strafzüge gegen vermeintlich unbotmäßige Ortschaften und verwüsteten dabei ganze Landstriche.528 Angesichts ihrer ebenso eigenmächtigen wie überzogenen Praktiken galten Leist und Wehlan schon den Zeitgenossen als prototypisch für den sprichwörtlichen ›Assessorismus‹ in den Kolonien. Namentlich in der frühen Phase der deutschen Herrschaft, die sich durch provisorische Verwaltungsapparate auszeichnete, boten sich den einzelnen Beamten ungeahnte Handlungsspielräume. Einerseits erwiesen sich die Möglichkeiten ihrer Überwachung und Disziplinierung als begrenzt, zum anderen waren selbst die formalen Befugnisse gerade der höheren Beamten weitreichend. Beide Voraussetzungen führten in Kombination mit einer ohnehin reduzierten sozialen Kontrolle vor Ort häufig dazu, dass die »Ungezogenheit, die zuhause sich ducken musste, […] dann draußen in der Freiheit ungehindert hervorzubrechen« drohte.529
525 Ebd., Schuckmann, Tgb. (2.10.1891); BA-B N 2272/4, S. 116, Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 27.10.1891, Schreiben; BA-B N 2272/2, Schuckmann (Kamerun) an Eltern und Geschwister vom 22.11.1891, Schreiben; BA-B N 2272/4, S. 121, Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 24.11.1891, Schreiben. 526 BA-B R 1001/3286, Bl. 6–13, Schuckmann an Caprivi vom 18.11.1891, Bericht; BA-B N 2272/2, Schuckmann an seinen Vater vom 1.11.1891, Schreiben; BA-B R 1001/3286, Bl. 32–39, AA an Schuckmann vom 3.1.1892, Erlass; Zintgraff, Beschwerden, S. 20. Zimmerer fand später heraus, »dass die Benutzung von Bueaweibern durch Dr. Preuß und seine Wei- oder Sierraleoneleute ohne Zahlung oder doch wenigstens ohne vollständige Zahlung« den Konflikt ausgelöst hatte. BA-B R 1001/4284, Bl. 125–133, Zimmerer an KA vom 9.4.1893, Bericht; vgl. Hoffmann, Okkupation 1, S. 70f. 527 BA-B N 2272/4, S. 116–120, Schuckmann (Kamerun) an Eltern und Geschwister vom 22.11.1891, Schreiben (Zitat 1); ebd., S. 129f., Schuckmann, Tgb. (2.1.1892) (Zitat 2). 528 Für Zimmerers Gouverneurszeit lassen sich drei Inspektionsreisen nach Rio del Rey (2x) sowie nach Buea nachweisen. Zimmerer, Bereisung; Zimmerer, Besuch; BA-B R 1001/4284, Bl. 125–133, Zimmerer an KA vom 9.4.1893, Bericht. Zu den Praktiken von Leist und Wehlan siehe weiter unten. 529 Buchner, Aurora, S. 338. Der ehemalige Kaiserliche Kommissar von Kamerun bezog sich in seiner Kritik explizit auf Leist und Wehlan: »Den Rekord der Lächerlichkeit, den der preußische Assesso-
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Ihren Vorgesetzten gegenüber verhielten sich diese karrierebewussten Assessoren äußerlich keineswegs ›ungezogen‹. Nicht nur Schuckmann sah in Leist einen »vorzüglichen Menschen«, der »alles in Ordnung hat«.530 Auch Zimmerer schätzte seine beiden Mitarbeiter offenkundig falsch ein. Im April 1893 berichtete er nach Berlin, dass der »Kanzler Leist mit den Verhältnissen des Schutzgebietes und den Akten wohl vertraut ist«, während er in dem »Assessor Wehlan eine ebenso verlässige als kräftige Stütze« gefunden zu haben glaubte.531 Auch Wehlan schrieb seinem »Kegelbruder«, dem Personalchef König, er sei der »einzige Vertraute«, mit dem Zimmerer »sich wirklich aussprechen könne«. Dementsprechend arbeitete er angeblich mit dem Gouverneur »einmütig zusammen«.532 Zwar blieben gelegentliche Meinungsverschiedenheiten nicht aus, doch wirkt die Behauptung Leists, wonach das »Verhältnis zwischen Herrn Gouverneur v. Zimmerer und mir lange vor dem Dahome[y]-Aufstande ein gespanntes war«, nachträglich konstruiert.533 Dass Zimmerer seinen Untergebenen bewusst freie Hand ließ, ist dagegen gut nachweisbar. Nicht zuletzt zeichnete der Gouvernementsangestellte Wilhelm Vallentin in seinen Tagebuchblättern ein komplexes Bild der dortigen Verhältnisse während des Jahres 1893. Darin beschrieb er etwa, wie Wehlan sich während seiner »Dienstreisen« abscheuliche Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung zuschulden kommen ließ, ohne irgendwelche Konsequenzen fürchten zu müssen.534 Vallentin irrte allerdings mit seiner Mutmaßung, dass der Gouverneur »von allen diesen Geschichten wohl kaum etwas« gewusst haben könne.535 Zweifellos hütete sich Wehlan zwar davor, in seiner Berichterstattung allzu verfängliche Details wiederzugeben. Trotzdem bekamen sowohl Zimmerer als auch die Kolonialabteilung genügend einschlägige Hinweise zu lesen, um die entsprechenden Folgerungen zu ziehen. Beispielsweise schrieb Wehlan, er habe anlässlich der »Bestrafung« der Mabea-Leute »einige Gefangene […] erhängen« lassen. Auch »vernichteten« er und seine Polizeisoldaten bei dieser Gelegenheit fünf Dörfer »unter reichen Verlusten des Gegners«.536
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rismus im schwergeprüften Kamerun 1893 der staunenden Mitwelt vorgelegt hat, wird niemand mehr überbieten können. Das war eine grausame Ironie.« BA-B N 2272/4, S. 112, Schuckmann (Kamerun) an seine Ehefrau vom 9.8.1891, Schreiben. PA-AA P1/17196, Zimmerer (Kamerun) an KA vom 20.4.1893, Bericht. BA-B N 2146/60, Wehlan (Kamerun) an König vom 11.11.1892, Schreiben. BA-B N 2146/37, Leist (Berlin) an König vom 30.6.1894, Schreiben. Vallentin, Tgb., S. 336f., 339f., 342 (13., 17., 31.3., 20.6.1893). Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Kommentar Puttkamers: BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 28.7.1894, Schreiben: »Und vor allem kappen Sie den Vallentin – das ist doch der Verfasser des Tagebuchs –, sonst werden sämtliche tüchtigen Subalternbeamten demoralisiert. Ist der Mann denn immer noch in Kamerun?« Vallentin, Tgb., S. 340 (4.5.1893). BA-B R 1001/4285, Bl. 18–26, Wehlan (Kamerun) an KA vom 11.5.1893, Bericht. In Bezug auf die Gefangenentötung sah sich der Bearbeiter in Berlin lediglich zu der Marginalie veranlasst, »aus welchem Anlass« dies geschehen sei. Solche Details gelangten in der im Kolonialblatt publizierten Fassung des Berichts entweder nicht oder nur in entschärfter Fassung zum Abdruck. Wehlan, Bericht. Überdies äußerte sich die Kolonialabteilung über das Geschehen wohlwollend: BA-B R 1001/4285, Bl. 42, KA an Zimmerer vom 20.7.1893, Erlass.
4. Herrschaftspraktiken
Auch über die Praktiken bei der zwangsweisen Rekrutierung von Arbeitskräften war Zimmerer im Bilde. Sogar im Kolonialblatt ließ sich nachlesen, er sehe die Notwendigkeit, die Menschenjagden Wehlans künftig etwas mehr »in geordnete Bahnen« zu lenken.537 Ebenfalls dürfte Zimmerer kaum entgangen sein, dass den inzwischen als Polizeisoldaten tätigen, einige Jahre zuvor freigekauften Sklaven aus Dahomey, anstelle einer monetären Bezahlung »die dem Gouvernement zur Verfügung stehenden Weiber […] unentgeltlich zugewiesen wurden.« Diese angeblich »allgemein übliche Benutzung eines Weibes der hiesigen Eingeborenenbevölkerung« soll für jeden Polizeisoldaten dem Gegenwert von zwanzig Mark im Monat entsprochen haben.538 Dem stets an Einsparungen interessierten Gouverneur dürfte die damit verbundene Entlastung des Etats – es handelte sich um mehrere zehntausend Mark jährlich – kaum entgangen sein. Dass Zimmerer dennoch seitens der Forschung mit diesen Verfehlungen nicht in Zusammenhang gebracht wurde, liegt wohl daran, dass er sich auf Heimaturlaub befand, als die Situation in der Kolonie eskalierte.539 Tatsächlich verzeichnete Vallentin erst nach der Abreise des Gouverneurs eine auffällige Änderung der Verhaltensweisen Leists, ließ dieser doch fortan regelmäßig Afrikanerinnen gewaltsam in seine Unterkunft bringen.540 In dem überzogenen Bewusstsein seiner Machtstellung glaubte er offenbar sein Handeln nicht verheimlichen zu müssen. Selbst im Nachhinein behauptete er, »dass der geschlechtliche Gebrauch von Pfandweibern in Kamerun in Anbetracht der sozialen Stellung der dortigen Weiber nichts auf sich hat.«541 Nichtsdestotrotz erregte Leist durch sein selbst für koloniale Verhältnisse überzogenes Vorgehen »Ärgernis […] bei Weißen und Schwarzen«.542 Die Empörung der Letzteren erreichte schließlich ihren Höhepunkt, als Leist einige Dahomey-Frauen wegen angeblichen Müßiggangs öffentlich auspeitschen ließ. Die Polizeisoldaten, wegen ihrer finanziellen Benachteiligung 537 DKB 4 (1893), S. 275. 538 Es handelte sich um rund dreihundert ehemalige Sklaven, unter denen auch einige Frauen waren. Sie blieben weitgehend ohne Bezahlung, um das einst an den Dahomey-king Behanzin von der deutschen Regierung entrichtete Lösegeld abzudienen. BA-B R 1001/4021, Bl. 20–26, Rose (Kamerun) vom 1.2.1894, Vernehmung Leist (Zitate). Dieses handschriftliche Papier wurde bislang noch nicht von der Forschung ausgewertet. Zur offenbar verbreiteten Prostitution im Küstengebiet von Kamerun: BA-B R 1001/4239, Bl. 52, Zimmerer (Kamerun) vom 9.4.1892, Maßnahmen gegen die Verbreitung geschlechtlicher Krankheiten. Darin wies Zimmerer darauf hin, dass »die geschlechtlichen Erkrankungen dahier [sic!] in bedenklicher Weise zugenommen« hätten. »Dieses hat seinen Grund hauptsächlich darin, dass jene eingeborenen Weiber, von welchen die Ansteckung ausging, nie zur Anzeige gebracht, vielmehr stets wieder aufs Neue von ihren Eigentümern an Weiße und Schwarze zur Ausübung des Beischlafs überlassen werden.« Einen weiteren Hinweis liefert eine frühere Verfügung Sodens: BA-B R 1001/4238, Bl. 52, Soden (Kamerun) vom 28.5.1886, Forderungen wegen Überlassung eingeborener Frauenzimmer. 539 Zimmerer hatte am 28.6.1893 die Geschäfte an Leist übergeben und war am Tag darauf nach Deutschland abgereist. Vallentin, Tgb., S. 342 (28.6.1893). Vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 169; Gründer, Geschichte, S. 154–158; Bösch, Geheimnisse, S. 264–275; Hoffmann, Okkupation 1, S. 77–83. 540 Vallentin, Tgb., S. 343, 347 (13.8., 2., 30.10.1893). 541 BA-B N 2146/37, Leist (Berlin) an König vom 30.6.1894, Bericht. 542 Vallentin, Tgb., S. 347 (30.10.1893); vgl. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 1.12.1894, Schreiben. Darin empörte sich Puttkamer über Leist, den er »auf einer Stufe« ansah »mit dem Gefängnisdirektor, der seine weibl. Gefangenen wider Willen missbraucht oder dem Kurarzt pp.«
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ohnehin unzufrieden, begannen daraufhin zu meutern. Nur mit Hilfe eines deutschen Kriegsschiffs gelang es Leist, den Aufstand gewaltsam niederzuschlagen.543 Zimmerer hatte zwar mit Bekanntwerden der Unruhen seinen Urlaub abgebrochen, doch traf er erst nach Fritz Rose, dem Kamerun-Referenten der Kolonialabteilung, wieder in der Kolonie ein. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Stellung Zimmerers, dass Rose zuvor vom Reichskanzler ausdrücklich angewiesen worden war, die Untersuchung der Vorfälle »selbständig und unabhängig von dem Kaiserlichen Gouverneur zu führen«.544 Gleichzeitig hatte Caprivi dem Hauptmann Curt Morgen bereits die Nachfolge Zimmerers in Aussicht gestellt.545 Nicht nur in Berlin hielt man das Ende von dessen Amtszeit für gekommen. Auch vor Ort hatte Rose den Eindruck gewonnen, dass Zimmerer ohnehin »keinen großen Wert darauf legt, hier noch lange Zeit zu amtieren«.546 Rose berichtete privatim noch andere Erkenntnisse nach Berlin: Hatte Leist bei ihm anfangs lediglich den »Eindruck ziemlicher Nervosität« hervorgerufen, öffnete ihm sein Aufenthalt in Kamerun die Augen über die wirklichen Zustände.547 Bald hielt er Leist für »vollständig ungeeignet zum Kolonialdienst bzw. zu irgendeinem Verkehr mit Eingeborenen.« Auch über Wehlan hatte Rose seine Meinung grundlegend geändert. Während er zunächst angeregt hatte, diesen baldmöglichst aus seinem Heimaturlaub zurückzurufen, beschwor er nunmehr den Personalchef in Berlin, eine Wiederaussendung Wehlans »darf unter keinen Umständen stattfinden, so lange Zimmerer hier noch waltet.« Dabei war allerdings weniger Wehlans »Brutalität gegen Eingeborene« ausschlaggebend, als vielmehr die Tatsache, »dass W[ehlan] Zimmerer vollständig beherrscht, letzterer nicht aufzumucken wagt.«548 Nach seiner Rückkehr wurde Rose zusammen mit dem Personalchef König mit den weiteren Ermittlungen gegen Leist und Wehlan betraut, was am Ende zu milden Disziplinarstrafen führte.549 Gleichzeitig warnte Rose erneut davor, Zimmerer 543 Zum Ablauf: Hoffmann, Okkupation 1, S. 79–81; Morlang, Askari, S. 42; Schröder, Prügelstrafe, S. 35–37. Nach Vallentin, Tgb., S. 352f. (23., 26.-28.12.1893), handelte es sich um etwas mehr als einhundert Aufständische. Von diesen wurden 29 Männer gehängt und 34 Frauen nach Bibundi und Rio del Rey deportiert. Die übrigen dürften bei den Kämpfen ums Leben gekommen sein. BA-B R 1001/4021, Bl. 7–19, Rose (Kamerun) vom 30./31.1.1894, Vernehmung Leist. 544 Ebd., Bl. 2f., Caprivi an Rose vom 4.1.1894, Erlass. 545 BA-MA N 227/11, Bl. 64, Morgen, Lebenserinnerungen; vgl. Hoffmann, Okkupation 2, S. 38f. Der Kaiser soll auch dem Hauptmann v. Natzmer den Gouverneursposten angeboten, die Offerte dann aber wieder zurückgezogen haben. So in: BA-B N 2146/53, Rose (Kamerun) an König vom 30.1.1894, Schreiben. 546 Ebd. 547 Ebd., Rose (Kamerun) an König vom 2.2.1894, Schreiben (Fortsetzung des Schreibens vom 30.1.1894). 548 Ebd., Rose (Kamerun) an König vom 16.2.1894, Schreiben. 549 Die Reichsregierung sah sich angesichts des öffentlichen Aufsehens zu diesen Maßnahmen gezwungen. Bereits am 19.2.1894 kam es zur Debatte im Reichstag über den ›Fall Leist‹. Wenig später wusste Lindequist aus London zu berichten, dass man dort die deutschen »Kolonialangelegenheiten mit großer Aufmerksamkeit« verfolge. Dabei sei ihm versichert worden, dass »nächst Bismarck kein Deutscher in England so bekannt wäre, wie Leist«. BA-B N 2146/40, Lindequist (London) an König vom 8.3.1894, Schreiben. Selbst Puttkamer forderte König auf, »machen Sie nur Leist kolonial unschädlich«. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 28.7.1894, Schreiben. Gegen Wehlan wurde wegen »Verdachts des Amtsmissbrauchs« vorgegangen. BA-B N 2146/5, Caprivi vom 19.5.1894, Verfügung. Das Revisionsurteil gegen Leist lautete auf Dienstentlassung, bei Wehlan
4. Herrschaftspraktiken
im Amt zu belassen, da dieser »vielfach in unverschämter Weise überfordert ist«. Reichlich zynisch glaubte er zudem in dem Aufstand den Vorzug erkennen zu können, dass dadurch das »unglückselige und bei weiterem Blick auch unökonomische Sparsystem Zimmerer einen gründlichen Stoß erhalten hat.«550 Auch Puttkamer, nach wie vor Landeshauptmann von Togo, begann im Frühjahr 1894 mit einer regelrechten Hetzkampagne gegen Zimmerer. Das Ziel, das er dabei verfolgte, benannte er in einem Schreiben an König:551 »Ich würde brennend gern Kamerun in Ordnung bringen; denn dass es jetzt nicht in Ordnung ist und unter Z[immerer] nie werden wird, darüber sind Sie doch nicht im Zweifel.« Pflichterfüllung oder Patriotismus waren jedoch keineswegs die handlungsleitenden Interessen Puttkamers. Seine private Korrespondenz spiegelt vielmehr ein hohes Maß an persönlichem Ehrgeiz sowie Geltungsdrang wider. Dabei klagte er über seine angebliche Zurücksetzung bei der Vergabe von Auszeichnungen und forderte zudem ein höheres Gehalt.552 Obwohl die Kameruner Geschehnisse inzwischen zum Gegenstand von Reichstagsdebatten, Presseartikeln und Gerichtsverhandlungen geworden waren und sich daraus im Verlauf des Jahres 1894 ein handfester Kolonialskandal entwickelte, blieb Zimmerer vorläufig auf seinem Posten. Entscheidend dafür war, dass sich Reichskanzler und Kolonialdirektor in der Nachfolgefrage uneins waren. Während Caprivi nach wie vor die Einsetzung des Hauptmanns Morgen favorisierte, lehnte Kayser – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Erfahrungen mit Schele – eine damit verbundene Militarisierung des Kameruner Gouvernements ab.553 Auch Puttkamers Querschüsse änderten an dieser Pattsituation vorläufig nichts.554 Erst mit Caprivis Rücktritt im Oktober 1894 verschoben sich die Konstellationen. Bezeichnenderweise traf am 7. November ein Telegramm in Togo ein, in dem die Kolonialabteilung bei Puttkamer anfragte, ob er den Gouverneur von Kamerun vertreten wolle.555 Dass Kayser ihn längst zum Nachfolger ausersehen hatte, belegt dessen Anfrage bei Soden, die bereits auf den 18. April 1894 datiert.556 Der Kolonialdirektor hatte darin den ehemaligen Vorgesetzten Puttkamers aufgefordert, dessen Eignung als Gouverneur
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dagegen auf Gehaltsminderung, doch blieb auch er nicht im Staatsdienst. Schröder, Prügelstrafe, S. 49; Bösch, Geheimnisse, S. 271f. Wehlans persönliche Verbindung mit König blieb bestehen, vertrat er doch noch Jahre später als Rechtsanwalt die Kolonialverwaltung vor Gericht. BA-B N 2231/11, Bl. 107–114, Schiedsspruch vom 28.5.1906. BA-B N 2146/53, Rose (Höxter) an König vom 14.9.1894, Schreiben. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 8.4.1894, Schreiben. Ebd., Puttkamer (Sebbe) an König vom 31.1.1893, Schreiben. Vgl. BA-MA N 227/11, Bl. 64, 84, Morgen, Lebenserinnerungen. Dabei stänkerte er auch gegen Curt Morgen: BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 28.7.1894, Schreiben. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 16; vgl. PA-AA P1/17196, Zimmerer (Kamerun) an KA vom 15.10.1894, Bericht. BA-B N 2146/50, Soden an Kayser vom 20.4.1894, Schreiben. Aus dem Inhalt ergibt sich das Datum der Anfrage. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben.
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zu begutachten. Sodens Antwort fiel wenig schmeichelhaft aus, sah er doch das »Charakteristische des Puttkamer’schen Charakters« vor allem in dessen »großem Leichtsinn und einer bodenlosen Bummelei in Geldsachen«. Auch sei Puttkamer »nicht der Mann, um große Zucht und Autorität auszuüben«. Auch wenn Soden dessen »Verstand und seine geschäftliche Gewandtheit« durchaus anerkannte, kam er zu dem Schluss, Puttkamers Ernennung zum Gouverneur könne er nur dann empfehlen, »wenn eben kein ›Besserer‹ da wäre«. Kayser ließ sich von solchen Warnungen – noch dazu aus der Feder seines früheren Gegenspielers in Ostafrika – nicht beirren. Schon am 11. Dezember 1894 traf Puttkamer in Kamerun ein, wo er zu seinem Unwillen noch auf Zimmerer traf. Während der Zeit bis zu dessen Abreise, die Puttkamer seinen Memoiren zufolge im besten Einvernehmen mit dem Noch-Gouverneur verlebt haben will, richtete er bezeichnenderweise ein Schreiben an König, in dem er diesen aufforderte, »doch den alten Z[immerer] sofort zum Teufel« zu schicken und im Gegenzug seine eigene Bestallung zum Gouverneur voranzutreiben.557 Um die Dinge zu beschleunigen, schilderte er die vorgefundenen Verhältnisse besonders pessimistisch und konstatierte ein »vollständiges Tohuwabohu«, das dringend einer festen Hand bedürfe. Bewusst bezeichnete er das Gouvernement als handlungsunfähig, verfüge doch keiner der Beamten über ein »bestimmtes Ressort«, so dass »keiner weiß, was er zu tun hat, also tut entweder keiner was, oder sie zanken sich alle«.558 Als sich seine Ernennung dennoch hinzog, wurde der Ministersohn ungeduldig und drängte den Personalreferenten unzweideutig: »Denken Sie an meinen armen Geldbeutel und machen Sie mich bald zum Gouverneur«.559 Die Lösung des Problems fand man in der Kolonialabteilung rasch, indem Zimmerers Beurlaubung abgekürzt und dieser zur Disposition gestellt wurde. Puttkamers Ernennung konnte daher mit Wirkung vom 13. August 1895 erfolgen.560 Einen möglichen Hinweis auf die Bedeutung von Konnexionen und gesellschaftlichem Status liefert nicht zuletzt ein wenige Tage später beim Kaiser eingehendes Telegramm. Der Absender, der preußische Staatsminister a.D. Robert v. Puttkamer, schrieb darin an Wilhelm II.: »Euerer Majestät lege ich alleruntertänigsten Dank zu Füßen für die huldreiche Ernennung unseres Sohnes Jesko zum Gouverneur von Kamerun.«561 557
Ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 17.12.1894, Schreiben. Nicht nur in dieser Hinsicht sind Puttkamers Erinnerungen ein Musterbeispiel für die begrenzte Zuverlässigkeit dieses Quellentyps. Während er in Wirklichkeit »mit Schmerzen auf Zimmerer’s Abfahrt« harrte, beschönigte er in seinen Memoiren den gemeinsam verlebten Sylvesterabend 1894/95, »wobei ich mir aus Zimmerers Erzählungen über das von ihm Erlebte manche gute Lehre entnahm.« Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 26, 32; vgl. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Kamerun) an König vom 3.3.1895, Schreiben, wo er über die wenig freundliche Begrüßung durch Zimmerer und Max v. Stetten schrieb: »Sie hätten nur sehen sollen, mit welchen Gesichtern die beiden Bajuwaren mich hier empfingen!!!« 558 Ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 17.12.1894, Schreiben. 559 Ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 3.3.1895, Schreiben (Zitat); vgl. ebd., Puttkamer (Victoria) an König vom 19.7.1895, Schreiben. 560 PA-AA P1/17196, Schwartzkoppen vom 6.5.1895, Vermerk. Zu Zimmerers Abschiedsessen mit den Beamten der Kolonialabteilung: Seitz, Aufstieg, 1, S. 9f. In seinen Memoiren behauptete Puttkamer, bereits im Januar 1895 die »Kaiserliche Bestallung als Gouverneur« erhalten zu haben. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 31. 561 GStA PK, Rep. 89/32474, Bl. 11, Robert v. Puttkamer an Wilhelm II. vom 20.8.1895, Telegramm.
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Der neue Gouverneur hatte in seiner Beurteilung der Verhältnisse insofern nicht fehlgelegen, als das Gouvernement tatsächlich alles andere als eine effizient arbeitende Behörde darstellte. Zwar zählte dessen Personalstand offiziell 42 europäische Beamte und Angestellte, doch waren die meisten davon entweder als Zollbeamte, Lazarettund Werkstattpersonal oder mit der Materialverwaltung beschäftigt. Als Angehörige der eigentlichen ›Schutzgebietsregierung‹ lassen sich selbst nach ihrem zehnjährigen Bestehen außer dem Gouverneur lediglich ein bis zwei höhere sowie fünf subalterne Beamte ausmachen.562 Ebenfalls weitgehend auf dem Papier bestand das ›Netz‹ aus Bezirksämtern und Stationen, durch das eine effektive Beherrschung der Kolonie sichergestellt werden sollte. Vorläufig befanden sich alle diese ›Lokalbehörden‹ innerhalb eines küstennahen Streifens von höchstens einhundert Kilometern Tiefe. Neben dem Hauptort Kamerun (Duala) als Sitz des Gouvernements existierten lediglich die beiden Bezirksämter Victoria und Kribi sowie die (Zoll-)Stationen Edea, Rio del Rey und Campo. Einzig die kurz zuvor gegründete Militärstation in Yaundé lag etwas weiter im Landesinneren, weshalb von dort auf halbem Weg zur Küste der Etappenposten Lolodorf errichtet worden war.563 Das Bild einer ›hegemony on a shoestring‹ (Sara Berry) wird angesichts der Tatsache besonders nachvollziehbar, als sich an den genannten Standorten insgesamt nur ein Dutzend europäischer Beamter und Offiziere ständig aufhielt. Den entscheidenden Faktor, mit dem sich diese geringe Präsenz bis zu einem gewissen Grad ausgleichen ließ, hatte bereits Schuckmann benannt, waren ihm doch »die Neger […] noch uneiniger, als wir Deutsche untereinander« vorgekommen.564 Nur aufgrund der für das küstennahe Waldland charakteristischen Fragmentierung der indigenen Gesellschaften in kleine und kleinste tribale Gruppen war es überhaupt möglich, mittels einer verhältnismäßig kleinen, dabei aber überlegen organisierten und ausgerüsteten Streitmacht, den eigenen Ordnungsanspruch durchzusetzen. Allerdings blieb die Wirkung der einzelnen Machtdemonstration oder Gewaltanwendung stets räumlich wie zeitlich begrenzt. Hatte bis zum Dahomey-Aufstand die vorhandene Polizeitruppe noch ausgereicht, um etliche indigene Gruppen unter Anwendung brutaler Mittel aus dem lukrativen Zwischenhandelsgeschäft zu verdrängen, rückte nunmehr auch in Kamerun die Schaffung einer Schutztruppe in den Fokus.565 Bereits in den ersten Tagen des Januar 1894 hatte Caprivi den Hauptmann Morgen beauftragt, in Ägypten sudanesische Söldner zu rekrutieren und diese per Schiff nach Kamerun zu bringen.566 Bei gleicher Gelegenheit hatte der Reichskanzler erklärt, die jüngsten Vorfälle hätten gezeigt, dass die Kolonie »noch
562 DKB 6 (1895), S. 269; vgl. Seitz, Aufstieg 1, S. 40f., 102. 563 Ebd., S. 8; Hausen, Kolonialherrschaft, S. 98f. Zur Bedeutung von Yaundé: Hoffmann, Okkupation 1, S. 106–113. Daneben gab es einige kleinere, meist kurzlebige Handelsstationen mit begrenzten Regierungsfunktionen. Vgl. DKB 5 (1894), S. 68f., 189f. 564 BA-B N 2272/4, S. 113f., Schuckmann (Kamerun) an Ehefrau vom 18.8.1891, Schreiben. 565 Vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 92f. 566 BA-MA N 227/11, Bl. 63–66, 74f., 80, Morgen, Lebenserinnerungen; Dominik, Kamerun, S. 2–16; DKB 5 (1894), S. 341–344; Morlang, Askari, S. 42, 44; Hoffmann, Okkupation 2, S. 38f.
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nicht reif für eine Civilverwaltung« sei.567 Es schien somit ein Bedeutungszuwachs des Militärs auch in Kamerun bevorzustehen.568 Puttkamer wandte sich jedoch von Anfang an gegen alle einschlägigen Ambitionen der jungen Schutztruppe. Diese Ablehnung hing einerseits mit seinen bisherigen Erfahrungen in Togo zusammen, wo er die Ansicht gewonnen hatte, dass eine »Verwendung von aktiven Offizieren […] unmittelbar unter den Augen und der Verantwortung des Kommissars […] nie ohne Bedenken sein« werde, »da die Herren vermöge ihrer militärischen Erziehung und Neigungen einer Politik des vorsichtigen, sehr langsamen Weiterfühlens unter Vermeidung jedes ernstlichen Konfliktes […] naturgemäß abhold sind.«569 Noch kurz vor seinem Wechsel nach Kamerun hatte er nach Berlin berichtet, dass die aus der Armee kommenden Expeditionsleiter »von Nichts als ›durchschlagen‹, ›Feinde niederwerfen‹ und dergleichen« fabulieren würden.570 Puttkamers Bevorzugung eines friedlichen Vorgehens ist allerdings nicht allzu wörtlich zu nehmen. Als Zivilbeamter, dem das Reserveoffizierspatent wegen seiner ›Jugendsünden‹ verwehrt geblieben war, blickte er missgünstig auf die ordensgeschmückten Offiziere seiner Umgebung, so dass er vor allem auf die Würdigung seiner eigenen Verdienste abzielte, wenn er die Ansicht vertrat, dass es »in Afrika […] viel schwerer ist, nicht zu fechten, als zu fechten«.571 Wie zuvor in Ostafrika unter Soden rückte auch in Kamerun die Frage des Verhältnisses des Gouverneurs zum künftigen Kommando der Schutztruppe in den Vordergrund. Bezeichnenderweise hatte der noch unter Zimmerer als deren erster Kommandeur eingesetzte Rittmeister Max v. Stetten zu verstehen gegeben, sich einem zivilen Beamten keinesfalls unterordnen zu wollen. Puttkamer schrieb darüber an König:572 »Nun aber Stetten! Der ist ganz wild geworden und kaum noch zu ertragen; eine leidige Beschwerde muss ich mit der deutschen Post über ihn abschicken; er ist vollständig nervös, außer Stande zu begreifen, dass der Gouverneur notwendig über ihm steht u.s.w.« Puttkamer löste das Problem auf ähnliche Weise wie Wißmann ein Jahr später in Ostafrika.573 Wie dort Trotha wurde in Kamerun Stetten kurzerhand auf einen mehrmonatigen Zug ins Landesinnere geschickt:574
567 BA-MA N 227/11, Bl. 64, Morgen, Lebenserinnerungen. 568 BA-B N 2146/53, Rose (Kamerun) an König vom 30.1.1894, Schreiben; vgl. Hoffmann, Okkupation 2, S. 38. 569 BA-B R 1001/4330, Bl. 74, Puttkamer (Klein-Popo) an Caprivi vom 18.2.1891, Bericht. 570 Puttkamer (Sebbe) an KA vom 14.11.1894, Bericht, abgedruckt in: Gruner, Vormarsch, S. 34. 571 BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 31.1.1893, Schreiben. Darin bedankte er sich gleichzeitig bei König für die Eingabe zum Roten Adlerorden 4. Klasse, da er sich ohne derartige Auszeichnungen »allen den dekorierten Lieutenants pp. gegenüber […] aber auch wirklich wie ein Verbrecher« fühle. 572 Ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 3.3.1895, Schreiben. 573 Siehe Kapitel 4.3.1. 574 BA-B N 2146/50, Puttkamer (Kamerun) an König vom 3.3.1895, Schreiben.
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»Ich mache ihn [Stetten] nun ja zunächst unschädlich, indem ich ihn auf die Bakoko loslasse; die können sich gratulieren! Ich denke es wird alles glatt gehen, wenn auch nicht so schnell und unblutig wie Buea. Mehrere Monate dauert es doch, und dann geht Stetten auf Urlaub, hoffentlich auf Nimmerwiedersehen.« Da der Gouverneur seinen Kommandeur zugleich anwies, im Anschluss an die Strafexpedition in das Gebiet der Vute vorzudringen, um mit dem Machthaber von Ndumba, Ngraŋ Neyon, in ein »friedliches und freundschaftliches Verhältnis« zu treten, war Stetten tatsächlich fast ein halbes Jahr lang von allen Entscheidungsvorgängen ferngehalten.575 Puttkamer konnte währenddessen ungestört tätig werden. Zwar gelang es ihm trotz seiner guten Vernetzung nicht, die offiziell am 14. Mai 1895 ins Leben gerufene Schutztruppe wieder in eine Polizeitruppe zurückstufen zu lassen und Kamerun aus dem Geltungsbereich des wenig später verabschiedeten Schutztruppengesetzes auszunehmen.576 Dennoch erreichte auch er eine »Reduzierung der Truppe« über den Umweg einer »abgezweigten Polizeitruppe«.577 Dabei handelte es sich um kleine Kontingente von farbigen Polizisten, kommandiert von europäischen Polizeimeistern, die analog dem ostafrikanischen Vorbild bevorzugt den zivilen Bezirksämtern zugeteilt wurden.578 Für Puttkamer entscheidend war jedoch, dass er am Ende die Ablösung Stettens durchsetzen konnte.579 Diesen Schritt hatte Puttkamer bereits seit Februar 1895 vorbereitet und schon damals an König geschrieben, er solle »bitte um Gotteswillen […] mit der Wahl von Stetten’s Nachfolger nur recht vorsichtig« sein. Sogar eigene Kandidaten hatte Puttkamer bei dieser Gelegenheit ins Spiel gebracht und dabei gezielt Offiziere im Leutnantsrang benannt, die bestenfalls als Kommandeure einer Polizeitruppe, kaum jedoch für eine Schutztruppe in Frage gekommen wären.580 Um seinen Bestrebungen den nötigen Nachdruck zu verleihen, skizzierte er gegenüber der Kolonialabteilung die Gefahren eines »reinen Militärregiments«, das den »Anfang vom Ende« für die Kolonie bedeute. Nicht einmal seine Stellvertretung wollte er dem Kommandeur zugestehen, wobei er sich auf das Vorbild britischer Gouverneure berief, die nur zivile Stellvertreter
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BA-B R 1001/3356, Bl. 86–91, Puttkamer (Kamerun) an Stetten vom 5.3.1895, Instruktion. Zur Expedition Stettens: Hoffmann, Okkupation 1, S. 124, 243f.; Dominik, Kamerun, S. 118–133. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Victoria) an König vom 19.7.1895, Schreiben. Puttkamer regte ernsthaft an, ob man »es nicht so einrichten [könne], dass der Reichstag das Gesetz (für Kamerun) ablehnt? Das wäre herrlich; es wäre viel billiger und besser, wenn wir wieder zur Polizeitruppe zurückkehren«. Ähnlich: ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 12.2.1895, Schreiben; ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 3.3.1895, Schreiben. Zur Errichtung der Kameruner Schutztruppe: BA-MA RM 2/1853, A.K.O. vom 14.5.1895. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Kamerun) an König vom 12.2.1895, Schreiben. Die Polizeitruppe blieb jedoch zahlenmäßig gering. Zur Jahrhundertwende zählte sie lediglich 154 Mann gegenüber 993 Mann der Schutztruppe. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 93f. Arenberg vom 13.3.1896, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Bd. 144, S. 1420; vgl. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 60f.; BA-B R 1001/3356, Bl. 108–110, Puttkamer (Kamerun) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 7.6.1895, Bericht. Abweichend zur Ablösung Stettens: Hoffmann, Okkupation 2, S. 40. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Kamerun) an König vom 12.2.1895, Schreiben (Zitat); ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 3.3.1895, Schreiben.
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hätten.581 Entscheidend für sein Selbstverständnis blieb das Credo: »Der Gouverneur muss vor allem ›commander in chief‹ sein, wie bei den Engländern!«582 Dass er dieses Prinzip auch umzusetzen suchte, lässt sich nicht zuletzt anhand der Tatsache belegen, dass der Weggang Stettens kein Einzelfall blieb. Vielmehr sah Puttkamer insgesamt vier Schutztruppenkommandeure kommen und gehen.583 Diese blieben solange unbehelligt, wie sie sich dem Führungsanspruch des Gouverneurs fügten. Zu Konflikten kam es stets, wenn die Kommandeure offen auf ihre Eigenständigkeit pochten. So lässt es sich erklären, dass der Gouverneur mit Stettens Nachfolger, dem Hauptmann Oltwig v. Kamptz, über mehrere Jahre hinweg zurechtkam. Entsprechend positiv äußerte sich Puttkamer etwa anlässlich der Rückkehr des »tapferen Kamptz« aus dem Urlaub und ließ ihn bei dieser Gelegenheit »nach Entgegennahme meiner Instruktionen sofort zu seiner ›Armee‹ abgehen«.584 Auch Seitz, der zwischen 1895 und 1899 Kanzler und stellvertretender Gouverneur in Kamerun war, schilderte den Offizier keineswegs nur äußerlich als »martialischen Landsknechtskopf«.585 Tatsächlich beschränkte sich Kamptz auf die militärische Sphäre, wobei ihm die Unterordnung unter den Gouverneur offenbar nicht schwer fiel.586 Dass schließlich doch noch ein »halber Krieg zwischen Zivil und Militär« ausbrach, hatte seinen Ursprung in einer Auseinandersetzung unter den jeweiligen Untergebenen. Zwar ließ sich die Austragung eines Duells zwischen dem Regierungsrat Martin und dem Leutnant v. Arnim gerade noch beilegen, doch sprach man bald in der Kolonialabteilung von einem »schweren amtlichen Konflikt« zwischen Seitz und Kamptz. Puttkamer griff daraufhin zu seinem bewährten Rezept, indem er den Kommandeur »auf Expedition gegen Ngila schickt[e]«. Der wohlinformierte Legationsrat Schmidt-Dargitz erriet selbst im fernen Berlin den eigentlichen Beweggrund und konstatierte ironisch den internen Konflikt als »vortrefflichen Grund zu einer Kampagne«.587 Zwar blieb ein offener Bruch zwischen dem im persönlichen Umgang stets liebenswürdig auftretenden Puttkamer und Kamptz aus, doch war der Gouverneur hinter den Kulissen längst aktiv geworden, so dass im Frühjahr 1901 ein erneuter Kommandeurswechsel eintrat. Die Presse stellte im Nachhinein fest, dass Puttkamer damit einen weiteren Sieg davongetragen habe, denn »wer sich ihm nicht fügte, dessen Stunde hatte in Kamerun geschlagen.«588 An dieser Stelle erscheint es angebracht, die wesentlichen Zielsetzungen Puttkamers und die entsprechenden Praktiken zu skizzieren. Während seine Memoiren das Bild einer ungetrübten Erfolgsbilanz vermitteln, lässt sich unter Einbeziehung des hierzu kri-
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Ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 12.2.1895, Schreiben (Zitate); ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 3.3.1895, Schreiben. Ebd., Puttkamer (Kamerun) an König vom 12.2.1895, Schreiben. Vgl. Hoffmann, Okkupation 2, S. 40–42. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Buea) an König vom 9.12.1897, Schreiben. Seiz, Aufstieg 1, S. 112. Darauf deuten nicht zuletzt die Kriegszüge der Jahre 1896–1899 hin, deren Verläufe kaum auf Eigenmächtigkeiten schließen lassen, sondern sich im Rahmen von Puttkamers Instruktionen bewegten. Vgl. Hoffmann, Okkupation 2, S. 40. GStA PK NL Schnee/52, Schmidt-Dargitz (Berlin) an Schnee vom 29.1.1899, Schreiben. BA-B R 8034-III/351, Frankfurter Zeitung Nr. 73 vom 15.3.1906.
4. Herrschaftspraktiken
tischeren Seitz ein plausibles Gesamtbild gewinnen.589 Puttkamer behauptete, er habe die »Sturm- und Drangperiode« in Kamerun mit ihren »kriegerischen Expeditionen und Kämpfen« zum Abschluss gebracht und damit die »Eroberung der Kolonie vollendet«.590 Diese auch von Seiten der Forschung übernommene Interpretation ist zwar in der Sache zutreffend, weniger jedoch hinsichtlich der Verantwortlichkeiten.591 Einerseits kann kaum geleugnet werden, dass während der Amtszeit Puttkamers etliche größere Züge der Schutztruppe unternommen wurden, in deren Gefolge die deutsche Interessen- und Einflusszone über eine Distanz von weit mehr als tausend Kilometern bis zum Tschadsee vorgeschoben wurde.592 Tatsächlich entsprach eine derart weitreichende Expansion jedoch nur zum Teil den Intentionen Puttkamers. Er verfolgte vielmehr von Anfang an das Konzept, seine geringen Ressourcen auf die Pflanzungsbezirke um den Kamerunberg zu konzentrieren und die Verwaltung entlang der Küste zu konsolidieren. Durch begrenzte Expeditionen im Süden des ›Schutzgebietes‹ zielte er zudem darauf ab, das Einzugsgebiet der dortigen Stationen auf lokaler Ebene auszudehnen.593 Zwar war auch Puttkamer an den wenig bekannten Räumen im Nordosten Kameruns interessiert, doch schwebten ihm dabei indirekte, personal- und kostensparende Formen der Einflussnahme vor.594 In dieser Beurteilung wurde er anfangs von der Berliner Zentralbehörde unterstützt, da auch diese ein weiträumiges Ausgreifen nur unter der Voraussetzung für möglich hielt, dass die »Küstenverhältnisse zu irgend welchen Besorgnissen keinen Anlass bieten und dass eine Gefährdung unseres Besitzstandes im näheren Hinterland nicht mehr zu befürchten ist.«595 Die in Puttkamers Amtszeit dennoch stattfindende großräumige Expansion stellte somit keineswegs eine von Anfang an geplante, »systematische Ausdehnung der deutschen Herrschaft« dar.596 Vielmehr war dieser Vorgang von einer erheblichen Eigendynamik geprägt. Eine wesentliche Voraussetzung dafür lieferte wiederum der fortbestehende Antagonismus zwischen Ziviladministration und Schutztruppe. Tatsächlich gelang es Puttkamer nicht, dem Tatendrang einzelner Offiziere wirksam Einhalt zu gebieten. Das galt besonders dann, wenn diese fernab der Gouverneursresidenz operierten. Über diesen Mangel an Kontrolle war sich Puttkamer durchaus bewusst, begründete er doch kurz nach seiner Ernennung die Dringlichkeit einer Inspektionsreise nach Yaundé folgendermaßen:597
589 Seitz hatte sich mit Puttkamer letztlich entzweit. Als dessen Nachfolger in Kamerun bewertete er die Amtstätigkeit seines Vorgängers daher wenig euphorisch. Seitz, Aufstieg 1, passim. 590 Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 322. 591 Hausen, Kolonialherrschaft, S. 91, 99; Gründer, Geschichte, S. 158. 592 Zur Expansion in den Norden Kameruns: Hoffmann, Okkupation 1, S. 224–272. 593 Seitz, Aufstieg 1, S. 39; vgl. Liebert, Kolonien, S. 19–21, der diese Konzeption Puttkamers kritisiert, sei dieser doch »nicht energisch genug« bei der Erschließung Kameruns vorgegangen. Vielmehr habe er diese »sträflich vernachlässigt«. 594 Hoffmann, Okkupation 1, S. 256f. 595 ANY FA 1/72, Bl. 69f., Stuebel an Puttkamer vom 29.4.1901, Erlass. 596 So aber: Gründer, Geschichte, S. 158 (Zitat). 597 BA-B N 2146/50, Puttkamer (Kamerun) an König vom 18.8.1895, Schreiben.
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»Ich muss ganz unbedingt hin und in der trockenen Jahreszeit ist die Sache nicht gefährlich – Es passiert sonst dort der unerhörteste Blödsinn, wenn die Stetten-Schüler unkontrolliert und ohne Instruktion holzen. Letztere kann man aber nur erteilen auf Grund persönlicher Lokalkenntnis.« Im Gegensatz zu der mit diesen Zeilen suggerierten Tatkraft lassen sich die von ihm tatsächlich unternommenen Inspektionsreisen ins Binnenland an einer Hand abzählen. Selbst die vermeintlich unaufschiebbare Expedition nach Yaundé fand erst mehr als ein Jahr nach der Niederschrift der zitierten Passage statt.598 Hatte bereits einer seiner Untergebenen in Togo über ihn geschrieben, er sei ein »Küstenkleber«, der sich »etwas mehr um das Hinterland kümmern« solle, änderten sich diese Verhaltensweisen auch in Kamerun kaum.599 Anders als Götzen in Ostafrika, der sich um Detailfragen persönlich zu kümmern pflegte, zeigte Puttkamer auch in seiner Amtstätigkeit ein Selbstverständnis, das eher dem eines Landesherrn entsprach. Er überließ die »Lokalgeschäfte« lieber seinem Stellvertreter, um sich selbst den »weiteren und größeren Aufgaben zu widmen.«600 Auch sein Lebensstil erinnert an den eines regelrechten Vizekönigs, der die Kolonie buchstäblich als »sein Reich« begriff.601 Bereits die Zeitgenossen schlossen sich dieser Interpretation an, was letztlich in dem teilweise spöttisch gemeinten Wortspiel »Puttkamerun« zum Ausdruck kommt.602 Symbolhaft für einen vom Tagesgeschäft wenig beeinflussten Quasi-Monarchen stand auch das in Buea gelegene und eigens für Puttkamer errichtete Gouverneurshaus.603 Ungeachtet zeitgenössischer Zuschreibungen, die das Bauwerk abwechselnd als »prunkvolle Residenz« oder als »weißes Märchenschloss« nebst »Zaubergärten« bezeichneten, glich dieses in Stil und Ausführung eher einer Berliner »Vorstadt-Villa«.604 Mehr als durch die realen Gegebenheiten lassen sich diese unterschiedlichen Wahrnehmungen durch das Zusammenspiel von Bauten, Gartenanlagen und weiterer Umgebung erklären. Am Abhang des majestätischen Kamerun-Bergs in etwa eintausend Metern Höhe gelegen, war die Szenerie oft nebelverhangen und wirkte bei vergleichsweise kühlen Temperaturen beinahe unwirklich im Vergleich zum feuchtwarmen Klima des bisherigen Verwaltungsmittelpunktes.605 Bereits lange vor der offiziellen Verlegung seines Amtssitzes (1. April 1901) verbrachte Puttkamer daher die meiste Zeit in Buea. Trotz guter Verkehrsanbindung einschließlich Telefonanschluss war der Standort
598 Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 86–99; ders., Inspektionsreise, S. 379–384. 599 BA-B N 2345/12, Bl. 7, Carnap-Quernheimb (Say am Niger) an Zimmermann vom 18.2.1895, Schreiben. 600 Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 115. Seitz und nach ihm Ebermaier fungierten lange als die eigentlichen ›Geschäftsführer‹ des Gouvernements. 601 Ebd., S. 243. 602 Beispielsweise in: BA-B R 8034-III/351, Vorwärts vom 15.8.1906, Aus Puttkamerun! 603 Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 235, 253–256. 604 Gerlach, Rechts, S. 216 (Zitat 1); BA-K N 1121/13, S. 6, Gustedt, Tagebuch (Zitate 2+3); BA-K N 1053/40, Bl. 31, Solf, Reisenotizen (4.10.1913) (Zitat 4). 605 Vgl. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 107–110; BA-B N 2146/44, Oberndorff an König, o.D. [Februar 1899], Schreiben; BA-MA N 38/1, Bl. 24–28, Ernst Lequis (Kamerun) an seine Eltern vom 3.9.1900, Schreiben.
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aber wenig günstig gewählt. Nach dem Urteil Solfs handelte es sich um einen »peripheren Punkt der Kolonie«, was Seitz zufolge sowohl die internen Entscheidungsprozesse als auch die effektive Kontrolle der Lokalbehörden erschwert habe.606 Puttkamer, der bereits in Togo einen »betonierten Tennisplatz« für sich hatte errichten lassen, gestaltete auch seinen Amtssitz in Buea entsprechend seinen ›standesgemäßen‹ Bedürfnissen.607 Neben den umfangreichen terrassierten Gartenanlagen gab es auch dort einen Tennisplatz sowie ein Billardzimmer.608 Sein Tagesablauf setzte sich folgerichtig aus einem morgendlichen »Spazierritt in der Umgegend«, dem »Empfang von Besuchern und Bittstellern«, dem Mittagsmahl in Gesellschaft von Beamten oder Offizieren, sowie einem spätnachmittäglichen Spaziergang oder einer Tennispartie zusammen. Die dazwischen liegende eigentliche Amtstätigkeit bezeichnete er dagegen abschätzig als »Schreiberei«, die meist aus Besprechungen mit seinen Referenten sowie der Vorlage unterschriftsreifer Schriftstücke bestand.609 Auf ein mäßiges Interesse am Amtsalltag deutet auch ein Runderlass aus dem Oktober 1902 hin. Danach fiel Puttkamer der Empfang von Angehörigen der Ethnie der Duala, die sich immer wieder mit Bitten oder Beschwerden an ihn wandten, lästig. Er wollte diesen »Unfug« daher beenden und erteilte sämtlichen Duala ein Betretungsverbot für seine Residenz.610 Ein vergleichbares Verhalten war ihm bereits in Togo nachgesagt worden, sei er doch auch dort »sämtlichen persönlichen Palavern« mit indigenen Würdenträgern »aus dem Wege« gegangen.611 Zwar erwähnte er in seinen Erinnerungen mehrere Zusammenkünfte mit einheimischen Machthabern, doch muten die Inhalte seiner bei solchen Anlässen gehaltenen Ansprachen seltsam naiv an und deuten gleichzeitig auf ein hohes Maß an Unsicherheit im Umgang mit den ihm offensichtlich stets fremd gebliebenen Afrikanern hin.612 Ein gutes Beispiel liefert hierzu etwa eine Ansprache vor den 67 versammelten lamidos der Landschaft Adamaua im September 1903.613 Diesen dankte der Gouverneur zunächst »für ihr vollzähliges und pünktliches Erscheinen« und belehrte sie anschließend »über ihre Pflichten gegen die Regierung«. Danach verwies er »auf den Unterschied zwischen Resident und Garnisonskommandant […], was die Häuptlinge mit großer Befriedigung« zur Kenntnis genommen haben sollen. Insgesamt sei dieses Ereignis ein »denkwürdiger Tag in der Geschichte Kameruns und Adamauas« gewesen und zugleich ein
606 BA-K N 1053/40, Bl. 6–8, Solf, Reisenotizen (31.8.1913) (Zitat); Seitz, Aufstieg 1, S. 41; vgl. BA-K N 1740, S. 164, Olshausen, Lebenserinnerungen: »Eigentlich war es ein Unding, so ein völlig exzentrisch gelegener, von jedem unmittelbaren Kontakt mit der übrigen Welt abgeschlossener Regierungssitz […].« 607 BayHStA HS 911/3, Reitzenstein, Tgb. (8.7.1908). 608 Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 34, 256f. 609 Ebd., S. 34; vgl. Langheld, Jahre, S. 293; BA-MA N 227/11, S. 53f., Morgen, Lebenserinnerungen. 610 BA-B R 1001/4435, Bl. 20/15, Puttkamer (Buea) vom 24.10.1902, Bekanntmachung. 611 Massow, Tgb., S. 362 (18.6.1897). 612 Vgl. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 235–237; BA-B R 1001/4287, Bl. 168, Puttkamer (Buea) an KA vom 11.8.1901, Bericht. 613 BA-B R 1001/3308, Bl. 22–32, Puttkamer (Garua) an KA vom 26.9.1903, Bericht. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Verkürzt wiedergegeben in: Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 281f.
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voller Erfolg seiner Politik. Am Ende seiner Rede habe er daher die »feste Überzeugung aus dem Verhalten der Fullah-Herrscher gewonnen, dass ich mit Einsetzung eines von dem Militär ganz getrennten Residenten vollkommen das Richtige getroffen und einem lange gefühlten Bedürfnis abgeholfen habe.« Das Ende der Veranstaltung bildeten Einzel- und Gruppengespräche mit den lamidos über schwebende Angelegenheiten, dabei habe er Lob und Geschenke sowie Schutzbriefe und Flaggen verteilt. Puttkamer, der die Bewohner Adamauas und ihre Lebensweisen bis dahin lediglich aus den Berichten seiner Untergebenen kannte, dürfte – ganz abgesehen von den Unwägbarkeiten der von zwei Dolmetschern besorgten Übersetzung – in Wirklichkeit kaum den richtigen Ton getroffen haben.614 Angesichts der Gegenwart einer bewaffneten Kompanie der Schutztruppe ist es naheliegender, dass die einheimischen Machthaber anstatt den Inhalten seiner Rede lediglich den Bajonetten zujubelten. Puttkamer selbst scheint diesen Unterschied nicht realisiert zu haben. Ein weiteres Beispiel für die mangelnde Fähigkeit des Gouverneurs, die eigene ethnozentrische Perspektive wenigstens ansatzweise zu überwinden, stellt seine Einschätzung der Lebensverhältnisse von Plantagenarbeitern in der Umgebung von Buea dar. Anders als in Adamaua, das er nur ein einziges Mal besucht hatte, hätte sich ihm in der Nähe seines Amtssitzes durchaus die Gelegenheit geboten, sich den anderen Kulturen durch Beobachtung und direkten Kontakt ein Stück weit anzunähern. Stattdessen schrieb Puttkamer, dass die Arbeiter und ihre Familien zur dortigen Regierungsstation »ungefähr in demselben Verhältnis« stünden »wie die regelrechten Gutsarbeiterfamilien des Ostens des Reiches zu ihrem Gutsherrn.«615 Die Distanz des Minister- und Gutsbesitzersohnes gegenüber den Menschen in Kamerun könnte kaum größer sein. Daran hatte selbst seine zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als fünfzehnjährige Dienstzeit in Westafrika kaum etwas zu ändern vermocht. Es verwundert daher wenig, dass der Gouverneur nur mäßiges Interesse zeigte, das Landesinnere persönlich aufzusuchen. Stattdessen visitierte er vor allem die Küstenbezirke und deren unmittelbares Hinterland.616 Neben Yaundé führte ihn als Gouverneur lediglich eine einzige weitere Reise ins Innere seiner Kolonie, nämlich der erwähnte Besuch in der neu eingerichteten Residentur von Adamaua.617 Selbst diese Tour hätte aber vermutlich nie stattgefunden, wenn ihr nicht eine Serie eklatanter Eigenmächtigkeiten seitens mehrerer Schutztruppenoffiziere vorausgegangen wäre. Einen ersten Höhepunkt erreichten diese, als der Hauptmann Cramer v. Clausbruch im August 1901 entgegen einem ausdrücklichen Verbot des Gouverneurs von seiner Station Yoko aus nach Ngaundere (Adamaua) vordrang und die Stadt gewaltsam eroberte. Dabei wurde nicht nur der lokale Machthaber getötet, sondern die überlebende Ein-
614 Allgemein zum Verständigungsproblem in Kamerun (am Beispiel der Yaundé): Nyada, Kommunikationssituationen. 615 BA-B R 1001/7250, Bl. 8, Puttkamer (Buea) an KA vom 28.8.1901, Bericht. 616 Beispiele: Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 55f. (Wurifluss), 57–60 (Edea), 224–233 (Rio del ReyGebiet). Aufschlussreich ist auch die seinen Memoiren beigefügte Karte. 617 Ebd., S. 270–306; ders., Dienstreise, S. 521, 580; ders., Bericht, S. 80–82, 121–123, 186–188, 321–323. Die vollständigen Einzelberichte finden sich in der Akte: BA-B R 1001/3308. Außerhalb Kameruns unternahm er zwei Informationsreisen nach dem Kongogebiet.
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wohnerschaft auch zu Tributzahlungen verpflichtet.618 In der Kolonialabteilung gewann man daraufhin den Eindruck, dass »in Kamerun […] der Teufel los« sei, wobei auch Puttkamer deswegen »toll vor Zorn« gewesen sei.619 Allerdings sah sich der Gouverneur vor vollendete Tatsachen gestellt. Es blieb ihm daher nur die Möglichkeit, nach Berlin zu berichten, dass er Clausbruchs Vorgehen als »gänzlich unzweckmäßig […] und durch nichts gerechtfertigt« betrachte. Dessen Handeln habe »völlig außer meiner Absicht« gelegen und »meine Politik in Adamaua empfindlich gekreuzt«.620 Bei dieser »Missbilligung« sollte es nicht bleiben. Wenig später schrieb Puttkamer erneut an die Zentralbehörde, Clausbruch und die ihm unterstellten Offiziere befänden sich in »offener Empörung und Widersetzlichkeit gegen meine und des Kommandeurs Befehle.«621 Zwar wurde unverzüglich die Absetzung Clausbruchs verfügt, doch konnte dieser wegen der langwierigen Kommunikationsverhältnisse seinen Privatkrieg noch bis Anfang 1902 fortsetzen.622 Bezeichnenderweise bewirkte auch diese Personalie nicht das Ende jeglicher Insubordination. Das Gegenteil war der Fall: Einige Wochen vor Clausbruchs Militäraktion hatte mit dem Oberstleutnant Kurt Pavel der dritte Kommandeur der Kameruner Schutztruppe seinen Dienst angetreten.623 Im Oktober 1901 brach Pavel mit einer größeren Truppenmacht von der Küste auf, um gemäß den Weisungen Puttkamers entlang des Mungo-Flusses nach Nordosten vorzurücken und dabei die »noch immer unbotmäßigen Bangwastämme« sowie die Bandeng und die Bafut unterwerfen. Als Zielpunkt war Banyo vorgesehen, wo der Kommandeur die Einrichtung einer neuen Station unterstützen sollte, ehe er den Rückmarsch anzutreten habe.624 Mit zunehmender räumlicher Entfernung zum Gouvernement fühlte sich aber auch Pavel immer weniger an seine Direktiven gebunden. Indizien für einen anfangs mit infantilen Mitteln ausgetragenen Konflikt um die Vorrangstellung ergeben sich anhand von Nebensächlichkeiten, wenn etwa Pavel ein 3.000 m hohes Gebirgsmassiv nach sich selbst benannte, wenig später ein ›nur‹ 2.000 m aufragendes Bergland dagegen mit dem Namen »Puttkamer-Gebirge« versah.625 In Banyo angekommen, sah sich der Oberstleutnant zudem durch die Tatsache begünstigt, dass der Gouverneur für mehrere Monate nach Deutschland abgereist war und in Buea durch den Regierungsrat Plehn vertreten wurde.626 Die Folgen dieser Konstellation bestanden darin, dass Pavel den »Waffenerfolgen des Hauptmanns Clausbruch« nachzueifern suchte, indem er mit seiner Truppe weiter nach Garua und schließlich bis zum Tschadsee marschierte.627 Dabei zog er eine
618 Hoffmann, Okkupation 1, S. 257f. 619 BA-B N 2345/15, Bl. 61f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 13.2.1902, Schreiben. 620 BA-B R 1001/3349, Bl. 134f., Puttkamer (Malimba) an KA vom 13.10.1901, Bericht; vgl. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 236. 621 ANY FA 1/72, Bl. 122f., Puttkamer (Buea) an KA vom 26.1.1902, Bericht. 622 BA-B N 2345/15, Bl. 61f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 13.2.1902, Schreiben; Hoffmann, Okkupation 1, S. 261. 623 Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 236. 624 Ebd., S. 240f.; DKB 12 (1901), S. 906. 625 ANY FA 1/112, Bl. 53–57, Pavel (Banyo) an Gouvernement vom 11.2.1902, Bericht. 626 Puttkamer befand sich zwischen 3.2. und 6.10.1902 im Urlaub. 627 Ebd., Bl. 53–57, Pavel (Banyo) an Gouvernement vom 11.2.1902, Bericht (Zitat); ANY FA 1/72, Bl. 149–152, Pavel (Garua) an Gouvernement vom 20.3.1902, Bericht.
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kleinere Expedition unter Oberleutnant Dominik an sich und ließ sowohl in Garua als auch in Dikoa Militärstationen anlegen.628 Die Schwierigkeit, das Geschehen aus der Ferne zu kontrollieren, wird durch die Tatsache offenbar, dass eine – zweifellos von Puttkamer initiierte – Weisung der Kolonialabteilung, wonach Pavel seinen Vormarsch einstellen und unverzüglich nach Duala zurückkehren sollte, auf den 10. Mai 1902 datiert, als der Kommandeur längst den Tschadsee erreicht hatte.629 Diese rund vier Wochen später im Gouvernement eingegangene Weisung veranlasste Plehn zu der Anordnung, dass die von Pavel »neu errichtete Station Dikoa wieder aufgegeben wird, und dass die nördlich des Benue befindlichen Abteilungen der Kaiserlichen Schutztruppe zurückgezogen werden.«630 Pavel, der inzwischen von seinem Marsch zurückgekehrt war, lehnte dies kategorisch ab und kündigte stattdessen seine Abreise nach Europa an.631 Zu Anfang November 1902 änderte Kolonialdirektor Stuebel seine Meinung und ordnete an, das Tschadseegebiet doch nicht zu räumen. Der gleichzeitige Erlass, dass dort nach wie vor nicht an eine Übernahme der Verwaltung gedacht werde und deshalb die »Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung« weiterhin den »einheimischen Obrigkeiten« überlassen bleiben solle, deutet allerdings auf eine Kompromisslösung hin. Bezeichnenderweise hatte unmittelbar vor dem Richtungswechsel der Kaiser den Expeditionsbericht Pavels gelesen und wohl seinerseits eine freiwillige Aufgabe des Gebiets abgelehnt.632 In diesem Zusammenhang fällt außerdem auf, dass Puttkamers Forderung, den Kommandeur »wegen Ungehorsams bestrafen und die durch sein eigenmächtiges Vorgehen erwachsenen Kosten ihm zur Last legen zu lassen«, nicht nur unbeachtet blieb, sondern dass Pavel seine Karriere in der preußischen Armee unbehelligt fortsetzen konnte.633
628 ANY FA 1/73, Bl. 55–58, Dominik (Garua) an stellv. Gouverneur vom 30.3.1902, Bericht; ANY FA 1/72, Bl. 149–152, Pavel (Garua) an Gouvernement vom 20.3.1902, Bericht; vgl. Dominik, Atlantik, S. 129f., 149f. Allgemein zu Pavels Zug zum Tschadsee: Hoffmann, Okkupation 1, S. 269f. 629 ANY FA 1/72, Bl. 142f., Stuebel an Gouvernement in Buea vom 10.5.1902, Erlass. Die Co-Autorschaft Puttkamers ergibt sich aus dem Vergleich mit: BA-B R 1001/3349, Bl. 134f., Puttkamer (Malimba) an KA vom 13.10.1901, Bericht. 630 ANY FA 1/73, Bl. 21, Gouvernement (Buea) an Kdo. d. Schutztr. für Kamerun vom 22.7.1902, Erlass (»Eilt sehr!«). Der stellvertretende Gouverneur berief sich dabei auf die in § 5 der Schutztruppenordnung geregelten Befugnisse des Gouverneurs. Siehe hierzu Kapitel 4.3.1. 631 Ebd., Bl. 22, Pavel (Duala) an Gouvernement vom 16.8.1902, Bericht; vgl. Hoffmann, Okkupation 2, S. 148f.; DKL 3, S. 28. 632 BA-B R 1001/3350, Bl. 237–240, Stuebel an Puttkamer vom 9.11.1902, Erlass (Zitate); ebd., Bl. 178–196, Pavel (Duala) vom 20.8.1902, Expeditionsbericht; ebd., Bl. 227, Bülow an Wilhelm II. vom 23.10.1902, Immediatbericht und Vorlage des Expeditionsberichts; ebd., Bl. 236, Stuebel an Puttkamer vom 4.11.1902, Telegramm. 633 Ebd., Bl. 259/1f., Puttkamer (Klein Machmin) an KA vom 1.9.1902, Bericht (geheim) (Zitat); vgl. ebd., Bl. 259/2, Obkdo. d. Schutztr. (Ohnesorg) an KA vom 9.9.1902, Bericht; Hoffmann, Okkupation 2, S. 149. Die dortige Vermutung, Pavel habe sein weiteres Fortkommen der Rückendeckung der Kolonialabteilung zu verdanken gehabt, greift zu kurz. Für dessen spätere Beförderungen war in erster Linie die kaiserliche Gunst ausschlaggebend. Gleiches gilt für seine spätere Erhebung in den erblichen Adelsstand.
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Puttkamer, der im Oktober 1902 wieder in Kamerun eingetroffen war, sah sich trotz des Weggangs seines Kommandeurs als Gouverneur desavouiert, so dass er kurzerhand eine – zweifellos kalkulierte – Rücktrittsdrohung aussprach:634 »Denn ich halte es für ausgeschlossen, dass der Kommandeur in meiner Abwesenheit eine der meinigen strikt entgegengesetzte, eine militärische Politik betreiben darf. Ich müsste dann jedenfalls jede Verantwortung für die Zustände im Lande und für Einhaltung des Etats ablehnen und eventuell darauf verzichten, die Kolonie noch weiter zu verwalten.« Zugleich versuchte er die Kolonialabteilung davon zu überzeugen, dass eine militärische Besetzung Garuas nutzlos und kostspielig sei und dort lediglich einen »Kriegszustand in Permanenz« hervorrufen würde. Er regte deshalb an, dort lediglich eine kleine Polizeitruppe zu stationieren.635 Die Eigenmächtigkeiten der Militärs hatten bei Puttkamer offenbar eine regelrechte Paranoia hervorgerufen, was sich fortan in seinen Berichten niederschlug. Dementsprechend glaubte er, der »Ungehorsam Cramer von Clausbruchs, Pavels und anderer« sei inzwischen von der Truppe zur »Parole erhoben« worden, weshalb er sich »in keinem Fall darauf verlassen« könne, »dass meine Weisungen befolgt werden.«636 Auch deutet einiges darauf hin, dass der Gouverneur in dieser Ansicht maßgeblich von Hans Dominik, der zwar Offizier, nicht aber aktiver Angehöriger der Schutztruppe war, bestärkt worden ist.637 Dementsprechend war es kein Zufall, dass Puttkamer diesen zum künftigen »Chef von Adamaua und Bornu« vorschlug, hielt er doch »keinen der vorhandenen Schutztruppen-Offiziere für fähig, die dortigen Verhältnisse zu überschauen und richtig zu beurteilen.«638 Um von vornherein jeden Einfluss des Kommandos auszuschließen, solle Dominik als Resident »unter allen Umständen dem Gouverneur, und zwar nur dem Gouverneur, direkt unterstehen«.639 Mit diesem an britische Vorbilder angelehnten indirect ruleKonzept verband Puttkamer ebenso wie das später auch Götzen in Ostafrika versuchen sollte, die Absicht, die durch die vorangegangenen Militäraktionen geschaffenen Tatsachen in eine personal- und kostensparende Organisation umzumünzen und gleichzeitig den Einfluss der Schutztruppe zu verringern. Dabei war es dem Gouverneur zufolge für den Residenten entscheidend, »möglichst wenig zu regieren, sondern dies den einhei-
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BA-B R 1001/3350, Bl. 271–278, Puttkamer (Buea) an KA vom 30.10.1902, Bericht. Ebd. BA-B R 1001/3307, Bl. 36–38, Puttkamer (Buea) an KA vom 6.3.1903, Bericht. Ebd. Unmittelbar vor der Niederschrift des Papiers waren Puttkamer und Dominik auf der Gouverneursyacht zusammen nach Fernando Po gefahren. Dabei dürfte sich letzterer eindeutig über Pavel geäußert haben, was Puttkamer offiziell nach Berlin weitergab: »Oberst Pavel hat, nachdem er mir hier an der Küste das Gegenteil versichert, im Innern laut und deutlich erklärt, Gouvernement und Kolonial-Abteilung seien ihm nicht maßgeblich, er sei Soldat und handle selbständig nach eigenem Ermessen.« Die Seereise vom 28.2.1903 ist erwähnt in: Dominik, Atlantik, S. 296. 638 ANY FA 1/73, Bl. 168–170, Puttkamer (Buea) an KA vom 30.12.1902, Bericht. 639 Ebd. Hervorhebung im Original.
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mischen Herrschern zu überlassen, denen die Residenten als Schützer und Ratgeber zur Seite stehen«.640 Vor dem Hintergrund des auch in Kamerun eskalierten Konflikts zwischen Zivilverwaltung und Militärs muss auch der bereits im Zusammenhang mit ähnlichen Absichten in Deutsch-Ostafrika erwähnte Gouvernements-Befehl Puttkamers gesehen werden. Nachdem er inzwischen jedes selbständige Handeln der Schutztruppe mit »militärischer Willkürherrschaft« gleichsetzte, wollte er »ein für alle Mal« ein »Ergreifen kriegerischer Maßnahmen ohne meine vorherige Genehmigung« verboten wissen.641 Auch in Kamerun stellte aber die tatsächliche Durchsetzung solcher Beschränkungen das eigentliche Problem dar. Vor allem ließen sich die angedrohten Sanktionen kaum realisieren. Zwar wollte Puttkamer »jede Zuwiderhandlung […] mit aller Strenge geahndet« sehen, doch konnte er gegen Offiziere bestenfalls disziplinarische Maßnahmen in Form geringfügiger Arrest- oder Geldstrafen ergreifen.642 Bei einem Strafverfahren gegen einen Offizier durfte dagegen ausschließlich das Oberkommando der Schutztruppen in Berlin tätig werden.643 Wie bei Pavel und Clausbruch geschehen, kamen Beschuldigte einem solchen in der Regel aber durch vorherigen Rücktritt in die reguläre Armee zuvor. Dieser Vorteil, den Zivilbeamte nicht besaßen, bedeutete zwangsläufig eine Gefahr für die Position des Gouverneurs. Daher ist auch die hohe Fluktuation der Schutztruppenkommandeure unter Puttkamer keineswegs als Indikator für dessen unumschränkte Vorrangstellung zu werten. Tatsächlich handelte es sich dabei um die Auswirkungen eines strukturellen Defizits. Das Selbstverständnis des Offizierkorps als ›erstem Stand‹ im Staate traf dabei auf den Führungsanspruch des obersten Zivilbeamten. Letzterer besaß zwar im Nachhinein die Möglichkeit, den unbotmäßigen Truppenführer ablösen zu lassen, doch war dessen Risiko überschaubar. Die Bereitschaft, auf eigene Faust zu operieren, war daher je nach Persönlichkeitsstruktur und konkreter Situation verhältnismäßig hoch. In dieser angespannten und von wechselseitigem Misstrauen geprägten Situation traf Pavels Nachfolger in Kamerun ein. Es handelte sich um den Oberst Wilhelm Mueller, der bis dahin stellvertretender Kommandeur der Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika gewesen war.644 Die Wahl des damals 53-jährigen scheint in Berlin nicht zufällig getroffen worden zu sein, galt Mueller doch als »liebenswürdiger Herr«, der »nur rein militärische Interessen« verfolge. Entscheidend dürfte zudem gewesen sein, dass diesem kaum Ambitionen auf Eigenständigkeit nachgesagt wurden.645 Ebenfalls auf ei-
640 Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 307 (Zitat). Zur weiteren Entwicklung des Residentursystems in Kamerun: Hausen, Kolonialherrschaft, S. 105–109; Muller, Chefferies. 641 ANY FA 1/73, Bl. 168–170, Puttkamer an KA vom 30.12.1902, Bericht (Zitat 1); BA-B R 1001/4225, Bl. 5, Puttkamer (Buea) vom 20.12.1902, Gouvernementsbefehl (Zitate 2+3). 642 Ebd. 643 BA-B R 1001/3350, Bl. 259/2, Obkdo. d. Schutztr. (Ohnesorg) an KA vom 9.9.1902, Vermerk. 644 Hoffmann, Okkupation 2, S. 143f.; DKL 2, S. 598f. Mueller hatte das Amt in DSWA seit 1895 innegehabt. 645 Estorff (Okahandja) an seine Eltern vom 4.8.1895, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 106f. (Zitat 1); BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 15.6.1897, Schreiben (Zitat 2); vgl. BA-B N 2345/18, Bl. 14–21, Dürrling (Windhuk) an Zimmermann vom 24.11.1896, Schreiben. Danach sei Mueller »nicht geeignet, die hier überaus schwierige Stellung eines stellvertretenden Truppen-
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ne gezielte Personalie zur Stabilisierung des zerrütteten Verhältnisses zwischen Zivilverwaltung und Schutztruppe deutet die gleichzeitige Entsendung eines neuen stellvertretenden Gouverneurs hin. Dieser Posten ging an den vorher in Ostafrika als Richter und Bezirksamtmann verwendeten Ebermaier. Im Gegensatz zu Mueller wird dieser von den Zeitgenossen als anspruchsvoller und durchsetzungsfähiger Beamter mit »poltrigem Temperament« beschrieben.646 Puttkamer zufolge sollte sein neuer Stellvertreter das Gouvernement reorganisieren, vor allem aber die Position der Ziviladministration gegenüber dem Schutztruppenkommando absichern helfen. Dabei kam Ebermaier zweifelsfrei die Tatsache zu Hilfe, dass der Stellvertreter des Kommandeurs, Major Wilhelm Langheld, »ein alter Bekannter« von ihm war.647 Puttkamer suchte in seinen Memoiren die Situation wiederum zu beschönigen, behauptete er doch, ein von Anfang an bestehender »täglicher mündlicher Verkehr« mit Mueller habe sich »sehr zum Vorteil einer glatten Abwicklung der vielfachen Geschäfte« ausgewirkt.648 Gegenteiliges geht dagegen aus einem Bericht hervor, den der neue Kommandeur nur wenige Monate nach seiner Ankunft nach Berlin sandte.649 Darin klagte er, dass es nach wie vor zwischen Gouvernement und Kommando einen »Riss« gäbe, der »vielfach zu Tage getreten, wieder notdürftig überklebt worden, aber immer von neuem aufgebrochen« sei. Dabei versuche die Zivilverwaltung permanent die Schutztruppe von sämtlichen Entscheidungsprozessen auszuschließen. Das geschehe nicht zuletzt durch das Vorenthalten von Informationen. Mueller war sogar daran gehindert worden, eine Orientierungsreise zu den einzelnen Standorten seiner Truppe zu unternehmen. Zudem sei den Militärstationen strikt untersagt worden, an das Kommando über politische Inhalte zu berichten. Auch persönlich fühlte sich Mueller ausgeschlossen, werde er doch keineswegs als der »vornehmste Berater des Gouverneurs« in militärischen Angelegenheiten behandelt, sondern »kaum jemals zu Rate gezogen«. Das Kommando sei daher seiner Ansicht nach lediglich Ausbildungsbehörde und Materialverwaltung. Erst nach und nach scheint sich das Verhältnis zwischen Puttkamer und seinem Kommandeur gebessert zu haben. Das dürfte nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen gewesen sein, dass Mueller ausdrücklich betonte, keine Sonderstellung für die Schutztruppe zu beanspruchen, sondern aus dieser lediglich ein »einheitlich und nach festen Grundsätzen ausgebildetes Werkzeug in der Hand des Gouvernements« formen zu wollen.650 Sachliche Differenzen – etwa über eine Aufstockung der Truppe oder über die Modalitäten des Berichtswesens – hielten sich zugleich in Grenzen.651 Es handelte sich daher zweifellos um keinen Routinevorgang, als Puttkamer seinen
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Kommandeurs zu bekleiden. Hier gehört ein energischer, vornehmer Mann her, dessen Persönlichkeit allein genügt, um jeden Angriff eines Kläffers von vornherein zu verbieten.« BA-K N 1740, S. 164, Olshausen, Lebenserinnerungen (Zitat); BA-K N 1053/40, Bl. 23f., Solf (Dschang) an Conze vom 19.9.1913, Schreiben; vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 308. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 250; Langheld, Jahre, S. 324 (Zitat). Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 252f. BA-B R 1001/4014, Bl. 57–67, Mueller (Duala) an Obkdo. d. Schutztr. vom 22.11.1903, Bericht. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Vgl. Hoffmann, Okkupation 2, S. 41. BA-B R 1001/4014, Bl. 57–67, Mueller (Duala) an Obkdo. d. Schutztr. vom 22.11.1903, Bericht. BA-B R 1001/4288, Bl. 101–104, Ebermaier (i.V., Buea) an KA vom 6.8.1904, Bericht.
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Kommandeur zwei Jahre nach dessen Dienstantritt für eine Auszeichnung vorschlug und diesem nicht nur in »hervorragendem Grade Umsicht, Sicherheit im Entschluss und Tatkraft« bescheinigte. Darüber hinaus habe Mueller »ungemeines Verständnis für die ihm gestellte Aufgabe und bedeutende koloniale Begabung gezeigt«.652 Der Oberst wusste sich zu revanchieren, und hielt anlässlich von Puttkamers 50. Geburtstag eine »bewegte, zu Herzen gehende Ansprache«.653 Schienen die Wogen damit zumindest äußerlich geglättet, machten sich seit dem Beginn des Jahres 1904 die Symptome der kolonialen Krisis auch in Kamerun bemerkbar. Den Auftakt lieferte die Ermordung des Bezirkschefs von Ossidinge, woraufhin sämtliche Europäer, afrikanischen Polizeisoldaten und sonstigen Angestellten aus dem Crossfluss-Gebiet vertrieben oder getötet sowie alle dortigen Faktoreien zerstört wurden. Die Folge war ein regelrechter Kriegszustand, den Mueller erst durch eine langwierige Strafexpedition beendete.654 Da etwa zeitgleich Meldungen über eine »unruhige Bewegung unter der Jaunde-Bevölkerung« eingingen, kam es vor dem Hintergrund des seit Januar 1904 in Südwestafrika ausgebrochenen Konfliktes gegen die Herero, zu Befürchtungen, auch Kamerun könnte vor einem großen Imperialkrieg stehen.655 Vorläufig glaubte das Gouvernement solche Ängste aber zurückweisen zu können. Ebermaier zufolge waren keinerlei Änderungen der bisherigen Politik notwendig:656 »Bei der großen politischen Zerrissenheit der Kameruner-Negerstämme […] glaube ich Erhebungen wie in Südwest bei nur einigermaßen vorsichtigem Vorgehen als völlig ausgeschlossen bezeichnen zu dürfen.« Puttkamer, der von Mai 1904 bis Januar 1905 in Deutschland war, sah die Situation nach seiner Rückkehr dagegen als bedrohlich an. Ein erneutes Aufflammen der Unruhe unter den Yaundé interpretierte er als ein »übles Zeichen beginnender Zuchtlosigkeit«.657 Überraschend mutet jedoch seine Analyse der Ursachen an: Die »ganz neuerdings allenthalben« hervortretenden Unruhen unter der Bevölkerung seien in erster Linie eine Folge davon, dass »die Leute durch falsche Behandlung von Seiten Weißer gereizt werden.«658 Dementsprechend sei etwa der »Anjang-Aufstand« des Vorjahres lediglich deshalb zum Ausbruch gekommen, weil die Soldaten des Oberleutnants Houben zuvor damit begonnen hätten, »das Land zwecklos zu verwüsten«. Bei solchen Unternehmungen werde allzu häufig vergessen, dass man sich »hier nicht im Feindes- sondern im eigenen Lande befinde«.
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ANY FA 1/154, Puttkamer (Buea) an KA vom 29.4.1905, Bericht. Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 318. Michels, Graf; Hoffmann, Okkupation 1, S. 185–190. BA-B R 1001/4288, Bl. 82f., Ebermaier (i.V., Buea) an KA vom 28.5.1904, Bericht; ebd., Bl. 79, Johann Albrecht zu Mecklenburg an Stuebel vom 27.5.1904, Telegramm: »Nach mir soeben […] von zuverlässiger privater Seite gewordenen [sic!] Mitteilung soll der Zustand in Kamerun denjenigen [sic!] in Deutsch Süd West Afrika vor dem Aufstande neuerdings derartig bedrohlich gleichen […].« 656 Ebd., Bl. 101–104, Ebermaier (i.V., Buea) an KA vom 6.8.1904, Bericht. 657 BA-B R 1001/4289, Bl. 29, Puttkamer (Buea) an KA vom 6.3.1905, Bericht. 658 Ebd., Bl. 33–41, Puttkamer (Buea) an KA vom 8.3.1905, Bericht. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben.
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Die moralische Entrüstung Puttkamers muss auf den ersten Blick irritieren, hatte er doch im Stile des vermeintlich über Recht und Gesetz stehenden Landesherrn vergleichbare Untaten seiner Untergebenen bis dahin oft gedeckt. Bereits als Landeshauptmann von Togo hatte er beispielsweise den Stationsleiter Schlieckmann aufgrund von »Unzurechnungsfähigkeit in Folge Nervenniederbruchs« nach Hause geschickt.659 Zuvor hatte dieser unter Alkoholeinfluss »Tobsuchtsanfälle« und »Verirrungen auf dem Gebiet besinnungsloser Sinnlichkeit« an den Tag gelegt. Trotzdem fand Puttkamer nichts dabei, den Berliner Personalchef privatim zu bitten, ihm die Einreichung eines offiziellen Berichts »zu erlassen«, um Schlieckmanns Rücktritt in die Armee nicht zu gefährden. Später verteidigte Puttkamer seine Untergebenen in Kamerun gegen die Vorwürfe des Bezirksamtmanns v. Oertzen, der »auf seine alten Tage leider total verdreht geworden« sei und »mit allerhand Schmutz« um sich werfe. Konkret handelte es sich bei dessen Vorwürfen um die Verwendung »›geschenkter‹ Kinder zur Bedienung« sowie um das häufige Zusammenleben von Offizieren und Beamten mit »Yaunde-Ngumba oder Batanga-Mädeln«. Puttkamer vertrat dabei die Ansicht, dass dadurch in Kamerun kein »Skandal entsteht; das liegt eben in den Verhältnissen; man kann die Leute doch unmöglich kastrieren, ehe sie nach Afrika gehen, und es ist doch besser, wenn sie echte Häuptlingstöchter aus dem Innern haben, als dass sie sich mit Dualla-Huren abgeben, die ihnen regelmäßig scheußliche Geschlechtskrankheiten zuziehen.«660 Problematisch konnten solche Verharmlosungs- oder Vertuschungsversuche ausgehen, wenn die soeben Verteidigten sich wenig später wechselseitig durch »scheußliche Anklagen« beschuldigten, wie es beispielsweise zwischen Dominik und Carnap-Quernheimb der Fall war. Zwar suchte Puttkamer erneut die »Sachen [als] sehr übertrieben und […] ungemein gehässig« darzustellen, doch verhinderte er damit nicht, dass einige Jahre später Carnap-Quernheimb Dominik erneut angriff, was schließlich in einem ehrengerichtlichen Verfahren endete.661 Die sich in solchen Verhaltensweisen offenbarende Neigung Puttkamers, in bestimmten Bereichen »5 gerade und unseren Herrgott einen guten Mann sein« zu lassen, betraf letztlich auch seine eigene Person, was aber immer wieder zu öffentlichen Angriffen gegen ihn führte und zwangsläufig seine Integrität als Gouverneur in Frage stellte.662 Bereits kurz nach seiner Ernennung zum Gouverneur hatte ihm das Berliner Tageblatt seine »Jugendsünden« sowie deren vermeintliche Folgewirkungen vorgehalten. Da-
659 BA-B N 2146/50, Puttkamer (Sebbe) an König vom 15.9.1892, Schreiben. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. 660 Ebd., Puttkamer (Buea) an König vom 9.12.1897, Schreiben. 661 Ebd., Puttkamer (Buea) an König vom 4.11.1898, Schreiben; BA-B R 1001/3308, Bl. 3, Puttkamer (Buea) an KA vom 21.3.1903, Bericht; ebd., Bl. 9, KA an Puttkamer vom 9.5.1903, Erlass. 662 Massow, Tgb., S. 362 (18.6.1897) (Zitat); vgl. BA-B N 2146/50, Soden an Kayser/Humbert vom 20.4.1894, Schreiben. Darin hatte Soden den Grundsatz »leben und leben lassen« als charakteristisch für Puttkamer bezeichnet.
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mals hatte Puttkamer sich gegen die Vorwürfe von Alkoholexzessen, Arbeitsunlust und ungeordnete Privatfinanzen zu wehren gesucht.663 Im Sommer 1900 kam es erneut zu Presseattacken gegen ihn. Diesmal ging es nicht um den persönlichen Lebenswandel des Gouverneurs, vielmehr wurden ihm und seiner Verwaltung konkrete Missstände und Verfehlungen vorgeworfen. Puttkamer musste daraufhin zugeben, dass es in der Schutztruppe üblich sei, die bei Kriegszügen gefangengenommenen Mädchen und Frauen den afrikanischen Soldaten zur Zwangsverheiratung zu überlassen.664 Die weiteren, meist von Missionaren und ehemaligen Angestellten des Gouvernements vorgebrachten Beschuldigungen, erstreckten sich von einer brutalen Behandlung einheimischer Arbeiter über die zwangsweise Umsiedlung der Bevölkerungen ganzer Landstriche bis zur eigenmächtigen Übertragung von Landrechten an die Plantagengesellschaften.665 Puttkamer suchte die Vorwürfe stets dadurch zu entkräften, indem er sie als »Infamien und Verleumdungen« zurückwies, die jeweiligen Gewährsleute aber als »renitente« oder »nicht ganz zurechnungsfähige Ignoranten« beschimpfte. Auch sein Selbstverständnis als quasi-feudaler Landesherr trat in diesen Repliken unverhüllt zu Tage, indem er es als eine »unerhörte Dreistigkeit« bezeichnete, dass ein Abgeordneter die Beschuldigungen im Reichstag überhaupt thematisiert hatte.666 War die Kolonialabteilung bereits angesichts der persönlichen Angriffe aus dem Sommer 1896 zu der Überzeugung gelangt, dass diese keineswegs gänzlich unbegründet waren, konnte man auch die Berichte der ›Deutschen Reichspost‹ aus dem Sommer 1900 trotz mancher Überzeichnungen nicht als frei erfunden abtun. Die Berliner Zentralbehörde ging daher zunehmend auf Distanz zu ihrem Kameruner Gouverneur. Zwar ist diese Entwicklung aus den Dienstakten kaum erschließbar, doch liefert wiederum das Privatschriftgut zuverlässige Hinweise. Einerseits riss der für Puttkamer äußerst vorteilhafte private Briefverkehr mit König offenbar kurz vor der Jahrhundertwende ab.667 Im Spätsommer 1901 führte zudem Puttkamers Verhandlungsführung mit seinem britischen Amtskollegen in Nigerien über die Frage der Grenzfestlegung in Berlin zu dem Eindruck, er verhandle dabei das »tollste Zeug offenbar in Champagnerstimmung«.668 Angesichts seiner als »ganz widerspruchsvoll und unverständlich« wahrgenommenen Berichterstattung wurde dem Gouverneur die Angelegenheit schließlich entzogen, da er »anscheinend gar nicht mehr weiß, was er berichtet.«669 Bezeichnenderweise vermerkte auch der gut informierte Schnee zur selben Zeit, dass in der Kolonialabteilung »mit Puttkamer direkter Krach« entstanden sei.670 Seitdem wuchs die Zahl seiner Gegner kontinuierlich, was Puttkamer letztlich selbst begünstigte, indem er die Missstände, für die er als Gouverneur die Verantwortung 663 Ebd., Puttkamer (Las Palmas) an König vom 6.9.1896, Schreiben; vgl. BA-B N 2231/3, Kohlstock (Berlin) an Puttkamer vom 5.10.1896, Schreiben. Hierzu allgemein: Bösch, Geheimnisse, S. 293. 664 BA-B R 1001/4287, Bl. 123f., Puttkamer (Buea) an KA vom 14.5.1901, Bericht. 665 Vgl. Bösch, Geheimnisse, S. 293. 666 BA-B R 1001/7250, Bl. 4–20, Puttkamer (Buea) an KA vom 28.8.1901, Bericht. 667 Siehe hierzu BA-B N 2146/50. Der letzte der darin enthaltenen 17 Briefe datiert auf den 4.11.1898. 668 BA-B N 2345/15, Bl. 51f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 13.8.1901, Schreiben. 669 Ebd., Bl. 54, Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 26.8.1901, Schreiben. 670 BA-K N 1053/131, Bl. 8–11, Schnee (Berlin) an Solf vom 19.9.1901, Schreiben.
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trug, auf andere abzuwälzen suchte. Nachdem er bereits in seiner Stellungnahme zu dem Runderlass über das Verbot eigenmächtiger Strafexpeditionen im Dezember 1902 ein »leider immer mehr einreißendes willkürliches Abschlachten und Niederbrennen ganzer Dörfer« offen ausgesprochen hatte, prangerte er im März 1905 erneut an, dass »Morden und Plündern« die üblichen Begleiterscheinungen des »Fechtens« der Schutztruppe seien.671 Während in der Kolonialabteilung solche Schuldzuweisungen vorläufig noch mit einem Fragezeichen am Rand der Berichtspassagen kommentiert wurden, bemerkte Major Ohnesorg vom Oberkommando der Schutztruppen unwillig, dass die von »Puttkamer gewählte Art der Berichterstattung als statthaft nicht bezeichnet werden kann.«672 Selbst seine bislang loyalsten Mitstreiter verschonte der in die Enge getriebene Gouverneur nicht mit Kritik. Puttkamer zufolge seien beispielsweise die Unruhen der Maka östlich von Yaundé ausgelöst worden, weil Dominik diese in eine »wilde Aufregung« versetzt habe. Wenn – so setzte Puttkamer seine Philippika fort – inzwischen selbst die »armseligen Bakwiri« mit einem Aufstand drohten, dann sei das wiederum auf die »ständigen Hetzereien der Basler Mission in der Landfrage« zurückzuführen. Als in der Folge tatsächlich »schwere Unruhen im Gebiet Njem und Maka« gemeldet wurden, fand Puttkamer andere Schuldige.673 Diesmal bezeichnete er die Handelsfirmen im Süden des Schutzgebietes als verantwortlich, hätten diese doch eine »rücksichtslose, überhastete und gewalttätige Ausbeutung des Hinterlandes« betrieben. Daher sei es »gar nicht verwunderlich, wenn die geschundenen und überlisteten Schwarzen schließlich den Spieß umdrehen und ihre Peiniger totschlagen.«674 Noch unmittelbar vor seiner endgültigen Abreise aus Kamerun gab er zu bedenken, dass das »Ausrauben des Landes und das Peinigen der Eingeborenen durch einzelne sich überall unkontrollierbar umhertreibende deutsche Händler« endlich gestoppt werden müsse.675 Besonders folgenreich sollte sich jedoch ein Monitum auswirken, das Puttkamer im März 1905 gegen Gleim richtete. Dieser hatte zeitweise die Stellvertretung des Gouverneurs übernommen und dabei das Gros der Schutztruppe ins Landesinnere geschickt, so dass zeitweilig die »Küstendistrikte von jeglichem militärischen Schutz« entblößt waren. Für Puttkamer war ein solches Vorgehen nicht nur »unbegreiflich«, sondern die »bedenklichste Maßregel, die seit Bestehen der Kolonie ergriffen worden ist«.676 Diese für einen amtlichen Bericht ungewöhnlich harsche Kritik wog umso schwerer, als es sich
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BA-B R 1001/4225, Bl. 4, Puttkamer (Buea) an KA vom 20.12.1902, Bericht (Zitat 1); BA-B R 1001/4289, Bl. 33–41, Puttkamer (Buea) an KA vom 8.3.1905, Bericht (Zitate 2+3). BA-B R 1001/4225, Bl. 4, Obkdo. d. Schutztr. vom 26.1.1903, Vermerk. BA-B R 1001/4289, Bl. 71, Puttkamer (Buea) an KA vom 27.5.1905, Telegramm (Zitat). Ebd., Bl. 114f., Puttkamer (Buea) an KA vom 6.6.1905, Bericht; ähnlich: ebd., Bl. 144f., Puttkamer (Buea) an KA vom 15.6.1905, Bericht. BA-B R 1001/4290, Bl. 102, Puttkamer (Buea) an KA vom 26.12.1905, Bericht. BA-B R 1001/4289, Bl. 33–41, Puttkamer (Buea) an KA (geheim) vom 8.3.1905, Bericht. Auch nach seiner Rückkehr bescheinigte Puttkamer Gleim ein »geringes Verständnis für alle kolonialen Angelegenheiten. Er hat dies zur Genüge erwiesen während seiner vorigen Vertretung in Kamerun bei Behandlung der Missionen, der Eingeborenen- und Landfragen, der Arbeiter- und PlantagenAngelegenheiten u.a., sowie in Berlin beim Empfang Mpundu Akwas.« BA-B R 1001/3231, Bl. 69–71, Puttkamer (Berlin) an KA vom 9.3.1907, Bericht.
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bei Gleim um den damaligen Westafrika-Referenten in der Kolonialabteilung handelte. In Bezug auf die Situation in Kamerun standen sich die Ansichten beider offensichtlich diametral entgegen. Als im Sommer 1905 mehr als zwei Dutzend Chiefs der Akwa, einer Teilethnie der Duala, eine Petition an Reichskanzler und Reichstag richteten, kam das den Gegnern Puttkamers in der Kolonialabteilung keineswegs ungelegen.677 Das Papier enthielt Anschuldigungen, die sich namentlich gegen den Bezirksamtmann von Duala, Eduard v. Brauchitsch, richteten. Es gipfelte aber in dem Ausspruch, man wolle den Gouverneur und seine Regierung »nicht mehr hier haben«.678 Zwar waren die vierundzwanzig Beschwerdepunkte kaum schwerwiegender als diejenigen aus dem Sommer 1900. Ein wesentlicher Unterschied bestand jedoch darin, dass die Petenten diesmal ausschließlich Einheimische waren. Puttkamer reagierte dementsprechend, ließ die chiefs verhaften und in einem inszenierten Gerichtsverfahren zu Haftstrafen verurteilen.679 Ohne die Äußerung Puttkamers zu den Vorwürfen abzuwarten, holte sein einstiger Unterstützer in der Kolonialabteilung daraufhin zum entscheidenden Schlag gegen ihn aus. In einer ersten Denkschrift vom 23. November 1905 erklärte König gegenüber dem Kolonialdirektor unter Berufung auf Gleim, dass für Kamerun ein »umsichtiger und energischer Gouverneur erforderlich« sei. »Beim gegenwärtigen Gouverneur« sei das »nicht mehr der Fall«.680 Dieser sei vielmehr in seiner »Schaffenskraft gelähmt, sodass sich in der Verwaltung schwere Missstände zeigen« würden. Den laufenden Amtsgeschäften nicht mehr gewachsen, habe Puttkamer zwischenzeitlich jedes »Interesse an ihrer Führung verloren« und suche deshalb »wichtigen Fragen aus dem Wege zu gehen«. Dazu kämen häufige und lange »Vergnügungsreisen« mit der Gouverneursyacht, während er gleichzeitig »ganz außerordentlich dem Einflusse unverantwortlicher außenstehender […] Ratgeber unterworfen« sei. Besonders sei das bei dem Vorsitzenden der Westafrikanischen-Plantagengesellschaft ›Victoria‹, Dr. Max Esser, der Fall, den Puttkamer durch die Zuweisung von Land und Arbeitern weit über Gebühr begünstigt habe. Nach den Aussagen Gleims habe der Gouverneur zudem jede Kontrolle über seine Lokalverwaltung verloren, so dass die Bezirksleiter »in ihren Bezirken nach eigenem Belieben schalten, ohne sich an Weisungen des Gouvernements zu kehren«. Wohl am entscheidendsten war jedoch die Feststellung, dass Puttkamer sich »in mehreren der wichtigsten Fragen des Schutzgebiets in striktem Gegensatze zu den Intentionen der
677 BA-B R 1001/4435, Bl. 58–96, Akwa-Chiefs an Reichskanzler und Reichstag vom 19.6.1905, Beschwerden im Einzelnen. Das zugehörige Begleitschreiben ist abgedruckt in: Gründer, Deutschland, S. 137–139. Generell zu dieser Beschwerde: Bösch, Geheimnisse, S. 293f.; Eckert, Duala, S. 145–159. 678 Akwa-Chiefs an Reichskanzler und Reichstag vom 19.6.1905, abgedruckt in: Gründer, Deutschland, S. 138 (Zitat). 679 Bösch, Geheimnisse, S. 293f. 680 BA-B N 2146/50, König vom 23.11.1905, Vermerk betr. Gouverneur Puttkamer. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Die Akwa-Petition war zunächst in Berlin eingereicht worden, so dass Puttkamer sie erst am 2.11.1905 zu Gesicht bekam. Sein einschlägiger Bericht datiert daher auf den 22.11.1905, konnte also frühestens Mitte Dezember in Berlin eintreffen. BA-B R 1001/4435, Bl. 20/8-14, Puttkamer (Buea) an KA (geheim) vom 22.11.1905, Bericht.
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Kolonialverwaltung« befinde und sogar versuche, diesen »offenen Widerstand entgegenzusetzen«. Nach den Worten Königs habe sich Gleim daher außer Stande erklärt, das Westafrika-Referat weiterhin zu leiten, sollte Puttkamer im Amt bleiben. Eine Verteidigung des Kameruner Gouvernements im Reichstag lehnte Gleim ebenfalls ab. Auch die wachsende Zahl der Gegner des Gouverneurs vergaß König nicht anzuführen. Während die Akwa-Petition bei König überhaupt keine Erwähnung fand, führte er – der Vollständigkeit halber – auch die mehr oder minder privaten Verfehlungen an, zu denen nicht zuletzt die Bekanntschaft Puttkamers mit einer »Berliner Halbweltdame« zählte, die dieser in Kamerun unter dem falschen Namen »Baronin von Eckardstein« als seine Kusine ausgegeben hatte.681 Angesichts dieser Auflistung fiel es dem Kolonialdirektor Hohenlohe-Langenburg nicht schwer, dem Ansinnen Königs stattzugeben und den Gouverneur »zur mündlichen Erörterung herzuberufen«, was am 6. Dezember 1905 geschah.682 Solf, der zu dieser Zeit nach Berlin beurlaubt war, notierte kurz danach, dass bereits über die Nachfolge Puttkamers gefeilscht werde und daher dessen »Schicksal […] so gut wie besiegelt« sei.683 Über die Hintergründe konnte der Gouverneur von Samoa nur spekulieren. Zwar wusste er, dass sein Kameruner Kollege »manches auf dem Kerbholz« habe, doch hielt Solf die »Puttkameraffaire« trotzdem für eine der »albernsten Farcen der Kolonialskandale«. Dabei ärgerte ihn besonders, dass »Gleim als vortragender Rat der Abteilung sich nicht geniert hat, diesen Kerl, diesen Prinzen Aqua [Akwa] persönlich zu empfangen. Sie wissen, dass ich in Eingeborenenangelegenheiten stets auf der humanen Seite stehe, dem Kerl hätte ich aber einen Tritt appliciert.«684 Da ihm nach seiner Ankunft in Berlin eine Rückkehr nach Kamerun untersagt wurde, blieb Puttkamer keine Alternative, als selbst um seinen Abschied nachzusuchen.685 Zunächst kam es jedoch zu einem Disziplinarverfahren, bei dem über die Ausstellung eines falschen Passes auf die vermeintliche Kusine, die Begünstigung der Westafrikanischen Pflanzungsgesellschaft sowie über die Beeinflussung eines Bezirksrichters verhandelt wurde. Das Urteil umfasste lediglich einen Verweis und 1.000 Mark Geldstrafe, dagegen hatte der Richter die »Strafe der Dienstentlassung weit von sich« gewiesen.686 Noch milder fiel das Revisionsurteil aus, blieb doch lediglich der Verweis wegen Beeinflussung der formal unabhängigen Justiz aufrechterhalten.687 Damit stand Puttkamers Versetzung in
681 Siehe hierzu Kapitel 2.4. 682 BA-B N 2146/50, König vom 5.12.1906, Vermerk betr. Beschwerden gegen den Gouverneur Puttkamer; Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 322. 683 BA-K N 1053/132, Bl. 31f., Solf (Berlin) an Schultz vom 22.12.1905, Schreiben. 684 Ebd., Bl. 70–78, Solf (Berlin) an Schultz vom 18.8.1906, Schreiben; vgl. die Kritik Puttkamers an Gleims Gespräch mit dem Akwa-Prinzen: BA-B R 1001/3231, Bl. 69–71, Puttkamer (Berlin) an KA vom 9.3.1907, Bericht. 685 BA-B R 43/941, Bl. 10, Loebell an Bülow vom 20.6.1906, Bericht. 686 Ebd., Bl. 18f., Hohenlohe-Langenburg an Bülow vom 3.7.1906, Bericht; ebd., Bl. 47, KA vom 11.8.1906, Vermerk; ebd., Bl. 203–205, Dernburg an Bülow vom 14.9.1906, Bericht; BA-B N 2231/9, Puttkamer (Berlin) vom 12.11.1906, Erklärung betr. Disziplinarverfahren; BA-B R 8034-III/351, Bl. 181f., Deutsche Tageszeitung Nr. 192/193 vom 25./26.4.1907, Gouverneur v. Puttkamer vor der Disziplinarkammer (Zitat). 687 BA-B R 8034-III/351, Bl. 176, Berliner Tageblatt Nr. 23 vom 14.1.1908, Das Urteil gegen Puttkamer.
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den Ruhestand »mit der gesetzlichen Pension unter Belassung seines Ranges und Titels« nichts mehr im Wege.688
4.3.3 Lehnswesen oder moderner Kolonialismus? Das ›System Leutwein‹ in Deutsch-Südwestafrika Das ›Kommissarium‹ von Heinrich Goering wurde im Zusammenhang mit den Anfängen kolonialer Administration bereits angesprochen.689 Ebenso wie in den anderen ›Schutzgebieten‹ war die koloniale Verwaltung auch in Südwestafrika von Anfang an von einem latenten Ressourcenmangel geprägt, da von Seiten des Deutschen Reichs nur geringe Mittel bereitgestellt wurden. Selbst nach mehrjähriger Amtszeit bestand Goerings ›Verwaltungsstab‹ neben ihm selbst lediglich aus zwei bis drei Beamten.690 Die Schwäche einer solchen ›Schutzherrschaft‹ offenbarte sich beispielsweise im Oktober 1888, als die Herero eine drohende Haltung gegenüber dem Kommissar einnahmen, so dass Goering und seine Mitarbeiter zeitweise auf englisches Gebiet fliehen mussten. Die Reichsregierung sah sich dadurch vor die Alternativen gestellt, Südwestafrika als koloniales Projekt entweder aufzugeben oder aber die deutschen Herrschaftsansprüche mit Gewalt durchzusetzen.691 Bismarck entschied sich für die zweite Option. Nachdem der Reichskanzler unmittelbar zuvor Wißmann mit der Niederwerfung des ›Araber-Aufstands‹ in Ostafrika beauftragt hatte, wurde im Frühjahr 1889 der Hauptmann Curt v. François mit einer ausschließlich aus Europäern bestehenden kleinen Truppe entsandt, um in Südwestafrika ebenfalls militärisch zu intervenieren.692 Es dauerte nicht lange, bis diesem auch die Geschäfte Goerings übertragen wurden.693 Im November 1893, als in Südwestafrika ebenso wie in Togo das Kommissariat in eine Landeshauptmannschaft umgewandelt wurde, ging auch die Stellvertretung dieses Amtes auf François über. Zu diesem Zeitpunkt war dessen Regime jedoch bereits in die Kritik geraten. Das lag vor allem daran, dass es ihm nach wie vor nicht gelungen war, das Gewaltmonopol der Kolonialregierung gegenüber den Einheimischen durchzusetzen.694 Unzufrieden war der zwischenzeitliche Reichskanzler Caprivi aber auch mit den Absichten des stellvertretenden Landeshauptmanns. Schwebte der Reichsregierung eine defensive Strategie vor, die in erster Linie den Schutz des Hauptortes Windhoek (Windhuk) sowie der wenigen europäischen Siedlungen und Farmen im Blick hatte, hielt François ein solches Ansinnen angesichts seiner begrenzten Kräfte für undurchführbar.695 Er wollte stattdessen unter weitgehendem Verzicht auf militärisch gesicherte Stützpunkte mit seiner konzentrierten Streitmacht einen offensiven Krieg gegen den zum Haupt-
688 GStA PK Rep. 89/32474, Bl. 19f., Bülow an Wilhelm II. vom 4.7.1908, Immediatgesuch; ebd., Bl. 21f., Wilhelm II. vom 14.7.1908, Allerhöchste Ordre (Zitat). 689 Siehe Kapitel 4.2. 690 DKB 1 (1890), S. 9. 691 Vgl. Gründer, Geschichte, S. 89. 692 François, Deutsch-Südwest-Afrika, S. 32f. Die ›Truppe‹ bestand aus 23 Köpfen. 693 DKB 2 (1891), S. 148. 694 Drechsler, Südwestafrika, S. 83f.; Kaulich, Geschichte, S. 88; Häussler, Genozid, S. 91. 695 François, Deutsch-Südwest-Afrika, S. 166.
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gegner erklärten Nama-Kapitän Hendrik Witboi führen.696 Diese Absichten riefen nicht nur bei Caprivi, sondern auch in der Kolonialabteilung Besorgnisse hervor, weshalb der dortige Hilfsarbeiter Georg Irmer im Oktober 1893 in einem Privatbrief schrieb: »Am bedenklichsten erscheint mir die Lage in Süd-Westafrika.«697 Vor diesem Hintergrund ließ der Reichskanzler kurz darauf den Major Leutwein »zur Dienstleistung« ins Auswärtige Amt abordnen, um ihn anschließend in die Kolonie zu entsenden. Leutwein sollte »auf Grund eigener Anschauung über die dortigen Verhältnisse Bericht […] erstatten«. Es handelte sich aber vorläufig nicht um die Ablösung des stellvertretenden Landeshauptmanns, vielmehr war Leutweins Kommandierung lediglich auf vier Monate begrenzt. Auch war er angewiesen worden, sich vor Ort »jeden Eingreifens in die Truppenführung wie in die Verwaltung [zu] enthalten«.698 Wie zu erwarten, stellte Leutwein der Amtsführung in Südwestafrika kein günstiges Zeugnis aus. Françoisʼ Konzeption habe seiner Meinung nach dazu geführt, dass sich das effektiv kontrollierte Gebiet nur noch auf Windhuk und dessen nähere Umgebung erstreckte.699 Im Zuge dieser Entwicklung sei es außerdem zu »Unstimmigkeiten« und sogar zur »Erbitterung« von Ansiedlern und Offizieren gegenüber der Landeshauptmannschaft gekommen.700 Außerhalb der offiziellen Berichterstattung hatte Leutwein in Gegenwart des Hauptmanns Estorff sogar geäußert, er halte François in Bezug auf seinen Geisteszustand »geradezu für nicht ganz richtig«.701 Die Reaktion aus Berlin war wenig überraschend: Am 15. März 1894 wurde Leutwein mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Landeshauptmanns beauftragt. Zwar verblieb François vorläufig das Kommando über die Schutztruppe, doch wurden dessen Spielräume erheblich eingegrenzt, war ihm doch befohlen worden, den »Requisitionen des Landeshauptmanns, soweit als militärisch möglich, nachzukommen«.702 Die damit vollzogene Trennung von zivilen und militärischen Befugnissen hätte an sich zu ähnlichen Konflikten wie in Ostafrika und Kamerun führen können. Allerdings begann Leutwein von Anfang an vollendete Tatsachen zu schaffen, indem er unverzüglich mit der Einrichtung einer Verwaltungsorganisation begann. Da zu diesem Zweck kaum Zivilbeamte zur Verfügung standen, verpflichtete er kurzerhand Offiziere und Unteroffiziere der Schutztruppe zur Besetzung provisorischer Distriktämter und Statio-
696 Ebd., S. 167; vgl. BA-B R 1001/2031, B. 130–133, François (Keetmanshoop) an Caprivi vom 9.5.1894, Bericht. 697 BA-B N 2350/198, Irmer (Berlin) an Bennigsen (sen.) vom 1.10.1893, Schreiben. 698 Die Kommandierung in die Kolonialabteilung erfolgte gemäß A.K.O. vom 16.11.1893 und war für den Zeitraum vom 1.12.1893 bis 31.3.1894 angelegt. Caprivi an Leutwein vom 20.11.1893, Instruktion, abgedruckt in: Leutwein, Jahre, S. 16f. Die Auswahl Leutweins wurde immer wieder auf seine Bekanntschaft mit Liebert zurückgeführt. Dazu ist aber zu bemerken, dass dieser mit Caprivi regelrecht verfeindet war. Vgl. Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 49; Gründer, Geschichte, S. 122; Liebert, Leben, S. 135–138, 177. 699 Leutwein, Jahre, S. 18. 700 BA-K N 1669/1, Bl. 2f., Lindequist, Erlebnisse (Zitat); BA-B N 2146/40, Lindequist (Walfishbay) an König vom 26.4.1894, Schreiben; Estorff an seine Eltern vom 16.7.1894, Schreiben, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 29f. 701 Estorff an seine Eltern vom 2.9.1894, Schreiben, abgedruckt in: ebd., S. 50. 702 DKB 5 (1894), S. 186.
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nen.703 François erfuhr erst im Nachhinein von diesen »zahlreichen, mich nicht angenehm berührenden Anordnungen« und sah durch die damit verbundene Schwächung der mobilen Truppe sein »Prinzip, die Kräfte möglichst konzentriert zu halten«, durchkreuzt. Er bat daraufhin um die Aufteilung des ›Schutzgebietes‹ in einen Nordteil unter seinem unabhängigen ›Kommissarium‹ und in einen Südteil unter Leutwein.704 Caprivi lehnte das jedoch ab und beurlaubte François stattdessen nach Deutschland, so dass ab Juni 1894 Verwaltung und Truppenkommando wieder in einer Hand vereinigt waren.705 Gleichzeitig war das der Auftakt zu Leutweins elfjähriger Amtszeit an der Spitze von Administration und Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika, während der er das dortige koloniale Regime maßgeblich prägen sollte. Gemeinsam mit seinem Stellvertreter, dem kurz zuvor eingetroffenen Regierungsassessor Lindequist, ging er unverzüglich daran, eine administrative Organisation zu entwerfen, die auf eine flächendeckende Kontrolle des Landes abzielte. Dabei lassen sich zum Teil Anleihen von Sodens Modell in Ostafrika feststellen, standen doch auch in Südwestafrika Bezirkshauptmannschaften an der Spitze der frühen Regionalverwaltung. Deren erste Standorte – Windhuk, Keetmanshoop, Otyimbingwe – orientierten sich ausschließlich an der Anzahl der dort lebenden Europäer. An diesen sich abzeichnenden Schwerpunkten der Besiedlung hielten Leutwein und Lindequist die Verwendung von juristisch vorgebildeten höheren Beamten als Verwaltungschefs für unerlässlich, da diese zugleich für die entstehende Siedlergesellschaft zuständig sein sollten.706 Den Bezirkshauptmannschaften waren zunächst vier, im Endziel neun Distriktchefs untergeordnet, denen wiederum eine größere Anzahl kleinerer Stationen zugeteilt war.707 Da vorerst für ganz Südwestafrika lediglich zwei höhere Zivilbeamte verfügbar waren, musste Lindequist zwei Bezirke (Windhuk und Otyimbingwe) in Personalunion selbst übernehmen, zugleich fungierte er als oberste richterliche Instanz im gesamten ›Schutzgebiet‹ und vertrat außerdem häufig den Landeshauptmann.708 Das geringe Leistungsvermögen einer solchen mehr auf dem Papier als in der Realität existierenden ›Zivilverwaltung‹ lässt sich leicht ermessen.709 Etwas günstiger lagen die Verhältnisse in
703 Leutwein, Jahre, S. 22; DKB 5 (1894), S. 236. 704 BA-B R 1001/2031, B. 130–133, François (Keetmanshoop) an Caprivi vom 9.5.1894, Bericht. 705 NAN ZBU A.II.H.2, Bd. 1, Leutwein vom 1.6.1894, Bekanntmachung. Die vollständige Übertragung beider Ämter auf seine Person dauerte aber noch bis 27.6.1895 (Landeshauptmann) bzw. 10.11.1897 (Kommandeur). Zu den Gründen vgl. Holstein an Eulenburg vom 5.5.1896, Schreiben, in: Holstein, Papiere 3, S. 547; BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 5.7.1897, Schreiben. 706 BA-B R 1001/2031, Bl. 147–151, Leutwein vom 11.6.1894, VO betr. Einrichtung von Bezirkshauptmannschaften und Ortspolizeibezirken; ebd., Bl. 140–143, Leutwein (Windhuk) an Caprivi vom 17.6.1894, Bericht; BA-K N 1669/1, Bl. 16, Lindequist, Erlebnisse; Bley, Kolonialherrschaft, S. 72; Kaulich, Geschichte, S. 97f. 707 BA-B R 1001/2031, Bl. 140–143, Leutwein (Windhuk) an Caprivi vom 17.6.1894, Bericht. 708 BA-K N 1669/1, Bl. 16, Lindequist, Erlebnisse. 709 Vgl. DKB 6 (1895), S. 269.
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den Distrikten, die in der Regel von einem Offizier im Leutnantsrang verwaltet wurden und gleichzeitig über ein Minimum an Machtmitteln verfügten.710 Zu diesem quantitativen Missverhältnis zwischen ziviler und militärischer Sphäre kam eine wenig glückliche Aufteilung der Aufgabenbereiche und Unterordnungsverhältnisse. Leutweins ursprüngliches Konzept sah vor, dass nur die Bezirkshauptleute reine Zivilbehörden darstellen sollten. Die Distriktchefs blieben dagegen Militärbehörden mit gleichzeitigen Verwaltungsaufgaben. Zwar war das in Ostafrika und Kamerun prinzipiell ebenso der Fall, doch fungierten die Distriktchefs in Südwestafrika im Verhältnis zu den Bezirkshauptleuten als deren »Ortspolizeibehörden« und empfingen von diesen Weisungen zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie zu allgemeinen Verwaltungsangelegenheiten. Personell, disziplinarisch und in militärischen Fragen unterstanden die Distriktchefs und ihre Stationsleiter dagegen weiterhin dem Truppenkommandeur unmittelbar. Sie waren aber dazu angehalten, »Requisitionen des Bezirkshauptmanns zu politischen Zwecken, sofern ernste, militärische Bedenken nicht entgegenstehen,« Folge zu leisten.711 Aus diesen Regelungen lässt sich die Abneigung ablesen, Offiziere einem Zivilbeamten unterzuordnen. Dennoch war die Verwaltungsorganisation genau darauf angelegt. Leutwein und Lindequist hofften aber, Konflikten vorbeugen zu können, indem sie von Anfang an darauf hinwiesen, dass »durch gegenseitiges, wohlwollendes Entgegenkommen, der Sache, der wir alle dienen, mehr genutzt wird, als durch ängstliches Abwägen der Kompetenz-Grenzen.«712 Angesichts der Tatsache, dass mit dieser Lösung zwei parallel verlaufende, in Teilbereichen aber miteinander verknüpfte Apparate konzipiert wurden, äußerte sich selbst die Kolonialabteilung irritiert.713 Dabei war diese zivilmilitärische Mischverwaltung nicht zuletzt ein Resultat der geographischen Gegebenheiten in Südwestafrika. Tatsächlich besteht der dortige Küstensaum bis zu einer Tiefe von maximal 160 Kilometern aus einer unwirtlichen Sandwüste, weshalb auch die beiden einzigen Hafenplätze der Kolonie erst spät zu (lokalen) Verwaltungszentren erhoben wurden. Die zuerst gegründeten Bezirkshauptorte befanden sich stattdessen im Binnenland, mehrere hundert Kilometer vom Meer entfernt. Die für die anderen afrikanischen ›Schutzgebiete‹ charakteristische räumliche Untergliederung in eine an der Küste konzentrierte und sich langsam ins Hinterland vorschiebende Ziviladministration einerseits und eine mehr oder minder militärisch geprägte ›Verwaltung‹ im Landesinnern andererseits, lässt sich daher für Südwestafrika weder generell noch in dieser Trennschärfe konstatieren. Stattdessen kam es zu der skizzierten Verzahnung beider Organisationsformen auf lokaler Ebene. 710 Im Sommer 1895 befanden sich in den Distriktorten bzw. Stationen insgesamt 305 Soldaten der Schutztruppe. Die Zivilbehörden verfügten dagegen nur über eine Polizeitruppe von neun Mann in Windhuk. DKB 6 (1895), S. 460f. 711 BA-B R 1001/2031, Bl. 147–151, Leutwein vom 11.6.1894, VO betr. Einrichtung von Bezirkshauptmannschaften und Ortspolizeibezirken. 712 Ebd., Bl. 144–146, Leutwein (Windhuk) vom 9.6.1894, Bekanntmachung; Kaulich, Geschichte, S. 98. 713 BA-B R 1001/2031, Bl. 161–166, KA an Leutwein vom 8.8.1894, Erlass. In Berlin hatte man irrtümlich angenommen, Leutwein habe damit einen vierstufigen Instanzenweg geschaffen, dies aber als zu kompliziert angesehen. BA-B R 1001/2032, Bl. 41–43, Leutwein (Windhuk) an HohenloheSchillingsfürst vom 14.4.1895, Bericht.
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Dass in der Praxis schwerwiegende Konflikte die Ausnahme blieben, lag nicht zuletzt daran, dass sich die Spitzen beider Behördenstränge in der Person Leutweins vereinigten und darüber hinaus Lindequist verbindend zwischen den beiden Sphären wirkte.714 Dazu kam, dass sich an fast jedem Bezirkshauptort gleichzeitig ein Distriktchef befand, so dass dank persönlicher Fühlungnahme mancher Konflikt gar nicht erst zum Ausbruch kam. Am Ende obsiegte ohnehin die Lebenswirklichkeit über das umständliche Reglement, begriffen sich doch die Bezirke von Anfang an als die höhergestellten Behörden, was von den Distriktchefs im Großen und Ganzen akzeptiert worden zu sein scheint.715 Ein weiteres Spezifikum für die Kolonialadministration in Südwestafrika ist das im Vergleich zu anderen Kolonien des Kaiserreichs frühzeitige Bemühen, die Aufgaben und Befugnisse der Verwaltungsbehörden in einer allgemeinen Dienstanweisung schriftlich zu fixieren und damit ein Mindestmaß an Verbindlichkeit herzustellen. Indirekt ging damit die Schaffung einer Administration einher, die auf eindeutig voneinander abgegrenzten Amtsbezirken basierte. Nichtsdestotrotz handelte es sich um ein Provisorium, was sich schon daran ablesen lässt, dass der im Juni 1894 herausgegebene erste Instruktionsentwurf innerhalb der darauffolgenden sechs Jahre dreimal überarbeitet wurde.716 Anhand eines Vergleichs der einzelnen Fassungen lassen sich sowohl die seitens der Landeshauptmannschaft verfolgten Zielsetzungen als auch die jeweils wahrgenommenen Umsetzungsmängel ablesen. Am wenigsten überraschen die Kontinuitäten, so etwa die Festschreibung des Vorgesetztenstatus’ des Landeshauptmanns, der seit dem 18. April 1898 auch in Südwestafrika zum Gouverneur erhoben wurde. Jeder Bezirkshauptmann fungierte auf lokaler Ebene als dessen Vertreter »in allen die allgemeine Landesverwaltung betreffenden Angelegenheiten«, wobei die Kernaufgabe sich auf die »genaue Durchführung der Gesetze und Verordnungen« erstreckte. Auch die in allen Fassungen wiederkehrende Bestimmung über die Berichtspflicht der Bezirksleiter zementierte dieses Unterordnungsverhältnis.717 Während aber die Instruktion von 1894 unter »Landesverwaltung« in erster Linie die Durchsetzung und Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung verstanden hatte, rückte seit 1896 die »kolonisatorische Hebung seines Bezirks« und damit die »Beförderung der Ansiedelung« zur »Hauptaufgabe des Bezirkshauptmanns« auf.718 Darüber 714 715
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Vgl. BA-B N 2345/18, Bl. 14–21, Dürrling (Windhuk) an Zimmermann vom 24.11.1896, Schreiben. BA-B R 1001/2032, Bl. 41–43, Leutwein (Windhuk) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 14.4.1895, Bericht; ebd., Bl. 112f., Leutwein (Windhuk) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 16.2.1898, Bericht; ähnlich: Kaulich, Geschichte, S. 98. Die Feststellung bezieht sich auf das Gesamtgefüge der Verwaltungsorganisation, wogegen keineswegs Kompetenzkonflikte ausgeschlossen werden sollen. BA-B R 1001/2031, Bl. 147–151, Leutwein vom 11.6.1894, VO betr. Einrichtung von Bezirkshauptmannschaften und Ortspolizeibezirken; BA-B R 1001/2032, Bl. 69–72, Leutwein vom 14.3.1896, Instruktion für die Bezirkshauptleute; Leutwein vom 10.2.1899, Instruktion für die Bezirksamtmänner und Distriktchefs, auszugsweise abgedruckt in: DKG 6, S. 195–197; Leutwein vom 1.5.1900, Instruktion für die Bezirkshauptmannschaften, Militär- und Polizeidistrikte sowie die detachierten Feldkompagnien, abgedruckt in: Leutwein, Jahre, S. 553–557; vgl. Kaulich, Geschichte, S. 102. Für den Vergleich wurden die Dienstanweisungen vom 11.6.1894, 14.3.1896 und 1.5.1900 herangezogen. Zitate im Text aus der Fassung vom 11.6.1894. Zitate aus der Instruktion vom 14.3.1896. Nach der Version von 1894 hatte dem Ansiedlungswesen die »besondere Aufmerksamkeit« des Bezirkschefs zu gelten. Dieser Passus rückte in deutlich erweiterter Form von § 22 auf § 18 vor, um dann in der Fassung von 1900 den § 2 zu bilden.
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hinaus wurde diesem verordnet, »fortlaufend gute persönliche Beziehungen« zu einheimischen Kapitänen, Missionaren und »angesehenen Weißen« zu unterhalten.719 Keineswegs nebensächlich gestalteten sich die Regelungen über die Strafbefugnisse. Dabei fällt auf, dass in der Instruktion von 1894 noch keine speziellen Vorschriften über Strafmittel und -maße gegenüber den Einheimischen vorgesehen waren. Auch das lag nicht zuletzt an den besonderen Verhältnissen in Südwestafrika. In dem riesigen Land lebten damals vermutlich fast eine Viertel Million Angehörige verschiedener indigener Ethnien.720 Wie bereits thematisiert, untergliederten sich diese wiederum meist in sogenannte Kapitänschaften, also tribale Einheiten von oft überschaubarer Größe. Den Kapitänen war in den Schutzverträgen in der Regel die Gerichtsbarkeit über die eigenen Gruppenmitglieder garantiert worden.721 Bei Verstößen gegen die lokalen Polizeiverordnungen der Bezirkshauptleute und Distriktchefs erschienen offenbar zunächst die für die europäische Bevölkerung vorgesehenen Gefängnis- oder Geldstrafen auch gegenüber den Indigenen als ausreichend.722 Auch dürften angesichts der vorläufig geringen Zahl der Europäer – zu Jahresbeginn 1895 handelte es sich um weniger als 1.800 Personen – Auseinandersetzungen mit den Einheimischen jenseits militärischer Unternehmungen eher selten gewesen sein.723 Ein Beispiel sowohl für die Kapitänsgerichtsbarkeit als auch für ein unmittelbares Eingreifen des Landeshauptmanns stellt aber die Tötung eines Ansiedlers britischer Staatsangehörigkeit im Bezirk Otyimbingwe dar. Dieser soll zuvor »ohne jede Kontrolle seitens der Regierung im Schutzgebiete sein Unwesen« getrieben und dabei im alkoholisierten Zustand einen Herero ermordet haben. Manasse, der Kapitän in Omaruru, wollte daraufhin den Ansiedler verhaften lassen, wobei dieser aber zu Tode kam. Leutwein und Lindequist begaben sich daraufhin unter militärischer Bedeckung an den Ort des Geschehens, um den »verhängnisvollen Zwischenfall« zu untersuchen. Unter Ausnutzung der Rivalitäten unter den Teilgruppen der Herero erzwangen sie die Auslieferung des Täters aus dem Umfeld Manasses. Lindequist, der als Richter den Fall verhandelte, vertrat schließlich die Ansicht, dass »ein Exempel statuiert werden musste«, und verurteilte den Betreffenden
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Dieser Passus ist in allen drei Versionen enthalten, doch rückte auch dieser im Text nach vorne: 1894 § 21, 1896 § 17, 1900 § 12. In der letzten Fassung waren zudem die Kapitäne an die erste Stelle (bis dahin stets an zweiter Stelle) vor die Missionare und weißen Honoratioren gesetzt worden. 720 Daraus ergibt sich eine ungewöhnlich niedrige Bevölkerungsdichte von weniger als 0,3 Einwohnern/qkm. Daran vermag auch die Tatsache wenig zu ändern, dass es sich bei den Einwohnerzahlen lediglich um Schätzwerte handelt. Vgl. Leutwein, Jahre, S. 11. Die Einwohnerzahlen in Südwestafrika waren immer wieder Gegenstand der Spekulation: Bley, Kolonialherrschaft, S. 190f.; Kaulich, Geschichte, S. 36–38; Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 40–44. 721 Kaulich, Geschichte, S. 131. 722 In der Instruktion von 1894 waren den Bezirkshauptleuten Strafmaße von bis zu drei Monaten Gefängnis und 1.500 Mark Geldstrafe zugestanden worden. Die Distriktchefs konnten dagegen Strafen bis zu einem Monat Gefängnis und 500 Mark Geldstrafe verhängen. In der Instruktion von 1896 fielen die Befugnisse der Distriktchefs weg, während die Bezirkshauptleute fortan Verstöße gegen ihre Polizeiverordnungen mit maximal sechs Wochen Gefängnis und 150 Mark Geldstrafe ahnden konnten. 723 BA-B R 1001/7430, Bl. 31–36, Einwohnerstatistik für DSWA (1.1.1895).
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zum Tod durch Erschießen, was der Landeshauptmann genehmigte.724 Leutwein erwartete künftig offenbar eine Häufung derartiger Zwischenfälle, regte er doch in Berlin eine »größere Dezentralisation der Verwaltungsbehörden im Schutzgebiet« an, damit Streitigkeiten zwischen Europäern und Indigenen frühzeitig geschlichtet werden könnten. Dabei beklagte er, dass er selbst wegen des Falls in Omaruru fünf Wochen habe unterwegs sein und beträchtliche Geldmittel aufwenden müssen.725 Ein Resultat waren die in die Neufassung der Instruktion für die Bezirkshauptleute aus dem März 1896 aufgenommenen Strafbefugnisse »gegen Eingeborene«. Darin wurde festgelegt, dass Stationsleiter bis zu 25 Stockhiebe oder acht Tage Haft, Distriktchefs dagegen bis zu fünfzig Stockhiebe oder maximal drei Monate Gefängnis verhängen durften. Bezirkshauptleute konnten dagegen aus eigener Machtbefugnis bis zu sechs Monate Gefängnis verhängen. Diese Grenze konnte bis zu zehnjährigen Freiheitsstrafen ausgedehnt werden, doch waren dann ein europäischer und ein indigener Beisitzer hinzuzuziehen. »An Plätzen mit eingeborenen Kapitänen« war ohnehin stets die »Mitwirkung des Letzteren herbeizuführen«.726 Trotz dieses Anscheins von Kooperation war damit in Wirklichkeit eine prinzipiell »rassistische Rechtspraxis« installiert worden, da durch die Unterscheidung zwischen ›weißen‹ und ›farbigen‹ Strafmaßen die Einheimischen fortan auch formaljuristisch »von der Teilnahme an der Rechtsordnung der Weißen ausgeschlossen« waren.727 Dass dies im alltäglichen Leben ohnehin längst praktiziert wurde, geht nicht zuletzt daraus hervor, dass der Herero-Kapitän Manasse zur Hinrichtung seines Clanmitgliedes genötigt worden war, andernfalls hätte er eine kriegerische Auseinandersetzung riskiert. Bereits ein halbes Jahr später wurde dieser Teil der Instruktion wieder außer Kraft gesetzt. Leutwein übernahm stattdessen am 8. November 1896 eine von Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst eigentlich auf Ostafrika, Kamerun und Togo beschränkte Verfügung über die »Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen« auch für seinen Amtsbereich.728 Das Reglement enthielt einen Strafenkatalog, der für die indigenen Gesellschaften in den afrikanischen ›Schutzgebieten‹ körperliche Züchtigung, Geldstrafe, Gefängnis mit Zwangsarbeit, Kettenhaft oder Todesstrafe vorsah. Auf den zweiten Blick offenbart sich, dass diese
724 BA-B R 1001/2032, Bl. 12–16, Leutwein (Windhuk) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 11.12.1894, Bericht (Zitate 1+2); BA-K N 1669/1, Bl. 18f., Lindequist, Erlebnisse (Zitat 3); vgl. Estorff, Kameldornbaum, S. 58. 725 BA-B R 1001/2032, Bl. 12–16, Leutwein (Windhuk) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 11.12.1894, Bericht. 726 Ebd., Bl. 69–72, Leutwein vom 14.3.1896, Instruktion für die Bezirkshauptleute. 727 Hardach, König, S. 166f. (Zitat 1); Hoffmann, Einführung, S. 21 (Zitat 2); ähnlich: Bley, Kolonialherrschaft, S. 27f. 728 Hohenlohe-Schillingsfürst vom 22.4.1896, Verfügung betr. Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten von Ostafrika, Kamerun und Togo, abgedruckt in: DKG 2, S. 215–218; Leutwein vom 8.11.1896, VO betr. Strafgerichtsbarkeit der Eingeborenen in Südwestafrika, abgedruckt in: ebd., S. 294f. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Allgemein zu diesen Regularien: Schröder, Prügelstrafe, S. 51–53.
4. Herrschaftspraktiken
Bestimmungen zwar den äußeren Rahmen des Zulässigen sowie die Verteilung der Befugnisse innerhalb der Administration absteckten. Eine verbindliche Zuordnung zu den in Frage kommenden Delikten war jedoch nicht enthalten. Gleiches galt für einschlägige Verordnungen der Landeshauptmannschaft mit wenig konkreten Strafandrohungen. Der Willkür seitens der Inhaber der Strafgewalt waren daher kaum Grenzen gesetzt.729 Beinahe unumschränkt waren die Befugnisse des Landeshauptmanns. Mit Ausnahme von Aufruhr oder sonstigem Notstand war die Vollstreckung von Todesurteilen fortan nur mit seinem ausdrücklichen Einverständnis zulässig.730 Gleiches galt für Geldstrafen, sobald sie den Betrag von 300 Mark überstiegen sowie für Freiheitsstrafen ab sechs Monaten. Strafmaße, die unterhalb dieser Grenzen lagen, durften die Bezirkshauptleute und teilweise auch die Distrikt- und Stationschefs selbständig verhängen. Besonders betraf das die körperliche Züchtigung, die sowohl als Straf- als auch als Disziplinierungsmittel vorgesehen war. Während sich an der bisherigen Höchstzahl der Hiebe nichts änderte, sah die Reichskanzlerverfügung aber vor, dass die körperliche Züchtigung künftig nicht mehr gegen weibliche Personen anzuwenden sei. Diesen Regelungen lag die Intention zugrunde, die gegenüber der indigenen Bevölkerung immer wieder exzessiv angewandte Strafgewalt in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken. Eine gewisse Kontrolle erhoffte sich die Berliner Zentrale durch die regelmäßige Vorlage von Strafverzeichnissen. Wenngleich diese gerade im Hinblick auf Disziplinarstrafen nur teilweise die realen Verhältnisse widerspiegeln, vermitteln solche Aufstellungen aber zumindest einen Eindruck von der Strafpraxis vor Ort. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang eine vom Gouvernement in Windhuk erstellte Übersicht über die im gesamten ›Schutzgebiet‹ zwischen April 1898 und März 1899 »vorgekommenen disziplinaren und gerichtlichen Bestrafungen von Eingeborenen«.731 Danach waren binnen eines Jahres seitens der Bezirkshauptmannschaften, Distriktämter und Stationen insgesamt 453 Strafverfahren eingeleitet worden. Dem Papier zufolge handelte es sich in 179 Fällen um »leichte Vergehen«, die mit zwei bis dreiwöchigen Gefängnis- und/oder Prügelstrafen geahndet wurden. In weiteren 226 Verfahren wurden Diebstähle verhandelt. Die dabei verhängten Zwangsarbeitsstrafen umfassten Zeiträume von zwei bis sechseinhalb Monaten Dauer. Zusätzlich erhielten die Betreffenden häufig Prügelstrafen im Umfang von 15 bis 25 Hieben. Mit zwölf Monaten Zwangsarbeit, dabei mitunter dauerhaft angekettet, sowie 25 bis 50 Hieben wurden dagegen die
729 Vgl. Estorff (i.V.) vom 8.8.1902, VO betr. Ausübung der Strafgerichtsbarkeit gegen Eingeborene, abgedruckt in: DKG 6, S. 495. Darin wurde dieser Mangel zwar festgestellt, aber keineswegs behoben. Vielmehr kam es lediglich zu der Festlegung, dass »die in der Verordnung des Landeshauptmanns vom 8. November 1896 für zulässig erklärten Strafmittel […] auch dann anzuwenden [sind], wenn die die Strafbarkeit der Handlung aussprechende Verordnung eine besondere Bestimmung darüber nicht enthält.« 730 Vgl. BA-B R 1002/2596, Bl. 17, Leutwein vom 25.6.1901, Verfügung betr. Eingeborenenstrafgerichtsbarkeit. 731 BA-B R 1001/5077, Bl. 197f., Gouvernement in Windhuk, o.D. [1899], Übersicht über die disziplinaren und gerichtlichen Bestrafungen von Eingeborenen (1898/99). Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Die Spannen der Strafmaße wurde ermittelt aus den Einzelaufstellungen in derselben Akte.
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elf während des genannten Zeitraums wegen Raub und Einbruch verurteilten Einheimischen bestraft. Zwei weitere wegen Totschlag Verurteilte erhielten drei Jahre Gefängnis mit Zwangsarbeit. Dazu kamen 21 wegen »Aufruhr« oder Mord ausgesprochene Todesurteile. Diese Delikte wurden bei zwölf ähnlichen Fällen aber auch mit dreieinhalb Jahren Kettenhaft bestraft. Ein Vergleich dieser Praxis mit derjenigen in Deutschland ergibt vor allem eine erhebliche Diskrepanz im Hinblick auf die Unschuldsvermutung. Endete vor deutschen Gerichten zur selben Zeit etwa jedes fünfte anhängige Verfahren mit einer Einstellung oder einem Freispruch, blieb vor den südwestafrikanischen Bezirks- und Distriktsämtern nur jeder zwanzigste Beschuldigte straffrei.732 Ein Vergleich der relativen Häufigkeit der Strafurteile ist dagegen schwierig, fehlen doch zuverlässige Angaben über die Anzahl der Indigenen, auf die die Inhaber der Strafgewalt faktisch Zugriff hatten. Einen Hinweis liefert aber ein Monitum der Berliner Zentralbehörde, wonach die hohe Anzahl der gemeldeten Strafen »in einem bedauerlichen Missverhältnis zu der Anzahl der der Deutschen Herrschaft überhaupt tatsächlich unterworfenen Personen steht«.733 Leutwein suchte sich demgegenüber zu rechtfertigen und behauptete kurzerhand, dass die Kapitäne Hendrik Witboi, Simon Cooper und Manasse aus Hoachanas ihre eigenen Leute ebenfalls »tüchtig durchhauen« lassen würden.734 Auch in der kurz nach seinem Rücktritt erschienenen autobiographischen Darstellung seiner Amtszeit erwähnte er in gleicher Absicht einen Kapitän der Bergdamara, der einer Gruppe Nama in die Hände gefallen sei und von diesen eine ungewöhnlich hohe Zahl von Stockschlägen verabreicht bekommen haben soll: »Auf meine fernere Frage, wie ihm die 150 Hiebe bekommen seien, meinte Apollo, er hätte drei Wochen nicht sitzen können, sonst hätten sie ihm nichts geschadet.«735 Sowohl für die Reichskanzler-Verfügung als auch für Leutweins Durchführungsverordnung gilt, dass beide eine Art geteilter Verantwortlichkeit zu konstruieren suchten. Dabei sollten die einheimischen Eliten an der ›Eingeborenengerichtsbarkeit‹ aktiv mitwirken.736 Bei Strafverfahren gegen Einheimische sollte der Kapitän vor Ort daher entweder als Beisitzer fungieren oder einen solchen benennen. Tatsächlich zeigt die zitierte Statistik, dass mehr als die Hälfte der Urteile zumindest unter formaler Hinzuziehung
732 Statistisches Jahrbuch 1900, S. 168; BA-B R 1001/5077, Bl. 197f., Gouvernement in Windhuk, o.D. [1899], Übersicht über die disziplinaren und gerichtlichen Bestrafungen von Eingeborenen im Berichtsjahr 1898/99. In Deutschland handelte es sich um 605.455 Angeklagte, denen 477.807 Verurteilte gegenüberstanden, die Differenz entspricht 21,1 %. In Südwestafrika lauten die Vergleichswerte 453 Angeklagte, 429 Urteile, 5,3 % Freisprüche bzw. Verfahrenseinstellungen. Einschränkend ist zu bemerken, dass in den Zahlen aus Südwestafrika keine ausschließlichen Geldstrafen enthalten sind. 733 König (i.V.) vom 12.1.1900, Runderlass betr. Strafurteile gegen Eingeborene, abgedruckt in: DKG 5, S. 15; Schröder, Prügelstrafe, S. 53. 734 Leutwein, Beendigung, S. 490f.; vgl. Schröder, Prügelstrafe, S. 13f. 735 Leutwein, Jahre, S. 26. 736 Hohenlohe-Schillingsfürst vom 22.4.1896, Verfügung betr. Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten von Ostafrika, Kamerun und Togo, abgedruckt in: DKG 2, S. 215–218; Leutwein vom 8.11.1896, VO betr. Strafgerichtsbarkeit der Eingeborenen in Südwestafrika, abgedruckt in: ebd., S. 294f.
4. Herrschaftspraktiken
Einheimischer gefällt wurden. Diese Einbindung war nach der Schwere des Delikts gestaffelt. Während an praktisch sämtlichen Verfahren wegen Raub, Einbruch, Totschlag, Mord oder Aufruhr ein oder mehrere indigene Beisitzer beteiligt waren, fällten bei fast allen »leichten Vergehen« oder Diebstählen die deutschen Amtsträger ihre Urteile alleine.737 Der partiellen Einbindung in die Rechtsprechung der Kolonialverwaltung lag nicht zuletzt die Absicht einer Stärkung der Autorität der Kapitäne zugrunde. Tatsächlich hielt Leutwein von deren Urteil wenig, beklagte er doch noch im Nachhinein die »oft wunderliche Rechtsprechung« der einheimischen Machthaber.738 Das konnte ihn aber nicht davon abhalten, seine Gerichtsbarkeitsbestimmungen ausdrücklich dahingehend einzuschränken, dass diese »bei inneren Angelegenheiten der Eingeborenen unter sich« keine Geltung hätten, sofern dem betreffenden Kapitän eigene richterliche Kompetenzen zugestanden worden seien. Ebenso wie in Ostafrika, wo die Angehörigen der arabischen und indischen Ethnie aufgrund ihrer Funktion als intermediäre Glieder der Verwaltung explizit von der Prügelstrafe ausgenommen worden waren, suchte Leutwein das Ansehen der Kapitäne nicht zu gefährden, indem auch er Körperstrafen für die »Eingeborenen besseren Standes« in Südwestafrika generell untersagte.739 In dieser Beziehung sprach der Landeshauptmann seine Absichten unzweideutig aus, müssten doch die »Häuptlinge in ihrer im hiesigen Schutzgebiete etwas schwachen Autorität ihren eigenen Volksgenossen gegenüber gestärkt werden«.740 Überhaupt standen besonders die Kapitäne der Herero und Nama von Anfang an im Fokus der Aufmerksamkeit. Schon kurz nach Leutweins Ankunft in Südwestafrika hatte er erkannt, dass eine kompromisslose Gewaltpolitik angesichts der Kräfteverhältnisse kaum Erfolg versprechen würde. Weit davon entfernt, an den kolonialen Zielsetzungen etwas ändern zu wollen, waren es folglich in erster Linie die Methoden, durch die er sich von François unterschied. Das betraf einerseits die Verwendung eines Teils der Schutztruppe zur ständigen Besetzung wichtiger Plätze im ›Schutzgebiet‹. Anders als bei einer konzentrierten, beweglich operierenden Streitmacht war es auf diese Weise möglich, an mehreren Punkten gleichzeitig präsent zu sein und somit dem eigenen Herrschaftsanspruch einen dauerhaften Anstrich zu verleihen. Der Nachteil einer solchen Aufteilung der Kräfte in eine Garnisons- und eine Feldtruppe bestand aber darin, dass Leutwein selbst unter Einbeziehung indigener Hilfskontingente anfangs kaum zweihundert Mann
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BA-B R 1001/5077, Bl. 197f., Gouvernement in Windhuk, o.D. [1899], Übersicht über die disziplinaren und gerichtlichen Bestrafungen von Eingeborenen (1898/99); vgl. Franke, Tgb., S. 157 (3.1.1900). Darin erwähnt der damalige Distriktchef von Outjo, dass er dem lokalen Kapitän vorgeschlagen habe, einen Herero zum Tode zu verurteilen. Dies sei »durch Beschluss seines Häuptlings und Stammes« erfolgt, so dass nur noch die Bestätigung Leutweins gefehlt habe. 738 Leutwein, Jahre, S. 19 (Zitat), 26. 739 Leutwein vom 8.11.1896, VO betr. Strafgerichtsbarkeit der Eingeborenen in Südwestafrika, abgedruckt in: DKG 2, S. 294f.; Hohenlohe-Schillingsfürst vom 22.4.1896, Verfügung betr. Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten von Ostafrika, Kamerun und Togo, abgedruckt in: ebd., S. 215–218; vgl. Schröder, Prügelstrafe, S. 27, 66f. 740 Leutwein, Omaruru, S. 78.
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zur mobilen Verwendung besaß.741 Nicht anders als François baute daher auch er auf Verstärkungen aus Deutschland.742 Zugleich beantragte er die Ernennung seines früheren Regimentskameraden, dem bereits im Zusammenhang mit Puttkamer erwähnten Wilhelm Mueller, zum neuen stellvertretenden Truppenkommandeur.743 Beides nahm jedoch Zeit in Anspruch. Für Leutwein bot sich daher kaum eine Alternative, als gegenüber den Kapitänen ein flexibles Vorgehen an den Tag zu legen. Dieses Taktieren, bei dem er immer wieder bestrebt war, die indigenen Machthaber durch Einschüchterung und Ausnutzen ihrer wechselseitigen Rivalitäten für seine Zwecke zu instrumentalisieren, stellte bereits in den Augen der Zeitgenossen den Kern eines regelrechten »Systems Leutwein« dar.744 Tatsächlich ging der designierte Landeshauptmann höchst methodisch vor, als er im ersten halben Jahr seiner Amtszeit den wehrhaften Hendrik Witboi zweimal zu einer Waffenruhe überredete.745 Gleichzeitig betrieb er eine show of force-Politik gegenüber den Khauasund den Franzmann-Nama, die auf sich allein gestellt selbst seiner kleinen Kampftruppe unterlegen waren. Parallel dazu lenkte Leutwein die Aufmerksamkeit der Herero-Kapitäne ab, indem er den über nur geringen Rückhalt verfügenden Samuel Maharero unterstützte und so die internen Rivalitäten weiter schürte. Angesichts dieser Konstellation und unter Einsatz der inzwischen verstärkten Schutztruppe war es schließlich möglich, den weitgehend isolierten Witboi am 15. September 1894 zum Abschluss eines »Schutzund Freundschaftsvertrages« zu bewegen. Dass Leutwein den Kapitän kurz zuvor noch vor die Wahl einer »bedingungslosen Unterwerfung« oder eines »Krieges bis zur Vernichtung« gestellt hatte, belegt seine taktische Flexibilität.746 Dieses inszenierte »Theater der Angst« lässt sich durchaus im Sinne Niklas Luhmanns deuten.747 Danach ist gerade das »Vermeiden von (möglichen und möglich bleibenden) Sanktionen […] für die Funktion von Macht unabdingbar.« Andernfalls würde die »Kommunikationsstruktur in kaum reversibler Weise« verändert und somit das künftige Verhältnis zu den Beherrsch-
741 Vgl. ders., Jahre, S. 36f. 742 Ebd., S. 22. 743 BA-B R 1001/2031, Bl. 154, Leutwein (Windhuk) an KA vom 16.6.1894, Bericht; Estorff (Kl. Tinkas) an seine Eltern vom 21.6.1895, Schreiben, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 105. 744 Vgl. BA-B R 1001/2032, Bl. 60, Allgemeine Zeitung für Chemnitz und das Erzgebirge vom 12.11.1903, Das System Leutwein; BA-MA N 134/1, S. 70, Scherbening, Tgb. (29.5.1906). Der Begriff ›System‹ sollte aber in Bezug auf Leutwein nicht überbewertet werden. Bei den meisten Gouverneuren war zeitgenössisch von einem ›System‹ die Rede, was lediglich eine Chiffre für den jeweiligen individuellen Stil in der Amtsführung darstellte. Beispiele: BA-B R 1001/764, Bl. 108f., National-Zeitung vom 21.10.1892, Deutschostafrika und das System Soden; BA-B R 8034-III/351, Berliner Tageblatt vom 12.2.1906, Die Aqua-Leute und das System Puttkamer; BA-B R 8034-III/362, Deutsche Tageszeitung vom 7.7.1911, Das System Rechenberg. 745 Zu den Anfängen von Leutweins ›Eingeborenenpolitik‹: Bley, Kolonialherrschaft, S. 23–52; Drechsler, Südwestafrika, S. 78–81; Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 91–99; Kaulich, Geschichte, S. 217–232; Pool, Maharero, S. 107–122; vgl. den Briefwechsel zwischen Leutwein und Hendrik Witboi: Witbooi, Afrika, S. 176–205; Gründer, Deutschland, S. 119–121. 746 Leutwein an Hendrik Witboi vom 5.5.1894, abgedruckt in: Witbooi, Afrika, S. 179f. 747 Raulff, Jahrhundert, S. 274 (Zitat).
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ten nachhaltig erschwert.748 Genau das suchte Leutwein, der sich der eigenen Schwäche durchaus bewusst war, zu verhindern. Gleichzeitig stellte – wie in anderen Kolonien – der obligatorische ›Schutzvertrag‹ nur das Konstrukt von rechtlicher Verbindlichkeit dar.749 Die darin fixierten Bestimmungen waren stets einseitig diktiert, wenngleich Leutwein darauf achtete, die Autorität der Kapitäne nach außen nicht allzu sehr zu beschädigen. Die stets vorgesehene »Regierungssubvention« an den indigenen Machthaber fungierte zusätzlich als Kompensation für dessen Einbuße an politischen Spielräumen. Die Höhe dieser jährlichen Zahlungen vermittelt wiederum einen Eindruck von der Bedeutung, die den einzelnen Kapitänen zugemessen wurde. Beispielsweise erhielten Samuel Maharero und Hendrik Witboi jeweils 2.000 Mark, während an Manasse aus Omaruru 1.800 Mark ausbezahlt wurden. Bei den Anführern kleinerer Gruppen, wie etwa Simon Cooper oder Nikodemus, bezifferte sich dieser Betrag dagegen auf 1.000 Mark pro Jahr.750 Leutwein glaubte mit dieser »Bewilligung von Jahresgehalten an die Häuptlinge« das »beste Mittel« zur Herrschaftssicherung gefunden zu haben, da eine solche Zahlung die Kapitäne »mit oder gegen deren Willen, zu besoldeten Beamten der Regierung stempelt.« Durch dieses Vorgehen der Landeshauptmannschaft hoffte er, »das Interesse der Häuptlinge an das ihrige zu knüpfen, um dann durch jene das Volk zu beherrschen. Nur so allein wird es uns möglich sein, auch bei geringer Machtentfaltung Herr im Lande zu bleiben.«751 Neben einer Neuausrichtung der Kapitäne auf die inneren Angelegenheiten ihrer tribalen Gruppen bei gleichzeitigem Wohlverhalten verfolgte Leutwein ein weiteres Ziel, indem er einige Machthaber zur Gestellung von Hilfskontingenten für die Schutztruppe verpflichtete. Auch diese Maßnahme brachte einen doppelten Vorteil mit sich, nämlich einerseits eine Verstärkung der eigenen Streitkräfte, andererseits aber kompromittierte eine solche mehr oder minder erzwungene Kooperation den betreffenden Kapitän gegenüber seinen weniger intensiv in dieses ›System‹ eingebundenen Amtskollegen.752 Diese Ausführungen dürfen jedoch nicht den Eindruck hervorrufen, bei den indigenen Machthabern hätte es sich um bloße Marionetten einer vermeintlich allmächtigen kolonialen Administration gehandelt. Wie bei den meisten Formen von Fremdherrschaft lässt sich auch für Deutsch-Südwestafrika das Bild »abhängiger ›Herren‹« vielfach belegen.753 Tatsächlich war eine Einbindung möglichst vieler Kapitäne und ihres Anhangs für ein Funktionieren des kolonialen Prinzips unerlässlich. Darüber hinaus versuchten
748 Luhmann, Macht, S. 23 (Zitate). 749 Vgl. die »Schutz- und Freundschaftsverträge«: Eduard Lambert/Khauas (9.3.1894), Numi/ Betschuanen (9.3.1894), Simon Cooper/Franzmann-Nama (19.3.1894), Hendrik Witboi (15.9.1894), Manasse von Omaruru (30.11.1894), Cornelius/Bergdamara (30.11.1894), David Swartbooi (19.1.1895). Hierzu im Einzelnen: Kaulich, Geschichte, S. 218–231. 750 Leutwein an Reichskanzler vom 13.12.1894, abgedruckt in: DKB 6 (1895), S. 79–81; Leutwein, Omaruru, S. 78; Leutwein, Hereros, S. 489; Kaulich, Geschichte, S. 220, 223, 231. 751 Leutwein, Omaruru, S. 78 (Zitate). 752 Kaulich, Geschichte, S. 225f. 753 Bley, Kolonialherrschaft, S. 213 (Zitat). Okkupation ohne ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft wenigstens eines Teils der einheimischen Bevölkerung ist generell kaum möglich. Insofern handelt es sich bei diesem Phänomen keineswegs um ein Novum des modernen Kolonialismus.
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diese aber immer wieder, die deutschen Maßnahmen für ihre eigenen Interessen gezielt zu instrumentalisieren. Die Bemühungen um eine Stärkung der Kapitäns-Autorität gegenüber den eigenen Leuten kam ihnen dabei ebenso gelegen, wie beispielsweise Hendrik Witboi die ihm übertragene Oberaufsicht über die Khauas keineswegs ungern ausübte.754 Noch mehr gilt dies für den Herero-Kapitän Samuel Maharero, der die von Leutwein betriebene Schwächung oder gänzliche Ausschaltung seiner Rivalen für sein Streben um die Ober-Kapitänswürde durchaus zum eigenen Vorteil zu nutzen wusste.755 Nicht zuletzt die Tatsache, dass Leutwein selbst im Januar bzw. Oktober 1904 von der kriegerischen Erhebung ausgerechnet dieser beiden Galionsfiguren seines divide et impera-Konzepts gänzlich überrascht wurde, verweist auf die Notwendigkeit, die wechselseitigen Beziehungen keinesfalls als bloße Gegenüberstellung von aktiven Europäern und passiven Afrikanern zu begreifen.756 Ungeachtet aller ›Schutzverträge‹ sowie der Einrichtung von Bezirks- und Distriktämtern zeigte sich ohnehin, dass die von Leutwein geschaffenen Strukturen keinen dauerhaft und flächendeckend funktionierenden Herrschaftsapparat darstellten. Vielmehr erforderte sein Konzept ein unablässiges Visualisieren der ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel gegenüber den Beherrschten. Im Unterschied zu manchen Amtskollegen, die oft Offiziere oder Beamte mit derartigen Demonstrationen beauftragten, erscheinen seine ›Gouverneursjahre‹ als einzige Abfolge mehr oder minder umfangreicher, meist von ihm selbst angeführter Militärexpeditionen. Dabei suchte er in Begleitung von Teilen der Schutztruppe »widerspenstige« Kapitäne an ihren Wohnsitzen auf, um mit ihnen die Modalitäten des wechselseitigen Verhältnisses immer wieder aufs Neue auszuhandeln.757 Die dabei angewandten Praktiken lassen sich exemplarisch anhand eines Zuges in den Süden des ›Schutzgebiets‹ im September und Oktober 1898 verdeutlichen. Während dessen Ablauf bislang seitens der Forschung praktisch ausschließlich auf der Basis dienstlicher Berichte oder der Memoiren Leutweins beschrieben wurde, lässt sich das Geschehen anhand von unveröffentlichten Selbstzeugnissen unmittelbarer erfassen, so dass eine differenziertere Analyse möglich wird.758 Die folgenden Ausführungen basieren daher auf den privaten Tagebuchaufzeichnungen des Leutnants Friedrich Demmler, der das Kommando über die mitgeführten Feldkanonen innehatte. Eine Ergänzung findet diese wertvolle Quelle durch Lindequists »Südwestafrikanische Erlebnisse«, die zwar im Nachhinein verfasst wurden, aber ebenfalls nicht zur Publikation bestimmt waren.759 Den äußeren Anlass für »Ungehörigkeiten bei den Hottentotten […] in Warmbad u. Bethanien« im Sommer 1898 hatte eine Anordnung des Gouvernements geliefert,
754 Vgl. Kaulich, Geschichte, S. 224; Gewald, Heroes, S. 107f. 755 Pool, Maharero, S. 107–169; vgl. Leutwein, Okahandja, S. 79–81. 756 Belege für Leutweins Fehleinschätzungen einheimischer Machthaber: Leutwein, Deutsch-SüdWest-Afrika, S. 28; ders., Grootfontein, S. 621. 757 Vgl. ebd., S. 622. 758 Vgl. Drechsler, Südwestafrika, S. 111f.; Kaulich, Geschichte, S. 239–241; Leutwein, Jahre, S. 152–159. 759 BayHStA HS 2372, Demmler, Tgb., 1898–99; BA-K N 1669/1, Lindequist, Erlebnisse.
4. Herrschaftspraktiken
wonach sämtliche im ›Schutzgebiet‹ vorhandenen Schusswaffen registriert werden sollten.760 Da die Kapitäne Willem Christiaan (Bondelzwarts) und Paul Fredriks (Bethanier) befürchteten, diese Maßnahme sei eine Vorstufe zur vollständigen Entwaffnung aller Indigenen, suchten sie sich zu entziehen.761 Dabei fiel den Deutschen ein Brief in die Hände, in dem Willem Christiaan seinen Bethanier-Amtskollegen auf die »Landeszustände, in denen wir uns gegenwärtig befinden« hinwies und anregte, dass alle NamaKapitäne sich treffen sollten, »um miteinander brüderlich zu verhandeln«.762 Leutwein sah in einer solchen Vereinigung die Gefahr von Unruhen. Er begab sich daher nach Süden, um die beiden Kapitäne zur Räson zu bringen. Dabei bildeten die vier Kanonen Demmlers nicht nur den Kern von Leutweins Streitmacht, sondern zugleich ein zentrales Element seines Plans.763 Am 5. Oktober erreichte er mit seiner Truppe den Ort Gibeon, wo sogleich die Loyalität Hendrik Witbois öffentlich sichtbar inszeniert wurde. Demmler beschreibt das Geschehen folgendermaßen:764 »Um 8.00 kommt Leutwein […]. Ebenso Hendrik Witboi in einem mit 6 Maultieren bespannten Wagen vorn u. hinten von Leuten zu Pferd begleitet, welche zu zweien reiten. Alle mit dem bekannten weißen Tuch um den Kopf. Leutwein bringt Hoch auf Witboi aus. […] Einzug in Gibeon durch Bögen u. unter Glockengeläute. Alles hat geflaggt. Auch Hendrik u. sein Unterkapitän Samuel Isaak. Vor Hendriks Haus nimmt Leutwein Vorbeimarsch ab. Ersterer steht neben letzterem, sehe ihn nur flüchtig; alter Mann mit grauem Bart, klein u. schmächtig.« Angesichts eines solchen Spektakels leistete der ebenfalls in Gibeon erschienene Bethanier-Kapitän keinerlei Widerstand; vielmehr gab er sich Demmler zufolge Leutwein gegenüber als »willfährig«.765 Bevor Leutwein unter Mitnahme Fredriks nach Keetmanshoop weiterzog, unterließ er es nicht, ein Übungsschießen der Kanonen zu veranstalten, welches die gewünschte Wirkung nicht verfehlte und »auf die zuschauenden Witbois (Hendrik war auch da) u. sonstigen Eingeborenen großen Eindruck« machte.766 Noch effektvoller wurde die Ankunft im Bezirkshauptort des Südens zelebriert, wohin auch Willem Christiaan zitiert worden war. Nachdem die in Keetmanshoop stationierte Garnison der Truppe des Landeshauptmanns entgegenmarschiert war, konnten am 17. Oktober 1898 zwei Kompanien berittener Schutztruppe mitsamt den Kanonen dort einziehen. Da sich bereits andere loyale Nama-Kontingente in Keetmanshoop befanden und am nächsten Tag Hendrik Witboi mit dreißig seiner Leute hinzukam, notierte Demmler in sein Tagebuch: »In Keetmanshoop sieht es bunt aus.«767
760 BayHStA HS 2372, Demmler, Tgb. (8.9.1898) (Zitat); Leutwein vom 29.3.1897, VO betr. Einführung von Feuerwaffen und Munition, abgedruckt in: DKG 2, S. 334–336. 761 Drechsler, Südwestafrika, S. 111; BA-K N 1669/1, Bl. 64, Lindequist, Erlebnisse. 762 Willem Christiaan (Warmbad) an Paul Fredriks vom 15.6.1898, Schreiben, abgedruckt in: Leutwein, Jahre, S. 153. 763 BayHStA HS 2372, Demmler, Tgb. (10., 19.9.1898). 764 Ebd. (5.10.1898); vgl. BA-K N 1669/1, Bl. 64, Lindequist, Erlebnisse. 765 BayHStA HS 2372, Demmler, Tgb. (6.10.1898). 766 Ebd. (8.10.1898). 767 Ebd. (17., 18.10.1898).
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Angesichts dieser für das menschenarme Südwestafrika stattlichen Machtentfaltung wagte der Kapitän der Bondelzwarts es erst mehrere Tage darauf, in Keetmanshoop zu erscheinen. Zweifellos von Leutwein kalkuliert, wurde Willem Christiaan vorläufig aber nicht zu ihm vorgelassen. Stattdessen sollte zuerst ein weiteres Spektakel seine Wirkung entfalten. Obwohl Demmler erst wenige Monate im ›Schutzgebiet‹ war, blieb ihm nicht verborgen, dass die tags darauf abgehaltene Parade sämtlicher deutscher und einheimischer Kontingente »eigentlich den Zweck hatte, den Bondels die Stärke der Truppe vor Augen zu führen.«768 Erst nach dieser neuerlichen show of force ließ Leutwein die dreitägigen Verhandlungen gegen die beiden Angeklagten eröffnen. Bezeichnenderweise übertrug er dabei Lindequist den Vorsitz, während vier Kapitäne der benachbarten Gruppen (Witboi, Franzmann-Nama, Berseba, Veldschoendrager) als Beisitzer fungierten. Lindequist erinnerte sich im Nachhinein an schwierige Beratungen, bei denen er mit seinem Vorschlag, Willem Christiaan und Paul Fredrik »des Hochverrats gegen die deutsche Regierung für schuldig zu befinden, nicht durchdrang«. Besonders Hendrik Witboi habe dies abgelehnt und die beiden mit dem Einwand zu entlasten gesucht, sie hätten die Verordnung über die Waffenregistrierung lediglich missverstanden. Tatsächlich gab sich Lindequist am Ende mit dem Vorwurf einer Verletzung der ›Schutzverträge‹ zufrieden, während Leutwein eine Entschädigungszahlung als Strafe verhängte, um die Kosten der Expedition auszugleichen.769 Auch das weitere Programm verlief als kalkulierte Inszenierung. Am 25. Oktober 1898 wurde eine »Ratsversammlung« abgehalten, in der Leutwein die Kapitäne zu Wohlverhalten ermahnte und ihnen nochmals den Zweck der Gewehrregistrierung erläuterte. Hendrik spielte erneut mit, indem er die Kapitäne ebenfalls um Vertragstreue bat. Zuletzt soll er sogar an die Adresse Leutweins ein Wort des Dankes »für die friedliche Lösung der Frage« ausgesprochen haben.770 Wie schon in Gibeon bestand auch in Keetmanshoop der Abschied aus einem demonstrativen Übungsschießen der Feldbatterie.771 Alles in allem dürfte ein solcher Ablauf Leutweins Vorstellungen entsprochen haben: Ein offener Kampf war vermieden worden, trotzdem war es gelungen, unter Einbeziehung äußerlich loyaler Kapitäne die ›Schuldigen‹ zum Nachgeben zu veranlassen. Auch hatte er sich nach seiner eigenen Einschätzung weder zu streng noch zu milde verhalten. Da er zudem davon überzeugt war, die Indigenen hätten vor seinen Kanonen »eine geradezu wahnsinnige Angst«, glaubte er, das »obligate Imponierungsschießen« würde eine nachhaltige Wirkung entfalten und bei den Einheimischen jeden Gedanken an künftigen Widerstand unterbinden.772 Wo eine solche show of force nicht ausreichte, scheute auch Leutwein nicht davor zurück, radikalere Mittel anzuwenden. Beispielsweise hatte er bereits im März 1894 den Khauas-Kapitän Andries Lambert hinrichten lassen, da dieser »sein altes Räuberleben
768 Ebd. (22.10.1898). 769 BA-K N 1669/1, Bl. 65f., Lindequist, Erlebnisse; BayHStA HS 2372, Demmler, Tgb. (22., 23., 24.10.1898). 770 Ebd. (25.10.1898). 771 Ebd. (26.10.1898). 772 Leutwein, Jahre, S. 23 (Zitat 1); BayHStA HS 2372, Demmler, Tgb. (13.9.1899) (Zitat 2).
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fortzusetzen« beabsichtigt habe.773 Bei den beiden chiefs der Ostherero, Nikodemus und Kahimemua, hatte er zwar anfangs ihre Begnadigung erwogen, sich dann aber von Lindequist dazu überreden lassen, dass »ein Exempel statuiert werden müsse.« Den Grund für deren Erschießung lieferte wiederum der vorausgegangene Widerstand gegen das Vorschieben der europäischen Siedlungsgrenze.774 Bei der Tötung einzelner ›Schuldiger‹ sollte es jedoch nicht bleiben. Als sich zur Jahreswende 1897/98 die Gruppen der Zwartboi und der Topnaar sowie Teile der Westherero erhoben, reagierte die Kolonialadministration nach der blutigen Niederschlagung der Unruhen, indem sie die Überlebenden kurzerhand umsiedelte und zur Zwangsarbeit heranzog. Dazu kamen Entschädigungen in Form von Viehablieferungen und Landabtretungen.775 Weniger folgenschwer, doch im Prinzip vergleichbar, gestaltete sich das Vorgehen gegen den Herero-Kapitän Tjetjo und dessen Sohn Traugott. Beide ergaben sich im Spätjahr 1899 in ihr Schicksal, nachdem Leutwein wieder einmal seine Kanonen hatte auffahren lassen.776 Dabei wurde Traugott kurzerhand nach der Residenz Samuel Mahareros, dem Rivalen seines Vaters, verbannt.777 Die Forschung ist bislang im Hinblick auf die Charakterisierung dieser Form einer ›Häuptlingspolitik‹ der nachträglichen Selbststilisierung Leutweins gefolgt. Dessen postulierte Analogie zum mittelalterlichen Lehnsrecht und zur »Stellung des römisch-deutschen Kaisers im Mittelalter zu den Stammesherzögen« ist seit Helmut Bley immer wieder rezipiert worden.778 Demzufolge habe Leutwein diese Auffassung nicht nur selbst vertreten, sondern den historischen Vergleich zugleich instrumentalisiert, um sein Vorgehen »gegenüber ungeduldigen Behörden in Berlin« zu »erklären«.779 Abgesehen von der generellen Problematik einer Gleichsetzung der Wechselbeziehungen zwischen den Großen des Heiligen Römischen Reiches mit dem auf rassistischen Hierarchiezuschreibungen basierenden modernen Kolonialismus führt auch eine Auswertung der Quellen zu anderen Ergebnissen.780 Einerseits lässt sich feststellen, dass in keinem einzigen amtlichen Bericht aus der Feder Leutweins der Mittelalter-Vergleich Verwendung fand, so dass von einer auf diesem Wege stattgefundenen Erläuterung seines Handelns gegenüber Kolonialabteilung und Reichskanzler keine Rede sein kann. Auch in seinen übrigen Selbstzeugnissen griff der Gouverneur nirgends auf dieses Bild zurück. Es handelt sich lediglich um eine kurze Passage in seiner im Jahr 1905 erstmals erschienenen Rechtfertigungsschrift, in der er seine Politik gegenüber den Kapitänen mit dem Verhältnis des römisch-deutschen Kai-
773 Leutwein, Bestrafung, S. 320; vgl. Kaulich, Geschichte, S. 218. 774 BA-K N 1669/1, Bl. 38–40, Lindequist, Erlebnisse (Zitat); BA-B N 2146/40, Lindequist (Seeis) an König vom 26.7.1896, Schreiben; vgl. Kaulich, Geschichte, S. 235f. 775 Leutwein, Hereros, S. 490; Kaulich, Geschichte, S. 238f. 776 BayHStA HS 2372, Demmler, Tgb. (13.-15.9.1899). 777 Kaulich, Geschichte, S. 239–241. 778 Leutwein, Jahre, S. 240 (Zitat). Die vermeintliche Mittelalter-Analogie wurde u.a. übernommen von: Bley, Kolonialherrschaft, S. 65–69; Kaulich, Geschichte, S. 89; Häussler, Genozid, S. 93. 779 Bley, Kolonialherrschaft, S. 67 (Zitate). 780 Wenig überzeugend mutet daher der Versuch an, Leutweins Postulat mit Hilfe der historischen Mediävistik zu untermauern: Bley, Kolonialherrschaft, S. 66f.
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sers zu den Herzögen gleichzusetzen suchte.781 Im Zusammenhang mit seinem Rücktritt wird noch darauf zurückzukommen sein, dass Leutwein sich nach dem Beginn der Erhebung von Herero und Nama dem Vorwurf ausgesetzt sah, gegenüber den indigenen Machthabern ein verfehltes Vorgehen an den Tag gelegt und damit den Imperialkrieg begünstigt zu haben. Sein Buch stellte daher in erster Linie den Versuch dar, sich selbst gegenüber diesen Anschuldigungen reinzuwaschen. Ausschließlich vor diesem Hintergrund muss daher auch sein Mittelalter-Vergleich verstanden werden. Dieser stellt lediglich einen Baustein bei dem Versuch dar, sein Scheitern als Gouverneur umzudeuten und seine administrativen Praktiken durch eine konstruierte Analogie zu dem von den Zeitgenossen überwiegend positiv konnotierten Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches nachträglich zu adeln. Dass auch Leutwein im Endziel eine bürokratisch geprägte Kolonialverwaltung vorschwebte, wobei den Kapitänen lediglich eine temporäre Rolle als intermediäre Ansprechpartner zugedacht war, belegt ein Blick auf den weiteren Ausbau der Behördenorganisation in Südwestafrika.782 Die Landeshauptmannschaft, die anfangs in ihrer Untergliederung eher einer militärischen Kommandobehörde glich, wurde binnen weniger Jahre zu einem zivilen Gouvernement erweitert, das sich durch eine ressortorientierte Aufteilung in mehrere Fachreferate auszeichnete.783 Auch die Anzahl der Beamten wuchs bis kurz nach der Jahrhundertwende auf annähernd zweihundert, von denen die Mehrzahl sich wiederum in Windhuk befand.784 Die Lokalverwaltung war bis zum Ende von Leutweins Amtszeit auf sechs Bezirks- und dreizehn Distriktämter angewachsen, wozu noch zwei selbständige Militärdistrikte kamen.785 Eine gewisse Professionalisierung dieser Behörden lässt sich nicht zuletzt anhand einer teilweisen Delegierung des Verordnungsrechts ablesen.786 Sogar Leutwein selbst sah sich bald mehr als Beamter denn als Offizier. Im Zusammenhang mit dem Lieblingsthema der militärischen Elite, den anstehenden Beförderungen, schrieb er im Frühjahr 1898 an einen ehemaligen Kameraden in Deutschland: »Mir solls bereits egal sein, da ich Civilist geworden bin.«787 Dass es sich trotzdem weiterhin um eine mängelbehaftete ›Verwaltung‹ handelte, soll keineswegs bestritten werden. Entscheidend sind aber die Zielvorstellungen. Diese entsprachen bei Leutwein ebenso wie bei den meisten seiner Amtskollegen einer zwar 781 Leutwein, Jahre, S. 240. 782 Das stellt auch Bley, Kolonialherrschaft, S. 69–73, fest, löst jedoch den Widerspruch zu seiner Mittelalter-These nicht auf. 783 NAN ZBU A.II.F.1, Bd. 1, Geschäftsordnung für die Landeshauptmannschaft in Windhuk vom 1.1.1896; Kaulich, Geschichte, S. 90. Handelte es sich 1896 noch um die vier Geschäftsfelder Zentralbüro, militärisches Büro, Hauptkasse und Proviantamt, bestand das Gouvernement drei Jahre später aus zehn Referaten mit klar voneinander abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen. 784 JB 1902/03, S. 3201. Danach bezifferten sich am 1.1.1903 alle im Schutzgebiet befindlichen Regierungsbeamten und Schutztruppenangehörigen zusammen auf 939 Mann. Der Anteil der Schutztruppe ist auf etwa 750–760 Mann anzusetzen, so dass die Zahl der Beamten etwa 180–190 betragen haben dürfte. Vgl. Kaulich, Geschichte, S. 151. 785 Ebd., S. 99. 786 Leutwein vom 23.11.1903, Verfügung betr. Übertragung des Verordnungsrechts, abgedruckt in: DKG 7, S. 259. 787 Leutwein (Karlsruhe) an Major Fritz vom 14.5.1898, Postkarte (Privatbesitz).
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provisorischen und in ihrem Umfang reduzierten, sich aber dennoch an bürokratischen Grundsätzen und am Ideal eines Territorialstaats orientierenden Administration. Dass Leutwein stattdessen das Bild eines afrikanischen Mittelalter-Revivals vor Augen gehabt haben soll, erscheint dagegen abwegig. Darüber hinaus verlor Leutweins aus der anfänglichen eigenen Schwäche resultierende Einbindung der Kapitäne nicht nur angesichts der sich langsam verdichtenden Landesverwaltung zunehmend an Bedeutung. Wesentlicher für den Charakter des kolonialen Regimes in Deutsch-Südwestafrika war vielmehr die Tatsache, dass dieses ›Schutzgebiet‹ zur Siedlungskolonie auserkoren wurde. Angesichts der enormen Größe des Landes, der eine zahlenmäßig sehr geringe indigene Bevölkerung gegenüberstand, wäre bei ausschließlicher Berücksichtigung der verfügbaren Bodenfläche eine dauerhafte Niederlassung der kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf rund 16.000 Personen angewachsenen Siedlergesellschaft keineswegs unmöglich gewesen. Das entscheidende Hemmnis bestand jedoch darin, dass die landwirtschaftlich nutzbaren Landstriche einen verhältnismäßig geringen Teil der Gesamtfläche ausmachten. Diese Grassteppen waren allerdings keineswegs ›herrenlos‹, sondern stellten vielmehr das angestammte Weideland und somit die Lebensgrundlage der rinderzüchtenden Herero dar. Konflikte waren daher vorprogrammiert. Leutwein erkannte dieses Problem frühzeitig, doch belegt die Fortsetzung seiner ›Häuptlingspolitik‹, dass er offenbar glaubte, die letzte Konsequenz – die Enteignung der Herero – hinauszögern und dadurch in geordnete Bahnen lenken zu können. Daher müssen seine lange vor dem Beginn des Herero-Krieges geäußerten Absichten, wonach die »ganze Zukunft der Kolonie in dem allmählichen Übergang des Landes aus den Händen der arbeitsscheuen Eingeborenen in europäische Hände« liege, in erster Linie als Formulierung eines Fernziels interpretiert werden.788 Ebenfalls auf längerfristige Intentionen deuten seine Bemühungen, die Konzessionsgesellschaften aus dem Geschäft mit dem Landbesitz der Einheimischen weitgehend auszuschließen und stattdessen die Siedlungspolitik zur alleinigen Domäne des Gouvernements zu machen.789 Gerade dieses Spiel auf Zeit brachte Leutwein wiederholt den Vorwurf des Zauderns sowie der Gewährung übermäßiger Zugeständnisse an die indigene Bevölkerung ein, was wiederum zu Konflikten in und außerhalb der Kolonie führte.790 Sein Stellvertreter Lindequist drohte beispielsweise im Februar 1896 mit Rücktritt, nachdem Leutwein
788 Leutwein an Reichskanzler vom 13.12.1894, Bericht, zitiert nach: Pool, Maharero, S. 124–127; vgl. Leutwein (Windhuk) an Viehe vom 22.10.1895, Schreiben, zitiert nach: ebd., S. 143f., worin er einen späteren »Vernichtungskampf« vorhersagte. Vgl. Kapitel 3.2.2. 789 BA-B R 1001/2032, Bl. 52–55, Leutwein (Grootfontein) an Kayser vom 27.8.1895, Schreiben; vgl. Estorff an seine Eltern vom 27.11.1894, Schreiben, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 60f.; BA-K N 1145/2, Leutwein vom 27.8.1902, Aufzeichnung; ebd., Leutwein vom 5.2.1903, Aufzeichnung; BA-K N 1669/1, Bl. 6–8, Lindequist, Erlebnisse. 790 Vgl. Estorff an seine Eltern vom 21.6.1895 und 22.4.1896, Schreiben, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 98f., 104f., 147. Allgemein hierzu: Bley, Kolonialherrschaft, S. 52f.; Kaulich, Geschichte, S. 223f.
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aus taktischen Erwägungen die Siedlungsgrenze vorübergehend zugunsten der Herero hatte zurückverlegen lassen.791 Wenig später forderte auch die Kolonialabteilung, in der »Herero-Frage« endlich zu einer grundlegenden Entscheidung zu gelangen.792 Eine Distanzierung gegenüber dem Landeshauptmann wird selbst anhand eines Privatbriefs deutlich, den dieser an den Personalchef in Berlin adressiert hatte. Darin hatte Leutwein einem seiner Offiziere unterstellt, »nervös im höchsten Grade« zu sein. König notierte bezeichnenderweise lapidar die Frage an den Rand: »er oder L[eutwein]?«.793 Angelo Golinelli, der Referent für Südwestafrika, vermerkte einige Jahre später zu einem anderen Bericht des Gouverneurs: »Nach […] zuverlässigen Mitteilungen scheint man die Eingeborenen etwas mit GlaceHandschuhen anzufassen.«794 Auch Schnee gab vor allem eine in der Berliner Zentrale vorherrschende Ansicht wieder, wenn er notierte, dass »Leutw[ein] […] seine Unfähigkeit […] glänzend dargetan« habe.795 Die Ablehnung der Praktiken Leutweins ging schließlich so weit, dass bereits in den Jahren 1902 und 1903 von verschiedenen Seiten die Rede davon war, dass der Gouverneur »bald durch Lindequist ersetzt werden« würde.796 Dabei war der zeitweilige Stillstand der europäischen Besiedlung durch den Ausbruch einer verheerenden Rinderseuche inzwischen beendet worden. Im Zuge dieser Epidemie waren große Teile der Viehherden der Einheimischen zugrunde gegangen. Kurz darauf hatte zudem unter den Herero selbst ein Massensterben eingesetzt, was vor allem auf die nach dem Verlust ihrer Existenzgrundlage auftretenden Mangel- und Folgeerkrankungen zurückzuführen war.797 Die auf diese Weise scheinbar freigewordenen Nutzflächen wurden wiederum an siedlungswillige Europäer veräußert, so dass allein zwischen 1898 und 1902 rund 140 Farmen mit einer Fläche von zusammen fast 11.000 Quadratkilometern guten Weidelandes zum Verkauf gelangten.798
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BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 4.2.1896, Schreiben; BA-B N 2146/50, Lindequist (Seeis) an König vom 26.7.1896, Schreiben; vgl. BA-K N 1669/1, Bl. 24–28, Lindequist, Erlebnisse; Estorff an seine Eltern vom 14.3. und 16.4.1896, Schreiben, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 142, 144f.; Pool, Maharero, S. 145–147. KA an Leutwein vom 29.5.1896, Erlass, zitiert nach: Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 112; vgl. BA-B N 2272/4, S. 146, Schuckmann, Tgb. (9.6.1896). BA-B N 2146/39, Leutwein (Omaruru) an König vom 31.8.1896, Schreiben (Marginalie König). BA-B R 1001/2033, Bl. 58, Leutwein (Windhuk) an KA vom 21.8.1903, Bericht (Marginalie Golinelli). BA-K N 1053/131, Bl. 8–11, Schnee (Berlin) an Solf vom 19.9.1901, Schreiben. Estorff (Windhuk) an Vater und Geschwister vom 1.2.1902, Schreiben, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 245; BA-B N 2345/15, 78f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 4.2.1903, Schreiben (Zitat). Angesichts der massiven Kritik, die Leutwein nicht nur seitens der Zentralbehörde erfuhr, verwundert die Behauptung in Häussler, Genozid, S. 92f., der Gouverneur habe sich »eine beachtliche Autonomie« verschaffen können, so dass er im Vorfeld des Herero-Krieges auf eine »persönliche Machtstellung« bauen konnte. Siehe hierzu auch die folgenden Ausführungen. BA-B N 2146/40, Lindequist (Windhuk) an König vom 5.7.1897, Schreiben; Estorff (Outjo bzw. Omaruru) an seine Eltern vom 15.7., 9.8., 13.9., 16.10.1897, 16.4., 2.6., 8.7.1898, Schreiben, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 165f., 168f., 171–175, 186–188, 190–193; vgl. BA-K N 1669/1, Bl. 52f., Lindequist, Erlebnisse; Leutwein, Jahre, S. 160; Bley, Kolonialherrschaft, S. 164–166; Pool, Maharero, S. 176f. JB 1903/04, S. 2987; Bley, Kolonialherrschaft, S. 173–175; Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 81f.
4. Herrschaftspraktiken
Für die Herero brachten diese Jahre massive Veränderungen ihrer traditionellen Lebensweisen mit sich. Sie sahen sich nach dem teilweisen Verlust ihrer Lebensgrundlagen häufig gezwungen, Lohnarbeit auf den Farmen der Europäer anzunehmen. Zugleich suchten Kaufleute durch dubiose Warenkreditgeschäfte weitere Ländereien an sich zu bringen. Dazu kamen kaum geahndete Übergriffe der immer zahlreicheren Ansiedler gegen die indigene Bevölkerung, nicht zuletzt aber auch sich konkretisierende Absichten zur Einrichtung von Reservationen. Diese Entwicklung mündete schließlich am 12. Januar 1904 in einen eruptiven Gewaltausbruch seitens der Herero, die damit das Ziel verfolgten, die »Herrschaft der Deutschen ab[zu]schütteln«.799 Das Geschehen kam für die meisten Europäer im ›Schutzgebiet‹ völlig überraschend. Bei Leutwein, der zu diesem Zeitpunkt mit dem Gros seiner Streitmacht im Süden der Kolonie gegen die Bondelzwarts vorging, war das nicht anders. Ähnlich wie er es schon im Sommer 1894 mit Hendrik Witboi praktiziert hatte, suchte er sogleich mit Samuel Maharero, dem formellen Oberhaupt der Gegenpartei, in brieflichen Kontakt zu treten.800 In Berlin zeigte man sich dagegen alarmiert, als der Gouverneur berichtete, dass die Siedlerbevölkerung die Hauptschuld am Krieg treffe, da diese die »Eingeborenen so schlecht wie möglich« behandelt habe. Es sei daher unabdingbar, »eingeborene Bundesgenossen zu suchen, ohne solche können wir fortgesetzt siegen, aber schwer zu einem Endziel gelangen.«801 Wenig überraschend erreichte ihn am 20. Februar ein Telegramm des Kolonialdirektors mit der Anordnung, »von allen zweiseitigen Verhandlungen mit Hereros abzusehen und bedingungslose Unterwerfung zu verlangen«. Sollte sich dennoch eine günstige Gelegenheit ergeben, so seien »Verhandlungen unter allen Umständen nur mit Genehmigung Seiner Majestät zu beginnen«.802 Leutweins Gegenvorschlag, wenigstens unverbindliche Unterhandlungen führen zu dürfen, da diese die Kriegführung erleichtern und »Opfer an Blut« sparen würden, blieb dagegen unbeantwortet.803 Leutwein suchte nicht zuletzt deshalb in den darauffolgenden Wochen eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld herbeizuführen. Doch endeten die vier im März und April 1904 stattgefundenen Gefechte wenig günstig für die Kolonialmacht. Bei den beiden letzten hatte der Gouverneur persönlich die Führung übernommen, dabei aber rasch feststellen müssen, dass er mit der Führung von bis zu eintausend Mann starken Truppenkörpern im Kampf gegen einen zum Teil unsichtbaren Gegner überfordert war.804 Auch seitens des Generalstabes traf den Gouverneur der »Vorwurf des Miss-
799 Über die Entstehungszusammenhänge des Hererokrieges existiert eine umfangreiche Literatur: Häussler, Genozid, S. 37–70; Bley, Kolonialherrschaft, S. 166–188; Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 159–174; Pool, Maharero, S. 209–224; BA-K N 1783/1, Eich, Tgb. (15.1.1904) (Zitat). Der Missionar gibt die (übersetzten) Worte eines Herero vom Waterberg wieder. 800 Pool, Maharero, S. 237; Samuel Maharero an Leutwein vom 6.3.1904, Schreiben, abgedruckt in: Gründer, Deutschland, S. 151f.; Drechsler, Südwestafrika, S. 149; Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 168f. 801 BA-B R 1001/2033, Bl. 63f., Leutwein (Kalkfontein) an Obkdo. d. Schutztr. vom 28.1.1904, Bericht. 802 BA-B R 1001/2112, Bl. 26, Stuebel an Leutwein vom 20.2.1904, Telegramm; Pool, Maharero, S. 237. 803 BA-B R 1001/2112, Bl. 55, Leutwein (Windhuk) an KA vom 23.2.1904, Telegramm. 804 Über die mangelhafte Operationsführung Leutweins äußerte sich der Hauptmann Victor Franke drastisch: Franke, Tgb., S. 356, 364, 366 (11.3., 9., 13.4.1904). Zur Anfangsphase des Hererokrieges: Drechsler, Südwestafrika, S. 150f.; Kuß, Militär, S. 82f.; Häussler, Genozid, S. 142–149.
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erfolgs«, so dass Leutwein von sich aus am 25. April die Entsendung eines »höheren Offiziers, welcher volles Vertrauen des Generalstabes besitzt« beantragte. König gegenüber erklärte er später, er habe seine »Demission als Truppenkommandeur eingegeben, weil mir der Generalstab zu sehr hereinredete – auf 2.000 Meilen.«805 Die damit beabsichtigte Aufteilung der zivilen und militärischen Funktionen stellte sich Leutwein in der Weise vor, dass der künftige Kommandeur die Operationen gegen die Herero führen sollte, während er selbst diesem »als Gouverneur mit Rat zur Seite stehen« würde.806 Dass Leutwein mit diesem Antrag offene Türen einrannte, belegt die rasche Reaktion aus Berlin. Bereits am 4. Mai kabelte Reichskanzler Bülow, dass der ehemalige Schutztruppenkommandeur von Ostafrika, der inzwischen zum Generalleutnant avancierte Trotha, mit dem Kommando betraut werde.807 Falls Leutwein gedacht haben sollte, es handele sich dabei ausschließlich um eine funktionale Aufgabenteilung bei gleichzeitiger Vorrangstellung des Gouverneurs, dann sah er sich bald getäuscht. Trotha hatte vielmehr das bisherige Vorgehen Leutweins aus der Ferne als »planloses Herumirren in der Gegend östlich Okahandja« kritisiert und damit den Kaiser überzeugen können, dass nur mit Hilfe umfassender Vollmachten ein rascher Erfolg gegen die Herero möglich sei.808 Vermutlich sah sich der General nicht zuletzt durch seine Erfahrungen in Ostafrika bestärkt, wo er bekanntlich von Wißmann kaltgestellt worden war.809 Am folgenreichsten war daher die Regelung, dass Trotha »für die Dauer des Kriegszustandes« unter kaiserlichem Oberbefehl stehen und seine Weisungen unmittelbar vom preußischen Generalstab empfangen würde.810 Mit dieser Maßregel wurde zugleich die ›vollziehende Gewalt‹ im ›Schutzgebiet‹ auf den Kaiser rückübertragen, wobei Trotha fortan als Vertreter des Monarchen vor Ort fungierte. Die Verkündung des Kriegszustandes bedeutete somit, dass der Kommandeur faktisch dem Gouverneur übergeordnet war, was ihm Eingriffe in die zivile Sphäre ermöglichte.811 Dieser Übergang gouvernementaler Befugnisse an den militärischen Befehlshaber offenbart sich in einer weiteren Allerhöchsten Kabinettsorder vom 28. Juli 1904. Darin bestimmte der Kaiser explizit die Übertragung »sämtlicher dem Gouverneur als Inhaber der obersten militärischen Gewalt zufallenden Rechte und Pflichten […] auf den Kommandeur der Schutztruppe«.812
805 BA-B N 2146/39, Leutwein (Windhuk) an König vom 30.7.1904, Schreiben. Es sind hier offensichtlich ›deutsche‹ Meilen gemeint. 806 BA-B R 1001/2114, Bl. 53, Leutwein (Okahandja) an Generalstab vom 25.4.1904, Telegramm. 807 Leutwein, Jahre, S. 522; vgl. Franke, Tgb., S. 374f. (5., 6.5.1904); Pool, Maharero, S. 262. Dagegen ist die Vermutung wenig plausibel, Leutwein habe erst durch seine erfolglose Kriegführung im Frühjahr 1904 »allen Kredit bei den vorgesetzten Stellen verspielt«. So aber: Häussler, Genozid, S. 149. Siehe hierzu auch die Ausführungen weiter oben. 808 Trotha, Tgb., zitiert nach: Pool, Maharero, S. 263. Dass es sich bei Trotha um den Wunschkandidaten des Kaisers handelte, geht aus einem Bericht des bayerischen Militärbevollmächtigten in Berlin hervor: BayHStA MKr 803, K.B. Militärbevollmächtigter an K.B. Kriegsministerium vom 10.5.1904, Bericht; Kuß, Militär, S. 83. 809 Siehe Kapitel 4.3.1. 810 BA-MA N 38/35, Wilhelm II. vom 19.5.1904, A.K.O. 811 Kennel, Stellung, S. 40f. 812 BA-MA RM 2/1867, Bl. 146, Wilhelm II. vom 28.7.1904, A.K.O.
4. Herrschaftspraktiken
Der Machtverlust Leutweins war auch dadurch äußerlich sichtbar, dass der Generalleutnant Trotha zugleich der militärische Vorgesetzte des Obersten Leutwein war, was nicht zuletzt durch das Exzellenz-Prädikat beim ersteren zum Ausdruck kam. Leutwein stand dieser Titel dagegen nicht zu.813 Das einzige Refugium, das ihm belassen wurde, erschöpfte sich in seiner Funktion als Behördenleiter und den Befugnissen im Bereich des Personalwesens. Dieser massive Verlust an Handlungsspielräumen setzte bezeichnenderweise schon vor der Ankunft Trothas am 11. Juni 1904 ein. Zu Beginn dieses Monats hatte den Gouverneur ein Telegramm des Generalstabes erreicht, wonach ihm unter Berufung auf den Kaiser ausdrücklich untersagt wurde, irgendwelche Schritte gegen die »Hereros in den Waterbergen vor Eintreffen der noch zu erwartenden Verstärkung« zu unternehmen.814 Leutwein reagierte auf zweierlei Weise. Einerseits war er sich über das Ausmaß seiner Entmachtung vollauf bewusst, weshalb er seine Abreise nach Deutschland vorzubereiten begann. Am 26. Mai schrieb er nach Berlin, dass sein Gesundheitszustand bedenklich sei. Dabei führte er ein »nervöses Leiden« an, »dessen gründliche Beseitigung – wenn überhaupt – nur in der Heimat möglich sein wird.« Zusätzlich beklagte er sich über den mangelnden Rückhalt durch seine vorgesetzte Behörde. So fühle er sich auf seinem Posten lediglich geduldet, gleichzeitig aber von der »öffentlichen Meinung in der Heimat« angegriffen: »Solange diese ganz offen darüber debattiert, dass ich lediglich noch diesen Krieg zu führen und dann zu verschwinden haben würde, ohne dass dem von irgend einer Seite entgegengetreten wird, glaube ich keine Veranlassung zu einem gesundheitlichen Opfer zu haben.« Er sprach daher die Erwartung aus, »mich im Notfalle für berechtigt halten zu dürfen, […] behufs Wiederherstellung meiner Gesundheit jederzeit meinen Heimatsurlaub anzutreten.«815 Ein zweiter Schritt bestand in einem Versuch, den Konflikt mit den Herero möglichst rasch zu beenden, ohne dass dieser in einen »unabsehbaren Guerillakrieg« von unbestimmter Dauer einmünden würde. Am 3. Juni setzte Leutwein daher die Kolonialabteilung davon in Kenntnis, dass er eine Proklamation an die Herero vorbereitet, vorläufig aber noch nicht verkündet habe. Zu diesem Schritt hatten ihn jedoch nicht etwa humanitäre Gründe veranlasst, als vielmehr die Überzeugung, dass es unmöglich sei, die »Masse des Volkes [der Herero zu] ›umzingeln‹ und so zur Ergebung zu zwingen.«816 Stattdessen riet Leutwein dazu, einen Keil zwischen die Herero zu treiben, indem man denjenigen, die an »allen den bösen Sachen, die geschehen sind, keine Schuld tragen«, das »Leben schenken« solle. Bestraft werden sollten dagegen nur diejenigen Herero, die »weiße Leute ermordet und deren Wohnsitze ausgeraubt haben«.817 Trotha sah dagegen in dieser Proklamation den Auftakt für eine von ihm nicht gewünschte, »gnadenreiche Kriegführung«, weshalb er die Herausgabe unbedingt verhindert wissen wollte.818
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Der Titel wurde erst im Herbst 1905 pauschal an alle Gouverneure verliehen. Siehe Kapitel 4.5.2. BA-B R 1002/1104, Bl. 85, Generalstab an Leutwein vom 4.6.1904, Telegramm. Ebd., Bl. 79, Leutwein an KA vom 26.5.1904, Bericht. BA-B R 1001/2115, Bl. 112, Leutwein (Windhuk) an KA vom 3.6.1904, Bericht. Ebd., Bl. 113, Leutwein vom 30.5.1904, Proklamation an das Volk der Hereros. Auch abgedruckt in: Häussler, Genozid, S. 153, Anm. 29; Pool, Maharero, S. 264. 818 Trotha, Tgb. (22.6.1904), zitiert nach: Häussler, Genozid, S. 153, Anm. 30.
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Entsprechend dominant gestaltete sich Trothas Auftreten nach seiner Ankunft in Südwestafrika. Sogleich zitierte er den Gouverneur in sein Hauptquartier nach Okahandja zur Befehlsausgabe. Zu diesem Zusammentreffen kam es am 21. Juni, wobei der General dem Obersten gegenüber erklärte, dass er »allgemein mit der Durchführung einer entscheidenden Offensive schon jetzt, bevor die Verstärkungen eingetroffen seien, nicht einverstanden sei«.819 In seinem Schwanken zwischen Rücktritt und Gehorsam hatte Leutwein sich kurz zuvor noch dazu aufgerafft, die Truppen gegen die in der Waterberg-Gegend versammelte Masse der Herero aufmarschieren zu lassen. Trotha wollte den Schlachtenerfolg aber weder dem Rivalen überlassen noch durch ein übereiltes Vorgehen und ohne irgendwelche »Rücksichten wegen Bedrohung von Etappenlinien und des friedlichen Teiles der Kolonie« gefährden.820 Dass Leutwein trotzdem nach Berlin telegraphierte, er habe in Okahandja »volles Einverständnis mit Herrn von Trotha erzielt«, dürfte lediglich den Versuch darstellen, seine Brüskierung als Gouverneur zu kaschieren. Auch hatte er von Trotha den Auftrag entgegengenommen, im August 1904 nach dem Süden des Schutzgebietes zu reisen, um die dortigen Kapitäne und ihre Leute ruhig zu halten.821 Ebenso wie Wißmann im Frühjahr 1896 mit ihm selbst verfahren war, schickte jetzt Trotha den Gouverneur Leutwein möglichst weit weg vom Ort des Geschehens. Letzterer scheint sich zeitweise mit dieser Nebenrolle abgefunden zu haben. Zwar machte er sich kaum Illusionen über den weiteren Fortgang seiner Amtszeit, schrieb er doch am 30. Juli 1904 an König: »Im Übrigen ›ave Caesar, morituri te salutant!‹ kann ich jetzt sagen.«822 Nichtsdestotrotz ging Leutwein davon aus, noch bis zum »nächsten Frühjahr« in der Kolonie ausharren zu müssen. Dabei gab er zu, dass es weder seine Erkrankung noch die Herero seien, die für seinen Weggang verantwortlich zeichnen würden. Die Verantwortung schob er vielmehr auf die »braven, weißen Ansiedler«, die sich seiner Ansicht nach »wie die ungezogenen Kinder« benähmen und »fanatisch« eine »krasse und kostspielige Unterdrückungspolitik […] den Eingeborenen gegenüber verlangen!« In Zukunft sei daher ein »Gouverneur mit eisernem Besen« nötig, der seiner Meinung nach aber binnen weniger Jahre ebenfalls scheitern müsse. Ebenso wie auf dem zivilen Sektor war auch Leutweins Einschätzung der militärischen Situation resignativ: »Mag jetzt Se. Exzellenz [Trotha] sehen, wie er fertig wird!« Tatsächlich vollzog sich der Zug gegen die Herero ohne Einspruchsmöglichkeiten des Gouverneurs. Trotzdem einige Offiziere an Trothas Absichten – fast ausschließlich militärfachliche – Bedenken hegten, kam es am 11. August 1904 zur sogenannten Schlacht am
819 BA-MA N 103/73, Bl. 41f., Lettow-Vorbeck, Tgb. (21.6.1904) (Zitat); vgl. Drechsler, Südwestafrika, S. 155; ebenso: Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 181, der das Treffen irrtümlich auf den 13.6.1904 datiert. 820 BA-MA N 103/73, Bl. 41f., Lettow-Vorbeck, Tgb. (21.6.1904) (Zitat); vgl. Pool, Maharero, S. 264f.; Häussler, Genozid, S. 154f. 821 BA-B R 1001/2115, Bl. 79, Leutwein (Windhuk) an KA vom 25.6.1904, Telegramm (Zitat); Drechsler, Südwestafrika, S. 155; Pool, Maharero, S. 265f. 822 BA-B N 2146/39, Leutwein (Windhuk) an König vom 30.7.1904, Schreiben. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben.
4. Herrschaftspraktiken
Waterberg.823 Dass die dabei von Trotha gewünschte Einkreisungs- und Vernichtungsoperation fehlschlug, wusste einige Jahre später noch Schuckmann zu kommentieren: »Die Waterbergschlacht ist eigentlich eine große Niederlage gewesen. Trotha – Deimling. Der alte Fehler hier regieren wollen und die Verhältnisse nicht kennen.«824 Tatsächlich ging das Konzept des Generals nicht auf. Der Masse der Herero war es vielmehr gelungen aus dem vermeintlichen Kessel auszubrechen und unbehelligt in Richtung Omaheke-Wüste abzuziehen. Nachdem auch deren Verfolgung angesichts mangelnder Beweglichkeit der Schutztruppe weitgehend fehlgeschlagen war, ging Trotha kurzerhand dazu über, alle erreichbaren Wasserstellen zu besetzen, um die überlebenden Herero in der Wüste verdursten zu lassen oder aber ins benachbarte Britisch-Betschuanaland abzudrängen.825 Leutwein nahm das aus der Ferne verfolgte Geschehen zum Anlass, um am 7. September ein Urlaubsgesuch an den Reichskanzler zu richten, da er sich in der Kolonie nunmehr als »abkömmlich« ansah. Angesichts der »übermächtigen Militärgewalt« plädierte er zugleich dafür, mit seiner Stellvertretung als Gouverneur ebenfalls Trotha zu betrauen, weil jeder andere von diesem ohnehin »vollständig in den Hintergrund gedrängt« würde. Für seine eigene Person kalkulierte Leutwein inzwischen aber mit einer späteren Rückkehr ins ›Schutzgebiet‹. Dabei ging er davon aus, dass Trotha bald selbst urlaubsreif sein würde und er dann dessen Platz als Truppenkommandeur einnehmen könne.826 Gegenüber der Kolonialabteilung machte er zugleich deutlich, dass er »auf Wiederübernahme der Geschäfte als Gouverneur […] keinen besonderen Wert legen« würde, da er seine »Tätigkeit […] mit der Wiederherstellung normaler Zustände im Schutzgebiete auf alle Fälle für abgeschlossen halte«.827 Das Schreiben wurde in Berlin als Verzichterklärung auf den Gouverneursposten gewertet.
823 Beispiele für Zweifel an Trothas Vorgehen: BA-MA N 103/73, Lettow-Vorbeck, Tgb. (5.8.1904); BA-K N 1030/39, Bl. 347f., 355, 357f., Franke, Tgb. (21.7., 5., 6., 7.8.1904); BA-MA N 38/5, Bl. 33–35, Arnold Lequis (Swakopmund) an seinen Vater vom 21.8.1904, Schreiben; ebd., Bl. 39–42, Arnold Lequis (Swakopmund) an seinen Vater vom 25.9.1904, Schreiben. 824 BA-B N 2272/3, Schuckmann, Tgb. (14.5.1908). 825 Die sogenannte Schlacht am Waterberg, das Abdrängen der Herero in die Omaheke sowie das dadurch letztlich ausgelöste Massensterben wurden seitens der Forschung ebenso ausführlich wie kontrovers diskutiert, weshalb an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen werden soll. Zuletzt tendierten die meisten Studien dazu, das Geschehen als Genozid einzuordnen. Beispiele: Barth, Genozid, S. 128–136; Bley, Kolonialherrschaft, S. 202–205; Dedering, German-Herero War; Drechsler, Südwestafrika, S. 156–164; Gewald, Refugees; Häussler, Genozid, S. 154–232; Hull, Destruction, S. 33–63; Kundrus, Grenzen; dies., Unterschiede; Kuß, Militär, S. 78–101; Lau, Certainities; Spraul, Völkermord; Steinmetz, Eingeborenenpolitik; Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 180–191; Zimmerer/Zeller, Völkermord; Zimmerer, Genozid. 826 BA-B R 1002/1104, Bl. 87f., Leutwein (Windhuk) an Reichskanzler vom 7.9.1904, Bericht (persönlich). 827 Ebd., Bl. 86, Leutwein (Windhuk) an KA vom 7.9.1904, Bericht (persönlich).
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Einen Monat später – Trotha hatte kurz zuvor seine bekannte Proklamation, die alle Hereros unterschiedslos zu Staatsfeinden erklärte, herausgegeben – beantragte ein sichtlich desillusionierter Leutwein erneut seine Heimreise:828 »Glaube hier nicht mehr von Nutzen zu sein. Meine Versöhnungspolitik zwischen Weißen und Eingeborenen erscheint gescheitert. Die jetzt allerseits gewünschte Gewaltpolitik widerspricht meiner Überzeugung. Ich sehe von ihr jahrelanges Blutvergießen und daher kein Gedeihen für die Kolonie voraus. Außerdem Wiedervereinigung von Zivil- und Militärgewalt in jetziger Zeit dringend erforderlich. Als Gouverneur ohne Verfügungsrecht über Truppe zur Machtlosigkeit verurteilt, dabei doch verantwortlich.« Zu diesem Zeitpunkt hatte er allerdings die Nachricht erhalten, dass sich auch die Nama gegen die deutsche Herrschaft erhoben hatten. Obwohl der Gouverneur sich unverzüglich anschickte, nach dem Süden des ›Schutzgebietes‹ aufzubrechen, beauftragte Trotha jedoch nicht ihn, sondern den Obersten Berthold Deimling mit der Leitung der dortigen Operationen.829 Als Leutwein wenig später erfuhr, dass sich noch vor der vermeintlichen Entscheidung am Waterberg eine Möglichkeit ergeben hätte, mit einem der Herero-Kapitäne ein separates Unterwerfungsabkommen zu schließen, Trotha dies aber brüsk zurückgewiesen habe, kam es zum offenen Bruch zwischen Gouverneur und Kommandeur. Bei dieser Gelegenheit trat nochmals zu Tage, wie gering seine Spielräume inzwischen geworden waren. Leutwein kabelte deshalb Ende Oktober 1904 nach Berlin und bat »um Feststellung, wieviel politische Macht und Verantwortlichkeit dem Gouverneur noch zufällt.«830 Gleichzeitig beklagte er Trotha gegenüber, »wie machtlos die Stellung des Gouverneurs von Südwestafrika gegenwärtig ist«, so dass er sich »selbst als überflüssig geworden ansehe«. Es sei daher besser, die politische und militärische Verantwortlichkeit »sichtbar vor aller Welt in der Hand einer Militärdiktatur« zu vereinen. Gleichzeitig erklärte er dem General aber auch, »dass eine Vernichtungspolitik gegen die Eingeborenen, mögen diese auch noch so sehr gefehlt haben, meiner Überzeugung über das, was für die Zukunft der Kolonie ersprießlich ist, widerspricht.« Dass dem Standpunkt Leutweins auch diesmal nicht etwa Erwägungen der Humanität zugrunde lagen, belegt einerseits die Begründung, dass das Vorgehen Trothas in erster Linie jahrelange Unruhen und damit wirtschaftlichen Stillstand zur Folge haben würde. Andererseits zielte Leutweins Alternativvorschlag darauf ab, die Indigenen zwar nicht physisch zu vernichten, sie stattdessen aber dauerhaft »politisch recht- und machtlos« zu halten. Auch nach elf Jahren im Land und vielfältigen Kontakten mit den verschiedenen ethnischen Gruppierungen, stellten die Menschen des Landes für ihn lediglich ein Arbeiterpotential dar, das es aus
828 BA-B R 1001/2033, Bl. 132, Leutwein (Windhuk) an KA vom 13.10.1904, Telegramm. Den Text hatte er am 9.10.1904 entworfen. BA-B R 1002/1104, Bl. 89. Trotha vom 4.10.1904, Proklamation. Auch abgedruckt in: Gründer, Deutschland, S. 152f. 829 BA-MA N 559/7, Bl. 19, 2. Feldregiment, KTB (13.10.1904). 830 BA-B R 1001/2089, Bl. 21, Leutwein (Rehoboth) an KA vom 23.10.1904, Telegramm.
4. Herrschaftspraktiken
ökonomischen Erwägungen zu erhalten, künftig aber einer stärkeren Repression zu unterwerfen galt.831 Trotha konterte auf die Kritik Leutweins, indem er diesen beschuldigte, die Situation im Süden des ›Schutzgebietes‹ falsch eingeschätzt zu haben, weshalb man auch von der Erhebung der Nama überrascht worden sei. Darüber hinaus schrieb er an den Generalstab, dass er angesichts des Vorwurfes wegen des ausgeschlagenen Unterwerfungsangebotes eine »Zusammenarbeit mit Leutwein nicht mehr für möglich« halte. Im Bewusstsein seines nach wie vor ungebrochenen kaiserlichen Rückhalts bot er zugleich seinen eigenen Rücktritt an.832 Auch Leutwein erklärte daraufhin ein »weiteres Zusammenarbeiten« mit dem General »für ausgeschlossen«, klammerte sich aber an die vage Hoffnung, Trotha könnte ihm »wenigstens im Bezirk Keetmanshoop einen selbständigen Wirkungskreis« einräumen.833 Dazu sollte es jedoch nicht kommen, so dass aufmerksame Beobachter den Gouverneur bereits »zum zweitenmal kaltgestellt« sahen.834 Tatsächlich verbot Trotha dem Gouverneur wenige Tage darauf nicht nur jegliche »politischen Abmachungen« mit den Nama, sondern darüber hinaus auch jeden selbständigen Nachrichtenverkehr mit der Kolonialabteilung, wovon lediglich explizite »Verwaltungssachen« ausgenommen blieben.835 Das Ende dieses unhaltbaren Zustandes brachte schließlich ein Telegramm des Reichskanzlers, worin dieser die Abreise Leutweins genehmigte und ihn zugleich davon in Kenntnis setzte, dass Lindequist als sein Nachfolger »in Aussicht genommen« sei.836 Leutwein verließ daraufhin am 30. November 1904 Südwestafrika. Gut eine Woche später erhielt auch Trotha ein Telegramm aus Berlin, in dem er von dem Ergebnis eines langen Tauziehens zwischen dem Reichskanzler auf der einen und Kaiser und Generalstab auf der anderen Seite in Kenntnis gesetzt wurde. Generalstabschef Schlieffen ordnete darin an, dass entgegen von Trothas Proklamation vom 4. Oktober fortan allen »sich freiwillig stellenden Hereros gegenüber Gnade« zu üben sei. Mit Ausnahme der »unmittelbar Schuldigen und den Führern« sei ihnen das Leben zu garantieren, wobei die Rheinische Mission mit der Betreuung der Überlebenden beauftragt werden solle.837 Vorläufig blieb Trotha aber nicht nur Kommandeur der Schutztruppe, sondern auch Stellvertreter des abwesenden Gouverneurs. Leutweins Nachfolger sollte erst ein Jahr später eintreffen. Bis dahin verlagerte sich der Schwerpunkt des Krieges in den Süden des ›Schutz831
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Ebd., Bl. 24f., Leutwein (Rehoboth) an Trotha vom 24.10.1904, Schreiben. Zu Leutweins Absichten etwa in Bezug auf eine Ausweitung der körperlichen Züchtigung: BA-B R 1001/5378, Bl. 207f., Leutwein (Windhuk) an KA vom 30.8.1904, Bericht. BA-B R 1001/2089, Bl. 103, Trotha (Windhuk) an Chef des Generalstabs vom 28.10.1904, Telegramm (Zitat); ebd., Bl. 100–102, Trotha (Windhuk) an Leutwein vom 5.11.1904, Schreiben; vgl. Drechsler, Südwestafrika, S. 164f. BA-B R 1001/2089, Bl. 26, Leutwein (Rehoboth) an KA vom 30.10.1904, Bericht (geheim). BA-K N 1783/1, Eich, Tgb. (30.10.1904). BA-B R 1001/2089, Bl. 91, Trotha (Windhuk) an Leutwein vom 10.11.1904, Schreiben (Zitate); Bley, Kolonialherrschaft, S. 205. NAN ZBU A.II.H.2, Bd. 1, v. Bülow an Leutwein vom 11.11.1904, Telegramm. In der Kolonialabteilung hatte man längst mit dem »bevorstehenden Rücktritt des jetzigen Gouverneurs« gerechnet: BA-B R 1001/5378, Bl. 209, Schmidt-Dargitz vom 24.10.1904, Vermerk. BA-B R 1001/2089, Bl. 48, Schlieffen an Trotha vom 8.12.1904, Telegramm (Zitate). Hierzu: Bley, Kolonialherrschaft, S. 205–207; Häussler, Genozid, S. 282–289.
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gebietes‹, entwickelte sich dabei aber immer mehr zu einem Guerillakrieg, der sich noch erheblich in die Länge ziehen sollte.
4.4 Gouverneure in Ozeanien Während namentlich in den mit Schutztruppen versehenen deutschen Kolonien in Afrika in den Jahren 1904/05 eine koloniale Krisis entstanden war, lässt sich für die ›Schutzgebiete‹ in Ozeanien eine vergleichbare Entwicklung nicht konstatieren. Zwar war in Deutsch-Neuguinea ebenso wie in Samoa eine analoge Administration mit Gouverneuren an der Spitze sowie mehr oder minder umfangreichen Lokalbehörden erst vergleichsweise spät entstanden, doch fällt bereits auf den ersten Blick ein hohes Maß an personeller Kontinuität bei den dortigen Spitzenbeamten auf. Die Geschichte kolonialer Herrschaft in der ›deutschen Südsee‹ lässt sich daher kaum von den beiden langjährigen Gouverneuren Albert Hahl und Wilhelm Solf trennen. Deren Stellenwert reicht über die Historiographie hinaus. Beispielsweise entwickelte sich der Name des zwischen 1896 und 1914 als Kaiserlicher Richter, Vizegouverneur und schließlich als Gouverneur von Neuguinea amtierenden Hahl im Bewusstsein eines Teils der indigenen Bevölkerung zum regelrechten Eponym. Tatsächlich titulierten die Einheimischen des Bismarckarchipels den jeweiligen dort seit 1914 residierenden australischen Gouverneur kurzerhand als »Doctor Hahl Inglis«.838 In dieselbe Richtung verweist die Tatsache, dass Hahl auch Jahrzehnte später in Papua-Neuguinea als Briefmarken-Konterfei zu einer Art nationaler Identifikationsfigur werden konnte.839 Auch Solf war nach seinem Weggang aus Samoa immer wieder Gegenstand einer idealisierenden Verklärung seitens der dortigen indigenen Bevölkerung.840 Es scheint daher nicht nur aufgrund der langen Amtszeiten dieser beiden Akteure, sondern auch und vor allem wegen ihrer Bedeutung für die Ausprägungen des kolonialen Projekts vor Ort angezeigt, Hahl und Solf in den Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen zu stellen.
4.4.1 Der Ausnahme-Gouverneur? Albert Hahl in Neuguinea Das koloniale Wirken Hahls in Ozeanien beschränkte sich keineswegs auf seine Amtszeit als Gouverneur. Als er sieben Jahre vor seiner Ernennung zum obersten Beamten von Deutsch-Neuguinea erstmals den Boden dieses ›Schutzgebietes‹ betrat, stand dieses noch nicht einmal unter Reichsverwaltung. Damals, Anfang 1896, war dort noch die privatrechtlich organisierte Deutsche Neuguinea-Compagnie tonangebend.841 In deren Auftrag vertrat Hahl als Kaiserlicher Richter die öffentlichen Belange im östlichen Bezirk der Kolonie, dem Bismarckarchipel. Dort oblagen ihm die »Geschäfte des Standesamtes« ebenso wie die Aufgaben einer kaum existenten »Landesverwaltung«.842 838 Hiery, Reich, S. 316. 839 Vgl. etwa die Abbildung einer Briefmarke aus Papua-Neuguinea aus dem Jahr 1988, in: ders., Kolonien, S. 105. 840 Ders., Reich, S. 313. 841 Hierzu allgemein: Ders., Verwaltung Neuguineas, S. 280–299. 842 BayHStA M Inn 65266, KA an Hahl vom 17.10.1895, Erlass.
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Nachdem sein Vorgänger Herbertshöhe (Kokopo), den Hauptort seines Zuständigkeitsbereichs, vorzeitig verlassen hatte, wurde Hahl unmittelbar nach seinem Übertritt von der bayerischen Landesverwaltung in den Kolonialdienst ans andere Ende des Globus in Marsch gesetzt.843 Die sonst übliche aktenmäßige Einarbeitung in Berlin entfiel damit ebenso wie die seinen späteren Gouverneurskollegen in Neuguinea und Samoa gebotene Möglichkeit, zunächst in der ostafrikanischen Küstenregion erste Eindrücke kolonialer Praxis zu sammeln.844 Auch an seinem Wirkungsort fand er kaum die Ansätze von ›Verwaltung‹ vor, standen ihm doch nur zwei europäische Hilfskräfte sowie zwei Dutzend einheimische ›Polizeijungen‹ zur Seite.845 Da sein nächster Vorgesetzter, der im Zusammenhang mit Ostafrika bereits erwähnte und zwischenzeitlich zum Landeshauptmann von Neuguinea aufgestiegene Hugo Rüdiger, sich in dem mehr als achthundert Kilometer entfernten Friedrich-Wilhelmshafen (Madang) mit ähnlich provisorischen Bedingungen abfinden musste, besaß Hahl in diesen Anfangsjahren kolonialer Administration eine weitgehende Eigenständigkeit. Die sich für ihn daraus ergebenden Spielräume zeichneten vermutlich auch dafür verantwortlich, weshalb er den drei Jahren als Kaiserlicher Richter einen überproportionalen Anteil in seiner Erinnerungsschrift einräumte. Darin berichtet Hahl, dass ihm zwar eine Fülle von Aufgaben übertragen worden sei, doch hätten »in Wahrheit« nur die »Dampfertage« ein erhöhtes Arbeitspensum für ihn bedeutet. Tatsächlich trafen nur alle zwei Monate per Schiff Anweisungen aus Berlin ein; im selben Turnus waren auch die eigenen Berichte zu versenden. Ebenfalls auf einzelne Tage im Monat habe sich die Notwendigkeit zur Schlichtung von Streitfällen unter den wenigen Europäern der Umgegend ergeben.846 Angesichts dieser überschaubaren Arbeitsbelastung setzte sich Hahl bald eigene Ziele:847 »Ich hatte also Zeit für die Verwaltung und ging in der Einstellung zu meinen Pflichten davon aus, dass eine wirkliche Entwicklung des Landes nur möglich erschien, wenn nach dem Vorbilde anderer Kolonien es auch in Neuguinea gelang, den Eingeborenen in eine geordnete Verwaltung einzubeziehen […].« Ein Problem stellte jedoch der Mangel an Ressourcen dar. Kurz vor Ablauf seiner dreijährigen Dienstperiode schrieb Hahl dementsprechend an seinen Nachfolger: »Wir sind arm und haben nur das Notwendigste hier […].« In Herbertshöhe sei »mit absoluter Mittellosigkeit [zu] rechnen«, weshalb man gezwungen sei, »stets mit dem eigenen Leibe alle Arbeit zu vollführen.«848
843 Vgl. Hahl, Gouverneursjahre, S. 36, 39. 844 Siehe Kapitel 4.3.1. Hahl schreibt in seinen Erinnerungen, dass auch er ursprünglich zunächst nach Ostafrika hätte gehen sollen: Ebd., S. 36. 845 Ebd., S. 47f.; vgl. BA-B R 8133/2, S. 13, Neu Guinea Compagnie, Geschäftsbericht der Direktion, 1896/97. 846 Hahl, Gouverneursjahre, S. 47f. Allgemein zu den Arbeitsroutinen in Ozeanien: Hiery, Reich, S. 36–38. 847 Hahl, Gouverneursjahre, S. 46. 848 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 2.7.1898, Schreiben.
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Das war keine Übertreibung, konnte Hahls Bezirk im Rechnungsjahr 1896/97 doch lediglich über ein Ausgabenbudget von 104.000 Mark verfügen, wovon der Löwenanteil auf die Betriebskosten der Plantagen der Compagnie entfiel. Für die eigentliche Landesverwaltung blieb wenig übrig.849 Nicht einmal ein eigenes Boot stand Hahl zur Verfügung. Für Inspektionsreisen innerhalb des Inselarchipels sah er sich vielmehr gezwungen, ein Fahrzeug zu leihen oder – sofern zufällig vor Ort – die Dienste eines deutschen Kriegsschiffs in Anspruch zu nehmen.850 Anstatt zu resignieren, begriff der aus einer sozialen Aufsteigerfamilie kommende Hahl diese Ausgangsbedingungen aber als Herausforderung und vertrat die Ansicht, solche Schwierigkeiten »würzt[en] nur das Dasein«.851 Tatsächlich begann der damals 27-jährige bald nach seiner Ankunft eine Art allgemeinen ›Landfrieden‹ anzustreben und somit die Anwendung physischer Gewalt zu monopolisieren. Bis dahin war es stattdessen üblich gewesen, dass die indigenen Kleingruppen Streitigkeiten aller Art untereinander im günstigsten Fall durch Entschädigungszahlungen, nicht selten aber auch durch reziproke Gewaltanwendung regelten.852 Bei seinem Unterfangen griff Hahl auf zwei keineswegs neuartige Instrumente zurück. Einen Schwerpunkt seines Vorgehens bildete die konsequente Ahndung von Handlungen, die das postulierte Gewaltmonopol der Verwaltung verletzten. Die zweite Maßnahme bestand darin, eine indigene Hilfsverwaltung zu etablieren, auf die Hahl die niedere Gerichtsbarkeit sowie die Umsetzung einfacher administrativer Aufgaben zu delegieren beabsichtigte. Die Ansätze zur Erreichung dieser Zielsetzungen entsprachen seinen begrenzten Mitteln. Hahl unternahm von Anfang an Touren ins Umland von Herbertshöhe, bei denen er versuchte, mit den bikmen in Kontakt zu treten. Diesen erklärte er dann, dass fortan die »Blutrache und der Weg der Selbsthilfe verboten« seien. »Streitigkeiten und Anliegen« sollten vielmehr ausschließlich ihm persönlich vorgetragen werden.853 So rasch, wie erhofft, stellte sich die Aufhebung traditioneller Schlichtungsmechanismen jedoch nicht ein. Hahl selbst schrieb, er sei häufig auf ein »unüberwindliches Misstrauen« bei den Einheimischen gestoßen. Beispielsweise soll eines der Clanoberhäupter auf eine seiner Ansprachen ungerührt geäußert haben: »Deine Worte mögen für den Weißen passen, das geht mich nichts an.«854 Die in Hahls Selbstzeugnissen geschilderte Ablehnung geht auch aus der offiziösen Überlieferung hervor. Danach wurden vorläufig
849 BA-B R 8133/2, S. 18f., Neu Guinea Compagnie, Geschäftsbericht der Direktion, 1896/97; BA-B R 1001/2985, Bl. 139–144, Hahl (Herbertshöhe) an Kayser vom 25.8.1896, Schreiben. Im Geschäftsjahr 1897/98 wies die Compagnie für die ganze Kolonie (westlicher und östlicher Bezirk) Ausgaben für die Landesverwaltung in Höhe von 91.850 Mark aus, davon entfiel fast die Hälfte auf die Gehälter der europäischen Beamten. Ein weiterer Posten von 26.930 Mark betraf deren Dienstreisen, während 9.300 Mark für die einheimischen Polizisten aufgewendet wurden. BA-B R 1001/2418, Neu Guinea Compagnie, Geschäftsbericht der Direktion, 1897/98. 850 Hahl, Gouverneursjahre, S. 48. Noch im Jahresbericht für 1901/02 klagte Gouverneur Bennigsen, dass die Verwaltungsgeschäfte in Ermangelung eines eigenen Seefahrzeugs »außerordentlich« behindert würden. JB 1901/02, S. 5295; vgl. Haberberger, Kolonialismus, S. 177. 851 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 2.7.1898, Schreiben. 852 Hiery, Reich, S. 96–104. 853 Hahl, Gouverneursjahre, S. 49; vgl. Parkinson, Südsee, S. 23. 854 Hahl, Gouverneursjahre, S. 66f. (Zitate); ders., Jahre, S. 14.
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fast ausschließlich Zusammenstöße zwischen Einheimischen und Europäern vor dem Bezirksgericht in Herbertshöhe verhandelt, kaum dagegen Delikte, die die Indigenen untereinander betrafen.855 In den ersten Monaten seiner Amtszeit fielen auch die Urteilssprüche Hahls kaum aus dem im kolonialen Kontext üblichen Rahmen. Einen indigenen Mann verurteilte er zu einem Jahr Zwangsarbeit, weil dieser sich gegen die Stockschläge seines europäischen Dienstherrn zur Wehr gesetzt und diesen dabei leicht verletzt hatte.856 Ähnlich hart hatte er kurz zuvor den Diebstahl eines Gewehrs und einer Pistole inklusive Munition geahndet. Der betreffende Melanesier sah sich zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt, aus der er allerdings nach einem Jahr vorzeitig entlassen wurde.857 Drastischer fiel Hahls Spruch aus, als es um den Mord an einem europäischen Händler namens Hilson ging. Er scheute sich nicht, den Täter, einen Angehörigen der Tolai namens Totaia, kurzerhand zum Tode zu verurteilen.858 In seiner Begründung gegenüber dem Landeshauptmann offenbart sich Hahls eigentliche Intention: Zwar gab er zu, dass Totaia zuvor durch »Hilsons unmenschliche Behandlung zu seiner Tat gereizt wurde«. Trotzdem könne er diesen Aspekt nicht als Milderungsgrund anerkennen, da »für die Ermordung eines Weißen unter allen Verhältnissen die schwerste Strafe als die einzig mögliche Sühne« erachtet werden müsse.859 Der Fall nahm eine unerwartete Wendung, nachdem Rüdiger die Bestätigung des Urteils wegen formaler Mängel verweigert hatte.860 Den Einwand wies Hahl zwar zurück, schrieb aber gleichzeitig, inzwischen könne er »es nicht mehr über mich bringen, nun nochmals für die Vollstreckung des Urteils einzutreten«. Seinen Sinneswandel begründete er damit, dass Totaia sich seit fünf Monaten angekettet im Gefängnis von Herbertshöhe befände, was »meines Erachtens eine Strafe so schwer als der Tod selbst« sei. Da der Mann dabei »furchtbar gelitten« habe, bat er stattdessen »um Begnadigung desselben«.861 Rüdiger wandelte daraufhin das Todesurteil in eine einjährige Zwangsarbeitsstrafe um, nach deren Verbüßung Hahl persönlich die Freilassung anordnete.862 Vergleicht man die geschilderten Einzelfälle, tritt Hahls Absicht klar zutage: Durch verhältnismäßig hohe Strafmaße ging es ihm in erster Linie um eine abschreckende Wirkung. Eine solche erschien ihm umso notwendiger, als es sich jeweils um Übertretungen
855 Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass geringfügige Streitfälle keinen schriftlichen Niederschlag gefunden haben. Vgl. GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 8.2.1899, Schreiben. Darin schreibt der Nachfolger Hahls, dass das Verfahren dann »kurz und bündig« gewesen sei. 856 AAC CRS G 255/15/171, Hahl (Herbertshöhe) vom 28.5.1896, Urteil. 857 AAC CRS G 255/15/173, Hahl (Herbertshöhe) vom 1.5.1896, Urteil. 858 AAC CRS G 255/15/170, Hahl (Herbertshöhe) vom 5.6.1896, Urteil. 859 Ebd., Hahl (Herbertshöhe) an Rüdiger vom 10.6.1896, Bericht. 860 Ebd., Rüdiger (Friedrich-Wilhelmshafen) an Hahl vom 21.[7].1896, Erlass. 861 Ebd., Hahl (Herbertshöhe) an Rüdiger vom 22.8.1896, Bericht. 862 Ebd., Rüdiger (Friedrich-Wilhelmshafen) an Hahl vom 29.8.1896, Erlass. Hahl erteilte die Weisung auf Entlassung am 4.9.1897. Am 25.10.1897 vermerkte Gerichtsschreiber Steusloff: »Totaia ist vom 20/8 bis heute wegen Geschlechtskrankheit im Hospital gewesen & heute in die Heimat entlassen.« Daher verwundert die Behauptung in Krug, Hauptzweck, S. 131, wonach dessen Entlassung im Dunkeln liegen soll. Vgl. Firth, New Guinea, S. 64.
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handelte, die die koloniale Dichotomie einschließlich der Unantastbarkeit der Europäer und ihrer waffentechnischen Überlegenheit gefährdeten. Dass es ihm dabei vor allem um einen temporären Effekt ging, belegt Hahls gleichzeitige Bereitschaft, die Strafen im Nachhinein wieder zu reduzieren.863 Erst seit der Jahreswende 1896/97 mehren sich in den Prozessakten die Hinweise, dass die indigene Bevölkerung auch bei ihren internen Auseinandersetzungen häufiger das Gericht in Herbertshöhe anzurufen begann.864 Dementsprechend verhandelte Hahl im Oktober 1896 den Fall eines Einheimischen, der seine Schwester mit einem Stein erschlagen hatte.865 Dem folgten Verhandlungen über Diebstähle oder Körperverletzungen, an denen ebenfalls nicht immer Europäer beteiligt waren. Bei solchen Gelegenheiten verhängte Hahl tendenziell weniger harte Strafen und ließ sich dabei nur zum Teil von den Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuchs leiten, gewannen doch Bußzahlungen in Form des einheimischen Muschelgelds (tambu) ebenso an Bedeutung wie beispielsweise die Anschauung, dass eine zur Tötung ihres Säuglings anstiftende Mutter weitaus härter bestraft wurde, als deren Schwester, die die Tat ausgeführt hatte.866 In dieselbe Richtung verweist der Umstand, dass Hahl bereits in den ersten Monaten seiner Anwesenheit die ›Rechtsanschauungen‹ der Bewohner des Umlands von Herbertshöhe persönlich kennenzulernen suchte.867 Auch die Umgangssprache des tok pisin scheint er sich rasch angeeignet zu haben. Tatsächlich findet sich in den Ausfertigungen der Gerichtsurteile immer häufiger der Vermerk, dass unmittelbar »im Pidgeon Englisch verhandelt« worden sei.868 Die Ehefrau eines Missionars liefert zudem einen Hinweis über die Atmosphäre dieser eher kleinteiligen Form der Rechtsprechung: »Dr. Hahl war heute da zu Tee, nachher hatte er im Garten Gerichtsverhandlung.«869 Zwar sollten die kurzfristigen Auswirkungen dieser Bestrebungen nicht überschätzt werden, doch gelang es Hahl binnen dreier Jahre, auf lokaler Ebene einen gewissen Vorrang der kolonialen Rechtsprechung durchzusetzen. Gleichzeitig hatte er aber auch die Grenzen seines Handelns erkennen müssen, stellte er doch unumwunden fest, dass er »nur so weit ausgreifen« konnte, »als ich den Raum stets beherrschte.«870 Dass er sich dabei lediglich »auf dem Nordrande der Gazellehalbinsel [als] Herr der Lage« wähnen konnte, dürfte angesichts seiner beschränkten Ressourcen nicht verwundern.871 Den punktuellen wie temporären Charakter dieser Form von ›Herrschaft‹ belegen nicht zuletzt die in Herbertshöhe wiederholt eintreffenden Nachrichten über Konflikte von Europäern mit einheimischen Clans oder der letzteren untereinander. Tatsächlich
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Vgl. Hiery, Reich, S. 128. Siehe hierzu die Strafprozessakten in: AAC CRS G 255/15/158-165, 176–178. AAC CRS G 255/15/167, Hahl (Herbertshöhe) vom 26.10.1896, Urteil. AAC CRS G 255/15/159, Hahl (Herbertshöhe) vom 17.12.1897, Urteil. Hahl, Rechtsanschauungen. Der Beitrag erschien 1897 und spiegelt seine ersten Erfahrungen wider. 868 Ders., Jahre, S. 14; AAC CRS G 255/15/160, Hahl (Herbertshöhe) vom 10.8.1897, Urteil (Zitat). Hiery, Reich, S. 49; Firth, New Guinea, S. 63. 869 Fellmann, Tgb., S. 51 (27.4.1897); GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 2.7.1898, Schreiben. 870 Hahl, Gouverneursjahre, S. 68. 871 Ebd., S. 73.
4. Herrschaftspraktiken
war der Einfluss der Verwaltung in den weiten Räumen außerhalb der Einzugsbereiche der beiden Bezirkshauptorte nach wie vor prekär. Wo eine ständige Präsenz fehlte, behalf man sich mit einer demonstrativen Erneuerung des eigenen Herrschaftswillens. Dazu bediente sich auch Hahl seiner bewaffneten Polizeitruppe, doch konnte er selten mehr als zwei Dutzend ›Polizeijungen‹ ins Feld führen. Angesichts einer in kleine und kleinste soziale Einheiten fragmentierten indigenen Bevölkerung war diese vergleichsweise »gut bewaffnete Truppe« aber allen potentiellen Gegnern »bedeutend überlegen«.872 Namentlich an Orten, wo es bereits zu bewaffneten Zusammenstößen gekommen war, konnte Hahl daher feststellen, dass in der Regel das bloße »Erscheinen der Truppe genügte, den Friedensschluss herbeizuführen«.873 Auch in der Inselwelt der Südsee endeten daher nicht wenige Strafzüge mit einem kalkulierten Säbelrasseln, erst an zweiter Stelle rangierte das Niederbrennen der von den Bewohnern zuvor fluchtartig verlassenen Dörfer, oft einhergehend mit der Zerstörung von Booten oder sonstigen Gebrauchsgegenständen. Die kollektive Gewaltanwendung gegen die Menschen selbst scheint dagegen die ultima ratio dargestellt zu haben.874 Zwar berichtete Hahl bereits nach wenigen Monaten nach Berlin, er habe »wiederholt das Kriegsbeil ausgraben müssen«, doch äußerte er einschränkend, »dass ich es ungern tue und mich lieber auf das Unterhandeln verlege.« Als Grund führte er an, dass selbst ein »Erfolg der Waffen« im günstigsten Falle lediglich die »Tötung einer Anzahl Leute, die nicht schnell genug laufen konnten« sowie eine »Niederbrennung der Gehöfte« bewirke. Der Nutzeffekt für die Verwaltung sei dann aber »stets ein recht fraglicher«, machten doch einseitige kriegerische Maßnahmen lediglich den bislang »gewonnenen Fortschritt« wieder zunichte.875 Insbesondere verfehlten diese das eigentliche Ziel, das im Aushandeln der Machtverhältnisse sowie deren möglichst dauerhafter Fixierung bestand.876 Diese angesichts der begrenzten Mittel ohnehin gebotene Intention wurde häufig durch eine mangelnde Kontrolle über die Polizeitruppe konterkariert. Deren Angehörige waren meist den traditionellen Kampfweisen eng verbunden, was in Kombination mit ihrer waffentechnischen Überlegenheit zu bedenklichen Erscheinungen führen konn-
872 Ebd., S. 48, 56; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.4.1899, Schreiben (Zitate). 873 Hahl, Gouverneursjahre, S. 54 (Zitat); vgl. Biskup, Hahl, S. 83. 874 Vgl. Krug, Hauptzweck, passim, der eine generelle Vernichtungsabsicht der deutschen Kolonialverwaltung in Ozeanien gegenüber den Einheimischen nachzuweisen sucht, damit aber mangels stichhaltiger Belege nicht zu überzeugen vermag. Siehe hierzu die folgenden Ausführungen. 875 BA-B R 1001/2985, Bl. 139–144, Hahl (Herbertshöhe) an Kayser vom 25.8.1896, Schreiben. 876 Vgl. Hahl, Gouverneursjahre, S. 52–76. Darin sind wiederholt Angaben enthalten über das Auffinden verlassener Dörfer, während nach dem Abzug seiner Truppe die Situation rasch wieder dieselbe wie zuvor gewesen sei. Auch in diesem Zusammenhang ist auf Niklas Luhmann zu verweisen, wonach die Anwendung von offener Gewalt als Instrument der Macht die gegenseitige Kommunikation unterbinde und sich letztlich auf die Zielsetzungen des Machthabers negativ auswirke. Luhmann, Macht, S. 23.
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te.877 Noch in seinen letzten Lebensjahren erinnerte sich Hahl in einem Brief an Schnee an das Problem der »Grausamkeit der Kanaken« im Rahmen von Strafexpeditionen:878 »Als ich einmal vor einem Angriff die völlige Schonung der Frauen und Kinder einschärfte, sagte mir der Unteroffizier Malom, an den Sie sich vielleicht noch erinnern: ›Erst die Frauen und Kinder töten, ist unsere Gewohnheit; dann stirbt der Feind aus und wir haben Ruhe.‹« Zwar kritisierte auch Schnee die Polizeisoldaten, die im »Vorgehen gegen den Feind in einen Zustand der Aufregung geraten, der sie alle Überlegung verlieren und auf jedes beim Feind auftauchende menschliche Wesen schießen lässt.«879 Andererseits lobte er gerade den von Hahl erwähnten indigenen Unteroffizier in den höchsten Tönen: Malom sei »zuverlässig und brav« gewesen und habe »seine Truppe in deutschen Kommandos wie ein heimischer Unteroffizier zu exerzieren« gewusst. Dabei taxierte Schnee die »Zahl der von ihm in seinen vielen Kämpfen, die er als Hauptstütze der Polizei im Laufe der Jahre mitgemacht hat, getöteten Eingeborenen auf mindestens 30.«880 Ein weiteres Instrument im Rahmen dieser Strategie der Abschreckung und Einschüchterung stellte der – verhältnismäßig seltene – Einsatz deutscher Kriegsschiffe dar, die sowohl mit ihren Landungstrupps als auch mit ihren weittragenden Geschützen ebenfalls Anteil an der show of force-Politik hatten. Der gewünschte Effekt ließ nicht lange auf sich warten. Ein bikman äußerte beispielsweise, »sie würden nun keinen Europäer mehr angreifen, da sie Angst vor dem Kriegsschiff hätten.«881 Diese Formen der zeitlich wie räumlich begrenzten Gewaltandrohung und -anwendung scheinen mancherorts durchaus eine dauerhafte Wirkung entfaltet zu haben. Das lässt sich etwa daran ermessen, dass in den letzten Jahren der deutschen Südsee-Präsenz einheimische Arbeiter auf Neupommern, wo Strafexpeditionen inzwischen nur noch selten vorkamen, allein mit den drohend ausgesprochenen Worten »Peiho« (Schiff), »Dorf niederbrennen« oder »Revolver« gefügig gemacht werden konnten. Dass dabei auch der Ausspruch »Doctor Hahl« Verwendung fand, deutet wiederum darauf hin, dass der Name des langjährigen Kolonialbeamten zumindest in Teilen des ›Schutzgebiets‹ bereits als Inbegriff von staatlicher Autorität empfunden wurde.882 In seiner Absicht, eine dauerhafte Herrschaft über Land und Leute zu etablieren, war Hahl dennoch längst zu dem Schluss gekommen, »dass eine bleibende Einwirkung auf die Eingeborenen nicht durch vorübergehende Strafunternehmungen, sondern nur
877 Beispiel: BA-B R 1001/2989, Bl. 178–187, Hahl (Traustadt) an KA vom 22.1.1903, Bericht. Zu den Analogien zwischen traditionellen Kampfesweisen und der Praxis bei Strafexpeditionen: Hiery, Reich, S. 130f.; Morlang, Askari, S. 108f. Allgemein zur dortigen bewaffneten Macht: ders., Polizeitruppe; ders. Askari, S. 97–113. 878 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Gern) an Schnee vom 12.9.1943, Schreiben; vgl. Schnee, Bilder, S. 334. 879 BA-B R 1001/2669, Bl. 7f., Schnee (Herbertshöhe) an KA vom 9.12.1899, Bericht. 880 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 24.4.1900, Schreiben. Malom war kurz zuvor an Schwindsucht verstorben. 881 Ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 24.9.1899, Schreiben. 882 Vogel, Forschungsreise, S. 200 (Zitate).
4. Herrschaftspraktiken
durch dauernden, regelmäßig wiederkehrenden Verkehr« erzielt werden könne.883 Neben den Bemühungen zur Aufrichtung einer kolonialen Strafgerichtsbarkeit dachte er dabei vor allem an die Etablierung einer ›Häuptlingsverwaltung‹. Wie in anderen Kolonien sollte diese eine Mittlerfunktion zwischen der Administration und den indigenen Gesellschaften übernehmen.884 Auch in dieser Hinsicht versuchte Hahl, die bei seinen Touren in die Umgebung seines Amtssitzes gemachten ethnographischen Beobachtungen in ein für ihn direkt verwertbares Herrschaftswissen umzumünzen.885 Dabei glaubte er feststellen zu können, dass bei den Einheimischen eine »allgemein anerkannte zwingende Gewalt außerhalb der Familie […] nicht vorhanden« sei. Lediglich im Rahmen von verwandtschaftlichen Beziehungen hätten sich gewisse Autoritätsformen herausgebildet. Dabei handelte es sich einerseits um die Familienoberhäupter, die innerhalb ihrer Clans eine fast allmächtige Stellung besessen hätten, bei »Unwürdigkeit« aber auch absetzbar gewesen seien.886 Zum anderen handelte es sich um die Würde des luluai, den Hahl als einen »Anführer im Kriege« interpretierte. Auch dessen Stellung sei ausschließlich vom persönlichen Ansehen des Inhabers abhängig gewesen. Auch seien diesem gegenüber nur diejenigen Männer gehorsamspflichtig gewesen, die sich ihm zuvor freiwillig angeschlossen hätten. Falls ein luluai über ein »besonderes Ansehen« verfügt habe, sei er auch außerhalb des Krieges zur Schlichtung von Streitfällen herangezogen worden. Als dessen traditionelle Insignien waren Hahl die besondere Kopfbedeckung sowie Halsband und Gürtel aufgefallen.887 Diese Beobachtungen brachten ihn auf den Gedanken, den etablierten luluai-Titel für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Hahls Erinnerungen zufolge sei es »nicht schwierig« gewesen, die Bewohner der Dörfer im Umland von Herbertshöhe dazu zu bewegen, »eines der Sippenhäupter ihrer Landschaft als ihren Luluai als ihr anerkanntes und mir gegenüber verantwortliches Haupt« zu benennen.888 In Anlehnung an die bisherigen Kennzeichen erhielten diese Amtsträger später von der Kolonialverwaltung besondere »Mützen, die mit unseren Postmützen eine große Ähnlichkeit haben und schwarze lange Stöcke mit silbernem Knopf drauf«.889 Auch die Delegierung der niederen Gerichtsbarkeit an die luluai knüpfte an Altbekanntes an, wurde nunmehr aber provisorisch institutionalisiert.890 Bereits im August 1896 behauptete Hahl selbstbewusst, »dass ich die Eingeborenen weit hinein unter meinen Einfluss gebracht habe.«891 In Wirklichkeit handelte es sich vorläufig aber um eine überschaubare Anzahl von Menschen. Auch benötigte er mehr als zwei Jahre, bis er gerade einmal 23 luluai eingesetzt hatte, eine Zahl, die sich bis zur Jahr-
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Hahl, Gouverneursjahre, S. 76. Hiery, Verwaltung Neuguineas, S. 301–303. Hierzu auch: Buschmann, Anthropology, S. 236–241. Hahl, Rechtsanschauungen, S. 73f. Ebd., S. 74. Ders., Gouverneursjahre, S. 58. GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.4.1900, Schreiben. Allgemein hierzu: Hiery, Reich, S. 116–118; Firth, New Guinea, S. 45, 64, 73–76. BA-B R 1001/2985, Bl. 139–144, Hahl (Herbertshöhe) an Kayser vom 25.8.1896, Schreiben.
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hundertwende etwa verdoppelte.892 Wie kaum anders zu erwarten, entsprach auch die Kommunikation zwischen Kolonialadministration und ihren neuen Amtsträgern keineswegs derjenigen eines bürokratisch organisierten Apparats. Als Hahl seinen Nachfolger auf die Verhältnisse vor Ort einzustimmen suchte, schrieb er diesem, er werde zweifellos die meiste Zeit auf »See und im Busche« verbringen müssen: »Dem Kanaker kann man nicht schreiben, er zieht meist auch vor, sich nicht zu zeigen, er muss, soweit unser Interesse dies erfordert, an den Haaren herbeigezogen werden.«893 Wie solche mündlichen Verhandlungen aussehen konnten, davon berichtet Schnee, der zwar ein geringeres Geschick im Umgang mit den Einheimischen besaß, doch dürfte Hahl angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Sprachen und Dialekte nicht selten vor vergleichbaren Schwierigkeiten gestanden haben:894 »Wenn wir dann an ein Dorf kommen, rülpse ich mich zur Begrüßung mit dem Häuptling an, dann bringt er mir Speer und Muschelgeld (tambu), sowie Betel als Geschenk. Wir führen eine Unterhaltung in der Eingeborenensprache, d.h. er spricht und ich tue, wie wenn ich es verstehe und lasse ab und zu die wenigen Worte, die ich kann, einfließen. Im übrigen sage ich maja = ja, oder aber ich wende die üblichere Form der Bejahung an: Ich mache ein möglichst nachdenkliches Gesicht, gucke ins Leere und bringe einen Ton hervor, der etwa in der Mitte zwischen ah, öh und fm steht und am ehesten noch mit dem Ton verglichen werden kann, den ein hartleibiger Mensch, der auf einem gewissen Ort drückt, hervorbringt.« Auch wenn eine provisorische Verständigung unter Heranziehung von Dolmetschern in dem meisten Fällen möglich war, lässt sich die begrenzte Leistungsfähigkeit einer derartigen ›Hilfsverwaltung‹ ermessen. War schon das persönliche Aufsuchen der indigenen Amtsträger kaum vermeidbar, stand der Aufrichtung einer neuzeitlichen Verwaltung noch eine weitere Schwierigkeit entgegen: Zwar sah Hahls Konzept eine Zuteilung fester Amtsbezirke an die einzelnen luluai vor, doch existierten solche Grenzen praktisch nur auf dem Papier.895 Es ist kaum anzunehmen, dass sich deren auf persönlichen Loyalitäts- bzw. Verwandtschaftsbeziehungen basierenden Vorstellungen von Macht und Einfluss derart rasch geändert hätten, dass von der Etablierung eines wirklichen Territorialitätsprinzips die Rede hätte sein können. Auch dauerte es mehrere Jahre, bis ein kleiner Teil der luluai »in der Eingeborenensprache lesen und schreiben« konnte, so dass die Administration erst nach der Jahrhundertwende in die Lage versetzt wurde, mit wenigen von ihnen auch »schriftlich [zu] verkehren«.896 Im Rahmen dieses Lernprozesses waren freilich beide Seiten gefordert. Im November 1900 schrieb beispielsweise der zwischenzeitliche Gouverneur Bennigsen, dass er alle seine Beamten zur Verbesserung der
892 Namentliche Auflistung vom 11.11.1898, abgedruckt in: Hiery, Verwaltung Neuguineas, S. 302; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.4.1900, Schreiben; JB 1899/1900, S. 991. 893 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 2.7.1898, Schreiben. 894 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.1.1899, Schreiben. 895 Namentliche Auflistung einschließlich der Amtsbezirke vom 11.11.1898, abgedruckt in: Hiery, Verwaltung Neuguineas, S. 302; vgl. Hahl, Gouverneursjahre, S. 58. 896 BA-B R 1001/4783, Bl. 146f., Schnee (Herbertshöhe) an Gouverneur vom 22.8.1900, Bericht.
4. Herrschaftspraktiken
Kommunikation mit den luluai zum regelmäßigen Sprachunterricht beim ortsansässigen Missionar verpflichtet habe.897 Überzogen waren auch die Erwartungen an die richterliche Tätigkeit der indigenen Amtsträger. Schnee berichtete beispielsweise, dass die Verleihung von Mütze und Stab bei manchen das »Selbstgefühl gleich allzusehr gehoben« und eine »Reihe von Amtsüberschreitungen« zur Folge gehabt habe. Dabei hätten sie ihre Befugnisse dazu benutzt, um sich selbst einen Zugewinn an Ansehen und Einfluss zu sichern oder sich kurzerhand materielle Vorteile zu verschaffen. Die Konsequenzen bestanden aus wiederholten Absetzungen oder Bestrafungen der Betreffenden.898 Als Hahl im Dezember 1898 den Bismarckarchipel vorläufig verließ, lobte Schnee ungeachtet solcher Mängel das bis dahin Erreichte und bezeichnete seinen Vorgänger als »Verwaltungstalent ersten Ranges«.899 Erst nach und nach scheint aber auch der Neuling erkannt zu haben, dass weder von einer effektiven Beherrschung des Raumes noch von einer wirklichen Landesverwaltung die Rede sein konnte. Die Amtstätigkeit des wenige Monate später eintreffenden ersten Gouverneurs von Deutsch-Neuguinea sollte diese Defizite aufs Neue offenbaren. Anders als von einigen Beobachtern erwartet, hatte nicht Hahl diesen Posten erhalten, sondern der bisherige stellvertretende Gouverneur und Finanzdirektor von Deutsch-Ostafrika, Rudolf v. Bennigsen.900 Zweifellos hatte dessen einflussreicher Vater diese Personalentscheidung begünstigt. Nachdem der Senior wenige Jahre zuvor dem ehemaligen Archivar Georg Irmer zum Eintritt in den Kolonialdienst verholfen hatte, verstand dieser es wiederum, innerhalb der Berliner Zentralbehörde das Ohr des Direktors Buchka für sich zu gewinnen und auf diesem Wege die Ernennung von Bennigsen Junior zu befördern.901 Dieses Vorhaben gelang umso leichter, als die Auswahl gleichzeitig dem in Beamtentum und Militär gängigen Anciennitätsprinzip entsprach. Tatsächlich konnte Bennigsen im Vergleich zu Hahl auf eine doppelt so lange koloniale Dienstzeit zurückblicken. Mit der Übernahme Deutsch-Neuguineas in die unmittelbare Reichsverwaltung am 1. April 1899 wurde Herbertshöhe zum Gouverneurssitz erhoben. Bennigsen sollte jedoch wenig Gelegenheit finden, sich längere Zeit dort aufzuhalten. Ähnlich wie bei Hahl
897 GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (Herbertshöhe) an Schnee vom 3.11.1900, Schreiben. 898 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.4.1900, Schreiben (Zitate); ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 11.9.1899, Schreiben; BA-B R 1001/4783, Bl. 146f., Schnee (Herbertshöhe) an Gouverneur vom 22.8.1900, Bericht; JB 1900/01, S. 2942. Allgemein zur Rechtsprechung der luluai: Hiery, Reich, S. 117–120. 899 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.1.1899, Schreiben (Zitat); ähnlich: ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 14.12.1898, Schreiben; Schnee, Gouverneur, S. 28. 900 Vgl. GStA PK Nl Schnee/52, Schmidt-Dargitz (Berlin) an Schnee vom 26.1.1899, Schreiben; Fellmann vom 16.8.1898, Schreiben, abgedruckt in: Steenken, Südsee, S. 155f. 901 Siehe hierzu die einschlägige Korrespondenz zwischen Irmer und Bennigsens Vater in: BA-B N 2350/198 (v.a. Briefe vom 11., 18.1., 9.2., 18.9.1892, 1.10.1893, 11.7., 13.11.1897). Zu Irmers Stellung innerhalb der Kolonialabteilung: GStA PK Nl Schnee/52, Schmidt-Dargitz an Schnee vom 6.1.1900, Schreiben; BA-K N 1053/130, Bl. 39–42, Schmidt-Dargitz an Solf vom 25.5.1900, Schreiben.
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und Schnee ergab sich auch für ihn die Notwendigkeit häufiger Inspektionsreisen. Bennigsen selbst bemerkte, dass das »regelmäßige Anlaufen der Küsten der einzelnen Inseln« vorläufig noch die »vornehmste Aufgabe der Verwaltung« darstelle.902 Angesichts eines nach wie vor äußerst knappen ›Verwaltungsstabs‹ war ein solches Vorgehen tatsächlich die einzige Möglichkeit, die fehlende örtliche Präsenz des kolonialen Staats wenigstens ansatzweise auszugleichen. Bennigsen verbrachte daher nur etwa die Hälfte seiner zweijährigen Dienstzeit an seinem Amtssitz. Im Gegenzug unternahm er mindestens vierzehn mehr oder weniger ausgedehnte Reisen. Aufgrund der enormen Entfernungen entfiel ungefähr die Hälfte aller Reisetage auf zwei Rundfahrten nach dem sogenannten ›Inselgebiet‹, wobei er auf der ersten Tour dieses formal für das Reich in Besitz nahm.903 Im sogenannten ›alten Schutzgebiet‹ führten ihn jeweils drei Reisen nach Neupommern und Kaiser-Wilhelmsland sowie eine weitere nach den Salomonen.904 Fünf weitere Fahrten gingen nach Neumecklenburg, meist verbunden mit Aufenthalten auf den westlich davon gelegenen Admiralitätsinseln.905 Während es sich bei der überwiegenden Mehrzahl um Inspektions- oder Erkundungstouren handelte, führte Bennigsen auf den zuletzt genannten Inselgruppen auch mehrere Strafzüge durch. Tatsächlich kam es dort immer wieder zu Zusammenstößen indigener Clans untereinander und damit zur Beeinträchtigung des Handels, weshalb die Kolonialadministration ihren Anspruch auf das Gewaltmonopol mit Hilfe der Polizeitruppe durchzusetzen suchte.906 Interessant ist dabei, dass sich Bennigsen auf seinen ersten Strafzügen von Schnee begleiten ließ, um von diesem in die einschlägigen Vorgehensweisen eingewiesen zu werden. Obgleich Bennigsen unmittelbar vor seiner Abreise noch eine Übung in seinem Hannoveraner Regiment abgeleistet hatte, stellte Schnee nach der zweiten gemeinsamen Expedition fest, dass der »Gouverneur die Sache immer noch nicht recht beherrschte und insbesondere mit der Truppe noch nicht die genügende Fühlung hatte, um sie allein führen zu können.«907 Nicht viel anders als bei den einschlägigen Unternehmungen Hahls war das jeweilige Resultat ohnehin weder in militärischer noch in administrativer Hinsicht von dauerhafter Wirkung. Während der drei Interventionen auf den Admiralitäts-Inseln wurden zwar insgesamt sechzig Einheimische getötet, etliche Dörfer niedergebrannt, eine Vielzahl von Booten vernichtet und auch einige Gefangene weggeführt.908
902 JB 1901/02, S. 5295. 903 Bennigsen, Reise (1900); ders., Marshall-Inseln; ders., Reise (1901); vgl. Hardach, König, S. 13–15, 63f. 904 Bennigsen, Reise (1899); ders., French-Inseln; ders., Expedition (1900); ders., Friedrich-Wilhelmsland; ders., Weberhafen; ders., Deutsch-Neu-Guinea; ders., Salomons-Inseln. Die Originalberichte finden sich in: BA-B R 1001/2987, 2988, 2989. 905 Bennigsen, Expedition (1899); ders., Dienstreise; ders., Bereisung; ders., Strafexpedition. 906 BA-B R 1001/2987, Bl. 108–121, Bennigsen (Herbertshöhe) an KA vom 8.8.1899, Bericht; ebd., Bl. 185, Bennigsen (Herbertshöhe) an KA vom 28.1.1900, Bericht; ebd., Bl. 186–208, Bennigsen (Herbertshöhe) an KA vom 26.2.1900, Bericht; BA-B R 1001/2988, Bl. 149f., Bennigsen (Herbertshöhe) an KA vom 24.8.1900, Bericht. 907 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 1.3.1900, Schreiben. 908 Vgl. die Zusammenstellung in: Krug, Hauptzweck, S. 439.
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Trotzdem blieb diese Inselgruppe noch lange außerhalb der effektiven Kontrolle der Kolonialverwaltung. Für das Selbstverständnis von Schnee und Bennigsen ist die Rechtfertigung für ihr Vorgehen aufschlussreich, die sich trotz äußerlich ähnlicher Abläufe von den vor allem auf Abschreckung abzielenden Intentionen Hahls durchaus unterschied. Nachdem beispielsweise Schnees Vater entsetzt auf die »Niederbrennung von Dörfern und Tötung von Menschen, die vielleicht nicht direkt ein nach unseren Begriffen todeswürdiges Verbrechen begangen haben«, reagiert hatte, teilte ihm sein Sohn mit, dass sich anders die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung »hier nicht durchführen« lasse.909 Auch Bennigsen schrieb in einem seiner offiziellen Berichte, man dürfe »nicht etwa denken, dass die Bestrafung eine zu harte war.« In Übereinstimmung mit Schnee sah auch er die bestraften Clans als »grundsätzliche Mörder, Räuber und Menschenfresser« an.910 Beide waren deshalb der Ansicht, dass die Melanesier im Hinblick auf die angewandten Strafmittel »nur für Tötung empfänglich« seien.911 Bezeichnenderweise schrieb Bennigsen während einer Reise nach dem ›Inselgebiet‹ an den in Herbertshöhe zurückgebliebenen Schnee, er hoffe, dieser habe inzwischen auf den Admiralitätsinseln »die Kerls mit der ›Möwe‹ [deutsches Kriegsschiff] zusammen schon gründlich verhauen«.912 Die prinzipielle Übereinstimmung bei der Anwendung kollektiver Gewalt fand nicht in allen Bereichen des Verhältnisses zwischen Bennigsen und Schnee ihre Entsprechung. Zwar wahrte letzterer stets den äußeren Anschein der Unterordnung. Gleichzeitig unterhielt der zweite Mann in Herbertshöhe aber eine regelmäßige Privatkorrespondenz mit Ernst Schmidt-Dargitz, dem für Neuguinea zuständigen Referenten in der Kolonialabteilung. Dieser wiederum ließ kaum eine Gelegenheit aus, den Gouverneur zu diskreditieren. Dabei kritisierte er von Anfang an Bennigsens Personalpolitik ebenso wie dessen Etatentwürfe.913 Auch mokierte sich Schmidt-Dargitz über Bennigsens »offenbar große organisatorische Ideen«.914 Schnee erteilte er dennoch den Rat, seinem Vorgesetzten nicht offen zu widersprechen, sondern am besten alles »herunter[zu]schlucken«, da er andernfalls nur »den Kürzeren« ziehen werde.915 Obwohl Schnee die Geschäfte in Herbertshöhe während der vielen Reisen des Gouverneurs führte, empfand auch er Bennigsens Ernennung als Nachteil, beendete sie doch seine bis dahin weitgehend selbständige Tätigkeit.916 Zwar schilderte er Bennigsen als persönlich liebenswürdigen Vorgesetzten, der vor allem zu Repräsentieren verstehe.917
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GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 24.9.1899, Schreiben. BA-B R 1001/2987, Bl. 186–208, Bennigsen (Herbertshöhe) an KA vom 26.2.1900, Bericht. GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben. GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (an Bord ›Kudat‹) an Schnee vom 9.12.1899, Schreiben. GStA PK Nl Schnee/52, Schmidt-Dargitz an Schnee vom 29.1.1899, Schreiben; ebd., Schmidt-Dargitz an Schnee vom 6.4.1899, Schreiben; ebd., Schmidt-Dargitz an Schnee vom 27.5.1899, Schreiben; ebd., Schmidt-Dargitz an Schnee vom 23.8.1899, Schreiben; ebd., Schmidt-Dargitz an Schnee vom 3.11.1900, Schreiben. 914 Ebd., Schmidt-Dargitz an Schnee vom 27.5.1899, Schreiben. 915 Ebd. (Zitat 1); ebd., Schmidt-Dargitz an Schnee vom 23.8.1899, Schreiben (Zitat 2). 916 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 25.7.1899, Schreiben; ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben. 917 Ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 10.9.1899, Schreiben.
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Andererseits schrieb er von Meinungsverschiedenheiten und kritisierte die Entscheidungen des Gouverneurs.918 Ohnehin hielt sich Schnee – obwohl er nur ein halbes Jahr vor Bennigsen in Herbertshöhe eingetroffen war – in Bezug auf seine »Sprach- und Sachkenntnis« für überlegen.919 Im Gegenzug scheint der Gouverneur aber weder von dieser inneren Distanzierung noch von Schnees informeller Berichterstattung etwas bemerkt zu haben, pflegte er doch auch später mit ihm einen freundschaftlichen Briefverkehr.920 Andererseits war Bennigsen keineswegs das passive Opfer einer Intrige. Vielmehr hatte auch er mit Irmer nach wie vor einen wichtigen Unterstützer in der Kolonialabteilung, der großen Einfluss auf die Entscheidungen des Direktors besaß.921 Dieser Vorteil war allerdings von begrenzter Dauer, da Buchka im Mai 1900 durch Oscar Stuebel ersetzt wurde und auch Irmer wenig später in den konsularischen Dienst überwechselte. Im Herbst desselben Jahres zog sich zudem Bennigsens Vater aus der kolonialen Interessenvertretung zurück. Der damit einhergehende Verlust an Rückhalt in der Metropole fand auch im offiziellen Schriftverkehr seinen Niederschlag. Tatsächlich konnte Bennigsen fortan kaum mehr eines seiner Anliegen durchsetzen. Zwar lagen der Ablehnung mancher Anträge auch sachliche Erwägungen zugrunde, doch belegt sowohl die Häufung der Misstöne zwischen Gouverneur und Kolonialabteilung als auch eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Argumentation der Zentrale den Statusverlust Bennigsens in aller Deutlichkeit. Einerseits wurde beispielsweise sein Antrag, ihm neunzig Halseisen für Strafgefangene als Ersatz für die bisher gebräuchlichen Fußeisen und Handschellen zuzusenden, mit der Begründung zurückgewiesen, dass eine derartige »Verschärfung des Strafvollzugs […] geeignet sein möchte, die Eingeborenen dem Gouvernement zu entfremden«.922 Zeitgleich lehnte Schmidt-Dargitz aber ein Ansinnen des Gouverneurs ab, auch Einheimische als Beisitzer vor Gericht zuzulassen.923 Zum entscheidenden Streitpunkt entwickelte sich aber Bennigsens Plan, die »alten Schutzgebiete Deutsch-NeuGuinea und die Inselgebiete der Karolinen, Palau und Marianen« zu einem zentral verwalteten »Deutschen Schutzgebiet der Südsee« zu vereinigen.924 Damit suchte er eine Entscheidung der Kolonialabteilung rückgängig zu machen, die dem Vizegouverneur in Ponape und dessen Bezirksleitern im ›Inselgebiet‹ eine gewisse Autonomie gegenüber Herbertshöhe eingeräumt hatte.925 Bennigsen ging mit seinem Ansinnen schließlich
918 Ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.8.1899, Schreiben. 919 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.5.1900, Schreiben. 920 GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (Herbertshöhe) an Schnee vom 3.11.1900, Schreiben; ebd., Bennigsen (Herbertshöhe) an Schnee vom 21.12.1900; ebd., Bennigsen (Köln) an Schnee vom 29.6.1904, Schreiben. Dagegen verwundert es etwas, wenn Schnee in seinen Memoiren behauptete, Bennigsen sei ihm »zum lieben Freund geworden«. Schnee, Gouverneur, S. 34. 921 GStA PK Nl Schnee/52, Schmidt-Dargitz an Schnee vom 12.11.1899, Schreiben; BA-B N 2350/198, Irmer an Bennigsen sen. vom 4.12.1899, Schreiben. 922 BA-B R 1001/4783, Bl. 128, Bennigsen an KA vom 1.2.1900, Bericht; ebd., Bl. 131, KA an Bennigsen vom 30.4.1900, Erlass; vgl. Hiery, Einführung, S. 17. 923 Hardach, König, S. 170f. Bennigsens Antrag datiert auf den 20.3.1900. Zur Ablehnung: BA-B R 1001/4786, Bl. 32, KA (Schmidt-Dargitz) an Bennigsen vom 24.6.1900, Erlass. 924 Ebd., Bl. 12–21, Bennigsen (Herbertshöhe) an KA vom 20.3.1900, Bericht. 925 Hardach, König, S. 62; Hempenstall, Mikronesier, S. 599.
4. Herrschaftspraktiken
so weit, dass er eine Ablehnung seiner Forderung als schweren Fehler bezeichnete, für dessen Folgen er die »Verantwortung nicht übernehmen« wolle.926 Schmidt-Dargitz erkannte in diesem Vorstoß seine Chance und mokierte sich über die »schwülstigen programmatischen Berichte« Bennigsens. Hämisch schrieb er sowohl an Solf als auch an Schnee über dessen Vision eines »Schutzgebiets der Südsee«.927 Am Ende scheute Schmidt-Dargitz nicht davor zurück, maßlos zu übertreiben, indem er Bennigsen die Absicht der Etablierung eines »Staatssozialismus« und eines »hannoversch-ostafrikanischen Wohlfahrtsregiments […] in der Südsee« unterstellte.928 Zu diesem Zeitpunkt hatte der Gouverneur aber bereits resigniert und seinem Stellvertreter anvertraut, dass er lediglich bis zum Ende seiner regulären Dienstperiode im Amt bleiben wolle.929 In den letzten Monaten vor seiner Abreise aus Herbertshöhe kamen gesundheitliche Probleme ebenso hinzu wie ein Zusammenstoß mit dem Bezirksamtmann von Friedrich-Wilhelmshafen, so dass auch ein Appell seines alten Unterstützers Irmer, im Amt zu verbleiben, fruchtlos blieb.930 Angesichts der unterschiedlichen seitens der Forschung geäußerten Vermutungen über Bennigsens Rücktritt wird deutlich, dass das geschilderte Ineinandergreifen von persönlichen, institutionellen und situativen Faktoren sowie die daraus resultierenden Dynamiken kaum durch monokausale Erklärungsversuche erschlossen werden kann.931 Kurz bevor Bennigsen die Kolonie am 10. Juli 1901 endgültig verließ, war Hahl wieder in Herbertshöhe eingetroffen, um zunächst dessen Stellvertretung zu übernehmen. Bis dahin hatte er das Amt des Vizegouverneurs auf Ponape innegehabt, was ihn – neben seiner früheren Dienstzeit in Herbertshöhe – zum aussichtsreichsten Anwärter für Bennigsens Nachfolge machte. Auch sein moderates Wesen wird nicht ohne Bedeutung gewesen sein, erhoffte man sich seitens der Kolonialabteilung doch einen Neuanfang im Verhältnis zum Gouvernement in Deutsch-Neuguinea.932 926 BA-B R 1001/3000, Bl. 57–62, Bennigsen (Herbertshöhe) an KA vom 26.4.1900, Bericht. Das Zitat ist im Original von Seiten des Bearbeiters in der Kolonialabteilung mit einem kräftigen Unterstrich gekennzeichnet. 927 BA-K N 1053/130, Bl. 43–48, Schmidt-Dargitz an Solf vom 19.6.1900, Schreiben (Zitat); GStA PK Nl Schnee/52, Schmidt-Dargitz an Schnee vom 21.6.1900, Schreiben. 928 BA-K N 1053/130, Bl. 104–107, Schmidt-Dargitz an Solf vom 6.11.1900, Schreiben. 929 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 30.8.1900, Schreiben. Weitere Hinweise auf den schwelenden Konflikt mit der Kolonialabteilung: GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (Herbertshöhe) an Schnee vom 21.12.1900, Schreiben; BA-K N 1053/131, Bl. 8–11, Schnee (Berlin) an Solf vom 19.9.1901, Schreiben. 930 Bennigsens schlechter Gesundheitszustand geht hervor aus: Ebd., Bl. 40–42, Solf (Berlin) an Schnee vom 26.2.1902, Schreiben; BA-B N 2105/10, Bennigsen an Hammacher vom 14.8.1902, Schreiben. Zum Zusammenstoß mit dem Bezirksleiter Paul Boether: AAC CRS G 30/3, Gouvernement an KA vom 20.6.1901, Bericht betr. Beleidigung Boethers; ebd., Bennigsen (Herbertshöhe) an KA vom 20.6.1901, Bericht betr. Antrag auf Disziplinaruntersuchung gegen sich selbst. Zu den Bemühungen Irmers: BA-B N 2350/198, Irmer an Bennigsen sen. vom 3.10.1901, Schreiben; ebd., Irmer an Bennigsen sen. vom 6.11.1901, Schreiben. 931 Meist wenig zutreffende Vermutungen zu Bennigsens Rücktritt finden sich in: Abermeth, Schnee, S. 189, Anm. 719; Firth, New Guinea, S. 72; Hempenstall, Missionsgesellschaften, S. 232. Anders: Hiery, Verwaltung Neuguineas, S. 299. 932 Hahls umgängliches Wesen wird von etlichen Zeitgenossen bestätigt: Fellmann, Tgb. (24., 25.2.1897), S. 32f.; GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 13.1.1899,
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Wie andere neu ernannte Gouverneure suchte auch Hahl allzu große Erwartungen von Anfang an zu dämpfen und schilderte die Ausgangslage daher wenig euphorisch. Gegenüber Schnee beklagte er sich beispielsweise wenige Monate nach seinem Amtsantritt über die vielen »Restanten der gouvernementalen Schreibstube«. Auch in anderen Bereichen sei ihm seit seiner Rückkehr nach Herbertshöhe »nichts geschenkt« worden.933 Auch als er zu Beginn des Jahres 1903 anlässlich seiner offiziellen Ernennung vom Kaiser persönlich über die Entwicklungsmöglichkeiten der Kolonie befragt wurde, antwortete Hahl wenig optimistisch. Seiner Einschätzung zufolge ließen die »örtliche Zerrissenheit des weiten Gebietes« ebenso wie ein kultureller und wirtschaftlicher »Tiefstand der Eingeborenen« kurzfristige wirtschaftliche Erfolge kaum erwarten.934 Auch im Hinblick auf das luluai-Konzept äußerte er sich gegenüber der Kolonialabteilung zurückhaltend, seien doch messbare Fortschritte erst auf lange Sicht zu erzielen. Dabei erklärte er, es sei kaum zu erwarten, dass ein »Sohn der Wildnis […] ein befähigter Richter und Verwaltungsmann in dem Augenblick geworden ist, in dem ihm nach vorher stattgehabter Niederwerfung seines Volkes, eine Mütze mit der Kokarde auf den Kopf gesetzt, ein Stock in die Hand gedrückt und sein Name in das Häuptlingsverzeichnis eingetragen wird.« Stattdessen beginne erst jetzt die eigentliche Arbeit, bei der die »Einschulung einer Disziplin« je nach Einzelfall nur mittels Güte, Überredung, Drohung und Bestrafung zu erreichen sei.935 Vorläufig müsse man sich damit abfinden, dass »den Papua die Vorstellung der Unterordnung unter eine Gebietsgewalt fehlt« und gleichzeitig auch die Heranziehung der Clanoberhäupter »auf dem Gebiete der Rechtspflege« alles andere als reibungslos funktioniere. Nach wie vor würdenen deren »Eigennutz, Übereifer, Unverstand […] immer wieder Störungen« verursachen.936 Hahl hielt dennoch an den einheimischen Amtsträgern fest und rügte die Beamten seiner Verwaltung, werde doch von manchen die ›Häuptlingsverwaltung‹ noch immer »verkannt und missachtet«.937 Im Hinblick auf die bisherige Praxis der Strafexpeditionen war er auch als Gouverneur davon überzeugt, dass »vorübergehende Züchtigungen von Ausschreitungen der Eingeborenen wertlos, ja schädlich« seien.938 Das galt allerdings nicht für die Anwendung kollektiver Gewalt an sich. Wenn er den kolonialen Herrschaftsanspruch bedroht sah, war auch Hahl einem harten Vorgehen keineswegs abgeneigt. Um ein solches handelte es sich beispielsweise nach der Ermordung der Ehefrau des Pflanzers Wolff und ihres Babys in der Umgebung von Herbertshöhe. Dabei stimmte Hahl mit seinem Bezirksrichter überein, dass nicht nur die eigentlichen Mörder, sondern auch »sämtliche Eingeborenen, welche an dem der Ermordung folgenden bewaffneten Widerstande sich
933 934 935 936 937 938
Schreiben; BA-K N 1053/132, Bl. 70–78, Solf (Berlin) an Schultz vom 18.8.1906, Schreiben; Jacques, Südsee, S. 27; Ebert, Südsee-Erinnerungen, S. 69. GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 18.3.1902, Schreiben. Hahl, Gouverneursjahre, S. 165f. Hahl (Herbertshöhe) an KA vom 5.11.1904, Bericht, zitiert nach: Hiery, Verwaltung Neuguineas, S. 303. JB 1902/03, S. 127. Hahl vom 2.11.1903, Runderlass, zitiert nach: Sack, Rechtswesen in Melanesien, S. 335. JB 1902/03, S. 127.
4. Herrschaftspraktiken
beteiligten«, als »schuldig« anzusehen und mit besonderer Härte zu bestrafen seien.939 Strafexpeditionen als alleiniges Instrument zur Kompensation fehlender Verwaltungsstrukturen lehnte er allerdings nach wie vor ab. An dieser Stelle setzte vielmehr Hahls Konzept als Gouverneur an. Er suchte eine Verstetigung des propagierten Landfriedens ebenso wie eine effektivere Landesverwaltung durch die Einrichtung einer möglichst großen Zahl von »bleibenden Niederlassungen des Gouvernements« zu erreichen. Nur wenn auch im Anschluss an die »Anwendung militärischer Machtmittel« eine ständige Präsenz der Kolonialadministration vor Ort aufrechterhalten werden könne, sei eine dauerhafte Wirkung zu erzielen.940 Das bedeutete letztlich eine Modifizierung seiner früheren Gedankengänge als Kaiserlicher Richter. Hatte Hahl das Fehlen jeglicher Ressourcen damals fast ausschließlich durch die Einbindung einheimischer bikmen auszugleichen versucht, zielte er als Gouverneur darauf ab, beide Einrichtungen zu kombinieren. Das Resultat dieser Überlegungen bestand in der Beibehaltung bzw. Ausweitung der luluai-Hilfsverwaltung einerseits und der Einrichtung weiterer Regierungsstationen andererseits. Hahl übertrug damit das auch in anderen Kolonien gängige Verfahren auf Neuguinea, nämlich durch die ständige Gegenwart von europäischen Beamten an günstig gelegenen Punkten den Einfluss der Administration auf die indigene Bevölkerung zu festigen bzw. auszuweiten. Allerdings hatte dieser Prozess bereits unter seinem Vorgänger eingesetzt, der mit Nusa (später Käwiéng) im Norden von Neumecklenburg eine Regierungsstation hatte einrichten lassen. Unter Hahl begann aber ein systematischeres Vorgehen, das darauf abzielte, nach und nach das gesamte ›Schutzgebiet‹ mit einem Netz von Stützpunkten zu überziehen. Dementsprechend kam bereits 1904 eine zweite Station auf Neumecklenburg hinzu, die den Südteil der langgestreckten Insel abdecken sollte. Im Jahr darauf wurden die Salomonen mit einer Station versehen, während die Admiralitätsinseln erst im Dezember 1911 einen dauerhaften Verwaltungsstützpunkt erhielten. Der Nordosten der Insel Neuguinea wurde dagegen bis 1906 lediglich von dem einzigen Bezirksamt in Friedrich-Wilhelmshafen aus ›verwaltet‹. In den darauffolgenden Jahren ließ Hahl deshalb mit Eitapé, Morobe und Angorum weitere Regierungsstationen entlang der dortigen Küste einrichten.941 In einem ähnlichen Ausmaß entwickelte sich die Zahl der europäischen Beamten, die während der Amtszeit Hahls auf mehr als einhundert Personen wuchs, was fast dem Sechsfachen des Ausgangswertes entsprach.942 Anders als Bennigsen erkannte Hahl zudem die Notwendigkeit an, dass gerade die von seinem Amtssitz weiter entfernten Bezirksämter einer größeren Selbständigkeit bedurften. Während das ›Inselgebiet‹ seine relative Autonomie gegenüber dem Gouver939 BA-B R 1001/2989, Bl. 178–187, Hahl (Traustadt) an KA vom 22.1.1903, Bericht. Hahl war zum Zeitpunkt der Strafexpedition krankheitsbedingt ausgefallen, doch verteidigte er das Vorgehen seines Bezirksrichters, wobei bis zu 130 Einheimische getötet wurden, als ebenso zweckmäßig wie zulässig. 940 JB 1902/03, S. 127; vgl. Krug, Hauptzweck, S. 129. Die dortige Einschätzung, wonach »für Hahl […] Gewalt ein wesentliches Element seiner Herrschaft« gewesen sei, greift daher zu kurz. 941 Hiery, Verwaltung Neuguineas, S. 303–305; Firth, Hahl, S. 40–42. 942 Siehe hierzu die Angaben in den publizierten amtlichen Jahresberichten 1902/03 bis 1912/13. Ferner in: BA-B R 1001/6598, Jahresbericht für 1913/14.
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neur vorläufig behielt, ermächtigte er im Oktober 1904 den Bezirksamtmann von Friedrich-Wilhelmshafen, »polizeiliche und sonstige die Verwaltung betreffende Vorschriften« für seinen Zuständigkeitsbereich zu erlassen.943 Gleichzeitig ergaben sich aus der Kombination großer Entfernungen und dürftiger Kommunikationsmittel die auch in anderen Kolonien bekannten Schwierigkeiten, ließ sich doch die Tätigkeit der Lokalbehörden keineswegs lückenlos überwachen. Ein Beispiel stellt etwa der Stationsleiter in Käwiéng, Franz Boluminski, dar. Dieser fiel wiederholt durch eigenmächtiges Vorgehen auf, als er etwa Arbeiter mit Hilfe polizeilicher Gewalt anwarb oder körperliche Züchtigung als Straf- und nicht als Disziplinarmittel verhängte.944 Andererseits war Hahl davon überzeugt, dass Boluminski »dauernd Tüchtiges leisten wird«, sofern er nur »die Kandare fühlen« würde.945 Letztlich boten sich dem Gouverneur aber mangels ausreichenden Personals wenig Alternativen, als sich mit den vorhandenen Beamten zu arrangieren. Dem Bezirksleiter in Friedrich-Wilhelmshafen, Wilhelm Stuckhardt, räumte er beispielsweise die erwähnten zusätzlichen Kompetenzen ein, obwohl dieser seiner Ansicht nach »in Eingeborenenangelegenheiten einfach versagt« hatte.946 Da im Umkreis jeder neu eingerichteten Station auch mit der Einsetzung einheimischer Amtsträger begonnen wurde, erhöhte sich gleichzeitig der Anteil der direkt oder indirekt mit der Administration in Kontakt stehenden einheimischen Bevölkerung. Befanden sich nach Einschätzung des Gouvernements zu Beginn des Jahres 1904 lediglich rund zehntausend Indigene im Norden der Gazelle-Halbinsel sowie auf der Neulauenburg-Gruppe unter einem nicht zu überschätzenden Einfluss der Verwaltung, wuchs deren Zahl durch die Erweiterung des Einzugsgebiets von Herbertshöhe sowie unter Einbeziehung von Käwiéng und Friedrich-Wilhelmshafen deutlich an. Anfang 1906 sollen auf Neupommern und Neumecklenburg etwa 66.000 Einheimische dem Zugriff der Administration unterworfen gewesen sein, was ungefähr einem Drittel der Bevölkerung des Bismarckarchipels entsprochen hätte.947 Gegen einen allzu weitreichenden Optimismus spricht allerdings die Tatsache, dass vorläufig nicht einmal die genauen Einwohnerzahlen bekannt waren. Von einer wirklichen Einbeziehung in eine Landesverwaltung im
943 Hahl vom 4.10.1904, Verfügung betr. Übertragung der Verordnungsgewalt, abgedruckt in: DKG 8, S. 235. Zuvor war eine Verordnung des Reichskanzlers ergangen, wodurch die meisten Gouverneure zu einem solchen Schritt ermächtigt wurden: Bülow vom 27.9.1903, Verfügung betr. seemannsamtliche und konsularische Befugnisse und das Verordnungsrecht der Behörden in den Schutzgebieten Afrikas und der Südsee, abgedruckt in: DKG 7, S. 214f. Erst seit 1906/07 scheint Hahl in Bezug auf das ›Inselgebiet‹ eine stärkere Zentralisierung angestrebt zu haben. Ein äußerliches Merkmal dieses Vorhabens stellt die 1907 erfolgte Aufhebung des Amts des Vizegouverneurs auf Ponape dar. Hardach, König, S. 69f., 80f.; vgl. JB 1911/12, S. 146, worin Hahl bis 1909 einen »ziemlich losen Zusammenhang« des ›Inselgebietes‹ mit der Verwaltung in Rabaul konstatiert, erst danach habe »ein immer engerer Zusammenschluss« eingesetzt. 944 BA-B R 1001/2946, Bl. 5–45, Besprechung Hahls mit ansässigen Kaufleuten und Pflanzern am 26./27.6.1903, Protokoll; BA-B R 1001/5378, Bl. 194, Hahl (Herbertshöhe) an KA vom 18.3.1904, Bericht. 945 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 2.10.1901, Schreiben. 946 Ebd., Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 18.3.1902, Schreiben. 947 JB 1903/04, S. 3249; JB 1904/05, S. 2932; JB 1905/06, S. 319f. Zur Einschätzung der Gesamtbevölkerung des Bismarckarchipels: BA-B R 1001/6598, JB 1913/14, S. 36.
4. Herrschaftspraktiken
Wortsinn konnte daher bestenfalls für die im unmittelbaren Umfeld der Stationen und Bezirksämter lebenden Einheimischen die Rede sein. Einen Gradmesser für die administrative Durchdringung liefert die Steuerquote. Deren Entwicklung deutet darauf hin, dass erst kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges zumindest im Nordteil der Gazelle-Halbinsel sich das Gros der Menschen unter dem Einfluss der Administration befand. Während zu Beginn des Jahres 1906 dort insgesamt 9.779 indigene Männer gezählt wurden, gingen im Rechnungsjahr 1912/13 aus dieser Region 64.749 Mark an Kopfsteuern ein. Da diese nur von männlichen und zugleich arbeitsfähigen Personen erhoben und für die meisten Ortschaften auf den Höchstsatz von zehn Mark/Kopf festgesetzt wurde, ist von bis zu 7.000 Steuerzahlern auszugehen, was – ungeachtet aller Unwägbarkeiten – einen recht hohen Erfassungsgrad vermuten lässt.948 Ein solches Ergebnis führt zugleich zu der Erkenntnis, dass außerhalb des näheren Einzugsbereichs der Verwaltungszentren praktisch überhaupt keine Steuern gezahlt wurden. Das Bild einer zwar aufstrebenden, nach wie vor aber ebenso provisorischen wie lückenhaften Ausprägung von Staatlichkeit ergibt sich auch aus der Strafpraxis. Während das Steueraufkommen bis 1914 jährliche Zuwächse verzeichnete, scheint sich die von der Administration unmittelbar ausgeübte Strafgerichtsbarkeit gegenüber den Einheimischen etwa seit 1909/10 konsolidiert zu haben.949 Die für die Jahre 1907 bis 1912 verfügbaren Zahlen für das ›alte Schutzgebiet‹ legen eine solche Einschätzung nahe.
Tabelle 9: Gerichtsbarkeit gegenüber der indigenen Bevölkerung in Deutsch-Neuguinea (ohne ›Inselgebiet‹) nach Strafarten950 Tod
Gefängnis
Prügel
Geld
Zusammen
1907/08
Berichtsjahr
0
134
0
40
174
1908/09
1
183
16
46
246
1909/10
0
239
0
124
363
1910/11
1
245
0
79
325
1911/12
1
269
0
69
339
Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, dass körperliche Züchtigungen nur zum geringen Teil Berücksichtigung in der Statistik von Deutsch-Neuguinea fanden.951 Das
948 JB 1905/06, S. 319; AB Neuguinea 22 (1913), S. 244. Für einige Ortschaften wurde ein ermäßigter Steuersatz von fünf Mark/Kopf festgesetzt, so dass die geschätzte Zahl der Steuerzahler plausibel sein dürfte. 949 Zur Entwicklung des Steueraufkommens im ›alten Schutzgebiet‹: Hiery, Reich, S. 195, Anm. 10. 950 Zusammengestellt nach den Auflistungen in: BA-B R 1001/5091. 951 Ausnahmen: BA-B R 1001/5091, Bl. 17–20, Stationsgericht Herbertshöhe vom 26.2.1903, Übersicht; ebd., Bl. 29–31, Station Käwiéng (Boluminski) vom 30.6.1903, Vierteljahresbericht; ebd., Bl. 32, KA an Hahl vom 23.12.1903, Erlass; BA-B R 1001/5378, Bl. 194, Hahl (Herbertshöhe) an KA vom 18.3.1904, Bericht; BA-B R 1001/5091, Bl. 39, Gouvernement von DNG, Kriminalstatistik für 1908/09.
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ist darauf zurückzuführen, dass die Prügelstrafe nach der weiterhin geltenden Strafverordnung der Neuguinea-Compagnie aus dem Jahr 1888 nicht als reguläres Strafmittel, sondern ausschließlich als Instrument der Arbeiterdisziplinierung vorgesehen war.952 An dieser Regelung hielten auch die Gouverneure fest. Unter Bennigsen kam es im Juni 1900 lediglich zu einer Neufassung der Vorschriften zur Disziplinierung der Plantagenarbeiter. Seitdem galten Prügel-, Ruten-, Arrest- und Geldstrafen als die für diesen Personenkreis offiziell zugelassenen Disziplinierungsmittel.953 Hahl stellte im März 1904 gegenüber der Kolonialabteilung zwar fest, dass in Neuguinea für eine »Einführung der Prügelstrafe als einer gerichtlichen […] kein Bedürfnis« bestehe.954 Nichtsdestotrotz wurde aber auch dort unter den Augen der Kolonialverwaltung geprügelt, wenngleich unter dem Deckmantel der außergerichtlichen Züchtigung von Arbeitern. Ausweislich der Überlieferung waren es meist zwischen fünf und zehn Hiebe, deren Verabreichung mit eigenmächtigem Verlassen der Arbeitsstätte, Arbeitsunlust oder Widersetzlichkeit begründet wurde.955 Das Bezirksamt in Herbertshöhe verhängte beispielsweise im zweiten Vierteljahr 1903 neun derartige Strafen, doch erhöhte sich die jährliche Gesamtzahl dort bis 1912 auf 128 disziplinarische Prügelstrafen.956 Da im gleichen Zeitraum die Anzahl der auf den umliegenden Pflanzungen arbeitenden Melanesier von 3.232 auf 5.199 stieg, bewegte sich die jährlich von den Behörden registrierte Prügelquote zwischen einem und zweieinhalb Prozent der Arbeiter.957 Damit lag dieser Wert im Bezirk Herbertshöhe/ Rabaul aber deutlich niedriger als beispielsweise in Deutsch-Ostafrika, wo jedes Jahr knapp fünf Prozent der indigenen Arbeiter von den Bezirksämtern und Stationen mit disziplinarischen Körperstrafen belegt wurden.958 Weder für die Südsee noch für Afrika statistisch zu erfassen sind allerdings die von den jeweiligen Betriebsleitern im Rahmen einer inoffiziellen, von der Verwaltung aber tolerierten Patriarchalgerichtsbarkeit verhängten Körperstrafen.
952 Hansemann/Herzog vom 21.10.1888, Strafverordnung für die Eingeborenen, abgedruckt in: DKG 1, S. 555–562; Hansemann/Herzog vom 22.10.1888, VO betr. Erhaltung der Disziplin unter den farbigen Arbeitern, abgedruckt in: ebd., S. 552f. 953 Bennigsen vom 20.6.1900, VO betr. Erhaltung der Disziplin unter den farbigen Arbeitern, abgedruckt in: DKG 6, S. 248f.; BA-B R 1001/5091, Bl. 23f., BA Herbertshöhe vom 10.7.1903, Strafen ohne Urteil (1.4.-30.6.1903). 954 BA-B R 1001/5378, Bl. 194, Hahl (Herbertshöhe) an KA vom 18.3.1904, Bericht. 955 AAC C RS G 254/6, BA Herbertshöhe, Disziplinarbestrafungen, 1907. 956 BA-B R 1001/5091, Bl. 23f., BA Herbertshöhe vom 10.7.1903, Strafen ohne Urteil (1.4.-30.6.1903); Hiery, Reich, S. 135. Im gesamten ›alten Schutzgebiet‹ sollen nach einer Statistik aus dem Juli 1913 sogar 1.291 disziplinarische Körperstrafen verhängt worden sein. Ders., Kolonien, S. 102f. 957 Zu den Arbeiterzahlen: JB 1902/03, S. 348; BA-B R 1001/2313, Bl. 89, Bezirksamt Rabaul vom 2.2.1913, Aufstellung über Arbeiter. Mangels Daten wurden die Prügelstrafen vom zweiten Quartal 1903 auf das ganze Jahr hochgerechnet. 958 Für DOA lassen sich anhand der Jahresberichte die von den Behörden verhängten »gerichtlichen« sowie die »disziplinarischen« Prügelstrafen unterscheiden. Unter Zugrundelegung der jeweiligen Anzahl indigener Arbeiter ergeben sich dort für die Jahre 1908/09 und 1909/10 Prügelquoten (nur disziplinarisch) von 4,75 bzw. 4,8 %. JB 1908/09, S. 409; JB 1909/10, S. 16 und Anhang (Tab. A.II.2). Vgl. Kapitel 4.5.3.
4. Herrschaftspraktiken
Ungeachtet solcher Praktiken suchte Hahl während seiner gesamten Amtszeit die Lebensbedingungen der einheimischen Arbeitskräfte zu verbessern. Auch das geschah weniger aus humanitären Erwägungen. Hatte er anfangs noch gehofft, bei der »Arbeiterbeschaffung günstige Fortschritte« erzielen zu können, um innerhalb von »zehn Jahren eine stattliche Kolonie« aufbauen zu können, musste er bereits im Sommer 1903 zugeben, dass die frühere »Leichtigkeit der Beschaffung der Arbeiter […] hingeschwunden« sei.959 Als Gründe für diese Entwicklung glaubte er vor allem einen mancherorts beobachteten Bevölkerungsrückgang, gleichzeitig aber auch einen erhöhten Bedarf an indigenen Arbeitskräften feststellen zu können. Dazu kam Hahl zufolge die Tatsache, dass inzwischen der »Arbeiter einsehen gelernt hat, dass der Europäer ihm nicht das geboten hat, was er sich ausgemalt hat.« Während eine Ergänzung des Arbeiterpotentials von außerhalb der Kolonie schwierig und kostspielig war, hoffte er dennoch, dass es bei effizienter Ausnutzung der vorhandenen Menschen möglich sein müsse, das benötigte »Arbeitermaterial aus dem Schutzgebiet zu beschaffen«.960 Hahls Konzept sah dazu vor, das Problem durch Einwirken auf die europäischen Pflanzungsbetriebe sowie auf normativem Wege zu lösen. Im Zuge einer Besprechung mit den ansässigen Kaufleuten und Pflanzern suchte er zunächst die bestehenden Schwierigkeiten zu analysieren, wobei er in erster Linie die Anwerbung selbst sowie die Disziplinarbefugnisse der Arbeitgeber im Blick hatte. Während er eine Heranziehung Minderjähriger prinzipiell ablehnte, da man dadurch nur »das letzte aus dem Volke herausziehen« würde, regte er an, innerhalb der Kolonie »neue Gegenden zur Anwerbung zu finden«. Vor allem aber erklärte er, dass das »Augenmerk darauf [zu] richten [sei], ob wir den Leuten die nötige Verpflegung geben, ob wir ihnen gegenüber immer gerecht sind«. Mit der letzten Bemerkung bezog er sich nicht zuletzt auf die disziplinare Bestrafung der Arbeiter, die unbedingt »eingeschränkt werden muss«. Vielmehr solle man versuchen, möglichst »ohne Prügel aus[zu]kommen«. Gleiches gelte für die bislang praktizierte sonntägliche Strafarbeit.961 Konkret führte er dazu aus:962 »Einen dickfelligen Menschen muss man nicht prügeln. Man muss jedem einzelnen Falle auf den Grund gehen, man führe den Mann zur Behörde. Hilft Prügeln nichts, so wird Sonntagsarbeit auch nichts helfen. Man schicke diesen Mann gegen eine Entschädigung nach Haus.« Zwar war das »materielle Ergebnis« der Besprechung seiner Ansicht nach »ziemlich wertlos« ausgefallen, da die Kaufleute und Pflanzer der Verwaltung gegenüber ihrerseits mit etlichen Gegenforderungen aufgetreten waren.963 Abseits des dienstlichen
959 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 2.10.1901, Schreiben (Zitate 1+2); BA-B R 1001/2946, Bl. 5–45, Besprechung Hahls mit ansässigen Kaufleuten und Pflanzern am 26./27.6.1903, Protokoll (Zitat 3). 960 Ebd. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. 961 Vgl. Hahl (Herbertshöhe) an Thilenius vom 6.12.1904, Schreiben, zitiert nach: Fischer, Südsee-Expedition, S. 40. 962 BA-B R 1001/2946, Bl. 5–45, Besprechung Hahls mit ansässigen Kaufleuten und Pflanzern am 26./27.6.1903, Protokoll. 963 BA-B R 1001/2946, Bl. 4, Hahl (Herbertshöhe) an KA vom 10.8.1903, Bericht.
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Schriftverkehrs klagte er zudem, seine »Versuche einer vernünftigen Einwirkung auf die Arbeitsgeber« seien lediglich »mit dem Geschreie beantwortet« worden, dass er »die Eingeborenen verhätschele«.964 Sein Vorgänger Bennigsen bezeichnete ihn deshalb sogar als »richtigen Kanaker«, der »am liebsten in einer Kanakerhütte wohnen« würde.965 Mit solchen Vorwürfen sollte Hahl nicht zuletzt diskreditiert werden, doch gingen sie an der Realität vorbei. Obgleich in seinen Äußerungen mitunter auch andere Interessen aufscheinen, orientierte er sich in erster Linie an utilitaristischen Gesichtspunkten:966 »Ein tropisches Land als Kolonie wird nur dann blühen, wenn die Menge billiger, fleißiger Bevölkerung farbiger Herkunft dem Beherrscher, dem Europäer, dauernd zur Verfügung steht.« Dementsprechend ging Hahl auch das Problem des Arbeitermangels an, indem er sich der Erkenntnisse der zeitgenössischen Wissenschaft bediente. Anders als zu Anfang seiner kolonialen Betätigung konnte er als Gouverneur jedoch kaum persönlich Erhebungen durchführen. Gerade zur rechten Zeit kam für ihn daher das Angebot des Völkerkundlers Georg Thilenius, der ihm die Idee einer Forschungsexpedition in die Südsee unterbreitete. Dabei sollte nicht zuletzt ermittelt werden, weshalb mancherorts die Anzahl der Indigenen zurückging. Als Thilenius schrieb, dass eine »Lösung der Arbeiterfrage […] die genaue Kenntnis der Bevölkerung voraus[setze], welcher die Arbeiter entnommen werden sollen«, antwortete der Gouverneur erwartungsgemäß: »Ihre Ausarbeitung für die Aufgaben einer Südsee-Unternehmung findet meinen vollen Beifall.«967 Diese nicht zu übersehende Instrumentalisierung der Forschung durch die koloniale Administration sprach ein Teilnehmer einer späteren ethnologischen Expedition unmissverständlich aus:968 »Wir handeln ganz nach dem Programme des Gouverneurs, aber dem Gouverneur traue ich persönlich nicht. Er tut so, als ob er uns ungeheuer wohl wolle, in Wirklichkeit sucht er uns gründlich für seine Zwecke auszunützen.« Hahl ging in der Tat bei seiner Arbeitskräftepolitik vor allem pragmatisch vor. Auf der einen Seite legte er Wert darauf, den Zugriff der europäischen Pflanzungsunternehmen auf das verfügbare Arbeiterreservoir zu regulieren. Andererseits suchte er die Anstellungs- und Lebensbedingungen der Arbeiter einer staatlichen Kontrolle zu unterwerfen, um Missständen vorzubeugen, die sich wiederum negativ auf die künftige Anwerbung
964 Hahl (Herbertshöhe) an Thilenius vom 6.12.1904, Schreiben, zitiert nach: Fischer, Südsee-Expedition, S. 40. 965 GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen (Köln) an Schnee vom 29.6.1904, Schreiben. 966 Hahl (Herbertshöhe) an Thilenius vom 6.12.1904, Schreiben, zitiert nach: Fischer, Südsee-Expedition, S. 41; vgl. BA-B R 1001/2946, Bl. 5–45, Besprechung Hahls mit ansässigen Kaufleuten und Pflanzern am 26./27.6.1903, Protokoll. 967 Thilenius, Aufgaben (1904), zitiert nach: Fischer, Südsee-Expedition, S. 38; Hahl (Herbertshöhe) an Thilenius vom 6.12.1904, Schreiben, zitiert nach: ebd., S. 39. 968 Wilhelm Müller-Wismar, Tgb. (27.11.1908), zitiert nach: ebd., S. 45.
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ausgewirkt hätten. Ein drittes Moment stellte die Überwindung der nach wie vor dominierenden Subsistenzwirtschaft dar, indem Anreize zur Arbeitsaufnahme geschaffen werden sollten. Im Hinblick auf die beiden ersten Ziele konnte Hahl auf den Vorarbeiten Bennigsens aufbauen und unmittelbar nach dessen Abreise im Juli 1901 eine Verordnung zur Arbeiteranwerbung erlassen.969 Diese enthielt Mindestanforderungen an die Belegung und Ausstattung der Transportschiffe sowie grundlegende Bestimmungen für die Arbeitsbedingungen. Auch wurden die Behörden in den gesamten Prozess von Anwerbung, Verpflichtung, Gesundheitskontrolle und allgemeine Lebensverhältnisse eingebunden. Angesichts eines geringen Strafmaßes bei Verstößen und der knappen Personalausstattung der Administration lassen sich jedoch große Diskrepanzen zwischen diesen Normen und der Lebenswirklichkeit vermuten. Zwei Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung stellte beispielsweise der Regierungsarzt Wilhelm Wendland fest, dass gerade diejenigen Arbeiter, die von kleineren, malariafreien Inseln nach der Gazelle-Halbinsel verschickt worden seien, dort »wie die Fliegen« sterben würden.970 Sogar im Kolonialblatt äußerte Hahl, dass viele Arbeiter auf den Salomon-Inseln »mit der Anwerbung zum Teil schlimme Erfahrungen hinter sich« hätten.971 An den Arbeitsstellen kam es zudem immer wieder zu »Desertionen«, die nicht zuletzt auf problematische Arbeitsbedingungen hindeuten. Andererseits klagten manche Plantagenbetreiber aber auch darüber, dass sie auf den weitläufigen Pflanzungen die Arbeiter weder lückenlos noch dauerhaft beaufsichtigen könnten, so dass angeblich »ganze Abteilungen […] Tage lang herum[liegen] und faulenzen« würden.972 Überhaupt hätten manche Einheimische den sich verschärfenden Arbeitermangel durchaus erkannt und den daraus resultierenden Konkurrenzkampf der Arbeitgeber »sehr schlau« für sich ausgenutzt, dabei aber gleichzeitig »über die dummen Weißen« gelacht.973 Eine derart vielschichtige, mitunter widersprüchlich erscheinende Lebenswirklichkeit ließ sich mittels Normensetzung kaum wirksam steuern. Zwar erließ Hahl im März 1909 eine neue Anwerbeverordnung, die wiederum Bestimmungen über Arbeitsverträge und gesundheitliche Überwachung ebenso enthielt wie Regelungen zur täglichen Arbeitszeit oder einem Verbot von Sonntagsarbeit.974 Insgesamt unterschied sich diese Verordnung aber nur geringfügig von dem Reglement aus dem Sommer 1901, was zugleich auf eine geringe Erwartungshaltung des Gouvernements hindeuten dürfte. Offenbar gab sich Hahl inzwischen damit zufrieden, seine mehrfach kommuni-
969 Hahl (i.V.) vom 31.7.1901, VO betr. Ausführung und Anwerbung von Eingeborenen als Arbeiter im Schutzgebiet DNG, abgedruckt in: DKG 6, S. 363–370. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. 970 BA-B R 1001/2946, Bl. 5–45, Besprechung Hahls mit ansässigen Kaufleuten und Pflanzern am 26./27.6.1903, Protokoll. 971 Hahl, Bougainville, S. 46. 972 BA-B R 1001/2946, Bl. 5–45, Besprechung Hahls mit ansässigen Kaufleuten und Pflanzern am 26./27.6.1903, Protokoll. Ähnlich: Hiery, Reich, S. 88f. 973 Ernst Sarfert, Tgb. (11.6.1910), zitiert nach: Fischer, Südsee-Expedition, S. 147. 974 Hahl vom 4.3.1909, VO betr. Anwerbung und Ausführung von Eingeborenen, abgedruckt in: DKG 13, 147–153.
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zierten Minimalanforderungen wenigstens in Ansätzen zu realisieren.975 Gleichzeitig verschärfte sich der Arbeitermangel weiter, so dass der Administration im Hinblick auf zusätzliche Restriktionen Grenzen gesetzt waren. Nicht zuletzt stieß Hahl immer wieder auf den erbitterten Widerstand von Pflanzungsunternehmern und anderen interessierten Kreisen.976 Eine Folge der Zurückhaltung seitens der Verwaltung waren nicht zuletzt »schwere Anwerbeausschreitungen«, so dass die Arbeiterbeschaffung mitunter den Charakter von Menschenjagden annahm.977 Daneben sank auch die Sterblichkeit unter den Arbeitern kaum unter einen Jahreswert von drei Prozent.978 Angesichts solcher Schwierigkeiten hielt der Gouverneur auch gegen Ende seiner Amtszeit die »Arbeiterfrage« für weitaus wichtiger als »alle übrigen Probleme wirtschaftlicher und kultureller Art«.979 Auch die Einführung einer Jahreskopfsteuer hatte sich nicht in der Weise ausgewirkt, wie ursprünglich erhofft. Einerseits verzögerte sich der Beginn der Steuererhebung allein dadurch, dass die Berliner Zentralbehörde Hahls Verordnungsentwürfe aufgrund formaler Mängel zweimal zurückwies. Die Kopfsteuer wurde daher erst im Sommer 1906 probeweise im Norden von Neumecklenburg sowie in Teilen von Neuhannover eingeführt.980 Im März 1907 wurde schließlich festgelegt, dass in den von der Verwaltung erfassten Teilen der Kolonie sämtliche männlichen, arbeitsfähigen Einheimischen jährlich fünf Mark an den Fiskus abzuführen hätten. Als Anreiz für die Arbeitsaufnahme war der Verordnung die Bestimmung eingefügt, dass die Steuerpflicht für alle diejenigen entfalle, die sich mindestens zehn Monate im Jahr in einem Arbeitsverhältnis bei einem Europäer befunden hätten.981 In den folgenden Jahren stieg das Aufkommen aus der Kopfsteuer zwar rasch an, doch musste Hahl in seinem Jahresbericht von 1912/13 zugeben, dass der eigentlich erhoffte Effekt ausgeblieben sei, könne doch auch weiterhin lediglich die Hälfte des Bedarfs an Plantagenarbeitern gedeckt werden.982 Auch als Hahl im April 1914 Neuguinea endgültig verließ, tat er das nicht, ohne in seiner Abschiedsansprache noch einmal auf die aus seiner Perspektive zentralen Probleme der deutschen Kolonialherrschaft zu verweisen. Zugleich benannte er die wichtigsten Beweggründe, die während der vergangenen knapp zwei Jahrzehnte für ihn maßgebend gewesen seien. Dabei stellte er fest, dass in der Kolonie »jeder Fortschritt abhängig [ist] von unserem Verhältnis zu den Eingeborenen.« Nicht nur die ökonomische Entwicklung
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Vgl. GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (an Bord ›Seestern‹) an Schnee vom 7.4.1905, Schreiben. Hiery, Reich, S. 89, Anm. 25; ders., Verwaltung Neuguineas, S. 306. Hahl vom 5.9.1912, Bekanntmachung betr. Anwerbung, abgedruckt in: AB 18/1912, S. 189. Hiery, Verwaltung Neuguineas, S. 306; vgl. BA-B R 1001/2313, Bl. 89, Bezirksamt Rabaul vom 2.2.1913, Aufstellung über Arbeiter. JB 1912/13, S. 188. BA-B R 1001/2763, Bl. 47, Hahl (Herbertshöhe) an KA vom 11.12.1905, Bericht; ebd., Bl. 53, Krauss (i.V., Herbertshöhe) an KA vom 30.5.1906, Bericht; ebd., Bl. 73, Krauss (i.V., Herbertshöhe) an KA vom 28.11.1906, Bericht. Die Angabe in Hahls Erinnerungen, wonach die Kopfsteuer auf der Gazelle-Halbinsel und in Neulauenburg bereits 1904 eingeführt worden sei, beruht vermutlich auf einem Irrtum. Hahl, Gouverneursjahre, S. 183. Hahl vom 18.3.1907, VO betr. Erhebung einer Jahreskopfsteuer von den Eingeborenen, abgedruckt in: DKG 11, S. 145f. JB 1912/13, S. 188. Zur Entwicklung des Steueraufkommens: Hiery, Reich, S. 195, Anm. 10.
4. Herrschaftspraktiken
beruhe »ausschließlich auf der Arbeitskraft ihrer Hände«, vielmehr erfordere überhaupt jegliches »Aufbauen für eine weite Zukunft« deren »Anschließung an eine geordnete Verwaltung, ihre sanitäre und kulturelle Hebung.« Allerdings sah er gerade in einer solchen engen Anbindung der Melanesier an die Europäer zugleich eine »drohende Gefahr« für die eigenen Herrschaftsansprüche. Hahl befürchtete, dass dann die »Sprech- und Denkweise des Eingeborenen über uns den Sieg davontragen möchte.« Dieser drohenden Assimilation der nach wie vor ebenso exklusiven wie überschaubaren Gesellschaft der Kolonisierenden durch eine weit zahlreichere indigene Bevölkerung gelte es daher entgegenzuwirken. Als Europäer, vor allem aber als Deutsche könne man sich seiner Ansicht nach »nur im Lande behaupten«, wenn ausschließlich »nationale Gesichtspunkte« den Ausschlag gäben. Daher müsse man die »Eingeborenen gewöhnen, zu uns emporzusehen und unserer Denkungsweise sich anzubequemen.«983 Obgleich der Tenor dieser Ansprache auf den ersten Blick befremdlich wirkt, entsprechen die Aussagen letzten Endes den Handlungsmustern, die Hahl als Kaiserlicher Richter, Vizegouverneur und vor allem als Gouverneur gezeigt hatte. Zweifellos war er in rein funktionaler Hinsicht einer der fähigsten Kolonialbeamten des Deutschen Reiches, doch bedeutete das zugleich, dass er sein äußerlich ausgleichendes Wesen ebenso wie seine vielseitigen Erfahrungen über die Lebensweisen der Indigenen stets für das koloniale Projekt einsetzte. Das eigentliche Ziel seiner Amtstätigkeit, die effektive Beherrschung von Land und Leuten sowie deren ökonomische Ausnutzung, verlor er zu keinem Zeitpunkt aus den Augen. Die Tatsache, dass es ihm gelang, dabei mit geringen Mitteln auszukommen sowie Konflikte mit der Berliner Zentralbehörde, innerhalb seiner eigenen Administration, aber auch mit den Einheimischen zu begrenzen, zeichnet letztlich für seine ungewöhnlich lange Amtszeit verantwortlich.
4.4.2 Solofa, Kovana Kaisalika Die im Spätjahr 1899 mit Großbritannien und den USA vereinbarte Aufteilung Samoas hatte im Westteil der Inselgruppe die Einrichtung des flächenmäßig kleinsten deutschen ›Schutzgebietes‹ zur Folge. Tatsächlich umfassten die Hauptinseln Upolu und Savai’i kaum dreitausend Quadratkilometer. Nach den Ergebnissen eines ersten Zensus lebten dort 32.620 Indigene.984 Schon die Tatsache, dass die koloniale Administration kurz nach der Übernahme der Inseln in der Lage war, eine solche Zählung durchzufüh-
983 Hahl (Rabaul) vom 11.4.1914, Ansprache, abgedruckt in: AB 8/1914, S. 123. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Auch früher hatte er sich über die angebliche »Schwäche der Deutschen allem Fremden gegenüber« beklagt, weshalb er »an der Zukunft der Kolonie fast verzweifeln« wollte. GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 6.4.1907, Schreiben. 984 Der erste Teil der Kapitelüberschrift gibt den Nachnamen Solfs (›Solofa‹) auf Samoanisch wieder. Beim zweiten Teil handelt es sich um dessen Titel als Kaiserlicher Gouverneur, den er in den auch in der Landesprache ausgefertigten Verordnungen oder Bekanntmachungen auf Samoanisch (›Kovana Kaisalika‹) abdrucken ließ. Zu Fläche und Gestalt der Inseln: Buchholz, Struktur, S. 71; Mückler, Einführung, S. 169f. Zur Einwohnerzahl: JB 1900/01, S. 3116–3118; Hiery, Verwaltung Samoas, S. 656.
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ren, lässt auf einige Besonderheiten dieser einzigen deutschen Kolonie in Polynesien schließen. Einerseits hatte die Anwesenheit der Europäer keineswegs erst mit der förmlichen Besitzergreifung begonnen. Stattdessen gab es zu diesem Zeitpunkt bereits intensive Handelskontakte ebenso wie die Anfänge einer Plantagenwirtschaft.985 Das hatte nicht zuletzt zur Folge, dass die Nichteinheimischen zu Beginn der deutschen Herrschaft knapp dreieinhalb Prozent der Gesamtbevölkerung der Inseln ausmachten.986 Auch blieb der angelsächsische Einfluss weiterhin beträchtlich. Einerseits dominierte die englische Sprache in vielen Bereichen, so dass selbst die deutsche Verwaltung sich immer wieder dieser lingua franka bediente. Andererseits stellten Briten und Amerikaner stets mindestens ein Drittel der ›weißen‹ Bevölkerung. Nicht zuletzt fuhren bis zu neunzig Prozent der Handelsschifftonnage, die den Hafen von Apia erreichte, vorläufig unter englischer oder amerikanischer Flagge.987 Besonderheiten wies auch die indigene Bevölkerung auf, verfügten die Samoaner doch über eine höchst komplexe Sozialstruktur.988 Deren Grundeinheit bildete die Großfamilie, nach außen vertreten durch ein Clanoberhaupt. Deren angesehenste trugen den Ehrentitel faipule und bestimmten in der traditionellen Ratsversammlung in Mulinu’u auch über überregionale Angelegenheiten. Daneben gab es tulafale, die für die Umsetzung der dortigen Beschlüsse in den Dörfern sorgten. Neben der individuellen Herkunft und dem daraus resultierenden Status innerhalb der sozialen Hierarchie beeinflussten noch andere Faktoren, wie persönliches Ansehen oder Redegewandtheit, die lokalen Machtverhältnisse. Ein Königstitel (tupu) war zwar vorhanden, doch umfasste dieser vor allem zeremonielle Funktionen. Eine handlungsfähige Zentralgewalt existierte dagegen nicht. Stattdessen stritten mehrere Fraktionen permanent um die Vorherrschaft, was mitunter zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen geführt hatte. Gerade diese innersamoanischen Rivalitäten sollten sich für das koloniale Regime als vorteilhaft erweisen. Das galt umso mehr, als die Administration – von gelegentlich vor Anker liegenden Kriegsschiffen abgesehen – kaum über eigene Machtmittel verfügte. Nachdem Solf im Mai 1899 seine Bezirksrichterstelle in Ostafrika mit dem Amt des – in seinen Augen – »dornengekrönten internationalen Präsidenten« des Munizipalrats in Samoa vertauscht hatte, war es aus der Sicht der Kolonialabteilung naheliegend, ihn nach der Übernahme der Verwaltung durch das Reich wenigstens übergangsweise mit deren Leitung zu betrauen.989 Am 1. März 1900 ließ Solf die deutsche Flagge in Apia hissen und übernahm damit die Geschäfte als Kaiserlicher Gouverneur. Während diese Ze985 Ebd., S. 649; Mückler, Einführung, S. 170f. 986 JB 1901/02, S. 5487–5490. Danach lebten am 1.1.1902 mindestens 1.171 Nichtsamoaner (Europäer, Amerikaner, Chinesen, sonstige Bewohner Ozeaniens) in der Kolonie. 987 Hiery, Verwaltung Samoas, S. 650; JB 1901/02, S. 5500. 988 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf: Mückler, Einführung, S. 172–176. 989 BA-K N 1053/18, Bl. 2–5, Richthofen an Solf vom 21.11.1898, Erlass; ebd., Bl. 222–225, Schmidt-Dargitz an Solf vom 17.9.1899, Schreiben; ebd., Bl. 271f., Schmidt-Dargitz an Solf vom 14.11.1899, Schreiben; GStA PK Nl Schnee/52, Schmidt-Dargitz an Schnee vom 6.1.1900, Schreiben; BA-K N 1053/20, Bl. 133, Solf (Apia) an unbekannten Adressaten vom 22.2.1900, Schreiben (Zitat); vgl. ebd., Bl. 145, Solf (Apia) an KA vom 19.3.1900, Bericht.
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remonie im Beisein von Marinevertretern, ansässigen Europäern und etwa fünftausend Samoanern verhältnismäßig aufwändig ausfiel, muten die Anfänge auch dieses Gouvernements kleinteilig an.990 Zu Beginn standen dem Gouverneur nur vier europäische Mitarbeiter zur Verfügung, so dass er nach kurzer Zeit klagte, er und seine Beamten seien heillos überlastet.991 Selbst seine Rangabzeichen erhielt Solf kostensparend per Wertbrief zugeschickt, während ihm von dem zeitweise für Samoa zuständigen Referenten Schmidt-Dargitz geraten wurde, sich einen geeigneten Degen – immerhin das äußere Symbol der vom Kaiser verliehenen Amtsgewalt – kurzerhand auszuborgen.992 Ähnlich bescheiden fielen die Vorstellungen über Solfs künftiges Vorgehen aus. Inoffiziell wurde ihm nahegelegt, unbedingt den »Wünschen S[eine]r M[ajestät], dass Samoa nichts kosten und nicht bürokratisch regiert werden soll, zur Allerhöchsten Zufriedenheit und zu der Ihrer Landeskinder zu entsprechen«.993 Den Hintergrund dafür bildete die in der Kolonialabteilung grassierende Furcht, ein verärgerter Monarch könne Samoa doch noch in den Zuständigkeitsbereich der Kaiserlichen Marine überführen.994 Schmidt-Dargitz, der immerhin über eigene Erfahrungen vor Ort verfügte, übermittelte dem neuen Gouverneur zugleich eine Reihe von Anweisungen. Angesichts einer knappen Anschubfinanzierung aus dem Reichsetat von lediglich 52.000 Mark wurde Solf geraten, sparsam zu wirtschaften und den Eingang der Kopfsteuer abzuwarten, ehe zusätzliche Ausgaben getätigt werden könnten. Im Hinblick auf die Einrichtung einer samoanischen Selbstverwaltung solle er ebenfalls Zurückhaltung üben und zunächst Bericht erstatten, ehe er irgendwelche Maßnahmen ergreife. Für den Umgang mit den Spitzenvertretern der indigenen Oligarchie riet Schmidt-Dargitz, der Gouverneur solle mit allen bedeutenden Persönlichkeiten Kontakt aufnehmen und dabei vor allem »ordentlichen Schaum« machen.995 Angesichts solcher Voraussetzungen setzte Solf auf Kontinuität. Die Bestimmungen der Samoa-Akte von 1889 mit ihren Beschränkungen hinsichtlich der Veräußerung von Grund und Boden beließ er ebenso in Kraft wie die darin geregelte Erhebung von Steuern, Zöllen und Gebühren. Gleiches traf auf weitere Vorschriften des bisherigen Munizipalrats sowie auf die bestehenden Alkohol-, Waffen- und Sprengstoffbeschränkungen zu.996 Ebenfalls auf frühere Abmachungen ging eine Initiative zur Einziehung der Schusswaffen in den Händen der Einheimischen zurück, wenngleich die Berliner Zentrale bis zur Auszahlung der versprochenen Entschädigungen geraume Zeit verstreichen
990 BA-B R 1001/3058, Bl. 136, Solf (Apia) an KA vom 15.3.1900, Telegramm; BA-K N 1053/20, Bl. 139f., Solf (Apia) an Dietz vom 15.3.1900, Schreiben. 991 Fitzner, Kolonial-Handbuch (1901), S. 118; BA-K N 1053/130, Bl. 80f., Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 6.9.1900, Schreiben. 992 Ebd., Bl. 4–9, Schmidt-Dargitz an Solf, o.D. [Ende Januar 1900], Schreiben; ebd., Bl. 37f., SchmidtDargitz an Solf vom 2.5.1900, Schreiben. 993 Ebd., Bl. 4–9, Schmidt-Dargitz an Solf, o.D. [Ende Januar 1900], Schreiben (Zitat); vgl. BA-K N 1053/127, Bl. 1f., Rose an Solf vom 27.2.1900, Schreiben. 994 GStA PK Nl Schnee/52, Schmidt-Dargitz an Schnee vom 4.3.1900, Schreiben. 995 BA-K N 1053/130, Bl. 4–9, Schmidt-Dargitz an Solf, o.D. [Ende Januar 1900], Schreiben (Zitate). Zum Etat für 1900/01: Fitzner, Kolonial-Handbuch (1901), S. 119. 996 Solf vom 1.3.1900, VO betr. Rechtsverhältnisse, abgedruckt in: DKG 5, S. 33f.; Sack, Rechtswesen in Polynesien, S. 676f., 679.
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ließ.997 Auch die ›Samoa Government Gazette‹ wurde als Organ zur Bekanntmachung von Rechtsverordnungen beibehalten, erschien aber fortan unter dem Titel ›Samoanisches Gouvernementsblatt‹.998 Gegen scharfe Brüche spricht zudem die Einrichtung eines Gouvernementsrats. Dieser Ausschuss, der aus sieben Vertretern von Kaufmannschaft und Plantagenbetreibern bestand, sollte diesen Interessengruppen weiterhin die Gelegenheit geben, sich an der politischen Entscheidungsfindung zu beteiligen.999 Hierfür stand zweifellos Sodens kurzlebiger Verwaltungsrat aus Kamerun und Togo Pate.1000 Anders als damals bewährte sich die Neuauflage aber offenbar recht gut, weshalb der Reichskanzler im Dezember 1903 anordnete, in den übrigen ›Schutzgebieten‹ ebenfalls Gouvernementsräte einzurichten.1001 Stets handelte es sich dabei aber lediglich um beratende Gremien, an deren Beschlüsse der Gouverneur keineswegs gebunden war. Dazu kam, dass die Ratsmitglieder nicht etwa gewählt, sondern vom obersten Beamten der Kolonie persönlich ernannt wurden. Ein weiteres Korrektiv bestand darin, dass neben Vertretern von Kaufmannschaft, Pflanzern und Missionsgesellschaften auch Regierungsbeamte in die Gouvernementsräte berufen wurden. Diese wiederum waren instruiert, stets den Standpunkt des Gouverneurs zu vertreten, um die beschworene Einheitlichkeit der Verwaltung zu gewährleisten.1002 Angesichts solcher Defizite bezeichneten Zeitgenossen die Einbeziehung lokaler (europäischer) Honoratioren als »Possenspiel« oder gar als »Missgeburt«.1003 Andererseits waren sich die meisten Gouverneure der Tatsache bewusst, dass eine dauernde Konfrontation mit den Vertretern der Siedlergesellschaften ihre eigene Position über kurz oder lang schwächen musste. Bei der Durchsicht der Sitzungsprotokolle der Gouvernementsräte sämtlicher ›Schutzgebiete‹ entsteht daher durchaus der Eindruck, dass sich die obersten Beamten in der Regel konsensorientiert verhielten, indem sie Etatvoranschläge, Verordnungsentwürfe oder größere Projektvorhaben zumindest zur
997 Solf vom 25.12.1900, Proklamation betr. Auszahlung der Entschädigungssumme für die der Internationalen Kommission abgelieferten Feuerwaffen, erwähnt in: SGB 8 (1901), S. 28; Solf vom 28.12.1900, Proklamation betr. Aufforderung und Strafandrohung, die restlichen in Händen der Samoaner befindlichen Feuerwaffen bis zum 31.1.1901 abzuliefern, erwähnt in: ebd., S. 28; BA-B R 1001/3062, Bl. 153, Solf (Apia) an KA vom 26.7.1901, Bericht; BA-K N 1053/131, Bl. 4–7, Schnee (Berlin) an Solf vom 28.8.1901, Schreiben (Zitat); ebd., Bl. 55–57, Solf (Berlin) an Schnee vom 5.4.1902, Schreiben. 998 Solf vom 1.3.1900, VO betr. Veröffentlichung der Gesetze etc., abgedruckt in: DKG 5, S. 34. 999 Solf vom 28.4.1900, Bekanntmachung betr. Bildung eines Gouvernementsrats, abgedruckt in: SGB 3 (1900), S. 12; Hiery, Verwaltung Samoas, S. 650–652; Wareham, Race, S. 28. 1000 BA-K N 1053/130, Bl. 43–48, Schmidt-Dargitz an Solf vom 19.6.1900, Schreiben. Vgl. Kapitel 4.2. 1001 Bülow vom 24.12.1903, Verfügung betr. Bildung von Gouvernementsräten, abgedruckt in: DKG 7, S. 284f.; vgl. Götzen vom 24.2.1904, Ausführungsbestimmungen zur Verfügung des Reichskanzlers vom 24.12.1903 betr. Bildung von Gouvernementsräten, abgedruckt in: DKG 8, S. 50; Lindequist vom 26.3.1906, Ausführungsbestimmungen zur Verfügung des RK vom 24.12.1903 betr. Bildung von Gouvernementsräten, abgedruckt in: DKG 10, S. 145–147. 1002 So etwa eine Weisung Solfs (inzwischen Staatssekretär des Reichskolonialamts) an den Gouverneur von DOA vom 11.4.1913, erwähnt in: Erbar, Platz, S. 32. 1003 Külz, Blätter, S. 154 (5.8.1904); vgl. Erbar, Platz, S. 24–32.
4. Herrschaftspraktiken
Diskussion stellten und sich dabei oft zu Konzessionen bereitfanden.1004 Seine Weiterentwicklung fand der Gouvernementsrat im südwestafrikanischen Landesrat, der seit 1910 den nunmehr gewählten Mitgliedern in bestimmten Themenfeldern ein aktiveres Mitspracherecht einräumte.1005 Solf sorgte auch in Samoa dafür, dass die für die ›koloniale Situation‹ konstitutive Dichotomie formaljuristisch fixiert wurde. Dementsprechend erließ er zu Beginn seiner Amtszeit eine Verordnung über die »Rechtsverhältnisse« in dem ihm anvertrauten ›Schutzgebiet‹. Danach galten alle Samoaner ebenso wie die »Angehörigen anderer farbiger Stämme« fortan als »Eingeborene«. Durch eine wenig später herausgegebene Bekanntmachung setzte er für alle übrigen im ›Schutzgebiet‹ sich aufhaltenden Personen den am englischen Vorbild orientierten Begriff »Fremde« (foreigners) fest.1006 Damit war auch für Samoa die in allen Kolonien übliche, auf äußerlichen sowie sozialen Merkmalen basierende Zweiteilung der Bevölkerung mit den entsprechenden Folgen für die Lebenswirklichkeit etabliert. Von Anfang an konnten beispielsweise nur ›Fremde‹ in den Gouvernementsrat berufen werden. Auch in anderen Bereichen waren Samoaner notorisch benachteiligt. Selbst wenn sich diese im Vergleich zu anderen ›Schutzgebieten‹ einer etwas weniger rigorosen Gerichtsbarkeit unterworfen sahen, waren für sie dennoch deutlich höhere Strafmaße als für Europäer vorgesehen.1007 Beispielsweise ordnete Solf im Oktober 1901 an, dass ein Einheimischer, der eine Geldstrafe nicht bezahlen konnte, ersatzweise Zwangsarbeit beim Wege- und Straßenbau zu leisten habe.1008 Auch als Gouverneur war Solf keineswegs bereit, Europäer und Samoaner als gleichberechtigt anzusehen oder von der prinzipiellen Oberhoheit des Deutschen Reiches abzurücken. Seine Überlegungen zielten allerdings darauf ab, die ›Fremden‹ möglichst auf einen abgegrenzten Bezirk um das urbane Zentrum Apia zu beschränken. Nur dort sollte die Ansiedlung einer limitierten Zahl von Pflanzern erlaubt sein. Gleichzeitig schwebte ihm vor, die Mehrzahl der Samoaner in den übrigen Arealen der Kolonie unter der Aufsicht ihrer Clanoberhäupter zu belassen und sie in ihren Lebensweisen vorläufig wenig zu behelligen. Den Grundsatz, »sich in reine Eingeborenen-Verhältnisse möglichst wenig hinein zu mischen«, hatte Solf längst so weit verinnerlicht, dass er jegliches Einschreiten ablehnte, »so lange die Samoaner sich nicht an weißem Eigentum und Vermögen vergreifen«. Sei das gewährleistet, dann »können sie sich meinetwegen so viel hauen wie sie wollen.«1009
1004 Die Protokolle finden sich in folgenden Aktenbänden oder Publikationen: BA-B R 1001/812, 813 (DOA); BA-B R 1001/2174, 2175 (DSWA); BA-B R 1001/4313, 4314, 4315 (Kamerun); BA-B R 1001/4316, 4317 (Togo); DKB 15, S. 559; AAC CRS G 255/136; Amtsblatt DNG 1909–1914 (DNG); BA-K N 1053/28, 30, 31; SGB 1911–1914 (Samoa). 1005 Siehe Kapitel 4.7. 1006 Solf vom 1.3.1900, VO betr. Rechtsverhältnisse, abgedruckt in: DKG 5, S. 33f.; Solf vom 1.7.1900, Bekanntmachung betr. Begriff ›Eingeborener‹, abgedruckt in: SGB 3 (1900), S. 14; BA-B R 1001/2759, Bl. 155, Solf (Berlin) vom 15./16.6.1906, Vermerk; vgl. Hiery, Reich, S. 215; Wareham, Race, S. 35–37. 1007 Sack, Rechtswesen in Polynesien, S. 679, 681f. 1008 Solf vom 1.10.1901, VO betr. Einführung einer Hundesteuer, teilweise abgedruckt in: SGB 12 (1901), S. 42; BA-B R 1001/2948, Bl. 72–103, Auelua, o.D. [Oktober 1901], Account of the Journey of Dr. Solf (5.-17.10.1901). 1009 BA-K N 1053/1, Bl. 118–121, Solf (Mulinu’u) an seinen Vater vom 28.11.1899, Schreiben.
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Langfristig war er dennoch in Übereinstimmung mit den meisten seiner Amtskollegen der Ansicht, dass man durch »Erziehung der Eingeborenen« aus diesen »in langsamem Tempo und mit Geduld brauchbare Menschen machen kann«.1010 Trotzdem stellte die durch die örtlichen Voraussetzungen begünstigte und von der Administration geförderte räumliche Trennung zwischen Indigenen und ›Fremden‹ einen wesentlichen Unterschied zu anderen ›Schutzgebieten‹ dar. Dadurch sollten das wechselseitige Konfliktpotential verringert und in Kombination mit der Entwaffnung der Samoaner die fehlenden Machtmittel der Verwaltung kompensiert werden. Nach einer Zeit des Übergangs verlor der Gouverneur keine Zeit, seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Eine erste Säule von Solfs Herrschaftskonzept stellte die Einbeziehung der samoanischen Eliten in die koloniale Verwaltung dar. Dies erforderte zunächst die Schaffung eines äußeren Ausgleichs zwischen den rivalisierenden Mächtegruppierungen. Erst wenn diese ihre Konflikte nicht mehr mit Gewalt zu lösen suchten, konnte nach Solfs Einschätzung »von einem einigermaßen ernsthaften Selfgovernment der Samoaner die Rede sein.«1011 Eine Schwierigkeit bestand darin, den an der Spitze der indigenen Oligarchie stehenden Mata’afa Iosefo davon abzubringen, den tupu-Titel für sich zu beanspruchen und sich so zum Alleinherrscher aufzuschwingen. Da Solf sich darüber bewusst war, dass durch Gewaltanwendung »hier natürlich nichts zu machen« sei, setzte er auf ein wirksameres Mittel:1012 »Meine Waffe ist Geduld und die Kunst mit den Häuptlingen stundenlange Verhandlungen zu pflegen, dabei immer angenehme Dinge zu sagen, ohne irgendeine Verpflichtung einzugehen.« Im Zuge dieses Lavierens achtete er peinlich darauf, »bei Mataafa, obwohl ich den alten Herrn mit Auszeichnung und deutlich als etwas über den anderen stehendes behandle, alles zu vermeiden, was etwa auf eine Anerkennung Mataafa’s als Tupu schließen [lassen] könnte.«1013 Gemäß dem divide et impera-Prinzip suchte er gleichzeitig »im Geheimen« den »Oberonkel von ganz Savaii«, den einflussreichen Lauati (Lauaki), auf seine Seite zu ziehen. Überhaupt suchte er die dreizehn wichtigsten Würdenträger untereinander zu »verstänkern […], um die starke Partei klein zu kriegen.«1014 Darüber hinaus sprach er auf mehreren Versammlungen vor den einheimischen Clanchefs, wobei er deklamierte, dass es »nur einen Tupu im Lande« gäbe und das sei der deutsche Kaiser.1015 Letztlich blieb Solf dabei stets seiner Überzeugung treu, dass »mit schönen Phrasen eine ganze Masse erreicht werden kann.«1016 Überhaupt hielt sich der Gouverneur inzwi-
1010 BA-B R 1001/2975, Bl. 3, Solf (Apia) an RKA vom 3.5.1910, Bericht. Das Papier datiert zwar aus der Schlussphase seiner Amtszeit, doch verweist der Zusatz, er sei »nach wie vor d[ies]er Überzeugung«, auf eine schon länger bestehende Ansicht. 1011 BA-K N 1053/130, Bl. 49–54, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 12.7.1900, Schreiben. 1012 BA-K N 1053/20, Bl. 139f., Solf (Apia) an Dietz vom 15.3.1900, Schreiben. 1013 BA-K N 1053/130, Bl. 12–22, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 20.3.1900, Schreiben. 1014 Ebd., Bl. 49–54, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 12.7.1900, Schreiben (Zitate 1+2); BA-K N 1053/1, Bl. 127f., Solf (Apia) an seinen Vater vom 12.7.1900, Schreiben (Zitat 3). 1015 BA-K N 1053/130, Bl. 49–54, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 12.7.1900, Schreiben. 1016 Ebd.
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schen selbst für einen intimen Kenner der Samoaner und ihrer Kultur.1017 Auch prahlte er gegenüber Schmidt-Dargitz damit, für die künftigen Distriktchefs den »wunderschönen Titel Ta’ita’iitu erfunden« zu haben.1018 Von einem Übermaß an Bescheidenheit konnte bei Solf ohnehin nicht die Rede sein, sah er sich doch im Umgang mit Einheimischen und Europäern stets als »gerissener, als die Leute, die mit mir verhandeln.«1019 Gerade diese Selbsteinschätzung spiegelt sich nicht zuletzt in seinem Vorhaben zur Aufrichtung einer effektiven Beherrschung Samoas wider. Nach knapp einem halben Jahr glaubte Solf die Vorbereitungen so weit gediehen, dass er in Mulinu’u vor den Clanchefs die Einrichtung einer indigenen Selbstverwaltung proklamieren konnte.1020 Dabei suchte er die veränderten Verhältnisse als Vorteil für die Samoaner darzustellen, da diese angeblich früher »kein Wohlwollen […] und keine Freundschaft zueinander« gekannt hätten, was immer wieder Bürgerkriege zur Folge gehabt habe. Dies sei erst mit der Aufrichtung der deutschen Schutzherrschaft anders geworden, so dass fortan eine »ersprießliche und hoffnungsreiche Entwicklung« möglich sei. Seine eigene Autorität begründete er damit, dass er vom Kaiser persönlich eingesetzt worden sei, weshalb »niemand […] im Lande zu befehlen [habe] außer dem Gouverneur«. Im Gegenzug versprach er die Traditionen der Einheimischen zu achten, »soweit sie nicht verstoßen gegen die Gebote des Christentums und gegen die Wohlfahrt und die Sicherheit des Einzelnen.« Auch vertraue er darauf, dass sich die Samoaner selbst verwalten könnten, wenngleich unter der »Aufsicht und Kontrolle des Gouverneurs«, der aber nur solche Gesetze und Verordnungen erlassen werde, soweit sie »zum Besten des Landes sind.« Anschließend erläuterte Solf die künftige Gliederung der Selbstverwaltung. An deren Spitze stehe Mata’afa, der den Ehrentitel alii sili erhalte. Er sei die zentrale »Vermittlungsinstanz […], durch welche die Wünsche und Befehle des Gouverneurs den Samoanern bekannt gegeben werden.« Als Beratungsorgan standen Mata’afa die 28 faipule der traditionellen Ratsversammlung zur Seite. Die Lokalverwaltung gliederte sich dagegen in elf Distrikte, denen jeweils ein taitai itu vorstehen solle. Diesen wiederum seien zwanzig einheimische Richter beizugeben, die für die zivile und niedere Gerichtsbarkeit zuständig seien. Auf Dorfebene hätten dagegen »Dorfschulzen« (pule nuu) für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Neben gut drei Dutzend Polizisten (leoleo) und einer Anzahl weiterer Ämter bestand der gesamte Apparat idealiter aus 239 Funktionsträgern.1021 Diese samoanische Selbstverwaltung basierte tatsächlich auf traditionellen Strukturen. Neu waren lediglich einige Amtsbezeichnungen, vor allem aber der Versuch ei1017 Ebd., Bl. 108, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 7.12.1900, Schreiben; BA-K N 1053/131, Bl. 1, Solf (Apia) an Schnee vom 21.10.1901, Schreiben. 1018 BA-K N 1053/130, Bl. 49–54, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 12.7.1900, Schreiben; vgl. GStA PK Nl Schnee/52, Schmidt-Dargitz an Schnee vom 31.1.1901, Schreiben. 1019 BA-B N 2146/58, Solf (Moto’otua) an König vom 6.11.1904, Schreiben. 1020 Solf vom 14.8.1900, Ansprache vor den samoanischen Chiefs und Proklamation der Selbstverwaltung, abgedruckt in: SGB 4/1900, S. 15–17, sowie in: Gründer, Deutschland, S. 134–136. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. 1021 Solf vom 14.8.1900, VO betr. Distrikteinteilung, abgedruckt in: SGB 4 (1900), S. 17f.; BA-B R 1001/2948, Bl. 72–103, Auelua, o.D. [Oktober 1901], Account of the Journey of Dr. Solf (5.-17.10.1901).
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ner Formalisierung und Verstetigung der jeweiligen Befugnisse.1022 Wenig änderte sich auch in personeller Hinsicht, wurden doch meist die bisherigen Clanchefs als pule nuu bestätigt, während einige der angeseheneren Oberhäupter die neue Zwischeninstanz der Distriktchefs bekleideten. Eine wesentliche Änderung stellte zweifellos die Einführung fester Gehälter für sämtliche Amtsträger dar. Angesichts der leeren Gouvernementskasse sollten diese ausschließlich aus dem Lande finanziert werden. Solf musste daher erst den Eingang der Kopfsteuer abwarten, ehe er im Oktober 1901 die Besoldung der samoanischen Beamten auch in die Praxis umsetzen konnte. Für die einzelnen Funktionsgruppen waren gestaffelte Jahresbeträge vorgesehen.
Tabelle 10: Gehälter für die samoanische Hilfsverwaltung1023 Distriktchef
480 Mark
Richter
160 Mark
Dorfältester
96 Mark
Polizist
80 Mark
Mit Ausnahme der Zahlungen an die Distriktchefs erschienen Solf diese Beträge auf die Dauer aber als zu niedrig, weshalb er anordnete, dass alle übrigen Amtsträger zusätzlich die von ihnen vereinnahmten Gebühren und Strafgelder einbehalten durften. Angesichts der konkreten Aufgabenfelder, die diese Selbstverwaltung abdecken sollte, lässt sich das Maß an Entlastung erahnen, das dem kolonialen Regime zugutekam. Tatsächlich führte die samoanische Verwaltung bereits kurz nach ihrer Einrichtung den eingangs erwähnten Zensus ebenso wie das Einsammeln der Schusswaffen durch. Darüber hinaus hatte sie die Kopf- und bald darauf auch eine Hundesteuer zu erheben, unter den Samoanern Recht zu sprechen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und nicht zuletzt den Wegebau voranzutreiben. Mit Dekreten allein war allerdings noch keine funktionierende Administration geschaffen. Es dauerte nicht lange, bis der Gouverneur eine Reihe von Mängeln feststellte. Danach hatten manche chiefs ihre erweiterten Kompetenzen kurzerhand dazu benutzt, die Bewohner ihrer Dörfer zu bedrücken, während ein Teil der einheimischen Richter willkürliche Urteile gesprochen haben soll. Auch hätten sie ihre Strafbefugnisse zu sehr ausgeschöpft, Verwandte begünstigt und vorschnelle Verhaftungen vornehmen lassen. Manche Distriktchefs hätten zudem versucht, direkten Einfluss auf die Rechtsprechung
1022 Solf vom 10.10.1900, Rundschreiben betr. die hauptsächlichsten Rechte und Pflichten der TaitanItu, Faamasino, Pule-Nuu, erwähnt in: SGB 5 (1900), S. 22. 1023 BA-B R 1001/2767, Bl. 5f., Schnee (Apia) an KA vom 23.3.1901, Bericht; Hiery, Reich, S. 203; BA-B R 1001/2948, Bl. 106f., Solf (Apia) vom 1.10.1901, Runderlass betr. Festsetzung der Gehälter für die samoanischen Beamten.
4. Herrschaftspraktiken
auszuüben.1024 Eine Rundreise in der ersten Oktoberhälfte 1901 benutzte Solf deshalb, um die Würdenträger persönlich zur Mäßigung aufzufordern. Bei einem Abendessen in der Ortschaft Salailua drohte er allerdings unverhohlen mit den Konsequenzen für weiteres Fehlverhalten:1025 »Officials shall perform their work in a proper manner and with kindness towards Samoans; setting aside all oppression to those in their districts. I know how stupid the Judges are in their decisions. Many persons complain to me to their bad conduct. So I forbid this sort of conduct any longer; for should I find any persons who continue to act thus badly, it is quite certain that they will lose their offices.« Tatsächlich gab sich der Gouverneur keinen Illusionen hin. Nach der Rückkehr von seiner Inspektionsreise schrieb er an Schmidt-Dargitz, es bedürfe noch der »Arbeit von Jahren«, ehe man die Samoaner »vollständig in shape« gebracht haben werde.1026 Bevor er wenig später seinen ersten Erholungsurlaub antrat, richtete Solf ein Rundschreiben an alle samoanischen Beamten. Darin erinnerte er sie wiederum an ihre Amtspflichten ebenso wie an ihre Bindung an »the recent laws issued by me«. Erneut drohte er, künftig keine Verfehlungen mehr zu tolerieren, sondern jeden samoanischen Amtsträger, der seine Schutzbefohlenen bedrücke, kurzerhand abzusetzen.1027 Darüber hinaus sah Solf keinen Anlass, die Ambitionen Mata’afas und seiner Ratsmitglieder, die zusammen als malô eine Art indigener Marionettenregierung bildeten, zu unterschätzen.1028 Vom Grundprinzip her unterschied sich sein Vorgehen dabei kaum von demjenigen in anderen Kolonien. Die Besonderheit im kleinräumigen Samoa bestand jedoch darin, dass dort ein zentraler indigener Ansprechpartner für die gesamte Kolonie vorhanden war. Das barg sowohl Vorteile als auch Gefahren für die Stabilität des kolonialen Regimes in sich. Dementsprechend lavierte Solf stets zwischen dem Bemühen, das Ansehen des alii sili einerseits zu stärken. Andererseits suchte er aber dessen Einflussmöglichkeiten zu begrenzen, da sonst die deutsche Herrschaft in Gefahr geraten wäre. Dass der Gouverneur dem von ihm lediglich als »Obermohren« eingeschätzten Mata’afa ohnehin misstraute, kam bereits zur Sprache.1029 Nicht zuletzt in der Absicht, diesen äußerlich stärker an die Kolonialregierung zu binden, bestellte Solf kurz nach der Etablierung der samoanischen Selbstverwaltung in Berlin einen speziellen Fliegenwedel, den er dem alii sili als persönliches Geschenk des Kaisers überreichte.1030 Von derartigen 1024 Ebd., Bl. 72–103, Auelua, o.D. [Oktober 1901], Account of the Journey of Dr. Solf (5.-17.10.1901); ebd., Bl. 111, Solf (Apia) an alle Taitai Itu, Faamasino, Pulenuu, Failautusi, Leoleo vom 1.12.1901, Rundschreiben. 1025 Ebd., Bl. 72–103, Auelua, o.D. [Oktober 1901], Account of the Journey of Dr. Solf (5.-17.10.1901). 1026 BA-K N 1053/130, Bl. 121f., Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 25.11.1901, Schreiben. 1027 BA-B R 1001/2948, Bl. 111, Solf (Apia) an alle Taitai Itu, Faamasino, Pulenuu, Failautusi, Leoleo vom 1.12.1901, Rundschreiben. 1028 Allgemein zum malô: Schultz-Ewerth, Auge, S. 492. 1029 BA-K N 1053/1, Bl. 122f., Solf (Apia) an seinen Vater vom 20.4.1900, Schreiben (Zitat); vgl. Solf, Eingeborene, S. 6f., 9f. 1030 BA-K N 1053/130, Bl. 86–93, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 5.10.1900, Schreiben; ebd., Bl. 100–103, Schmidt-Dargitz an Solf vom 10.10.1900, Schreiben; Vietsch, Solf, S. 62.
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Gefälligkeiten, die der Gouverneur dem obersten indigenen Würdenträger erwies, ließ sich auch mancher Außenstehende blenden. Der Kapitän des Kriegsschiffes ›Cormoran‹ berichtete beispielsweise über einen Empfang im Beisein Mata’afas, der von traditionellen Zeremonien begleitet worden sei und an denen auch Solf teilgenommen habe. Ohne dessen eigentliche Absichten zu erfassen, schloss der Bericht mit der Feststellung, dass der Gouverneur »bemüht ist, die alten Sitten des Landes und damit die Zufriedenheit der Eingeborenen mit dem neuen Regiment zu erhalten«, infolgedessen er sich einer »großen Beliebtheit« unter den Samoanern erfreue.1031 In Wirklichkeit stand hinter dem leutseligen Auftreten Solfs die Absicht, die indigenen Eliten durch aktive Einbindung zu kontrollieren. Dabei hielt er Mata’afa für eine »weiche, unselbständige Natur«, lasse sich dieser doch von verschiedenen Seiten beeinflussen. Zwar bestehe dessen Dasein vor allem aus Essen und Beten, doch rufe er durch die Begünstigung seines weitverzweigten Verwandtenkreises immer wieder Konflikte unter den Clans hervor und begehe auch sonst eine »Dummheit über die andre«.1032 Als Mata’afa »mal wieder rückfällig mit Tupu-Ideen« geworden war, richtete der Gouverneur einen unverhohlenen Drohbrief an ihn, »den er sicher keinem gezeigt hat«.1033 Bei anderer Gelegenheit habe er diesen »angehaucht wie einen Schuljungen.«1034 Mehrfach berichteten Solf oder seine Stellvertreter außerdem nach Berlin, verschiedene Anordnungen des alii sili umstandslos wieder aufgehoben zu haben.1035 Obwohl Mata’afa durch seine Repräsentations- und Mittlertätigkeit dem Gouvernement wertvolle Dienste leistete, stellte Solf nach wenigen Monaten fest, dass es »erwünscht« sei, über kurz oder lang die »Stellung des Alii Sili eingehen zu lassen«. Eine offizielle Absetzung Mata’afas kam wegen der Außenwirkung jedoch nicht in Frage. Der Gouverneur hielt es daher für das Beste, den Posten des bereits Siebzigjährigen nach dessen Tod nicht mehr neu zu besetzen. Im Gegensatz zu dem wenig problematischen Fliegenwedel lehnte Solf bezeichnenderweise dessen Ansinnen nach einer Kaiserlichen Uniform oder das Zugeständnis von Salutschüssen kategorisch ab, da beides Mata’afa »in den Augen der Samoaner begehrenswerter« und damit einflussreicher gemacht hätte.1036 Wiederum in Analogie zu anderen ›Schutzgebieten‹ suchte die deutsche Kolonialadministration auch in Samoa die einflussreichen Häupter der indigenen Clans durch regelmäßige Geldzahlungen an sich zu binden. Während die Distriktchefs sich mit 480 Mark im Jahr begnügen mussten, erhielt Mata’afa eine jährliche Zuwendung in Höhe von 3.000 Mark. Andere Mitglieder des malô bekamen je nach persönlichem Prestige Beträge
1031 BA-B R 1001/3062, Bl. 67, Grapow (›Cormoran‹) vom 18.9.1901, Militärpolitischer Bericht über den Aufenthalt in Apia vom 26.7.-14.8.1901. 1032 BA-K N 1053/130, Bl. 108, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 7.12.1900, Schreiben (Zitat 2); BA-B R 1001/3062, Bl. 81f., Solf (Apia) an KA vom 4.11.1901, Bericht (Zitat 1). 1033 BA-K N 1053/127, Bl. 9, Solf (Apia) an Rose vom 30.9.1901, Schreiben. 1034 BA-K N 1053/1, Bl. 127f., Solf (Apia) an seinen Vater vom 12.7.1900, Schreiben. 1035 BA-B R 1001/3062, Bl. 81f., Solf (Apia) an KA vom 4.11.1901, Bericht; BA-K N 1053/131, Bl. 43–46, Schnee (Apia) an Solf vom 16.3.1902, Schreiben. 1036 BA-B R 1001/3062, Bl. 136, Solf (Apia) an KA vom 21.12.1901, Bericht; ebd., Bl. 92, Solf (Berlin) an Stuebel vom 1.3.1902, Vermerk (Zitate).
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zwischen 600 und 1.800 Mark.1037 Seit 1902 konnte Solf darüber hinaus in Berlin durchsetzen, dass seiner Verwaltung jährlich 40.000 Mark zusätzlich zur Verfügung gestellt wurden. Diesen Betrag bezeichnete er selbst als »diskretionäre Summe zur Beruhigung unbequemer Häuptlinge«.1038 Dass Solf nicht gewillt war, der samoanischen Selbstverwaltung reale Hoheitsrechte zuzugestehen, geht nicht zuletzt aus seiner Forderung hervor, die Berichte seines Gouvernements keinesfalls zu publizieren, da er befürchtete, deren Inhalte könnten den Samoanern bekannt werden. Dabei sei es »nicht gut, dass die Eingeborenen wissen, dass die ihnen gegönnte Selbstverwaltung oder vielmehr die Teilnahme an der Regierung mehr oder weniger Konzession oder Notbehelf ist und dass tatsächlich die Kontrolle all ihrer Angelegenheiten beim Gouvernement liegt.« Im ungünstigsten Fall könne ihnen dann zu Bewusstsein kommen, »dass die Regierung sie an der Nase herumführe und dass sie eigentlich gar nichts zu sagen hätten.«1039 Staatsräson und Nützlichkeitserwägungen standen für Solf auch bei der Arbeitskräftebeschaffung im Mittelpunkt. Bereits vor der deutschen Herrschaft hatten melanesische Kontraktarbeiter das Gros der Arbeiter auf den Pflanzungen der Europäer gestellt.1040 Die Zufuhr aus Neuguinea – im Jahresschnitt kamen von dort 240 Arbeiter – ließ sich jedoch angesichts der dort ebenfalls wachsenden Nachfrage kaum steigern.1041 Die zunehmende Prosperität der Pflanzungen führte jedoch auch in Samoa zu einem erhöhten Bedarf an billigen Arbeitskräften. Dementsprechend stieg die Zahl der auf den Plantagen der Europäer beschäftigten ›farbigen‹ Arbeiter zwischen 1902 und 1913 um mehr als das dreieinhalbfache, nämlich von 589 auf 2.118.1042 Für das Gouvernement stellte sich daher frühzeitig die Frage, ob die absehbare Lücke durch eine Heranziehung der Samoaner zu schließen sei. Dabei stand Solf vor einem Dilemma. Zwar hatte er erkannt, dass die »Faulheit der Samoaner […] sehr cum grano salis zu verstehen« sei.1043 Seine Einschätzung der traditionellen samoanischen Lebensweise ergab vielmehr, dass jedes Gemeindemitglied eine bestimmte Arbeit zu verrichten habe. Nähme ein Samoaner eine Tätigkeit außerhalb seines Dorfes auf, käme diese Leistung in Fortfall, so dass er seinen Arbeitslohn ersatzweise an die Gemeinde abzuführen habe. »Das geringe Interesse der Samoaner, für Fremde zu arbeiten« war für Solf daher nachvollziehbar. Dazu kam die traditionelle Sichtweise vieler Einheimischer, wonach »Arbeiten als Knecht für Bezahlung als verächtlich« anzusehen sei. Neben solchen Anschauungen war außerdem die Tatsache zu berücksichtigen, dass mehr als sechzig Prozent der Anbaufläche der Inseln von den Samoanern in
1037 Vietsch, Solf, S. 62; BA-B R 1001/2768, Bl. 176f., Schultz (Apia) vom 24.4.1912, Vorläufiger Wirtschaftsplan für den Kopfsteuerfonds. 1038 BA-K N 1053/131, Bl. 47–54, Solf (Berlin) an Schnee vom 29.3.1902, Schreiben. 1039 BA-B R 1001/3064, Bl. 93f., Solf (Berlin) vom 27.11.1905, Vermerk. 1040 Hiery, Reich, S. 92. 1041 Errechnet nach: Hiery, Verwaltung Samoas, S. 671. Die Spanne lag zwischen 153 (1913) und 376 (1906) Arbeitern; vgl. Kapitel 4.4.1. 1042 JB 1901/02, S. 5494f.; JB 1912/13, Anh. S. 83. 1043 BA-K N 1053/28, Bl. 2–6, Solf (Berlin) an Passarge vom 29.10.1906, Schreiben. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. An anderer Stelle äußerte sich auch Solf abfällig über die ›Faulheit‹ der Samoaner: BA-K N 1053/131, Bl. 78–84, Solf (Berlin) an Schnee vom 3.7.1902, Schreiben.
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Eigenregie bewirtschaftet wurden. In guten Erntejahren warfen deren Produkte hohe Gewinne ab, so dass samoanische Arbeiter kaum für die Pflanzungen der Europäer zu bekommen waren.1044 Eine gewaltsame Änderung dieser Verhältnisse, davon war Solf überzeugt, könne nur zu einer »Empörung der Eingeborenen gegen die Weißen führen, sicher zu einer Obstruktion, unter der die wirtschaftlichen Verhältnisse der Weißen sehr zu leiden hätten.«1045 Es dürfte ihm daher nicht schwergefallen sein, einer Petition samoanischer Großer stattzugeben, in der diese im Juni 1903 gefordert hatten, dass kein Samoaner mehr gezwungen werden dürfe, »sklavische Arbeit« zu verrichten.1046 Ähnlich wie zeitweise auch für Neuguinea projektiert – Hahl hatte sich letztlich aber dazu entschlossen, »die Pforte nicht« zu öffnen – sollten stattdessen Kontraktarbeiter aus China die Indigenen ersetzen.1047 Das Datum der Freistellung der Samoaner von jeglicher Arbeitspflicht auf den Plantagen der Europäer ist daher keineswegs zufällig, war doch zwei Monate zuvor ein Dampfer mit den ersten 279 chinesischen ›Coolies‹ in Apia eingetroffen.1048 Diese Entscheidung war hingegen Solf nicht leicht gefallen, grassierte doch auch bei ihm die Furcht, die Arbeitsmigranten könnten sich dauerhaft in Samoa niederlassen.1049 Auch monierte er nach deren Ankunft, die chinesischen Arbeiter verursachten ihm »unerhörte Mühe und Arbeit«, doch musste er zugleich zugeben, dass diese sich »ungleich besser als ihre Brotherren« benahmen.1050 Freilich war der Gouverneur nicht gänzlich unschuldig, wenn manche Pflanzer ihre neuen Arbeiter als Menschen zweiter Klasse behandelten. Mehrfach kam es zu Prügelexzessen, die dann vereinzelt in Tätlichkeiten der Arbeiter gegen ihre Peiniger mündeten. Tatsächlich hatte Solf selbst eine Sondergesetzgebung initiiert, die die Chinesen – neben den melanesischen Kontraktarbeitern – faktisch auf die unterste Stufe der hierarchisch gegliederten kolonialen Gesellschaft stellte. Erst nach mehreren Interventionen der chinesischen Regierung und der Drohung mit einem Anwerbestopp, erfolgte eine teilweise Entschärfung der diskriminierenden Regelungen.1051 Auch im Hinblick auf die die Europäer betreffenden Bestimmungen ergaben sich immer wieder Konflikte. Die Einwanderer waren häufig an raschem Bodenerwerb und billigen Arbeitskräften interessiert, was mit den Grundsätzen der Administration, die
1044 Ebd., Bl. 69–74, Schnee (Apia) an Solf vom 19.5.1902, Schreiben; BA-B R 1001/3065, Bl. 222, Gouvernement in Apia, o.D. [Sommer 1910], Grundbesitzverhältnisse; vgl. Hiery, Reich, S. 202. 1045 BA-K N 1053/28, Bl. 2–6, Solf (Berlin) an Passarge vom 29.10.1906, Schreiben. 1046 Alii Sili, Taimua und Faipule (Mulinu’u) an Solf vom 25.6.1903, Petition, abgedruckt in: Hiery, Verwaltung Samoas, S. 658; Hiery, Reich, S. 91. 1047 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 16.5.1909, Schreiben (Zitat); vgl. Biskup, Labour. 1048 Firth, Governors, S. 160. 1049 BA-K N 1053/131, Bl. 78–84, Solf (Berlin) an Schnee vom 3.7.1902, Schreiben; GStA PK Nl Schnee/51, Solf (Hongkong) an Schnee vom 21.9.1902, Schreiben; BA-K N 1053/132, Bl. 96–106, Solf (München) an Schultz vom 19.4.1911, Schreiben; BA-K N 1053/131, Bl. 106–109, Solf (Berlin) an Schnee vom 28.5.1911, Schreiben; GStA PK Nl Schnee/51, Solf (Kreuth) an Schnee vom 14.7.1911, Schreiben. 1050 BA-K N 1053/131, Bl. 93–95, Solf (Moto’otua) an Schnee vom 23.8.1903, Schreiben. 1051 Hiery, Reich, S. 236–240; vgl. Solf vom 25.4.1905, VO betr. chinesische Kontraktarbeiter, abgedruckt in: DKG 9, S. 136–140.
4. Herrschaftspraktiken
auf eine Aufrechterhaltung des ›Landfriedens‹ und eine Begrenzung staatlicher Ausgaben abzielte, nicht immer konform ging. Nachdem Solf im Januar 1903 von seinem ersten Heimaturlaub nach Samoa zurückgekehrt war, klagte er, dass die »neuen Pflanzer immer mehr Torheiten begehen und mir eine Unbequemlichkeit über die andere bereiten«.1052 Auch wenn die darauffolgenden Zusammenstöße mit dem Gouvernement meist den Charakter von Provinzpossen trugen, entfalteten sie zum Teil weitreichende Wirkungen. Vor allem der ehemalige Leutnant und Vertreter der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft, Richard Deeken, wurde zum latenten Widersacher der Administration.1053 Problematisch entwickelten sich die Dinge, als sich die zuständigen Referenten in der Kolonialabteilung unter Einhaltung »strengster Diskretion« zeitweilig auf die Seite der Gesellschaft stellten und sogar beabsichtigten, Schnee als eine Art »Spezial-Kommissar« und designierten Nachfolger zur Kontrolle Solfs nach Samoa zu entsenden.1054 Hatte zuvor Schmidt-Dargitzʼ Parteinahme zu Gunsten eines Ansiedlers zur Entfremdung mit dem Gouverneur geführt, gestaltete sich nach Bekanntwerden des neuerlichen Doppelspiels auch das Verhältnis zwischen Solf und dem zwischenzeitlichen Samoa-Referenten Fritz Rose angespannt.1055 Die Konflikte mit den Europäern innerhalb der Kolonie hatten nicht zuletzt den Nebeneffekt, dass das Prestige der Administration auch seitens der Samoaner zeitweiligen Schaden nahm. Bereits im Mai 1904 glaubte der Gouverneur feststellen zu können, dass durch die aktuellen Ereignisse »auf die Eingeborenen ein antigouvernementaler Einfluss ausgeübt wird.« Als sicheres Indiz erschien ihm ein »ziemlich unverschämt gehaltenes Schreiben«, das das malô an ihn adressiert hatte. Darin forderten die Spitzenvertreter der samoanischen Selbstverwaltung selbstbewusst, das Gouvernement solle ihnen gegenüber regelmäßig die Finanzlage des ›Schutzgebiets‹ offenlegen. Zusätzlich wurde verlangt, dass Solf seine Verordnungen künftig von Mata’afa gegenzeichnen lassen solle. Erbost schrieb der Gouverneur nach Berlin: »Glauben Sie, dass diese Idee den Gehirnen der Faipule entsprossen ist?«1056 Einige Monate später wies er einen weiteren Antrag zurück, in dem ein Teil der Clanchefs unter dem Deckmantel einer samoanischen HandelsKompanie (oloa) eine Sondersteuer erheben wollte. Mata’afa und seine Gefolgsleute warteten daraufhin einen Erholungsurlaub des Gouverneurs ab, um ihre Petition direkt an den deutschen Kaiser zu richten.1057 Zwar zielten die meisten der darin enthaltenen Forderungen auf eine Erhöhung der Einkünfte der chiefs ab. Gleichzeitig forderten die Petenten aber auch eine bessere Be1052 GStA PK Nl Schnee/51, Solf (Moto’otua) an Schnee vom 25.3.1903, Schreiben. 1053 Allgemein zum Konflikt mit Richard Deeken: Hempenstall, Islanders, S. 39–43; Wareham, Race, S. 73–76; vgl. PA-AA NL 8/50, Adolf Schlettwein (Apia) an Asmis vom 26.7.1910, Schreiben. 1054 BA-B N 2146/56, Ullmann (Berlin) an Deeken vom 28.12.1904, Bericht über Besprechung mit Rose; ebd., Ullmann (Berlin) an Deeken, vom 29.12.1904, Schreiben. 1055 BA-B N 2146/58, Solf (Apia) an König vom 4.10.1903, Schreiben. 1056 BA-K N 1053/127, Bl. 28–33, Solf (Apia) an Rose vom 21.5.1904, Schreiben. 1057 Solf vom 14.12.1904, VO betr. Verbot für die von Häuptlingen betriebene Begründung einer allgemeinen samoanischen Handels-Kompagnie Steuern zu zahlen, erwähnt in: SGB 43 (1905), S. 143; BA-B R 1001/3064, Bl. 46–53, Mata’afa sowie 5 Taimua und 30 Faipule an Wilhelm II. vom 6.1.1905, Petition.
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handlung samoanischer Strafgefangener sowie eine Beteiligung der Einheimischen an Gerichtsverhandlungen, die sowohl Samoaner als auch ›Fremde‹ betrafen.1058 Besonderen Wert legten sie auf die Durchsetzung ihrer Sondersteuer, was nicht zuletzt mit einem vorübergehenden Einbruch der Weltmarktpreise für Kopra und den damit verbundenen Einkommensverlusten zusammenhing.1059 Noch weiter ging ein chief namens Malaeulu, der in Gegenwart von etwa fünfhundert Samoanern dazu aufrief, dem »Gouverneur die Haut mit Pipi-Schalen abzukratzen, wenn er in der Oloa-Frage nicht nachgäbe«.1060 Solfs Stellvertreter sah angesichts dieser Entwicklung die Autorität des Gouverneurs »erschüttert« und ließ zwei Samoaner wegen Beleidigung verhaften. Diese wurden kurz darauf gewaltsam befreit, so dass Gerüchte über Unruhen laut wurden.1061 Zwar konnte Schultz die Situation auf dem Verhandlungsweg stabilisieren, doch sah der kurz darauf eintreffende Solf den Zeitpunkt einer Umgestaltung der samoanischen Selbstverwaltung für unaufschiebbar. Trotz seiner Beteiligung an der sogenannten oloa-Bewegung blieb Mata’afa weiterhin im Amt, war er doch als Galionsfigur kaum entbehrlich. Auch hatte Solf den Eindruck gewonnen, der oberste Würdenträger zeige inzwischen altersbedingte »kindische Anwandlungen«, was seine Instrumentalisierung erleichtern würde.1062 In Bezug auf das malô sah Solf aber den Zeitpunkt gekommen, um »mit den faulenzenden Ränkespinnern in Mulinuu aufzuräumen«.1063 Die bisherige Ratsversammlung wurde aufgelöst, zwei »Rädelsführer« nach Neuguinea deportiert, während andere Beteiligte Geld- und Gefängnisstrafen erhielten. Zwar berief Solf neue Räte ins Amt, doch sollten diese nicht mehr dauerhaft in Mulinu’u wohnen bleiben, sondern sich dort nur zweimal im Jahr beraten. Unmissverständlich erklärte er ihnen außerdem, dass sie jederzeit entlassen werden könnten. Gleichzeitig wurden die Distriktchefs weitgehend entmachtet.1064 Die ausführenden Organe der Selbstverwaltung blieben dagegen weitgehend unangetastet. Tatsächlich arbeiteten diese aus der Sicht des Gouvernements vergleichsweise effektiv und zuverlässig. Gegen Ende seiner Amtszeit berichtete Solf daher nach Berlin, dass die einheimische Beamtenschaft eine »erfreuliche Entwicklung« hinter sich habe. Unter anderem erstellte diese selbständig eine Gesundheitsstatistik der Bevölkerung, erhob die Kopf- und die Hundesteuer sowie die Leihgebühren für Jagdwaffen.1065 Au-
1058 Ebd. 1059 Hempenstall, Islanders, S. 43. 1060 GStA PK Nl Schnee/52, Schultz (Apia) an Schnee vom 21.6.1905, Schreiben; Hempenstall, Islanders, S. 45. Es handelt sich um die Schalen einer Muschelart. 1061 BA-K N 1053/132, Bl. 20–23, Schultz (Apia) an Solf vom 2.2.1905, Schreiben; ebd., Bl. 23–30, Schultz (Apia) an Solf vom 11.2.1905, Schreiben. 1062 BA-B R 1001/3064, Bl. 17–19, Solf (Apia) an KA vom 4.8.1905, Bericht. 1063 Ebd., Bl. 20–34, Solf (Apia) an KA vom 4.8.1905, Bericht. 1064 Ebd., Bl. 74–86, Solf (Mulinu’u) vom 14.8.1905, Ansprache an die Faipule und Distriktchefs; vgl. die Bekanntmachungen vom 14.8., 12., 13.9.1905, erwähnt in: SGB 47 (1906), S. 154. 1065 BA-B R 1001/2975, Bl. 3, Solf (Apia) an RKA vom 3.5.1910, Bericht.
4. Herrschaftspraktiken
ßerdem registrierten die einheimischen Richter seit 1905 alle Geburten- und Sterbefälle unter den Samoanern.1066 Dieses zweifellos nicht auf andere ›Schutzgebiete‹ übertragbare Fazit lässt sich anhand einer Analyse des Kopfsteueraufkommens belegen, was angesichts der Kleinräumigkeit Samoas und des Vorliegens vollständiger Zensusdaten möglich ist. War die Kopfsteuer in den ersten beiden Jahren (1901/1902) für jeden einheimischen Mann auf vier Mark festgesetzt worden, erfolgte seit 1903 ein Splitting entsprechend den sozialen Verhältnissen. Zwischen 1903 und 1905 zahlte daher jedes Familienoberhaupt zwölf Mark jährlich, während ledige Männer weiterhin vier Mark abzuführen hatten.1067 Ab 1906 wurde der letzte Betrag verdoppelt, zwei Jahre später sogar auf zehn Mark angehoben. Eine »kolossal erhöhte Kopfsteuer« galt schließlich ab 1910, bezifferte sich diese doch fortan auf 24 Mark für Familienoberhäupter und zwanzig Mark für jeden unverheirateten Mann.1068 Während ein Vergleich der durchschnittlichen Kopfsteuer eine rasche Umsetzung der jeweils geänderten Steuersätze belegt, lässt sich aus der Höhe der relativen Belastung eine weitgehende Erfassung der Steuerpflichtigen folgern. Damit kann die Kopfsteuer durchaus als Indikator für eine vergleichsweise gut funktionierende Hilfsverwaltung gelten. Dies ist wahrscheinlich auf zwei Aspekte zurückzuführen. Einerseits hatte Solf von Anfang an die Parole ausgegeben, die Steuererträge kämen den einheimischen Amtsträgern unmittelbar zugute, so dass Anträge auf eine Erhöhung bzw. Ausweitung der Kopfsteuer mitunter sogar von Seiten des malô an das Gouvernement herangetragen wurden.1069 Ein weiterer Hinweis für eine einigermaßen effektive Verwaltung ist zweifellos in der Anzahl der Beamten zu erblicken. In dem knapp 37.000 Einwohner fassenden ›Schutzgebiet‹ bezifferte sich die europäische Aufsichtsverwaltung (Gouvernement und Bezirksverwaltung) im Jahr 1910 auf 35 europäische und 72 einheimische Kräfte (inklusive Polizeitruppe). Dazu kam eine lokale Hilfsverwaltung von mehr als dreihundert indigenen Funktionsträgern.1070 Die relative Dichte an Verwaltungspersonal reichte somit – rein quantitativ – annähernd an die eines europäischen Nationalstaats heran und übertraf beispielsweise diejenige in Togo fast um das Zehnfache.1071
1066 Schultz vom 8.3.1905, Rundschreiben an sämtliche Faamasino betr. die Registrierung der Geburten und Sterbefälle, erwähnt in: SGB 47 (1906), S. 154; Solf vom 14.3.1906, Rundschreiben an die Faamasino in Upolu betr. die Registrierung der Geburten und Sterbefälle, erwähnt in: ebd., S. 154. 1067 Hiery, Reich, S. 203. 1068 BA-B R 1001/2767, Bl. 143, Schultz (i.V.) vom 8.3.1906, VO betr. Kopfsteuer der Samoaner; BA-B R 1001/2768, Bl. 16, Schultz (Apia) an RKA vom 9.10.1908, Bericht; BA-B R 1001/3065, Bl. 223, Solf (Apia) vom 1.7.1910, Erhöhung Kopfsteuer; GStA PK Nl Schnee/52, Schultz (Apia) an Schnee vom 29.7.1910, Schreiben (Zitat). 1069 BA-K N 1053/131, Bl. 35–39, Solf (Berlin) an Schnee vom 13.2.1902, Schreiben. 1070 BA-B R 1001/3065, Bl. 183f., Solf (Apia) vom 1.7.1910, Geschäftsordnung des Gouvernements; ebd., Bl. 185–204, Solf (Apia) vom 1.7.1910, Dienststellen des Gouvernements; BA-B R 1001/2948, Bl. 72–103, Auelua, o.D. [Oktober 1901], Account of the Journey of Dr. Solf (5.-17.10.1901); Hiery, Verwaltung Samoas, S. 650, 656, 670, 672. 1071 Während in Samoa ein Beamter auf neunzig Einwohner kam, waren es im sprichwörtlichen Militärund Beamtenstaat Deutschland (1910) 47 Einwohner pro Beamter/Soldat. Für Togo lassen sich 846 Einwohner pro Verwaltungsmitglied errechnen. Trotha, Herrschaft, S. 87f.
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Tabelle 11: Die Entwicklung der samoanischen Kopfsteuer (Beträge in Mark)1072 Jahr
eingegangene Kopfsteuer
Durchschnitt je Steuerzahler
1901
41.552
4,16
1902
41.664
4,17
1903
70.000
7,00
1904
72.000
7,20
1905
72.000
7,20
1906
94.000
9,40
1907
92.875
9,29
1908
105.000
10,50
1909
105.000
10,50
1910
210.480
21,05
1911
210.880
21,09
1912
210.888
21,09
Trotz dieser aus der Sicht des Gouvernements günstigen Entwicklung zeigten sich angesichts der zunehmenden Kritik von Ansiedlern und heimischer Presse bei Solf schon früh Anzeichen von Resignation. War er zu Anfang 1902 noch stolz auf die Kaiserliche Belobigung für seine Amtstätigkeit gewesen, so hoffte er zwei Jahre später auf ein »gütiges Geschick«, das ihm künftig einen »weiteren Kreis der Tätigkeit bieten« möge, als das als »Duodez-Gouverneur« im kleinen Samoa der Fall sei.1073 Zwar resultierten solche Äußerungen zweifellos auch aus vorübergehenden psychischen Belastungen, doch deuten die sich seit 1904 häufenden Urlaubsgesuche auf den dauerhaften Wunsch nach einem anderen Wirkungsfeld hin.1074 Während seines langen Heimataufenthaltes von November 1905 bis November 1906 ergab sich für Solf die Möglichkeit, in eine leitende Stellung in der Berliner Zentrale einzurücken. Davon nahm er jedoch Abstand, da er keinesfalls in die aufziehenden Kolonialskandale hineingezogen werden wollte. Stattdessen hätte er
1072 BA-B R 1001/2948, Bl. 72–103, Auelua, o.D. [Oktober 1901], Account of the Journey of Dr. Solf (5.17.10.1901); BA-B R 1001/2767, Bl. 50, Schnee (Apia) an KA vom 29.12.1902, Bericht; ebd., Bl. 46, Solf (Apia) an Rose vom 2./3.7.1904, Schreiben; ebd., Bl. 145, Schultz (Apia) an KA vom 10.7.1906, Telegramm; BA-B R 1001/2768, Bl. 16, Schultz (Apia) an RKA vom 9.10.1908, Bericht; ebd., Bl. 152, Schultz (i.V., Apia) an RKA vom 18.10.1911, Bericht; ebd., Bl. 180, Schlettwein (i.V., Apia) an RKA vom 6.2.1913, Bericht. Die Werte in den Jahresberichten beinhalten die Steuern sowohl der Europäer als auch der Einheimischen, weshalb sie hier nicht verwendbar sind. Die durchschnittliche Anzahl einheimischer Männer wurde mit 10.000 angesetzt. Vgl. hierzu die Zensuswerte in: JB 1901/02, S. 5490; JB 1906/07, S. 4160; JB 1911/12, S. 173. 1073 BA-K N 1053/131, Bl. 35–39, Solf (Berlin) an Schnee vom 13.2.1902, Schreiben; BA-K N 1053/127, Solf (Apia) an Rose vom 7.2.1904, Schreiben (Zitate). 1074 BA-K N 1053/24, Bl. 109–112, Solf (Moto’otua) an König vom 6.12.1903, Schreiben. Darin schreibt Solf, dass das »immerwährende Sicherverteidigen müssen […] auf die Dauer schwer zu ertragen« sei. Vgl. BA-K N 1053/132, Bl. 19, Solf (o.O.) an Schultz vom 18.1.1904, Schreiben. Danach sei für ihn das »Maß der Unbequemlichkeiten und Sorgen […] gestrichen voll«.
4. Herrschaftspraktiken
es bevorzugt, sich als kolonialer Sachverständiger an der deutschen Botschaft in London »anderthalb bis zwei Jahre ein wenig ausruhen« zu können, um dann seinen »Lieblingsplan« zu realisieren und als Nachfolger Götzens nach Deutsch-Ostafrika zu wechseln.1075 Letzteres blieb illusorisch, weshalb Solf im Oktober 1906 seine Wiederausreise nach Samoa vorläufig als die »beste Lösung« bezeichnete.1076 Erst als vier Jahre später der Gouverneursposten in Ostafrika erneut vakant zu werden schien, beschloss er, nicht mehr nach Samoa zurückzukehren. Das lässt sich nicht nur aus seinen wiederholten Anträgen auf Urlaubsverlängerung folgern.1077 Zugleich suchte er Unterstützer in der Metropole zu mobilisieren.1078 Selbst Schultz, seinem ständigen Vertreter in Apia, hatte er diese Pläne nicht verschwiegen, so dass dieser sich bereits als Nachfolger ins Spiel zu bringen suchte.1079 Tatsächlich sollten sich Solfs Hartnäckigkeit ebenso wie seine politische Beweglichkeit auszahlen. Als am 3. November 1911 Lindequist vom Posten des Kolonialstaatssekretärs aus Protest gegen das bevorstehende Marokko-Abkommen zurücktrat, hatte der Noch-Gouverneur von Samoa seine Rückreise aus Deutschland so lange hinausgezögert, dass er im entscheidenden Moment am Ort des Geschehens war. Zudem unterstützten ihn einflussreiche Fürsprecher. Außerdem verstand es der geschickte Solf, sich den Standpunkt des Staatssekretärs des Äußern, Alfred v. Kiderlen-Wächter, zu eigen zu machen und binnen weniger Tage dem Reichskanzler ein Memorandum vorzulegen, in dem er gegen seine eigentliche Überzeugung die Inhalte des Marokko-Vertrags als vorteilhaft hervorhob.1080 Vom Kaiser daraufhin mit der Nachfolge Lindequists betraut, fand sich der bisherige Gouverneur der kleinsten Kolonie fortan an der Spitze der deutschen Kolonialverwaltung wieder.1081
1075 BA-K N 1053/26, Bl. 152f., Solf (Berlin) an Seegner vom 29.11.1905, Schreiben (Zitat 1); BA-K N 1053/132, Bl. 31f., Solf (Berlin) an Schultz vom 22.12.1905, Schreiben (Zitat 2); ähnlich: BA-K N 1053/131, Bl. 96–98, Solf (Berlin) an Schnee vom 12.12.1905, Schreiben. 1076 BA-K N 1053/2, Bl. 5–9, Solf (Berlin) an seinen Bruder Otto vom 25.5.1906, Schreiben; BA-K N 1053/132, Bl. 79–84, Solf (Berlin) an Schultz vom 22.10.1906, Schreiben (Zitat). 1077 BA-K N 1067/21, Exzerpt aus der Personalakte Solfs; vgl. PA-AA NL 8/50, Adolf Schlettwein (Apia) an Asmis vom 26.7.1910, Schreiben. 1078 BA-K N 1053/109, Bl. 9f., Hahl (Berlin) an Solf vom 20.11.1910, Schreiben; Rathenau, Tgb., S. 128, 136 (12.2., 6.4.1911). 1079 GStA PK Nl Schnee/52, Schultz (Apia) an Schnee vom 9.2.1911, Schreiben. 1080 Forsbach, Kiderlen-Wächter 2, S. 529–532; vgl. Vietsch, Solf, S. 103f.; BA-B N 2345/15, Bl. 122f., Danckelman (Schwerin) an Zimmermann vom 26.10.1912, Schreiben. Danach sei Solf »vollständig in der Hand von K[iderlen]W[ächter]« gewesen. BA-K N 1053/33, Bl. 222, Solf an Glasenapp vom 31.1.1913, Schreiben. 1081 Zu Solfs Ernennung: Schnee, Gouverneur, S. 110–112. Zum Rücktritt Lindequists: HZA Nl Hohenlohe-Langenburg La 142 Bü 765, Seitz (Windhuk) an Hohenlohe-Langenburg vom 25.11.1911, Schreiben; Radziwill, Briefe, S. 345 (5.11.1911); Schnee, Gouverneur, S. 104–107; Forsbach, Kiderlen-Wächter 2, S. 505f., 529f.; Kundrus, Reichskolonialamt, S. 15f.
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4.5 Gouverneure in Afrika nach der ›Kolonialkrisis‹ Die namentlich in den drei großen afrikanischen ›Schutzgebieten‹ auftretenden krisenhaften Erscheinungen während der Jahre 1904/05 lösten zusammen mit etlichen Kolonialskandalen in der Metropole Überlegungen für eine Neuformierung des kolonialen Projekts aus. Die damit verbundenen Reformansätze werden üblicherweise mit dem Namen des 1906 ins Amt berufenen und wenig später zum Staatssekretär des neuen Reichskolonialamts ernannten Dernburg in Verbindung gebracht. Wie noch zu zeigen sein wird, bestand dessen Credo allerdings nur vordergründig darin, den indigenen Gesellschaften eine bessere Behandlung zuteilwerden zu lassen. Hinter dieser Absicht stand in erster Linie das Ziel einer Erhaltung der fortan als wertvolles Aktivum wahrgenommenen Menschen in den Kolonien sowie eine erhöhte Ausnutzung ihrer Arbeitskraft. Damit sollten sowohl die wirtschaftlichen Aktivitäten gesteigert und Kapital in die ›Schutzgebiete‹ gelockt als auch eine bessere Selbstfinanzierungsquote der Kolonialadministration erreicht werden.1082 Wie in den folgenden Abschnitten zu zeigen sein wird, klafften zwischen diesen Zielsetzungen und deren Realisierung gewichtige Differenzen. Dazu kam, dass in dem zur Siedlungskolonie auserkorenen Deutsch-Südwestafrika bereits vor Dernburgs Amtsantritt andere Prämissen in die Tat umgesetzt wurden. Bevor der Blick dorthin sowie zur Arbeitskräftepolitik der Gouverneure in den drei großen afrikanischen Kolonien zu richten ist, wird aber ein bislang lediglich am Rande erwähntes ›Schutzgebiet‹ zu untersuchen sein. Die Rede ist von Togo, das ähnlich wie die beiden ozeanischen Kolonien kaum von der großen ›Krisis‹ betroffen worden war.
4.5.1 Julius Graf von Zech und die ›Musterkolonie‹ Togo Togo, das mit Abstand kleinste afrikanische ›Schutzgebiet‹ des Kaiserreichs, wurde im Zusammenhang mit Soden, Zimmerer und Puttkamer bereits wiederholt thematisiert. Als Letzterer zum Jahresende 1894 nach Kamerun versetzt wurde, entsandte die Kolonialabteilung den bis dahin in Deutsch-Südwestafrika als Richter und stellvertretender Kommissar tätigen Regierungsassessor Köhler nach Togo. Dieser avancierte dort binnen kurzem zum Landeshauptmann, um schließlich – ebenso wie Leutwein – im April 1898 den Titel eines Gouverneurs zu erhalten. War zum Zeitpunkt seiner Amtsübernahme die dortige koloniale Administration noch weitgehend auf den Küstenstreifen begrenzt, zielten Köhlers Absichten bis zu seinem plötzlichen Tod im Januar 1902 auf eine effektive Beherrschung auch des Binnenlandes ab.1083 Ein solches Vorgehen war aus der Sicht der Kolonialverwaltung durchaus konsequent, handelte es sich doch um ein ›Schutzgebiet‹, dessen Ost-West-Ausdehnung lediglich zwischen fünfzig und zweihundert Kilometer umfasste, während es von Süden nach Norden mehr als fünfhundert Kilometer tief ins Landesinnere reichte.
1082 Siehe hierzu Kapitel 4.5.3. 1083 Zum Tod Köhlers: ANT FA 1/30, Bl. 1, Preil (Lomé) vom 19.1.1902, Vermerk; ebd., Bl. 29–32, Aussage des Kochs Folli vom 21.1.1902; Zurstrassen, Beamte, S. 59.
4. Herrschaftspraktiken
Das Vorschieben europäischer Präsenz erfolgte auch hier in mehreren Schüben und mit Hilfe fester Stützpunkte, die die deutschen Herrschaftsansprüche sowohl absichern als auch nach außen hin sichtbar machen sollten. Erneut dürfte es kaum überraschen, dass Köhler für sein Vorhaben nur ein kleiner Stab an europäischem Personal zur Verfügung stand. Kurz nach seiner Ankunft waren in den Küstenorten Sebbe, Anecho (damals noch Klein-Popo) und Lomé lediglich vierzehn Beamte eingesetzt. Dagegen befanden sich im Binnenland gerade einmal sechs Regierungsvertreter.1084 Unter den letzteren befand sich der damals 27-jährige Zech, der im März 1895 von Berlin aus in Marsch gesetzt worden war. Unmittelbar nach seiner Ankunft betraute ihn Köhler nacheinander mit der vertretungsweisen Leitung der beiden Stationen Misahöhe und Kete-Kratji.1085 Letztere sollte für mehr als vier Jahre Zechs Wirkungsort bleiben. Als dauerhafter Stützpunkt war Kete-Kratji erst kurz zuvor an einem Kreuzungspunkt wichtiger Handelsstraßen gegründet worden, nachdem Puttkamer den dortigen »Fetischpriester« kurzerhand hatte hinrichten lassen.1086 Zechs Auftrag war angesichts seiner geringen Ressourcen recht umfassend. Er hatte offiziell die seiner Station unmittelbar benachbarte und von der Ethnie der Hausa dominierte »Handelsstadt Kete gegen die Übergriffe der eingeborenen Bevölkerung zu sichern [und] für eine sichere Verbindung mit der Küste zu sorgen.«1087 Sieben Tagesmärsche von Misahöhe und dreizehn Tagesetappen von der Küste entfernt, verfügte er zu diesem Zweck lediglich über zwei Dutzend einheimische Polizeisoldaten.1088 Auch war Zech anfangs der einzige europäische Beamte auf diesem Posten. Da Kete-Kratji eine Relaisstation für Expeditionen ins Binnenland war, wurde der Ort aber hin und wieder von anderen Europäern frequentiert. Auch Zech suchte sich ethnographische wie geographische Informationen zu beschaffen, um diese für seine Verwaltungsaufgaben unmittelbar zu nutzen. Während seine 1898 publizierten »vermischten Notizen über Togo und das Togohinterland« vordergründig den Eindruck wissenschaftlichen Interesses vermitteln, belegt eines seiner unveröffentlichten Reisetagebücher unverhohlen die Absicht, koloniales Herrschaftswissen zu generieren.1089 Seine während einer Inspektionsreise in die Umgegend der Substation Bismarckburg verfassten Notizen bestehen folglich in erster Linie aus den Namen der besuchten Ortschaften, der Anzahl der Wohngebäude sowie einer Aufstellung über die jeweils an ansteckenden Krankheiten leidenden Einwohner. Dazu kommen
1084 DKB 6 (1895), S. 268f. 1085 Kurz vor seiner Abreise nahm Zech am Abschiedsessen für Eugen Zimmerer teil, was vermutlich die einzige potentielle Möglichkeit für ihn darstellte, sich in letzter Minute aus erster Hand über die Verhältnisse in Togo zu informieren. Seitz, Aufstieg 1, S. 9f. In Misahöhe hielt er sich nur wenige Wochen auf. Bereits ab Mai 1895 war Zech in Kete-Kratji. Zur dortigen Situation: Herold, Kratschi. 1086 BA-B N 2345/18, Doering vom 1.2.1895, Tagebuch der Station Kete (Auszug); Sebald, Togo, S. 162–164. 1087 Fitzner, Kolonial-Handbuch (1896), S. 65 (Zitat). Generell zur Kete-Kratji: Sebald, Togo, S. 89f. Zum Aufgabenrepertoire einer Station in Togo: Trotha, Herrschaft, S. 65. 1088 BA-B N 2345/25, Bl. 59f., Gruner (Kete-Kratji) an Zimmermann vom 19.11.1896, Schreiben. 1089 Zech, Notizen; vgl. ders., Land. Das Tagebuch über die Inspektionsreise 1899/1900 findet sich in: Museum Fünf Kontinente, Nl Zech, alte Signatur Afr 1722b. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben.
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Bemerkungen über Straßenverbindungen und Wasserläufe sowie über die von indigenen chiefs geleisteten Tributzahlungen. Angaben über mythologische Vorstellungen oder Jagdtechniken der Einheimischen finden sich in dieser Quelle dagegen lediglich als knappe Einschübe. Zech betrieb das Sammeln von Daten mit ungewöhnlicher Akribie. Beispielsweise äußerte sich Köhler anerkennend über den »unermüdlichem Fleiß« des Grafen, habe dieser doch in der »drückendsten Sommerhitze den Weg an der Ostgrenze sogar mit dem Maßband abgemessen«.1090 Durch sein Vorgehen suchte Zech dem nach wie vor eklatanten Mangel an praktisch verwertbaren Informationen über Land und Leute entgegenzuwirken. Es verwundert daher kaum, dass sich Köhler trotz seiner Voreingenommenheit gegenüber jungen Offizieren von Anfang an »sehr zufrieden« über Zech äußerte.1091 Tatsächlich handelte der Stationsleiter im Sinne seines Vorgesetzten, wenn er den Einflussbereich seiner Station kontinuierlich auszuweiten suchte. Angesichts der begrenzten Machtmittel bediente auch er sich dazu eines Instrumentariums, das je nach Situation aus einer mehr oder weniger nachdrücklichen Überredung einheimischer Machthaber zur Akzeptanz der deutschen Oberhoheit, einer gezielt inszenierten show of force-Politik als Mittel der Einschüchterung, in letzter Konsequenz aber auch in einer Anwendung offener Gewalt bestand.1092 Auch in Togo stellte vor allem aber die Einbeziehung indigener Würdenträger in den kolonialen Herrschaftsapparat ein wesentliches Element zur Aufrichtung dauerhafter Strukturen dar. In der Regel waren wiederum die lokalen Verhältnisse für die Europäer von Vorteil, existierte doch neben einer Vielzahl von untergeordneten und nur über einen beschränkten Einfluss verfügenden chiefs auf dörflicher Ebene eine Reihe von regionalen Machthabern, die von der Kolonialadministration mit den Bezeichnungen king, ›Oberhäuptling‹ oder ›Sultan‹ versehen wurden. Diese standen besonders im Fokus von Zech und seinen Amtskollegen. Umgekehrt suchten auch die indigenen chiefs wiederholt die waffentechnische Überlegenheit der kolonialen Polizeitruppe für ihre eigenen Interessen auszunutzen.1093 Exemplarisch für das Vorgehen der Kolonialadministratoren in Togo lässt sich eine Expedition anführen, die Zech von Januar bis März 1896 in die Landschaften Tshautsho und Djougou im Nordosten des ›Schutzgebiets‹ unternahm. Den Anlass für diesen Zug über fast dreihundert Kilometer hatte ein Gesuch Dyabós, des kings von Tshautsho, gegeben. Dieser hatte die Station Kete-Kratji um Schutz vor einem Ausgreifen französischer Expeditionen auf sein Herrschaftsgebiet gebeten. Dyabó handelte allerdings keineswegs
1090 BA-B N 2345/33, Bl. 7–10, Köhler (Sebbe) an Zimmermann vom 19.9.1895, Schreiben; vgl. JB 1898/99, S. 2694. 1091 BA-B N 2146/34, Köhler (Sebbe) an König vom 19.10.1895, Schreiben (Zitat); ebd., Köhler (Sebbe) an König vom 31.10.1895, Schreiben. 1092 Zwischen 1897 und 1900 wurden in Togo 25 sogenannte Polizeiaktionen durchgeführt. Gründer, Geschichte, S. 143. Nach einer Einschätzung von Sebald, Togo, S. 227, sei die tatsächliche Zahl der ›Gefechte‹ noch weit höher anzusetzen. Dass vereinzelt kriegerische Zusammenstöße in den Akten nicht erscheinen, ist tatsächlich nicht auszuschließen. Weshalb diese aber systematisch und koordiniert unterschlagen worden sein sollen, lässt sich kaum nachvollziehen. Offiziere wie Doering, Massow oder Mellin suchten ihre vermeintlichen ›Heldentaten‹ vielmehr gezielt in den Vordergrund zu rücken, um eine begehrte Auszeichnung zu erlangen. 1093 Erbar, Platz, S. 51–62; Trotha, Herrschaft, S. 219–334.
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aus Sympathie für die Deutschen. Um deren Hilfe suchte er vor allem deshalb nach, weil die französische Verwaltung den mit ihm rivalisierenden king Urubaya von Agbandé favorisierte.1094 Die mobilen Machtmittel Zechs bestanden allerdings neben einem Dolmetscher nur aus sechzehn Polizeisoldaten und einigen Lastenträgern. Von einem ›Feldzug‹ kann daher kaum gesprochen werden.1095 Zwar handelte der Graf mit Dyabó einen Schutzvertrag aus, der diesem und den von ihm kontrollierten chiefs untersagte, die französische Flagge anzunehmen. In dessen Residenzort Parataú konnte er aber lediglich zwei Leute seiner Begleitmannschaft als Repräsentanten des deutschen Machtanspruchs zurücklassen. Wenige Tage später erkannte auch der benachbarte king von Djougou die Oberhoheit des Kaiserreichs an. Zech war zu diesem Zeitpunkt aber bereits durch Fieber und Dysenterie so sehr geschwächt, dass er die Expedition abbrechen musste. Auf halber Strecke nach Kete-Kratji traten ihm die Krieger Urubayas entgegen, die er aber mit Hilfe seiner neuen Verbündeten in die Flucht schlagen konnte. Der Verlierer erschien wenig später auf der Station, um sich zu unterwerfen. Gegen Zahlung eines mäßigen Jahrestributes beließ Zech ihn im Amt.1096 Anhand dieses Beispiels lässt sich das vielzitierte, dabei aber Gewalt nicht ausschließende Aushandeln örtlicher Machtchancen gut nachvollziehen. Alle drei kings hatten sich am Ende äußerlich der deutschen Oberhoheit unterworfen. Gleichzeitig blieb die für die Aufrechterhaltung der Stabilität der indigenen Gesellschaften notwendige personelle Kontinuität gewahrt. Dabei erfuhr die Stellung Dyabós für den Augenblick eine Stärkung, beim king von Djougou blieb sie wohl unverändert, während Urubaya geschwächt aus dem Konflikt hervorging. Ein häufiges Kennzeichen solcher auf temporären Machtkonstellationen basierenden Aushandlungsprozesse war jedoch, dass von einer dauerhaften Regelung nicht die Rede sein konnte, geschweige denn vom Beginn einer realen Kolonialverwaltung. Vielmehr blieben Zechs Einflussmöglichkeiten in den betreffenden Landschaften ebenso begrenzt wie fragil. Wenngleich die unklaren Grenzregelungen mit dem europäischen Konkurrenten den konkreten Anlass bildeten, ist es daher kein Zufall, dass der Stationsleiter von Kete-Kratji im Jahr darauf erneut in dieselben Gegenden marschierte. Mit Unterstützung der Polizeitruppe des Oberleutnants Massow erfolgte diesmal aber die Errichtung einer Regierungsstation. Erst dieser Schritt markiert für diese Gegenden die Anfänge einer ständigen, wenn auch rudimentären Administration.1097 Köhler hatte diese Aktivitäten aus der Ferne registriert und aus Zechs Berichten gefolgert, dass die »Bedeutung der Station Kete-Kratschi als eines wichtigen Stützpunktes für die Festigung und Erweiterung unserer Beziehungen […] klar auf der Hand« liege. »Das Verdienst, dies in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht zu haben« sei »in erster Linie dem Grafen Zech« zuzuschreiben.1098 Beides war nicht gänzlich falsch, stellt 1094 Sebald, Togo, S. 185f. Zur Person Dyabós: Zech, Notizen, S. 117f. 1095 So aber: Sebald, Togo, S. 186f.; verharmlosend dagegen: Trierenberg, Togo, S. 93–99. 1096 Vgl. Zech, Notizen, S. 121; Massow, Tgb., S. 423 (20.9.1897); Sebald, Togo, S. 187. Zu den Motiven Urubayas: BA-B N 2345/25, Bl. 55f., Gruner (Sebbe) an Zimmermann vom 9.5.1896, Schreiben. 1097 Sebald, Togo, S. 187–189; vgl. BA-B N 2345/25, Bl. 59f., Gruner (Kete-Kratji) an Zimmermann vom 19.11.1896, Schreiben; Massow, Tgb., S. 277–280, 288f., 293, 299, 305 (2., 3., 12., 13., 16., 21.2.1897); Erbar, Platz, S. 42. 1098 BA-B N 2340/3, Köhler (Sebbe) an KA vom 27.2.1896, Bericht (Abschrift).
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aber letztlich eine verkürzte Wiedergabe der tatsächlichen Verhältnisse im Landesinnern dar. Nicht nur der Expeditionsleiter Ernst v. Carnap-Quernheimb gewann deshalb über die Beamten an der Küste den Eindruck, »als ob die Herren vollständig falsche Begriffe vom Hinterlande haben, von Entfernungen selbst hat der Landesherr [Köhler] keinen Schimmer«.1099 Über dieses Defizit war sich Köhler durchaus bewusst, hatte er doch erkannt, dass »ein Tag persönlicher Anwesenheit an Ort und Stelle die Gewinnung eines objektiven Urteils mehr fördert, als dickleibige, langatmige Berichte eines schreibseligen Stationsleiters während eines ganzen Jahres.«1100 Da für den korpulenten Landeshauptmann aber das »Reisen in den Tropen […] wahrlich kein Vergnügen« bedeutete und er in den sieben Jahren seiner Amtszeit lediglich eine kürzere und eine längere Inspektionstour ins Landesinnere unternahm, blieb er in den Augen seiner Untergebenen stets ein »Küsten-Mensch«.1101 Für die wachsende Zahl seiner Stationsleiter konnten sich dadurch Handlungsspielräume ergeben, die über das ohnehin übliche Maß noch hinausreichten.1102 Entscheidend war, ob es dem Landeshauptmann gelang, seine Untergebenen auch ohne seine persönliche Anwesenheit zu kontrollieren und zu dirigieren. Die mehr oder minder regelmäßigen Berichte der Binnenstationen stellten zu diesem Zweck zweifellos das wichtigste Hilfsmittel dar. Diese Schriftstücke, die sich – alle Stationen zusammengerechnet – jedes Jahr auf etliche hundert Lagebeurteilungen, Abrechnungen, statistische Zusammenstellungen oder Kartenskizzen summierten, bedeuteten eine regelrechte Informationsflut, ohne dass diese aber zwangsläufig die Realitäten im Landesinnern wiederspiegeln musste.1103 Es hieße allerdings die Funktionsweisen eines bürokratisch organisierten Berichtswesens zu verkennen, wollte man davon ausgehen, dass es sich bei den Inhalten aus der Sicht der Stationsleiter lediglich um »le pur fruit de mon imagination« gehandelt habe.1104 Die Herstellung bloßer Phantasieprodukte wäre jeder vorgesetzten Behörde rasch aufgefallen. Einerseits war es Usus, verschiedene Themenkomplexe »nicht in einem Berichte zusammenzufassen«, sondern diese auf mehrere Einzelberichte zu verteilen.1105 Eine solche Trennung nach Sachgebieten erhöhte zwar die Anzahl der Schriftstücke, erleichterte aber der vorgesetzten Behörde deren inhaltliche Analyse enorm. Gingen etwa die Angaben aus einem aktuellen Bericht mit denen eines früheren Schriftstücks zur 1099 BA-B N 2345/12, Bl. 15–17, Carnap-Quernheimb (Kete-Kratji) an Zimmermann vom 30.6.1896, Schreiben. 1100 BA-B R 1001/4307, Bl. 51–55, Köhler (Sebbe) an Hohenlohe-Schillingsfürst vom 7.8.1895, Bericht. 1101 Ebd. (Zitat 1). Zu Köhlers Inspektionsreisen: ANT FA 1/268, Köhler (Lomé) an KA vom 15.12.1895, Telegramm; Köhler, Reise, S. 484–489; Massow, Tgb., S. 751, 757, 778 (26.12.1898, 8.1., 5.3.1899). Zitat 2: ebd., S. 761 (2.2.1899). 1102 In den Jahren 1896 bis 1898 wurden drei neue Stationen gegründet: Sansane-Mangu, Sokodé, Atakpame. 1103 Hausen, Kolonialherrschaft, S. 102f.; Erbar, Platz, S. 44f.; Trotha, Herrschaft, S. 114f., 166–168. Allein die Station Sokodé fertigte in den Jahren 1912–1914 täglich zwischen drei und fünf amtliche Schriftstücke an. Vor der Jahrhundertwende war deren Zahl aber noch geringer. 1104 Delafosse, Broussard, S. 214 (Zitat). Von hohen imaginären Anteilen am Berichtswesen gehen aus: Spittler, Verwaltung, S. 60f., 64, 91–94, 105; Trotha, Herrschaft, S. 167, 395. 1105 KA (Stuebel) an alle Gouvernements vom 29.12.1902, Runderlass, abgedruckt in: LGG Kamerun, S. 47f.
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selben Thematik nicht konform, kam es zwangsläufig zu Rückfragen, die sich dauerhaft wiederum disziplinierend auf die Berichterstatter auswirkten. Ein zusätzliches Korrektiv stellte das gezielte Sammeln von Informationen aus außeramtlichen Kanälen dar. Solche Vergleichsmaterialien fanden sich wiederum in schriftlichen oder mündlichen Aussagen von Missionaren, Händlern, Ansiedlern und nicht zuletzt auch der indigenen Bevölkerung. Beispiele für die Nutzung solcher inoffiziellen Quellen wurden bereits zu Deutsch-Ostafrika angeführt.1106 Das zentrale Problem bei der Auswertung der in einem Gouvernement einlaufenden Informationen war deshalb weniger in den mitgeteilten Inhalten an sich zu suchen als im Grad ihrer Ausführlichkeit und vor allem in der Tendenz der dargestellten Vorgänge. Es liegt auf der Hand, dass jeder Stationsleiter das eigene Handeln stets positiv hervorzuheben, Misserfolge zu beschönigen und etwaige Regelverstöße zu vertuschen suchte.1107 Entscheidend war daher, ob der Gouverneur solche auch aus der Persönlichkeit der Berichtenden resultierenden Gesichtspunkte mit einkalkulierte und am Ende aus der Informationsflut das für ihn Wesentliche herauszufiltern verstand. Dass das bei Köhler zumindest ansatzweise der Fall war, belegen seine Einschätzungen über die einzelnen Stationschefs. Beispielsweise bezeichnete er den Premierleutnant Hans-Georg v. Doering (Atakpame) als einen »Windhund, dessen Berichten man niemals ganz Glauben schenken konnte, und der in seiner Sucht zu blenden, wie sich hinterher herausstellte, über viele Dinge ganz falsche Vorstellungen erweckt hat.« Dagegen befand er den Leiter von Sokodé, Dr. Hermann Kersting, als einen zwar »sehr nette[n] Mensch[en]«, der aber »von einem Beamten und seinen Pflichten […] wenig Ahnung« habe.1108 Im direkten Leistungsvergleich äußerte sich der Gouverneur über die beiden aufschlussreich: »Doering spricht viel und zeigt wenig, Kersting jedoch spricht wenig und zeigt viel.«1109 Dem von Puttkamer hochgelobten Hans Gruner (Misahöhe) schrieb Köhler dagegen einen »geradezu gewissenlosen Ehrgeiz« zu, habe sich dieser doch »als ein bedenklicher Schaumschläger entpuppt, dem es auf die gröbste Unwahrheit nicht ankommt«.1110 Solche Erkenntnisse deuten kaum auf eine unkritische Übernahme der Inhalte der vorgelegten Berichte hin. Von einer systematischen und gänzlich unbemerkten Irreführung des Gouverneurs durch »les vrais chefs« im Landesinnern kann daher kaum die Rede sein.1111 Dennoch ändert diese Einschränkung nichts an dem Faktum, dass namentlich ein wenig mobiler Verwaltungschef sich der prinzipiellen Ab-
1106 Siehe Kapitel 4.2 und 4.3.1. 1107 Hierzu auch: Spittler, Verwaltung, S. 91f., 94. 1108 BA-B N 2345/33, Bl. 22–24, Köhler (Karlsbad) an Zimmermann vom 7.9.1897, Schreiben; vgl. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Victoria) an König vom 19.7.1895, Schreiben. 1109 Massow, Tgb., S. 764 (2.2.1899). 1110 BA-B N 2345/33, Bl. 22–24, Köhler (Karlsbad) an Zimmermann vom 7.9.1897, Schreiben (Zitat 1); BA-B N 2146/34, Köhler (Lomé) an König vom 20.6.1898, Schreiben (Zitat 2); vgl. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Victoria) an König vom 19.7.1895, Schreiben. 1111 Delavignette, Chefs (Zitat). Diesen auf die Bezirkschefs des französischen Kolonialreichs bezogenen Buchtitel aus dem Jahr 1939 hat Spittler, Verwaltung, S. 54, in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. Trotha, Herrschaft, S. 86, hat die deutsche Übersetzung (»wahre Herrscher«) für die Stationsleiter in Togo übernommen.
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hängigkeit von den Lagebeurteilungen seiner Untergebenen nie zur Gänze zu entziehen vermochte. Ein weiteres Manko der Position Köhlers bestand darin, dass er – im Gegensatz zu seinen Möglichkeiten gegenüber den unteren und mittleren Beamten – einen in seinen Augen ungeeigneten Stationsleiter nicht ohne Weiteres absetzen konnte.1112 Das traf besonders dann zu, wenn der Betreffende in der Berliner Zentrale über einflussreiche Unterstützer verfügte. Köhler erreichte daher nur wenig, wenn er etwa in Bezug auf Gruner an den Personalchef König schrieb, dass dessen »Wiederaussendung […] nicht im Interesse des Schutzgebietes« liege.1113 Tatsächlich verfügte Gruner mit den beiden Referenten Alexander Freiherr v. Danckelman und Alfred Zimmermann über die nötige Rückendeckung in Berlin. Das trug nicht wenig dazu bei, dass er schließlich der dienstälteste Beamte des ›Schutzgebietes‹ werden sollte.1114 Ein Gegenbeispiel stellt der württembergische Oberleutnant August Braunbeck dar, der sich als Kommandeur der Polizeitruppe dem Landeshauptmann nicht unterordnen wollte. Anders als Gruner konnte Braunbeck offenbar nicht auf einflussreiche Gönner zurückgreifen, so dass es Köhler lediglich einige Privatbriefe an den Personal- sowie an den Togo-Referenten in der Kolonialabteilung kostete, um den allzu selbständigen Offizier nach nur fünf Monaten wieder ablösen zu lassen.1115 Neben der Befugnis zur Einforderung von Berichten sowie den Einwirkungsmöglichkeiten im Personalwesen war der Gouverneur als oberster Beamter seiner Kolonie berechtigt, seinen Untergebenen konkrete Weisungen und Befehle zu erteilen. Diese an sich schärfste Waffe gegen ein eigenmächtiges Vorgehen der Stationsleiter büßte bei dem überwiegend an der Küste residierenden Köhler aber angesichts der langwierigen Kommunikationsverbindungen erheblich an Wirksamkeit ein. Vom Handeln seiner Untergebenen im Landesinnern erfuhr er stets erst im Nachhinein, als es für ein Nachsteuern oft zu spät war. Das erkannte man auch im fernen Berlin. Als beispielsweise Zech im Mai 1896 mit dem king Isafa (auch: Kabaky) von Salaga aufgrund wechselseitiger Missverständnisse in Konflikt geraten war und dabei dessen Residenz niedergebrannt hatte, war in der Kolonialabteilung zeitweilig der Eindruck entstanden, Köhler sei ein »schlapper Onkel, der die Zügel vollständig verloren hat.«1116
1112 BA-B N 2146/34, Köhler (Lomé) an König vom 30.5.1895, Schreiben; BA-B N 2345/33, Bl. 13–16, Köhler (Lomé) an Zimmermann vom 4.8.1896, Schreiben; Massow, Tgb., S. 108f. (30.8.1896). 1113 BA-B N 2146/34, Köhler (Lomé) an König vom 20.6.1898, Schreiben. 1114 Vgl. Briefe Gruners an Zimmermann aus den Jahren 1895–1913, in: BA-B N 2345/25; BA-B N 2345/15, Bl. 30f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 27.4.1896, Schreiben; ebd., Bl. 36, Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 6.8.1896, Schreiben. 1115 BA-B N 2345/33, Bl. 7–10, Köhler (Sebbe) an Zimmermann vom 19.9.1895, Schreiben; BA-B N 2146/34, Köhler (Sebbe) an König vom 31.10.1895, Schreiben; ebd., Köhler (Sebbe) an König vom 2.2.1896, Schreiben; vgl. Massow, Tgb., S. 50 (5.5.1896). 1116 BA-B N 2345/15, Bl. 36, Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 6.8.1896, Schreiben; BA-B N 2345/12, Bl. 15–17, Carnap-Quernheimb (Kete-Kratji) an Zimmermann vom 30.6.1896, Schreiben; BA-B R 1001/4390, Bl. 172–179, Zech (Kete-Kratji) an Köhler vom 3.7.1896, Bericht; BA-B N 2345/25, Bl. 57, Gruner (Misahöhe) an Zimmermann vom 5.8.1896, Schreiben; Massow, Tgb., S. 155f. (15.11.1896). Eine teilweise entstellte Wiedergabe des Vorfalls findet sich in: Sebald, Togo, S. 180f. Verharmlosend: Trierenberg, Togo, S. 99–102.
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Angesichts solcher Schwierigkeiten blieb dem Gouverneur vor allem seine Befugnis zur Zuteilung von Finanzmitteln, um zumindest mittelbar die Kontrolle zu behalten. Trotzdem die Haushalte der ›Schutzgebiete‹ auf gesetzgeberischem Wege durch den Reichstag verabschiedet wurden, besaß der Gouverneur die Möglichkeit, über die Aufstellung der jährlichen Etatentwürfe die einzelnen Stationen mehr oder weniger mit finanziellen Mitteln auszustatten. Zwar ist ein definitiver Zusammenhang schwer zu belegen, doch fällt auf, dass Köhler gerade in einer Phase sich häufender Eigenmächtigkeiten der Stationsleiter eine Verfügung erließ, die in deren Augen »geradezu alles bisher Dagewesene in den Schatten« stellte. Köhlers Polizeikommandeur folgerte daraus: »Danach stehen den Stationen von nun ab fast gar keine Mittel mehr zur Verfügung.«1117 Für Kete-Kratji bedeutete das zeitweilig eine erhebliche Reduktion der Polizeitruppe sowie den vorläufigen Verzicht auf weitere Expeditionen. Massow zufolge hatten die monetären Einschnitte auch Einfluss auf Zechs Amtsstellung: »Er ist eigentlich nun nichts weiter wie Postbeamter für die weiteren Innenstationen.«1118 Ähnlich klagte Gruner, dessen damalige Station Sansane Mangu nur noch mit »ganz unzureichenden Mitteln« in Höhe von 25.000 Mark ein ganzes Jahr lang auskommen sollte. Auch er musste »aus Mangel an Mitteln« den Großteil seiner Soldaten entlassen, so dass er im Hinblick auf seine künftigen Gestaltungsmöglichkeiten resigniert die Frage stellte: »Was soll das werden?«1119 Umgekehrt ließ sich mit Hilfe des Zugriffs auf die Finanzen gezielt auch Einfluss auf die Loyalität eines sich in den Augen des Gouverneurs wohl verhaltenden Stationsleiters ausüben, indem dem Betreffenden in Aussicht gestellt wurde, ihm künftig »wieder mehr Mittel […] zu bewilligen«.1120 Andererseits wussten manche Beamte solche Disziplinierungsversuche teilweise zu unterlaufen, indem sie zum Beispiel Leistungen der indigenen Bevölkerung, wie etwa die Instandhaltung der Stationsgebäude oder den Bau von Wegen und Straßen, unentgeltlich einforderten.1121 Dazu kam die Möglichkeit, von den chiefs der Umgegend noch vor der offiziellen Einführung von Steuern kurzerhand Tributzahlungen in Geld zu erheben.1122 Solche irregulären Einnahmen flossen dann in die mitunter von der Forschung unnötig mythologisierten ›schwarzen Fonds‹ einzelner Stationen, die letztlich nichts anderes darstellten, als nicht im offiziellen Etat ausgewiesene Nebeneinkünfte zur Schließung von Finanzierungslücken.1123 Angesichts der Bemühungen des Gouverneurs, die Tätigkeit der Leiter in den Binnenbezirken zu kontrollieren, entsteht zwangsläufig der Eindruck eines wachsenden Gegensatzes zwischen der Zentralverwaltung an der Küste und den Stationschefs im Landesinnern. Tatsächlich offenbarte sich nach dem plötzlichen Tod Köhlers, welche Folgen der durch einen solchen Antagonismus begünstigte Zusammenhalt unter der 1117 1118 1119 1120 1121 1122
Massow, Tgb., S. 630 (5.5.1898). Ebd. BA-B N 2345/25, Bl. 61, Gruner (Lomé) an Zimmermann vom 5.1.1899, Schreiben. BA-B N 2345/31, Bl. 24–29, Kersting (Sokodé) an Zimmermann vom 16.11.1898, Schreiben. Vgl. Erbar, Platz, S. 39, 41f. Museum Fünf Kontinente, Nl Zech, alte Signatur Afr 1722b. Darin verzeichnet Zech für den Zeitraum vom 17.-25.12.1899 die Vereinnahmung von Geldern zwischen einem und sechs Pfund Sterling je chief. 1123 Eine teilweise überzogene Darstellung findet sich etwa in: Sebald, Togo, S. 94.
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Handvoll Männer on the spot nach sich ziehen konnte. Entscheidend für den in der Folge eskalierenden Konflikt waren tatsächlich personelle Konstellationen. Auf der einen Seite stand Köhlers Nachfolger Horn, der mitunter irrtümlich als kolonialer Neuling charakterisiert wurde, in Wirklichkeit aber bereits ein dreijähriges Wirken in Kamerun und Südwestafrika vorweisen konnte. Auch war er zum Zeitpunkt von Köhlers Tod bereits seit eineinhalb Jahren als Kanzler und stellvertretender Gouverneur in Togo tätig.1124 Negativ zu Buche schlug bei Horn eine wenig schmeichelhafte Beurteilung durch seinen früheren Kameruner Vorgesetzten Puttkamer. Diesem zufolge habe er dort »administrative Talente […] sehr vermissen« lassen.1125 Auch mit Zech hatte es bereits einen Zusammenstoß gegeben, weshalb dieser sich schriftlich über Horn beschwert hatte.1126 Letzterer galt daher keineswegs als Favorit für die Gouverneursnachfolge. Während der damals in der Kolonialabteilung tätige Seitz den Regierungsrat Martin in Vorschlag gebracht hatte, hieß der Kandidat Danckelmans erwartungsgemäß Zech.1127 Die Frage blieb jedoch monatelang in der Schwebe. Es bedurfte erst eines Privatschreibens an den Personalchef König, in dem Horn sich selbst in Erinnerung brachte, um seine Ernennung zum 1. Dezember 1902 doch noch durchzusetzen.1128 An diesem Karrieresprung konnte er sich jedoch nicht lange erfreuen. Waren die Gegensätze zwischen der Administration an der Küste und derjenigen im Hinterland unter Köhler kaum offen hervorgetreten, hatte diese jüngste Personalie eine erstaunliche Dynamik zur Folge. Durch die Ernennung Horns soll sich gerade die »ältere Beamtenschaft Togos vor den Kopf gestoßen« gefühlt haben.1129 Diese zeitgenössische Einschätzung muss jedoch präzisiert werden, da in dem während des Jahres 1903 eskalierenden Konflikt keineswegs die langgedienten, sondern vor allem solche Beamte in den Fokus des Geschehens rückten, die sowohl an Lebens- als auch an Dienstjahren jünger als Horn waren.1130 Am Beginn stand das Bekanntwerden von Missständen, die sich der Stationsleiter von Atakpame, Geo A. Schmidt, hatte zu Schulden kommen lassen. Dessen Heimaturlaub hatte Kukovina, der dortige designierte king, dazu benutzt, um bei Horn Klage über
1124 Widersprüchlich hierzu: Habermas, Skandal, S. 147, 152, 193, die zwar Horns vorherige Dienstzeiten in Kamerun und DSWA nennt, diesen aber trotzdem als »neu und unerfahren« bezeichnet. 1125 ANY FA 1/6, Bl. 34, Puttkamer (Buea) an KA, o.D. [ca. Januar 1901], Bericht. 1126 BA-B N 2340/3, Bl. 112. Darin wird die Beschwerde, die auf den 13.11.1901 datiert, lediglich erwähnt, ein Grund ist jedoch nicht angegeben; vgl. BA-B N 2345/15, Bl. 67f., Danckelman (Berlin-Westend) an Zimmermann vom 14.7.1902, Schreiben: »Gegen Horn liegen viele Klagen vor, ich bin neugierig, ob er doch noch Gouverneur wird.« 1127 BA-B N 2345/15, Bl. 57f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 26.1.1902, Schreiben. 1128 BA-B N 2146/31, Horn (Lomé) an König vom 11.10.1902, Schreiben; GStA PK Rep 89/32474, Bl. 12f., Bülow an Wilhelm II. vom 17.11.1902, Immediatbericht. Zu den möglicherweise im Hintergrund stattfindenden internen Machenschaften bei Horns Ernennung siehe Kapitel 2.2. 1129 So jedenfalls der damalige Regierungsarzt Ludwig Külz in einem späteren Artikel des Berliner Tageblatts Nr. 391, zitiert nach: Sebald, Togo, S. 535. Allerdings war Külz erst kurz vor Horns Ernennung nach Togo gekommen. 1130 Horns unmittelbare Widersacher waren erst in den Jahren 1900 (Schmidt), 1901 (Graef) und 1902 (Rotberg) in Togo eingetroffen. Schmidt und Rotberg waren sechs Jahre jünger als Horn. Bei Graef dürfte der Altersunterschied ähnlich gewesen sein.
4. Herrschaftspraktiken
Schmidts Amtsführung einzureichen.1131 Der damals noch stellvertretende Gouverneur beging daraufhin aber den fatalen Fehler, den Beschuldigten selbst mit der Aufklärung der Angelegenheit zu beauftragen. Während er Schmidt zu diesem Zweck anwies, die einheimischen Beschwerdeführer »in väterlicher Weise zurückzuweisen und sich über die Beschwerde nicht weiter [zu] beunruhigen«, ließ Schmidt Kukovina kurzerhand wegen Verleumdung festnehmen.1132 Wenige Monate später brach Horn zu einer Inspektionsreise nach sämtlichen Binnenstationen auf.1133 In Atakpame angekommen, erfuhr er von Schmidt, dass Kukovina inzwischen verstorben sei.1134 Der Tod dieses Hauptbelastungszeugen konnte jedoch nicht verhindern, dass der Vorsteher der örtlichen Vertretung der katholischen Steyler Mission, Franz Müller, die Anwesenheit Horns nutzte, um diesen nochmals auf die früheren Missstände hinzuweisen. Konkret ging es um die Einmischung des Stationsleiters in Schulfragen, nicht zuletzt aber um eine selbst für koloniale Verhältnisse überzogene Bedrückung der Einheimischen, etwa in Form gewaltsam erzwungener Trägerdienste und exzessiver Prügelstrafen.1135 Horn schloss sich den Bedenken über Schmidts Praktiken an und sagte der Mission eine Untersuchung der Angelegenheit zu. Die Weiterreise des Gouverneurs nutzte Schmidt jedoch, um eine Verleumdungsklage gegen Müller anzustrengen. Die Steyler Mission ließ diese nicht unwidersprochen und zeigte nunmehr den Stationsleiter wegen »sexuellen Verkehrs mit einem […] geschlechtsunreifen Mädchen« an.1136 Dieser Schritt veranlasste Schmidt wiederum, den als Bezirksrichter fungierenden Werner Freiherr v. Rotberg nach Atakpame zu zitieren, damit dieser gegen die Mission Ermittlungen wegen Beamtenbeleidigung anstelle. Der forsche Gerichtsreferendar ließ daraufhin die vier am Ort befindlichen Missionare kurzerhand verhaften.1137 Als der Gouverneur davon Kenntnis erhielt, brach er umgehend seine Inspektionsreise ab und ordnete die sofortige Freilassung der Patres an. Gleichzeitig machte Horn von einer für
1131 BA-B R 1001/3915, Bl. 188–194, Horn (Lomé) an KA vom 9.7.1903, Bericht; Erbar, Platz, S. 247f.; Habermas, Skandal, S. 111, 147. 1132 BA-B R 1001/3915, Bl. 188–194, Horn (Lomé) an KA vom 9.7.1903, Bericht; Schmidt, Roeren, S. 16; Habermas, Skandal, S. 147–149. 1133 Horn, Bericht, S. 238–240. In dem gekürzten Bericht im Kolonialblatt findet sich bezeichnenderweise nichts über den Konflikt mit Schmidt. 1134 Habermas, Skandal, S. 130f. 1135 Societas Verbi Divini an Franz v. Arenberg, o.D. [Spätsommer 1903], abgedruckt in: Rivinius, Akten, S. 130–132; Habermas, Skandal, S. 149. Zu den Missständen im Bezirk Atakpame: Sebald, Togo, S. 536. Tatsächlich lässt sich dort für den Zeitraum vom 1.4.1901 bis 31.3.1902 ein eklatanter Anstieg der gerichtlich verhängten Prügelstrafen erkennen. Trotha, Beobachtungen, S. 545 (Tab. 7); vgl. Schröder, Prügelstrafe, S. 53f. 1136 Societas Verbi Divini an Franz v. Arenberg, o.D. [Spätsommer 1903], abgedruckt in: Rivinius, Akten, S. 130–132; BA-B N 2146/8, König, o.D. [Sommer 1903], Aufzeichnung (Zitat); Erbar, Platz, S. 249. 1137 Societas Verbi Divini an Franz v. Arenberg, o.D. [Spätsommer 1903], abgedruckt in: Rivinius, Akten, S. 130–132; BA-B N 2146/8, König, o.D. [Sommer 1903], Aufzeichnung; vgl. KA vom 30.9.1903, Vermerk, abgedruckt in: Müller, Kolonien, S. 100.
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Togo geltenden Sonderregelung Gebrauch und entband Rotberg von seinen Aufgaben; kurz darauf wurde dieser gänzlich aus dem Kolonialdienst entlassen.1138 Die Referenten in der Berliner Zentrale registrierten das Geschehen in Togo mit dem »allergrößten Entsetzen« und stellten sich angesichts der dreiwöchigen Haft der katholischen Missionare die Frage: »Was wird das Zentrum sagen?«1139 Dessen kolonialaffiner Abgeordneter Franz v. Arenberg bezeichnete die Festnahme erwartungsgemäß als »schweren Amtsmissbrauch«. Gegenüber dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes forderte Arenberg daher die Verhängung einer »exemplarischen Sühne«.1140 In der Kolonialabteilung lautete die Parole dagegen auf Schadensbegrenzung. Unmittelbar nach der Beschwerde Arenbergs erging deshalb eine Weisung an Horn, die Anschuldigungen gegen Schmidt möglichst rasch persönlich zu überprüfen:1141 »Für alle Fälle sind indessen die Zustände in Atakpame, wie sie sich unter dem Stationsleiter Schmidt gestaltet haben, auch vom administrativen Standpunkt aus einer eingehenden Untersuchung daraufhin zu unterziehen, ob und welche Missstände Schmidt sich hat zu Schulden kommen lassen. Insbesondere werden dabei auch die Beschwerden des Kukovina, dessen im Widerspruch mit Ihrer Anordnung […] erfolgte Verhaftung und Misshandlung durch Schmidt, die Ursache seines Todes, ferner die Entvölkerung des Atakpamebezirkes sowie die dem Schmidt und seinen Organen zur Last gelegten Übergriffe zu untersuchen sein.« Während der aus dem Urlaub zurückgekehrte Zech den Gouverneur in Lomé vertrat, begab sich dieser im Oktober 1903 erneut nach Atakpame, um die Untersuchungen gegen Schmidt an Ort und Stelle einzuleiten.1142 Nachdem Horn diesem seine bevorstehende Absetzung als Stationsleiter mitgeteilt hatte, warf Schmidt dem Gouverneur Befangenheit vor. Die weiteren Ermittlungen fanden daher in einer Atmosphäre »höchster Gereiztheit, Entstellung und Verbitterung« statt. Gleiches galt für die in den letzten Novembertagen stattfindende Hauptverhandlung.1143 Erst jetzt traten die in der Forschung als »Togo-Klüngel« bezeichneten langjährigen Stationsleiter in Erscheinung, indem sich zumindest Doering und Kersting offen zu Gunsten Schmidts positionierten.1144 Im Gegenzug wurden die den Stationsleiter belastenden Zeugenaussagen von Einheimischen pauschal als unglaubwürdig verworfen. Zwar gab Schmidt ohne Weiteres zu, mit einem indigenen Mädchen namens Adjaro Nyakuda seit Oktober 1902 »geschlechtlich […] verkehrt zu haben«. Allerdings behauptete er, diese »nicht durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben […] zur Duldung des außerehelichen Beischlafs genötigt« zu haben. Darüber hinaus sei das Mädchen nicht wie von der
1138 Rotberg (Sebbe) an KA vom 1.7.1903, abgedruckt in: Rivinius, Akten, S. 127; BA-B N 2345/15, Bl. 93f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 18.9.1903, Schreiben; vgl. Habermas, Skandal, S. 91. 1139 BA-B N 2345/15, Bl. 90–92, Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 2.8.1903, Schreiben. 1140 BA-B N 2146/6, Arenberg an Richthofen vom 6.9.1903, Schreiben. 1141 BA-B R 1001/3916, Bl. 101–103, KA (Hellwig) an Horn vom 10.9.1903, Erlass. 1142 Ebd., Bl. 111, Zech (i.V., Lomé) an KA vom 19.10.1903, Bericht. 1143 Ebd., Bl. 137f., Horn (Atakpame) an KA vom 9.11.1903, Bericht (Zitat). Generell zum Verfahren gegen Schmidt siehe die Akte: ANT FA 2/107. 1144 Sebald, Togo, S. 272, 535; ähnlich: Knoll, Togo, S. 50–56, 60–64; Zurstrassen, Beamte, S. 116.
4. Herrschaftspraktiken
Mission behauptet, zwölf, sondern bereits sechzehn Jahre alt gewesen.1145 Obwohl Horn während der Verhandlung angesichts der Aussagen Schmidts allgemein hörbar das Wort »unwahr« ventiliert haben soll, wurde der Angeklagte freigesprochen. Auch soll es fast zu Tätlichkeiten zwischen den beiden gekommen sein. Am Ende forderte der Stationsleiter den Gouverneur sogar zum Duell, was dieser aber zurückwies.1146 Die Folge war, dass Schmidt und sein Sekundant Doering den Gouverneur stattdessen durch eine erpresserische Drohung zur sofortigen Abreise nötigten, wollten sie doch andernfalls eine frühere Verfehlung Horns öffentlich machen. Dabei handelte es sich um den Todesfall eines einheimischen Dieners namens Zedu, der den Gouverneur auf seiner Inspektionsreise im Frühjahr 1903 begleitet hatte. Nachdem Zedu während eines Zwischenstopps in Sokodé 750 Mark aus der dortigen Stationskasse gestohlen haben soll, hatte Horn zugestimmt, diesen misshandeln zu lassen, um das versteckte Geld zurückzuerlangen. Das Resultat von Prügeln, Fesselung, Hitze sowie eintägigem Wasser- und Nahrungsentzug bestand jedoch im unerwarteten Erschöpfungstod Zedus.1147 Das Dilemma bestand für Horn nun darin, dass Doering – zum Zeitpunkt von Zedus Tod Stationsleiter in Sokodé – jetzt als Belastungszeuge gegen ihn auftrat. Angesichts dieser anscheinend geschlossenen Frontstellung der Togoer Beamtenschaft resignierte der Gouverneur und kabelte wenige Tage nach dem Urteilsspruch gegen Schmidt nach Berlin: »Muss wegen Todesfalls eines Eingeborenen März Sokode Untersuchung gegen mich beantragen, bitte sofort Urlaub.«1148 Es folgten mehrere Gerichtsurteile und ein Disziplinarverfahren, wobei Horn am Ende wegen »Körperverletzung im Amte« zunächst zu einer Strafe von 900 Mark verurteilt wurde. Im weiteren Verfahren lautete der Gerichtsbeschluss auf 300 Mark Geldstrafe und strafweise Versetzung.1149 Horn war sich bis zuletzt »keiner Verfehlung bewusst«, habe er doch seiner Meinung nach lediglich »nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt«. Zu seiner Verteidigung sagte er schließlich aus:1150 »Ich bin keineswegs der grausame Mann, für den mich das verurteilende Gericht gehalten hat. Ich habe ausdrücklich angeordnet, die Fesseln [Zedus] zu lockern. […] Dass er weder zu essen noch zu trinken bekommen hatte, konnte ich nicht wissen; es war auch gar nicht meine Pflicht, mich darum zu kümmern; ebenso wenig war die Entfesselung meine Sache. Trotzdem habe ich am folgenden Morgen den Befehl zur Entfesselung gegeben. Dass dem Befehl erst nach einigen Stunden entsprochen wurde, war nicht 1145 BA-B N 2146/8, König, o.D. [Ende 1903], Vermerk; vgl. Erbar, Platz, S. 251f. 1146 BA-B R 43/941, Bl. 52f., Berliner Tageblatt Nr. 386 vom 1.8.1906; Schmidt, Roeren, S. 18f.; Külz, Blätter, S. 144–146; vgl. Habermas, Skandal, S. 194. 1147 BA-B R 43/941, Bl. 20f., KA an Reichskanzler vom 12.7.1906, Bericht; Erbar, Platz, S. 252f. 1148 BA-B R 1001/3916, Bl. 124, Horn (Lomé) an KA vom 1.12.1903, Telegramm. 1149 Zu den Gerichts- bzw. Disziplinarverhandlungen: ANT FA 2/89, Bl. 231ff., Bezirksgericht in Lomé vom 1.4.1905, Urteil; BA-B R 8034-II/6382, Vossische Zeitung Nr. 600 vom 23.12.1907; Verhandlungen RT, Bd. 214, S. 347–351; ebd., Bd. 216, S. 2148, 2154f., 2175f. 1150 BA-B R 8034-II/6382, Deutsche Tageszeitung Nr. 581 vom 12.12.1907. Interessanterweise gab ein indigener Beschwerdeführer aus Lomé einige Jahre später an, dass Doering den Tod Zedus zu verantworten gehabt hätte, durch Bestechung von Zeugen die Schuld aber auf den Gouverneur habe abwälzen können. BA-B R 1001/4235, Bl. 163–202, Herald Patrior Diasempa an Reichstag vom 12.5.1914, Petition.
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meine Schuld. […] ich hatte aber dem Bezirksleiter, Hauptmann v. Döring, befohlen, die Sache zu überwachen.« In der Kolonialabteilung sah man das durchaus anders. Auch dort hatte sich inzwischen die Ansicht durchgesetzt, dass Horn sich eines »Dienstvergehens« schuldig gemacht habe. Ein Abschieben der Verantwortung auf Untergebene käme dagegen nicht in Frage. Vielmehr habe gerade Horns Stellung als Gouverneur »ihm eine erhöhte Aufmerksamkeit und Vorsicht in Fällen wie de[m] vorliegende[n] zur Pflicht« gemacht.1151 Dieser Standpunkt hatte den erwünschten Nebeneffekt, dass die Kolonialabteilung, indem sie ihren Togoer Gouverneur opferte, die öffentliche Aufmerksamkeit, vor allem aber die des Reichstags, von sich selbst ablenken konnte.1152 Für den Kolonialdirektor und einige seiner altgedienten Vortragenden Räte war ein solcher Effekt in einer Zeit kulminierender Kolonialskandale keineswegs ohne Bedeutung.1153 Personalchef König notierte beispielsweise in sein Tagebuch, dass das Bekanntwerden allzu vieler Details aus Togo sowohl Stuebel als auch ihm selbst »den Hals brechen könne«.1154 Selbst die Tatsache, dass Horn einige Monate zuvor auf Vorschlag derselben Zentralverwaltung überhaupt zum Gouverneur ernannt worden war, wurde inzwischen mit der lapidaren Bemerkung abgetan, dass dieser »eben zu den Kolonialbeamten [gehört], die sich in nachgeordneten Stellungen vorzüglich bewähren, aber in leitenden Posten versagen.«1155 Die Absetzung des kurz zuvor von der imperialen Zentrale noch gestützten Gouverneurs ging daher erstaunlich rasch vonstatten. Der gut informierte Danckelman bemerkte schon kurz nach Horns Rückkehr aus Togo, dass Zech jetzt »endlich Chance [habe], Gouverneur zu werden.«1156 Anders als zwei Jahre zuvor, lag er diesmal mit seiner Einschätzung richtig. Ohnehin hatte Zech inzwischen die Gouverneursgeschäfte stellvertretend übernommen, doch dauerte es noch bis zum 11. Mai 1905, ehe Horn in den einstweiligen Ruhestand versetzt und Zech offiziell zum neuen Gouverneur von Togo ernannt werden konnte. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern wies der Graf den entscheidenden Vorzug auf, dass er selbst aus der Gruppe der Stationsleiter hervorging und von diesen als einer der ihren anerkannt wurde. Das hatte für seine Amtsführung als Gouverneur zugleich den Vorteil, dass er die Praktiken der Beamten im Landesinnern aus eigener Erfahrung kannte, so dass diesen eine nachlässige oder gar fiktive Berichterstattung zusätzlich erschwert wurde. Nicht zuletzt hörten in der Folge auch die abfälligen Äußerungen mancher Bezirkschefs auf, die sich als ›alte Afrikaner‹ den ›Küstenklebern‹ überlegen
1151 BA-B R 43/941, Bl. 20f., KA an Reichskanzler vom 12.7.1906, Bericht. 1152 Während der damalige Kolonialdirektor Hohenlohe-Langenburg im Reichstag erklärte, dass eine Weiterverwendung Horns keinesfalls in Frage komme, ließ sich Personalchef König sogar zu der Aussage hinreißen, er selbst »trage ja nicht die Schuld« an den Vorkommnissen. Verhandlungen RT, Bd. 216, S. 2176 (20.3.1906); ebd., Bd. 214, S. 351 (15.12.1905). 1153 Bösch, Geheimnisse, S. 288–310; vgl. Kapitel 4.3.2. 1154 BA-B N 2146/6, König, Tgb. (23.3.1905). Konkret ging es bei dieser Notiz um belastende Aussagen des früheren Bürovorstands des Gouvernements in Lomé Emanuel Wistuba. 1155 BA-B R 43/941, Bl. 48f., KA vom 11.8.1906, Vermerk. 1156 BA-B N 2345/15, Bl. 59f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 11.2.1904, Schreiben.
4. Herrschaftspraktiken
wähnten.1157 Ebenso wenig zu unterschätzen sind die persönlichen Beziehungen und die daraus resultierenden Loyalitäten, die Zech mit einigen seiner neuen Untergebenen verbanden. Beispielsweise hatte Adam Mischlich, inzwischen Leiter von Zechs früherer Station Kete-Kratji, allen Grund sich dem neuen Gouverneur gegenüber verpflichtet zu fühlen. Mischlich war einst als Missionar nach Togo gekommen, dann aber soll ihn eine »schwarze Circe […] in ihre Netze erlockt« haben, der er »nicht [habe] widerstehen können.« Die unmittelbare Folge war, dass er von der Basler Mission entlassen, von Zech aber als Assistent auf dessen Station angestellt wurde.1158 Darüber hinaus verband beide ein gemeinsames Verbrechen, hatte doch Mischlich einen auf der Flucht angeschossenen Gefangenen auf Zechs Befehl hin getötet. Diese »Affaire« hätte bei Bekanntwerden die Karriere beider gefährdet, was zweifellos die ohnehin bestehende wechselseitige Loyalität zusätzlich festigte.1159 Das Bild solcher Verpflichtungen auf Gegenseitigkeit lässt sich erweitern, hatte doch Mischlich noch in seiner Eigenschaft als Missionar den schwerkranken Gruner gesund gepflegt.1160 Auch dem neuen Gouverneur stand Gruner fortan positiv gegenüber, was ohne Zweifel dadurch begünstigt wurde, dass Zech seine Beförderung zum Bezirksamtmann und damit die Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit vorantrieb.1161 Dasselbe traf auf Doering zu, der bei der Intrige gegen Horn eine zentrale Rolle gespielt hatte. Durch sein wenig kollegiales Verhalten büßte Doering unter den anderen Stationsleitern ohnehin an Beliebtheit ein, galt er doch als »bösartiger Streber«. Auch dessen Loyalität wusste sich Zech zu sichern, indem er ihm ebenfalls zu der begehrten Planstelle eines Bezirksamtmanns verhalf.1162 Kersting war dagegen seit dem Amtsantritt Zechs damit beschäftigt, seine eigene Position zu sichern, musste er sich doch gegen Vorwürfe wegen der Tötung von Einheimischen erwehren.1163 Adolf Mellin, erst seit 1899 in Togo und inzwischen Leiter von Sansane Mangu, zählte ohnehin nicht zu den altgedienten Bezirkschefs. Als vergleichsweise junger Offizier stellte er für den dienstälteren Zech keine Gefahr dar. Zuletzt darf nicht übersehen werden, dass die Hauptakteure im
1157 Vgl. Trotha, Herrschaft, S. 171. 1158 Massow, Tgb., S. 628f. (1.5.1898). 1159 Mischlich hatte offenbar aus einer Laune heraus dem Assessor Rudolf Asmis davon erzählt, diesem dann aber schwere Vorwürfe gemacht, nachdem Asmis den Grafen auf die »Affaire mit der Erschießung des entlaufenen Gefangenen« angesprochen hatte. PA-AA NL 8/49, Mischlich (KeteKratji) an Asmis vom 12.6.1907, Schreiben (»vertraulich«); PA-AA NL 8/51, Bl. 56, Asmis (Lomé) an Mischlich vom 21.6.1907, Schreiben. 1160 Trierenberg, Togo, S. 151. 1161 BA-B N 2340/2, Bl. 56–59, Gruner vom 19.9.1941, Beitrag zum Lebensbild des Grafen Zech; vgl. ebd., Bl. 54f., Gruner vom 28.1.1941, Erinnerungen an Graf von Zech; Zech (i.V.) vom 1.7.1904, Bekanntmachung betr. Erhebung der Station Misahöhe zum Bezirksamt, abgedruckt in: DKG 8, S. 152. 1162 BA-B N 2345/15, Bl. 133, Danckelman (Schwerin) an Zimmermann vom 18.3.1913, Karte; Meyer (i.V.) vom 1.4.1908, Verfügung betr. Erhebung der Station Atakpame zum Bezirksamt, abgedruckt in: DKG 12, S. 134f.; vgl. Doerings Verabschiedungsrede für Zech am 12.5.1910, abgedruckt in: AB Togo 28 (1910), S. 202. 1163 ANT FA 1/299 Ermittlungsverfahren gegen Kersting, 1906–07; BA-K N 1130/11, S. 9, Dernburg, Erinnerungen.
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Konflikt gegen Horn inzwischen entweder in andere ›Schutzgebiete‹ versetzt oder gänzlich aus dem Kolonialdienst ausgeschieden waren.1164 Die keineswegs statischen, vielmehr höchst wandelbaren personellen Konstellationen machen die Unzulänglichkeit der simplifizierenden Vorstellung einer geschlossenen Fronde aus Stationsleitern offenkundig. Ein solches Bild resultiert vor allem aus einer Überbewertung der bloßen Amtszeiten. Ein Blick auf die Einzelpersonen, ihre sozialen Beziehungen, Beweggründe und Lebensumstände zeigt dagegen, dass es sich bei dem vielzitierten »Togo-Klüngel« um ein kurzlebiges, zumindest aber dynamisches Phänomen handelte. Wandelbar waren auch die Einflussmöglichkeiten des Gouverneurs auf die Binnenstationen.1165 Zwar besaßen die Stationsleiter stets ein hohes Maß an Entscheidungs- und Gestaltungsspielräumen, doch kann spätestens seit der Übernahme der Geschäfte durch Zech von einer Ausschaltung des obersten Beamten in Lomé keine Rede mehr sein. Dies gilt es im Folgenden anhand einiger Beispiele aus seiner Amtstätigkeit zu veranschaulichen. Als sich seit der Jahreswende 1904 abzeichnete, dass Zech die Gouvernementsgeschäfte für längere Zeit führen würde, bestand sein Verwaltungsapparat aus 62 europäischen Zivilbeamten und Polizeioffizieren. Von diesen befanden sich fast zwei Drittel in den Küstenbezirken, während die übrigen auf die fünf Binnenbezirke verteilt waren. Da es sich bei Togo um keine Siedlungs-, sondern um eine Handelskolonie handelte, waren in den mittleren und nördlichen Bezirken nur wenige andere Europäer dauerhaft ansässig.1166 Als einzige deutsche Kolonie in Afrika verfügte Togo zudem über keine Schutztruppe. Stattdessen bestand die bewaffnete Macht aus höchstens fünfhundert indigenen Polizeisoldaten. Einen Dualismus zwischen Gouvernement und einer militärischen Kommandobehörde gab es daher praktisch nicht. Die Polizeikräfte waren auf die einzelnen Bezirke verteilt, so dass jeder Stationsleiter über ein Kontingent von dreißig bis hundert Mann unmittelbar verfügen konnte.1167 Angesichts einer indigenen Bevölkerung von bis zu einer Million Menschen waren diese Machtmittel überschaubar. In seinem ersten Jahresbericht gab sich Zech trotzdem davon überzeugt, dass »Aufstände«, wie etwa in Deutsch-Südwestafrika, »hier nicht zu gewärtigen sind.« Dabei glaubte er sich auf ein angeblich »unkriegerisches« Wesen der
1164 Während der Freiherr v. Rotberg aus dem Kolonialdienst ausscheiden musste, wurde der zeitweilige stellvertretende Gouverneur Dr. Graef nach DOA versetzt. Schmidt kam dagegen nach Kamerun und schied Ende 1906 aus dem Kolonialdienst aus. 1908 war er vorübergehend im Reichskolonialamt tätig, ehe er seit 1909 als Referent im Gouvernement von Daressalam Verwendung fand. BA-B N 2146/25, Gerstmeyer (Daressalam) an König vom 12.4.1904, Schreiben; BA-B R 1001/4290, Bl. 52, Puttkamer (Buea) an KA vom 8.11.1905, Bericht; BA-B R 1001/9580, Verzeichnis der etatsmäßigen Verwaltungsbeamten (1912). 1165 Diese Aspekte fanden in den bisherigen Studien zur kolonialen Verwaltung Togos kaum Berücksichtigung: Sebald, Togo; Trotha, Herrschaft; Zurstrassen, Beamte. 1166 JB 1903/04, S. 2976, 3169. Zum 1.1.1904 befanden sich in der Kolonie 189 Europäer, davon nur 25 Frauen. In den Binnenbezirken Atakpame, Kete-Kratji, Sokodé und Sansane Mangu waren zu diesem Zeitpunkt lediglich 19 Europäer, davon aber fünfzehn Regierungsangestellte. 1167 Zahlen nach: Trierenberg, Togo, S. 67. Generell zur Polizeitruppe in Togo: Trotha, Herrschaft, S. 44–58; Glasman, Corps, S. 67–123; Morlang, Askari, S. 23–37.
4. Herrschaftspraktiken
Togoer ebenso berufen zu können, wie auf den Umstand, dass die »Bevölkerung in Südtogo unter einer außerordentlich großen Zahl durchweg wenig einflussreicher Häuptlinge zersplittert ist.« Dies gelte zwar weniger für den Norden, doch nahm er an, dass selbst dort etwaige »Unruhen […] auf ein kleines Gebiet beschränkt bleiben« und mit den vorhandenen Polizeikräften »leicht unterdrückt« werden könnten.1168 Zech sollte mit seiner Einschätzung zwar Recht behalten, doch kam dem frischgebackenen Hauptmann der Reserve nicht in den Sinn, dass vermutlich gerade das Fehlen einer Schutztruppe entscheidenden Anteil daran besaß, dass es in Togo weder zu einem Imperialkrieg wie in Südwest- und Ostafrika kam, noch zu einer Serie bewaffneter Zusammenstöße, wie das zur selben Zeit in Kamerun der Fall gewesen war. Dort waren es immer wieder die oft ebenso selbstbewusst auftretenden wie auf ihre Selbständigkeit bedachten Offiziere gewesen, die durch eigenmächtige Strafexpeditionen den Anlass zu Konflikten mit den Einheimischen gegeben hatten. Ungeachtet der Tatsache, dass die jeweiligen Ursachen vielschichtig sind, fällt zumindest auf, dass im deutschen Kolonialreich gerade diejenigen Kolonien, die über keine Schutztruppenorganisation verfügten, von den krisenhaften Erscheinungen der Jahre 1904/05 verschont blieben. Während Zech die Gefahr einer größeren kriegerischen Auseinandersetzung im Innern als gering einschätzte, lag sein Fokus in den ersten Monaten seiner Amtszeit auf dem Bemühen, das seit der Verhaftung der Steyler-Patres angespannte Verhältnis zwischen der Administration und den Missionsgesellschaften zu normalisieren. Bereits im März 1904 traf er sich mit den Vertretern der drei in Togo wirkenden Missionen. Auch wenn es dabei vorrangig um Fragen des Lehrplans an den Schulen ging, ist angesichts der erst wenige Monate zurückliegenden Vorkommnisse in Atakpame die Nebenabsicht einer Deeskalation wahrscheinlich.1169 Daneben achtete Zech darauf, dass in den neugebildeten Gouvernementsrat auch zwei Kirchenvertreter aufgenommen wurden. Persönliche Besuche auf Missionsstationen, aber auch der Versuch, die weiteren gerichtlichen Auseinandersetzungen in der Atakpame-Angelegenheit an das Obergericht in Kamerun abzuschieben, deuten zweifellos auf die Absicht hin, mit beiden Konfessionen möglichst rasch zu einvernehmlichen Beziehungen zu gelangen, vor allem aber aus der Kolonie »alles fernzuhalten, was zu erneuten Erörterungen der Sache […] führen könnte«.1170 Zumindest im Hinblick auf die Steyler-Mission war er mit seinen Bemühungen wenigstens zeitweise erfolgreich, wobei ihm die Tatsache zu Hilfe kam, dass Zech selbst Katholik war. Wenig überraschend äußerte sich daher ein Pater gegenüber dem Zentrumsabgeordneten Hermann Roeren, dass man in Zech einen »durchaus objektiven, gerechten und energischen« Gouverneur gefunden habe. Dieser errege »namentlich auch in sittlicher Beziehung nicht den geringsten Anstoß«.1171 In Wirklichkeit war dieses Einvernehmen lediglich äußerer Natur, hielten doch sowohl der Gouverneur als auch die Berliner Zentralverwaltung weiterhin die »baldigste Entfernung« des Steyler-Präfekten
1168 JB 1903/04, S. 2975. 1169 DKB 15 (1904), S. 325. 1170 JB 1903/04, S. 2976; DKB 15 (1904), S. 595; Zech (Lomé) an Oberrichter Meyer (Duala) vom 23.12.1904, Schreiben, abgedruckt in: Rivinius, Akten, S. 178f. (Zitat); vgl. Puttkamer (Buea) an KA vom 7.11.1905, Bericht, abgedruckt in: ebd., S. 181. 1171 Roeren an Loebell vom 13.6.1906, abgedruckt in: Loebell, Erinnerungen, S. 351.
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Hermann Bücking sowie der Patres Müller und Witte »aus dem Schutzgebiet Togo für unbedingt erforderlich«.1172 Es ist daher nicht verwunderlich, wenn im Juni 1908 die katholische Mission im Empfangskomitee anlässlich der Rückkehr Zechs aus dem Heimaturlaub »eigentümlicherweise nicht vertreten« war.1173 Auch im Hinblick auf die Disziplinierung seiner Beamtenschaft verlor Zech keine Zeit. Dabei war er sich der Tatsache bewusst, dass ein ausschließlich schriftlicher Kontakt mit den Stationschefs auf die Dauer unzureichend war. Anders als Köhler scheute er keineswegs häufige Inspektionsreisen, unternahm er doch innerhalb von sechs Jahren zwei längere und ein halbes Dutzend ein- bis zweiwöchige Touren ins Landesinnere.1174 Trotzdem suchte der Graf nach zusätzlichen Kontroll- und Einflussmöglichkeiten. Dabei wies er eine Anregung der Kolonialabteilung aus dem Juni 1905 zurück, die ihm in Anlehnung an Leutweins »Instruktion für die Bezirkshauptleute und Distriktchefs« einen analogen Entwurf zur probeweisen Umsetzung in Togo nahegelegt hatte. Tatsächlich hätten die vierundzwanzig Punkte dieses Aufgaben- und Pflichtenkatalogs einen praktikablen Rahmen für die Arbeitsfelder und Befugnisse der Lokalbehörden abgeben können.1175 Während seines Heimaturlaubs im Herbst 1906 erklärte Zech jedoch, diese seien zu allgemein und zu wenig spezifisch für die Verhältnisse in seiner Kolonie. Der neue Kolonialdirektor Dernburg wies Zech daher an, selbst einen Entwurf für eine solche Dienstanweisung auszuarbeiten.1176 Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen verfolgte Zech jedoch einen anderen Ansatz, um die Bezirkschefs wirksamer zu kontrollieren. Dieser bestand in der Einführung sogenannter »Bezirketage«. Zu diesem Zweck bestellte der Gouverneur regelmäßig die Stationsleiter an einen gemeinsamen Tagungsort, wo dann die aktuellen »wirtschaftlichen und kulturellen Fragen besprochen und die dabei einzuschlagenden Wege für die einzelnen Bezirke in gemeinsamer Besprechung festgelegt« wurden.1177 Aufgrund der Entfernungen waren diese Konferenzen in der Regel aufgeteilt in eine für die Nord- und eine für die Südbezirke.1178 Die Stationschefs konnten sich dem kaum entziehen. Beispielsweise klagte Doering gegenüber dem Regierungsarzt Ludwig Külz, dass er von Zech zu einer solchen Besprechung regelrecht »beordert« worden sei.1179 Auch sonst scheint sich der Umgangston innerhalb des Verwaltungsapparates unter Zech gewandelt zu haben. Külz lobte zwar nach dem ersten Jahr unter der Ägide des Grafen, dass dieser »mit stärkerem Dampfe« als seine Vorgänger fahre, so dass »ein frischerer Zug […] über dem ganzen Betriebe der Kolonie« wehe. Gleichzeitig sei die Atmosphä-
1172 RK Bülow an Frhr. v. Rotenhan (K.P. Gesandter beim Vatikan) vom 23.4.1907, Erlass, abgedruckt in: Rivinius, Akten, S. 182f.; vgl. Erbar, Platz, S. 258–261. 1173 BayHStA HS 911/3, Reitzenstein, Tgb. (15.6.1908). 1174 Angaben zur Reisetätigkeit Zechs finden sich u.a. in: ANT FA 1/1; ANT FA 1/268; JB 1908/09, S. 673; AB Togo 15 (1907), S. 103–107. 1175 ANT FA 1/128, Bl. 1f., KA (Stuebel) an Zech vom 15.6.1905, Runderlass; ebd., Bl. 4–16, Entwurf einer Dienstanweisung für Bezirksleiter; vgl. Kapitel 4.3.3. 1176 ANT FA 1/128, Bl. 38, KA (Dernburg) an Zech vom 22.11.1906, Erlass. 1177 BA-B N 2340/2, Bl. 56–59, Gruner vom 19.9.1941, Beitrag zum Lebensbild des Grafen Zech (Zitat). 1178 JB 1906/07, S. 3905; JB 1908/09, S. 672f.; Teilprotokolle zu den Besprechungen etwa in: ANT FA 1/251 (Lomé); ANT FA 1/1020 (Basari); vgl. BayHStA HS 911/3, Reitzenstein, Tgb. (11.9.1908). 1179 Külz, Blätter, S. 163 (11.8.1904).
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re aber weniger unbefangen als früher, weshalb eine offene Aussprache mit dem Gouverneur kaum mehr möglich sei.1180 Auch die Zusammenkünfte mit seinen Bezirkschefs ebenso wie mit den Referenten des Gouvernements täuschen durch ihr kollegiales Äußeres über ihren wirklichen Charakter hinweg. Zech hörte sich zwar die Ansichten seiner Untergebenen an und suchte diese auch aktiv in Erfahrung zu bringen, doch stand das letzte Wort ausschließlich ihm zu.1181 Angesichts dieser Form der Entscheidungsfindung verwundert es wenig, dass sich Zech ein möglichst gleichgesinntes Umfeld zu schaffen suchte. Der ihm zeitweilig als Adjutant zugeteilte Leutnant Erich Freiherr v. Reitzenstein stellte beispielsweise nach seiner Ankunft in Lomé überrascht fest, dass der aus München stammende Gouverneur im Laufe der Jahre »außerordentlich viele Bayern und zwar waschechte« um sich geschart habe.1182 Nach einer Zählung Reitzensteins, der selbst aus Ingolstadt kam, hätten auch die Teilnehmer eines offiziellen Empfangs in Lomé zur Hälfte aus Süddeutschen bestanden.1183 Offenbar glaubte Zech durch eine gezielte Personalauswahl innerhalb seiner Zentralbehörde landsmannschaftliche Bindungen realisieren zu können. Um diese zusätzlich zu fördern, wusste der Graf im persönlichen Verkehr »außerordentlich liebenswürdig« aufzutreten und seine engere Umgebung nicht zuletzt durch intime »Plauderstündchen« für sich einzunehmen.1184 Andererseits kam es hinter vorgehaltener Hand zu Klagen, wonach der Gouverneur seine Untergebenen überfordere, indem er glaube, »ein jeder könne so ohne Unterbrechung arbeiten wie er selbst.«1185 Reitzenstein wunderte sich schließlich darüber, dass angesichts der überzogenen Anforderungen sich »noch keiner gerührt und feierlich Protest eingelegt« habe. Da Zech – ähnlich wie Götzen in Ostafrika – außerdem dazu neigte, sich sämtliche Angelegenheiten persönlich vorlegen zu lassen, notierte Reitzenstein in diesem Zusammenhang in sein Tagebuch das – später wieder ausgestrichene – Wort »Größenwahn?!«1186 Nicht anders als zuvor sein Amtskollege in Daressalam klagte auch Zech im März 1907, »unter erheblicher Überarbeitung zu leiden«.1187 Allerdings scheint das hohe Arbeitspensum unter seinen Beamten nicht ausschließlich dem Regiment des Grafen zuzuschreiben zu sein, monierte er doch mehrmals gegenüber der Berliner Zentrale, dass das Gouvernement unter latentem Personalmangel leide und die einzelnen Beamten überlastet seien.1188 Eine durchgreifende Änderung auf diesem Sektor hielt er aber aufgrund des geringen finanziellen Spielraums für wenig aussichtsreich. Als eine »wichtige Aufgabe der Verwaltung« sah er daher die »Gewinnung geeigneter farbiger Hilfskräfte« an, da sich
1180 Ebd., S. 201f. (10.1.1905). 1181 ANT FA 1/128, Bl. 39–41, Zech (Lomé) an alle Bezirksleiter vom 21.2.1907, Erlass; vgl. ANT FA 1/125, Bl. 100–125, Aufzeichnung über Besprechung vom 2.12.1908. 1182 BayHStA HS 911/3, Reitzenstein, Tgb. (25.6.1908). 1183 Ebd. (17.6.1908). 1184 Ebd. (15.6., 4.8.1908). 1185 Ebd. (11.9.1908); PA-AA NL 8/51, Bl. 59, Asmis (Lomé) an Rieck vom 21.6.1907, Schreiben; ebd., Bl. 82, Asmis (Lomé) an Mischlich vom 16.8.1907, Schreiben. 1186 BayHStA HS 911/3, Reitzenstein, Tgb. (20.9.1908). 1187 BA-B N 2340/2, Bl. 2f., Zech (Lomé) an Staubwasser vom 27.3.1907, Schreiben. 1188 JB 1906/07, S. 3905; JB 1907/08, S. 6782; JB 1908/09, S. 672.
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dadurch die Personalkosten eingrenzen ließen.1189 Überhaupt gestand Zech in der Handelskolonie Togo der einheimischen Bevölkerung eine zentrale Rolle zu. Darin ging er mit dem neuen Kolonialdirektor Dernburg konform. Dieser hatte im November 1906 auch Zech zur Vorlage eines Zehnjahresplans für seine Kolonie aufgefordert.1190 Die Inhalte dieses »Programms für eine planmäßige Entwicklung« reichten zum Teil weit über den geforderten Zeitraum hinaus, schwebte Zech doch beispielsweise ein bis 1948/55 angelegtes Projekt zum Bau eines Hafens in Porto Seguro ebenso vor wie die Verlegung des Regierungssitzes dorthin.1191 Als »dringendste und wichtigste Aufgabe« galt ihm jedoch die baldige Erschließung des gesamten ›Schutzgebietes‹ durch eine »möglichst zentral gelegene Bahn«. Die dritte Säule für seinen Infrastrukturplan bildeten zwei große Verkehrsstraßen nach dem Landesinnern, auf denen von Menschen gezogene Karren dem späteren Einsatz von »Lastautomobilen« vorangehen sollten. All das würde seiner Ansicht nach die Rahmenbedingungen für den Handel begünstigen. Entscheidender sei jedoch die Tatsache, dass die gesamte weitere wirtschaftliche Entwicklung von der »fast ausschließlich in den Händen der Eingeborenen« befindlichen landwirtschaftlichen Produktion abhängig sei. Diese gelte es vorrangig zu verbessern. Für europäische Plantagenbetriebe sei dagegen die Bodenbeschaffenheit der Kolonie nicht genügend rentabel.1192 Andererseits hätte das aber den Vorzug, dass in Togo ein Arbeitskräftemangel höchstens saisonal eintrete, wenn beispielsweise die Baumaßnahmen der Verwaltung zeitlich mit der Feldbestellung zusammenfielen. Generell könne von einer »Arbeiternot« aber keine Rede sein. Nach Zechs Vorstellungen sei daher anzustreben, die »Eingeborenen einer höheren Kulturstufe zuzuführen, sie zu brauchbaren Elementen zu erziehen, zu Berufstätigkeiten heranzubilden und zu verwenden, welche ihrer Befähigung entsprechen«. Dabei schwebte ihm für die Küstenbezirke die Errichtung einer zweiklassigen Mittelschule vor, die auf die vorherige »Volksschulbildung« aufbauen solle. Dagegen sei den Wünschen der »bessergestellten Eingeborenen«, die nach dem Vorbild der britischen und französischen Nachbarkolonien »ihren Kindern eine höhere Bildung zu verschaffen« suchten, vorläufig nicht zu entsprechen. Für einen solchen Schritt hielt er die einheimische Jugend für »noch nicht genügend entwickelt«. Zech hatte somit die Abhängigkeit der europäischen Interessen von der indigenen Bevölkerung erkannt, zielte aber auf ein schrittweises Vorgehen ab, bei der die Einheimischen auf der Basis bäuerlicher Kleinbetriebe die landwirtschaftliche Produktion steigern und somit die Exportmöglichkeiten fördern sollten. Darüber hinaus sei in den küstennahen Bezirken eine indigene Mittelschicht aus Handwerkern, Hilfsbeamten und Vorarbeitern heranzubilden. Zechs Konzept entsprach damit weitgehend den In-
1189 Ebd.; Trotha, Herrschaft, S. 87f., geht von insgesamt 463 afrikanischen Zivilangestellten aus. Nichtsdestotrotz wuchs auch die Zahl europäischer Regierungsangestellter während Zechs Amtszeit auf 92. JB 1909/10, S. 95. 1190 BA-B R 1001/2034, Bl. 77f., KA (Dernburg) an alle Gouverneure vom 17.11.1906, Runderlass. 1191 BA-B R 1001/4235, Bl. 16–75, Zech (Lomé) an RKA vom 26.5.1907, Programm. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Siehe zu den geplanten Infrastrukturmaßnahmen auch: Seemann, Zech, S. 65–67; Erbar, Platz, S. 190–217. 1192 Vgl. Seemann, Zech, S. 57–61.
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tentionen der Berliner Zentrale. Dernburg versah das Programm erwartungsgemäß mit dem Prädikat einer »ausgezeichneten + wohldurchdachten Aufstellung«.1193 Gleichzeitig lehnte der Gouverneur jegliches Aufweichen der kolonialen Dichotomie strikt ab. Während er die indigene Bevölkerung generell für »noch nicht reif« hielt, um diese verantwortlich an der Landesverwaltung zu beteiligen, war er ebenso dagegen, »befähigtere Eingeborene« auf kommunaler Ebene mit »beratender Stimme« zu Wort kommen zu lassen.1194 Das Gegenteil war der Fall: Als im Juni 1909 der afrobrasilianische Plantagenbesitzer Octaviano Olympio und der indigene Missionslehrer Andreas Aku dem Gouverneur eine Petition überreichten, in der sie darum ersuchten, die Angehörigen der togolesischen Bildungs- und Oberschicht rechtlich den Europäern gleichzustellen, lehnte der Gouverneur dieses Ansinnen rundweg ab.1195 In seinem Antwortschreiben begründete er seine Entscheidung mit dem Postulat eines »natürlichen Gegensatzes der beiden Rassen, sie beruht auf der überwältigenden Überlegenheit der weißen Rasse als Ganzem gegenüber der farbigen in kultureller Beziehung.« Seine Argumentation stützte sich auf die Behauptung, wonach es – in vermeintlicher Analogie zur kolonialen Dichotomie – in den traditionellen Gesellschaften der Afrikaner ebenfalls herrschende Klassen oder Familien gäbe, die als »höherstehendes Volk« sowohl die politische Vorherrschaft als auch entsprechende Vorzugsrechte besäßen.1196 Zech scheint bei seinen Belehrungen jedoch übersehen zu haben, dass diese willkürliche Einteilung in Herrscher und Beherrschte kaum mehr etwas mit der ansonsten von ihm gerne ins Feld geführten kulturellen Mission Europas gemein hatte. Gerade diese Ausführungen stellen daher einen Schlüssel zum Herrschaftsverständnis des ehemaligen Berufsoffiziers dar. Dass es sich bei dieser Grundüberzeugung vom Recht des Stärkeren keineswegs um eine singuläre Aussage Zechs handelt, lässt sich anhand zusätzlicher Belege verifizieren. Einen weiteren Hinweis liefern etwa die von ihm persönlich abgesegneten »Pflichten der Eingeborenen gegenüber der Regierung«, die den indigenen Schülern an den Regierungsschulen vermittelt werden sollten. Danach sei diesen einzuimpfen, dass sie »›Untertanen‹ des deutschen Kaisers« seien und gegenüber »dem Gouverneur, den Bezirksamtmännern, den Bezirksleitern und allen Regierungs-Beamten treu, gehorsam und untertänig« zu sein hätten.1197 Die damit erneut zum Ausdruck gebrachte Überzeugung, bei den Einheimischen handele es sich um »Untertanen« mit einem verminderten Rechtsstatus, kam in gleichem Maße in Zechs Ansichten über die körperliche Züchtigung zum Ausdruck. Auch dieses Mittel sah er zur »Erziehung« der Einheimischen »heu-
1193 BA-B R 1001/4235, Bl. 15, Zech (Lomé) an RKA vom 26.5.1907, Bericht (Zitat). Dernburgs Urteil findet sich dort als Randbemerkung. 1194 Vgl. Knoll, Togo, S. 61; Gründer, Geschichte, S. 149; Erbar, Platz, S. 35f. 1195 BA-B R 1001/4775, Bl. 24f., Octaviano Olympio (Lomé) an Zech vom 24.5.1909, Petition; vgl. ebd., Bl. 26, Zech/Asmis (Lomé) vom 26.5.1909, Vermerk; Amos, Afro-Brazilians, S. 302f.; Sebald, Togo, S. 545f. 1196 BA-B R 1001/4775, Bl. 28–30, Zech (Lomé) an Octaviano Olympio vom 29.6.1909, Bescheid. 1197 Zech (Lomé) an Bezirksamt Lomé-Stadt vom 14.1.1907, Erlass, abgedruckt in: Adick/Mehnert, Kolonialpädagogik, S. 154f.
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te noch [als] unentbehrlich« an. Selbst eine »Beschränkung der Zahl der Hiebe« lehnte er ab.1198 Nicht einmal die chiefs und indigenen Funktionsträger sollten generell von der Prügelstrafe verschont werden. Anders als einige seiner Bezirksleiter hielt er darüber hinaus die Anregung, alle Einheimischen, die Deutsch lesen und schreiben könnten, nicht mehr zu prügeln, für einen »sehr großen Fehler«. Seiner Ansicht nach handelte es sich bei diesen keineswegs um eine Bildungselite, sondern meist um »einfältige junge Burschen«. Lediglich die kings selbständiger Landschaften oder auch die chiefs von größeren Ortschaften seien zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität von der körperlichen Züchtigung auszunehmen, ebenso die »wirklich gediegenen und braven Leute, welche einen tadellosen Leumund haben«. Namentlich bei den letzteren sei Zech zufolge mit Sicherheit anzunehmen, dass sie »sich gegen die Obrigkeit nicht verfehlen werden«. Alle anderen Einheimischen würden dagegen »diejenigen Elemente« repräsentieren, »bei denen selbst in Europa die Prügelstrafe heute noch angebracht wäre.« Die Ansichten des Gouverneurs Zech entsprachen damit exakt den Verfahrensweisen des früheren Stationsleiters Zech. Ein Blick auf seine damalige Strafpraxis im Bezirk Kete-Kratji vermittelt das Bild häufiger Prügelstrafen. Während selbst »Lügen vor Gericht« von ihm damals mit 12 bis 25 Hieben geahndet wurde, hatte Zech bei Diebstahl Zwangsarbeitsstrafen in Verbindung mit 15 bis 25 Hieben ausgesetzt. Auch hatte er damals zwar mehrere chiefs wegen Nichtausführung seiner Anweisungen oder wegen vermeintlich eigenmächtiger Handlungen bestraft, dabei aber bevorzugt Geldbußen verhängt.1199 Von etwaigen Lerneffekten angesichts des mehrjährigen Kontakts mit den Einheimischen oder gar einer wirklichen Erfassung der »Psyche und Mentalität der Eingeborenen in ihrem Kern«, wie es ihm nachträglich bescheinigt wurde, ist jedenfalls wenig zu bemerken.1200 Zech unterschied sich in dieser Hinsicht kaum von den meisten seinen Gouverneurskollegen. Dass seine Zielsetzungen und Handlungsweisen im Grundsatz mit denen des Reichskolonialamts übereinstimmten, belegt nicht zuletzt seine vergleichsweise lange Amtsdauer. Als er am 13. Mai 1910 die Kolonie für immer verließ, resultierte auch dieser Schritt keineswegs daraus, dass er »die Haltung […] des Juden Dernburg nicht mehr ertragen konnte«, wie der frühere Bezirksamtmann Karl Mezger während des ›Dritten Reiches‹ behaupten sollte.1201 Vielmehr gibt es keinerlei Hinweise auf einen größeren Konflikt mit dem zu diesem Zeitpunkt ohnehin bereits von seinem Amt zurückgetretenen Staatssekretär.1202 Zech selbst schrieb stattdessen unmittelbar nach seiner Abreise an einen seiner Bezirksleiter, dass seine »Gesundheitsverhältnisse« einem längeren Aufenthalt in der Tropenkolonie »nicht mehr Stand zu halten vermochten« und er sich deshalb 1198 BA-B R 1001/5378, Bl. 238–244, Zech (Berlin) vom 18.4.1905, Vermerk. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. 1199 BA-B R 1001/5087, Bl. 73–75, Zech, o.D., Strafverzeichnis für Kete-Kratschi (April-Juni 1898); ebd., Bl. 107f., Zech vom 24.1.1899, Strafverzeichnis für Kete-Kratschi (Okt.-Dez. 1898); ebd., Bl. 182f., Zech vom 31.10.1899, Strafverzeichnis für Kete-Kratschi (Juli-Sept. 1899); ebd., Bl. 180f., Zech vom 31.1.1900, Strafverzeichnis für Kete-Kratschi (Okt.-Dez. 1899). 1200 BA-B N 2340/3, Bl. 115–117, Karl Mezger, o.D. [ca. 1941], Charakterisierung Zechs. 1201 Ebd. (Zitat); vgl. Zurstrassen, Beamte, S. 254. 1202 Vgl. PA-AA NL 8/50, Zech (Lomé) an Asmis vom 23.2.1910, Schreiben.
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entschlossen habe, »meinen Abschied zu nehmen«.1203 Tatsächlich stellte der Amtsarzt in Berlin wenig später eine hochgradige Nervenschwäche sowie eine chronische Nierenentzündung fest, so dass Zech als dauernd dienstunfähig eingestuft und kurz darauf in den Ruhestand versetzt wurde.1204
4.5.2 Ein Laboratorium des Totalitarismus? Deutsch-Südwestafrika unter Friedrich von Lindequist Die Amtszeit Lindequists als Gouverneur in Windhuk war mit knapp zwei Jahren vergleichsweise kurz. Diese Zeitspanne wäre an sich zu vernachlässigen, wenn nicht unter dem Nachfolger Leutweins einige Grundsatzentscheidungen getroffen worden wären, die den Charakter des kolonialen Staats in Südwestafrika, insbesondere aber dessen Verhältnis zur indigenen Bevölkerung entscheidend prägen sollten. Zum einen handelt es sich um eine Neuausrichtung des Verhältnisses der Ziviladministration gegenüber den Militärs, zum andern um die Festschreibung der künftigen Stellung der Einheimischen nach dem Ende des Imperialkriegs gegen Herero und Nama. Dieser zweite Aspekt ging über bloße Sicherheitserwägungen weit hinaus, war doch Südwestafrika bekanntlich zur Siedlungskolonie ausersehen worden. Dementsprechend stand eine Umverteilung der landwirtschaftlichen Nutzflächen ebenso wie eine Heranziehung der Indigenen als Billiglohnarbeiter von Anfang an ganz oben auf der Agenda dieses Gouverneurs. Angesichts dieser von der Metropole mitgetragenen Zielsetzungen kann die Auswahl Lindequists kaum überraschen. Es kam bereits zur Sprache, dass er von 1894 bis 1898 unter der Ägide Leutweins das koloniale Regime in Windhuk entscheidend mitgeprägt hatte. Schon damals war es der Kolonialabteilung nicht verborgen geblieben, dass das Verhältnis zwischen dem Gouverneur und seinem Stellvertreter zwar persönlich unproblematisch, in Sachfragen aber nicht ohne Reibungen verlaufen war. Dabei hatte Lindequist stets ein radikaleres Vorgehen gegenüber den Herero gefordert und sogar seinen Rücktritt angeboten, nachdem sein Vorgesetzter ihm bei der Ausweisung von Siedlungsflächen auf Kosten der Indigenen zu wenig energisch erschienen war.1205 Bereits damals war gemutmaßt worden, dass der Stellvertreter »selbst gern Landeshauptmann sein möchte«.1206 Da sich Leutwein vorläufig aber behaupten konnte, war Lindequist zeitweise in die Kolonialabteilung zurückversetzt worden, bevor er im Sommer 1900 als Generalkonsul nach Kapstadt ging und somit weiterhin den »südwestafrikanischen Verhältnissen nah« blieb.1207 Tatsächlich unterstützte er seit Frühjahr 1904 den Krieg gegen die Herero von Südafrika aus, indem er Nachschubgüter aller Art beschaffte und in die angrenzende deutsche Kolonie überführen ließ.1208 1203 Ebd., Zech (an Bord ›Luise Woermann‹) an Asmis vom 18.5.1910, Schreiben. 1204 BA-B N 2340/3, RKA (Steudel) vom 9.6.1910, Gesundheitsprüfung; GStA PK Rep 89/32474, Bl. 32f., Bethmann Hollweg an Wilhelm II. vom 5.11.1910, Immediatbericht. 1205 Siehe Kapitel 4.3.3. Zum persönlichen Verhältnis zwischen Leutwein und Lindequist: BA-K N 1030/40, Bl. 407, Franke, Tgb. (16., 17.4.1905); BA-B N 2146/39, Leutwein (Freiburg) an König vom 24.4.1905, Schreiben. 1206 BA-B N 2345/18, Bl. 14–21, Dürrling (Windhuk) an Zimmermann vom 24.11.1896, Schreiben. 1207 BA-K N 1669/1, Bl. 78, Lindequist, Erlebnisse. 1208 Ebd., Bl. 78f., Lindequist, Erlebnisse.
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Nach Leutweins Rücktritt waren auch die Vorgehensweisen Trothas rasch in die Kritik geraten, wenngleich seitens der Kolonialabteilung weniger humanitäre als vielmehr utilitaristische sowie ressortegoistische Motive den Ausschlag dafür gaben. Personalchef König schrieb beispielsweise an den zeitweilig an der Londoner Botschaft tätigen Schnee, dass »dieser unheilvolle Mann« in der Kolonie »ohne Rücksicht auf Menschen und Geld« vorgehe. Sein Fazit lautete daher: »Erfolg minimal und nicht annähernd im Verhältnis zum Einsatz.«1209 Dazu kam, dass Trotha zwar die Bearbeitung der zivilen Verwaltungsangelegenheiten weitgehend dem Regierungsrat Hans Tecklenburg überließ.1210 Dennoch beantragte der General im Sommer 1905, »ihm die Beamten des Gouvernements auch in disziplinarer Beziehung zu unterstellen«, was in der Kolonialabteilung »ernste Bedenken« hervorrief.1211 Rasch wurde daraufhin der Ruf laut, es sei »höchste Zeit«, dass Lindequist die Gouverneursgeschäfte in Windhuk übernehme, um diese wieder in zivile Hände zu überführen.1212 Obgleich der Imperialkrieg selbst nach annähernd zwei Jahren noch immer nicht beendet war, dachte man in Berlin bereits an eine Reorganisation der kolonialen Verwaltung vor Ort ebenso wie an eine Wiederaufnahme der Besiedlungspolitik. Auch dafür erschien ein Militärgouverneur wenig geeignet. In einer Kolonie mit einer absehbar rasch wachsenden Anzahl europäischer Siedler waren stattdessen vor allem Fragen formaljuristischer, administrativer und politischer Natur zu erwarten. Auch dieser Aspekt spielte bei der Auswahl des Juristen, Verwaltungsfachmanns und Diplomaten Lindequist eine wesentliche Rolle. Trotzdem bedeutete die Tatsache, dass der Krieg mit einer umfassenden Militarisierung der Kolonie einhergegangen war, eine gewichtige Hypothek für einen Zivilgouverneur. Tatsächlich stellte die Schutztruppe um die Jahreswende 1905/06 etwa zwei Drittel aller in der Kolonie befindlichen Europäer, deren Gesamtzahl sich zu diesem Zeitpunkt auf knapp zwanzigtausend Personen bezifferte.1213 Der designierte Gouverneur war sich über die zu erwartenden Schwierigkeiten, die eine solche Dominanz des Militärs zwangsläufig mit sich brachte, bewusst. So sehr seine Ambitionen auf das Gouverneursamt ausgerichtet waren, war Lindequists Reaktion auf die Nachricht seiner Ernennung daher alles andere als optimistisch. An König schrieb er noch am selben Tag:1214 »Herzlichen Dank für die freundliche Übermittlung der Hiobspost. Also doch! Ich werde versuchen, mich mit Würde in das Unvermeidliche zu schicken, wenn man meinen Wünschen gerecht wird!«
1209 GStA PK Nl Schnee/31, König an Schnee vom 8.10.1905, Schreiben. 1210 NAN ZBU A.II.H.2, Bd. 1, Trotha (Windhuk) vom 27.11.1904, Bekanntmachung; BA-B R 1001/2033, Bl. 135, Tecklenburg vom 20.3.1905, Vermerk. 1211 BA-B N 2146/59, König (Berlin) an Richthofen vom 3.8.1905, Bericht (Zitat 2); ebd., König, o.D. [Anfang August 1905], Vermerk (Zitat 1); vgl. NAN ZBU A.II.H.2, Bd. 1, Trotha (Keetmanshoop) an Tecklenburg vom 28.6.1905, Telegramm. 1212 GStA PK Nl Schnee/31, König an Schnee vom 8.10.1905, Schreiben. 1213 Es handelte sich um etwa 13.000 Schutztruppenangehörige sowie mindestens 6.366 europäische Zivilpersonen. Eckart, Krieg, S. 221; JB 1905/06, S. 287. 1214 BA-B N 2146/40, Lindequist (Berlin) an König vom 19.8.1905, Schreiben.
4. Herrschaftspraktiken
Die ›Wünsche‹ des neuen Gouverneurs bestanden vor allem darin, dass Trotha zeitgleich mit seiner Ankunft abreisen und der künftige »Truppenkommandant ihm untergeordnet« werden müsse.1215 Die Orchestrierung dieser Ablösung macht deutlich, dass das Hauptaugenmerk des am 19. August 1905 ernannten Gouverneurs tatsächlich in erster Linie darauf gerichtet war, Trotha noch vor der Übernahme der Amtsgeschäfte zum Verlassen der Kolonie zu bewegen. Zu diesem Zweck reiste Lindequist in der zweiten Oktoberhälfte zunächst nach Kapstadt, was er offiziell mit der Auflösung seines dortigen Hausstands als Generalkonsul begründete. Am 2. November wurde Trotha durch Kaiserliche Ordre formell abberufen. Dieser Weisung zufolge hatte der General am 18. November das Kommando über die Schutztruppe an den Obersten Cai Dame zu übergeben und das ›Schutzgebiet‹ danach unverzüglich zu verlassen.1216 Wenige Tage nach dem Kaiserlichen Dekret wurde das Exzellenz-Prädikat für sämtliche deutschen Kolonialgouverneure in Afrika und Ozeanien eingeführt.1217 Diese Maßnahme ist in diesem Zusammenhang weder als nebensächlich noch vom Zeitpunkt her als zufällig anzusehen. Vielmehr handelte es sich um die Neuauflage des bereits im Frühjahr 1891 zur Anwendung gelangten und im Zusammenhang mit Soden bereits beschriebenen Verfahrens. Tatsächlich war die damalige Situation in Ostafrika durchaus vergleichbar mit derjenigen Lindequists. Mit dem Amtsantritt Wißmanns war allerdings der Exzellenz-Titel für den Gouverneur in Daressalam ersatzlos weggefallen.1218 Jetzt, am 14. November 1905, schien der Zeitpunkt geeignet, erneut einem Zivilgouverneur gegenüber einem ebenso zahlreichen wie selbstbewussten Offizierkorps durch diesen Ehrentitel den nötigen Rückhalt zu verschaffen. Es kam bereits zur Sprache, dass der Exzellenz-Titel im Militär nur der ranghöchsten Dienstgradgruppe der Generale zustand. Nach Trothas Abgang wäre somit Lindequist der einzige Träger dieses Prädikats in der Kolonie. Da Südwestafrika in der ›Schutzgebiets‹-Hierarchie aber hinter Ostafrika und Kamerun rangierte, wurde der Titel diesmal kurzerhand auf sämtliche Gouverneure ausgedehnt. Erst nach dieser Stärkung seiner Position trat Lindequist die kurze Seereise von Kapstadt nach Lüderitzbucht an, wohin inzwischen auch Trotha zitiert worden war. Dieser hatte unmittelbar vor seiner Abberufung noch den Versuch unternommen, zumindest »im Süden militärisch und politisch völlig freie Hand« zu erhalten, während Lindequist nur für den bereits befriedeten Norden des ›Schutzgebiets‹ zuständig sein sollte. Die Antwort aus Berlin war jedoch analog zu dem vergleichbaren Ansinnen Françoisʼ mehr als elf Jahre zuvor ablehnend ausgefallen. Trotha beklagte sich daher unmittelbar 1215 Deutsche Zeitung vom 12./13.9.1905; vgl. BA-K N 1669/1, Bl. 79, Lindequist, Erlebnisse. 1216 Wilhelm II. vom 2.11.1905, Kaiserliche Ordre, abgedruckt in: Deutsche Zeitung vom 14.12.1905; vgl. GLA-KA, Nl Dame, S. 21, Dame, Tgb. (3.11.1905); BA-MA N 786/8, Maercker (Windhuk) an seinen Bruder vom 4.11.1905, Schreiben. Dass Lindequist über dieses Vorgehen im Bilde war, belegt eine Äußerung gegenüber dem Missionar Spiecker: Spiecker, Tgb., S. 53f. (24.10.1905). 1217 Wilhelm II./Bülow vom 14.11.1905, Allerhöchste Ordre betr. Führung des Prädikats Exzellenz durch die Gouverneure in Afrika und der Südsee und deren Rang, abgedruckt in: DKG 9, S. 270f. Die funktionale Absicht lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass der Titel nur für die »Dauer ihres Amts und ihres Aufenthalts außerhalb Europas« zugestanden wurde. 1218 Siehe Kapitel 4.2 und 4.3.1.
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vor seiner Abreise »bitter über die ihm zuteilgewordene Behandlung«, musste sich aber letztlich fügen.1219 Nachdem der General am 18. November sein Kommando abgegeben hatte, traf am nächsten Tag der Gouverneur in Lüderitzbucht ein. Dort ließ er durch seinen Adjutanten zuallererst bekanntgeben, dass ihm inzwischen der »Titel Exzellenz beigelegt worden sei«.1220 Zusammen mit Trotha erfolgte dann die Weiterfahrt per Schiff nach Swakopmund, wo Lindequist von Bord ging, um wenige Tage darauf die Amtsgeschäfte in Windhuk zu übernehmen. Der General setzte dagegen allein und ohne weiteren Aufenthalt in der Kolonie die Seereise nach Deutschland fort. Der Übergang vom militärischen zum zivilen Regiment war damit ohne Komplikationen vollzogen.1221 Obgleich der neue Kommandeur anfangs einen »sehr netten Eindruck« von Lindequist gewonnen hatte und deshalb annahm, mit diesem werde »schon […] auszukommen sein«, entwickelte sich das Verhältnis zwischen dem Gouverneur und Oberst Dame weniger reibungslos als erhofft.1222 Den konkreten Anlass für die folgende Auseinandersetzung lieferten die unmittelbar nach dem Kommandowechsel eingehenden Unterwerfungsangebote mehrerer Nama-Gruppen. Diese hatten nach dem Tod Hendrik Witbois und der Abreise des für seine Brutalität bekannten Trotha beschlossen, den Kampf gegen die Schutztruppe einzustellen und sich gefangen zu geben. Da Lindequist die Übergabe nur unter »strengen Bedingungen« akzeptieren wollte, Dame aber nach außen den Eindruck einer vermeintlich milderen Form von Kriegsgefangenschaft erwecken wollte, ergab sich ein Konflikt.1223 Lindequist musste dabei feststellen, dass er sich zwar Exzellenz nennen durfte und sich Trothas erfolgreich entledigt hatte, eine Neuregelung seiner Befugnisse gegenüber der Schutztruppe aber ausgeblieben war.1224 Tatsächlich konnte sich Dame auf zwei speziell für Südwestafrika erlassene Kaiserliche Ordres aus dem Vorjahr berufen, nach der dem Truppenkommandeur in sämtlichen operativen Fragen freie Hand gewährt wurde.1225 Lindequist pochte dagegen auf die Bestimmungen der allgemeinen Schutztruppenordnung, wonach das letzte Wort auch im militärischen Bereich dem Gouverneur zustand.
1219 GLA-KA, Nl Dame, S. 23f., Dame, Tgb. (6.11.1905). 1220 Ebd., S. 36f., Dame, Tgb. (20.11.1905). 1221 BA-K N 1669/1, S. 79f., Lindequist, Erlebnisse; GLA-KA, Nl Dame, S. 36f., Dame, Tgb. (20.11.1905); BA-K N 1783/1, Eich, Tgb. (26., 27.11.1905). 1222 GLA-KA, Nl Dame, S. 35, Dame, Tgb. (19.11.1905). 1223 BA-B R 1001/2137, Bl. 77, Lindequist (Swakopmund) an KA vom 22.11.1905, Telegramm (Zitat); ebd., Bl. 101, Dame (Keetmanshoop) an Generalstab vom 8.12.1905, Telegramm. 1224 Die Absicht, den Vorrang des Gouverneurs wiederherzustellen, war Lindequist vor seiner Abreise mündlich zugesichert worden: HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142, Bü 396, Lindequist (Windhuk) an Hohenlohe-Langenburg vom 28.12.1905, Telegramm; vgl. Zimmerer, Herrschaft, S. 56, Anm. 1. 1225 Siehe Kapitel 4.3.3; vgl. GLA-KA Nl Dame, Dame, Tgb. (21.12.1905): »Unser Verhältnis zum Gouverneur ist noch nicht geklärt; die Verfügung des Kaisers, wonach während der Dauer des Kriegszustandes allein der Kommandeur der Truppe alle die sonst dem Gouverneur zugestandenen Befugnisse ausübt, ist nicht aufgehoben; das scheint der Gouverneur garnicht zu wissen, und versucht dreinzureden. Ich habe beantragt (in Berlin), dass oben genannte Verfügung bestehen bleibt.« BA-B R 1001/2137, Bl. 135, Dame (Keetmanshoop) an Generalstab vom 19.12.1905, Telegramm.
4. Herrschaftspraktiken
Wenige Tage nach der Übernahme der Geschäfte in Windhuk forderte er daher die Kolonialabteilung auf, unverzüglich seine »Machtbefugnisse« zu klären, da seiner Ansicht nach die »Verhandlungen mit Eingeborenen [eine] große Rolle« für die künftige Ausgestaltung ihres Status spielten und man diese Frage nicht den Militärs allein überlassen dürfe.1226 In einem Geheim-Telegramm an den Kolonialdirektor Hohenlohe-Langenburg ging er schließlich aufs Ganze und sprach unmissverständlich aus, dass für die »Eingeborenen-Politik […] nur einer die Verantwortung tragen« könne, nämlich er selbst. Solange die auf Trotha zugeschnittenen Sondervollmachten in Kraft blieben, seien ihm jedoch in »allen wichtigen Fragen die Hände gebunden«. Hätte er von der Fortexistenz dieser Befugnisse gewusst, dann würde er den »Ruf auf den hiesigen Posten bestimmt nicht angenommen« haben. Lindequist ging sogar so weit, seine eigene Abberufung »zur ernsthaften Erwägung« zu stellen.1227 Zweifellos war diese Drohung kalkuliert, wäre doch der Rücktritt eines Gouverneurs unmittelbar nach seiner Ankunft im ›Schutzgebiet‹ einem handfesten Skandal gleichgekommen. Einen solchen hätte sich die Kolonialverwaltung zu diesem Zeitpunkt aber kaum erlauben können, wurde doch in diesen Wochen bereits Puttkamer aus Kamerun abberufen, während erst ein knappes Jahr zuvor Horn seine Amtsgeschäfte in Togo übereilt niedergelegt hatte. Auch in Ostafrika stand ein – wenngleich weniger spektakulärer – Gouverneurswechsel bevor.1228 Bei sachlicher Betrachtung waren die Positionen Lindequists und Dames ohnehin nicht allzu weit voneinander entfernt, beabsichtigten doch beide, die sich ergebenden Nama-Gruppen vollständig zu entwaffnen, an bestimmten Plätzen zwangsweise anzusiedeln und dort unter dauernde Bewachung zu stellen. Außerdem waren sich Gouverneur und Kommandeur einig, dass die Gefangenen zumindest zeitweise Zwangsarbeit verrichten müssten.1229 Von einer »unzeitgemäßen, gegenüber Hottentotten noch verfrühten Milde« kann daher auch bei den Absichten Dames keine Rede sein.1230 Es lässt sich daher unschwer erkennen, dass es sich in erster Linie um ein Kräftemessen zwischen den beiden neu eingesetzten Spitzenvertretern von Zivilverwaltung und Schutztruppe handelte. Die Berliner Zentrale suchte Lindequist trotzdem die gewünschte Schützenhilfe zu geben. Während Hohenlohe-Langenburg dem Gouverneur das »größte Vertrauen« aussprach und sich mit dem Generalstabschef Schlieffen – Dames Vorgesetzten – in Verbindung setzte, beauftragte er gleichzeitig die Ausarbeitung eines Erlasses über die Neuregelung der beiderseitigen Kompetenzen. Wilhelm II. verweigerte jedoch seine Zustimmung, die Schutztruppe dem Gouverneur zu unterstellen, solange die Kampfhandlun1226 Ebd., Bl. 90, Lindequist (Windhuk) an KA vom 1.12.1905, Telegramm. 1227 HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142, Bü 396, Lindequist (Windhuk) an Hohenlohe-Langenburg vom 28.12.1905, Telegramm. 1228 Siehe Kapitel 4.3.1, 4.3.2 und 4.5.1. 1229 Auch Schlieffen hielt den Konflikt als Resultat eines Missverständnisses: HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 14, Bü 396, Schlieffen an Hohenlohe-Langenburg vom 26.12.1905, Telegramm; BA-B R 1001/2137, Bl. 101, Dame (Keetmanshoop) an Generalstab vom 8.12.1905, Telegramm; vgl. dagegen Häussler, Genozid, S. 290f., der von fundamentalen Unterschieden der jeweiligen Unterwerfungsbedingungen ausgeht. 1230 HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142, Bü 396, Lindequist (Windhuk) an KA vom 22.12.1905, Telegramm (geheim).
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gen in Südwestafrika noch andauerten. Trotzdem fand sich auch der Kaiser schließlich zu einer Kompromissregelung bereit.1231 Danach wurden die Befugnisse des Kommandeurs im Vergleich zu denen Trothas teilweise eingeschränkt. Dame musste fortan den Gouverneur von sämtlichen militärischen Maßnahmen unterrichten und nach Möglichkeit dessen Wünschen Folge leisten. Im Hinblick auf die Verhandlungen mit »Eingeborenen wegen deren Unterwerfung« wurde dagegen festgelegt, dass die Übergabebedingungen nur noch seitens des Gouverneurs formuliert werden durften.1232 Während der Kommandeur sich angesichts dieser »kleineren Einschränkungen« weiterhin als »ganz unabhängig in militärischen Dingen« fühlte, war Lindequist mit dem Ergebnis unzufrieden.1233 Zwar konnte er nunmehr verfügen, dass den sich ergebenden Nama-Gruppen gegenüber lediglich die »Zusicherung des Lebens an Nichtmörder« ausgesprochen werden durfte. Da die Unterstellung des Kommandeurs vorerst ausblieb, konnte Lindequist »für die Dauer des Krieges« aber nur darauf hoffen, mit seinen eingeschränkten »Machtbefugnissen auskommen zu können«. Dem Kolonialdirektor gegenüber gab er zu bedenken, dass dies nur »auf Kosten von Zeit und Nerven« möglich sei.1234 Dennoch suchte Lindequist seine Vorstellungen auf anderen Wegen zu realisieren. Dames Stabschef, der Major Walther Scherbening, beschrieb das dabei vom Gouverneur praktizierte Vorgehen: Dieser habe offene Auseinandersetzungen zu vermeiden gesucht, indem er sich nach außen »vollendet formvoll liebenswürdig« gegeben habe. Auf der Sachebene habe er dagegen jedes »Wohlwollen und Entgegenkommen« vermieden.1235 Mit dieser Methode scheint Lindequist erfolgreich gewesen zu sein, gewannen doch manche Offiziere bald den Eindruck, als ob Dame »Wachs in Lindequists Händen« sei.1236 Zusätzlich konnte der Gouverneur auf die Unterstützung mehrerer ›alter Afrikaner‹ im Offizierkorps bauen. Der Major Ludwig v. Estorff war zeitweilig im Stab Dames tätig und hatte bereits in früheren Jahren eng mit Lindequist zusammengewirkt.1237 Ähnliches galt für den Hauptmann Joachim v. Heydebreck, den sich der Gouverneur als persönlichen Adjutanten auserwählt hatte. Auch der Hauptmann Franke zählte schon länger zum Umkreis des Gouverneurs.1238 Da Dame wenig später abgelöst und durch Berthold 1231 Ebd., Hohenlohe-Langenburg an Lindequist vom 28.12.1905, Schreiben. 1232 Ebd., KA vom 2.1.1906, Entwurf für Allerhöchste VO (vollzogen am 9.1.1906); vgl. Zimmerer, Herrschaft, S. 56, Anm. 1. 1233 GLA-KA Nl Dame, Dame, Tgb. (14., 19.1.1906). 1234 HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142, Bü 396, Lindequist (Windhuk) an Hohenlohe-Langenburg vom 15.3.1906, Schreiben. 1235 BA-MA N 134/1, S. 20f., Scherbening, Tgb. (16.2.1906); vgl. BA-MA N 18/1, Bl. 182, Heye, Erinnerungen; Hellmann, Tgb., S. 75 (12.6.1908). 1236 BA-K N 1030/42, Bl. 455, Franke, Tgb. (22.3.1906); vgl. BA-MA N 134/1, S. 62f., Scherbening, Tgb. (12.5.1906). 1237 Vgl. Estorff (Omaruru) an seine Eltern vom 14.3.1896, Schreiben, abgedruckt in: Estorff, Kameldornbaum, S. 142f.; Estorff (Stampriet) an seine Eltern vom 16.4.1896, Schreiben, abgedruckt in: ebd., S. 144f. 1238 Vgl. BA-B R 1002/759, Hohenlohe-Langenburg, o.D. [September 1905], Vermerk; Spiecker, Tgb., S. 58 (30.10.1905); Franke, Tgb., S. 37 (8.3.1897); BA-K N 1030/40, Bl. 403, 407f., Franke, Tgb. (9., 16.20.4.1905). Mit Heydebreck ergaben sich später auch verwandtschaftliche Bindungen, heiratete Lindequist doch am 20.8.1909 Dorothea v. Heydebreck.
4. Herrschaftspraktiken
Deimling ersetzt wurde, wurden die Karten ohnehin neu gemischt. Auch das wusste Lindequist sich zunutze zu machen. Scherbening notierte anlässlich des Kommandowechsels enttäuscht in sein Tagebuch, Deimling habe ihm anlässlich seines Dienstantritts erklärt, dass er in vielen Bereichen bereits durch informelle »Zusagen an den Gouverneur gebunden« sei.1239 Dazu kam, dass das in Keetmanshoop residierende Militärkommando weitgehend auf das Kampfgeschehen im Süden der Kolonie fokussiert war. Selbst mit dieser Aufgabe sahen sich die Militärs zeitweilig überfordert, waren doch die in kleinen und kleinsten Gruppen operierenden und dabei hochmobilen Nama-Reiter in den weitläufigen Wüsten- und Gebirgsgegenden kaum zu fassen. Darüber hinaus erwiesen sie sich in Beweglichkeit, Schießfertigkeit und Bedürfnislosigkeit der Schutztruppe weit überlegen. Scherbening notierte nach einer Serie von Fehlschlägen im Frühjahr 1906 resigniert und in Anspielung auf Helmuth v. Moltke in sein Tagebuch: »Glück hat auf die Dauer wohl nur der Tüchtige. Sind wir so untüchtig, dass wir immer Unglück haben?«1240 Andererseits spielten gerade solche Schwierigkeiten Lindequist in die Hände. Kurz nach seinem Amtsantritt veranlasste er das Kommando der Schutztruppe, die bisherige Patrouillentätigkeit im nördlichen und mittleren Teil der Kolonie einzustellen und sich dort nur noch auf die passive Sicherung von Ortschaften und Farmen zu beschränken.1241 Im Gegenzug suchte er in diesen Gegenden die Ziviladministration so rasch als möglich zu reorganisieren. Dabei fielen allerdings seine ersten Eindrücke ernüchternd aus. An Hohenlohe-Langenburg schrieb er kurz nach seinem Amtsantritt, dass dem »Gouvernement die Übersicht gänzlich verloren gegangen ist«. Von einer einheitlichen Verwaltungsführung der Bezirks- und Distriktsämter könne daher keine Rede sein, vielmehr würden diese »nach ganz verschiedenen Grundsätzen arbeiten«. Lindequist zog daher für den Moment das Fazit: »Es klappt nirgends so wie es sollte, auch beim Gouvernement nicht […].« Neben den Nachwirkungen des Trotha-Regimes sah er dafür auch den teilweise mangelhaften »Beamtenapparat« als ursächlich an.1242 Angesichts latenter Rivalitäten mit der Schutztruppe und erheblichen Defiziten innerhalb der eigenen Administration verwundert es nicht, dass Lindequist alternativen Ressourcen nicht abgeneigt war. Bereits während der gemeinsamen Überfahrt nach 1239 BA-MA N 134/1, S. 94, Scherbening, Tgb. (23.7.1906); BA-MA N 18/1, Bl. 180–182, Heye, Erinnerungen; vgl. Zirkel, Militaristen, S. 63–72. 1240 BA-MA N 134/1, S. 61, Scherbening, Tgb. (8.5.1906). Der erste Teil des Zitats entspricht fast wortgleich einem Satz aus einer Abhandlung des preußischen Generalstabschefs Helmuth v. Moltke. Moltke, Strategie, S. 431. Nicht ohne Sympathie für den erfolgreichsten seiner Gegenspieler schrieb Scherbening wenig später ironisch in sein Tagebuch, dass man dem geschickt operierenden Jacob Morenga besser das Kommando über einen Teil der Schutztruppe hätte geben sollen, doch hätte dieser sich »in Verzweiflung über unsere Schwerfälligkeit aufgehangen.« BA-MA N 134/1, S. 62f., Scherbening, Tgb. (12.5.1906); ähnlich: BA-MA N 786/8, Maercker (Windhuk) an seinen Vater vom 4.11.1905, Schreiben. Zum fehlenden Nachschub: GLA-KA Nl Dame, Dame, Tgb. (30.11.1905). Zur Frage militärischer Professionalität in DSWA vgl. Häussler, Hinterwäldler. 1241 BA-K N 1669/1, Bl. 80, Lindequist (Windhuk) an KA vom 30.11.1905, Bericht; BA-B R 1001/2137, Bl. 101, Dame (Keetmanshoop) an Generalstab vom 8.12.1905, Telegramm; vgl. Kreienbaum, Fiasko, S. 123. 1242 HZA Nl Hohenlohe-Langenburg La 142, Bü 396, Lindequist (Windhuk) an Hohenlohe-Langenburg vom 15.3.1906, Schreiben.
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Afrika hatte ihm der Inspektor der Rheinischen Mission, Johannes Spiecker, angeboten, für die überlebenden Herero »eine Art Reservat« in Form von Sammel- und Erholungsplätzen einzurichten und sie dort durch Missionare betreuen zu lassen. Lindequist hatte den Gedanken sofort aufgegriffen, so dass der Inspektor zeitweilig glaubte, der Gouverneur sei in Bezug auf die Behandlung der indigenen Bevölkerung »von den besten Absichten beseelt«.1243 Dieser Eindruck währte aber nur für kurze Zeit. Wenige Tage regelmäßiger Gespräche mit Lindequist brachten Spiecker zu der Erkenntnis, dass der Gouverneur in Wirklichkeit »keine allzu freundliche Gesinnung gegenüber den Eingeborenen« habe.1244 Vielmehr erkannte er rasch dessen wahre Absichten:1245 »Er […] sieht seine Aufgabe offenbar nur darin, den besten Weg zu finden, auf dem die Eingeborenen ruhig gehalten und zu guten Dienern der Weißen gemacht werden können.« Bezeichnenderweise hatte der Gouverneur seinerseits während der nicht immer konfliktfreien Gespräche gekontert, es sei »nicht gut, wenn sich Missionare zu viel mit Politik befassten«.1246 Während sich schon Trotha – wenn auch auf ausdrückliche Weisung der Reichsregierung – der »guten Dienste« der Rheinischen Mission bedient hatte, um zur Jahreswende 1904/05 die im Omaheke-Sandfeld verbliebenen Herero zur Aufgabe bewegen zu lassen, ging Lindequist ein Jahr später aus freien Stücken einen ähnlichen Weg.1247 Nachdem er mit Spiecker die Grundsätze vereinbart hatte, traf er sich am 30. November 1905 in Windhuk mit den Missionaren Eich und Kuhlmann, um die Einzelheiten über die »Sammlung der versprengten und verschüchterten Hereros« zu besprechen.1248 Tags darauf erließ Lindequist eine Proklamation an die Überlebenden dieser Ethnie. Darin wurden sie aufgefordert, sich zu bestimmten Sammelstellen zu begeben. Das Ziel dieser Maßnahme war offensichtlich, ging es doch vor allem darum, möglichst viele der noch außerhalb der Kontrolle der Administration im Land verstreuten Menschen zu erfassen.1249 Tatsächlich gelang es der Mission innerhalb von drei Monaten mehr als viertausend Herero dazu zu bewegen, sich an den Sammelplätzen Omburo und Otjihaenena einzufinden. Diese Zahl erhöhte sich in der Folge nochmals beträchtlich, wobei die oft seit über einem Jahr auf der Flucht befindlichen Menschen teils freiwillig, teils unter Waffenandrohung durch die
1243 Spiecker, Tgb., S. 47f. (16.10.1905); vgl. Kreienbaum, Fiasko, S. 123, der die Initiative zur Einrichtung der Sammelplätze bei Lindequist verortet. 1244 Spiecker, Tgb., S. 50f. (19.10.1905). 1245 Ebd., S. 56 (28.10.1905). 1246 Ebd., S. 57f. (29.10.1905). 1247 BA-B R 1001/2089, Bl. 48, Schlieffen an Trotha vom 8.12.1904, Telegramm; BA-K N 1783/1, Eich, Tgb. (15.12.1904, 9.1.1905); Bley, Kolonialherrschaft, S. 209; Glocke, Geschichte, S. 272f. 1248 BA-K N 1783/1, Eich, Tgb. (30.11., 11.12.1905); BA-K N 1669/1, Bl. 80, Lindequist, Erlebnisse (Zitat). 1249 Lindequist (Windhuk) vom 1.12.1905, Bekanntmachung an die Hereros, abgedruckt in: DKB 17 (1906), S. 195. Die Anregung war wiederum von der Rheinischen Mission ausgegangen: Spiecker, Tgb., S. 55f. (27.10.1906).
4. Herrschaftspraktiken
Schutztruppe den Weg dorthin fanden.1250 Darüber hinaus waren mehrere tausend Herero noch immer in den Gefangenenlagern des Militärs, so dass sich im Verlauf des Jahres 1906 die Masse der Überlebenden dieser Ethnie einem unmittelbaren Zugriff der Administration ausgesetzt sah.1251 Im Windhuker Gouvernement wähnte man sich daher in der Lage, die Lebensbedingungen weiter Teile der indigenen Bevölkerung für die Zukunft nicht nur formaljuristisch festzuschreiben, sondern auch in der Praxis regulieren zu können. Entsprechende Überlegungen waren bereits vor Lindequists Ernennung angestellt worden. Noch im Dezember 1904 hatte Reichskanzler v. Bülow verfügt, die vor Ausbruch des Krieges begonnene Einrichtung von Herero-Reservaten vorläufig auszusetzten. Bis zum Eintreffen des künftigen Zivilgouverneurs wurden stattdessen sämtliche Fragen der »einstweiligen Unterbringung und Unterhaltung der Reste des Herero-Volkes« Tecklenburg als erstem Referenten des Gouvernements übertragen. Diese Anordnung bedeutete gleichzeitig, dass die zivile Administration auch im Hinblick auf die von der Schutztruppe eingerichteten Gefangenen- oder ›Konzentrationslager‹ nicht ohne Einflussmöglichkeiten war.1252 Die Verantwortung für die dortigen, meist auf physische Erschöpfung, klimatische Einflüsse, Zwangsarbeit oder ungeeignete Ernährung zurückzuführenden, exorbitanten Todesraten teilten sich daher Militärs und Zivilverwaltung.1253 Wenngleich eine generelle Vernichtungsintention kaum nachweisbar ist, wollte Tecklenburg die »Leidenszeit« der Herero aber als Zwangsmittel verstanden wissen, um bei den Überlebenden eine endgültige »Unterordnung unter die weiße Rasse« zu erzwingen.1254 Nachdem darüber hinaus viele Kapitäne und Unterkapitäne der Herero im Kampf gefallen, hingerichtet oder nach Britisch-Bechuanaland entkommen waren, begünstigte die in der Regel willkürliche Zusammenfassung der Überlebenden in den Lagern zusätzlich eine Erosion der tribalen Strukturen. Vor diesem Hintergrund wurde ebenfalls bereits um die Jahreswende 1904/05 die Frage nach dem Verbleib des ›Stammeseigentums‹ thematisiert, wobei namentlich von
1250 DKB 17 (1906), S. 195; vgl. BA-K N 1669/1, Bl. 83, Lindequist, Erlebnisse. Später kamen weitere Sammelplätze hinzu. Insgesamt begaben sich mehr als 12.000 Herero in die Obhut der Rheinischen Mission. Kreienbaum, Fiasko, S. 123. 1251 DKB 17 (1906), S. 103. Danach befanden sich zu Anfang Februar 1906 insgesamt 10.677 Herero in Gewahrsam der Schutztruppe. 1252 BA-B R 1001/2089, Bl. 54, Bülow an Trotha vom 11.12.1904, Telegramm. Die vollständige Überführung der Lager unter zivile Aufsicht erfolgte aber erst zum 1.4.1907. BA-B R 1001/2140, Bl. 95, Dernburg an Estorff vom 18.4.1907, Telegramm. 1253 Generell zu den ›Konzentrationslagern‹: Kreienbaum, Fiasko, S. 120–145, 222–273; Hull, Destruction, S. 73–90; Erichsen, Zwangsarbeit. Ein zeitgenössischer Bericht weist zwischen Herbst 1904 und Frühjahr 1907 insgesamt 17.000 gefangene Herero und Nama aus, von denen 7.682 gestorben seien. Zitiert nach: Kreienbaum, Fiasko, S. 121. 1254 BA-B R 1001/2118, Bl. 154f., Tecklenburg (i.V., Windhuk) an KA vom 3.7.1905, Bericht; vgl. Kreienbaum, Fiasko, S. 121–144, der eine Vernichtungsabsicht für wenig wahrscheinlich hält. Vielmehr hätten »Pazifizierung« und »Erziehung zur Arbeit« die entscheidenden Intentionen von Zivilund Militäradministration dargestellt. Das bedeutet freilich nicht, dass es auf individueller Ebene nicht auch andere Ansichten gegeben hätte. Beispiel: BA-MA N 134/1, S. 129, Scherbening, Tgb. (30.10.1906).
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Grund und Boden, aber auch von den wenigen verbliebenen Großviehbeständen die Rede war. Rasch kamen die Referenten in der Kolonialabteilung zu dem Ergebnis, dass der beabsichtigten rechtsverbindlichen Vergabe des Landes an die Siedlungsinteressenten eine formelle Enteignung vorausgehen müsse.1255 Der von Trotha geduldete Hardliner Tecklenburg legte auch in dieser Hinsicht ein richtungsweisendes Konzept vor.1256 Dabei argumentierte der Regierungsrat aus seiner Sicht konsequent, verband er doch die Landenteignung mit einem Szenario über die künftig den Einheimischen zugedachte Stellung. Im Zentrum stand dabei die Forderung, die »gegenwärtige Gelegenheit, alles Eingeborenenland zu Kronland zu erklären« nicht »ungenutzt vorübergehen« zu lassen. Da nach einer Einziehung des Landes den Einheimischen kein Weideland mehr zur Verfügung stehen würde, ergab sich nach der Logik Tecklenburgs praktisch von selbst ein »grundsätzliches Verbot des Besitzes von Großvieh« für die meisten Indigenen. Da zudem »jegliche Stammesorganisation« ebenso wie die früheren Schutzverträge als erledigt anzusehen seien, sah er die Einrichtung von sogenannten »Lokationen« vor. Anstelle der vor dem Imperialkrieg projektierten Reservate, die unter weitgehender Beibehaltung der tribalen Strukturen ein Minimum an unveräußerlichem Bodeneigentum sichergestellt hätten, sollten künftig kleinräumige Ansiedlungen in unmittelbarer Nähe zu Farmen, Polizei-, Militärstationen oder Ortschaften entstehen. Die ›Eingeborenen‹ seien dort unter Aufhebung ihrer Freizügigkeit einer möglichst weitreichenden Kontrolle zu unterziehen. Das wiederum wollte Tecklenburg mit Hilfe einer lückenlosen Registrierung und einer »Passpflicht« realisieren. Zwar sahen seine Vorschläge zugleich vor, das Halten von Kleinvieh zu erlauben, doch solle das dafür notwendige Weideland nur gegen Entrichtung eines Pachtzinses genutzt werden dürfen. Nur diejenigen Einheimischen, die bei Europäern arbeiteten, seien von solchen Zahlungen auszunehmen, was wiederum als Anreiz zur Aufnahme unselbständiger Arbeit gedacht war. Die Ausführungen Tecklenburgs sind nicht zuletzt deshalb so bedeutsam, weil mit ihnen die Grundzüge des künftigen Kontroll- und Unterdrückungssystems in DeutschSüdwestafrika vorweggenommen wurden. Dabei stand augenscheinlich die Intention im Fokus, den »Widerstand für alle Zukunft zu brechen und eine Wiederholung des Aufstandes unmöglich zu machen«. Gleichzeitig war das Konzept auf den spezifischen Charakter einer postulierten Heimstatt für europäische Ansiedler zugeschnitten: »Hier in dieser Siedlungskolonie darf einen Eingeborenen nie das Bewusstsein verlassen, dass er im Lande des weißen Mannes und unter Deutschem Gesetz lebt.« Ein weiteres Moment, das die Bedeutung dieser Vorschläge unterstreicht, ergibt sich aus der Tatsache, dass Lindequist wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Gouverneur die Denkschrift Tecklenburgs vorgelegt wurde. Dabei ist wiederum bezeichnend, dass er im Hinblick auf die Landenteignung den »möglichst baldigen Erlass einer Aller-
1255 Zimmerer, Herrschaft, S. 58–62. 1256 BA-B R 1001/1220, Bl. 28–35, Tecklenburg (i.V., Windhuk) an KA vom 17.7.1905, Bericht. Hierzu auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Seitens der Forschung wurde das Papier bewertet in: Bley, Kolonialherrschaft, S. 209f.; Zimmerer, Herrschaft, S. 62–64; Kaulich, Geschichte, S. 267f.
4. Herrschaftspraktiken
höchsten Verordnung, wie hier vorgeschlagen […], für unbedingt erforderlich« hielt.1257 Nachdem er in Südwestafrika die Geschäfte übernommen hatte, verlor der Gouverneur keine Zeit, diese Gedanken in die Realität umzusetzen. Nur drei Wochen nach seiner Ankunft in der Kolonie beantragte Lindequist, die inzwischen vorbereitete Kaiserliche Verordnung über die Einziehung des »Stammesvermögens« in Kraft zu setzen, was zum 1. Februar 1906 geschah.1258 Kurz danach verkündete er die Einziehung des gesamten »Hererolandes« sowie kleinerer Landstriche von zwei im Norden des ›Schutzgebietes‹ ansässigen Nama-Gruppen.1259 Diese Maßnahme ging mit einer Anweisung an die Bezirksund Distriktämter einher, beschleunigt Besiedlungspläne für die betreffenden Ländereien zu erstellen. Dabei sollten geeignete Parzellen für künftige Farmen von jeweils fünfbis zehntausend Hektar Größe ausgewiesen werden.1260 Gleichzeitig verfolgte Lindequist sein umstrittenes Lieblingsprojekt einer Ansiedlung auch weniger bemittelter Einwanderer. Diese sogenannten Kleinsiedler sollten auf Grundstücken von wenigen Hektar Fläche überwiegend Gemüseanbau betreiben und dadurch die Lebensmittelversorgung der Siedlergesellschaft verbessern.1261 Dass für Lindequist Konfiskation und Siedlungspolitik in engem Zusammenhang standen, verrät nicht zuletzt seine Reaktion auf den Ablauf der Einspruchsfrist für die Enteignung. Nach Berlin berichtete er, dass erwartungsgemäß keine Eingaben seitens der Betroffenen erfolgt seien und daher »nun rechtlich nichts mehr im Wege« stehe, um »den zahlreichen Anträgen auf Erwerb von Farmen und Heimstätten im Hererolande zu entsprechen.«1262 Die Einziehung des landwirtschaftlich weniger attraktiven Landes der Nama im Süden der Kolonie erfolgte dagegen mit einiger Verzögerung. Dabei wartete die Kolonialverwaltung erst das Ende der Kampfhandlungen ab, ehe im März 1907 auch dort eine analoge Konfiskation zu Gunsten des Fiskus ausgesprochen wurde.1263 Lediglich die Baster von Rehoboth sowie die Nama aus Berseba verfügten fortan noch über 1257 BA-B R 1001/1220, Bl. 28, Tecklenburg (i.V., Windhuk) an KA vom 17.7.1905, Bericht (Randvermerk Lindequists vom 14.9.1905). Wenige Tage später, am 18.9., fand eine Besprechung in der Kolonialabteilung statt, an der neben dem Kolonialdirektor und dem für Südwestafrika zuständigen Referenten Golinelli, auch Lindequist sowie Vertreter der Rheinischen Mission teilnahmen. Die diskutierten Themen entsprachen den Vorschlägen Tecklenburgs. Bley, Kolonialherrschaft, S. 210; Gründer, Mission, S. 129f. 1258 BA-B R 1001/1220, Bl. 74, Lindequist (Windhuk) an KA vom 20.12.1905, Telegramm; Wilhelm II. vom 26.12.1905, Allerhöchste VO betr. Einziehung von Vermögen Eingeborener im südwestafrikanischen Schutzgebiet, abgedruckt in: DKG 9, S. 284–286. 1259 Lindequist vom 23.3.1906, Bekanntmachung betr. Einziehung des Stammesvermögens der Herero, Zwartbooi- und Toopnar-Hottentotten, abgedruckt in: DKG 10, S. 142f.; vgl. BA-K N 1669/1, Bl. 83, Lindequist, Erlebnisse; Zimmerer, Herrschaft, S. 65; Kaulich, Geschichte, S. 268. 1260 BA-K N 1037/8, Lindequist vom 28.3.1906, Runderlass; vgl. BA-K N 1669/1, Bl. 91, Lindequist, Erlebnisse. 1261 Ebd., Bl. 83–85, Lindequist, Erlebnisse; Lindequist, Dienstreise, S. 641f., ders., Versuch; vgl. BA-K N 1053/132, Bl. 96–106, Solf (München) an Schultz vom 19.4.1911, Schreiben. 1262 BA-B R 1001/1220, Bl. 147, Lindequist (Windhuk) an KA vom 8.8.1906, Bericht. 1263 Hintrager (i.V.) vom 8.5.1907, Bekanntmachung betr. Einziehung des Stammesvermögens der Witbooi- usw. Hottentotten sowie der Roten Nation, abgedruckt in: DKG 11, S. 233–235; BA-B R 1001/1220, Bl. 152, Hintrager (i.V., Windhuk) an KA vom 14.5.1907, Bericht; ebd., Bl. 156, Schuckmann (Windhuk) an RKA vom 11.9.1907, Bericht; Zimmerer, Herrschaft, S. 65f.; Kaulich, Geschichte, S. 268f.
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eigenes Land, doch war auch dieses nicht gänzlich dem Zugriff der Verwaltung entzogen. Anders als in Bezug auf die Landenteignung war sich Lindequist über die Maßnahmen zur dauerhaften Kontrolle der Einheimischen vorerst unschlüssig. Zeitweilig schwankte er zwischen den beiden Optionen, die indigene Bevölkerung entweder in ausgewiesenen Reservationen oder in kleinteiligen Lokationen anzusiedeln. Erst als im Mai 1906 eine Resolution des Reichstags erging und darin eine Gewährung angemessener Siedlungsflächen namentlich für die Herero gefordert wurde, erklärte Lindequist, dass diese nach dem Verlust ihres Viehs nicht mehr in der Lage seien, sich selbst zu versorgen, so dass Reservationen nicht mehr in Frage kämen.1264 Alternativ erwog der Gouverneur auch Deportationen großen Stils, wobei ein Teil der Nama nach dem Norden, ein Teil der Herero dagegen nach dem Süden der Kolonie verpflanzt werden sollte.1265 Da sich diese Absicht kaum realisieren ließ, entschied sich der Gouverneur am Ende dafür, Tecklenburgs Vorschläge aus dem Vorjahr aufzugreifen.1266 Nicht zuletzt die zeitweilige Unschlüssigkeit über die anzuwendenden Methoden war eine der Ursachen, weshalb es verhältnismäßig lange dauerte, bis die vielzitierte Lindequist’sche ›Eingeborenengesetzgebung‹ tatsächlich in Angriff genommen wurde. Dazu kam, dass die Inhalte der einschlägigen Gouverneursverordnungen seitens der Kolonialabteilung eingehend geprüft und auch im Gouvernementsrat zur Diskussion gestellt wurden.1267 Es handelte sich daher keineswegs um einseitig von einer gesichtslosen Bürokratie erlassene Verfügungen. Vielmehr belegen die Verhandlungsprotokolle aus Windhuk einen auffallenden Konsens zwischen Kolonialverwaltung, Ansiedlern, Kaufleuten und – mit Abstrichen – auch der Missionsgesellschaften.1268 Andererseits war aus der Sicht der Administration ohnehin keine Eile für eine endgültige Regelung geboten, da sich große Teile der Herero-Bevölkerung sowie diejenigen 1264 Die schwankende Haltung Lindequists ergibt sich aus: Spiecker, Tgb., S. 218–220, 379 (31.3., 4.10.1906); BA-B R 1001/1220, Bl. 131–134, Lindequist (Windhuk) an KA vom 25.4.1906, Bericht; BA-MA N 134/1, S. 105, Scherbening, Tgb. (4.9.1906); Lindequist vom 5.12.1906, Erklärung vor der Budgetkommission des Reichstags, abgedruckt in: DKB 18 (1907), S. 6. 1265 Auch dazu lässt sich eine zeitweilig schwankende Haltung des Gouverneurs nachweisen: BA-B R 1001/2137, Bl. 140, Lindequist (Windhuk) an KA vom 7.12.1905, Telegramm; HZA Nl Hohenlohe-Langenburg La 142, Bü 396, Lindequist (Windhuk) an Hohenlohe-Langenburg vom 15.3.1906, Schreiben; Spiecker, Tgb., S. 410f. (31.8.1906); BA-MA N 134/1, S. 105, 148f., Scherbening, Tgb. (4.9., 21.12.1906); BA-B R 1001/2174, Bl. 62f., Protokoll zur Gouvernementsratssitzung vom 17.10.1906. 1266 BA-K N 1669/1, Bl. 129, Lindequist, Konsul. Danach habe er sich zugleich von der »beispielhaft geltenden Eingeborenen-Verwaltung und -Gesetzgebung« in Rhodesien inspirieren lassen. Vgl. Spiecker, Tgb., S. 218–220 (31.3.1906); BA-K N 1030/42, Bl. 460, Franke, Tgb. (6.4.1906). Siehe auch Kapitel 4.6. 1267 Zur Einflussnahme der Berliner Zentrale auf die Inhalte: Zimmerer, Herrschaft, S. 76. Dessen Behauptung, die Verordnungen seien bereits im November 1905 entstanden, bleibt jedoch unbelegt. Auch ist dieser frühe Zeitpunkt wenig plausibel, da Lindequist erst am 27.11.1905 die Geschäfte in Windhuk übernahm. Wahrscheinlicher ist die Ausarbeitung der Verordnungen während des Sommers 1906, so dass die Entwürfe dann im Oktober 1906 den Gouvernementsrat durchlaufen konnten und letztlich am 8.1.1907, als sich Lindequist urlaubshalber in Berlin befand, von Dernburg abgesegnet wurden. 1268 Vgl. Arendt, Elemente, S. 307f. Die Protokolle des Gouvernementsrats finden sich in: BA-B 1001/2174, Bl. 51–61, 6. Sitzungstag am 16.10.1906; ebd., Bl. 62f., 7. Sitzungstag am 17.10.1906.
4. Herrschaftspraktiken
Nama-Gruppen, die sich der Schutztruppe ergeben hatten, nach wie vor in Gefangenenlagern oder an anderen Plätzen unter Aufsicht der Verwaltung befanden. Die Aufhebung der kollektiven Kriegsgefangenschaft der Herero wurde vielmehr erst im Frühjahr 1908 verkündet.1269 Die auf den 18. August 1907 datierenden Verordnungen zur Kontrolle der Indigenen waren daher vorläufig kaum von praktischer Bedeutung.1270 Erst nachdem die Lager sukzessive aufgelöst und die überlebenden Herero und Nama in eine trügerische Freiheit gesetzt wurden, sollte sich das ändern. Tatsächlich stellen die Maßregeln Lindequists den Versuch dar, die bis dahin in den Lagern gewährleistete Überwachung auf die künftigen Lebensverhältnisse zu transferieren. Nachdem kurz zuvor das »Führen von Feuerwaffen« für Einheimische generell untersagt worden war, wurde ihnen fortan auch jeglicher Besitz von Grund und Boden sowie Großvieh offiziell verboten.1271 Selbst das Zusammenleben in größeren Personenverbänden war untersagt. Die stattdessen erlaubten Kleinsiedlungen standen dagegen unter direkter Aufsicht des jeweiligen Distriktchefs oder Bezirksamtmanns. Auf Privatfarmen durften höchstens zehn Familien wohnen, die dann vom jeweiligen europäischen Grundstückseigentümer zu überwachen waren. Auch Kapitäne oder chiefs wurden nicht geduldet, vielmehr sollten Vormänner oder Älteste als Mittler fungieren, ohne aber über nennenswerte Befugnisse zu verfügen. Die zugleich für jeden Verwaltungsbezirk angeordneten »Eingeborenenregister« bildeten wiederum die Voraussetzung für die ebenfalls eingeführte Passpflicht, die fortan für sämtliche Einheimischen im Alter von mehr als sieben Jahren gelten sollte. Als ›Pass‹ fungierte dabei eine Blechmarke mit eingestanzter Nummer, die mit den Eintragungen des jeweiligen Distriktsregisters korrespondierte. Gleichzeitig wurde die Freizügigkeit des Einzelnen eingeschränkt, indem jedes Verlassen des Wohndistrikts genehmigungspflichtig war. Die dritte Verordnung sollte dagegen die Heranziehung möglichst weiter Teile der Indigenen zur Aufnahme unselbständiger Arbeit fördern. Danach erhielt jeder Arbeiter ein Dienstbuch mit Eintragungen zu bisherigen und laufenden Arbeitsverhältnissen. Wer weder ein Beschäftigungsverhältnis noch einen anderen – nach europäischen Begriffen – geregelten Lebensunterhalt vorweisen konnte und im Land umherzog, konnte
1269 Schuckmann vom 18.1./26.3.1908, Verfügung betr. Aufhebung der Kriegsgefangenschaft der Hereros, abgedruckt in: DKG 12, S. 38. Zur schleppenden Umsetzung dieser für den 27.1.1908 vorgesehenen Maßnahme: BA-B N 2272/5, Bezirksamt Swakopmund vom 1.4.1908, Bekanntmacht betr. Aufhebung der Kriegsgefangenschaft der Hereros. 1270 Der Zeitpunkt des Inkrafttretens war auf den 1.10.1907 festgelegt. Anders: Zimmerer, Herrschaft, S. 76, der irrtümlich vom 18.8.1907 ausgeht. 1271 Hintrager (i.V.) vom 3.7.1907, Runderlass betr. Verbot des Führens von Feuerwaffen durch Eingeborene, abgedruckt in: DKG 11, S. 277; Lindequist vom 18.8.1907, VO betr. Maßregeln zur Kontrolle der Eingeborenen, abgedruckt in: ebd., S. 345–347; Lindequist vom 18.8.1907, VO betr. Passpflicht der Eingeborenen, abgedruckt in: ebd., S. 347–350; Lindequist vom 18.8.1907, VO betr. Dienst- und Arbeitsverträge mit Eingeborenen, abgedruckt in: ebd., S. 350–352. Durchführungsbestimmungen: Lindequist vom 18.8.1907, Runderlass zu den VO betr. Kontrolle und Passpflicht der Eingeborenen sowie Dienst- und Arbeitsverträge, abgedruckt in: ebd., S. 352–357. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Die wesentlichen Inhalte der Verordnungen sind ebenfalls wiedergegeben in: Zimmerer, Herrschaft, S. 77–82; Kaulich, Geschichte, S. 269–272.
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als »Landstreicher« festgenommen und bestraft werden. Zur Überprüfung von Personalpapieren waren bezeichnenderweise nicht nur die Behörden, sondern grundsätzlich jeder Europäer befugt. Insgesamt vermögen diese Bestimmungen durchaus den Eindruck ›totaler‹ Zugriffsmöglichkeiten auf die indigene Bevölkerung seitens der Kolonialadministration zu erwecken. Selbst Dernburg sprach im Reichstag von »Diktaturverordnungen«.1272 Entsprechend fielen auch die Einschätzungen seitens der Forschung aus. Während Helmut Bley frühzeitig von »totalitären Aspekten der Menschenbehandlung« sprach, glaubte Ludwig Helbig in Deutsch-Südwestafrika seit Lindequist einen »kolonialen Frühfaschismus« erkennen zu können. Auch Henning Melber sah Anzeichen einer »totalen Herrschaft«, während Jürgen Zimmerer zumindest für Teile der Kolonie eine »ins Totalitäre gehende Überwachung« konstatierte.1273 Tatsächlich ist diesen Einschätzungen in Bezug auf die normativen Inhalte dieser »Eingeborenengesetzgebung« im Wesentlichen beizupflichten. Offensichtlich verfolgte das Gouvernement in Windhuk mit seinen Maßregeln das Ziel einer möglichst lückenlosen Erfassung und Reglementierung fast aller die Interessen der Europäer tangierenden Lebensbereiche der Einheimischen.1274 Weitgehend ausgenommen blieben lediglich die Ovambo im äußersten Norden, die Bewohner des sogenannten Caprivi-Zipfels im Nordosten der Kolonie sowie die ohnehin kaum zu kontrollierenden San, die sich meist in den unwirtlichen, schwer zugänglichen Landstrichen aufhielten.1275 Die Verwaltung konzentrierte ihre Kontrollabsichten daher auf eine sogenannte ›Polizeizone‹, die die Kernbezirke der Kolonie umfasste und deren Einrichtung ebenfalls mit der formalen Beendigung des Kriegszustandes zusammenfiel.1276 Keineswegs zufällig erfolgte zur selben Zeit ein erheblicher Ausbau der ›Landespolizei‹, die als Exekutivorgan der Distrikt- und Bezirksämter die praktische Umsetzung der meisten Kontrollvorgaben übernehmen sollte.1277 Die Verordnungen vom 18. August 1907 stellten nicht zuletzt die Generierung von Herrschaftswissen auf eine neue Grundlage. Vorbereitend hatte das Gouvernement die Lokalbehörden angewiesen, auf der Basis der künftigen »Register- und Passpflicht« regelmäßig Daten zur Bevölkerungsentwicklung zu erstellen.1278 Diese Anordnung wurde in den Durchführungsbestimmungen zu den Verordnungen weiter präzisiert.1279 Da1272 Dernburg vom 20.3.1908, Ansprache im Reichstag, zitiert nach: Kaulich, Geschichte, S. 279. 1273 Bley, Kolonialherrschaft, S. 260–262; Helbig, Frühfaschismus; Melber, Kontinuitäten; Zimmerer, Herrschaft, S. 130; ähnlich: Gründer, Geschichte, S. 137. 1274 Die Durchführungsbestimmungen sahen lediglich vor, sich jeder »Einmischung in rein interne Angelegenheiten und Streitigkeiten der Eingeborenen, in ihre häuslichen Familien- und Privatrechtsverhältnisse« zu enthalten. Lindequist vom 18.8.1907, Runderlass zu den VO betr. Kontrolle und Passpflicht der Eingeborenen sowie Dienst- und Arbeitsverträge, abgedruckt in: DKG 11, S. 352–357. 1275 Lindequist vom 18.8.1907, Runderlass zu den VO betr. Kontrolle und Passpflicht der Eingeborenen sowie Dienst- und Arbeitsverträge, abgedruckt in: ebd., S. 352–357. 1276 BA-B R 1001/4732, KA vom 15.3.1907, Erlass betr. Abgrenzung des unter dem polizeilichen Schutz der Regierung zu stellenden Gebiets in DSWA (erwähnt); Zollmann, Herrschaft, S. 45f. 1277 Zimmerer, Herrschaft, S. 116f.; Zollmann, Herrschaft, S. 42–48. 1278 BA-B R 1002/2591, Bl. 5, Gouvernement von DSWA vom 2.7.1907, Runderlass. 1279 Lindequist vom 18.8.1907, Runderlass zu den VO betr. Kontrolle und Passpflicht der Eingeborenen sowie Dienst- und Arbeitsverträge, abgedruckt in: DKG 11, S. 352–357. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben.
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nach sollten die Distriktämter vierteljährlich ihren übergeordneten Bezirksämtern sowohl die Anzahl der im jeweiligen Zuständigkeitsbereich lebenden Einheimischen, getrennt nach Geschlechtern und Altersgruppen, »Nationen und Stämmen« sowie deren Zu- oder Abnahme berichten. Dazu kamen Angaben über »Stimmung und politische Haltung«, aber auch über die allgemeinen Gesundheitsverhältnisse. Eingefordert wurden zudem Einschätzungen darüber, »für welche Beschäftigungen die verschiedenen Nationen die meiste Neigung und Befähigung zeigen, wie es mit ihrer Arbeitslust und körperlichen Leistungsfähigkeit bestellt ist«. Die Bezirksämter wiederum sollten diese Daten bündeln und alle sechs Monate in Form eines »ausführlichen Berichts« dem Gouvernement zuleiten. Auch eine Beurteilung über das »Funktionieren der drei Verordnungen« dürfe dabei nicht fehlen. Anhand der in den folgenden Jahren für Südwestafrika erstmals verfügbaren Zensusdaten lassen sich die Fortschritte der quantitativen Erfassung der indigenen Ethnien ablesen. War es für den Gouverneur bis dahin lediglich möglich gewesen, die Anzahl der überlebenden Herero im ›Schutzgebiet‹ auf »ein Drittel der ursprünglichen Zahl« grob zu schätzen, lagen seit der Einführung der Registrierung Daten zur Verfügung, deren Zuverlässigkeit anfangs zwar noch begrenzt war, die aber nach und nach ein halbwegs belastbares Bild über die innerhalb der ›Polizeizone‹ lebenden Afrikaner lieferten.1280 Ein Vergleich der jährlichen Zahlen belegt namentlich für die drei größten Ethnien – Herero, Nama, Bergdamara – den zunehmenden Grad ihrer Erfassung durch die Administration.
Tabelle 12: Zensusdaten für die indigenen Ethnien in DSWA1281 Ethnie
1908
1909
1910
Herero Nama Bergdamara
16.363
18.387
19.962
13.114
14.359
13.858
16.471
15.837
18.613
18.487
Baster
3.539
4.284
5.190
4.222
5.191
5.049
San
6.910
7.516
4.858
8.444
9.782
8.098
Andere Insgesamt
1911
1912
1913
19.423
19.721
21.699
14.236
14.320
14.591
19.581
20.870
2.816
2.734
6.442
16.973
16.526
12.899
59.213
63.117
68.923
81.785
85.121
83.206
1280 Lindequist vom 5.12.1906, Erklärung vor der Budgetkommission des Reichstags, abgedruckt in: DKB 18 (1907), S. 5–16. 1281 BA-K N 1037/9, Gouvernement in Windhuk, o.D. [1913], Statistik über die gesamte farbige Bevölkerung des Schutzgebiets; BA-B R 1001/5423, Bl. 171–178, Streitwolf, o.D. [1911], Bericht über Eingeborenenstatistik. Interessant sind die dortigen Bemerkungen über die Zuverlässigkeit der Daten. Danach spiegeln die Ergebnisse für die Herero, Bergdamara, Nama und Baster, die sich zum Großteil tatsächlich im Einflussbereich der Verwaltung befunden hätten, ein einigermaßen zutreffendes Bild wider. In der Zahl für die Baster sind auch die ›Mischlinge‹ enthalten.
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Besonders bei den Herero lässt sich anhand dieser Zahlen das Ausmaß ihrer Verluste durch den Imperialkrieg erahnen, wenngleich sich mangels zuverlässiger Vergleichswerte für die Zeit vor 1904 die Opfer nicht exakt beziffern lassen.1282 Das scheinbare Bevölkerungswachstum nach 1908 ist allerdings keineswegs biologischer Natur. Neben den Fortschritten bei der Registrierung wuchs die Zahl der Herero vor allem durch zurückkehrende Geflüchtete aus dem äußersten Norden- und Nordosten der Kolonie sowie aus Britisch-Bechuanaland.1283 Die Daten für die San liefern dagegen ein Beispiel für das Grundproblem solcher Statistiken. Die starken Schwankungen in beide Richtungen belegen die bei dieser Ethnie besonders hohe Mobilität und den daraus resultierenden begrenzten Zugriff der Verwaltung. Bei der Gruppe ›Andere‹ handelt es sich dagegen meist um Wanderarbeiter, entweder Ovambo, Watjimba oder Arbeitsmigranten aus Südafrika. Bereits die Einschränkungen im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der Zensusdaten verweisen auf die Frage, inwiefern die Umsetzung der drei Verordnungen aus dem August 1907 erfolgreich war. Zweifellos brachte Lindequists Reglement ein nicht zu unterschätzendes Maß an potentieller Kontrolle über die indigene Bevölkerung mit sich. Von deren lückenloser oder gar flächendeckender Realisierung kann dennoch keine Rede sein. Das scheiterte allein an der enormen Ausdehnung des Landes – schon die ›Polizeizone‹ umfasste ungefähr eine halbe Million Quadratkilometer –, aber auch am Mangel an Verwaltungspersonal.1284 Die Schwierigkeiten begannen bereits mit der bloßen Bekanntmachung der Bestimmungen. Wie kleinteilig und langwierig sich dieser Vorgang in der Praxis gestaltete, verrät beispielsweise ein Eintrag im Tagebuch des Bezirksamtmanns von Lüderitzbucht, Rudolf Böhmer. Dieser bereiste im Herbst 1907 die Farmen seines Bezirks. Dort wurden dann die jeweiligen indigenen Arbeiter zusammengerufen, »um registriert und über die Passpflicht belehrt zu werden«. Anschließend habe Böhmers Wachtmeister die Inhalte der »neuen Verordnungen zur Kontrolle der Eingeborenen« verlesen.1285 Selbst unter Vernachlässigung der Frage nach dem Vermittlungserfolg angesichts der zum Teil recht komplexen Maßregeln setzte ein solches Vorgehen zumindest die Kooperation der Farmer voraus. Nicht alle scheinen sich dazu bereitgefunden zu haben, brachten doch Lindequists Verordnungen für diese in erster Linie einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand mit sich.1286 Nicht von ungefähr waren im ostafrikanischen Plantagenbezirk Wilhelmstal sogenannte Arbeiterkarten zwar ebenfalls einge-
1282 Vgl. die erstmals von Horst Drechsler genannte und von der Forschung allgemein akzeptierte Anzahl der überlebenden Herero von 15.130 Personen. Drechsler, Südwestafrika, S. 244, 252, 364, Anm. 329; Bley, Kolonialherrschaft, S. 191; Gründer, Geschichte, S. 131. Berechtigte Zweifel an der Belastbarkeit dieser Vermutung äußerten u.a. Lau, Certainities, S. 4; Spraul, Herero, S. 725. Da die Anzahl der Herero bei Kriegsbeginn zwischen 40.000 und mehr als 100.000 geschätzt wird, sind Angaben über die Zahl der Kriegsopfer zwangsläufig spekulativer Natur. 1283 Zur möglichen Anzahl der nach Bechuanaland geflüchteten Herero: Pennington/Harpending, Structure, S. 231f., 237. 1284 Zimmerer, Herrschaft, S. 126. 1285 BA-K N 1816/4, Böhmer, Tgb. (21./22.10.1907). 1286 Gründer, Geschichte, S. 137; Kaulich, Geschichte, S. 275f.; vgl. Zollmann, Herrschaft, S. 274–276.
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führt worden, eine Ausdehnung auf andere Bezirke aber dort wegen des damit verbundenen »Wusts von Verwaltungsarbeit« abgelehnt worden.1287 Auch die Betroffenen selbst waren alles andere als eine passive Verfügungsmasse der Administration. Zwar müssen die jeweiligen lokalen Verhältnisse berücksichtigt werden, so dass in der Nähe größerer Europäersiedlungen für die Indigenen zweifellos ein »Gefühl totaler Überwachung« aufkommen konnte.1288 Andererseits verfügten diese aber namentlich in den abseits gelegenen Landstrichen über vielerlei Möglichkeiten, sich den Zwängen des kolonialen Staats zu entziehen. Dabei handelte es sich in der Regel um defensive Strategien, unter denen ein temporäres oder dauerhaftes Abwandern am wirkungsvollsten war.1289 Immer wieder gab es daher Berichte über Grenzübertritte nach englischem Gebiet, vor allem aber registrierte die Verwaltung ein »häufiges Entlaufen der Eingeborenen in das Feld«.1290 Derartiges ließ sich kaum verhindern. Tatsächlich hatte gerade der Verlust von Land und Vieh die ohnehin vergleichsweise hohe Mobilität der Einheimischen noch zusätzlich gesteigert. Entsprechend hilflos wirken manche Versuche der Administration, die Menschen »an den Ort, in [sic!] dem sie arbeiten zu fesseln«. Lindequist glaubte das beispielsweise durch die Vergabe von Kleinvieh – »2 Mutterziegen auf die aus durchschnittlich 5 Seelen bestehende Familie« – erreichen zu können. Wo das nicht half, sollte das Problem durch »scharfes unausgesetztes Abpatrouillieren« seitens Polizei- und Schutztruppe gelöst werden. Auch das versprach kaum die gewünschte Wirkung, da ein solches Vorgehen stets räumlich wie temporär begrenzt war.1291 Selbst die Auflösung der Stammesverbände war keineswegs immer und überall von Dauer. Vor allem in den größeren Werften retablierten sich zumindest Teile traditioneller Strukturen auf mehr oder minder informeller Ebene. Dazu bildeten sich abseits der deutschen Ortschaften und Farmen ständig neue Kleinsiedlungen von Einheimischen, die zumindest zeitweise außerhalb jeder Kontrolle existierten.1292 Die Kolonialadministration musste daher über kurz oder lang erkennen, dass für eine umfassende Realisierung von Lindequists Vorstellungen wesentliche Voraussetzungen fehlten.1293 Der Initiator des ›totalitären‹ Experiments registrierte die Folgen seiner Maßnahmen ohnehin nur noch aus der Entfernung. Zum Zeitpunkt der Herausgabe seiner Verordnungen war Lindequist schon nicht mehr regulärer, sondern nur noch geschäftsführender Gouverneur. Mit der Aufwertung der Berliner Kolonialabteilung zum ministeri-
1287 BA-B R 1001/118, Bl. 165–173, Haber (Wilhelmstal) an Gouvernement in Daressalam vom 4.1.1905, Bericht; vgl. Tetzlaff, Entwicklung, S. 234f. 1288 Zimmerer, Herrschaft, S. 129f. 1289 Hierzu allgemein: Spittler, Verwaltung, S. 19f.; Trotha, Herrschaft, S. 413f.; Eckert, Herrschen, S. 10. 1290 BA-B R 1001/5423, Bl. 171–178, Streitwolf, o.D. [1911], Bericht über Eingeborenenstatistik (Zitat); BA-MA N 134/1, S. 139–142, Scherbening, Tgb. (29.11.1906). 1291 BA-B R 1001/2140, Bl. 122, Lindequist (Windhuk) an RKA vom 25.8.1907, Bericht; vgl. die Ausführungen der Ansiedlerin Ada Cramer, abgedruckt in: Gründer, Deutschland, S. 144–147. Danach hätten Einheimische häufig ihre Namen geändert oder ihre Passmarken weggeworfen. 1292 BA-B R 1001/1229, Bl. 8–14, Streitwolf (Gobabis) an Gouvernement in Windhuk vom 2.12.1907, Bericht. 1293 Gründer, Geschichte, S. 137f.; Kaulich, Geschichte, S. 275f.; Zimmerer, Herrschaft, S. 127–148; Zollmann, Herrschaft, S. 97–106.
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umsgleichen Reichskolonialamt war ihm der neugeschaffene Posten des Unterstaatssekretärs angeboten worden. Lindequist akzeptierte, brachte zugleich aber den ihm in vielen Punkten gleichgesinnten Schuckmann als Nachfolger für Windhuk ins Spiel. Diesem oblag in den darauffolgenden zweieinhalb Jahren die Umsetzung der Lindequist’schen Dekrete. Am Beispiel der Arbeiterpolitik werden im nächsten Abschnitt die einschlägigen Maßnahmen Schuckmanns in den Blick zu nehmen sein. Auf diese Weise werden sich auch weitere Aussagen im Hinblick auf die konkreten Auswirkungen der ›Eingeborenen-Verordnungen‹ treffen lassen. Angesichts des kurz zuvor von der Berliner Zentrale verkündeten neuen Kurses in der Kolonialpolitik erscheint es darüber hinaus zielführend, die Arbeitskräftepolitik in Kamerun und Ostafrika vergleichend in diese Betrachtungen mit einzubeziehen. Auch dort hatte sich der Mangel an indigenen Arbeitern inzwischen »zu einem wichtigen Problem« für die koloniale Verwaltung entwickelt.1294
4.5.3 Die ›Dernburg-Gouverneure‹ – Neue Wege zur Ausbeutung indigener Arbeitskraft? Die Ernennung Bernhard Dernburgs zum Leiter der Kolonialabteilung im Herbst 1906 stellte mehr als eine beliebige Personalie dar. Mit dem ehemaligen Bankdirektor verband sich stattdessen die Erwartung umfangreicher Veränderungen im Hinblick auf die Zielsetzungen und Praktiken deutscher Kolonialpolitik. Zugleich war die Neubesetzung dieser Spitzenposition ein Ausdruck der keineswegs überwundenen Krise des kolonialen Projekts des Kaiserreichs. Zwar ebbten die kriegerischen Auseinandersetzungen in Ost- und Südwestafrika zu diesem Zeitpunkt bereits ab. Trotzdem beunruhigte nach wie vor eine Reihe von Missständen in den Kolonien sowie in der heimischen Kolonialverwaltung die interessierte Öffentlichkeit.1295 Besonders in Presse und Reichstag war eine Diskussion in Gang gekommen, in deren Verlauf selbst die Frage nach einer generellen Existenzberechtigung der Kolonialbesitzungen kein Tabu mehr darstellte. Die erheblichen Kosten der militärischen Intervention in Südwestafrika, aber auch die nach dem Ende der kolonialen Eroberungsphase offenkundige Notwendigkeit kostspieliger Infrastrukturmaßnahmen in den ›Schutzgebieten‹ hatten Zweifel an deren Nutzen laut werden lassen.1296 Selbst unter Kolonialbeamten und Schutztruppenoffizieren hatte sich inzwischen die Ansicht durchgesetzt, dass zumindest der administrative Apparat reformbedürftig sei.1297 Angesichts dieser Situation dürfte es kaum überraschen, dass erste personelle Konsequenzen an der Spitze der Kolonialverwaltung schon ein knappes Jahr vor der Ernennung Dernburgs gezogen wurden. Zunächst war im November 1905 auf persönliche Intervention des Kaisers der Erbprinz Ernst zu Hohenlohe-Langenburg zum Kolonialdirektor ernannt worden. Dieser hatte den Posten allerdings nur kommissarisch und unter 1294 1295 1296 1297
JB 1906/07, S. 3645. Allgemein hierzu: Bösch, Geheimnisse, S. 225–327. Zusammenfassend: Schiefel, Dernburg, S. 30–37. Beispiele: BA-K N 1053/26, Bl. 152f., Solf (Berlin) an Seegner vom 29.11.1905, Schreiben; BA-K N 1053/132, Bl. 38–42, Solf (Berlin) an Schultz vom 20.2.1906, Schreiben; BA-B N 2345/15, Bl. 106f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 7.9.1906, Schreiben; BA-MA N 134/1, S. 106f., Scherbening, Tgb. (12.9.1906).
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der Bedingung angenommen, mit der zu erwartenden Aufwertung der Abteilung zum Kolonialamt gleichzeitig zum Staatssekretär aufzurücken.1298 Als sich jedoch abzeichnete, dass im Reichstag vorläufig keine Mehrheit dafür zu erlangen war, verlor der Erbprinz rasch das Interesse.1299 Gleichzeitig waren einige Referenten der Zentralbehörde unter Druck geraten, so dass die Befürchtung des dortigen Personalchefs, das Bekanntwerden verschiedener Missstände könne auch ihm »den Hals brechen«, bald zur Realität wurde.1300 Tatsächlich wurden in der ersten Jahreshälfte 1906 die Leiter mehrerer Schlüsselreferate, die angesichts ihrer ebenso langjährigen wie dominierenden Stellung intern als die »alten ergrauten Priester« galten, von ihren Amtsgeschäften entbunden.1301 Wegen gesundheitlicher Defizite gelang das ohne Aufsehen bei dem früheren Wißmann-Vertrauten Hellwig, während Schmidt-Dargitz geräuschlos in die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes abgeschoben wurde. König und Rose wurden dagegen vorläufig vom Dienst suspendiert und später in den Ruhestand versetzt.1302 Auch die Neubesetzung der freigewordenen Stellen ist aufschlussreich, kamen doch mit Schnee und Ebermaier lediglich zwei langjährige Kolonialbeamte zum Zuge. Frischen Wind sollten stattdessen der neue stellvertretende Direktor Peter Conze sowie die beiden zu Vortragenden Räten ernannten Karl von der Groeben und Hans v. Jacobs in die Kolonialzentrale bringen. Bezeichnenderweise kamen diese drei aus anderen Zweigen der Verwaltung.1303 Solf, der zu dieser Zeit nach Berlin beurlaubt war, bemerkte skeptisch, dass Groeben ein »absoluter Outsider« sei, während Conze zwar eine »Kapazität für Etatsbearbeitung« darstelle, angesichts der Besonderheiten der Schutzgebietshaushalte aber vorläufig auf den Hohenlohe-Vertrauten Seitz nicht verzichten könne. Trotz der personellen Veränderungen sprach Solf der Kolonialabteilung den Status einer »or-
1298 HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142, Bü 393, Wilhelm II. an Bülow vom 16.11.1905, Ordre. 1299 Ebd., Hohenlohe-Langenburg an Bülow vom 5.3.1906, Bericht (geheim). Darin eröffnete er, dass er nicht als kommissarischer Direktor im Amt bleiben wolle, wenn der Reichstag die Einrichtung eines Reichskolonialamts ablehne. Tatsächlich verweigerte das Parlament im Frühjahr 1906 die Mittel für eine solche Zentralbehörde. Mit Wirkung vom 6.9.1906 unterzeichnete der Kaiser die Entlassungs-Ordre. HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142, Bü 399, AA an Hohenlohe-Langenburg vom 9.9.1906, Erlass; vgl. Schiefel, Dernburg, S. 35f. 1300 BA-B N 2146/6, König, Tgb. (23.3.1905); vgl. Kapitel 4.5.1. 1301 GStA PK Nl Schnee/52, Schultz (Apia) an Schnee vom 19.11.1905, Schreiben (Zitat). 1302 BA-K N 1067/21, Exzerpt Personalakte Hellwig; vgl. BA-K N 1053/132, Bl. 31f., Solf (Berlin) an Schultz vom 22.12.1905, Schreiben. Hellwigs Verabschiedung erfolgte zum 22.3.1906, die Versetzung von Schmidt-Dargitz zum 5.6.1906, während König und Rose im Sommer 1906 beurlaubt wurden. Vgl. HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142, Bü 393, Seitz (Berlin) an Hohenlohe-Langenburg vom 27.9.1906, Schreiben; BA-K N 1053/132, Bl. 79–84, Solf (Berlin) an Schultz vom 22.10.1906, Schreiben; BA-K N 1053/127, Bl. 70–79, Rose an Solf vom 13.12.1906, Schreiben; BA-K N 1130/11, S. 10, Dernburg, Erinnerungen; Schnee, Gouverneur, S. 79f. 1303 Conze kam aus dem preußischen Finanzministerium, während Groeben zuvor in der preußischen Innenverwaltung beschäftigt war. Jacobs war dagegen Konsul in Kiew gewesen. Die Angabe bei Schiefel, Dernburg, S. 40, es habe sich bei den Neubesetzungen um im »auswärtigen Kolonialdienst erfahrene Beamte« gehandelt, trifft demnach nur für Schnee und Ebermaier zu.
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dentlichen Verwaltungsbehörde« ab. Er bezeichnete sie stattdessen als »Wurschtfabrik«, die keinen Staatssekretär, »sondern einen Konkursmassenverwalter« benötige.1304 Die Einschätzung des Gouverneurs von Samoa entsprach durchaus derjenigen der Reichsregierung. Kanzler v. Bülow ging daher bei der Neubesetzung des Spitzenpostens einen unkonventionellen Weg und entschied sich für den bisherigen Bankdirektor Dernburg.1305 Anders als mitunter postuliert, bestand das Novum dieser Auswahl aber keineswegs darin, dass damit einer Abfolge von Angehörigen der preußischen ›Junkerkaste‹ an der Spitze der Kolonialzentrale ein Ende bereitet worden sei. In Wirklichkeit lassen sich weder Kayser oder Buchka noch Stuebel oder Hohenlohe-Langenburg dieser Kategorie zuordnen. Die einzige Ausnahme stellt bestenfalls der kurzzeitig amtierende Freiherr v. Richthofen dar.1306 Gegenüber seinen Vorgängern zeichnete sich Dernburg vielmehr dadurch aus, dass er weder Jurist war noch eine Verwendung im Staatsdienst vorweisen konnte.1307 Der Neue vertrat vielmehr einen dezidiert wirtschaftsliberalen Standpunkt, hatte er doch zuvor an der Spitze der Darmstädter Bank gestanden und zugleich etlichen Aufsichtsräten angehört. Darüber hinaus besaß er langjährige Erfahrungen im internationalen Finanzwesen, nicht zuletzt aber auch in der Sanierung maroder Wirtschaftsunternehmen.1308 Unter Einbeziehung der vorausgehenden Umbesetzungen in der Kolonialabteilung lassen sich die Absichten der Reichsregierung unschwer erkennen: Einerseits sollte durch eine teilweise Erneuerung der leitenden Beamtenschaft die koloniale Zentrale insgesamt verjüngt, andererseits aber das Vorgehen in den ›Schutzgebieten‹ stärker nach ökonomischen Gesichtspunkten ausgerichtet werden. Dass die Ernennung Dernburgs von vielen Zeitgenossen als Traditionsbruch wahrgenommen wurde, lässt sich an deren Reaktionen ablesen. Nachdem in Südwestafrika die Nachricht von der Neubesetzung »wie eine Bombe [ge]platzt« war, empfand es der Stabschef der dortigen Schutztruppe als »eigenes Gefühl als Vorgesetzten Herrn Bankdirektor a.D. Dernburg zu haben«.1309 Der Chef des Oberkommandos der Schutztruppe in Berlin erklärte spontan, er wolle sich dem »neuen Direktor als Vorgesetzten nicht unterstellen«, machte seine Drohung am Ende aber doch nicht wahr.1310 Bezeichnend für Dernburgs Ablehnung gerade unter den Offizieren war zugleich, dass er bei seinem
1304 BA-K N 1053/132, Bl. 70–78, Solf (Berlin) an Schultz vom 18.8.1906, Schreiben. 1305 Schiefel, Dernburg, S. 37f. 1306 So aber: Pesek, Praxis, S. 200. Paul Kayser war getaufter Jude und niemals Träger eines Adelsprädikats. Gerhard Buchka war erst 1891 im Alter von vierzig Jahren der Adelstitel verliehen worden. Oscar Stuebel war der Sohn eines bürgerlichen Rechtsanwalts aus Dresden. Der Erbprinz Ernst zu Hohenlohe-Langenburg stammte aus einem süddeutschen Adelsgeschlecht. Keiner der Genannten erfüllt somit auch nur im Entferntesten die Kriterien eines ›Junkers‹. Vgl. Hiery, Kolonialverwaltung, S. 183f. 1307 Kayser, Richthofen, Buchka und Stuebel waren Volljuristen. Auch der Erbprinz hatte ein Studium der Jurisprudenz absolviert und lediglich auf das Referendariat verzichtet. 1308 Schiefel, Dernburg, S. 17–29; Laak, Infrastruktur, S. 134. 1309 BA-MA N 134/1, S. 106f., Scherbening, Tgb. (12.9.1906). 1310 BA-B N 2345/15, Bl. 108, Schlobach an Danckelman vom 10.9.1906, Schreiben.
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Antrittsbesuch im Oberkommando »für einen gewöhnlichen Zivilisten« gehalten wurde und deshalb »eine Viertelstunde auf dem dunklen Korridor« warten musste.1311 Irritiert zeigte sich auch mancher Zivilbeamte. Beispielsweise schrieb der erkrankte Referent Danckelman, er sei »fast aus dem Bett gefallen«, als ihn die Nachricht der Ernennung erreichte. Dabei war er überzeugt, dass unter Dernburg innerhalb der Kolonialverwaltung nur die »Konfusion noch größer werden« könne.1312 Auch äußerlich habe sich seiner Ansicht nach der neue Direktor »unter den Geh[eimen] Räten und Offizieren ausgenommen wie ein Kuckuck im Spatzennest«.1313 Zu despektierlichen Äußerungen sollte es nicht zuletzt auch wegen der jüdischen Herkunft des neuen Direktors kommen.1314 Auch mit seiner Amtsführung löste der Neue Befremden aus. Er selbst hatte von Anfang an den Eindruck einer »deroutierten Verwaltung« gewonnen, wobei besonders die Disziplin der Beamten »stark gelockert« gewesen sei.1315 Diesem Missstand suchte Dernburg zuallererst entgegenzutreten. Danckelman registrierte verblüfft, dass der neue Leiter bereits um 8.45 Uhr im Büro erscheine und mit den Referenten nicht mehr nur auf schriftlichem Wege verkehre, sondern sich regelrechte Vorträge halten lasse. Darüber hinaus plante er »auch für die Oberbeamten feste Bureaustunden von 9–6 [Uhr] mit Mittagspause« einzuführen.1316 Die Neuerungen wirkten auf die Beteiligten offenbar so einschneidend, dass ein langgedienter Beamter nach dem Ende der neuen ›Ära‹ erleichtert aufatmete: »Mir geht es wieder gut, seit Dernburg fort ist, sind normale Arbeitsverhältnisse ins Amt eingezogen.«1317 Während ein in traditionellen Kategorien denkender Beamter, wie Seitz den neuen Direktor als einen Mann mit »Haifischaugen« bezeichnete, dessen Programmreden nach »englischem Muster« lediglich für den augenblicklichen Effekt konzipiert gewesen seien, behauptete Schnee nachträglich, er habe sich angesichts des Einflusses seiner eigenen, aus dem angelsächsischen Raum stammenden Ehefrau, rasch in diese, eine »moderne Welt« widerspiegelnden Verhältnisse einfinden können.1318 Auch Solf lobte zu Beginn das neue Regiment, regiere Dernburg doch »mit eiserner Faust und zwar ohne Glacehandschuhe drüber«.1319 Später registrierte er dessen demonstrative Tatkraft jedoch nicht ohne »Missbehagen«. Als Dernburg bei einer Referentenbesprechung eine Reihe wichtiger Sachfragen mit »Automobilgeschwindigkeit« entschieden hatte, hegte der Gouverneur von Samoa Zweifel, ob ein derart übereiltes Vorgehen »immer von Erfolg begleitet sein« könne.1320 Frühzeitig bemängelte auch Hahl die
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Ebd., Bl. 109, Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 13.9.1906, Schreiben. Ebd., Bl. 106f., Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 7.9.1906, Schreiben. Ebd., Bl. 109, Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 13.9.1906, Schreiben. BA-K N 1030/46, Bl. 643, 651f., Franke, Tgb. (4.7., 19.8.1908); BA-B N 2272/1, Heydebreck (Windhuk) an Schuckmann vom 9.2.1914, Schreiben. BA-K N 1130/11, S. 10, Dernburg, Erinnerungen. BA-B N 2345/15, Bl. 109, Danckelman (Berlin) an Zimmermann vom 13.9.1906, Schreiben. PA-AA NL 8/50, Meyer-Gerhard (Berlin) an Asmis vom 7.3.1911, Schreiben. Schnee, Gouverneur, S. 79, 81f. (Zitate 1+3); HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142 Bü 765, Seitz (Berlin) an Hohenlohe-Langenburg vom 31.12.1906, Schreiben (Zitat 2). BA-K N 1053/132, Bl. 79–84, Solf (Berlin) an Schultz vom 22.10.1906, Schreiben. Ebenso positiv: PA-AA NL 8/49, Bl. 30, Kersting (Sokode) an Asmis vom 14.8.1908, Schreiben. BA-K N 1053/29, Bl. 61f., Solf (Berlin) an Meyer-Delius vom 17.5.1908, Schreiben.
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Unerfahrenheit des Bankdirektors »in kolonialen Dingen«, weshalb dieser dringend zuverlässige Mitarbeiter benötige.1321 Ungeachtet aller äußerlichen Dynamik waren Dernburgs programmatische Inhalte bei näherer Betrachtung ohnehin weniger innovativ als erwartet. Nicht viel anders als bei seinen Vorgängern stand weiterhin die »finanzwirtschaftliche Selbständigkeit der einzelnen kolonialen Gebiete« an oberster Stelle.1322 Die damit propagierte Eigenfinanzierung bedeutete nichts anderes, als die ›Schutzgebiete‹ möglichst unabhängig von Zuschüssen aus dem Reichsetat zu machen.1323 Zum Teil hoffte Dernburg dieses Ziel durch eine vergleichsweise simple buchungstechnische Maßnahme zu erreichen. Künftig sollten nur noch die eigenen Einnahmen und die tatsächlichen Verwaltungsausgaben der Kolonien über deren Haushalte laufen. Einen der größten Einzelposten, die Ausgaben für die Schutztruppen, wollte Dernburg stattdessen direkt über den Reichsfiskus abrechnen. Seiner Ansicht nach erhalte man erst dann ein realistisches Bild von den kolonialen Finanzen. Zwar läge selbst nach dieser Bereinigung in kaum einem ›Schutzgebiet‹ eine vollständige Kostendeckung vor, doch bestünden gute Aussichten, diese im Verlauf weniger Jahre zu erreichen.1324 Die Finanzierung der Schutzgebietshaushalte aus eigenen Einnahmen erforderte auch seiner Ansicht nach Investitionen in die Infrastruktur. Erst dann wären die Voraussetzungen für ein Prosperieren von Handel und landeseigener Produktion geschaffen. Das wiederum würde Dernburg zufolge weiteres Kapital aus Deutschland mobilisieren und den Prozess des wirtschaftlichen Wachstums weiter befeuern. Die zwangsläufige Folge wäre ein Mehraufkommen an Zöllen und Steuern. Damit ließen sich dann einerseits die Zins- und Tilgungsleistungen für die zum Bau von Bahnlinien oder Hafenanlagen aufgelegten Anleihen bestreiten und andererseits ausgeglichene Etats in den Kolonien erreichen.1325 Neben einer forcierten »Nutzbarmachung des Bodens, seiner Schätze, der Flora [und] Fauna« bedürfe ein solches Vorhaben aber »vor allem der Menschen« in den Kolonien.1326 Die Fokussierung auf das indigene ›Humankapital‹, wenngleich in erster Linie in Form von Muskelkraft, stellte zweifellos ein Charakteristikum von Dernburgs Programm dar. Dass fortan aber, wie Solf glaubte, eine »humanere Behandlung der Eingeborenen […] Trumpf geworden« sei, traf nur auf den ersten Blick zu.1327 Treffender beurteilte Götzen die vermeintlich neuen Zielsetzungen. Ihm zufolge handelte es sich
1321 BA-K N 1053/109, Bl. 7f., Hahl (Wonfurt) an Solf vom 25.10.1906, Schreiben. 1322 Dernburg, Herbst 1906, Denkschrift betr. die finanzielle Entwicklung der deutschen Schutzgebiete, zitiert nach: Schiefel, Dernburg, S. 47. 1323 Der Wegfall von Zuschüssen der Metropole stellt generell eines der Leitziele des kolonialen Staates dar: Wirz, Körper, S. 256. 1324 Dernburg im Reichstag am 28.11.1906, zitiert nach: Schiefel, Dernburg, S. 48. 1325 Generell zu Dernburgs Programm: Conrad, Kolonialgeschichte, S. 36f.; Gründer, Geschichte, S. 241f. (Zitat); Laak, Infrastruktur, S. 137–146; Schiefel, Dernburg, S. 56–62; Speitkamp, Kolonialgeschichte, S. 141f.; Tetzlaff, Entwicklung, S. 224–229. Vgl. die programmatischen Reden: Dernburg, Reise (5./9.12.1907); ders., Eingeborenenpolitik (18.2.1908); ders., Fortschritte (17.1.1909); ders., Eindrücke (21.1.1909). 1326 Ders., Zielpunkte, S. 58. 1327 BA-K N 1053/132, Bl. 85–90, Solf (Berlin) an Schultz vom 26.3.1908, Schreiben.
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um eine »Förderung der Eingeborenen-Wirtschaft«, wie sie auch »früher schon« gefordert worden sei.1328 Tatsächlich sah Dernburg zwar vor, dass die »Eingeborenen erhalten, entwickelt und wirtschaftlich gestärkt werden« müssten. Auch sei das »Vertrauen der schwarzen Bevölkerung zur Regierung« herzustellen und aufrechtzuerhalten, indem verstärkt auf ein »gerechtes Maß zwischen Anforderungs- und Leistungsmöglichkeit« geachtet werden solle. Gleichzeitig folgte aber auch der ehemalige Bankdirektor der gängigen und keineswegs neuen These, dass das »Bewusstsein der Überlegenheit der Fremden in den Eingeborenen nicht erschüttert« werden dürfe. Dazu wiederum sei eine Verwaltung erforderlich, in der der einzelne Beamte zugleich »als ein gerechter, unterrichteter, aber strenger Herr« auftreten müsse.1329 An diesen Äußerungen lässt sich unschwer ablesen, dass die Ausbeutung der Menschen in den Kolonien auch weiterhin einen Kernaspekt des kolonialen Projekts darstellte. Dernburg reagierte lediglich konsequenter und unmissverständlicher als seine Vorgänger auf die an sich banale Erkenntnis, dass sich weder die beabsichtigten Infrastrukturmaßnahmen noch eine Steigerung der Produktion auf den von Europäern betriebenen Plantagen- und Farmbetrieben ohne einen effizienten Einsatz des verfügbaren Arbeitskräftepotentials realisieren ließen. Aus diesem Grund müssen auch diejenigen Aspekte des Dernburgschen Programms, die bereits von den Zeitgenossen mitunter als eine ›Eingeborenenschutzpolitik‹ fehlinterpretiert wurden, in erster Linie unter dem Signum einer forcierten Mobilisierung der indigenen Arbeitskraft gesehen werden. Die Kolonialzentrale reagierte damit nicht zuletzt auf den Bedeutungszuwachs, den die indigenen Gesellschaften als ökonomischer Faktor namentlich in den drei großen afrikanischen ›Schutzgebieten‹ bereits in den Jahren vor Dernburgs Amtsantritt erlangt hatten. Während im ohnehin menschenarmen Deutsch-Südwestafrika das Problem der Arbeitskräfterekrutierung für Farmbetriebe, Eisenbahn- und Bergbau sich insbesondere durch die erheblichen Kriegsverluste unter den Herero und Nama erheblich verschärft hatte, führten auch in Deutsch-Ostafrika ein forcierter Eisenbahnbau sowie eine prosperierende Plantagenwirtschaft zu lokalen Arbeiterengpässen.1330 Ähnliche Ursachen hatte das Problem in Kamerun, wo Plantagenunternehmen, Eisenbahngesellschaften sowie Handelsfirmen um das begrenzt verfügbare Reservoir menschlicher Arbeitskraft konkurrierten.1331 Nicht zuletzt in dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, dass fast gleichzeitig mit Dernburgs Ernennung zum Kolonialdirektor auch die Gouverneursposten gerade in diesen drei ›Schutzgebieten‹ neu besetzt wurden. Es liegt daher die Vermutung nahe, Rechenberg, Seitz und Schuckmann seien gezielt ausgewählt worden, um das utilitaristische Reformprogramm vor Ort umzusetzen. Eine solche überwiegend auf den jeweiligen Amtsantritten beruhende Einschätzung hält jedoch einer genaueren Überprüfung nicht stand. Der Freiherr v. Rechenberg war bereits ein halbes Jahr vor Dernburg als Nachfolger für den erkrankten Götzen bestimmt worden. Eher zufällig
1328 BA-B R 1001/6938, Bl. 19–22, Götzen (Berlin) an Dernburg vom 23.2.1908, Schreiben. 1329 Ebd., Bl. 37f., Dernburg an Rechenberg vom 7.3.1908, Schreiben. 1330 Zimmerer, Herrschaft, S. 177; Koponen, Development, S. 367; vgl. Tetzlaff, Entwicklung, S. 233–235; Laak, Infrastruktur, S. 120. 1331 JB 1906/07, S. 3833; Hausen, Kolonialherrschaft, S. 274–276.
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erfolgte die faktische Übernahme der Amtsgeschäfte in Daressalam wenige Tage nach der Ernennung Dernburgs.1332 Auch Seitz wurde noch von Hohenlohe-Langenburg für den Posten des obersten Beamten in Kamerun vorgeschlagen. Obwohl das Einverständnis des Kaisers damals bereits vorlag, verzögerte sich die offizielle Ernennung zum Nachfolger Puttkamers jedoch bis zum 9. Mai 1907, da Seitz als Haushaltsexperte in Berlin vorläufig unabkömmlich war.1333 Lediglich Schuckmann und Dernburg kannten sich bereits persönlich, waren sie sich doch etliche Jahre zuvor in Chicago begegnet.1334 Trotzdem hatte sich Schuckmann im Frühjahr 1907 zunächst an Lindequist gewandt, um dessen mögliche Nachfolge in Windhuk zu sondieren. Als wenig später Lindequist zum Unterstaatssekretär und zweiten Mann im Reichskolonialamt ernannt wurde, brachte er von sich aus Schuckmann ins Spiel. Dernburg akzeptierte daraufhin den erfahrenen Kolonialbeamten, Diplomaten und Landwirt vorbehaltlos.1335 Auch wenn die Umstände dieser Ernennungen eine gezielte Personalauswahl durch Dernburg ausschließen, fällt auf, dass die betreffenden Gouverneure während der gesamten ›Ära Dernburg‹ auf ihren Posten verblieben.1336 Zum Konflikt zwischen Dernburg und Schuckmann kam es erst gegen Ende dieses Zeitraums, weshalb beide fast gleichzeitig im Frühjahr 1910 aus ihren Ämtern schieden. Das hatte wiederum Konsequenzen für Seitz, der daraufhin Kamerun verließ, um Schuckmanns Nachfolge in Südwestafrika anzutreten. Rechenberg verblieb nur unwesentlich länger in Daressalam. Angesichts der auffälligen Übereinstimmungen der Amtszeiten liegt daher die Vermutung nahe, dass Dernburgs Vorstellungen und ihre Umsetzung für diese drei Gouverneure eine wesentliche Rolle spielten. Es lohnt sich daher, ihre Praktiken anhand der Frage der Mobilisierung menschlicher Arbeitskraft vergleichend zu untersuchen. Angesichts der Ausgangslage bestand das Kernziel aller drei Gouverneure in der Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl indigener Arbeiter, um sowohl die öffentlichen als auch die privaten Bedarfsträger ihrer Kolonien zu versorgen. Von der Forschung ausführlicher thematisiert wurde bislang das Vorgehen Rechenbergs.1337 Vergleichbar mit den Thesen Dernburgs hatte er erklärt, dass der »ganzen Regelung der Arbeiterfrage« die Herbeiführung eines gewissen Interessenausgleichs zugrunde liegen müsse.1338 Einerseits sollten die Pflanzungsbetriebe ebenso wie Eisenbahngesellschaften »Anspruch auf die volle Arbeitskraft des Arbeiters« erhalten und dies auch durchsetzen können. Auf 1332 Zu Rechenbergs Ernennung: BA-K N 1053/132, Bl. 56–60, Solf (Berlin) an Schultz vom 6.4.1906, Schreiben; BA-B N 2225/173, Bl. 9f., Götzen (an Bord ›Feldmarschall‹) an Pfeil vom 25.4.1906, Schreiben; vgl. Tetzlaff, Entwicklung, S. 222. 1333 Bülow an Wilhelm II. vom 11.6.1906, Immediatbericht, erwähnt in: BA-B R 43/941, Bl. 203, Dernburg an Bülow vom 14.9.1906, Bericht; HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142 Bü 765, Seitz (Berlin) an Hohenlohe-Langenburg vom 27.6.1907, Schreiben; vgl. BA-K N 1053/132, Bl. 31f., Solf (Berlin) an Schultz vom 22.12.1905, Schreiben. Nur teilweise zutreffend: Schnee, Gouverneur, S. 79. 1334 BA-K N 1130/11, S. 103f., Dernburg, Erinnerungen; Schiefel, Dernburg, S. 65. 1335 BA-B N 2272/1, Lindequist (Berlin) an Schuckmann vom 9.5.1907, Schreiben; ebd., Lindequist an Schuckmann vom 17.5.1907, Telegramm; ebd., Lindequist an Schuckmann vom 21.5.1907, Telegramm; vgl. Schnee, Gouverneur, S. 90. 1336 Der Begriff ›Ära Dernburg‹ wurde offenbar geprägt durch: Schiefel, Dernburg, S. 132. 1337 Iliffe, Tanganyika, S. 49–81; Tetzlaff, Entwicklung, S. 235–244; Koponen, Development, S. 370–376. 1338 BA-B R 1001/122, Bl. 9–11, Rechenberg (Daressalam) an RKA vom 21.8.1909, Bericht. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben.
4. Herrschaftspraktiken
der anderen Seite dürfe aber der »Arbeiter von dem Arbeitgeber in seiner Bereitwilligkeit zu arbeiten nicht auf seine (des Arbeiters) Kosten beschränkt werden«. Es müsse zudem jedem einheimischen Arbeiter bewusst sein, »was er nach Leistung seiner Arbeit erhält, und dass er auch in diesen seinen Ansprüchen geschützt wird«. Die Realisierung dieses Grundsatzes sah Rechenberg als unerlässliche Voraussetzung dafür, auch künftig »genügend Arbeiter für die europäischen Betriebe zu erhalten und zwar, worauf ich besonderen Wert lege, nicht allein durch Anwerbung, sondern auch durch freiwilligen Zuzug.« Würden die Arbeitskräfte stattdessen der »Willkür der Betriebsleiter« ausgesetzt, müsse zwangsläufig eine Verschlechterung des Angebots die Folge sein. Daran würde selbst die Einführung einer generellen Arbeitspflicht, wie von den Interessenverbänden der Pflanzer mehrfach gefordert, nichts ändern. Rechenberg war vielmehr davon überzeugt, dass »unfreiwillige Arbeit minderwertig« und damit ineffizient sei und darüber hinaus die Gefahr gewaltsamen Widerstands mit sich bringe.1339 Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass der Gouverneur mit dieser Position keineswegs eine rechtliche Gleichstellung der afrikanischen Arbeitskräfte mit ihren europäischen Arbeitgebern im Blick hatte. Als im November 1908 im Gouvernementsrat zu Daressalam über den Wortlaut der Verordnungen zur »Anwerbung von Eingeborenen« sowie zu den »Rechtsverhältnissen eingeborener Arbeiter« verhandelt wurde, gingen die Positionen Rechenbergs zwar nicht immer mit denen der Vertreter der Pflanzer und Ansiedler konform.1340 Trotzdem warnte auch der Gouverneur davor, dass man keineswegs durch zu weitgehende Zugeständnisse das »Schwergewicht der Macht auf den Arbeiter übergehen« lassen dürfe. In diesem Sinne suchte er beispielsweise eine geplante Vorschrift, die adäquate hygienische Verhältnisse in den Arbeiterquartieren forderte, mit dem Hinweis zu entschärfen, dass diese »selbstverständlich nur den Begriffen der Eingeborenen zu entsprechen hätten«. Als ein Plantagenvertreter im Hinblick auf das bei Erkrankung von Arbeitern anzuwendende Verfahren sogar eine geringfügige Milderung anregte, gab Rechenberg zu bedenken, dass die Arbeitgeber dann eine zu »weitgehende Verpflichtung […] auf sich nehmen würden«. Auch bei der täglichen Arbeitszeit plädierte der Gouverneur zwar anfangs für neun Stunden, folgte am Ende aber doch der Mehrheit der Ratsmitglieder, die eine Stunde mehr gefordert hatten. Um den Interessen der Pflanzer noch weiter entgegenzukommen erließ er wenig später eine weitere Verordnung, die eine vorzeitige Beendigung von Arbeitsverträgen durch die indigenen Arbeiter unter ein erhöhtes Strafmaß stellte.1341
1339 JB 1907/08, S. 6533 (Zitat); JB 1909/10, S. 17. 1340 BA-B R 1001/812, Bl. 273–289, Protokoll Gouvernementsratssitzung vom 20./21.11.1908. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. Zu den Inhalten der Verordnungen: Rechenberg vom 27.2.1909, VO betr. Anwerbung von Eingeborenen (Anwerbeverordnung), abgedruckt in: DKG 13, S. 112–115; Rechenberg vom 27.2.1909, VO betr. Rechtsverhältnisse eingeborener Arbeiter (Arbeiterverordnung), abgedruckt in: ebd., S. 116–120. Zur Bewertung: Tetzlaff, Entwicklung, S. 236f. 1341 Rechenberg vom 7.12.1909, VO betr. Bestrafung von Eingeborenen wegen Kontraktbruchs, abgedruckt in: DKG 13, S. 650f. Hierzu: Sippel, Ideologie, S. 324.
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Dass sich Rechenberg trotzdem während seiner Amtszeit mit den Interessenverbänden der Pflanzer im Dauerkonflikt befand, lag vor allem daran, dass er deren mitunter noch viel weitergehenden Forderungen nicht nachkommen wollte.1342 Dabei argumentierte er in erster Linie mit Sachzwängen, lehnte er doch beispielsweise einen Antrag auf Einführung einer allgemeinen Passpflicht für einheimische Arbeiter deswegen ab, da »mit dem dem Gouvernement zur Verfügung stehenden Beamtenapparat […] unmöglich eine Bevölkerung von 8 Millionen registriert und in ihrer Bewegung kontrolliert werden« könne.1343 Durchaus vergleichbar verhielt es sich mit Seitz in Kamerun. Auch er stand aus seiner Sicht vor einem in erster Linie ökonomischen Dilemma. Wie Rechenberg hatte er erkannt, dass sich eine dauerhafte Versorgung der europäischen Bedarfsträger mit indigenen Arbeitern nicht ausschließlich durch Zwang und Gewalt erreichen lassen würde. Eine Begrenzung der Handlungsoptionen des Gouverneurs bestand zugleich darin, dass Dernburg von Anfang an deutlich gemacht hatte, dass er einem engen Zusammenwirken der Behörden mit den Wirtschaftsunternehmen vor Ort große Bedeutung beimesse. Rechenberg war somit keineswegs der einzige Gouverneur, der aus Berlin angewiesen wurde, den mehr oder minder kapitalkräftigen Hoffnungsträgern des neuen Kurses möglichst weit entgegenzukommen.1344 Ungefähr zur selben Zeit wie sein Amtskollege in Daressalam, sah sich daher auch Seitz vor die Schwierigkeit gestellt, die von ihm erkannte Notwendigkeit einer Verbesserung der Anwerbungs- und Arbeitsbedingungen gegen die diametral entgegengesetzten Interessen der Pflanzer- und Handelsverbände durchzusetzen, ohne diese vor den Kopf zu stoßen. Dabei ging er sogar so weit, ein Positionspapier aus der Feder der Vereinigung Kameruner Pflanzer zur Grundlage seines eigenen Entwurfs für eine ›Arbeiterverordnung‹ zu machen.1345 Wie weit die Forderungen der Wirtschaftsvertreter gingen, lässt sich wiederum an den Verhandlungen im Gouvernementsrat ablesen. Diese gestalteten sich trotz der Vorabsprachen schwierig. Nachdem Seitz anfangs die Regulierungsabsicht seiner Behörde mit dem Hinweis verteidigt hatte, dass das »Arbeitermaterial noch des Schutzes bedürfe«, fand auch er sich am Ende dazu bereit, etliche Änderungen in dem Verordnungsentwurf zu Gunsten der europäischen Arbeitgeber zu akzeptieren. Das zur
1342 Zum Dauerkonflikt Rechenbergs mit Ansiedlern und Pflanzern: Tetzlaff, Entwicklung, S. 235–242; vgl. Kapitel 3.3. Die Auseinandersetzungen fanden reichen Niederschlag in den Akten des RKA: BA-B R 1001/119, 120, 121, 122; vgl. BA-B N 2272/1, Rechenberg (Daressalam) an Schuckmann vom 12.11.1910, Schreiben. 1343 BA-B R 1001/812, Bl. 273–289, Protokoll der Gouvernementsratssitzung in Daressalam vom 20./21.11.1908. 1344 BA-B R 1001/119, Bl. 163, Dernburg an Rechenberg vom 24.11.1906, Erlass. Es ist daher anzuzweifeln, ob Rechenberg den späteren Staatssekretär während dessen Ostafrika-Reise zu seiner eigenen Politik regelrecht habe bekehren müssen. So: Schiefel, Dernburg, S. 69f. 1345 BA-B R 1001/3231, Bl. 128f., Seitz (Buea) an RKA vom 26.9.1908, Bericht; BA-B R 1001/4314, Bl. 20–42, Protokoll der Sitzung des Gouvernementsrats in Duala am 17.12.1908. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben.
4. Herrschaftspraktiken
Verkündung gelangte Reglement wurde daher von Karin Hausen zu Recht als eine »papierene Manifestation einer besseren Absicht« bezeichnet.1346 In seinen Absichtserklärungen wich auch Schuckmann nicht sehr von seinen beiden Amtskollegen ab, forderte doch auch er seine Bezirks- und Distriktämter auf, für eine »ruhige, gleichmäßige und gerechte Behandlung« der Einheimischen zu sorgen, um dadurch »den Eingeborenen zu einem willigen und zufriedenen Arbeiter [zu] machen«.1347 Auch hinter solchen Äußerungen standen keine humanen, sondern vielmehr dezidiert utilitaristische Erwägungen. Nicht zuletzt muss nochmals betont werden, dass Lindequists ›Eingeborenen-Verordnungen‹ zu einem Zeitpunkt herausgegeben wurden, als Schuckmann bereits zum Gouverneur ernannt worden war. Die grundsätzliche Übereinstimmung mit der Politik seines Vorgängers lässt sich gleichzeitig aus einem Brief vom 9. Mai 1907 schlussfolgern. Darin hatte Lindequist an Schuckmann über seinen möglichen Weggang aus Windhuk geschrieben und dabei betont, wie beruhigend es für ihn sei, »dass dabei keinerlei Risiko für das Schutzgebiet vorhanden ist, da Sie eventuell an meine Stelle treten würden.«1348 Die Verordnungen vom 18. August 1907 kamen also für den kurz darauf in Südwestafrika eintreffenden Schuckmann weder überraschend noch liefen sie seinen eigenen Absichten zuwider. Mit seiner Aufforderung an die untergeordneten Dienststellen suchte der Gouverneur vor allem auf eine Entwicklung zu reagieren, die den in Südwestafrika ohnehin bestehenden Arbeitskräftemangel weiter zu verschärfen drohte. Beunruhigt wurde Schuckmann vor allem durch einen Bericht des Distriktchefs von Gobabis, Kurt Streitwolf.1349 Danach würden die Herero weiterhin in großer Zahl von ihren Arbeitsstellen fliehen. Als wichtigste Gründe dafür gab Streitwolf an, dass etliche Farmer ihre Arbeiter exzessiv prügeln und zugleich unzureichend verpflegen würden. Der Verwaltung seien dagegen die Hände gebunden, da die europäischen Ansiedler im Gegensatz zu den Einheimischen nur durch die Bezirksgerichte zur Rechenschaft gezogen werden könnten, was aber zeitaufwändig sei. Außerdem kämen die meisten derartigen Fälle überhaupt nicht zur Verhandlung, weshalb viele Arbeiter sich einem Willkürregime unterworfen sähen. Zugleich stellte Streitwolf fest, dass »ohne Eingeborene […] jegliche Wirtschaft unmöglich« sei und deshalb »unserem Ansiedler, vor allem den neuen, sehr auf die Finger [ge]sehen« werden müsse. Schuckmann forderte daraufhin die Bezirks- und Distriktämter auf, die Farmer stärker zu überwachen und Ausschreitungen gegen Arbeiter unverzüglich dem Gouvernement anzuzeigen.1350 Um den Verwaltungsbehörden künftig die Möglichkeit des Einschreitens zu erleichtern, regte er zugleich beim Reichskolonialamt an, ihn nach dem 1346 Hausen, Kolonialherrschaft, S. 279f. Eine weitere Verwässerung stellten nicht zuletzt die Änderungswünsche Dernburgs dar: BA-B R 1001/3231, Bl. 176–178, Dernburg an Seitz vom 22.3.1909, Erlass. 1347 BA-B R 1001/1229, Bl. 16, Schuckmann (Windhuk) an alle Bezirks- und Distriktämter vom 2.1.1908, Rundverfügung; vgl. Zimmerer, Herrschaft, S. 199, der das Papier irrtümlich Seitz zuschreibt. 1348 BA-B N 2272/1, Lindequist (Berlin) an Schuckmann vom 9.5.1907, Schreiben. 1349 BA-B R 1001/1229, Bl. 8–14, Streitwolf (Gobabis) an Gouvernement in Windhuk vom 2.12.1907, Bericht. Hierzu auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben. 1350 Ebd., Bl. 16, Schuckmann (Windhuk) an alle Bezirks- und Distriktämter vom 2.1.1908, Rundverfügung; Zimmerer, Herrschaft, S. 199.
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Vorbild britischer Kolonien zu ermächtigen, einschlägige Bestimmungen zu erlassen. Dadurch sollten die Lokalbehörden in »unzweifelhaften Fällen gegen Weiße, die sich Misshandlungen Eingeborener zu Schulden kommen lassen, eine prompte Justiz ohne langwieriges Prozessverfahren ausüben« können.1351 Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Zwar waren sich Schuckmann und Dernburg im Grundsatz darüber einig, dass »im Interesse der Erhaltung und Vermehrung des wertvollen Arbeitermaterials etwas geschehen müsse […]«.1352 Andererseits hätte eine solche Regelung die um jeden Preis verteidigte Dichotomie einer von ordentlichen Gerichten betriebenen Rechtsprechung gegenüber Europäern auf der einen und einer auf dem Verwaltungswege durchgeführten Gerichtsbarkeit gegenüber Einheimischen auf der anderen Seite, gefährdet. Nicht zuletzt an dieser Stelle offenbaren sich die Grenzen der vermeintlich humanen ›Eingeborenenpolitik‹ Dernburgs. Auch Rechenberg und Seitz suchten Misshandlungen von Arbeitern auf normativem Wege zu unterbinden. Während die in Daressalam verkündete Arbeiterverordnung zu diesem Zweck vorsah, dass neben den Bezirks- und Stationsleitern lediglich die Arbeiterkommissare, nicht jedoch die Arbeitgeber zur Verhängung von Disziplinarstrafen befugt seien, verweigerte Seitz in der erwähnten Gouvernementsratssitzung ebenfalls die Übertragung solcher Kompetenzen an nichtamtliche Stellen. Zumindest bei Seitz, dem ehemaligen Polizeichef von Mannheim, war das der Überzeugung geschuldet, dass solche hoheitlichen Funktionen nur von Beamten, keinesfalls aber von Privatpersonen ausgeübt werden dürften.1353 In Deutsch-Ostafrika stiegen in der Folgezeit die Zahlen der von den Behörden verhängten disziplinaren Prügelstrafen deutlich an. Ein unmittelbarer Zusammenhang mit Rechenbergs Arbeiter-Dekret ist zwar schwer nachweisbar, aber dennoch wahrscheinlich.1354 In jedem Fall muss festgestellt werden, dass die Möglichkeiten der Administration weder dort noch in Kamerun oder Südwestafrika ausreichten, um prügelnde Arbeitgeber wirksam abzuschrecken. Neben den fehlenden Verwaltungsstrukturen mangelte es immer wieder auch am Willen der Lokalbehörden, gegen derartige Vorkommnisse einzuschreiten.1355 Nicht zuletzt erfreute sich das sogenannte patriarchale Züchtigungsrecht seitens der meisten Europäer in den Kolonien nach wie vor einer hohen Akzeptanz.1356 1351 BA-B R 1001/1229, Bl. 7, Schuckmann (Windhuk) an RKA vom 6.1.1908, Bericht (Zitat); ebd., Bl. 15, Schuckmann (Windhuk) an RKA vom 14.1.1908, Bericht. 1352 BA-B R 1001/6040, Bl. 7–10, Schuckmann (Windhuk) an RKA vom 6.10.1908, Bericht. 1353 Zu Ostafrika: Rechenberg vom 27.2.1909, VO betr. die Rechtsverhältnisse eingeborener Arbeiter (Arbeiterverordnung), abgedruckt in: DKG 13, S. 116–120 (§ 16); Schröder, Prügelstrafe, S. 106, 113. Zu Kamerun: BA-B R 1001/4314, Bl. 20–42, Protokoll der Sitzung des Gouvernementsrats in Duala am 17.12.1908; vgl. BA-B R 1001/3231, Bl. 140f., Seitz (Buea) an RKA vom 3.2.1909, Bericht; Schröder, Prügelstrafe, S. 112. 1354 Die Verordnung trat am 1.5.1909 in Kraft. Wurden in Ostafrika im Berichtsjahr 1908/09 noch 2.375 disziplinarische Prügelstrafen seitens der Behörden verhängt, wuchs deren Zahl im darauffolgenden Rechnungsjahr auf 3.364. JB 1909/10, Anhang (Tab. A.II.2); vgl. Schröder, Prügelstrafe, S. 94f., der den Anstieg zwar benennt, diesen aber nicht näher einordnet. 1355 Vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 280f.; Zimmerer, Herrschaft, S. 200–204. 1356 BA-B R 1001/3231, Bl. 140f., Seitz (Buea) an RKA vom 3.2.1909, Bericht. Zur körperlichen Züchtigung in Deutschland: Schröder, Prügelstrafe, S. 5–12; Schlottau, Kolonialrechtspflege, S. 290f.
4. Herrschaftspraktiken
Ein augenfälliges Beispiel für die überschaubaren Auswirkungen normativer Vorgaben auf die koloniale Praxis stellt das Trägerwesen im Süden von Kamerun dar. Während Puttkamer die dortigen Verhältnisse verharmlost hatte, gab sich Seitz in seinem Tagebuch erschrocken über die Eindrücke auf seiner ersten Inspektionsreise als Gouverneur:1357 »Gerade heute, der Marsch auf dieser Straße von Lolodorf nach Kribi, bot Bilder, die einen Deutschen mit allem eher als mit Stolz erfüllen müssen. Elende Gestalten, Weiber, Kinder, die sich mit Lasten Berg auf u[nd] Berg ab schleppen u[nd] was ist in den Lasten? Schnaps nichts als Schnaps!« Auch der wenig später durch Kamerun reisende Herzog zu Mecklenburg berichtete, dass angesichts solcher Praktiken sein »Verlangen nach Trägern mit einer fluchtartigen Entleerung aller Dörfer beantwortet wurde.«1358 Nicht zuletzt aufgrund solcher Missstände erließ Seitz eine Verordnung zur »Regelung des Trägerwesens«.1359 Danach sollten nur noch »ausgewachsene, arbeitsfähige und gesunde Leute angenommen werden« dürfen. Das Gewicht der Lasten war dagegen auf dreißig Kilogramm zu begrenzen. Darüber hinaus seien die erforderliche Verpflegung bereitzustellen und ausreichende Ruhetage einzuhalten. Diesen zum Teil recht allgemein gehaltenen Maßregeln folgten binnen kurzem nicht weniger als fünfzehn Bekanntmachungen des Gouvernements, die sich mit der Festlegung der zulässigen täglichen Marschzeiten in den einzelnen Verwaltungsbezirken sowie der Entlohnung der Träger befassten.1360 Anders als von Seitz in seinen Memoiren suggeriert, gestaltete sich die Umsetzung dieses umfangreichen Schreibwerks in die koloniale Praxis aber wenig erfolgreich. Er selbst schrieb im Juli 1908 in sein Tagebuch, dass es sich sogar bei den seiner eigenen Expedition zugeteilten Trägern um »elende, heruntergekommene Gestalten« handele, die »schlapp sich des Weges schleppen u[nd] am liebsten ausreißen würden.«1361 Ließe sich hier noch mit der erst kurz zuvor publizierten Verordnung und eines unvermeidlichen Vorlaufs zu deren Umsetzung argumentieren, registrierte Solf noch Jahre später auf einer Inspektionsreise durch den Süden Kameruns auf der Hauptroute zwischen Kribi und Yaundé »zahlreiche Trägerkarawanen« einschließlich der bekannten Zustände:1362 »Unter den Trägern befanden sich auffällig viel Weiber, die teilweise nur mit Mühe den schweren Lasten gewachsen waren. Einzelne Stichproben ergaben, dass das gesetzli1357 BA-K N 1175/1, Bl. 19f., Seitz, Tgb. (12.9.1907); vgl. Seitz, Aufstieg 2, S. 27–29; Puttkamer, Bericht, S. 381, 383. 1358 Mecklenburg, Kongo 1, S. 144; vgl. die ähnliche Wahrnehmung seines Co-Autors Arnold Schultze in: ebd. 2, S. 267. 1359 Seitz vom 4.3.1908, VO betr. Regelung des Trägerwesens, abgedruckt in: DKG 12, S. 72–74. Hieraus auch die folgenden Ausführungen, sofern nicht anders angegeben; vgl. Seitz, Aufstieg 2, S. 29. 1360 Siehe hierzu die Bekanntmachungen des Kameruner Gouvernements vom 5., 18.5., 15.6., 18., 31.7., 11. (2x), 17. (2x), 24., 28.8., 17.9., 5., 6.10.1908, abgedruckt in: DKG 12, S. 171, 178f., 227f., 302, 307, 351f., 364f., 367, 369f., 389, 424f. Ferner: Seitz vom 22.12.1909, Bekanntmachung betr. Entlöhnung von Trägern, abgedruckt in: LGG Kamerun, S. 600f. 1361 BA-K N 1175/3, Bl. 4f., Seitz, Tgb. (28.7.1908). 1362 BA-K N 1053/40, Bl. 15, Solf, Tgb. (4.9.1913); vgl. ebd., Bl. 43f., Solf, Tgb. (8.10.1913).
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che Höchstgewicht von 30 kg offenbar häufig weit überschritten wird. Die großen Schäden des Trägerwesens für Land und Leute sind nicht zu leugnen.« Eine durchgreifende Realisierung normativer Maßnahmen sieht zweifellos anders aus. Das galt nicht zuletzt auch für die Arbeitsbedingungen im Rahmen des forcierten Eisenbahnbaus. Auch dort zeigten sich immer wieder Missstände, die durch die Berichte eigens entsandter Regierungsärzte auch zur Kenntnis der Gouverneure gelangten.1363 Die Konsequenz bestand wiederum in der Herausgabe wenig praxistauglicher »Arbeiter-Schutz-Bestimmungen«.1364 Ein Vergleich der drei großen afrikanischen Kolonien zeigt aber auch, dass die vergleichbaren Absichten der Gouverneure zur Mobilisierung der indigenen Arbeitskraft keineswegs identische Auswirkungen nach sich zogen. Das lässt sich durch einen quantitativen Vergleich verdeutlichen. Ein solches Vorhaben wird dadurch begünstigt, dass sich am Ende der Amtszeiten von Schuckmann, Seitz und Rechenberg gewisse Fortschritte in der statistischen Erfassung von Einwohnerzahlen und dem Umfang der Arbeiterrekrutierung erkennen lassen. Am deutlichsten lässt sich das für DeutschSüdwestafrika konstatieren, wo Lindequists Dekrete zugleich die Basis für eine Registrierung der Bevölkerung in der ›Polizeizone‹ schufen.1365 Auch in Kamerun hatte Seitz mit Blick auf die Arbeitskräfteproblematik etwa zur selben Zeit eine »zuverlässige allgemeine Volkszählung« als notwendig bezeichnet. Zwar war er sich darüber bewusst, dass an eine komplette Erfassung der indigenen Bevölkerung »auf Jahre hinaus im Schutzgebiet Kamerun nicht zu denken« sei. Andererseits forderte er aber die Bezirksämter und Stationen auf, Zählungen, zumindest aber Schätzungen für ihre Zuständigkeitsbereiche vorzunehmen. Um der Vorlage bloßer Phantasieprodukte vorzubeugen, sollten die Lokalbehörden gleichzeitig Angaben über die jeweilige Datengrundlage machen.1366 Ein vergleichbares Vorgehen lässt sich auch für Teile Ostafrikas belegen.1367 Angesichts dieser Voraussetzungen liegen ausreichend Daten für einen näherungsweisen Vergleich der Mobilisierungsgrade in Südwest-, Ostafrika und Kamerun vor. Als am zuverlässigsten sind dabei naturgemäß die Zahlen über die bei Europäern beschäftigten indigenen Arbeiter einzuschätzen. Bei den Angaben über die Einwohner insgesamt erscheint es dagegen zweckmäßig, für alle drei ›Schutzgebiete‹ nur die ausdrücklich als »gezählt« ausgewiesenen Daten heranzuziehen, die ungefähr denjenigen Teilen der Einwohnerschaft entsprechen, die einem Mindestmaß an Kontrolle durch die koloniale Verwaltung unterworfen waren. Da die Ergebnisse ohnehin lediglich als allgemeiner Vergleichsmaßstab fungieren sollen, erscheint ein solches Vorgehen zulässig. 1363 ANY FA 1/880, Bl. 1–19, Seibert an Gouvernement in Buea vom 27.5.1908, Erkundung der sanitären Verhältnisse an der Nordbahn; ebd., Bl. 28–32, Höhnel an Gouvernement in Buea vom 10.7.1908, Erkundung der sanitären Verhältnisse an der Manenguba-Bahn. 1364 Hansen (i.V.) vom 14.8.1909, Arbeiter-Schutz-Bestimmungen für den Bau der Kamerun Nord- und Mittellandbahn, abgedruckt in: DKG 13, S. 403–409; Hausen, Kolonialherrschaft, S. 283. 1365 Siehe Kapitel 4.5.2. 1366 BA-B R 1001/3231, Bl. 117f., Seitz (Buea) an Bezirksämter und Stationen vom 15.10.1907, Runderlass; vgl. Trotha, Herrschaft, S. 342, der bei aller berechtigten Kritik an der Zuverlässigkeit solcher Vorhaben zu weit geht, indem er die Ergebnisse pauschal als »bloße Erfindungen« abqualifiziert. 1367 TNA G 1/5, Bezirksamt Mpapua, JB 1908/09.
4. Herrschaftspraktiken
Tabelle 13: Arbeitskräftemobilisierung im Berichtsjahr 1909/101368
Deutsch-Ostafrika
»gezählte« Einwohner
darunter Arbeitskräfte
Mobilisierungsgrad in (%)
1,352.225
70.000
5,2
Kamerun
416.199
11.700
2,8
DeutschSüdwestafrika
62.361
20.037
32,1
Der Aussagewert dieser Ergebnisse liegt in den Relationen der Kolonien zueinander. Demnach lässt sich folgern, dass der hohe Wert für Südwestafrika zwar noch keine ›totale‹ Erfassung im Wortsinn widerspiegelt. Trotzdem übertrifft der dortige Grad der Arbeitermobilisierung die der beiden anderen ›Schutzgebiete‹ in eklatanter Weise. Daran lassen sich die besonderen Umstände einer Siedlungskolonie ablesen, wo als direkte Folge des Imperialkrieges die indigene Bevölkerung zu erheblichen Teilen für die Zwecke von Administration und Siedlergesellschaft erfasst und herangezogen wurde. In einem weit geringeren, für eine tropische Handelskolonie aber immer noch beachtlichen Ausmaß trifft dies auch auf Deutsch-Ostafrika zu. Dort hatten eine vergleichsweise umfangreiche Kolonialadministration, vor allem aber die Siedlungszone im Norden des ›Schutzgebiets‹ einen auf lokaler Ebene vergleichsweise hohen Erfassungsgrad zur Folge. Das selbst nach Meinung mancher Kolonialenthusiasten als ›rückständig‹ eingeschätzte Kamerun erscheint in dieser Hinsicht weit abgeschlagen.1369 Dort gab es nur wenige dauerhafte Ansiedler und lediglich in einigen küstennahen Landstrichen eine überschaubare Plantagenwirtschaft. Als Nebenprodukt dieser Berechnungen entsteht zugleich ein allgemeiner Eindruck von den faktischen Zugriffsmöglichkeiten des kolonialen Staats auf die indigenen Gesellschaften. Dabei sind besonders die Werte für die tropischen Handelskolonien interessant, in denen keine oder nur lokal begrenzte Siedlungsabsichten bestanden. Im Maximum stand dort weniger als ein Fünftel der geschätzten Gesamtbevölkerung unter einem mehr oder minder effektiven Zugriff der Verwaltung.1370 Wie begrenzt aber selbst diese Einflussmöglichkeiten blieben, belegt der auch am Ende der Amtszeiten von Dernburg und ›seinen‹ drei Gouverneuren keineswegs behobene Mangel an
1368 JB 1909/10, S. 16+Anhang, S. 20–22, 25; vgl. JB 1908/09, S. 588+594. In Kamerun wurden die in den Residenturen ›gezählten‹ Einwohner nicht eingerechnet. Für Südwestafrika wären noch 2.750 farbige Arbeiter zu addieren, die meist aus Südafrika stammten. Diese wurden bei der Einwohnerzahl nicht mit einbezogen. 1369 So beispielsweise der allerdings nicht unvoreingenommene Herzog zu Mecklenburg: LHA-SN, Nl Johann Albrecht/27, Bl. 114f., Mecklenburg (Lomé) an Johann Albrecht zu Mecklenburg vom 21.10.1913, Schreiben. 1370 Für Kamerun dürfte von einer Gesamtbevölkerung von etwa dreieinhalb, für Ostafrika von ungefähr sieben bis acht Millionen auszugehen sein. Unter Ansatz der in der Tabelle genannten, zahlenmäßig erfassten 1,35 Mio. bzw. 0,42 Mio. Menschen ergeben sich einschlägige Werte zwischen zwölf und 19 Prozent.
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Arbeitskräften.1371 Allein in Deutsch-Südwestafrika fehlten nach einer Einschätzung der Verwaltung am Beginn des Jahres 1911 mindestens sechzehntausend Arbeiter.1372 Es spricht für die Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit der situation coloniale, dass sich selbst in einer vermeintlich ›totalitär‹ ausgerichteten Siedlungskolonie zumindest für einen Teil der Einheimischen dadurch auch Chancen eröffnen konnten. Tatsächlich stieg angesichts des eklatanten Mangels an Arbeitskräften der Wert indigener Arbeitskraft stellenweise derart an, dass in Einzelfällen billigere »weiße Gelegenheitsarbeiter« für bestimmte, »sonst von eingeborenen Arbeitern ausgeführte Arbeiten« herangezogen werden mussten.1373 Ungeachtet aller ebenso rücksichtslosen wie folgenreichen Maßnahmen des Reichskolonialamts und der Gouvernements zur Mobilisierung der einheimischen Arbeitskraft lässt sich das Bild Helmut Bleys von den »abhängigen ›Herren‹« kaum besser verdeutlichen.1374
4.6 Gouverneure und Rassentrennung Die Zuschreibungen zum Begriff ›Rasse‹ im Rahmen der Deutungsmuster der Gouverneure kamen bereits zur Sprache. In dieser Hinsicht konnte festgestellt werden, dass beim untersuchten Personenkreis kulturmissionarische Interpretationen überwogen, während ausschließlich biologistische Sichtweisen zwar keineswegs fehlten, insgesamt aber eher die Ausnahme darstellten. Auch auf die von Seiten der Administration ins Leben gerufene, für koloniale Staatlichkeit charakteristische Dichotomie im Hinblick auf den Rechtsstatus von Europäern und Indigenen wurde bereits mehrfach hingewiesen. Gleiches gilt für deren praktische Umsetzung in den verschiedenen Lebensbereichen. Namentlich nach der Jahrhundertwende lassen sich aber Bestrebungen der kolonialen Verwaltung feststellen, die auf eine Regulierung der Beziehungen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten selbst auf der privatrechtlichen Ebene abzielten. Das betraf in erster Linie die ehelichen und nicht ehelichen Verbindungen zwischen Europäern und Indigenen sowie deren Nachkommen, die sogenannten ›Mischlinge‹.1375
1371 Das geht selbst aus den in der Regel optimistisch gehaltenen Jahresberichten hervor, deren allgemeiner Teil von Dernburg selbst abgesegnet wurde. Darin heißt es für das Berichtsjahr 1909/10, dass besonders in Kamerun und Südwestafrika »die Arbeiterbeschaffung vielfach schwierig war.« JB 1909/10, S. V. In Ostafrika hatte sich in diesem Zeitraum eine zeitweilige Entspannung ergeben, doch hielt Rechenberg diese nur für vorübergehend. Auf lokaler Ebene war auch dort von einem akuten Mangel an Arbeitern die Rede. JB 1909/10, S. 16f.; TNA G 1/5, Bezirksamt Mpapua, JB 1908/09, S. 15f. 1372 BA-B R 1001/5423, Bl. 171–178, Streitwolf an Gouvernement in Windhuk, o.D. [Anfang 1911], Bericht. Dabei rechnete die Verwaltung damit, dass sich etwa 6.000 Arbeiter von außerhalb der ›Polizeizone‹ würden beschaffen lassen. Ähnliche Angaben in: Zimmerer, Herrschaft, S. 177. 1373 JB 1907/08, S. 6864. 1374 Bley, Kolonialherrschaft, S. 213. 1375 Die Bedeutung dieses Themas lässt sich auch an der großen Zahl einschlägiger Studien ablesen. Beispiele: Ebd., S. 249–256; Schulte-Althoff, Rassenmischung; Essner, Rauch; dies., Vernunft; Hiery, Reich, S. 41–49; Sippel, Interesse; Zimmerer, Herrschaft, S. 94–109; Wildenthal, Women, S. 79–130; El-Tayeb, Deutsche, S. 83–141; Grosse, Kolonialismus, S. 145–192; Wareham, Race, S. 123–153; Kund-
4. Herrschaftspraktiken
Dieser Aspekt gewinnt eine besondere Relevanz nicht zuletzt dadurch, dass die Verbreitung solcher Geschlechtsverbindungen ebenso wie die wachsende Zahl der aus ihnen hervorgehenden Kinder nicht nur seitens der Administration vor Ort zunehmend problematisiert wurde. Auch in Deutschland entwickelte sich eine lebhafte Diskussion über diese Frage.1376 Die Gouverneure standen dabei häufig im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, so dass es auch aus diesem Grund sinnvoll erscheint, die einschlägigen Bestrebungen und Maßnahmen aus deren Perspektive auszuleuchten. In den Selbstzeugnissen der Untersuchungsgruppe tauchen Überlegungen zur Frage der ›Rassereinheit‹ recht früh auf, doch richtete sich das Augenmerk vorläufig auf ›Vermischungen‹ der indigenen Ethnien untereinander. Bereits im Zuge seiner AfrikaDurchquerung im Jahr 1894 glaubte beispielsweise Götzen feststellen zu können, bei den Wassumbwa im Norden Ostafrikas handele es sich um eine »Mischbevölkerung«, bei der die »Reinheit der Rasse stark beeinträchtigt« sei.1377 Über eine »starke Blutmischung«, der die Hehe aufgrund ihrer angeblichen Praxis des Frauenraubes ausgesetzt seien, machte sich zur selben Zeit auch Schele Gedanken. Allerdings kam er von seiner Expedition nach Uhehe mit der Überzeugung zurück, dass zumindest die »herrschenden Geschlechter und die Krieger einen ziemlich unvermischten Typus« widerspiegeln würden.1378 Ein weiteres Urteil fällte Bennigsen über die Bewohner zweier Inseln im Südwesten der Karolinengruppe. Zwar glaubte auch er dort ein »arges Völkergemisch« feststellen zu können. Abweichend von seinen Kollegen sah er aber gerade darin ein »wertvolles Menschenmaterial«, mit dem sich die durch lange Isolation vermeintlich degenerierten Bevölkerungen Mikronesiens würden ›auffrischen‹ lassen.1379 Alle drei Beispiele verweisen auf die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland zunehmend populären Vorstellungen von der Existenz unterschiedlicher »Menschenracen«.1380 Ein ausdifferenziertes Denkmodell im Sinne einer Rassenideologie kann aus den zitierten Passagen jedoch kaum abgeleitet werden, dazu sind die Inhalte zu singulär und uneinheitlich. Dieser Schluss lässt sich auch aus den frühen Äußerungen der Gouverneure über die vorläufig überschaubare Zahl von ›Mischlingen‹ in den deutschen Kolonien ziehen. Im Mai 1888 schrieb beispielsweise Puttkamer an den Reichskanzler, dass in Togo die »Kinder von deutschen Vätern und Eingeborenen […] ja ohne Bedenken der Nationalität des Vaters folgen können«. Zwar sollten diese nach Möglichkeit »christlich erzogen werden«, doch sah er in solchen »Mulatten« keineswegs ein
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rus, Imperialisten, S. 219–279; Becker, Soldatenkinder; Samulski, Sünde; Axster, Angst; vgl. Adili, Documentation; Simtaro, Togo. Zur Debatte im Reichstag: Essner, Vernunft; Roller, Reichstagsdebatten. Götzen, Afrika, S. 81. Schele, Uhehe, S. 71. Bennigsen, Reise (1901), S. 449. Gobineau, Ungleichheit (Zitat). Zum Komplex des damals prosperierenden Rassismus existiert eine reichhaltige Literatur. Im Kontext des Kolonialismus u.a.: Schubert, Fremde, S. 59–64; SchulteAlthoff, Rassenmischung, S. 54–60; Gay, Kult, S. 89–108. Ideengeschichtliche Arbeiten zu Rassismus und Sozialdarwinismus u.a.: Geulen, Rassismus; Mosse, Rassismus; Mühlen, Rassenideologien; Banton, Idea; Memmi, Rassismus; Weikart, Origins. Mit Fokus auf die Popularisierung dieser Ideen und Ideologien: Schwarz, Schlüssel, S. 344–348; Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 65–83, 300–307.
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abzulehnendes Bevölkerungselement, sondern ein »natürliches Vermittlungsglied zwischen Europäern und Negern«. Bezeichnenderweise folgte Puttkamer in dieser Ansicht seinem Kameruner Vorgesetzten Soden.1381 Auch Bennigsen hatte in dieser Hinsicht wenig Berührungsängste. Er berichtete im Frühjahr 1901 über die kleine Tochter eines verstorbenen deutschen Händlers und einer Samoanerin, wobei er letztere mit »Frau Altmann« ansprach. Auch das achtjährige Mädchen nahm er positiv wahr, wachse dieses doch auf der abgelegenen Insel »wie eine wilde Blume« auf.1382 In Herbertshöhe waren sowohl Bennigsens als auch Hahls Sympathien ohnehin auf Seiten der ethnisch gemischten Großfamilie um die Halbsamoanerin ›Queen‹ Emma Coe-Kolbe. Als sich einmal eine Gruppe junger Melanesier durch abschätzige »Redensarten über die Halfcastfrauen« lustig machte, soll Paul Kolbe, der deutsche Ehemann der gesellschaftlich vollständig integrierten Matriarchin, sogar handgreiflich geworden sein, indem er die betreffenden »Männer bei dieser Gelegenheit gründlich verdroschen« habe. Bennigsen berichtete diesen Vorfall mit Genugtuung.1383 Auch Schnee hatte seinem Vater geschrieben, dass in Herbertshöhe mehrere Europäer mit »Samoahalfcasts« verheiratet seien, diesen Sachverhalt aber keineswegs in einem negativen Sinn kommentiert.1384 Auch amüsierten sich Schnee und Hahl über einen abtrünnigen katholischen Missionar, der sich »nach Eingeborenenrecht verheiratet« habe und kurzerhand »bei seinem Schwiegervater, einem Kanakerhäuptling am Varzin, Wohnung genommen« hatte.1385 Von einem eher entspannten Umgang mit interethnischen Verbindungen in Samoa und den dort um die Jahrhundertwende bereits recht zahlreichen ›Mischlingen‹ zeugte zunächst auch das Verhalten Solfs. Durchaus ähnlich wie das zuvor Soden und Puttkamer kommuniziert hatten, ließ er kurz nach der Übernahme der Inseln bekanntgeben, dass bei »gesetzlich« geschlossenen Mischehen die einheimische Ehefrau sowie die ehelich geborenen Kinder grundsätzlich den »Gerichtsstand« des europäischen Vaters er-
1381 BA-B R 1001/4644, Bl. 10–13, Puttkamer (Klein Popo) an Bismarck vom 31.5.1888, Bericht. Danach hatte Soden bereits 1886 dem Auswärtigen Amt den Vorschlag unterbreitet, der Gouverneur solle die Befugnis erhalten, Nichteuropäern, die »einer der christlichen Konfessionen angehören und hierüber eine Bescheinigung beizubringen vermögen«, den Rechtsstatus als Europäer zu verleihen. Puttkamer hatte allerdings die Frage nach den daraus resultierenden staatsbürgerlichen Pflichten, wie Wehrdienst oder Schulzwang, aufgeworfen. Der Begriff »Mulatte« als Synonym für ›Mischling‹ kommt in den Quellen offenbar nur in Zusammenhang mit Togo und Kamerun vor. Dabei dürfte es sich nicht um eine bewusst diskriminierende Wortwahl seitens der deutschen Kolonialverwaltung gehandelt haben. Vielmehr scheinen die an Westafrikas Küsten ansässigen afro-brasilianischen Kaufleute den Begriff mulato als Selbstzuschreibung verwendet zu haben. Die deutsche Kolonialverwaltung hat dessen deutsches Pendant dann offenbar übernommen. Anders: Sebald, Kolonialregime, S. 108; vgl. Amos, Afro-Brazilians. 1382 Bennigsen, Salomons-Inseln, S. 115. 1383 GStA PK Nl Schnee/32, Bennigsen an Schnee vom 21.12.1900, Schreiben; vgl. BA-B R 1001/5429, Bl. 46f., Hahl (Herbertshöhe) an RKA vom 21.10.1912, Bericht. Darin zählt Hahl dieses Umfeld zu den »kulturell und sozial hochstehenden Eingeborenen«. Siehe beispielsweise die Fotografien in: Hiery, Reich, S. 43 (Abb. 2); Steenken, Südsee, S. 174 (Bild 110). Allgemein: Hiery, Reich, S. 42; Biskup, Hahl, S. 81f. 1384 GStA PK Nl Schnee/2, Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 18.6.1899, Schreiben. 1385 Ebd., Schnee (Herbertshöhe) an seinen Vater vom 3.10.1899, Schreiben.
4. Herrschaftspraktiken
halten sollten, während bei unehelichen ›Mischlingen‹ der Gouverneur »mit Rücksicht auf ihre Lebensführung« über den Rechtsstatus befinden solle.1386 Auf der Basis vergleichbarer Überlegungen, in der praktischen Umsetzung aber zurückhaltender, verfuhr man einstweilen in Deutsch-Südwestafrika. Zwar bezeichnete Leutwein im Sommer 1896 die Verbindungen zwischen europäischen Männern und indigenen Frauen »keineswegs als eine erstrebenswerte Sache«, doch erschienen ihm solche Mischehen als »notwendiges Übel«, da er andernfalls mit einer Zunahme der Konkubinatsverhältnisse rechnete. Letzteres hätte seiner Ansicht nach bedeutet, »an Stelle des kleineren Übels ein größeres [zu] setzen.«1387 Andererseits wollte Leutwein das einschlägige Reichsrecht aber nicht ohne weiteres auf die Kolonie übertragen sehen. Er gab vielmehr zu bedenken, dass früher oder später für Südwestafrika eine Regelung darüber gefunden werden müsse, »in wie weit die Nachkommen von solchen [Mischehen] gleichfalls als Weiße zu betrachten sein würden.«1388 Da seiner Meinung nach eine »Beförderung derartiger Ehen nicht im Interesse« des ›Schutzgebietes‹ liege, regte er im August 1898 an, künftig keine standesamtlichen Trauungen bei ›gemischten‹ Paaren mehr vornehmen zu lassen. Dadurch hoffte Leutwein auf administrativem Wege verhindern zu können, dass die ›Mischlingskinder‹ »von selbst Reichsdeutsche« würden. Andererseits lehnte er jeden Automatismus aber ab, da er glaubte, dass »zwischen den Eingeborenen unseres Schutzgebietes in Beziehung auf die erreichte Kulturstufe ein bedeutender Unterschied hervortritt«. Demnach könne »eine Tochter aus der [Baster-]Familie Diergaard in Rehoboth […] unmöglich mit jedem Hottentotten- oder Hereromädchen auf eine Stufe gestellt werden.« Auch die europäischen Väter müssten »verschieden« bewertet werden, würde doch »der eine« es durchaus verstehen, »seine Kinder aus der Sphäre der eingeborenen Mutter herauszuheben, während der andere mit samt seinen Kindern selbst in dieselbe hinabsinkt.« Auch in Südwestafrika sei es daher Sache des Gouverneurs, auf der Grundlage kultureller Kriterien je nach Einzelfall zu entscheiden.1389 Gleichzeitig hatte angeblich Lindequist als »damals einziger Standesbeamter für das Schutzgebiet […] die Anträge auf standesamtliche Ziviltrauung […] konsequent abgelehnt«.1390 Die Berliner Zentrale war im August 1899 für eine solche Missachtung reichsrechtlicher Bestimmungen aber nicht zu haben und ordnete an, dass Paare von einem Standesbeamten nicht
1386 Solf (Apia) vom 1.7.1900, Bekanntmachung, abgedruckt in: SGB 1 (1900), S. 13; JB 1900/01, S. 2956; Solf (Apia) vom 3.3.1903, Bekanntmachung, abgedruckt in: SGB 3 (1903), S. 66f. Zwischen 1903 und 1912 wurden insgesamt 391 uneheliche ›Mischlinge‹ als ›Fremde‹, d.h. Europäer, eingestuft. Ermittelt aus: SGB 21, 26, 27, 29, 30, 32 (1903); SGB 33, 35, 37, 38, 39 (1904); SGB 40, 44 (1905); SGB 58 (1907); SGB 67, 68, 69, 73 (1908); SGB 98, 100 (1910); SGB 14, 15, 16, 17 (1911); SGB 34 (1912); SGB 40 (1913). 1387 BA-B R 1001/5423, Bl. 24, Leutwein (Windhuk) an KA vom 21.6.1896, Bericht; vgl. Zimmerer, Herrschaft, S. 95f. 1388 BA-B R 1001/5423, Bl. 24, Leutwein (Windhuk) an KA vom 21.6.1896, Bericht. Damals wurden in DSWA lediglich 33 Mischehen verzeichnet. BA-B R 1001/7430, Statistik über die weiße Bevölkerung zum 1.1.1896. 1389 BA-B R 1001/5423, Bl. 34f., Leutwein (Windhuk) an KA vom 23.8.1898, Bericht. 1390 BA-K N 1669/1, Bl. 61f., Lindequist, Erlebnisse. Dennoch scheinen einige wenige Ehen geschlossen worden zu sein. BA-B R 1001/7430, Bevölkerungsstatistiken für DSWA: 1.1.1894 36 Mischehen, 1.1.1899 45 Mischehen.
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allein »aus dem Grunde zurückgewiesen« werden dürften, weil die Braut »eine Eingeborene ist«.1391 Vorläufig lässt sich somit feststellen, dass die Mitglieder der Untersuchungsgruppe weder für die Mischehe noch für die aus solchen Verbindungen hervorgehenden Kinder eine besondere Sympathie aufbrachten. Andererseits sind aber Zeugnisse, aus denen deren übermäßige Problematisierung erkennbar wäre, bis zur Jahrhundertwende die Ausnahme. Lediglich bei Leutwein, mehr noch aber bei Lindequist ist eine distanziertere Haltung feststellbar. Die Deutungsmuster sollten aber im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg signifikante Veränderungen erfahren. Generell lässt sich konstatieren, dass fortan sowohl Mischehen und Konkubinate als auch die ›Mischlingskinder‹ als unerwünscht angesehen wurden. Die Gründe für diesen keineswegs auf die Gouverneure begrenzten Wandel sind vielfältig. Zweifellos entfalteten die beiden Imperialkriege eine katalytische Wirkung. Beide Konflikte kamen für die Europäer unerwartet und wurden als ernsthafte Bedrohung der eigenen Herrschaftsansprüche empfunden. Ein gesteigertes Misstrauen gegenüber den Indigenen war die unmittelbare Folge.1392 Darüber hinaus entwickelten sich in den letzten Jahren der deutschen Kolonialherrschaft die ›Mischlingsbevölkerungen‹ zunehmend dynamisch. Deren Zahl übertraf in Samoa bald sogar die der Europäer. Ebenfalls beträchtliche und rasch wachsende Anteile erreichten die ›Mischlinge‹ in Togo, Mikronesien und Südwestafrika. Im Gegensatz dazu blieb die Anzahl der als rechtsgültig eingestuften Verbindungen zwischen Europäern und Indigenen überschaubar. Selbst im Maximum handelte es sich lediglich um 98 Mischehen in Samoa, fünfzig in Südwestafrika und etwa zwanzig in Neuguinea und Mikronesien.1393 Diese im Vergleich zu den mehr als 3.500 zu Beginn des Jahres 1913 registrierten ›Mischlingskindern‹ auffällig niedrigen Werte lassen auf ein erhebliches Ausmaß sogenannter Konkubinate schließen.1394
1391 BA-B R 1001/5423, Bl. 49, KA an Leutwein vom 3.8.1899, Erlass. Pikanterweise war Lindequist zum Zeitpunkt des Erlasses als Referent im Justiz- bzw. im Westafrika-Referat der Kolonialabteilung tätig. Ein Indiz für einen vorläufig noch gering anzusetzenden Stellenwert rassenideologischer Gedankengänge ist auch darin zu sehen, dass die mit Europäern verheirateten indigenen Frauen in den jährlichen »Übersichten über die gesamte europäische Bevölkerung im südwestafrikanischen Schutzgebiet« bis 1903 zu den Europäern gerechnet wurden. BA-B R 1001/7430. Darauf verweist bereits: Kundrus, Imperialisten, S. 241f. 1392 Schubert, Fremde, S. 227–246; ders., Rassenbegriffe, S. 46f.; Gründer, Stellenwert, S. 38; Kundrus, Imperialisten, S. 233. 1393 Während in Samoa das Maximum im Jahr 1907 erreicht wurde, repräsentiert die Zahl für Südwestafrika das Jahr 1909. Wareham, Race, S. 179; JB 1908/09, S. 805. Hiery, Reich, S. 40f., nennt zum 1.1.1913 für Neuguinea fünf und für das ›Inselgebiet‹ 17 rechtsgültige Mischehen, zusammen also 22. Vgl. BA-B R 1001/5429, Bl. 48–63, Gouvernementsratssitzung vom 18.10.1912. Für alle Kolonien zusammen wird eine Zahl von 166 angenommen. Gründer, Stellenwert, S. 36. 1394 Inwieweit die vielzitierte Schätzung des Missionars Kassiepe aus dem Jahr 1912, wonach neunzig Prozent aller europäischen Männer in den ›Schutzgebieten‹ Beziehungen zu indigenen Frauen unterhalten hätten, belastbar ist, muss offenbleiben. Dieser Angabe folgen z.B.: Schule-Althoff, Rassenmischung, S. S. 53; Gründer, Stellenwert, S. 36f. Zu bedenken ist dabei, dass etwa ein Viertel der betreffenden Männer zu dieser Zeit mit europäischen Frauen verheiratet war, von denen die meisten auch vor Ort waren. Ermittelt nach: JB 1911/12 (Statistischer Teil), S. 8, 12, 19f., 29, 33. Trotzdem
4. Herrschaftspraktiken
Tabelle 14: Anzahl der Europäer und der registrierten ›Mischlinge‹ in den ›Schutzgebieten‹, 19131395 ›Schutzgebiet‹
Europäer
›Mischlinge‹
Deutsch-Ostafrika
5.336
114
Kamerun
1.871
110
Togo
368
263
Deutsch-Südwestafrika
14.830
1.746
Deutsch-Neuguinea
1.427
281
Samoa
544
1.025
24.376
3.539
Insgesamt
Ungeachtet dessen bezogen sich die auf politischer, administrativer und medialer Ebene ausgetragenen Auseinandersetzungen in erster Linie auf die Zulässigkeit der Mischehe. Dementsprechend ergingen zwischen 1905 und 1912 seitens mehrerer Gouvernements Dekrete, die auf eine Unterbindung der standesamtlichen Beurkundung abzielten.1396 In Südwestafrika handelte es sich dabei um eine Initiative des Referenten Tecklenburg, wobei dessen Vorgehen von Lindequist, der einige Wochen später als neuer Gouverneur im ›Schutzgebiet‹ eintraf, sanktioniert wurde. In Windhuk ging man zudem mit dem Versuch einer nachträglichen Annullierung der bereits bestehenden Verbindungen, einer Unterbindung kirchlicher Trauungen sowie einem Entzug des kommunalen Wahlrechts für die europäischen Ehemänner besonders weit.1397 Auch in Ostafrika wies Götzen seine Standesbeamten an, vor jeder gemischtethnischen Trauung dem Gouvernement zu berichten und dessen Entscheidung abzuwarten. Nach der Abreise des Grafen im April 1906 setzte Haber als sein Stellvertreter diese Linie fort.1398 In Samoa hatte sich dagegen der aus Togo kommende Adolf Schlettwein gewei-
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ist zweifellos von einer hohen Zahl von Konkubinatsverhältnissen in allen deutschen Kolonien auszugehen. JB 1912/13 (Statist. Teil), S. 8, 34, 38f., 45, 54f., 58, 60. Im Deutschen Koloniallexikon beruht die Angabe für Neuguinea (inkl. Mikronesien) auf einem Übertragungsfehler, der zum Teil Eingang in die Forschungsliteratur gefunden hat. Krauß, Mischlinge, S. 567. Gemäß dem letzten unveröffentlichten Jahresbericht bezifferte sich die dortige Zahl zum 1.1.1914 auf 376 ›Mischlinge‹ gegenüber 1.640 Europäern. BA-B R 1001/6598, JB 1913/14, S. 31, 38f. Auch einige Zahlen bei Schulte-Althoff, Rassenmischung, S. 53, Anm. 5, sind korrekturbedürftig. In den offiziellen Zahlen sind jedoch nicht alle Kinder von Europäern und indigenen Frauen enthalten. Sebald schätzt für Togo etwa die doppelte Zahl. Auch Hiery geht für Samoa von einer hohen Dunkelziffer aus. Sebald, Togo, S. 266; Hiery, Reich, S. 41, Anm. 59. Zu den Mischehen u.a.: Schulte-Althoff, Rassenmischung, S. 61; Hiery, Reich, S. 45f.; Zimmerer, Herrschaft, S. 99–106; Kaulich, Geschichte, S. 277–279; Gründer, Stellenwert, S. 38f.; Kundrus, Imperialisten, S. 242–249; Wareham, Race, S. 138–146. BA-K N 1037/8, Tecklenburg vom 23.9./1.10.1905, Rundverfügung; BA-B R 1001/5423, Bl. 80–83, Lindequist (Windhuk) an KA vom 12.8.1906, Bericht; vgl. Spiecker, Tgb., S. 410f., 446 (4.10., 15.11.1906). BA-B R 1001/5421, Bl. 16. Götzen (Daressalam) an Bezirksrichter von Tanga vom 17.3.1906, Erlass; ebd., Bl. 16, Götzen (Daressalam) an Missionskaufmann Thiel vom 17.3.1906, Bescheid; ebd., Bl.
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gert, Mischehen zu beurkunden. Als neuer Bezirksrichter in Apia wurde er dabei von Solf unterstützt. Am Ende stand ein Erlass, worin dieser – inzwischen zum Staatssekretär im Reichskolonialamt avanciert – künftig Mischehen in Samoa möglichst verhindert sehen wollte. Seinem Nachfolger in Samoa gegenüber hatte Solf allerdings betont, dass es sich dabei lediglich um eine allgemeine Handlungsempfehlung handele. Die Einzelfallentscheidung läge auch weiterhin beim Gouverneur. Schultz setzte den Erlass im August 1912 um.1399 Der Übergang zu derartigen Sichtweisen lässt sich aber bereits früher konstatieren. Liebert forderte etwa im Mai 1904 auf dem Alldeutschen Verbandstag in Lübeck vor dem Hintergrund des kurz zuvor ausgebrochenen Hererokrieges ein generelles »Verbot von Ehen zwischen Weißen und Farbigen«, andernfalls drohe in den Kolonien ein »Rassenverderb«.1400 Auch Götzen äußerte sich eindeutig über die »Gefahr einer Rassenvermischung«, argumentierte unter dem Eindruck des Maji-Maji-Krieges in erster Linie aber machtpolitisch: Ihm zufolge bestehe für die Kolonialverwaltung geradezu eine Verpflichtung, die »Beziehungen der weißen zur farbigen Rasse in gewisse Bahnen zu lenken«. Ansonsten drohe für die Europäer ein »Verlust an Prestige«, was wiederum zur Folge habe, dass man sich »gegenüber der ungeheuren numerischen Überlegenheit der Neger nicht wird behaupten können.«1401 Auch Leutwein und Lindequist sprachen sich im Gefolge des Herero-Nama-Krieges unmissverständlich für die Aufrechterhaltung der »Rassengemeinschaft« zwischen Peripherie und imperialem Zentrum aus, wobei Lindequist die Mischehen derart interpretierte, dass ein weißer Mann »sich erniedrigt«, wenn er »mit einer social tief unter ihm stehenden Eingeborenen eine Verbindung« eingehe.1402 Damit verwies er zugleich auf die verbreitete Befürchtung, ein Europäer könne durch das Zusammenleben mit einer indigenen Frau deren kulturelle Praktiken annehmen und somit einem »Verkaffern« (Afrika) oder »Verkanakern« (Ozeanien) anheimfallen.1403 Solche Ängste hatte auch Solf früh thematisiert. Im März 1906, lange vor seinem oft zitierten Mischehen-Erlass, wies er seinen Stellvertreter in Samoa an, einem Beamten des Gouvernements mit der sofortigen Entlassung zu drohen, sollte dieser auf seinen Heiratsabsichten mit einer Samoanerin beharren.1404 Die Wirkung solcher Drohungen
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16, Götzen (Daressalam) an Bezirksrichter in Daressalam sowie die Bezirkschefs von Wilhelmstal, Langenburg, Moschi vom 17.3.1906, Erlass; ebd., Bl. 14, Haber (Daressalam) an KA vom 12.6.1906, Bericht; vgl. JB 1905/06, S. 29. BA-B R 1001/5432, nach Bl. 81, Solf an Schultz vom 17.1.1912, Erlass; ebd., Bl. 161, Schultz (Apia) vom 2.8.1912, Bekanntmachung. Liebert, Zukunftsentwicklung, S. 193. Götzen, Aufstand, S. 11f. Leutwein, Jahre, S. 234 (Zitat 1); BA-B R 1001/5423, Bl. 80–83, Lindequist (Windhuk) an KA vom 12.8.1906, Bericht (Zitate 2+3); vgl. Zimmerer, Herrschaft, S. 100f., der die letzte Passage unkorrekt zitiert und von einer »soviel tief unter ihm stehenden Eingeborenen« spricht. In dem in Berlin eingegangenen Originalschreiben handelt es sich zweifelsfrei um das Adjektiv »social«. Allgemein hierzu: Axster, Angst; Gründer, Stellenwert, S. 37; Hiery, Reich, S. 48f.; Kundrus, Imperialisten, S. 226, 276. BA-K N 1053/132, Bl. 46–51, Solf (Berlin) an Schultz vom 16.3.1906, Schreiben.
4. Herrschaftspraktiken
blieb jedoch begrenzt. Schultz schrieb ein knappes Jahr später an Schnee, dass inzwischen die Eheschließungen von Beamten »mit einer Halfcaste […] überhaupt überhand« nehmen würden.1405 Auch Solf musste gegenüber der Kolonialabteilung eingestehen, dass ein einschlägiges Verbot für Staatsdiener von ihm zwar »erwünscht«, zurzeit aber kaum durchsetzbar sei. Ein bloßer »Rat« an einen Heiratswilligen soll »unter den alten weißen Ansiedlern eine ziemliche Entrüstung hervorgerufen« und sogar »anonyme Drohbriefe« gegen den Gouverneur zur Folge gehabt haben.1406 Das änderte freilich nichts an Solfs Überzeugungen, waren doch die Verbindungen zwischen Europäern und Indigenen für ihn letztlich »geschmacklos« und »unmoralisch«.1407 Solche im Vergleich zu den ersten Jahren seiner Amtszeit modifizierten Äußerungen begründete er damit, dass er aufgrund eigener Beobachtungen in Britischund Niederländisch-Indien sowie in den Südstaaten der USA ein »instinktiver Gegner der Mischehe zwischen Eingeborenen und Nicht-Eingeborenen« geworden sei. In Samoa habe er diese »wenig sympathische, unerfreuliche Erscheinung« lediglich in der anfänglichen Annahme in Kauf genommen, »dass sich dagegen Nichts machen lasse«. Erst seit der Aufstellung eines Zehnjahresprogramms für die künftige Entwicklung der Kolonie im Herbst 1907 habe er der »Mischlingsfrage unausgesetzt besondere Aufmerksamkeit gewidmet«. Dabei sei er »zu der Überzeugung gekommen, dass es für Samoa die höchste Zeit ist, gegen die Weiterverbreitung der Mischlinge mit radikalen Mitteln vorzugehen.«1408 Als verwerflichste Form gemischter Verbindungen galt allerdings nicht nur für Solf die Eheschließung einer europäischen Frau mit einem indigenen Mann. Für den Fall eines derartigen Antrags instruierte er den Standesbeamten in Apia eindeutig:1409 »Er soll, ohne in irgendeine rechtliche Prüfung einzugehen, den Samoaner mit samt seiner Braut an die Luft setzen und seiner vorgesetzten Behörde zur geneigten Erwägung anheimgeben, ob für diese Art der Eheirrungen nicht etwa Prügelstrafe an beiden Nupturienten angebracht sei.« Bezeichnenderweise spielten in solchen Fällen auch die ansonsten von Solf thematisierten Abstufungen zwischen mehr oder weniger ›edlen Wilden‹ keine Rolle mehr: »Ob der männliche Nupturient Samoaner ist oder Eingeborener von Australien oder Afrika bleibt sich gleich.«1410
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GStA PK Nl Schnee/52, Schultz (Apia) an Schnee vom 2.2.1907, Schreiben. BA-B R 1001/5432, Bl. 23, Solf vom 18.8.1906, Vermerk; Hiery, Reich, S. 44, Anm. 67. BA-B R 1001/5432, Bl. 25, Solf an RKA vom 15.9.1907, Bericht (Zitate). Ebd., Bl. 75f., Solf (Kreuth) an St./RKA vom 3.10.1911, Bericht. Die vorliegenden Biographien zu Solf sind ausgerechnet hierzu unergiebig: Vietsch, Solf, S. 116f.; Hempenstall/Mochida, Man, S. 94f. Ersterer behandelt dieses Thema nur am Rande und erwähnt den Mischehenerlass vom 17.1.1912 überhaupt nicht. Hempenstall/Mochida setzen sich zwar knapp mit Solfs weitreichender Ablehnung von Mischehen und ›Mischlingen‹ auseinander, erfassen die Problematik aber nur unvollständig. Dass Solf am Ende angesichts der Widerstände im Reichstag dazu gezwungen worden sein soll, die Zulassung der Mischehen zu akzeptieren, lässt sich ohnehin nicht halten. 1409 BA-B R 1001/5432, Bl. 43f., Solf vom 7.10.1910, Vermerk für H. Schlettwein. 1410 Ebd.
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Unter den männlichen Europäern erschienen Solf die Kleinsiedler gegenüber ›fremden‹ Einflüssen am meisten gefährdet. Die Angehörigen dieser Gruppe kamen in der Regel aus den Unter- oder Mittelschichten der Heimatgesellschaft und verfügten nach seiner Einschätzung über zu geringe Ressourcen, um sich ausreichend von den Einheimischen abgrenzen zu können. Den »kleinen Mann in den Tropen« verortete Solf daher ausdrücklich »an der Grenze der colour line« und sah diesen auch »kaum als Träger unserer Kultur« an.1411 Im Gegenteil dazu war er davon überzeugt, dass gerade auf diesen Personenkreis die samoanische Lebensweise eine »energietötende Wirkung« entfalte. Das Resultat sei stets ein »würdeloser Weißer, der mit dem Lendenschurz bekleidet in den Hütten der Samoaner herumlungert«. Überhaupt sah er Samoa als das »Capua des kleinen Mannes«.1412 Mit solchen Äußerungen offenbart Solf zugleich seine Perspektive auf die Sozialordnung des Kaiserreichs. Zweifellos sah er in seiner eigenen Herkunftssphäre eine Quelle der eigenen Kultur. Nur die bürgerlichen Kreise galten ihm als ›Kulturträger‹ und zur Kolonisierung vermeintlich inferiorer Ethnien befähigt. Erst vor diesem Hintergrund gewinnen Solfs mehrfach wiederholte Aussagen, wonach »die Hautfarbe an sich« kaum von zentraler Bedeutung sei, an Konturen.1413 Entscheidend waren für ihn – ebenso wie für die meisten seiner Gouverneurskollegen – der dem jeweiligen Gegenüber zugeschriebene kulturelle Status. Nach dieser Lesart stand zwar der ›niedrigste‹ Angehörige der eigenen Nation potentiell immer noch auf einem höheren Niveau als die Angehörigen der sogenannten ›Naturvölker‹, doch wurde die colour line als Grenzmarke keineswegs als statisch, sondern durchaus als durchlässig interpretiert. Auch ein Europäer konnte demnach auf die Stufe der Indigenen ›hinabsinken‹ und dadurch im Hinblick auf seine gesellschaftliche Akzeptanz den Status als ›Weißer‹ einbüßen. Eine vergleichbare Sicht auf europäische Männer, die eine Verbindung mit einheimischen Frauen eingingen, vertrat Lindequist. Im Gegensatz zu Solf war er einer Ansiedlung von Vertretern der heimischen Unter- und Mittelschichten in Deutsch-Südwestafrika zwar keineswegs abgeneigt.1414 Sein Vorschlag einer sozialen Disziplinierung bestand jedoch darin, dass Verbindungen zwischen Europäern und Indigenen kurzerhand »ebenso behandelt werden wie Ehen von Eingeborenen untereinander«. Der Ehemann müsse es daher in Kauf nehmen, dass er im Hinblick auf seinen Rechtsstatus »auf die Stufe der Eingeborenen hinab« sinke.1415 Zwar ließ sich eine solche Deklassierung formaljuristisch kaum durchsetzen, doch verweigerte Lindequist den Betreffenden kurzer-
1411 BA-K N 1053/27, Bl. 76–90, Solf, o.D. [1906], Der kleine Mann in den Tropen (Zitat 1); Solf an St./RKA vom 11.4.1910, Bericht, zitiert nach: Hiery, Einführung, S. 20 (Zitat 2); Solf, Eingeborene, S. 26 (Zitat 3). 1412 Ebd., S. 27 (Zitate). Möglicherweise meint Solf die Mittelmeerinsel Capreae (Capri), wo der altrömische Kaiser Tiberius sich dem Wohlleben und Müßiggang sowie sexuellen Ausschweifungen hingegeben haben soll. 1413 BA-B R 1001/5432, Bl. 43f., Solf vom 7.10.1910, Vermerk für H. Schlettwein (Zitat); vgl. BA-B R 1001/2759, Bl. 155, Solf vom 15.6.1905, Vermerk. 1414 Siehe Kapitel 4.5.2. 1415 BA-B R 1001/5423, Bl. 80–83, Lindequist (Windhuk) an KA vom 12.8.1906, Bericht; Spiecker, Tgb., S. 410f. (4.10.1906). Ähnlich: Solf, Eingeborene, S. 28.
4. Herrschaftspraktiken
hand jegliche staatlichen Zuschüsse und förderte zugleich deren gesellschaftliche Ächtung.1416 Gegen diejenigen Ansiedler in Südwestafrika, die »von ihrem eingeborenen Weibe nicht lassen wollen und so sich der Gefahr der Verkafferung aussetzen«, richtete auch Seitz seine Aufmerksamkeit.1417 Dabei hatte er keineswegs ausschließlich die Mischehen im Blick, sondern auch die viel größere Zahl von Konkubinatsverhältnissen. Bereits als Gouverneur von Kamerun war er an das Reichskolonialamt mit der Anregung herangetreten, dass jeder Beamte, der »sich hier die Syphilis holt, sofort entlassen u. als syphilitisch seiner Heimatsbehörde überwiesen wird«. Bezeichnenderweise ging es ihm dabei in erster Linie um »ein gutes Abschreckungsmittel gegen die Schweinerei mit schwarzen Weibern, die die Leute seelisch u. körperlich herunterbringt.«1418 Nach seinem Wechsel nach Südwestafrika entwickelte sich Seitz auch dort zu einem der vehementesten Gegner jeglicher Geschlechtsverbindungen zwischen Europäern und Indigenen. Erneut waren es die vermeintlichen Einflüsse der indigenen Frauen auf die europäischen Männer, die eine maßgebliche Rolle für seine Ablehnung von Mischehe und Konkubinat spielten. Dass es dabei um irrationale Ängste ging, umschrieb Seitz mit literarischem Bezug, ziehe doch seiner Ansicht nach das »Ewigweibliche« den Mann stets zu sich »hinab«.1419 Auch handelte es sich keineswegs um bloße moralische Vorbehalte, wie eine Anregung von Seitz’ Vorgänger Schuckmann aus dem Oktober 1908 belegt. Ausgerechnet er, der sich vor seiner Ernennung zum Gouverneur entrüstet über das Berliner Nachtleben geäußert hatte, forderte das Reichskolonialamt auf, »weiße Prostituierte unter genügender Kontrolle« in Südwestafrika zuzulassen. Damit hoffte er eine »Beseitigung und Ablenkung der Gelegenheit« zum Geschlechtsverkehr zwischen Europäern und Indigenen zu erreichen. »Nur durch Zulassung weißer Prostituierter«, so Schuckmann, könnten sowohl die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten gestoppt als auch andere »Übel« beseitigt werden:1420 »Wie soll der Schwarze vor dem Weißen Achtung haben, wenn die Weißen sich fortgesetzt mit den farbigen Weibern abgeben, zum Teil aber sogar im betrunkenen Zustande.« Neben der unerwünschten Nachkommenschaft war es nicht zuletzt die Furcht vor einem Verlust der vermeintlichen Dominanz eigener Kulturpraktiken. Trotzdem sich solche Überlegungen für die meisten Gruppenmitglieder feststellen lassen, kann von einem völligen Konsens kaum eine Rede sein. Vielmehr gab es durchaus abweichende Positionen. Beispielsweise erklärte Schnee, er sei in Bezug auf Samoa »jedenfalls gegen eine
1416 BA-K N 1669/1, Bl. 90–93, Lindequist vom 19.9.1906, Denkschrift. Diese findet sich abgedruckt in: Jacob, Kolonialpolitik, S. 322–326; BA-B R 1001/5423, Bl. 80–83, Lindequist (Windhuk) an KA vom 12.8.1906, Bericht. 1417 Ebd., Bl. 146–148, Seitz an RKA vom 24.2.1911, Bericht; vgl. Seitz, Aufstieg 3, S. 61. 1418 GStA PK Nl Schnee/50, Seitz (Buea) an Schnee vom 5.4.1910, Schreiben. 1419 Seitz, Aufstieg 3, S. 61. 1420 BA-B R 1001/6040, Bl. 7–10, Schuckmann (Windhuk) an RKA vom 6.10.1908, Bericht; Kundrus, Imperialisten, S. 246f.
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Verhinderung der [Misch-]Ehen«.1421 Auch Schultz zog es vor, die »Mischehe in Samoa für giltig [sic!] zu halten«.1422 Als das inzwischen von Solf geleitete Reichskolonialamt im Januar 1912 die Beschwerde eines Ansiedlers über die Verweigerung der Trauung mit einer Samoanerin zurückweisen wollte, äußerte wiederum Schnee »Bedenken juristischer und samoanisch-politischer Art« und verweigerte als Leiter der politischen Abteilung kurzerhand seine Mitzeichnung.1423 Widerspruch gegen Einzelmaßnahmen regte sich keineswegs ausschließlich mit Bezug auf Samoa. Auch Schuckmann erklärte angesichts der Urteilspraxis der seinem Einwirken entzogenen Gerichtsbehörden in Windhuk, welche sogar bereits bestehende Mischehen nicht gelten lassen wollten, er »persönlich stehe nicht auf dem Standpunkt dieses Urteils«. Das begründete er insbesondere mit den damit verbundenen Härten für die Betroffenen.1424 Darüber hinaus sah er sich zu praktischen Maßnahmen genötigt. Während er die Bestimmung seines Vorgängers, wonach die mit einheimischen Frauen verheirateten Ansiedler keine öffentlichen Finanzhilfen mehr erhalten sollten, offenbar ignorierte, sagte er einem vom Entzug des Bezirkswahlrechts betroffenen Ansiedler seine wohlwollende Einzelfallprüfung zu.1425 Zu einer Aufhebung der unter Lindequist erlassenen Verfügung, wonach die Standesämter grundsätzlich keine neuen Mischehen mehr beurkunden durften, konnte sich Schuckmann aber nicht durchringen.1426 Tatsächlich sah auch er diese Verbindungen als unerwünscht an, hielt es aber gleichzeitig für einen Fehler, »dass die Regierung sich einmischt.«1427 Neben den geschlechtlichen Verbindungen zwischen Europäern und Indigenen bezogen sich die Auseinandersetzungen auch auf die wachsende Zahl der ›Mischlinge‹. Einerseits handelte es sich dabei um die Frage von deren Rechtsstatus. In Samoa waren es beispielsweise häufig die Betroffenen selbst, die bei den Behörden um ihre rechtliche Gleichbehandlung mit den Europäern nachsuchten. Nicht selten – besonders in
1421 BA-B R 1001/5432, Bl. 25, Solf (Apia) an RKA vom 15.9.1907, Bericht. Die zitierte Marginalie Schnees datiert auf den 9.4.1908; Hiery, Reich, S. 45. 1422 BA-B R 1001/5432, Bl. 45–50, Schultz (Apia) vom 27.9.1910, Vermerk. Die Stellungnahme Schultzʼ ging als Bestandteil eines Berichts vom 18.10.1910 an das RKA. Dort traf dieser am 5.12.1910 ein. Schnees Marginalie fiel wiederum zustimmend (»auch meine Ansicht«) aus. Hiery, Reich, S. 45. 1423 BA-B R 1001/5432, Bl. 79, RKA an Grevel vom 17.1.1912, Erlass. Handschriftlicher Vermerk Schnees vom 12.1.1912; vgl. Schnee, Gouverneur, S. 113f. 1424 BA-B R 1001/2086, Bl. 62–65, Schuckmann (Windhuk) an RKA vom 2.10.1908, Bericht. Schuckmann bezieht sich auf ein Urteil des Bezirksgerichts in Windhuk vom 26.9.1907 (BA-B R 1001/2086, Bl. 67–69), das vom dortigen Obergericht bestätigt wurde; vgl. Zimmerer, Herrschaft, S. 102–104. 1425 BA-B R 1001/5418, Bl. 347f., BA Rehoboth an Gouv. vom 19.2.1914, Bericht. Es handelte sich um Wilhelm Panzlaff, »zu dessen Gunsten der Gouverneur von Schuckmann im Jahre 1908 eine Durchbrechung des früheren Grundsatzes verfügte, nach welchem einem mit einer Eingeborenen, wenn auch standesamtlich getrauten Farmer, keinerlei Regierungsunterstützung zuteil werden sollte.« Zu weiteren vergleichbaren Aktivitäten Schuckmanns: NAN Geh. Akten VIIg, Bl. 1–3, Carl Becker (Vaalgras) an Schuckmann vom 1.9.1909, Eingabe, auch abgedruckt in: Gründer, Deutschland, S. 285–287; BA-B R 1001/2058, Bl. 192, Schuckmann (Windhuk) an Carl Becker vom 11.10.1909, Erlass; ebd., Bl. 191, Schuckmann (Windhuk) an RKA vom 20.10.1909, Bericht; NAN Geh. Akten VIIg, Bl. 9f., RKA (Dernburg) an Schuckmann vom 11.12.1909, Erlass. 1426 Vgl. Schuckmann im RT am 2.3.1909, in: Verhandlungen RT, Bd. 235, S. 7282. 1427 BA-B R 1001/2086, Bl. 62–65, Schuckmann (Windhuk) an RKA vom 2.10.1908, Bericht.
4. Herrschaftspraktiken
Südwestafrika – ging es daneben um erbrechtliche Fragen, was die europäischen Väter veranlasste, die Anerkennung ihrer Kinder als ›Weiße‹ zu betreiben. Gerade solche Bestrebungen wurden von Seiten der Kolonialbehörden aber als Gefahr für die koloniale Ordnung interpretiert. War bislang im Hinblick auf Kolonisierende einerseits und Kolonisierte andererseits eine Grenzziehung zwischen dem ›Wir‹ und dem ›Anderen‹ verhältnismäßig problemlos möglich gewesen, drohte diese Trennungslinie angesichts der wachsenden ›Mischlingsbevölkerung‹ und ihren Bemühungen um rechtliche Aufwertung aufzuweichen. Das System kolonialer Herrschaft, das vor allem auf einer konstruierten Eindeutigkeit von Differenz basierte, schien dadurch weit mehr als durch die geringe Zahl der Mischehen oder die rechtlich unverbindlichen Konkubinate in Frage gestellt.1428 Nicht zufällig glaubte man im Sommer 1912 auch im Reichskolonialamt, in der »Mischlingsfrage eines der wichtigsten Probleme der Kolonialpolitik« erkennen zu müssen.1429 Befürchtungen und Ängste lassen sich wiederum besonders für die südwestafrikanischen Gouverneure nachweisen. Die Interessen einer Siedlungskolonie und der als traumatisch empfundene Krieg gegen Herero und Nama spielen hierbei erneut eine entscheidende Rolle. Dementsprechend gab Leutwein in seiner Rechtfertigungsschrift aus dem Jahr 1906 zu bedenken, dass die »Gefahr« bestehe, »in 50 Jahren keine deutsche Kolonie mehr zu haben, sondern eine Bastardkolonie.«1430 Zur selben Zeit warnte Lindequist die Kolonialabteilung vor der »drohenden Gefahr, dass durch die Rassenvermischung die Kolonie sehr bald ihres deutschen Charakters […] verloren geht.«1431 Auch Seitz sah sich einige Jahre später im »Kampf gegen das Heranwachsen einer sozial und politisch gefährlichen Mischrasse«, wobei er ebenfalls die Ansicht vertrat, dass im Falle einer nachlässigen Behandlung des Themas die Kolonie »mit absoluter Sicherheit dem Deutschtum verloren geht.«1432 Frühzeitig warnte auch Solf vor den vermeintlich »üblen Folgen der Rassenvermischung« in Samoa. Er forderte daher, ein weiteres »Zunehmen der Halfcastes« unbedingt zu verhindern. Dies geschehe letztlich »im Interesse der herrschenden Rasse, die, wenn sie die Eigenschaften des Herren nicht einbüßen will, rein bleiben muss.«1433 Allgemeiner, zum Teil aber mit noch größerer Schärfe äußerte sich wiederum Liebert. In einer Rede aus dem Jahr 1912 bezog er sich ausdrücklich auf die Thesen Arthur de Gobineaus und behauptete, dass »aus der Vermischung fremder Rassen« das »größte Unheil« entstehen müsse. Lieberts sozialdarwinistisch gefärbte Ausführungen beschworen eine imaginäre Auseinandersetzung zwischen Europäern und Indigenen um die Vorherrschaft in den Kolonien:1434 1428 1429 1430 1431
Schulte-Althoff, Rassenmischung, S. 52, 93f.; Sippel, Interesse, S. 141f.; Gründer, Stellenwert, S. 37. BA-B R 1001/5421, Bl. 24f., RKA (Gleim) an alle Gouverneure vom 29.7.1912, Erlass. Leutwein, Jahre, S. 234. BA-B R 1001/5423, Bl. 80–83, Lindequist (Windhuk) an KA vom 12.8.1906, Bericht; vgl. Zimmerer, Herrschaft, S. 100f., der nicht alle Passagen korrekt wiedergibt. 1432 BA-B R 1001/5418, Bl. 275–278, Seitz (Windhuk) an RKA vom 11.9.1913, Bericht (Zitat 1); ebd., Bl. 346+349, Seitz (Windhuk) an RKA vom 6.3.1914, Bericht (Zitat 2). Ähnlich in: BA-B R 1001/5423, Bl. 224f., Seitz (Windhuk) an RKA vom 24.5.1912, Bericht; BA-B R 1001/5418, Bl. 291, Seitz (Windhuk) an RKA vom 17.11.1913, Bericht. 1433 BA-B R 1001/5432, Bl. 25, Solf an RKA vom 15.9.1907, Bericht; Solf, Eingeborene, S. 31. 1434 Liebert, Mischehen, S. 341f.
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»20.000 Weiße stehen etwa 13 Millionen Farbige gegenüber. Ist es nicht unbedingt erforderlich, dass wir die weiße Haut als das Vorrecht des Herrenvolks, der herrschenden Rasse wahren? Wie will diese sich sonst behaupten?« Ungeachtet solcher Szenarien, die vor allem ein hohes Maß an Verunsicherung auf Seiten der ›Herren‹ wiederspiegeln, blieb eine definitive und einheitliche Regelung über den konkreten Status aller ›Mischlinge‹ aus. Entscheidend war wiederum deren Deutung durch die Europäer. Einerseits war auch unter den Gouverneuren das Vorurteil verbreitet, wonach ethnisch gemischte Eltern vor allem negative Charaktereigenschaften an die gemeinsamen Kinder vererben würden.1435 Auch Liebert vertrat diese Ansicht, sei dies doch eine Folge der »Verachtung des Vaters und der Scheu der Mutter ihnen gegenüber, sie sind überall ausgestoßen und nicht als voll angesehen, daher bildet sich bei ihnen Mißtrauen, Heimtücke, Hinterlist aus.« Dazu käme, dass das »ganze Leben der Farbigen […] um die Ausübung des Geschlechtstriebes« kreise. Somit würde auch bei den ›Mischlingskindern‹ die anfangs vorhandene »geistige Aufnahmefähigkeit« durch eine »völlige Stumpfheit« im Erwachsenenalter abgelöst.1436 Trotz aller Schärfe schloss damit selbst ein häufig biologistisch argumentierender Hardliner wie Liebert sozialpsychologische Faktoren nicht aus. Solche Aspekte rückte auch Haber in den Vordergrund, der die Legitimierung der Tochter des Stationsleiters von Morobe (Neuguinea) und einer Melanesierin befürwortete, da das Mädchen in Deutschland und somit »fern von allen schädigenden Einflüssen seines Geburtslandes« aufwachse.1437 Noch deutlicher – wenngleich erst in seinen 1926 erschienenen Erinnerungen – ging Schultz auf diesen Aspekt ein. Abweichend von Solfs Ansichten habe es sich ihm zufolge bei den ›Mischlingen‹ in Samoa meist um »körperlich und geistig gut veranlagte und entwickelte Individuen« gehandelt. Etwaige »Charaktermängel« seien dagegen auf Umwelteinflüsse zurückzuführen gewesen. Bezeichnend für den kulturmissionarisch fundierten Rassismus bei Schultz entsprach es wiederum seiner Überzeugung, dass die in Europa aufwachsenden ›Mischlingskinder‹ »durchgängig gut einschlagen« würden.1438 Solche Ansichten verhinderten allerdings nicht, dass zumindest die in den Kolonien verbleibenden ›Mischlinge‹ in den Augen der meisten Gouverneure unter dem Generalverdacht mangelnder Loyalität, geringer Pflichtauffassung sowie fehlendem Leistungswillen standen. Als Beispiel lässt sich Solfs publizierter Vortrag aus dem Jahr 1908 anführen. Zwar glaubte er bei den »Halfcastes« in Samoa äußerlich einen »ausgesprochen arischen Typ« erkennen zu können, weshalb er sie »wegen ihrer Farbe« mit den »Südländern Europas« verglich.1439 Sein ethnozentrisch geprägtes ästhetisches Empfinden hielt ihn jedoch nicht davon ab, vermeintliche Defizite in anderen Bereichen anzuführen. So handele es sich ihm zufolge oft um »hübsche«, dabei »aber oberflächliche und
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Solf, Eingeborene, S. 31; Leutwein, Jahre, S. 234; Seitz, Aufstieg 3, S. 61. Liebert, Mischehen, S. 342. BA-B R 1001/5429, Bl. 106, Haber (Rabaul) an RKA vom 7.6.1914, Bericht. Schultz-Ewerth, Erinnerungen, S. 125–127; ähnlich: Thilenius, Mischlinge, S. 566. Solf, Eingeborene, S. 24f.; vgl. BA-K N 1053/27, Bl. 64–113, Solf, o.D. [1906], Entwicklung des Schutzgebiets (Programm); BA-B R 1001/5432, Bl. 25, Solf an RKA vom 15.9.1907, Bericht.
4. Herrschaftspraktiken
geistesarme Mischlingsmädchen«. Mit der Behauptung, diese würden mit einer »einschmeichelnden Sinnlichkeit« auftreten, bediente er sich wiederum eines bereits thematisierten Vorurteils, das er von den übrigen Einheimischen kurzerhand auf diese Kleingruppe übertrug.1440 Mit aufgesetzter Sorge um die indigenen Gesellschaften behauptete er schließlich, dass durch die »üblen Folgen der Rassenvermischung« auch diese »verhunzt«, »degeneriert und debauchiert« würden.1441 Ungeachtet aller Differenzierungen lässt sich im Hinblick auf die Taxierung der ›Mischlingsbevölkerungen‹ sowie der Mischehen nicht zuletzt aus den Protokollen der Sitzungen der Landes- bzw. Gouvernementsräte ein weitgehender, sich auf alle ›Schutzgebiete‹ erstreckender Konsens ablesen. Im Gefolge von Solfs Mischehen-Erlass aus dem Januar 1912 und den darauffolgenden Debatten im Reichstag stellte das Reichskolonialamt die Thematik an der Peripherie selbst zur Diskussion.1442 Die Ergebnisse der in Windhuk (14. Mai 1912), Daressalam (20. Juni 1912), Lomé (18. September 1912), Rabaul (18. Oktober 1912), Buea (4./5. November 1912) und Apia (18. Januar 1913) stattfindenden Verhandlungen sprechen eine deutliche Sprache, wenngleich bemerkt werden muss, dass ausgerechnet die beiden in dieser Hinsicht gemäßigteren Gouverneure Schnee und Schultz an den Besprechungen nicht teilgenommen hatten. Erwartungsgemäß lehnten sämtliche Gremien eine einschlägige Reichstagsresolution und somit die Zulassung weiterer Mischehen kategorisch ab.1443 Dabei sah Seitz selbst in einer Legitimierung der wenigen vor dem Oktober 1905 in Südwestafrika geschlossenen Ehen »einen Schritt gegen das Prinzip der Erhaltung der Rassenreinheit«.1444 Auf Vorschlag Hahls entschieden sich dagegen die Ratsmitglieder in Neuguinea für eine Gültigkeit der bestehenden und ein Verbot künftiger Mischehen. Für einen praktisch identischen Beschluss sorgte in Apia Schultzʼ Stellvertreter Schlettwein.1445 Angesichts des vollständigen Fehlens 1440 Solf, Eingeborene, S. 27. 1441 BA-B R 1001/5432, Bl. 26–33, Solf an RKA vom 15.9.1907, Bericht (Zitat 1); Solf, Eingeborene, S. 30f. (Zitate 2+3). 1442 BA-B R 1001/5421, Bl. 24f., St./RKA (i.V. Gleim) an alle Gouverneure vom 29.7.1912, Erlass. In Windhuk und Daressalam war das Thema bereits vor der Aufforderung durch das RKA verhandelt worden. 1443 BA-B R 1001/2073, S. 53f., 56, Gouv. in Windhuk vom 14.5.1912, Ergebnisse der Verhandlungen des Landesrats. Das Protokoll über die geheimen Verhandlungen findet sich in: BA-B R 1001/5423, Bl. 226–234, Gouv. in Windhuk, o.D. [Mai 1912], Protokoll zur Sitzung des Landesrats; BA-B R 1001/5421, Bl. 28–30, Gouv. in Daressalam vom 20.6.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung; BA-B R 1001/4317, Bl. 55, Gouv. in Lomé vom 18.9.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung; BA-B R 1001/5429, Bl. 48–63, Gouv. in Rabaul vom 18.10.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung; BA-B R 1001/4314, Bl. 283, Gouv. in Buea vom 4./5.11.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung; Gouv. in Apia vom 18.1.1913, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung, in: SGB 4 (1913), S. 171–173; vgl. Ebert, Südsee-Erinnerungen, S. 226f. 1444 BA-B R 1001/5423, Bl. 226–234, Gouv. in Windhuk, o.D. [Mai 1912], Protokoll zur Sitzung des Landesrats. 1445 BA-B R 1001/5429, Bl. 48–63, Gouv. in Rabaul vom 18.10.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung; Gouv. in Apia vom 18.1.1913, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung, in: SGB 4 (1913), S. 171–173. Interessanterweise hielt Schlettwein aber Eheschließungen zwischen europäischen Männern und samoanischen ›Halfcast‹-Frauen für »unbedenklich«, sofern die letzteren eine entsprechende Erziehung und Schulbildung vorweisen konnten. BA-B R 1001/5432, Bl. 51–56, Schlettwein (Apia) an Solf vom 19.6.1910, Vermerk; vgl. PA-AA NL 8/50, Schlettwein (Apia) an Asmis vom
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standesamtlich beurkundeter Verbindungen in Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika vertrat man in diesen drei Kolonien »einen ablehnenden Standpunkt« lediglich für künftige Eheschließungen.1446 In Kamerun hatte Gouverneur Ebermaier explizit festgestellt, dass die Problematik dort vorläufig noch keine Priorität besäße, doch sprach sich auf seinen Vorschlag der Gouvernementsrat dahin aus, dass das »Entstehen einer Mischrasse in Kamerun nicht erwünscht ist.«1447 In Daressalam stellte man unter dem Vorsitz des ersten Referenten Wilhelm Methner ebenfalls übereinstimmend fest, dass »gegen Rassenmischung […] starke Bedenken bestehen«. Nicht nur dort verlagerte sich die Diskussion aber auf die »Zahl der illegitimen Bastarde«, die durch ein Mischehenverbot naturgemäß nicht zu beeinflussen war.1448 Ein generelles Verbot geschlechtlicher Verbindungen zwischen Europäern und Indigenen ließ sich jedoch nirgends und zu keinem Zeitpunkt durchsetzen. Wie bereits gezeigt, war dies nicht einmal in Bezug auf die Kolonialbeamten in Samoa gelungen. Puttkamer hatte einen solchen Schritt in Kamerun gar nicht erst versucht und bereits im Dezember 1897 auf informellem Wege berichtet, »alle Offiziere der Truppe, besonders die Herren Kommandeurs (Stetten, Kamptz) haben Yaunde-, Ngumba- oder Batanga-Mädel, und leben mit diesen, ohne dass daraus irgend ein Skandal entsteht; das liegt eben in den Verhältnissen; man kann die Leute doch unmöglich kastrieren, ehe sie nach Afrika gehen«.1449 Der Herzog zu Mecklenburg sah sich sogar veranlasst, dem SPD-Reichstagsabgeordneten Georg Ledebour beizupflichten, der mit Blick auf die ›Mischlingsbevölkerung‹ von einem »unausbleiblichen Resultat« gesprochen hatte, da die europäischen Männer »mit den eingeborenen Frauen notwendigerweise in geschlechtlichen Verkehr
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31.5.1911, Schreiben. Darin äußerte sich Schlettwein auch privatim über die ›Mischlinge‹ in Samoa: »In ihrem Äußeren sind sie oft dem Weißen ähnlicher, wie dem Samoaner. Sehr viele Mischlinge werden in Sydney, Auckland, San Franzisco erzogen, einige sind auch in Deutschland gewesen und haben dort gedient. Alle diese machen in ihrem Auftreten, in ihrer Lebensweise mehr den Eindruck von Europäern. Solche Mischlingsmädchen haben oft Europäer geheiratet und sind wirklich prächtige Hausfrauen geworden. Sie können übrigens beruhigt sein, ich werde niemals ein Mischlingsmädchen ehelichen. Aber sonst gebe ich mich gerne mit ihnen ab. Es sind oft bildhübsche Käfer, mit blitzenden dunklen Augen, prachtvollem Haar und von schlanker, geschmeidiger Figur. Sie reiten wie der Teufel, schwimmen wie Fische und tanzen wie die Pfaus. Ich habe oft mit HalfcastMädchen sog. Picknicks an den herrlichen Wasserfällen in den Bergen bei Apia gehabt. Morgens früh ritten wir los immer im Galopp, dann zog man sich aus und badete zusammen. Es ging da oft recht lustig und ausgelassen zu, aber doch mit Anstand. Kürzlich hatte die Bürgerschaft hier ein Kostümfest veranstaltet. Da hätten Sie die Mädels, die die bunten Kostüme prächtig kleideten, sehen sollen.« Vgl. Zurstrassen, Beamte, S. 83, die aus dieser Passage Schlettweins »Freude am ›gemischtrassigen‹ Geschlechtsverkehr« herausliest und dem Leser zugleich suggeriert, es handele sich beim Ort des Geschehens um Togo anstatt um Samoa. BA-B R 1001/5421, Bl. 28–30, Gouv. in Daressalam vom 20.6.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung; BA-B R 1001/4314, Bl. 283, Gouv. in Buea vom 4./5.11.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung; BA-B R 1001/4317, Bl. 55, Gouv. in Lomé vom 18.9.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung (Zitat); vgl. Sebald, Togo, S. 268, der dem Herzog einige Äußerungen des Regierungsrats Hermans zuschreibt und daraus weitergehende, notwendig irrtümliche Schlüsse zieht. BA-B R 1001/4314, Bl. 283, Gouv. in Buea vom 4./5.11.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung. BA-B R 1001/5421, Bl. 28–30, Gouv. in Daressalam vom 20.6.1912, Protokoll zur Gouvernementsratssitzung. BA-B N 2146/50, Puttkamer (Buea) an König vom 9.12.1897, Schreiben.
4. Herrschaftspraktiken
treten müssen«.1450 Längst hatte Schultz daher konstatiert, dass eine Verminderung der Gruppe der ›Mischlinge‹ nicht mehr zu erreichen sei. Sein Fazit lautete deshalb: »Da sie einmal vorhanden ist, muss man sich so gut es geht mit ihr abfinden.«1451 Eine Möglichkeit dafür glaubte Zech in Togo darin erkennen zu können, den europäischen Vätern eine Unterhaltsverpflichtung für ihre mit einheimischen Frauen gezeugten Kinder aufzuerlegen. Dabei sah er sich auch von »praktischen und wirtschaftlichen« Motiven geleitet, da die »Mulatten […] der Regierung vermöge ihrer zweifellos höheren Begabung bei sachgemäßer Erziehung nützliche Dienste leisten« könnten. Eine »Änderung an dem bisher festgehaltenen Rasseprinzip« solle damit jedoch nicht verbunden sein.1452 Tatsächlich handelte es sich bei diesem Ansatz um ein Wiederaufgreifen der früheren Überlegungen, die auf eine Instrumentalisierung der ›Mischlingsbevölkerung‹ zu Gunsten der Kolonialverwaltung abgezielt hatten. Dieser Standpunkt gewann selbst für Lindequist an Bedeutung. Als Staatssekretär im Reichskolonialamt sah auch er in den Kindern von Europäern und Indigenen ein »besonderes Bevölkerungselement […], das etwa eine Mittelstellung zwischen der weißen und der eingeborenen Bevölkerung einnimmt«.1453 Wohl aus ähnlichen Motiven hatte er als Gouverneur von Südwestafrika die Einrichtung einer Erziehungsanstalt »für halbweiße Kinder« durch die Rheinische Mission als »sehr sympathisch« bezeichnet und diese Maßnahme finanziell unterstützen lassen.1454 Auch Hahl favorisierte die Option, »dass der Mischling gegenüber der großen Menge der Eingeborenen in einer gehobeneren Lebensstellung emporwächst«.1455 Schultz zufolge ließe sich auf diesem Wege erreichen, dass diejenigen ›Mischlinge‹, die »das Bestreben haben, aus dem Samoanertum emporzukommen, sich in ihrer Blutmischung nicht verschlechtern und dass diese Bevölkerungselemente auch kulturell den Europäern näher gebracht werden«.1456 Bis zum Sommer 1906 hatte offenbar auch Solf es noch
1450 Ledebour am 2.5.1912, in: Verhandlungen RT, Bd. 285, S. 1651; BA-B R 1001/5427, Bl. 24, RKA (i.V. Conze) an Mecklenburg vom 21.1.1913, Erlass; ebd., Bl. 26, Mecklenburg (Lomé) an RKA vom 17.2.1913, Bericht. 1451 BA-B R 1001/5432, Bl. 45–50, Schultz (Apia) vom 27.9.1910, Vermerk. Eine Abschrift ging an das RKA (Eingang am 5.12.1910). 1452 ANT FA 1/1020, Bl. 155f., Protokoll über Bezirketag in Basari, 1.-5.3.1909. Einen ersten Vorschlag hatte Zech bereits im Sommer 1907 an das RKA gerichtet: Zech (Lomé) an RKA vom 2.8.1907, Bericht, erwähnt in: BA-B R 1001/5427, Bl. 5); vgl. Emma Küster (Lomé), November 1903, Schreiben, in: Küster/Küster, Briefe, S. 15; Külz, Blätter (23.11.1904), S. 195. Das Resultat war ein Erlass des Gouverneurs: ANT FA 3/185, Bl. 274, Zech (Lomé) vom 9.7.1909, Runderlass betr. Fürsorge für Mulattenkinder. Der Herzog zu Mecklenburg legte 1913 einen entsprechenden VO-Entwurf vor: ANT FA 1/439, Mecklenburg (Lomé), o.D. [1913], VO betr. Rechtsverhältnisse der Mulatten. 1453 BA-B R 1001/5427, Bl. 9f+11-13, Lindequist (Berlin) an Brückner vom 16.8.1911, Erlass. 1454 Spiecker, Tgb., S. 259–261 (10.5.1906). 1455 BA-B R 1001/5429, Bl. 79, Hahl vom 5.7.1913, Entwurf einer VO betr. Mischlinge. 1456 BA-B R 1001/5432, Bl. 45–50, Schultz (Apia) vom 27.9.1910, Vermerk; vgl. ebd., Bl. 187f., Schultz vom 29.12.1913, VO-Entwurf betr. Rechtsverhältnisse der unehelichen Mischlinge. Die VO wurde am 20.5.1914 publiziert in: SGB 5 (1914), S. 99f. Mit seinen Maßnahmen zielte Schultz auch darauf ab, einer »Anglisierung« Samoas entgegenzuwirken, da viele Mischlingskinder zur Schulausbildung nach Neuseeland oder Australien geschickt wurden. Vgl. Hiery, Reich, S. 47.
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als sinnvoll erachtet, durch »gründliche Schulbildung, eine intensivere Scheidung zwischen Eingeborenen und Halbblut zu schaffen.«1457 Im darauffolgenden Jahr hatte er seine Ansicht allerdings revidiert. Jetzt bevorzugte er die Alternative, dass die »Mischlinge in der Familie ihrer samoanischen Mutter aufgezogen würden und als Samoaner heranwüchsen«. Auf diese Weise könne der »Einschlag europäischer Intelligenz ihnen und ihrer samoanischen Umgebung zugute kommen«.1458 Es überrascht kaum, dass auch Seitz von vornherein jede »Sonderstellung« für ›Mischlinge‹ ablehnte. Ähnlich wie Solf hielt er es für wünschenswert, diese »gehen in den Eingeborenen auf«. Seitz ging allerdings noch weiter und behauptete im September 1913:1459 »Der Nachwuchs schlägt auch zum Teil nach Aussehen und Veranlagung nach der Mutter; das Eingeborenenblut kommt bei diesen Mischlingen häufig unverkennbar zum Durchbruch.« Zu diesem Zweck ersuchte er beispielsweise das Reichskolonialamt, künftig keine Beihilfen mehr für das besagte Erziehungsheim in Okahandja zu gewähren.1460 Auch sah er in einer Verpflichtung der europäischen Väter zu möglichst hohen Unterhaltszahlungen ein probates Mittel, den »Geschlechtsverkehr zwischen Weißen und Eingeborenen zu erschweren«.1461 Da er aber Alimente, die die vergleichsweise niedrigen realen Erziehungskosten wesentlich übersteigen würden, kaum für durchsetzbar hielt, wollte er kurzerhand jeden Europäer, »welcher der [indigenen] Mutter innerhalb der Empfängniszeit beigewohnt hat«, zu einer pauschalen Zahlung von eintausend Mark verpflichten.1462 Der Vorschlag stieß allerdings im Reichskolonialamt, das ebenfalls eine »Verhinderung des Anwachsens der Mischlingsbevölkerung für erstrebenswert« hielt, auf »ernste Bedenken« juristischer Natur und wurde deshalb abgelehnt.1463 Akzeptiert wurde dagegen Seitzʼ Antrag, es den Behörden in Südwestafrika künftig zu erlauben, bei einem »unehelichen Zusammenleben eines Nichteingeborenen mit einer Eingeborenen […] die Trennung [zu] verlangen«, sofern die Verbindung »öffentliches Ärgernis« errege.1464 Mit derartigen Bestimmungen erreichte der Gouverneur in Windhuk zumindest in normativer Hinsicht sein Ziel, das Konkubinat und seine biologischen Folgen in die Nähe eines kriminellen Deliktes zu rücken. Dementsprechend war jeder Europäer, der durch sein Handeln »zur Vermehrung der Mischlingsbevölkerung
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BA-B R 1001/5432, Bl. 23, Solf vom 18.8.1906, Vermerk. Ebd., Bl. 26–33, Solf an RKA vom 15.9.1907, Bericht. BA-B R 1001/5418, Bl. 275–278, Seitz (Windhuk) an RKA vom 11.9.1913, Bericht. BA-B R 1001/5423, Bl. 179f., Seitz (Windhuk) an RKA vom 23.6.1911, Bericht. Ebd., Bl. 196–199, Seitz (Windhuk) an RKA vom 26.10.1911, Bericht; vgl. ebd., Bl. 179f., Seitz (Windhuk) an RKA vom 23.6.1911, Bericht. 1462 Ebd., Bl. 146–148, Seitz (Windhuk) an RKA vom 24.2.1911, Bericht; ebd., Bl. 149f., Seitz vom 24.2.1911, VO (Entwurf) betr. die Mischlingsbevölkerung. 1463 Ebd., Bl. 168, RKA an Seitz vom 7.6.1911, Erlass. 1464 Ebd., Bl. 149f., Seitz vom 24.2.1911, VO (Entwurf) betr. die Mischlingsbevölkerung; ebd., Bl. 208f., RKA an Seitz vom 4.3.1912, Erlass; Seitz (Windhuk) vom 23.5.1912, VO betr. Mischlingsbevölkerung, abgedruckt in: DKG 23 (1912), S. 752; vgl. Zimmerer, Herrschaft, S. 107.
4. Herrschaftspraktiken
beigetragen hat«, in seinen Augen zum »Täter« geworden.1465 Auch sprach Seitz von einem »Mischlingsunwesen«, das es zu bekämpfen gelte.1466 Dabei ging er schließlich so weit, auch den Nachkommen aus rechtgültig geschlossenen Mischehen den Rechtsstatus als Europäer zu verweigern und übertraf damit selbst Solfs Standpunkt. Das Reichskolonialamt wollte in solchen Fällen dagegen nach wie vor die reichsrechtlichen Bestimmungen gelten lassen, wonach die indigene Ehefrau ebenso wie die gemeinsamen Kinder automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten.1467 Seitz sah in dieser »Meinungsverschiedenheit« die Ursache »schwerer Unzuträglichkeiten«, da in Südwestafrika die »Kinder aus derartigen Ehen […] bisher nie als Weiße angesehen worden« seien. Auch würde die »weiße Bevölkerung […] es entschieden ablehnen, wenn man ihr zumuten wollte, gesellschaftlich sich mit diesen Mischlingen auf [die] gleiche Stufe zu stellen.«1468 Jede »rechtliche Gleichstellung eines großen Teils des Nachwuchses aus Mischehen« mit den Europäern erschien ihm daher als »geradezu unmöglich«.1469 Wenngleich auch in dieser Hinsicht die einzige deutsche Siedlungskolonie das Extrem repräsentierte, bestand auch in den anderen ›Schutzgebieten‹ Einigkeit darüber, dass die unehelich geborenen ›Mischlingskinder‹ prinzipiell den Rechtsstatus als ›Eingeborene‹ erhalten sollten.1470 Wie frühzeitig in Samoa geschehen, behielt sich aber fast überall der Gouverneur das Recht vor, in Einzelfällen auch Angehörigen dieser Gruppe den Status von Europäern zuzubilligen. Als Hauptargument für die in diese Richtung wirkende Durchlässigkeit der colour line lässt sich für praktisch alle Gouverneure die Absicht belegen, »unbillige Härten« vermeiden zu wollen.1471 Dieser zweifellos auf ihr Selbstverständnis als Vertreter einer dem Gemeinwohl verpflichteten Administration zurückgehende Grundsatz blieb aber auf einen sehr engen Personenkreis beschränkt. Die Bedingungen für dieses formaljuristische Upgrading orientierten sich an ebenso einseitig wie willkürlich festgelegten Kriterien. Solf hatte diese in der Schlussphase seiner Amtszeit als Gouverneur derart charakterisiert, dass die Betreffenden »nicht nur
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BA-B R 1001/5423, Bl. 196–199, Seitz (Windhuk) an RKA vom 26.10.1911, Bericht. Ebd., Bl. 169f., Seitz (Windhuk) an RKA vom 12.6.1911, Bericht. BA-B R 1001/5424, Bl. 18, Solf an Seitz vom 17.5.1913, Erlass. BA-B R 1001/5418, Bl. 346+349, Seitz (Windhuk) an RKA vom 6.3.1914, Bericht (Zitat 1); ebd., Bl. 275–278, Seitz (Windhuk) an RKA vom 11.9.1913, Bericht (übrige Zitate). 1469 Ebd. 1470 Dieses Prinzip fand vor Beginn des Ersten Weltkrieges lediglich in Samoa seine formaljuristische Umsetzung. In Neuguinea und Togo kam es zu entsprechenden Verordnungsentwürfen: Schultz (Apia) vom 20.5.1914, VO betr. Rechtsverhältnisse der unehelichen Mischlinge, abgedruckt in: DKG 25 (1914), S. 700; BA-B R 1001/5429, Bl. 79, Hahl (Rabaul) vom 5.7.1913, Entwurf VO betr. Mischlinge; ANT FA 1/439, Bl. 7–11, Mecklenburg (Lomé), o.D. [1913], Entwurf VO betr. Rechtsverhälnisse der Mulatten. Zu DOA: BA-B R 1001/5421, Bl. 35, Schnee (Daressalam) an Bezirksämter, Residenturen, selbständige Dienststellen vom 6.9.1913, Runderlass. Danach sollten die Bezirksämter in allen Fragen, die ›Mischlinge‹ betreffen, zwar prinzipiell nach Reichsrecht verfahren, doch sei dabei den lokalen Rechtsanschauungen in »weitem Maße Rechnung zu tragen«. Für Kamerun wurde offenbar keine einschlägige Regelung getroffen, doch wurde dort nach der bisherigen Übung verfahren, wonach ›Mischlinge‹ grundsätzlich als ›Eingeborene‹ zu gelten hatten: BA-B R 1001/5426, Bl. 4f., Ebermaier (i.V., Buea) an KA vom 6.5.1904, Bericht. 1471 BA-B R 1001/5424, Bl. 48, Seitz (Windhuk) an Solf vom 23.6.1913, Bericht (Zitat); ebd., Bl. 39, Solf (Berlin) an Seitz vom 12.7.1913, Erlass.
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Hosen tragen, sondern auch fließend eine weiße Sprache sprechen und weiße Erziehung haben« müssten.1472 Später konkretisierte er seinen Anforderungskatalog, indem er Schultzʼ Anregung nach einer Förderung der deutschen Sprache in Samoa aufgriff: »Solche Eingeborene, die fließend Deutsch sprechen und europäische Bildung nachweisen, können auf Antrag den Weißen gleichgestellt werden.«1473 Auch Lindequist wies in analoger Absicht den Gouverneur von Togo an, die »ganze Art der Lebensführung zu berücksichtigen«, da körperliche Merkmale allein nicht entscheidend seien. Vielmehr gelte es, das »ganze Aussehen und Verhalten, sowie vor allem die Lebensgewohnheiten« zu prüfen und unter »Berücksichtigung aller Umstände […] von Fall zu Fall« zu entscheiden.1474 In diesem Sinne verwarf die Zentralverwaltung kurz vor Ausbruch des Weltkrieges erneut eine ausschließlich am Äußeren orientierte Auswahl, wenngleich die Begründung sich in erster Linie an praktischen Erwägungen orientierte:1475 »Eine anthropologische Begriffsbestimmung nach der Rassenzugehörigkeit würde nicht befriedigen, da sich Angehörige verschiedenster Rassen in den Schutzgebieten aufzuhalten pflegen, und die Feststellung der Rasse bei der sich mehrenden Blutmischung vielfach Schwierigkeiten bereiten wird.« Die Gouverneure sollten daher ausschließlich »würdige Eingeborene« für eine Höherstufung in Betracht ziehen.1476 Selbst Seitz konnte sich einer solchen Regelung nicht entziehen und hielt es für angezeigt, »einzelnen Mischlingen, welche es nach Lebensweise, Bildung und Charakter verdienen, die Rechte des Weißen zu verleihen.«1477 Trotz aller Rhetorik über eine »reinliche Scheidung der beiden Rassen« scheint auch er sich nach rund eineinhalb Jahren in Südwestafrika damit abgefunden zu haben, dass eine solche »auf die Dauer wohl nicht aufrecht [zu] erhalten« sei. Gleichzeitig setzte Seitz die Hürden für solche Zugeständnisse aber besonders hoch an. Zwar hatte er einerseits »nicht die geringsten Bedenken«, eine junge ›Mischlingsfrau‹, deren Benehmen »durchaus dem eines wohlerzogenen jungen Mädchens aus deutscher Familie« entsprach und deren Leumund er als »tadellos« einschätzte, »rechtlich den Weißen gleichzustellen«. Bei deren Onkel, der Seitz zufolge anhand »seines Aussehens und seiner Lebensführung den Eingeborenen« zuzurechnen sei, hielt er einen solchen Schritt dagegen für »verfehlt«.1478 Vergleichbare Beispiele für ein beliebiges Taxieren von Menschen finden sich in Neuguinea und Mikronesien. Hahl berichtete im Dezember 1902 über eine wegen Ehebruchs verurteilte und von einem Europäer geschiedene »Halbblut-Samoanerin« auf dem Bismarckarchipel. Dabei behauptete er, dass diese »nach ihrer Abstammung, Erziehung
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BA-B R 1001/5432, Bl. 43f., Solf (Apia) vom 7.10.1910, Vermerk. Ebd., Bl. 75f., Solf (Kreuth) an St./RKA vom 3.10.1911, Bericht. BA-B R 1001/5427, Bl. 9f+11-13, Lindequist (Berlin) an Brückner vom 16.8.1911, Erlass. BA-B R 1001/5418, Bl. 364–377, RKA an alle Gouverneure vom 18.7.1914, Erlass. BA-B R 1001/5424, Bl. 39, Solf (Berlin) an Seitz vom 12.7.1913, Erlass. BA-B R 1001/5418, Bl. 275–278, Seitz (Windhuk) an RKA vom 11.9.1913, Bericht. Ähnlich: ebd., Bl. 291, Seitz (Windhuk) an RKA vom 17.11.1913, Bericht; ebd., Bl. 350–352, Seitz (Windhuk) an RKA vom 5.3.1914, Bericht. 1478 Ebd., Bl. 350–352, Seitz (Windhuk) an RKA vom 5.3.1914, Bericht; vgl. Kundrus, Imperialisten, S. 267.
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und Lebensweise nicht die volle Einsicht in das Maß ihres Verschuldens« habe, weshalb »moralisch ihr Verschulden anders als [bei] einem Europäer« zu bewerten sei. Eine Einstufung der Frau als ›Eingeborene‹ kam für Hahl jedoch ebenfalls nicht in Frage, wollte er dieser doch die »Beschämung erspart wissen, dass sie im Gefängnisse in Herbertshöhe eine Strafe« abbüßen müsse. In Bezug auf das Strafmaß müsse sie daher »zu den Europäern gerechnet« werden.1479 In einem anderen Fall lehnte Hahl es wiederum ab, unehelich geborenen ›Mischlingskindern‹ durch Adoption einen privilegierten Rechtsstatus zu ermöglichen.1480 Selbst die Kolonialabteilung wusste er mit solchen Willkürbeschlüssen zu irritieren. So wies er den Antrag eines deutschen Händlers zurück, als dieser um eine »Ehelichkeitserklärung« für ein mit einer einheimischen Frau gezeugtes Kind nachsuchte. Ungeachtet dessen hatte Hahl aber für dasselbe Kind zuvor die Ausstellung einer Geburtsurkunde sowie dessen Eintragung in das Standesregister für Europäer akzeptiert.1481 In Berlin monierte man folglich eine »wenig sorgfältige Behandlung der Angelegenheit in formeller Hinsicht« sowie eine ungenügende Beachtung der »grundlegenden Gesetzesvorschriften«.1482 Das Maß an Rechtsunsicherheit für die Betroffenen wurde noch dadurch erhöht, dass für die Kolonialverwaltung jederzeit die Möglichkeit bestand, den Begünstigten ihren Status als Europäer wieder abzuerkennen, wenn diese das geforderte Maß an Wohlverhalten vermissen ließen, weil sie sich beispielsweise dazu entschlossen hatten, wieder bei »ihren Familien wie die Eingeborenen [zu] leben.«1483 An dieser Willkür ändern auch die vergleichsweise niedrigen Fallzahlen – in Samoa etwa eineinhalb Prozent der Begünstigten – wenig.1484 Wie rasch ein solcher Statusverlust erfolgen konnte, veranschaulicht das Beispiel des Diplom-Ingenieurs Ludwig Baumann in Südwestafrika. Selbst einem Bericht von Seitz zufolge sei diesem »nichts von seiner farbigen Abstammung anzusehen« gewesen, auch habe er sich in »seiner Bildung und seinem Benehmen« praktisch nicht vom »Durchschnitt der weißen Bevölkerung« unterschieden. Das Obergericht in Windhuk hatte sich trotzdem angesichts einer Strafsache gegen Baumann für unzuständig erklärt, unterliege dieser doch nicht der Gerichtsbarkeit für Europäer, sondern derjenigen der ›Eingeborenen‹. Generell begrüßte Seitz diese »rigorose Auffassung«, doch sah er zugleich Baumann von »unbilliger Härte« betroffen. Er nutzte daher seine Möglichkeiten als Behördenleiter und sorgte für ein Aussetzen der vom zuständigen Bezirksamt verhängten Strafe zur Bewährung.1485
1479 BA-B R 1001/4949, Bl. 96–98, Hahl (Traustadt) an KA vom 21.12.1902, Bericht. Der Vortragende Rat Rose schrieb an den Rand: »sehr richtig«. Hierzu auch: Hiery, Reich, S. 56f. 1480 BA-B R 1001/5429, Bl. 20, Hahl (Herbertshöhe) an RKA vom 11.6.1907, Bericht. 1481 Ebd., Bl. 3, Hahl (Herbertshöhe) an KA vom 31.8.1905, Bericht. 1482 Ebd., Bl. 4, Schmidt-Dargitz an Hahl vom 6.11.1905, Erlass. 1483 BA-B R 1001/5432, Bl. 34, Solf (Berlin) vom 7.8.1908, Vermerk. 1484 In Samoa verloren mindestens sechs von 391 unehelich geborenen und auf Antrag als ›Fremde‹ eingestufte ›Mischlinge‹ ihren privilegierten Status wieder. SGB 44 (1905), S. 146; SGB 69 (1908), S. 223; SGB 100 (1910), o.Pag.; ANZ AGCA 6051/409, Bl. 90, BA Apia an Gouvernement vom 4.3.1914, Antrag. 1485 BA-B R 1001/5424, Bl. 48, Seitz (Windhuk) an RKA vom 23.6.1913, Bericht; vgl. Kundrus, Imperialisten, S. 273f.
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Anhand der gezeigten Beispiele zur Frage der ›Mischlinge‹ lässt sich resümieren, dass über deren rechtliche Stellung nach Gutdünken und damit überwiegend nach emotionalen Kriterien entschieden wurde. Der administrative Grundsatz einer rationalen Entscheidungsfindung spielte dagegen kaum eine Rolle. Dabei markierte Seitz zweifellos die Position des Hardliners, indem er in erster Linie die »Abstammung und die Blutmischung [für] entscheidend« hielt, wenn es um die Frage ging, »wer als Eingeborener anzusehen ist«.1486 Aber auch für diejenigen Gouverneure, die diese Ansicht weniger nachdrücklich kommunizierten, stellten die sogenannten »Halfcastes« eine nach rassischen Kriterien definierte Kategorie dar. Dementsprechend ist es keineswegs als Zufall anzusehen, dass die privilegierten ›Mischlinge‹ praktisch ausschließlich die Söhne und Töchter von Samoanerinnen oder Baster-Frauen waren. Wie bereits gezeigt werden konnte, waren es diese beiden Gruppen, denen in der – wiederum rassistisch fundierten – Hierarchie die obersten Plätze unter sämtlichen Indigenen im deutschen Kolonialreich eingeräumt wurden. Demgegenüber blieb die Anzahl der in ihrem Rechtsstatus privilegierten ›Mischlinge‹ in den übrigen ›Schutzgebieten‹ verschwindend gering.1487 Daneben kamen aber auch kulturelle und soziale Kriterien zum Zuge, indem für die »Beurteilung ihrer Rassenzugehörigkeit« bei den Betreffenden die »persönlichen Verhältnisse ausschlaggebend« sein sollten.1488 In Analogie zu den Kleinsiedlern, deren privilegierter Status sich bei Annäherung an die indigenen Lebensweisen in gesellschaftlicher Hinsicht in Frage gestellt sah, handelte es sich dabei zwar um eine partielle Aufweichung der als unverrückbar postulierten colour line. Diese Feststellung gilt jedoch lediglich für die im Vergleich zu den mehr als zwölf Millionen Menschen in den deutschen ›Schutzgebieten‹ äußerst überschaubare Zahl der Samoaner- und Baster-›Mischlinge‹. Und selbst für diese beiden Kleingruppen lässt sich anhand der angeführten Beispiele in erster Linie das Bestreben ablesen, die Rassentrennung unbedingt aufrechtzuerhalten und die Zahl von ›Härtefällen‹ so gering wie möglich zu halten. Aus dem erweiterten Kriterienkatalog zur Privilegierung bestimmter ›Mischlinge‹ ergaben sich somit vor allem Ermessensspielräume für die Gouverneure. Diese – gleich ob in Afrika oder Ozeanien – wachten aber stets über den Fortbestand der kolonialen Dichotomie, weshalb die von der Forschung festgestellte Aushandelbarkeit der Rassengrenze von geringer praktischer Bedeutung für die situation coloniale war.1489
1486 BA-B R 1001/5418, Bl. 350–352, Seitz (Windhuk) an RKA vom 5.3.1914, Bericht. 1487 In Neuguinea handelte es sich in der Regel um Samoa-›Halfcastes‹ oder die Nachkommen von Europäern und Mikronesierinnen. Aus Ostafrika, Kamerun und Togo wurde dagegen berichtet, dass keinerlei Privilegierungen vorgenommen worden seien: BA-B R 1001/5421, Bl. 22, Gouv. DOA (i.V. Winterfeld) an RKA vom 26.11.1907, Bericht; BA-B R 1001/5426, Bl. 4f., Gouv. Kamerun (i.V. Ebermaier) an KA vom 6.5.1904, Bericht; BA-B R 1001/5427, Bl. 7, Gouv. Togo (i.V. Doering) an RKA vom 10.9.1910, Bericht. 1488 BA-B R 1001/5418, Bl. 350–352, Seitz (Windhuk) an RKA vom 5.3.1914, Bericht. 1489 Vgl. Kundrus, Imperialisten, S. 276f.; Loosen, Rassenfrage, S. 233.
4. Herrschaftspraktiken
4.7 Die letzten Gouverneure unter den Vorzeichen von Professionalisierung, Wissensakkumulation und infrastruktureller Verdichtung In diesem Abschnitt sollen die letzten Jahre des deutschen Kolonialimperiums bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Blick genommen werden. Dabei wird weniger nach dem Verwaltungshandeln der Gouverneure im Detail zu fragen sein, als vielmehr nach dem im Gefolge der ›Ära Dernburg‹ erreichten Ausbaustand kolonialer Administration. Dadurch sollen nicht zuletzt Eindrücke von den bis dahin erreichten Zugriffsmöglichkeiten des kolonialen Staats auf die indigenen Gesellschaften gewonnen werden, zugleich aber auch mögliche Verschiebungen in der Gewichtung der Einflüsse von Persönlichkeit und Institution auf die Verwaltungspraktiken ausgelotet werden. Zunächst gilt der Fokus der Besetzung der Gouverneursposten zwischen 1910 und 1914. Im Hinblick auf die Funktionsweisen der Verwaltung werden danach neben dem quantitativen Aufbau auch die erweiterten Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten der Gouvernements auszuleuchten sein. Bereits ein Blick auf die personellen Veränderungen muss überraschen, wurden doch in der kurzen Spanne zwischen Sommer 1910 und Frühjahr 1914 die Gouverneure sämtlicher ›Schutzgebiete‹ ausgetauscht. In Togo und Kamerun war das jeweils sogar zweimal der Fall. Während die Versetzung von Seitz nach Deutsch-Südwestafrika als Ersatz für den zurückgetretenen Schuckmann bereits thematisiert wurde, handelte es sich bei den Amtszeiten von Brückner und Gleim um kurzlebige Episoden.1490 Gleim hatte angesichts des Marokko-Vertrags mit Frankreich im November 1911 nur ein Jahr nach seinem Dienstbeginn in Buea seinen Rücktritt erklärt, da dieses Abkommen für Kamerun lediglich einen Zuwachs von schwer zugänglichen Tropenwaldgebieten bedeutete und er als Gouverneur für die Verhandlungen nicht einmal konsultiert worden war.1491 Brückner fiel dagegen wenig später dem Ansinnen des Kaisers zum Opfer, den Herzog zu Mecklenburg als Gouverneur von Togo einzusetzen. Solf, der fast zeitgleich neuer Kolonialstaatssekretär geworden war, kam diesem Wunsch bereitwillig nach, bot Brückner aber ersatzweise seine bisherige Gouverneursstelle in Samoa an. Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Zwar hatte Brückner, nachdem er es zunächst als »Zumutung, den Bürgermeister in Samoa zu spielen«, empfunden hatte, sich am Ende dafür doch noch bereitgefunden. Zweifellos war ihm die Zusage durch Solfs Versprechen erleichtert worden, ihn später »in einer größeren afrikan[ischen] Kolonie« verwenden zu wollen.1492 Schließlich gewann der Staatssekretär aber seinerseits den Eindruck, dass Brückner die »Versetzung von Lomé nach Apia mit so viel Missbehagen empfindet, dass er sie geradezu als Degradation und capitis deminutio bezeichnet«. Für einen »missvergnügten Beamten« sei ihm 1490 Zu den Hintergründen von Seitzʼ Versetzung nach DSWA: HZA Nl Hohenlohe-Langenburg, La 142 Bü 765, Seitz (Wildbad im Schwarzwald) an Hohenlohe-Langenburg vom 15.8.1910, Schreiben; GStA PK Rep 89/32474, Bl. 29–30a, Bethmann Hollweg an Wilhelm II. vom 27.8.1910, Immediatbericht; Seitz, Aufstieg 2, S. 116f.; ebd. 3, S. 1f. 1491 BA-K N 1053/106, Bl. 2–7, Gleim (Teneriffa) an Solf vom 5.12.1911, Schreiben; BA-B N 2345/15, Bl. 122f., Danckelman (Schwerin) an Zimmermann vom 26.10.1912, Schreiben; PA-AA NL 8/50, Doering (Buea) an Asmis vom 23.11.1911, Schreiben; Schnee, Gouverneur, S. 109; Forsbach, Kiderlen-Wächter 2, S. 488, Anm. 462. 1492 PA-AA NL 8/50, Brückner (Lomé) an Asmis vom 1.4.1912, Schreiben.
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Samoa jedoch zu schade.1493 Sowohl Gleim als auch Brückner, der zudem in den Augen seiner Untergebenen in Togo keine allzu gute Figur gemacht hatte, wurden daraufhin im Reichskolonialamt verwendet.1494 Nachdem inzwischen auch Rechenberg der unablässigen Anfeindungen durch Ansiedler und Pflanzer müde geworden war und deshalb seine Stellung in Daressalam aufgegeben hatte, waren somit im Frühjahr 1912 die Gouverneursposten in Kamerun, Ostafrika, Samoa und Togo vakant.1495 Dass der Herzog zu Mecklenburg dank allerhöchster Protektion die letztgenannte Kolonie übertragen bekam, wurde bereits angemerkt. Nach Buea bzw. Daressalam entsandte die Reichsleitung dagegen Ebermaier und Schnee, deren Karrieren im Reichskolonialamt annähernd parallel verlaufen waren. Nachdem Brückners Kandidatur für Samoa nicht mehr in Frage kam, ging der dortige Gouverneursposten schließlich an den langjährigen Oberrichter, Referenten und Solf-Stellvertreter Schultz.1496 Zwei Jahre später wurde auch die Stelle des obersten Beamten von Deutsch-Neuguinea neu besetzt. Unter Einbeziehung seiner Dienstperioden als Kaiserlicher Richter in Herbertshöhe und als Vizegouverneur auf Ponape war Hahl im Frühjahr 1914 bereits über einen Zeitraum von mehr als achtzehn Jahren in Ozeanien tätig, inzwischen aber gesundheitlich angeschlagen.1497 Seit seinem Urlaubsantritt im April desselben Jahres amtierte daher Haber als stellvertretender Gouverneur in Rabaul. Trotz der wenige Monate später erfolgten Besetzung der Kolonie durch australische und japanische Truppen gelang es Haber nach Deutschland zurückzukehren. Dort wurde er auf eigenes Drängen noch im Dezember 1917 offiziell zum Gouverneur von Deutsch-Neuguinea ernannt.1498
1493 PA-AA P1/1905, Solf an Brückner vom 6.1.1912, Erlass; PA-AA NL 8/50, Charlotte Brückner (Stettin) an Asmis vom 10.2.1912, Schreiben; PA-AA P1/1905, Solf an Conze vom 4.6.1912, Schreiben (Zitate); vgl. Zurstrassen, Beamte, S. 116, wo ohne Nachweis die Rede davon ist, Brückner sei zurückgetreten, weil er dem Druck eines »Machtkartells« der Stationsleiter nicht standgehalten habe. 1494 PA-AA NL 8/50, Curt Schlettwein (Tsewie) an Asmis vom 9.6.1912, Schreiben. Darin schildert Schlettwein die »berüchtigte Hinterlandreise« Brückners, während der dieser offenbar nur ein geringes Interesse für Land und Leute gezeigt habe. Vgl. PA-AA NL 8/59, Bl. 84–87, Asmis (Lomé) an Adolf Schlettwein vom 19.11.1911, Schreiben. 1495 Offiziell wurde zwar als Rücktrittsgrund die »angegriffene Gesundheit« Rechenbergs angegeben, doch wurde dem Kaiser nicht vorenthalten, dass der Gouverneur das Opfer »zahlreicher […] persönlich gehässiger Angriffe, die zum Teil weit über das Maß politischer Anfeindung hinausgingen«, geworden sei. GStA PK Rep 89/32474, Bl. 41–43, Bethmann Hollweg an Wilhelm II. vom 17.4.1912, Immediatgesuch. 1496 Schultz war nur als zweite Wahl für den Gouverneursposten in Frage gekommen. Bereits 1907 hatte Solf seiner Schwester gegenüber geäußert, dass Schultz »über wenig Persönlichkeit« verfüge und »Angst vor Entscheidung und vor Verantwortlichkeit« habe. BA-K N 1053/1, Bl. 171f., Solf (Moto’otua) an seine Schwester Grete vom 1.2.1907, Schreiben; vgl. PA-AA NL 8/50, Adolf Schlettwein (Apia) an Asmis vom 26.7.1910, Schreiben; ebd., Adolf Schlettwein (Apia) an Asmis vom 30.7.1912, Schreiben. 1497 BA-K N 1053/109, Bl. 11f., Hahl (Berlin) an Solf vom 6.6.1914, Schreiben. Danach scheint eine Rückkehr nach Neuguinea für Hahl nicht mehr in Frage gekommen zu sein. 1498 BA-K PERS 101/42926, Haber an Solf vom 30.7.1917, Schreiben. Selbst der Kaiser hatte in diesem Stadium des Krieges ernsthafte Bedenken an der Ernennung geäußert, sich aber durch Fürsprache des Reichskanzlers am Ende doch bereitgefunden. GStA PK Rep 89/32474, Bl. 58, Geh. Zivilkabinett an Hertling vom 18.11.1917, Schreiben; BA-K PERS 101/42926, Hertling an Wilhelm II. vom
4. Herrschaftspraktiken
Ein Blick auf diese letzten acht Gouverneure offenbart zugleich den gegen Ende des deutschen Kolonialreichs erreichten Professionalisierungsgrad dieser Positionselite. Bei fast allen handelte es sich um die Repräsentanten einer spezifisch kolonialen Beamtenelite. Dementsprechend zeichneten sie sich durch erstaunlich ähnliche Karriereverläufe aus. Diese Laufbahnen umfassten mehrjährige Verwendungen in der Berliner Zentralverwaltung – häufig als Referats- oder Abteilungsleiter. Dazu wurden diese Zeiten von mehr oder weniger langen Dienstperioden als Richter, Bezirksamtmann, Referent und/oder stellvertretender Gouverneur in den ›Schutzgebieten‹ unterbrochen.1499 Ein solcher Karriereweg hatte einerseits den Vorteil, dass die Kandidaten sich vergleichsweise lange auf ihre späteren Aufgaben vorbereiten konnten. Gleichzeitig begünstigte die jahrelange Beschäftigung in Zentrale und an der Peripherie ein Mindestmaß an innerer Bindung an die Behörde einschließlich der erwünschten Denk- und Verhaltensmuster. Demgegenüber kamen allzu eigenwillige Offiziere oder Seiteneinsteiger aus dem Konsularischen Dienst seit dem Ausscheiden von Zech und Rechenberg nicht mehr zum Zuge. Auch die bloße Durchführung von Forschungsreisen, wie das noch bei Wißmann oder Götzen der Fall gewesen war, wurde lediglich bei der einzigen Ausnahme unter den späten Gouverneuren, dem von höchster Stelle protegierten Herzog zu Mecklenburg, als Qualifikationskriterium akzeptiert. Alle anderen seit 1910 ernannten Gouverneure hatten meist zwölf bis fünfzehn Jahre der skizzierten Laufbahn im Kolonialdienst hinter sich, ehe sie in das höchste Amt eines ›Schutzgebietes‹ berufen wurden.1500 Einzig Brückner hatte diese Spanne durch gute Beziehungen auf achteinhalb Jahre verkürzen können.1501 Haber wähnte sich dagegen als Katholik zeitweilig zurückgesetzt, doch hatte man der Einschätzung eines Insiders zufolge es »wegen seiner Beziehungen zum Zentrum« nicht gewagt, ihn gänzlich »abzusägen«.1502 Er wurde allerdings erst nach siebzehn Jahren Wartezeit zum Gouverneur ernannt. In jedem Fall stellte das Einrücken in dieses Amt für die Betreffenden den Endpunkt ihrer regulären Laufbahn als höhere Beamte im Kolonialdienst dar. Lediglich die einzige Stelle des Kolonialstaatssekretärs war hierarchisch noch oberhalb angesiedelt. Aber auch diese Position war nach Dernburgs Rücktritt im Frühjahr 1910 ausschließlich mit ehemaligen Gouverneuren – Lindequist und Solf – besetzt worden. Ähnliche Tendenzen einer zunehmenden Professionalisierung lassen sich bei den übrigen Kolonialbeamten in leitenden Funktionen an der Peripherie feststellen. Die Rede ist von den Referenten in den Gouvernements, den Bezirksamtmännern und Kaiserlichen Richtern. Im Jahr 1912 wiesen unter den insgesamt 63 festangestellten höheren
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1500 1501 1502
27.11.1917, Immediatgesuch; GStA PK Rep 89/32474, Bl. 57, Wilhelm II. vom 14.12.1917, Ernennung zum Gouverneur; vgl. Hiery, Weltkrieg, S. 852. Selbst Schultz als ›ewiger‹ Oberrichter und stellvertretender Gouverneur von Samoa war zwei Jahre lang in der Kolonialabteilung tätig gewesen. Alle anderen hier angeführten Laufbahnbeamten konnten längere Zeiten vorweisen. In mehreren ›Schutzgebieten‹ hatten vor ihrer Ernennung Erfahrungen gesammelt: Brückner (Kamerun, Südwestafrika); Ebermaier (Ostafrika, Kamerun); Gleim (Togo, Kamerun); Schnee (Neuguinea, Samoa). Die Vorlaufzeiten bezifferten sich bei Seitz auf 12 12 , bei Ebermaier und Schultz auf je 14, bei Schnee auf fünfzehn und bei Gleim auf rund 15 12 Jahre. Vgl. PA-AA NL 8/59, Bl. 84–87, Asmis (Lomé) an Adolf Schlettwein vom 19.11.1911, Schreiben. BA-B N 2345/15, Bl. 122f., Danckelman (Schwerin) an Zimmermann vom 26.10.1912, Schreiben.
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Beamten in sämtlichen ›Schutzgebieten‹ mehr als neunzig Prozent die gleichen Qualifikationskriterien auf, die auch in Deutschland für den höheren Staatsdienst vorausgesetzt wurden.1503 Die sechs formal minderqualifizierten Beamten dieser Gruppe waren bezeichnenderweise noch vor der Jahrhundertwende in den damals noch wenig reglementierten Kolonialdienst eingetreten und hatten ihre Ausbildungsdefizite durch lange praktische Bewährungszeiten wettmachen können.1504 Unter den übrigen Oberbeamten befanden sich 41 Volljuristen (65 %), aber nur sechs Offiziere (9,5 %), was ebenfalls eine mit den Kolonialgouverneuren vergleichbare Entwicklung widerspiegelt. Die Festschreibung von Zugangsvoraussetzungen sowie die Ausgestaltung einer kolonialen Beamtenlaufbahn war allerdings wenig systematisch verlaufen und stellte in erster Linie das Produkt einer schrittweisen Übernahme von Grundsätzen aus der allgemeinen Reichsverwaltung dar.1505 Dementsprechend unverbindlich fielen noch die im Jahr 1897 im Kolonialblatt publizierten ›Notizen‹ über die erwartete »Vorbildung der in den Verwaltungsdienst der Schutzgebiete zu übernehmenden Beamten« aus. Darin hatte es noch in Bezug auf die Zugangsvoraussetzungen für den höheren Dienst geheißen, dass »vorzugsweise« Gerichts- und Regierungsassessoren eingestellt würden, wodurch das zweifellos intendierte Juristenprivileg nur unvollkommen vorweggenommen wurde.1506 Im Jahr zuvor war zudem erstmals ein Pflichtenkatalog für Kolonialbeamte publiziert worden, der in der Folge regelmäßig überarbeitet wurde und den alle Neulinge vor ihrer Ausreise in die Kolonien ausgehändigt bekamen.1507 Ein eher halboffizieller Charakter kam dagegen der 1902 erstmals erschienenen Schrift aus der Feder von Johannes Tesch, einem Mitarbeiter der Kolonialabteilung, zu. Dieses unter dem Titel »Die Laufbahnen der deutschen Kolonialbeamten, ihre Pflichten und Rechte« etwa alle zwei Jahre neu aufgelegte und laufend erweiterte Kompendium einschlägiger Bestimmungen spiegelt ebenfalls die wenig stringente Genese eines spezifischen Berufs des Kolonialbe-
1503 Datengrundlage: BA-B R 1001/9580, Verzeichnis der etatsmäßig angestellten höheren Verwaltungsbeamten und Richter in den deutschen ›Schutzgebieten‹ (Anfang 1912). Darin sind 64 Beamte verzeichnet, darunter auch der kurz darauf zum Gouverneur ernannte Schultz, der deshalb hier nicht berücksichtigt wurde. 1504 Bei der Auswertung wurden zwei Jura-Absolventen als minderqualifiziert eingestuft, da diese kein Referendariat vorweisen konnten. Bei den anderen handelt es sich um einen Kaufmann, einen Landwirt sowie zwei frühere Beamte des gehobenen Dienstes. 1505 Einen äußeren Rahmen stellten die erstmals 1887 erlassenen und in der Folge (1888, 1894, 1896, 1901, 1907) mehrmals modifizierten Bestimmungen über die »Rechtsverhältnisse« der Kaiserlichen bzw. Landesbeamten in den ›Schutzgebieten‹ dar. Diese sind abgedruckt in: DKG 1, S. 9, 178–180; DKG 2, S. 88–90, 265–267; DKG 6, S. 3f.; DKG 11, S. 386–392. 1506 Vorbildung der in den Verwaltungsdienst der Schutzgebiete zu übernehmenden Beamten, abgedruckt in: DKB 8 (1897), S. 205f.; vgl. Beneke, Ausbildung. Dabei handelt es sich um eine private Schrift aus dem Jahr 1894, in der unter Heranziehung internationaler Vergleichsdaten Vorschläge für die Ausbildung deutscher Kolonialbeamter geäußert werden. 1507 Hausen, Kolonialherrschaft, S. 112. Beispiel: BA-K PERS 101/42925, KA im April 1901, Bestimmungen für die Landesbeamten und sonstigen Angestellten in den Schutzgebieten. Die letzte Überarbeitung dieses Pflichtenkatalogs wurde 1913 herausgegeben: ANY FA 1/162, RKA vom 1.1.1913, Zusammenstellung wichtiger Bestimmungen für die Kolonialbeamten.
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amten wider.1508 Einen vorläufigen Schlusspunkt stellte das Kolonialbeamtengesetz aus dem Sommer 1910 dar, in dem vor allem Besoldungs- und Pensionsfragen sowie Disziplinarbestimmungen und sonstige Rahmenbedingungen rechtsverbindlich geregelt wurden.1509 Auch wenn der hier nur in groben Zügen skizzierte Normierungs- und Regulierungsprozess mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges ein jähes Ende fand und die Freiräume der höheren Beamten on the spot bis zuletzt deutlich größer waren als diejenigen ihrer Kollegen in Deutschland, lässt sich unschwer die zunehmende Einbindung des einzelnen Staatsdieners in einen hierarchisch strukturierten Verwaltungsapparat erkennen. Dieser bot auf der einen Seite berufliche und finanzielle Garantien, beinhaltete gleichzeitig aber auch einen klar definierten Pflichtenkatalog. Beides zielte nicht zuletzt auf die Ausbildung einer Gruppenidentität, aber auch auf eine wirksame Disziplinierung der Kolonialbeamten ab. Auch bei den Amtsbefugnissen der Gouverneure traten in den letzten Jahren des deutschen Kolonialreichs gravierende Veränderungen ein. Dem lag jedoch die Intention der Berliner Zentrale zugrunde, die Handlungsspielräume ihrer obersten Beamten in den ›Schutzgebieten‹ teilweise auszuweiten. Bezeichnenderweise handelte es sich aber ebenfalls um einen dialektischen Vorgang, der durch die seitens der Gouvernements wiederholt geäußerten Wünsche nach größerer Selbständigkeit angestoßen wurde. Die nicht zuletzt damit zusammenhängenden Konflikte zwischen Gouverneuren und Kolonialabteilung/Reichskolonialamt wurden in den vorigen Abschnitten ausführlich thematisiert. An dieser Stelle lässt sich dennoch Solf anführen, der als oberster Beamter in Apia regelmäßig an die Berliner Adresse seine Ansicht kommunizierte, dass der »Schwerpunkt der Verwaltung […] in der Kolonie liegen« müsse.1510 Daher sei es seiner Ansicht nach angezeigt, den Gouverneuren erweiterte Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten zu gewähren. Wirkliche Alternativen dazu gäbe es nicht, wie Solf beispielsweise im Mai 1903 an den Berliner Personalreferenten schrieb:1511 »Wenn man zu den einzelnen Gouverneuren kein Vertrauen hat, soll man lieber solange mit ihnen wechseln, bis man einen geeigneten gefunden hat […]. […] die Gouverneure werden immer noch etwa so behandelt wie Konsuln, d.h. wie Beamte, die am Gängelbande der heimischen Vorgesetzten zunächst und in erster Linie Vorsicht walten und bei irgendwelchen vorausahnenden Verwickelungen Instruktionen erbitten müssen. Ein Gouverneur soll zunächst was schaffen und da er mehr oder weniger ohne vorliegende Erfahrungen arbeiten muss und keine sogenannten Vorgänge zur bequemen Verfügung hat, muss man ihm zugutehalten, wenn er mal fest daneben fasst.« 1508 Tesch, Laufbahnen. Die Erscheinungsdaten der zunehmend umfangreichen Ausgaben stehen zugleich für den nach der Jahrhundertwende einsetzenden Professionalisierungsprozess: April 1902 (1.), März 1905 (2.), Oktober 1907 (3.), April 1909 (4.), August 1910 (5.), August 1912 (6.). 1509 Wilhelm II./Bethmann Hollweg vom 8.6.1910, Kolonialbeamtengesetz, abgedruckt in: DKB 21, S. 587–595; Hausen, Kolonialherrschaft, S. 110. 1510 BA-K N 1053/24, Bl. 58f., Solf (Apia) an König vom 10.5.1903, Schreiben. Im Tenor vergleichbar: BA-K N 1053/130, Bl. 86–93, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 5.10.1900, Schreiben; BA-K N 1053/131, Bl. 1, Solf (Apia) an Schnee vom 21.10.1901, Schreiben; BA-K N 1053/25, Bl. 58–62, Solf (Apia) an König vom 30.4.1904, Schreiben; BA-K N 1053/127, Bl. 28–33, Solf (Apia) an Rose vom 21.5.1904, Schreiben. 1511 BA-K N 1053/24, Bl. 58f., Solf (Apia) an König vom 10.5.1903, Schreiben.
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Gerade im Hinblick auf die »Behandlung der Eingeborenen« wetterte er gegen jegliche Vereinheitlichungstendenzen aus Berlin und forderte vor allem für dieses Feld eine »besondere Machtvollkommenheit« für die Gouverneure.1512 Ähnlich äußerten sich seine Amtskollegen, wie beispielsweise Götzen, der noch nach seinem Ausscheiden die Befugnisse der Gouvernements im Verhältnis zur Zentralbehörde »möglichst weit gezogen« sehen wollte.1513 Tatsächlich setzte seit Dernburg eine sukzessive Verlagerung von Kompetenzen an die Peripherie ein. Zwar hielt auch er an der im Frühjahr 1901 von Stuebel verfügten Einschränkung des Verordnungsrechts fest. Wie bereits im Zusammenhang mit Götzen erläutert, mussten sich seitdem die Gouverneure ihre Entwürfe vorab von der Berliner Zentrale genehmigen lassen, ehe sie die Verordnungen in Kraft setzen durften.1514 Weit davon entfernt, hier eine Änderung herbeizuführen, hatte Dernburg sogar bemängelt, dass viele der eingesandten Verordnungstexte nicht einmal den formalen Anforderungen genügen würden.1515 Dennoch verfügte Dernburg bereits wenige Monate nach seinem Amtsantritt die Übertragung der bisher von Berlin aus zentral verwalteten kolonialen Finanzen an die Gouvernements. Nachdem mit Wirkung vom 1. April 1907 versuchsweise damit in Togo begonnen worden war, ordnete er ein analoges Vorgehen auch für die übrigen afrikanischen ›Schutzgebiete‹ an.1516 Mit Blick auf sein Kernziel, die Kolonien weitgehend von den Reichsfinanzen unabhängig zu machen, hatte der frühere Bankdirektor zweifellos erkannt, dass sich Finanzplanung und Rechnungslegung vor Ort weitaus effizienter bewerkstelligen ließen als von der heimischen Metropole aus. Diese Regelung scheint sich aber erst nach und nach auf die Praxis ausgewirkt zu haben. Während mancher sparsame Gouverneur seine Ausgabenpraxis vorläufig offenbar wenig änderte, nutzte der Herzog zu Mecklenburg die neuen Spielräume dagegen so exzessiv aus, dass einer seiner Oberbeamten über dessen Freigiebigkeit erschrocken äußerte: »Wenn Zech das sähe, kriegte er graue Haare.«1517 Zweifellos wirkten sich in diesem Fall aber nicht nur die erweiterten Kompetenzen, sondern auch die kaiserliche Protektion des Herzogs aus,
1512 BA-K N 1053/127, Bl. 48f., Solf (Apia) an Rose vom 2./3.7.1904, Schreiben; vgl. BA-B R 1001/2763, Bl. 50, Solf (Berlin) vom 22.2.1906, Vermerk; BA-K N 1053/130, Bl. 86–93, Solf (Apia) an Schmidt-Dargitz vom 5.10.1900, Schreiben; BA-K N 1053/24, Bl. 58f., Solf (Apia) an König vom 10.5.1903, Schreiben; BA-K N 1053/109, Bl. 1–3, Solf (Apia) an Hahl vom 23.9.1903, Schreiben. 1513 BA-B R 1001/6938, Bl. 30f., Götzen (Berlin) an Dernburg vom 25.2.1908, Schreiben. 1514 Dernburg vom 4.5.1908, Runderlass betr. Abfassung und Verkündung von Verordnungen, abgedruckt in: DKG 12, S. 168–170. Zu Stuebels Maßregel vom 14.3.1901 siehe Kapitel 4.3.1. 1515 Dernburg vom 4.5.1908, Runderlass betr. Abfassung und Verkündung von Verordnungen, abgedruckt in: ebd., S. 168–170; vgl. BA-B R 1001/5506, Bl. 16, Schmidt-Dargitz vom 5.11.1901, Vermerk. 1516 Dernburg vom 6.7.1907, Verfügung betr. Verlegung der Finanzverwaltung für Togo in das Schutzgebiet, abgedruckt in: DKG 11, S. 280–285; Lindequist (i.V.) vom 21.7.1908, Erlass betr. Verlegung der Finanzverwaltung für DOA, DSWA und Kamerun in diese Schutzgebiete, abgedruckt in: DKG 12, S. 303f.; Dernburg vom 22.3.1909, Verfügung betr. Verlegung der Finanzverwaltung für Kamerun in das Schutzgebiet, abgedruckt in: LGG Kamerun, S. 305–309; Hausen, Kolonialherrschaft, S. 78. Für Neuguinea und Samoa ergingen offenbar keine vergleichbaren Dekrete, auch waren dort bis zuletzt keine gesonderten Planstellen für Finanzdirektoren ausgewiesen. Schutzgebiets-Etats von 1913, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Bd. 303, S. 2779f. 1517 PA-AA NL 8/50, Bl. 54–57, Hermans (Lomé) an Asmis vom 12.12.1912, Schreiben.
4. Herrschaftspraktiken
wagte es Solf doch nicht, sich durch Einsprüche dem Zorn des allerhöchsten Förderers auszusetzen.1518 Neben der Erweiterung einiger Gouvernements um Finanzreferate gingen die Neuregelungen mit erweiterten Spielräumen in Bezug auf die Verwaltungsorganisation einher. Zwar blieb das Budgetrecht des Reichstags weiterhin unangefochten. Innerhalb der gezogenen finanziellen Grenzen waren die Gouverneure aber fortan dazu ermächtigt, die »Neuschaffung, Verlegung, Aufhebung von Verwaltungsbehörden« in ›ihren‹ Kolonien eigenständig zu veranlassen. Der Grundgedanke hinter dieser Regelung bestand nicht zuletzt darin, dass eine Verwaltung vor Ort, die ihre Finanzplanung großenteils selbst gestaltete, auch über ihren organisatorischen Aufbau entscheiden sollte. Erneut handelt es sich aber um eine schrittweise Umsetzung, erhielten doch die Gouverneure von Kamerun und Neuguinea im Frühjahr 1909 als erste diese Befugnis übertragen. Ein knappes Jahr später war Südwestafrika an der Reihe, während der Gouverneur von Ostafrika erst im Februar 1913 dazu ermächtigt wurde.1519 Zwei Wochen vor Beginn des Weltkrieges folgte schließlich eine generelle, für sämtliche Gouverneure der afrikanischen und ozeanischen ›Schutzgebiete‹ geltende Befugnis, über den Verwaltungsaufbau vor Ort eigenständig zu bestimmen.1520 Auch das umständliche Prozedere im Hinblick auf das gouvernementale Verordnungsrecht sollte erst spät reformiert werden. Nicht zuletzt aufgrund eines Konflikts zwischen Dernburg und Schuckmann, der aus der Verteilung der südwestafrikanischen Diamantengewinne resultierte, pochte der Staatssekretär bis zuletzt auf das entscheidende Wort des Kolonialamts bei der »Fortbildung der Gesetzgebung« in den ›Schutzgebieten‹.1521 Das sollte sich erst mit der Einsetzung Solfs zum Kolonialstaatssekretär ändern. Eben noch selbst Gouverneur, erklärte er im Frühjahr 1912, dass sein Bestreben darauf gerichtet sei, die »Stellung der Gouverneure in den Schutzgebieten 1518 Ebd., Doering (Lomé) an Asmis vom 12.4.1913, Schreiben. Darin wunderte sich Doering, dass überhaupt nicht mehr »gespart und geknausert« werde und das RKA offenbar nicht mehr darauf achte, »dass Gesuche u. Anträge auch abgelehnt werden können.« 1519 Dernburg (i.V.) vom 16.3.1909, Verfügung betr. Ermächtigung des Gouverneurs von Kamerun zur Neuschaffung, Verlegung, Aufhebung von Verwaltungsbehörden, abgedruckt in: DKG 13, S. 166; Dernburg (i.V.) vom 15.5.1909, Verfügung betr. Ermächtigung des Gouverneurs von DNG zur Neuschaffung, Verlegung, Aufhebung von Verwaltungsbehörden, abgedruckt in: ebd., S. 253; Dernburg (i.V.) vom 18.1.1910, Verfügung betr. Ermächtigung des Gouverneurs von DSWA zur Neuschaffung, Verlegung u. Aufhebung von Verwaltungsbehörden, abgedruckt in: DKB 21 (1910), S. 117; Solf (i.V.) vom 21.2.1913, Verfügung betr. Ermächtigung des Gouverneurs von DOA zur Neuschaffung, Verlegung und Aufhebung von Verwaltungsbehörden, abgedruckt in: DKB 24 (1913), S. 213; vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 74, die aus der Kameruner Perspektive diese Befugnis aus dem zeitlichen Kontext herauslöst und als generelle Möglichkeit der Gouverneure einstuft, der jeweiligen Verwaltung ihren »Stempel« aufzudrücken. 1520 Solf (i.V.) vom 15.7.1914, VO betr. Ermächtigung der Gouverneure der afrikanischen und SüdseeSchutzgebiete zur Neuschaffung, Verlegung u. Aufhebung von Verwaltungsbehörden, abgedruckt in: DKB 25 (1914), S. 696. 1521 BA-B R 1001/5506, Bl. 136, Dernburg vom 2.3.1910, Vermerk. Zum Hintergrund: Schiefel, Dernburg, S. 103–108; BA-B N 2272/4, S. 244, Schuckmann an seine Frau, Juni 1909, Schreiben; BA-B N 2272/3, Schuckmann (Swakopmund) an seinen Sohn vom 2.9.1909, Schreiben; BA-K N 1037/8, Schuckmann (Windhuk) an Bethmann Hollweg vom 12.11.1909, Bericht; BA-B N 2272/1, Schuckmann (Berlin) an Hintrager vom 19.4.1910, Schreiben.
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selbständiger zu gestalten«.1522 Das unmittelbare Resultat bestand in einem Verzicht der Zentrale auf die Vorprüfung der Verordnungsentwürfe. Lediglich in Fällen, denen dem »pflichtgemäßen Ermessen der Gouverneure« zufolge eine »größere politische Bedeutung« zukam oder die sich nachhaltig auf den Etat auswirkten, seien die Verordnungstexte vor ihrem Inkrafttreten dem Kolonialamt vorzulegen. Gleiches galt bezeichnenderweise für alle »Diamantensachen« in Südwestafrika.1523 Wenngleich Solf immer wieder erklärte, »den Gouverneuren in Angelegenheiten ihres Schutzgebiets freies Spiel zu lassen«, war auch diese Entscheidung keineswegs ausschließlich seinem guten Willen entsprungen.1524 Erneut spielten praktische Erwägungen eine wichtige Rolle. Tatsächlich war dem erst 1909 ins Leben gerufenen Selbstverwaltungsorgan in Deutsch-Südwestafrika, dem sogenannten Landesrat, ein im Vergleich zum vorherigen Gouvernementsrat erweitertes Mitspracherecht in der ›Schutzgebietsgesetzgebung‹ eingeräumt worden. Waren Verordnungsentwürfe des Windhuker Gouvernements vom Landesrat erst einmal angenommen, hätten umfangreiche nachträgliche Änderungswünsche des Kolonialamts die Position des dortigen Gouverneurs »ganz unhaltbar« werden lassen.1525 Vor diesem Hintergrund hatte Solf seine Entscheidung über den Wegfall der vorherigen Prüfung getroffen. Ebenso bezeichnend ist es, dass er nicht zögerte, mit einer Wiedereinführung der Stuebel’schen Praxis zu drohen, nachdem das Reichskolonialamt wiederholt Mängel bei den vom Gouvernement in Lomé erlassenen Verordnungen beanstandet hatte.1526 Auch die koloniale Verwaltung selbst hatte sich, verglichen mit den kleinteiligen Verhältnissen der Anfangszeit und ihrer rudimentären personellen Ausstattung, erheblich verändert.1527 Aus den anfänglichen »Amtsstuben« mit wenigen Beamten waren gegen Ende des deutschen Kolonialreichs ansehnliche Zentralbehörden geworden, wobei der jeweilige Gouverneur auf einen Stab von Referenten zurückgreifen konnte.1528 Diese vertraten die wichtigsten Ressorts und verfügten zu diesem Zweck über eigene Sachbearbeiter. Besonders großzügig war der Ausbau der Gouvernements in den drei großen afrikanischen Kolonien erfolgt, besaßen diese doch inzwischen einen personellen Umfang von jeweils 70–90 Europäern. Etwas kleiner fielen die Gouvernements in Togo und Neuguinea mit jeweils gut zwei Dutzend Beamten aus. Erwartungsgemäß am kleinsten war die Zentralbehörde in Samoa, die angesichts der geringen Größe der Kolonie nur ein
1522 BA-B R 1001/5506, Bl. 180f., Solf an Seitz vom 20.4.1912, Erlass. 1523 Solf vom 18.2.1912, Runderlass betr. Handhabung des Verordnungsrechts, abgedruckt in: LGG Kamerun, S. 33. 1524 BA-K N 1053/33, Bl. 128, Solf an Arendt vom 23.12.1913, Schreiben. 1525 Dernburg (i.V.) vom 28.1.1909, VO betr. Selbstverwaltung in DSWA, abgedruckt in: DKG 13, S. 19–34; BA-B R 1001/5506, Bl. 177–179, Seitz (Windhuk) an Solf vom 2.3.1912, Bericht (Zitat); vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 73. Allgemein zum Landesrat in DSWA: Huber, Selbstverwaltung. 1526 BA-B R 1001/5506, Bl. 248, Solf an Gouvernement in Lomé vom 1.7.1914, Erlass. 1527 Zu den Anfängen kolonialer Verwaltung siehe die Kapitel 4.2, 4.3 und 4.4. 1528 Hausen, Kolonialherrschaft, S. 77 (Zitat).
4. Herrschaftspraktiken
knappes Dutzend europäische Mitarbeiter umfasste.1529 Alle dieser Behörden arbeiteten im Großen und Ganzen entsprechend den Prinzipien bürokratischer Verwaltungsapparate. Neben den entsprechenden Dienstvorschriften und Geschäftsverteilungsplänen hatte daran nicht zuletzt die Tatsache entscheidenden Anteil, dass sich für das dortige Leitungspersonal zwar noch kein regelrechtes ›Juristenmonopol‹, aber doch eine nachweisbare Bevorzugung von Absolventen der Rechtswissenschaft durchgesetzt hatte.1530 Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Praktiken einer modernen bürokratischen Verwaltung an den Toren der Gouvernementsgebäude, die bezeichnenderweise von manchen Außenstehenden abschätzig als »Tintenpalast« oder »Referentenstall« verspottet wurden, stoppten oder ob diese den Weg auch in die Fläche – zu den Lokalverwaltungen – gefunden hatten.1531 Für letzteres scheint die Tatsache zu sprechen, dass sich auch die schiere Zahl der Bezirks-, Distriktämter und Stationen bis kurz vor Ausbruch des Weltkrieges erheblich vergrößert hatte. In allen ›Schutzgebieten‹ zusammengenommen existierten inzwischen rund 130 dieser Lokalbehörden. Deren Personalstand relativiert jedoch diese auf den ersten Blick beeindruckende Zahl erheblich, umfasste doch die gesamte koloniale Lokalverwaltung des Kaiserreiches zuletzt nur etwa achthundert europäische Beamte. Diese wurden zwar von mehreren tausend – meist indigenen – Polizei- und Schutztruppenangehörigen sowie durch ebenso viele einheimische Dolmetscher oder Hilfsschreiber unterstützt. Trotzdem erwecken die gleichzeitig rund dreihundert in den Gouvernements tätigen Beamten letztlich den Eindruck einer einseitigen Schwerpunktbildung zu Gunsten der Zentren unter Vernachlässigung der Peripherien innerhalb der Kolonien.1532 Tatsächlich muss auch gegen Ende des deutschen Kolonialimperiums konstatiert werden, dass die als territorial angelegte Herrschaft des kolonialen Staats nach wie vor einen sehr ungleichmäßigen Charakter aufwies. Anstelle der anvisierten flächendeckenden Kontrolle ist vielmehr zwischen herrschaftsnahen und herrschaftsfernen Räumen zu unterscheiden.1533 In Ostafrika und Togo waren zu Beginn des Jahres 1913 fast zwei Drittel der Regierungsbeamten weiterhin in den Küstenbezirken tätig, in Kamerun waren es sogar zeitweilig bis zu drei Viertel. Dementsprechend »exceedingly thin« fiel die Präsenz des kolonialen Staates im Binnenland aus.1534 Diese Defizite blieben den Gouverneuren keineswegs verborgen. Im Gegenteil: In einer publizierten Denkschrift aus dem Jahr 1909 äußerte Seitz in aller Offenheit, dass Kamerun zwar von einem Netz aus Verwaltungsbehörden überzogen werde, doch sei »auch heute noch nicht das ganze
1529 Zu Gliederung und Umfang der Gouvernements: Etats zu den einzelnen ›Schutzgebieten‹ für das Rechnungsjahr 1913, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Bd. 303, S. 2772–2780; Handbuch für das Deutsche Reich 1914, S. 383–413. Dazu kam jeweils eine Vielzahl afrikanischer bzw. ozeanischer Hilfskräfte. Für diese sind nicht immer genaue Zahlen verfügbar. 1530 ANY FA 1/148, Gouvernement in Buea vom 24.7.1909, Geschäftsordnung für das Gouvernement von Kamerun. Der Anteil der Juristen unter den Bezirkschefs konnte je nach Kolonie erheblich differieren. Vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 120–122. 1531 Seitz, Aufstieg 2, S. 21 (Zitate). 1532 Ermittelt nach: Etat zu den einzelnen ›Schutzgebieten‹ für das Rechnungsjahr 1913, abgedruckt in: Verhandlungen RT, Bd. 303, S. 2772–2780; Handbuch für das Deutsche Reich 1914, S. 383–413. 1533 Für die Spätphase in DSWA: Zollmann, Herrschaft, S. 213–215. 1534 Ermittelt nach: JB 1912/13 (Anhang), S. 12f., 16, 20f.; Gann/Duignan, Rulers, S. 71 (Zitate).
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Schutzgebiet tatsächlich in Verwaltung genommen«.1535 Auch Solf war sich darüber bewusst, dass er sich bei seinen Besichtigungsreisen an der Peripherie stets vor dem »ollen, ehrlichen Potemkin« in Acht nehmen müsse.1536 Von einer »Herrschaftsutopie« oder von »Allmachtsphantasien« – im Sinne einer kollektiven Autosuggestion, die die realen Verhältnisse gänzlich ausgeblendet hätten – wird man bei den Gouverneuren daher auch in den letzten Jahren des Kolonialreichs kaum sprechen können.1537 Obwohl die Diagnose einer äußerst lückenhaften administrativen Kontrolle im Prinzip auch für Deutsch-Südwestafrika gilt, stellt diese Kolonie doch einen Sonderfall dar. Dort sah sich eine während des Imperialkrieges stark dezimierte indigene Bevölkerung einer wachsenden Zahl europäischer Siedler gegenüber, was wiederum einen recht umfangreichen Verwaltungsapparat nach sich zog. Beispielsweise hatte sich durch diese Entwicklung in den fünf Kernbezirken (Windhuk, Karibib, Swakopmund, Lüderitzbucht, Keetmanshoop) das nur in expliziten Siedlungskolonien denkbare Zahlenverhältnis von rund dreißigtausend afrikanischen Einwohnern gegenüber mehr als achttausend Europäern ergeben. Unter den letzteren befanden sich wiederum über fünfhundert europäische Regierungsbeamte sowie neunhundert Schutztruppenangehörige.1538 Wenngleich der Faktor Raum stets eine Relativierung erforderlich macht, lässt sich eine Verdichtung von Verwaltung und ihrer Zugriffsmöglichkeiten in diesen ›Islands of White‹ (Dane Kennedy) kaum übersehen. Im Prinzip vergleichbar, wenn auch in deutlich geringerer Ausprägung, sind in diesem Zusammenhang auch die Plantagenbezirke im Norden von Deutsch-Ostafrika oder auch in Samoa anzuführen. Dort konzentrierten sich ebenfalls größere Pflanzergesellschaften auf abgegrenzte Räume, so dass die beim Blick auf eine Kolonie als Ganzem zu beobachtende ›thin white line‹ (Anthony Kirk-Greene) in solchen Teilbezirken deutlich ›breiter‹ ausfiel.1539 Wie schwierig eine adäquate Beurteilung des tatsächlichen staatlichen Zugriffs auf die indigenen Gesellschaften ist, lässt sich wiederum am Beispiel von Südwestafrika verdeutlichen. Während angesichts des aus europäischer Sicht vergleichsweise günstigen Zahlenverhältnisses zwischen Siedlern und Einheimischen der Eindruck einer erfolgreichen administrativen Durchdringung der Kolonie nach dem Imperialkrieg entsteht, muss die fast einhellige Ablehnung der Einführung einer direkten Besteuerung der Einheimischen durch die Lokalverwaltung auf den ersten Blick irritieren. Noch 1908/09 hielten die Bezirks- und Distriktämter diesen Schritt für verfrüht. Einerseits lag das zweifellos an der unübersehbaren Pauperisierung der Indigenen durch den zurückliegenden
1535 Seitz, o.D. [1909], Denkschrift betr. die Organisation der Lokalverwaltung des Schutzgebietes Kamerun, abgedruckt in: LGG Kamerun, S. 41–44, hier: 41f. 1536 BA-K N 1053/36, Bl. 3, Solf an Grapow vom 10.6.1912, Schreiben. Ähnliches galt für die Ebene der Bezirksleiter: PA-AA NL 8/49, Bl. 37–39, Kersting (Sokode) an Asmis vom 18.12.1908, Schreiben. 1537 Für die früheren Gouverneure finden sich zahlreiche analoge Belege in den vorangehenden Abschnitten. Zur These der »Herrschaftsutopie«: Spittler, Verwaltung, S. 105; Trotha, Herrschaft, passim. Zur Vermutung allgegenwärtiger »Allmachtsphantasien«: Krüger, Kriegsbewältigung, S. 184. 1538 Ermittelt nach: JB 1912/13 (Anhang), S. 22, 24, 49, 52. 1539 In den Pflanzungsbezirken Aruscha, Moschi und Wilhelmstal lebten zu Beginn des Jahres 1913 1.390 Europäer gegenüber einer indigenen Bevölkerung von schätzungsweise 300.000 Menschen. Zahlenmäßig günstiger waren die Verhältnisse in Samoa, wo zur gleichen Zeit 544 Europäer auf 33.554 Samoaner kamen. Ermittelt nach: JB 1912/13 (Anhang), S. 10f., 34, 36, 59.
4. Herrschaftspraktiken
Krieg. Zum anderen hielten etliche der leitenden Beamten aber auch die administrativen Voraussetzungen nach wie vor für unzureichend.1540 Tatsächlich setzte in DeutschSüdwestafrika erst seit 1912 die teilweise Erhebung von Kopf-, Lohn- und Viehsteuern ein. Von einer auch nur annähernd flächendeckenden Besteuerung der einheimischen Bevölkerung kann jedoch auch dort bis zuletzt keine Rede sein.1541 In den anderen ›Schutzgebieten‹, wo Hütten- oder Kopfsteuern schon früher eingeführt wurden, hatten die Einkünfte bis zum Ende des Kolonialreiches zwar überall gesteigert werden können, doch lässt sich nach wie vor auch auf dem fiskalen Sektor kaum von einer wirklichen Territorialherrschaft sprechen. In Togo entrichtete beispielsweise die Küstenbevölkerung, die nur ein Viertel aller Einwohner der Kolonie stellte, ungefähr die Hälfte des Steueraufkommens.1542 In den anderen ›Schutzgebieten‹ waren die Verhältnisse ähnlich. Die einzige Ausnahme stellte das kleinflächige Samoa dar, wo sich die Durchführung der Erhebung aber ausschließlich in den Händen einer indigenen, vom Steueraufkommen unmittelbar profitierenden Selbstverwaltung befand.1543 Überhaupt hatten sich trotz des zunehmenden Ausbaus der Lokalverwaltung die prinzipiellen Modalitäten des sprichwörtlichen Aushandelns von Herrschaftsbeziehungen nur wenig verändert. Während etwa Seitz auf seinen Inspektionsreisen durch Kameruns Tropenwälder den dortigen chiefs regelmäßig seine »übliche Rede vom großen Gouverneur etc.« hielt, sah sich auch Solf als Kolonialstaatssekretär persönlich dazu veranlasst, in Togo den »angesehensten Häuptling des etwa 15.000 Köpfe zählenden Wogastammes […] zur Arbeit zu ermahnen und vor dem übertriebenen Genuss von Alkohol zu warnen«.1544 Auch Gleim zog nach seiner Ernennung zum Gouverneur wie fast alle seine Vorgänger nach Yaundé, »um den Eingeborenen möglichst große Machtentfaltung zu zeigen«.1545 Nicht anders erging es Hahl, der sich nach wie vor genötigt sah, häufig in seinem ›Schutzgebiet‹ umherzureisen, um lokale Angelegenheiten persönlich zu regeln.1546 Die idealtypische Amtstätigkeit des obersten Beamten einer bürokratisch
1540 Zur Diskussion über die Einführung von ›Eingeborenensteuern‹ in DSWA: Zimmerer, Herrschaft, S. 257–277. 1541 Lediglich das Bezirksamt in Lüderitzbucht hatte bereits 1910 eine Kopfsteuer eingeführt: BA Lüderitzbucht vom 30.9.1910, VO betr. Erhebung einer Eingeborenen-Kopfsteuer, abgedruckt in: AB DSWA 15 (1910), S. 196; Zimmerer, Herrschaft, S. 277f. Auf Gemeinde-Ebene machte Windhuk den Anfang: BA-B R 1002/2591, Bl. 65, Gemeinde Windhuk vom 9.2.1912, Orts-Satzung betr. Erhebung einer Eingeborenensteuer. Es folgten Maltahöhe (29.6.1912), Omaruru (8.7.1912), Gobabis (24.9.1912), Okahandja (1.5.1913), Gibeon (25.9.1913), Swakopmund (14.3.1914) und Rehoboth (25.4.1914). Die Satzungen finden sich im Amtsblatt für DSWA Nr. 16, 17, 24 (1912), Nr. 12, 21 (1913), Nr. 8, 14 (1914). 1542 Ermittelt nach den Angaben in: JB 1912/13 (Anhang), S. 45, 409. 1543 Zur Entwicklung des Steueraufkommens in den übrigen ›Schutzgebieten‹: Bald, Deutsch-Ostafrika, S. 55–57; Hausen, Kolonialherrschaft, S. 196; Hiery, Reich, S. 195, Anm. 10. Zu Samoa siehe Kapitel 4.4.2. 1544 BA-K N 1175/1, Bl. 8, Seitz, Tgb. (22.8.1907) (Zitat 1); BA-K N 1053/40, Bl. 34f., Solf, Reisenotizen (5.10.1913) (Zitate 2+3). 1545 BA-MA N 154/1, S. 46, v.d. Leyen, Erinnerungen. 1546 GStA PK Nl Schnee/39, Hahl (Herbertshöhe) an Schnee vom 16.5.1909, Schreiben. Einen Eindruck von Hahls Reisetätigkeit im Jahr 1909 vermittelt die Akte: AAC CRS G 254/195.
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verwalteten und in ihrer Gesamtheit ebenso effektiv wie dauerhaft beherrschten Kolonie hätte zweifellos anders aussehen müssen. Der Eindruck einer sonderbaren Kombination aus administrativem Fortschritt und fundamentalen Defiziten entsteht auch angesichts der Kontrollmöglichkeiten, die die Gouverneure gegenüber ihren Lokalbehörden besaßen. Die Verdichtung kolonialer Infrastruktur, etwa in Bezug auf Eisenbahnlinien, Hafenanlagen, Schifffahrtslinien, Telegraphen- und Telefonverbindungen, aber auch erster Funkanlagen und Automobile, hatte zweifellos die Entfernungen schrumpfen lassen und somit die wechselseitige Kommunikation innerhalb der kolonialen Verwaltung wesentlich erleichtert.1547 Bereits gegen Ende 1906 hatte sich der Stabschef der Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika über eine Überlandfahrt mit dem Automobil begeistert im Hinblick auf die neuen Möglichkeiten gezeigt:1548 »Das Ding fuhr ausgezeichnet. Unsere Stationen sind jetzt in Aufregung, da sie keinen Augenblick vor einem Besuch sicher sind. Manchem ist ein solcher Besuch viel weniger erfreulich als einer durch die Hotts [d.h. Nama-Krieger] […].« Auch Solf registrierte als Staatssekretär erfreut, während einer siebenstündigen Autofahrt durch das Togoer Küstenland 180 Kilometer zurückgelegt zu haben. Im SokodéBezirk gelang die Überwindung einer ähnlichen Entfernung sogar in nur fünf Stunden. In früheren Zeiten hätte eine solche Strecke noch sechs Tagesmärsche erfordert.1549 Einschränkend ist allerdings zu bemerken, dass die Verfügbarkeit dieses modernen Fortbewegungsmittels vorläufig in erster Linie vom jeweiligen Gouverneur abhing. Nicht jeder war ein regelrechter Autonarr, wie beispielsweise der Herzog zu Mecklenburg.1550 Dazu kam, dass längst nicht überall befahrbare Straßen vorhanden waren. Gleiches galt für die Verfügbarkeit von Benzin und Ersatzteilen. Entscheidend war allerdings weniger die einzelne technische Innovation. Wesentlicher waren die Möglichkeiten, die sich aus dem generellen Ausbau der Infrastruktur und einer Kombination der vorhandenen Transport- und Kommunikationsmittel boten. Allein das Bahnnetz in den afrikanischen Kolonien umfasste zuletzt mehr als viertausend Kilometer. Parallel dazu erstreckten sich Telegraphenlinien von etwa der dreifachen Länge bis tief ins Binnenland. Trotz vieler auch 1914 noch bestehenden Lücken und Mängel sah sich dadurch eine wachsende Anzahl von Bezirksämtern und Stationen einer deutlich unmittelbareren Kontrolle gegenüber als das noch wenige Jahre zuvor der Fall gewesen war.1551 Daran hatte nicht zuletzt auch eine von Seiten der Gouvernements zunehmend systematisierte Wissensproduktion einen gewichtigen Anteil. Dass sich diese wesentlich aus dem Berichtswesen der nachgeordneten Behörden speiste, wurde bereits ebenso 1547 Allgemein zur kolonialen Infrastruktur und den entsprechenden Planungen: Laak, Infrastruktur. Zum Eisenbahnbau: Schroeter, Eisenbahnen. Zu den Funkstationen: Klein-Arendt, Kamina. Allgemein zur ›Kommunikationsrevolution‹: Borchardt, Revolution, S. 98; Roth, Jahrhundert. 1548 BA-MA N 134/1, S. 136, Scherbening, Tgb. (19.11.1906). 1549 BA-K N 1053/40, Bl. 34f., 43f., Solf, Reisetagebuch (5., 8.10.1913). 1550 Vgl. Diebold, Hochadel, S. 169f. 1551 Übersichten über den Ausbau der Bahn- und Telegraphenlinien in: DKL 1, S. 529–540; DKL 3, S. 473.
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thematisiert wie dessen Vorzüge und Mängel.1552 Gerade im Gefolge der ›Ära Dernburg‹ lassen sich vielfältige Bemühungen erkennen, durch eine weitere Ausdifferenzierung der Erhebungsmethoden aber auch durch verschärfte Kontrollen die Zuverlässigkeit kolonialen Herrschaftswissens zu erhöhen. Die unterschiedlich wirksamen Maßnahmen reichten etwa von der Einführung sogenannter Merkbücher bei den Bezirksämtern und Stationen über eine wachsende Zahl von Monats-, Vierteljahres-, Halbjahres- oder Jahresberichten bis zur obligatorischen Umsetzung des Vieraugenprinzips oder regelmäßigen Besuchen eigens eingesetzter Revisionskommissionen.1553 Zwar blieben den Leitern der Lokalbehörden nach wie vor erhebliche Handlungsspielräume erhalten, doch gestaltete sich die Umsetzung jeglicher Form von ›kreativer Buchführung‹ angesichts der wachsenden Möglichkeiten der Gouvernements auf Einsichtnahme und Prüfung zunehmend schwieriger. Gleichzeitig darf angenommen werden, dass die beschriebene personelle Professionalisierung auch in dieser Hinsicht nicht ohne Folgen blieb. Tatsächlich hatte die wachsende Zahl juristisch vorgebildeter Stations- und Bezirksleiter zumindest die formalen Anforderungen bereits während der Ausbildung eingeübt. Eine weitere Handhabe zur Erzwingung von Wohlverhalten bot zudem das ebenfalls in den Händen der Gouverneure befindliche und ebenfalls zunehmend formalisierte Beurteilungswesen.1554 Auch die disziplinarischen Möglichkeiten der Gouvernements waren seit dem Inkrafttreten des Kolonialbeamtengesetzes nochmals gestärkt worden.1555 Ungeachtet aller Neuerungen und funktionalen Verbesserungen blieb die Realisierung einer flächendeckenden und dauerhaften Beherrschung der Territorien dennoch unerreicht. Gleiches gilt für die Errichtung einer bürokratisch funktionierenden Verwaltung nach europäischem Muster. Die Professionalisierung des Leitungspersonals, die verdichtete Infrastruktur sowie die systematisierte Wissensproduktion vermochten zwar beachtliche Veränderungen herbeizuführen, doch blieben diese oft punktueller wie temporärer Natur. Die strukturellen Schwächen des kolonialen Staates – die unzulängliche Ausstattung mit personellen und materiellen Ressourcen sowie eine latente Abhängigkeit von kaum kontrollierbaren intermediären Akteuren – ließen sich bis zuletzt in keinem ›Schutzgebiet‹ überwinden. Ganz zu schweigen von den nach wie vor ungeschmälerten Möglichkeiten der Kolonisierten, sich durch Mobilität oder andere defensi-
1552 Siehe Kapitel 4.5.1. 1553 Beispiele für Kamerun: Kalkmann (i.V.) vom 26.11.1907, Runderlass betr. Dienstanweisung für die Kommissionen für die Revision der Dienststellen im Schutzgebiet Kamerun, abgedruckt in: LGG Kamerun, S. 55–59; Seitz vom 7.4.1908, Runderlass betr. Führung von Merkbüchern durch die Bezirksleiter usw., abgedruckt in: DKG 12, S. 136–138; Seitz vom 7.4.1908, Runderlass betr. Halbjahresberichte der Bezirksämter und Stationen, abgedruckt in: LGG Kamerun, S. 64f.; Hansen (i.V.) vom 15.9.1909, Runderlass betr. Behandlung von Berichten an das Gouvernement, abgedruckt in: ebd., S. 51f.; BA-B R 1001/3400, Bl. 40–64, Gouv. in Buea (i.V. Steinhausen) vom 12.7.1910, Runderlass betr. Terminkalender; vgl. Hausen, Kolonialherrschaft, S. 102f. In der Tendenz verlief die Entwicklung in den anderen ›Schutzgebieten‹ ähnlich. 1554 Seitz vom 7.3.1908, Runderlass betr. Qualifikationsberichte und Führungszeugnisse, abgedruckt in: LGG Kamerun, S. 257; Seitz vom 25.5.1908, Runderlass betr. Ausstellung von Dienstzeugnissen, abgedruckt in: ebd. 1555 Wilhelm II./Bethmann Hollweg vom 8.6.1910, Kolonialbeamtengesetz, abgedruckt in: DKB 21 (1910), S. 587–595.
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ve Strategien dem Zugriff der Kolonisierenden zu entziehen. Die äußerliche Ausgestaltung der Kolonialverwaltung blieb daher zwangsläufig Stückwerk.
4.8 Zwischenergebnisse Im dritten und umfangreichsten Abschnitt dieser Studie standen die Herrschaftspraktiken der Gouverneure im Fokus. Dabei war nicht zuletzt die Verortung dieser Positionselite innerhalb der Verwaltungshierarchie von Bedeutung. Dementsprechend lauteten die Kernfragen: Welche Möglichkeiten besaßen die Gouverneure, eine eigenständige Politik zu konzipieren und umzusetzen? Welche Strategien verfolgten sie, um sich ein Minimum an Selbständigkeit gegenüber der zentralen Aufsichtsbehörde zu sichern? Welche Anstrengungen unternahmen sie, um die ihnen unterstellten Lokalbehörden zu kontrollieren? Insbesondere standen dabei die Konflikte und Lösungsstrategien der Gouverneure im Zentrum, vor allem aber deren Interessen, Initiativen, Beteiligungen und Einflussnahmen. Zunächst wurde die situation coloniale als der für die Gruppe maßgebliche Aktionsraum definiert. Daneben wurde festgestellt, dass die Gouverneure zwar als Akteure on the spot zu sehen sind, ihnen aber gleichzeitig eine Sonderrolle zukam. Als oberste Beamte leiteten sie die Administration ›ihrer‹ Kolonie und nahmen dabei sowohl Regierungsals auch Verwaltungsaufgaben wahr. Gleichzeitig fungierten sie als Mittelinstanz zwischen der Zentralbehörde und den peripheren Lokalverwaltungen. Dadurch ergab sich wiederum ein spezifischer Handlungsrahmen, bei dem der unmittelbare Kontakt zu den indigenen Gesellschaften zwar keineswegs bedeutungslos war, trotzdem aber eine mehr oder minder ausgeprägte Distanz zwischen Gouverneuren und Indigenen konstatiert werden muss. Dieser Abstand vergrößerte sich tendenziell mit zunehmendem Ausbau der kolonialen Administration. Auf der Basis theoretischer Erwägungen zu den Mechanismen von ›Macht‹ und ›Herrschaft‹ sowie der These, wonach letztere als eine ›soziale Praxis‹ mit vielfältigen Akteuren, Interaktionsmöglichkeiten und Machtchancen angesehen werden muss, ging es in diesem Abschnitt nicht zuletzt darum, aus der Perspektive der Gouverneure den kolonialen Staat selbst zu charakterisieren. In diesem Zusammenhang hat sich im Forschungsdiskurs die Ansicht durchgesetzt, dass dessen Zugriffsmöglichkeiten auf die indigenen Bevölkerungen keineswegs umfassend waren. Vielmehr habe die koloniale Administration ihren Herrschaftsanspruch nur temporär und lokal begrenzt geltend machen können. Das habe dem Ideal eines modernen Territorialstaats ebenso wenig entsprochen wie dem einer bürokratischen Verwaltung. Mitunter gingen die Einschätzungen noch darüber hinaus: Danach hätten die Vertreter der Kolonialverwaltung sich angesichts dieser Defizite die bloße Utopie einer effizient arbeitenden Verwaltung erschaffen. Neben den Funktionalitäten kolonialer Staatlichkeit war auch die Verifizierbarkeit dieser These zu untersuchen. Der frühe koloniale Staat am Beispiel des ersten deutschen Gouverneurs Soden erscheint zweifellos als ressourcenschwaches Provisorium. Zwar begann in normativer Hinsicht das institutionelle Grundgerüst kolonialer Administration on the spot langsam Gestalt anzunehmen. In dieser Phase konnte aber weder von ›Verwaltung‹
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noch von einer effektiven Beherrschung des auf dem Papier beanspruchten Raumes und seiner Bewohner die Rede sein. Das ›Schutzgebiet‹ Kamerun der späten 1880er Jahre reichte faktisch kaum über den Küstensaum hinaus. Deutlich manifestierten sich dabei die latenten Defizite des kolonialen Staats: Ein Mangel an personellen wie materiellen Ressourcen, aber auch an Herrschaftswissen einerseits sowie das Bestreben untergeordneter Akteure nach eigenständigem Handeln andererseits. In Deutsch-Ostafrika, wohin Soden im Frühjahr 1891 versetzt wurde, traten diese Schwächen zum Teil noch deutlicher hervor. Im Hinblick auf die strukturellen wie personellen Defizite des kolonialen Projekts wurde diese Kolonie als Referenzort ausgewählt. Während unter Soden sowohl die untergeordneten Kommissare Wißmann und Peters als auch die als Bezirks- und Stationsleiter eingesetzten Militärs sich in der Regel der Kontrolle des Gouverneurs zu entziehen suchten, stellte Sodens Stützung durch den Reichskanzler ein begrenzt wirksames Gegengewicht dar. Die Verleihung des Exzellenz-Titels sowie die Uniformierung der Zivilbeamten fungierten zwar als autoritätsfördernde Maßnahmen zu Gunsten von Gouverneur und Zivilverwaltung. Dennoch konnte Soden lediglich in den Küstenbezirke seinen Einfluss einigermaßen festigen. Das Binnenland blieb dagegen ein kaum kontrollierbarer, wenngleich nicht gänzlich unbeobachteter Aktionsraum der Stationsleiter. Aber auch aus deren Perspektive konnte von ›Herrschaft‹ keine Rede sein. Mangels Ressourcen und lokalem Wissen ergaben sich dort lediglich temporär und räumlich begrenzte Chancen für eine ›sporadische‹ Ausübung von Macht, was in der Praxis militärische Drohgebärden oder gewaltsame Interventionen beinhaltete. Soden war sich dieser Defizite allerdings bewusst. Am Ende musste er erkennen, dass sich der Gegensatz zwischen einer an den Vorgaben der Metropole orientierten Regierung in Daressalam und den abweichenden Interessen einzelner Akteure gegen ihn auswirkte. Der Konflikt mit den Organen der Lokalverwaltung und ein schwindender Rückhalt in der kolonialen Zentrale besiegelten das Ende seiner Amtszeit. Auch sein Nachfolger Schele erwies sich zwar dem Ideal heroischer Männlichkeit gemäß als militärischer Haudegen, doch war auch er keineswegs frei von Unsicherheiten und Ängsten, wie sein Zaudern gegen die Hehe belegt.1556 Obgleich er das Stationsnetz im Binnenland der Kolonie auszubauen und sich partiell den Kommunikationsformen der Indigenen anzupassen suchte, scheiterte auch er. Entscheidend waren erneut Differenzen mit der Metropole, deren Ursachen in der Bevorzugung ökonomischer Einzelinteressen durch letztere zu suchen sind. Noch deutlicher als bei Soden lässt sich bei Schele die Abhängigkeit des obersten Beamten in Daressalam von der Unterstützung durch die Kolonialzentrale nachzeichnen. Auch Wißmanns Ernennung war das Produkt eines Einwirkens des Berliner Kolonialdirektors. Erneut konnte der Kaiser seine eigenen personellen Vorstellungen nicht durchsetzen. Die Abneigung Wilhelms II. gegen den ›Kondottiere‹ hatte aber zur Folge, dass Wißmann der keineswegs unbedeutende Exzellenz-Titel ebenso wie das Kommando über die Schutztruppe vorenthalten blieben. Auch vor Ort traf der als Abenteurer und Emporkömmling wahrgenommene Gouverneur auf die Ablehnung von Militärs und Beamtenschaft. Die Einbeziehung lokaler Eliten in die koloniale Verwaltung suchte 1556 Zum Konzept kolonialer Männlichkeit u.a.: Eckert/Wirz, Anderen, S. 379f.; Wildenthal, Women, S. 3; Kundrus, Kolonien, S. 7f.; Habermas, Skandal, S. 168.
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er ebenso zu forcieren wie die Ausdehnung seines Einflusses nach dem Landesinnern. Dabei zielte Wißmann auf eine Bündelung der begrenzten Ressourcen ab sowie auf die Einführung von Steuern zu Lasten der Einheimischen. Seine kurze Amtszeit stand allerdings im Schatten eines Konfliktes mit der Schutztruppe und deren Kommandeur Lothar v. Trotha. Wiederum mit Unterstützung der Berliner Zentrale gelang zwar am Ende eine Ausweitung der gouvernementalen Befugnisse gegenüber den Militärs, doch kamen diese Änderungen für den Gouverneur zu spät. Nach der Demission des Kolonialdirektors Kayser trat auch Wißmann zurück. Auch Liebert als dritter Militärgouverneur in Ostafrika scheiterte an der mangelnden Unterstützung aus Deutschland. Vor Ort inszenierte sich der bürgerliche Offizier als regelrechter Landesherr. Zugleich ließ er seinen Referenten erhebliche Spielräume, so dass die Einführung von Hüttensteuer und Arbeiterbestimmungen kaum als originäre Produkte Lieberts bezeichnet werden können. Beide Maßnahmen erwiesen sich allerdings als verfehlt. Angesichts einer nach wie vor weitgehend auf die Küstenregion begrenzten Landesverwaltung und einer selbst dort unvollkommenen Kontrolle über die intermediären Akteure blieb die Steuererhebung willkürlich und zufällig. Auch die Generierung von Herrschaftswissen erfolgte mangels geeigneten Personals wenig zuverlässig und mit vormodernen Methoden. Liebert zog für die Verwaltungspraxis heimische Vorbilder heran, verglich er doch das Amt des Bezirksleiters in Ostafrika mit dem des Landrats in Preußen, ohne dabei die eklatanten Unterschiede in der Lebenswirklichkeit zu berücksichtigen. Solche Wahrnehmungsdefizite und Irrtümer brachten ihn schon bei den Zeitgenossen in den Verdacht mangelnden Realitätssinns. Als eines der wenigen Gruppenmitglieder ist für Liebert daher die Utopie-These denkbar. Auch er geriet mit der Kolonialabteilung in Meinungsverschiedenheiten, was nach dem Amtsantritt des Direktors Buchka zum Konflikt führte. Eine öffentliche Kampagne in Verbindung mit der Aufdeckung von Verfehlungen im Amt kostete ihn schließlich seinen Posten. Sein Nachfolger Götzen kam ebenfalls aus dem preußischen Generalstab, hatte sich jedoch im militärischen Attaché-Dienst sowie als Forschungsreisender hervorgetan. Unverbraucht wirkend, verbindlich auftretend und dabei gut vernetzt, war er als Hoffnungsträger der Metropole nach Ostafrika entsandt worden. Wenngleich ohne Exzellenz-Titel erhielt er von Anfang an das Kommando über die Schutztruppe übertragen. Während er einerseits ›standesgemäße‹ Konventionen in die EuropäerGesellschaft in Daressalam zu transferieren suchte, speiste sich andererseits sein Kontakt zur Lebenswirklichkeit in der Kolonie vor allem aus dem amtlichen Schriftgut, weniger aus eigener Anschauung. Sein Spar- und Reformkurs garantierte zwar ein gutes Verhältnis zur Berliner Kolonialbehörde, doch beeinträchtigte sein Hang zu bürokratischer Zentralisierung gleichzeitig die Effektivität des Verwaltungshandelns vor Ort. Das Problem einer unzureichenden Kontrolle der Binnenverwaltung, namentlich einiger tatendurstiger Offiziere, trat auch unter seiner Ägide hervor. Dem suchte er durch eine engere Bindung der Bezirksleiter an ihre Dienstorte ebenso entgegenzuwirken wie durch disziplinarische Maßnahmen. Langfristig sah Götzen die Lösung aber darin, die für lokale Übergriffe in erster Linie verantwortliche Schutztruppe aus der Landesverwaltung herauszulösen und durch zivile Bezirksleiter zu ersetzen. Obwohl er auf das seit Soden kumulierte Herrschaftswissen des Gouvernements zurückgreifen
4. Herrschaftspraktiken
konnte und nicht zuletzt dadurch ein im Großen und Ganzen zutreffendes Bild über die administrativen Defizite zu gewinnen vermochte, geriet seine Verwaltungsreform dennoch ins Stocken. Im Sommer 1905 brachen für Götzen überraschend schwere Unruhen im Süden der Kolonie aus. Nach deren rücksichtsloser Niederschlagung verließ er als letzter Militärgouverneur die Kolonie gesundheitlich angeschlagen. Die Entwicklung kolonialer Administration war in Kamerun zum Teil ähnlich verlaufen. Dort war der bayerische Landgerichtsrat Zimmerer im Frühjahr 1891 als Gouverneur eingesetzt worden. Dieser war jedoch weder in der Lage, die Expeditionsleiter im Binnenland, noch die Beamten seiner eigenen Behörde ausreichend zu kontrollieren. Befangen im heimatlichen Verwaltungsprozedere, fiel es ihm schwer, sich in die Verhältnisse vor Ort einzufinden. Neben Liebert ist auch bei Zimmerer das Bild einer selbstprojizierten Herrschaftsutopie am ehesten angebracht. Die von seinem Stellvertreter provozierte Erhebung der Dahomey-Polizeisoldaten besiegelte das Ende seiner Amtszeit. Unstimmigkeiten zwischen Reichskanzler und Kolonialdirektor über die Nachfolge verzögerten den Wechsel, bevor zur Jahreswende 1894/95 Puttkamer zum Zuge kam. Wie in Ostafrika markierte die Aufstellung einer Schutztruppe auch in Kamerun den Beginn latenter Unstimmigkeiten zwischen dem Gouvernement und dem neu geschaffenen Militärkommando. Zwar zeigte sich Puttkamer immer wieder in der Lage, missliebige Kommandeure absetzen zu lassen, doch konnte er nicht verhindern, dass die Militärs wiederholt eigenständige Kriegszüge initiierten. Die Ausdehnung des deutschen Einflusses in das Landesinnere und schließlich bis zum Tschadsee war daher keineswegs das Resultat einer gezielten Eroberungsstrategie des Gouverneurs, sondern spiegelt vielmehr eine Eigendynamik wider, die als Symptom für die Kontrolldefizite des obersten Beamten interpretiert werden muss. Der Amtsstil Puttkamers begünstigte diese Entwicklung, fokussierte sich doch sein Interesse auf die Förderung der Plantagenwirtschaft im unmittelbaren Küstenhinterland, wobei er zu Gunsten seines Selbstverständnisses als vorwiegend repräsentierender Landesherr die eigentliche Verwaltungsarbeit an seinen jeweiligen Stellvertreter delegierte. Von der Sozialisation als adliger Minister- und Gutsbesitzersohn zeugte nicht zuletzt sein mangelndes Verständnis für die indigene Lebenswirklichkeit. Letztlich muss Puttkamers lange Amtszeit in Kamerun verwundern, offenbarten sich doch seit 1904 die Mängel seiner Amtsführung in einer zunehmend krisenhaften Entwicklung. Seine durchaus zutreffende Benennung der Ursachen entpuppte sich als plumper Versuch, die Verantwortung auf andere Akteure abzuwälzen. Als dritte afrikanische Kolonie wurde Deutsch-Südwestafrika in den Blick genommen, wo Leutwein ebenfalls ungewöhnlich lange amtierte. Er wurde 1894 zunächst als Beobachter entsandt, zog aber binnen kurzem die Aufsicht über die dortige Verwaltung ebenso wie das Kommando der Schutztruppe an sich. Obwohl bereits als dritter oberster Repräsentant des Reichs in Deutsch-Südwestafrika, lassen sich erst unter ihm die Anfänge kolonialer Administration konstatieren. Aus Mangel an zivilem Personal band auch er Offiziere in sein Verwaltungskonzept ein, das sich teilweise am ostafrikanischen Modell orientierte. Eine Besonderheit stellt die Aufstellung eines Pflichten- und Aufgabenkatalogs für die Bezirks- und Distriktleiter dar, wodurch diese zugleich diszipliniert werden sollten. Die Tatsache, dass Leutwein selbst Stabsoffizier war und auf seinen zu-
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nächst loyalen Stellvertreter Lindequist bauen konnte, erleichterte die Etablierung einer Verwaltungshierarchie entscheidend. Wie in anderen ›Schutzgebieten‹ basierte das koloniale Prinzip auch in Südwestafrika auf einer konstruierten Dichotomie aus Europäern und ›Eingeborenen‹. Dem entsprach eine rassistische Strafpraxis, die nicht zuletzt auf die Mitwirkung indigener Eliten baute. Durch regelmäßige Geldzahlungen sowie durch eine temporäre Visualisierung militärischer Macht suchte Leutwein die Kapitäne in die koloniale Fremdherrschaft einzubinden. Damit war auch das ›System Leutwein‹ von einem ständigen Neuaushandeln von Machtchancen geprägt, wenngleich sein Fernziel aber keineswegs in einem vormodernen Lehnswesen, sondern in der effektiven Kontrolle des Raums mit Hilfe einer überwiegend bürokratisch organisierten Verwaltung bestand. Die ›Häuptlingspolitik‹ stellte auch für Leutwein lediglich eine Zwischenstufe dar, um langfristig die Kernvoraussetzung einer Siedlungskolonie zu realisieren: Den Übergang der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen in die Hände europäischer Ansiedler. Das Vorgehen des Gouverneurs erschien der Berliner Zentrale aber zu zögerlich, weshalb er dort etwa seit der Jahrhundertwende massiv an Rückhalt verlor. Das offenbarte sich mit dem Beginn des HereroKrieges in aller Deutlichkeit. Zwar war die Entsendung eines neuen Kommandeurs für die Schutztruppe zur Einleitung der Gegenmaßnahmen noch von ihm selbst ausgegangen, doch sah sich Leutwein als Gouverneur bald faktisch entmachtet. Das lag einerseits an der dominanten Persönlichkeit des Generals Trotha, andererseits aber auch an der ausbleibenden Unterstützung durch Reichskanzler und Kolonialabteilung. Zwar widersprach er Trothas Vernichtungspolitik, doch zielten Leutweins Alternativvorschläge ebenfalls auf eine weitergehende Entrechtung und Ausbeutung der Indigenen in Südwestafrika ab. Im Gegensatz zu den drei großen afrikanischen Kolonien waren die beiden ›Schutzgebiete‹ in Ozeanien nicht von der Krise des kolonialen Projekts betroffen. Deutsch-Neuguinea war allerdings erst 1899 unter Reichshoheit gestellt worden, während Samoa im Jahr darauf als letzte deutsche Kolonie in Besitz genommen wurde. Die deutsche Herrschaft in Neuguinea ist eng mit dem langjährigen Gouverneur Hahl verknüpft. Dieser war bereits unter der Ägide der Neuguinea-Compagnie auf dem Bismarckarchipel tätig gewesen und hatte damit begonnen, erste Verwaltungsstrukturen zu etablieren. Ohne nennenswerte Ressourcen ausgestattet, suchte er auf lokaler Ebene die Strafgewalt zu monopolisieren und eine indigene Hilfsverwaltung aufzubauen. Obgleich er von Anfang an bestrebt war, durch eigene Beobachtungen an das unerlässliche Herrschaftswissen zu gelangen, erwiesen sich diese Vorhaben als langwierig. Alternativ erschien auch ihm der Gebrauch der beschränkten Machtmittel notwendig, um durch eine show of force-Politik, mitunter aber auch durch kollektive Gewaltanwendung, eine lediglich ›sporadische Macht‹ außerhalb des unmittelbaren Umfelds seines Verwaltungssitzes zu realisieren. Deutlicher als sein Gouverneursvorgänger Bennigsen erkannte jedoch Hahl, dass diese Form der ›Verwaltung‹ im Hinblick auf die kolonialen Zielsetzungen auf Dauer ungenügend bleiben musste. Als Gouverneur zielte er daher auf eine Verdichtung der Administration durch die Anlage dauerhafter Verwaltungsstützpunkte ab. In deren Umfeld wurde jeweils wiederum die Einrichtung einer Hilfsverwaltung aus einheimischen Amtsträgern in Angriff genommen. Die Entwicklung von Strafpraxis und Besteuerung belegt tatsächlich eine – wenn auch langsame – Ausdehnung des Einflusses der Ver-
4. Herrschaftspraktiken
waltung. Von einer wirklich bürokratisch organisierten Administration kann jedoch bis zuletzt keine Rede sein. Besonders die Problematik der Beschaffung von indigenen Billigarbeitskräften für die europäische Plantagenwirtschaft verdeutlicht die eklatanten Schwächen kolonialer Staatlichkeit. Hahls Normierungsinitiativen auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes wirkten sich daher auf die Lebenswirklichkeit kaum aus. Die Ausprägungen des kolonialen Regimes in Samoa waren vor allem durch die Ausgangsbedingungen vorgezeichnet. Dort verfügte Solf weder über Ressourcen noch über Machtmittel, so dass eine Instrumentalisierung der indigenen Strukturen alternativlos war. Er etablierte daher eine Hilfsverwaltung, die sich an den traditionellen hierarchischen Strukturen der samoanischen Gesellschaft orientierte. Die Begrenzung der europäischen Plantagenwirtschaft auf ein überschaubares Areal wirkte zudem Konflikten präventiv entgegen. Wenngleich taktvoller formuliert als anderswo, wurde auch in Samoa eine rassistische Rechtspraxis eingeführt. Ein wichtiges Herrschaftsinstrument bedeutete nicht zuletzt die Beteiligung der Hilfsverwaltung an den Steuereinkünften, was durch die bedarfsweise Bestechung von Clanchefs ergänzt wurde. Einer Konfliktvermeidung förderlich war ferner der Verzicht auf eine Arbeitspflicht der Samoaner, was auf Kosten chinesischer ›Coolies‹ ging, für die im Gegenzug eine umso rigorosere Sondergesetzgebung geschaffen wurde. Ähnlich wie der in den Augen der Siedler zu zögerlich vorgehende Leutwein, sah sich auch Solf bald in der Kritik ansässiger Pflanzer. Auseinandersetzungen mit der Berliner Zentrale konnte er aber durch ein wachsendes Steueraufkommen und das Ausbleiben bewaffneter Konflikte in seiner Kolonie eingrenzen. Wie Hahl ging auch Solf vom Axiom der europäischen Vorrangstellung aus. Beide waren stets Befürworter und Repräsentanten des kolonialen Projekts. Dass es in Ozeanien nicht zu einer vergleichbaren Krise wie in den großen afrikanischen Kolonien kam, resultiert zum Teil aus dem weitgehenden Fehlen militärischer Akteure, nicht zuletzt aber auch aus den dortigen strukturellen Voraussetzungen. Aus ähnlichen Gründen wurde auch Togo von der krisenhaften Entwicklung in Südwest-, Ostafrika oder Kamerun verschont. Zwar fanden auch dort während der 1890er Jahre Eroberungszüge ins Binnenland statt, doch gestalteten sich diese vergleichsweise kleinteilig. Als einziges afrikanisches ›Schutzgebiet‹ verfügte Togo über keine Schutztruppe, wenngleich einige Armeeoffiziere als Polizeikommandeure oder Stationsleiter fungierten. Einer von ihnen war Graf Zech. Wie bei Hahl begann auch dessen koloniale Laufbahn in der Lokalverwaltung, um schließlich bis zum obersten Beamten der Kolonie aufzusteigen. Auch in Togo gestaltete sich die örtliche Ausübung ›sporadischer Macht‹ als ständiges Neuaushandeln mit den indigenen Machthabern, wobei Überredung, Drohung und Abschreckung die üblichen Begleiterscheinungen darstellten. Auch dort fußte das koloniale System maßgeblich auf einer Einbindung intermediärer Akteure. Zeitweise ausgeprägter als in anderen Kolonien bestand in Togo ein Gegensatz zwischen dem Gouvernement an der Küste und den Stationen im Binnenland. Die seitens der Forschung wiederholt thematisierte Eigenständigkeit der Stationsleiter muss jedoch relativiert werden. Ein aktiver Gouverneur konnte mittels Berichtswesen, persönlicher Inaugenscheinnahme, Disziplinar- und Personalbefugnissen sowie seinen budgetrechtlichen Spielräumen durchaus ein Mindestmaß an Kontrolle durchsetzen. Das Scheitern Horns muss daher als Zusammenspiel besonderer Umstände gewertet werden.
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Zech wusste seine Stationsleiter dagegen im Zaum zu halten. Neben den herkömmlichen Kontrollmaßnahmen spielten dabei nicht zuletzt persönliche Loyalitäten, aber auch sein autoritärer Führungsstil eine Rolle. Vergleichbar mit Götzen, neigte auch er zur Zentralisierung, was in der kleineren Kolonie aber weniger negative Auswirkungen nach sich zog. Zutreffend sah Zech die landwirtschaftliche Produktion der indigenen Bevölkerung als entscheidend für den ökonomischen Erfolg ›seiner‹ Kolonie an. Auch die Heranziehung Einheimischer für Verwaltungsaufgaben suchte er zu fördern. Erneut müssen derartige Initiativen aber vorrangig als pragmatisch motiviert angesehen werden. Die koloniale Dichotomie war auch für Zech unantastbar. Das äußerte sich sowohl in einer rassistischen Strafpraxis einschließlich exzessiver Prügelstrafen als auch im generell inferioren Rechtsstatus der Indigenen. Einschlägige Lerneffekte sind auch bei Zech kaum feststellbar. Vergleichbares lässt sich für Lindequist konstatierten, der im November 1905 sein Amt als Gouverneur für Südwestafrika antrat. Nach dem Imperialkrieg, der für die betroffenen indigenen Ethnien mit enormen Opfern einhergegangen, bei den Europäern dagegen Ängste vor einem erneuten Aufflammen des Widerstands hinterlassen hatte, ging es Lindequist um die Retablierung kolonialer Verwaltung sowie um die Wiederaufnahme der Siedlungspolitik. Nach anfänglichen Konflikten mit den bislang dominierenden Militärs lag sein Fokus auf der Festlegung des künftigen Status’ der indigenen Bevölkerung. Den Auftakt bildete die Enteignung des Landbesitzes der Herero und dessen Übergang in die Hände europäischer Siedler. Die Enteigneten befanden sich freilich zu diesem Zeitpunkt noch in den Gefangenenlagern der Schutztruppe oder an den Sammelplätzen der Rheinischen Mission. Mit Blick auf deren Freisetzung sah Lindequist – in Anknüpfung an die letzten Vorschläge Leutweins – vor, den Indigenen die Rolle eines rechtlosen Arbeiterproletariats zuzuweisen. In weitgehendem Konsens mit den übrigen europäischen Akteursgruppen kam es im August 1907 zur Verabschiedung von drei folgenreichen Verordnungen. Danach verloren die Indigenen ihre Freizügigkeit, wurden amtlich registriert und einem Arbeitszwang unterworfen. Der Eindruck eines totalitären Experiments ist daher naheliegend und wurde auch seitens der Forschung wiederholt aufgegriffen. Trotz vielfacher Einschränkungen blieb die Lebenswirklichkeit aber hinter den Normen zurück. Die Indigenen reagierten meist mit defensiven Strategien, wobei sich ihre hohe Mobilität in einem weiträumigen Land als wirkungsvollste Waffe herausstellte. Auf die Krise des kolonialen Projekts, die mit einer Reihe kolonialer Skandale einherging, folgten Reformbestrebungen, die zuerst die Berliner Zentralverwaltung betrafen. Dort erfolgte im Laufe des Jahres 1906 eine Reihe von Neubesetzungen bei den bis dahin einflussreichsten Referenten. Nicht zuletzt wechselte auch der Inhaber der Stelle des Kolonialdirektors. Bernhard Dernburg repräsentierte vor allem eine verstärkt ökonomische Ausrichtung der kolonialen Zielsetzungen. Nach seinen Plänen sollten die Verwaltungen der ›Schutzgebiete‹ unabhängig von Zuschüssen aus Deutschland werden, zugleich aber auch die forcierten Infrastrukturmaßnahmen vor Ort selbst finanzieren. Gleichzeitig sollte privates Kapitel in die Kolonien gelockt werden. Nicht zuletzt gewann die indigene Arbeitskraft damit an Bedeutung. Die Besonderheit an Dernburgs Programm lag vor allem in der Absicht, seine mäßig innovativen Ziele konsequenter umzusetzen, als das unter seinen Vorgängern der Fall gewesen war.
4. Herrschaftspraktiken
Besonders in den drei großen afrikanischen Kolonien war inzwischen ein latenter Mangel an einheimischen Arbeitskräften entstanden. Diesen sollten die dortigen Gouverneure beheben. Die damit angesprochenen ›Dernburg-Gouverneure‹ waren etwa zur selben Zeit wie der neue Direktor ins Amt gekommen und suchten dessen Programm umzusetzen. Sowohl bei Rechenberg und Seitz als auch bei Schuckmann ergibt eine Auswertung der Quellen ähnliche, überwiegend aber pragmatisch motivierte Bestrebungen zur Durchsetzung eines Minimums an Schutz für die Arbeiter vor allzu rigoroser Ausbeutung. Im Prinzip vergleichbar mit Neuguinea, scheiterte der koloniale Staat aber erneut an seinen strukturellen Schwächen. Tatsächlich blieb die praktische Umsetzung der Normen beschränkt. Während diese in Ostafrika und Kamerun schon im Vorfeld verwässert wurden, beließ Schuckmann in Südwestafrika ohnehin die Lindequist-Verordnungen in Kraft, so dass es dort bei bloßen Ermahnungen an die Adresse prügelnder Ansiedler blieb. Die Aufrechterhaltung der kolonialen Dichotomie schien den Gouverneuren in sämtlichen ›Schutzgebieten‹ nicht zuletzt auf privatrechtlicher Ebene gefährdet. Vor allem nach der Jahrhundertwende wurde immer häufiger über die vermeintlichen Gefahren einer ›Rassenvermischung‹ diskutiert. Im Kern ging es dabei um die wachsende Zahl von Mischehen, Konkubinaten und ›Mischlingen‹. Ängste im Gefolge der Imperialkriege zeichneten nicht zuletzt für die teilweise modifizierten Deutungsmuster verantwortlich. Trotzdem entzündete sich die auch in Deutschland öffentlich geführte Diskussion in erster Linie an den vergleichsweise wenigen Mischehen. Das lag zweifellos an deren höherem Symbolwert, schuf das Institut der Zivilehe doch Verbindlichkeiten in Form von staatsbürgerlichen und vermögensrechtlichen Ansprüchen. Auch geriet durch deren Zulassung die konstruierte Dichotomie in Gefahr, weshalb unterschiedliche Charaktere wie Solf, Lindequist oder Seitz die Zulassung von Mischehen einmütig ablehnten. Selbst die verhaltenen Gegenstimmen – namentlich Schnee und Schultz – hielten lediglich Eheschließungen zwischen deutschen Männern und samoanischen Frauen unter bestimmten Voraussetzungen für denkbar. Angesichts der Irrationalität vieler Meinungsäußerungen verliefen die Fronten in Bezug auf die ›Mischlinge‹ noch unübersichtlicher. Teilweise sollten diese in rechtlicher Hinsicht den übrigen Indigenen gleichgesetzt werden. Andere Gouverneure dachten an eine Heranziehung dieses Personenkreises als Mittler, manche konnten sich auch Härtefallregelungen vorstellen. Die zuletzt von der Forschung vertretene Interpretation einer Durchlässigkeit der Kategorie ›Rasse‹ blieb in der Praxis allerdings fast ausschließlich auf die beiden privilegiertesten Ethnien des deutschen Kolonialreichs – Samoaner und Baster – begrenzt. Abschließend galt der Blick dem Ausbaustand der deutschen Kolonialverwaltung am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Die seit 1912 amtierenden Gouverneure fallen im Vergleich zu ihren Vorgängern durch einen insgesamt höheren Professionalisierungsgrad auf. Mit einer einzigen Ausnahme hatten sie analoge Ausbildungsgänge und Laufbahnen vorzuweisen. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch für die übrigen höheren Beamten an der Peripherie konstatieren. Seit der Amtszeit Dernburgs fällt zudem eine Erweiterung der Kompetenzen der Gouverneure auf. Deren Behörden konnten seitdem mehr als bisher über ihre Finanzpolitik selbst bestimmten und damit auch die Behördenstruktur innerhalb der jeweiligen Kolonie eigenständiger gestalten. Auch das seit 1901 emp-
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findlich eingegrenzte Verordnungsrecht der Gouverneure wurde ab Anfang 1912 wieder ausgeweitet. Aus den ehemals kleinteiligen Gouvernements hatten sich inzwischen regelrechte Verwaltungsbehörden entwickelt, die nach bürokratischen Grundsätzen arbeiteten. Gleichzeitig wird beim Vergleich mit den Lokalverwaltungen aber ein Missverhältnis in der Personalausstattung offenbar. Wenngleich die Bezirksämter und Stationen stets auf eine große Zahl indigener Kräfte zurückgreifen konnten, entsteht in der Endphase des deutschen Kolonialreiches nach wie vor der Eindruck einer Aufteilung in herrschaftsnahe und herrschaftsferne Räume. Die strukturellen Gegensätze zwischen Küste und Binnenland waren mitunter etwas abgemildert, doch keineswegs überwunden. So gab es durchaus Räume einer gewissen Verdichtung, wie etwa in den Kernbezirken der Siedlungskolonie Südwestafrika, doch konnten auch die infrastrukturellen Ausbaumaßnahmen das eigentliche Grundproblem niemals gänzlich eliminieren: Die Schwäche des kolonialen Staats in der Fläche mit allen ihren Konsequenzen für die Herrschaftspraxis, insbesondere der Tatsache eines ebenso räumlich wie zeitlich begrenzten Zugriffs auf die ihrerseits oft hochmobilen indigenen Gesellschaften.
5. Schlussbetrachtungen
Am Beginn dieser Arbeit wurde die Frage aufgeworfen, wo sich die Stellung der Gouverneure im deutschen Kolonialreich verorten lässt und wie deren Einfluss auf die Herrschaftspraxis in den ›Schutzgebieten‹ einzuschätzen ist.1 Ungeachtet einer umfangreichen Forschungsliteratur zum modernen Kolonialismus wurde festgestellt, dass im wissenschaftlichen Diskurs nach wie vor ein wenig präzises Bild über diesen Personenkreis vorherrscht. Es war daher ein Forschungsdesiderat zu konstatieren, das auf eine Vernachlässigung des Individuums als Akteur zurückgeführt werden muss. Das wiegt umso schwerer, als es sich im kolonialen Kontext um eine dezidiert ›personalisierte‹ Verwaltung handelt. Erst seit wenigen Jahren lassen sich Ansätze erkennen, diesem Mangel abzuhelfen. Die vorliegende Studie sieht sich als ein weiterer Baustein einer solchen Retablierung der handelnden ›Persönlichkeit‹ in der Kolonialgeschichtsforschung. Gleichzeitig dürfen aber strukturelle wie auch überindividuelle Faktoren nicht vernachlässigt werden, weshalb unter Einbeziehung sämtlicher deutschen Gouverneure ein gruppenbiographischer Ansatz angezeigt schien. Das Vorgehen orientierte sich an der Habitus-These von Pierre Bourdieu. Danach verfügt jeder Mensch über ein Ensemble an »dauerhaft eingeprägten Dispositionen«, die dessen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster vorstrukturieren.2 Zugleich ist davon auszugehen, dass für die Ausprägung dieses Habitus das im Zuge der Sozialisation erworbene Werte- und Normengerüst sowie die dabei eingeübten Verhaltensweisen von wesentlicher Bedeutung sind. Einschränkend ist festzustellen, dass angesichts der Variationsmöglichkeiten, die sich aus situativen und strukturellen Einflüssen ergeben, menschliches Denken und Handeln wandelbar bleibt und das Konzept des Habitus in erster Linie eine Methode zur allgemeinen Eingrenzung bzw. grobkörnigen Einteilung darstellt. Präzise Vorhersagen auf individueller Ebene sind mit diesem Instrument dagegen nicht möglich. Nicht zuletzt deshalb wurde ein dreistufiges Forschungsdesign gewählt.
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Angesichts der den Hauptkapiteln nachgestellten Zwischenergebnisse sollen in den folgenden, abschließenden Betrachtungen lediglich einige zentrale Ergebnisse zusammengefasst wiedergegeben werden. Im Einzelnen sei daher auf die Abschnitte 2.5, 3.3 und 4.8 verwiesen. Bourdieu, Entwurf, S. 167f.
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Zunächst galt es, die Sozialisationseffekte innerhalb der Untersuchungsgruppe auszuleuchten. Für die meisten Gouverneure stellte die Reichsgründung und das damals installierte politische System einen dauerhaften Orientierungspunkt dar. Das monarchische Prinzip blieb für sie ein unumstößliches Axiom. Als Söhne des Adels sowie des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums entstammten sie ohnehin potentiell herrschaftsnahen Milieus. Selbst die aus Aufsteigerfamilien kommenden Gouverneure wurden während der gemeinsamen Ausbildungsgänge, in studentischen Korporationen oder im Zuge des Militärdienstes rasch integriert. Dabei kam der Vermittlung eines Sets erwünschter Denk- und Verhaltensmuster eine entscheidende Bedeutung zu. Die seitens der Elternhäuser vermittelten Kulturinhalte wurden dabei weiter verfestigt, bedarfsweise aber auch abgeschliffen und angepasst. Auf ein hohes Maß an Homogenität innerhalb der Untersuchungsgruppe verweist nicht zuletzt die Berufswahl. Alle späteren Gouverneure fanden den Weg in die beiden ›staatsnahen‹ Sphären Offizierkorps und höheres Beamtentum. Die zuvor erworbenen Bildungspatente wirkten dabei ebenso wie Herkunft und materielle Ressourcen in erster Linie als Zugangsbilletts. Die verfügbaren Selbstzeugnisse spiegeln dementsprechend häufig eine patriotische Einstellung ebenso wider wie das Vorhandensein der Ideale von Pflichterfüllung und Treue gegenüber dem monarchischen Staatswesen. Dazu kam eine mit dem eigenen Führungsanspruch in Staat und Gesellschaft einhergehende Vorstellung von Gemeinwohlorientierung. Sowohl Offiziere als auch höhere Beamte begriffen sich dabei selbst als Bestandteile der Obrigkeit. Sie übernahmen zwar Verantwortung für das allgemeine Staatsinteresse, glaubten sich dabei aber nur dem Monarchen, nicht jedoch den ›Untertanen‹ gegenüber rechenschaftspflichtig. Es verwundert daher nicht, dass ein gleichzeitiges Streben nach Abgrenzung gegenüber den ›unteren‹ Schichten bei vielen Samplemitgliedern feststellbar ist. Eine Sensibilisierung für kulturelle oder soziale Differenzen oder das Einüben damit zusammenhängender Bewältigungsstrategien spielte dagegen keine Rolle. Partnerwahl und Familienkonzepte bestätigen die Verinnerlichung der während der Sozialisation vermittelten Inhalte. Normverstöße sind dagegen kaum nachweisbar. Die im Ganzen als elitär, konservativ und ›staatstreu‹ einzustufenden Offiziere und Beamten wählten aus verschiedenen Gründen eine Laufbahn im Kolonialdienst. Bei den meisten lassen sich Enthusiasmus für die ›koloniale Sache‹, patriotische Überzeugungen sowie Abenteuerlust diagnostizieren. Gerade bei den jüngeren Zivilbeamten kam die Erwartung beruflicher Vorteile hinzu. Mit ihrer Ankunft in den Kolonien sahen sich die Gruppenmitglieder einer Vielzahl ungewohnter Eindrücke ausgesetzt. Für deren kognitive Einordnung konnten sie lediglich auf die ihnen im Zuge der Sozialisation vermittelten Klischeebilder zurückgreifen. Dem entsprach, dass sich Tropenwälder ebenso wie Steppen- und Wüstenlandschaften schwerlich mit den vorhandenen ›Erfahrungen‹ adaptieren ließen. An den meist ablehnenden Wertungen lässt sich im Gegenzug auf die Erwartungen schließen. Der von Menschenhand gestaltete und kontrollierte Kulturraum stellte das Landschaftsideal der Gouverneure dar. Dieses Idealbild glaubten sie auch in Afrika wiederfinden zu können. Für geeignet befundene Hügel- oder Berglandschaften wurden folgerichtig zu ›Parklandschaften‹ umgedeutet. Diese imaginäre »Verheimatung der Fremde« funktionierte
5. Schlussbetrachtungen
selbst bei der ›Südseeinsel‹, wurde diese doch ebenfalls als geordnet und kultiviert stilisiert, so dass wiederum eine kognitive Aneignung stattfinden konnte.3 Klischees und Stereotypen waren auch in Bezug auf die Menschen in den Kolonien der Ausgangspunkt für die reale Begegnung. Deren Kern bestand aus der Vorstellung einer kulturellen Hierarchie innerhalb der verschiedenen menschlichen Gemeinschaften. Danach standen die Europäer an der Spitze, wogegen ›Wilde‹ oder ›Unzivilisierte‹ das entgegengesetzte Extrem darstellten. Die Deutungen der Gouverneure orientierten sich an solchen Konstanten, doch lassen sich auch Differenzierungen erkennen. Nicht zuletzt dem im Zuge der Sozialisation erworbenen ästhetischen Empfinden kam beim Taxieren des äußeren Erscheinungsbildes des Gegenübers eine zentrale Bedeutung zu. Vereinfacht ausgedrückt: Je fremdartiger die Menschen erschienen, desto negativer fielen in der Regel die Werturteile aus. Gleichzeitig lässt sich in den Deutungen der Gouverneure eine zeittypische Neigung zur Kategorisierung und Klassifizierung wiederfinden. Dabei diente der ›Rasse‹-Begriff vorrangig der Einteilung nach äußerlichen Merkmalen. Eine zusätzliche Dimension gewann dieser Aspekt aber dadurch, dass die Taxierungen oft indirekt auch auf andere vermeintliche Eigenschaften übertragen wurden. Dieses vor allem auf Äußerlichkeiten fußende Ranking wirkte daher gleichzeitig als generalisierende Bewertungsskala. Darüber hinaus fällt auf, dass auf der individuellen wie auf der Ebene von Kleingruppen solche Klassifizierungen abgeschwächt werden konnten, sofern sich kognitive Adaptionsmöglichkeiten ergaben. Bei den Einschätzungen der Denkmuster und Lebensweisen der Indigenen stellte sich einerseits die Frage nach dem Vorhandensein einer Intention des Fremdverstehens bei den Gouverneuren. Andererseits war der über Äußerlichkeiten hinausgehende Gebrauch des ›Rasse‹-Begriffs noch genauer zu untersuchen. Erneut wurden in vielen Selbstzeugnissen gängige Vorurteile mitunter aufgeweicht, sofern die angetroffenen Menschen als Individuen oder Kleingruppen wahrgenommen wurden und Adaptionsmöglichkeiten zu vorhandenen Wissensbeständen existierten. Das änderte freilich nichts am Fortbestand des Axioms einer unbedingten Superiorität der europäischen Kultur und ihrer Vertreter. Kein Mitglied der Untersuchungsgruppe stellte dieses Postulat zu irgendeinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage. Die Bewohner Afrikas und Ozeaniens galten für sie prinzipiell als inferior. Die Ursachen für den postulierten Rückstand glaubten die meisten Gouverneure in den Umweltbedingungen ausmachen zu können. Die Menschen in den Kolonien wurden dabei im übertragenen Sinne als unmündige ›Kinder‹ wahrgenommen. Die Zeugnisse deuten zugleich darauf hin, dass die Indigenen dennoch als ›entwicklungsfähig‹ eingeschätzt wurden. Die Extremposition einer ausschließlich biologistischen Sichtweise ist dagegen in der Gesamtschau der Quellen kaum nachweisbar, obgleich einige Äußerungen auf eine teilweise Internalisierung einschlägiger Termini verweisen. Einig waren sich die Gouverneure in Afrika und Ozeanien darin, dass die indigenen Ethnien sich nicht selbst zu ›zivilisieren‹ vermochten, was wiederum auf einen Mangel an Initiative zurückgeführt wurde. Der konstruierte Gegensatz zwischen aktiven Europäern und passiven ›Wilden‹ fungierte zugleich als Legitimation für die eigenen Herrschaftsansprüche. Entsprechend der bürgerlichen Ideale von Leistung und Tatkraft gal3
Parr, Fremde, S. 133 (Zitat).
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ten die postulierten Defizite der Indigenen nur durch physische Arbeit überwindbar. Die erzwungenen Arbeitsleistungen wurden gleichzeitig in eine vermeintlich berechtigte Kompensation für die als ›Erziehung‹ stilisierte Fremdherrschaft umgedeutet. Die enge Verknüpfung von ideologischen, herrschaftspraktischen und ökonomischen Interessen ist nicht zu übersehen. In den Quellen finden sich nur wenige Äußerungen, die auf ein Bewusstsein für die Begrenztheit des eigenen Fremdverstehens und der perspektivischen Standortgebundenheit hindeuten. Auch kann weder von einer Begegnung auf Augenhöhe noch von einer wie auch immer gearteten Elitensolidarität die Rede sein. Fertigkeiten und Fähigkeiten der Menschen in den Kolonien wurden vielmehr ausschließlich am Nutzwert für das koloniale Projekt gemessen. Etwaige positive Werturteile behielten daher nur solange ihre Gültigkeit, wie die Betreffenden sich als nützlich und willfährig erwiesen. In diesem Sinne ist letztlich die von erstaunlich vielen Mitgliedern der Untersuchungsgruppe ventilierte Wendung einzuschätzen, wonach die Indigenen zu »brauchbaren Menschen« erst erzogen werden müssten.4 Mit Blick auf die Herrschaftspraktiken in den Kolonien stand die Frage im Zentrum, wie die Gouverneure die von ihnen vorgefundenen Strukturen und Situationen aufgriffen, diese reproduzierten oder modifizierten.5 In diesem Zusammenhang war es zunächst von Bedeutung, den Standort dieser Positionselite innerhalb des kolonialen Staats zu definieren. Als Mittelinstanz nahmen sie wesentliche koordinierende Aufgaben zwischen der Berliner Zentrale und den Akteuren on the spot, den Lokalverwaltungen, wahr. Es wäre aber verfehlt, die Gouverneure deshalb als bloße Informationsübermittler einzustufen. Als oberste Beamte leiteten sie vielmehr die Administration ›ihrer‹ Kolonie und nahmen dabei Regierungs- und Verwaltungsaufgaben wahr. Ein zusätzliches Maß an Handlungsspielräumen ergab sich nicht zuletzt aus den Kommunikationsdefiziten zwischen Metropole und Peripherie. Zugleich muss eine mit dem Ausbau kolonialer Administration wachsende Distanz zwischen Gouverneuren und Indigenen konstatiert werden. In den ersten Jahren war das freilich noch anders. Stellte der koloniale Staat ohnehin ein ressourcen- und personalschwaches Provisorium dar, waren dessen Anfänge besonders kleinteilig. Die frühen Gouverneure nahmen daher persönlich eine Vielzahl von Aufgaben wahr. Ungeachtet des normativen Anscheins konnte dabei weder von ›Verwaltung‹ noch von einer effektiven Beherrschung des Raumes und seiner Bewohner die Rede sein. Eine ressortmäßige Aufgabenteilung innerhalb der Gouvernements setzte zuerst in Deutsch-Ostafrika ein. Aus den Überbleibseln der Wißmann-Truppe entstand dort zudem entlang der Küste eine Regionalverwaltung, die Soden seinem Einfluss zu unterwerfen suchte. Im Prinzip vergleichbar ging wenig später auch Leutwein in DeutschSüdwestafrika vor, wobei er sich als aktiver Offizier aber die militärische Hierarchie zunutze machen konnte. In Kamerun scheiterte ein solches Unterfangen zumindest vorläufig. Dem auf bürokratische Arbeitsroutinen fokussierten Zimmerer gelang es nicht einmal, die Beamten seines Gouvernements zu kontrollieren. 4 5
Beispiele: Götzen, Afrika, S. 34; Horn, Bericht, S. 238f.; Puttkamer, Gouverneursjahre, S. 42; Solf, Eingeborene, S. 17f.; BA-B R 1001/4235, Bl. 16–75, Zech (Lomé) an RKA vom 26.5.1907, Programm. Vgl. Gestrich, Einleitung, S. 20.
5. Schlussbetrachtungen
Hier wie dort konnte von einer Beherrschung des Landesinnern keine Rede sein. Zu groß waren die Räume angesichts weniger personalschwacher Stationen. Dazu kam, dass die Akteure der Kolonialverwaltung keineswegs einheitlich oder einhellig vorgingen. Am Beispiel Ostafrikas konnte gezeigt werden, dass namentlich Offiziere und vereinzelt auch Zivilbeamte angesichts der Abgeschiedenheit ihrer Binnenstationen oft nur indirekt überwacht werden konnten. Mangels Ressourcen und lokalem Wissen ergaben sich aber auch für diese Akteure on the spot lediglich temporäre und räumlich begrenzte Chancen zur ›sporadischen‹ Ausübung von Macht. Während die Gouverneure die knappen Ressourcen zu bündeln und zu vermehren suchten, ergaben sich besonders in Ostafrika und Kamerun Konflikte mit den neugeschaffenen Schutztruppenkommandos. Die normative Ausweitung der gouvernementalen Befugnisse gegenüber den Militärs war demgegenüber nur von begrenzter Wirksamkeit. Darüber hinaus blieben die Gouverneure stets abhängig von einem Mindestmaß an Akzeptanz seitens der Metropole. Wiederum am Beispiel Ostafrikas lassen sich Soden, Schele, Wißmann und Liebert anführen, die früher oder später in Konflikt mit der Berliner Zentrale gerieten und demissionieren mussten. Obgleich die Gouverneure formal als ›Stellvertreter des Kaisers‹ firmierten, besaß selbst Wilhelm II. nur begrenzten Einfluss auf die Personalauswahl. Auch die Pose des Landesherrn, wie sie etwa Liebert oder Puttkamer an den Tag legten, hatte nur so lange Bestand, als sich ihre administrativen Praktiken innerhalb der von der Metropole vorgegebenen Spielräume bewegten. Die Realisierung der Kernziele kolonialer Staatlichkeit stand daher stets im Vordergrund gouvernementalen Handelns. Diese bestanden aus einer sparsamen Haushaltsführung, einer möglichst weitreichenden Selbstfinanzierung der Verwaltung aus der Kolonie selbst, der effektiven Beherrschung von Land und Leuten sowie einer Förderung der europäischen Wirtschaftsinteressen. Jeder Gouverneur, der dauerhaft gegen diese Grundsätze handelte, wurde früher oder später abgesetzt. Obgleich sich für die meisten Gouverneure die Verinnerlichung des Ideals einer bürokratischen Verwaltung nachweisen lässt, gibt es kaum Hinweise dafür, dass diese einer ›Herrschaftsutopie‹ erlegen wären. Vielmehr durchzieht das Bewusstsein über die eklatanten Defizite ihrer ›Verwaltungen‹ und des begrenzten Zugriffs auf die indigenen Gesellschaften sowohl das Geschäftsschriftgut als auch die privatdienstlichen Aufzeichnungen. Lediglich Zimmerer und Liebert scheinen ihre begrenzten Möglichkeiten nicht immer ausreichend realisiert zu haben. Generell aber gilt, dass die Gouverneure bestrebt waren, den kolonialen Staat auszubauen und die europäische Herrschaft zu festigen, ohne sich dabei utopischen Vorstellungen im Wortsinn hinzugeben.6 Stattdessen suchten sie gezielt die Sammlung und Akkumulation des für die Herrschaftsstabilisierung unerlässlichen kolonialen Wissens zu forcieren und dabei an möglichst zutreffende und verwertbare Informationen zu gelangen. Mangels Ressourcen kamen dabei aber häufig vormoderne Methoden zur Anwendung. Zu keinem Zeitpunkt konnte daher auf eine große Zahl indigener Mittelspersonen einschließlich ihres Potentials an lokalem Wissen verzichtet werden.
6
Vgl. Spittler, Verwaltung, S. 91; Trotha, Herrschaft, S. X; Zimmerer, Herrschaft, S. 283; Eckert/Pesek, Ordnung, S. 88.
509
510
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Ungeachtet solcher Abhängigkeiten basierte das koloniale Prinzip auf einer konstruierten Dichotomie von Europäern und sogenannten ›Eingeborenen‹. Die Mitwirkung indigener Eliten war aus europäischer Sicht lediglich Mittel zum Zweck, markierte jedoch keinesfalls ein Aufbrechen der situation coloniale. Die Instrumentalisierung wurde auf vielfache Weise realisiert. Neben Geldzahlungen und einer ebenso begrenzten wie kontrollierten Teilhabe an der Macht wurden die vielen chiefs, kings, Sultane, akidas, Jumben, lamidos, Kapitäne, luluai oder faipule immer wieder auch durch eine Visualisierung militärischer Machtentfaltung an die Seite der europäischen Verwaltung genötigt. Diese für die Kolonisierenden ressourcenschonende Form von Fremdherrschaft war gleichzeitig von einem ständigen Neuaushandeln von Machtchancen geprägt, so dass die indigenen Eliten mitunter auch eigene Zielsetzungen zu realisieren vermochten. In den großen afrikanischen Kolonien kollabierte dieses Herrschaftssystem zeitweise und mündete in die Imperialkriege im Südwesten und Osten des Kontinents ein. Auch bei den fragmentierten Gesellschaften der Kameruner Waldzone kam es zu Unruhen, doch blieb dort eine allgemeine Erhebung aus. Zwar lassen sich analoge Ursachen für die annähernd gleichzeitigen, letztlich aber hochkomplexen Entwicklungen schwer nachweisen, doch fällt in diesen drei ›Schutzgebieten‹ die Anwesenheit von Schutztruppen einschließlich auf ihre Selbständigkeit bedachter Offiziere auf. Im Gegensatz dazu waren die beiden Kolonien in Ozeanien ebenso wie Togo, wo sich lediglich Polizeikräfte befanden, kaum oder überhaupt nicht von der Krise des kolonialen Projekts betroffen. Andererseits unterschieden sich die Methoden und Vorgehensweisen der dortigen Kolonialadministration nicht grundsätzlich von denjenigen in den großen afrikanischen ›Schutzgebieten‹. Auch in Neuguinea, Samoa oder Togo war eine Instrumentalisierung von intermediären Akteuren alternativlos. Hier wie dort orientierten sich die mehr oder weniger ausgebauten Hilfsverwaltungen an den traditionellen Strukturen der indigenen Gesellschaften, wenngleich diese oft nach den Anforderungen des kolonialen Staats modifiziert wurden. Während in Samoa die Begrenzung der europäischen Plantagenwirtschaft auf ein überschaubares Areal größeren Konflikten von vornherein entgegenwirkte, blieb die europäische Präsenz in Neuguinea ebenso wie in Togo ohnehin überschaubar. Eine Besonderheit bestand in Togo aus den zeitweilig etwas stärker ausgeprägten Gegensätzen zwischen Gouvernement und Binnenstationen. Die von der Forschung betonte, als praktisch uneingeschränkt wahrgenommene Selbstherrlichkeit der Stationsleiter muss jedoch kritisch gesehen werden. Ein aktiver Gouverneur wie Zech konnte sich mit Hilfe des Berichtswesens, persönlicher Kontrollen, Disziplinar- und Personalbefugnisse, nicht zuletzt aber auch durch einen gezielten Einsatz seiner haushaltsrechtlichen Möglichkeiten gegen seine Untergebenen durchsetzen. Ebenso wie seine Amtskollegen in Ozeanien war auch der Gouverneur von Togo in erster Linie an der Erfüllung der zentralen kolonialen Zielsetzungen interessiert. Keiner stellte dagegen das Axiom der europäischen Vorrangstellung zu irgendeinem Zeitpunkt in Frage. Die koloniale Dichotomie an sich wurde vielmehr als nicht verhandelbar angesehen, was sich etwa in rassistischen Strafpraktiken und einem inferioren Rechtsstatus der Indigenen äußerte. Belege für etwaige Methodentransfers und damit für eine Vernetzung der imperialen Räume liefert – neben den mehrfach thematisierten personellen Mobilitäten sowie den Vereinheitlichungsbestrebungen der kolonialen Zentrale – nicht zuletzt das Beispiel der
5. Schlussbetrachtungen
Ausnutzung einheimischer Arbeitskraft. Eine vergleichende Auswertung der Quellen ergibt sowohl für die ›Schutzgebiete‹ in Afrika als auch für diejenigen Ozeaniens auffällig ähnliche Bestrebungen zum Schutz indigener Arbeitskräfte vor allzu rigoroser Ausbeutung. Dass diese stets pragmatisch motiviert waren, muss nicht eigens betont werden. Stets scheiterte der koloniale Staat aber an seinen institutionellen Schwächen, blieb doch die Realisierung sämtlicher Absichtserklärungen beschränkt. Im Rahmen des totalitären Experiments in Deutsch-Südwestafrika blieb es ohnehin bei wirkungslosen Ermahnungen an die Adresse europäischer Ansiedler. Selbst das Modell Samoa, wo die Kolonialverwaltung auf eine Arbeitspflicht der Samoaner verzichtet hatte, bedeutete letztlich nur eine Verlagerung der Lasten: Dort wurden die chinesischen ›Coolies‹ einer rigorosen Sondergesetzgebung unterworfen. Zusammen mit Südwestafrika stand Samoa auch in der Frage der Rassentrennung im Fokus von Verwaltung und Öffentlichkeit. Unter dem Signum einer angeblich drohenden ›Rassenvermischung‹ ging es wiederum vor allem um die Aufrechterhaltung der kolonialen Dichotomie. Auch darin waren sich die Gouverneure im Prinzip einig. Während in der kolonialen Frühzeit auch gemäßigtere Ansichten feststellbar sind, führten die im Gefolge der Imperialkriege zeitweilig gewachsenen Unsicherheiten zu modifizierten Deutungsmustern. Die meisten Gouverneure sahen dementsprechend sowohl die Konkubinate zwischen Europäern und Indigenen als auch Mischehen und ›Mischlinge‹ als unerwünscht an. Eine Aufweichung der Kategorie ›Rasse‹ erstreckte sich in der Praxis bestenfalls auf die beiden privilegiertesten nichteuropäischen Ethnien im deutschen Kolonialreich: Samoaner und Baster. Aber auch bei diesen behielten sich die Gouverneure ihr Veto für jeden Einzelfall vor. Die Schlussphase deutscher Kolonialherrschaft ist von einer Professionalisierung des Personals, einer weiteren Verdichtung der Administration sowie von einer Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure auf finanzieller, administrativer und normativer Ebene gekennzeichnet. Dabei hatten sich die Gouvernements zu regelrechten Zentralbehörden entwickelt, die nach bürokratischen Grundsätzen arbeiteten. Der Vergleich mit den Lokalverwaltungen zeigt aber ein Missverhältnis nicht nur in der Personalausstattung. Auch in den letzten Jahren des deutschen Kolonialreiches muss daher zwischen herrschaftsnahen und herrschaftsfernen Räumen unterschieden werden. Die strukturellen Gegensätze zwischen Küste und Binnenland waren keineswegs überwunden. Damit bestanden die höchst unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten auf die indigenen Gesellschaften fort. Auch die infrastrukturellen Ausbaumaßnahmen vermochten die prinzipielle Schwäche des kolonialen Staats in der Fläche zu keinem Zeitpunkt auszugleichen. Für die Gouverneure selbst lassen sich zwar vielfältige Lerneffekte konstatieren. Beispielsweise waren Wißmann und Schuckmann keineswegs die einzigen Gouverneure, die sich mit der Zeit an den ›Anblick‹ der ihnen anfangs fremdartig erscheinenden Bewohner Afrikas gewöhnten. Schnee und Hahl waren ebenfalls nicht allein, als sie sich die Kenntnisse der indigenen Sprachen ihrer Dienstorte aneigneten. Seitz und Solf nutzten nicht als einzige Gouverneure das Medium des palaver oder des fono zur Kommunikation mit den einheimischen Eliten. Soden und Zimmerer instrumentalisierten in Kamerun die Buschtrommel sogar zur Verkündung von Verordnungsinhalten. Selbst die teilweise Anpassung eines preußischen Offiziers wie Schele an die schriftlichen Kommunikati-
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512
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
onsgepflogenheiten der arabischen Machthaber in Ostafrika ist innerhalb der Untersuchungsgruppe kein Einzelfall. Bennigsen, Hahl, Schultz, Götzen oder Zech lassen sich wiederum exemplarisch für das Sammeln von Kenntnissen über die kulturellen Praktiken von Melanesiern, Mikronesiern, Samoanern, Fulani, Hausa, Tutsi, Hema oder Ewe anführen. Tatsächlich muss bei fast allen Gouverneuren ein – wenn auch individuell unterschiedlich ausgeprägtes – Interesse an ihrem indigenen Gegenüber konstatiert werden. An ihren Beweggründen sind jedoch erhebliche Zweifel angebracht, deuten doch die allermeisten Zeugnisse darauf hin, dass in der Regel funktionale Intentionen, etwa die Absicht einer Generierung von kolonialem Wissen oder die bloße äußerliche Anpassung zur Erreichung des administrativen Ziels, den Ausschlag gaben. Zweifellos spielte auch die Nebenbeschäftigung als Ethnograph mitunter eine Rolle, nicht zuletzt im Hinblick auf einen elitären Habitus und eine Stilisierung als ›Kenner‹ Afrikas oder Ozeaniens. Wie jedoch anhand der Deutungsmuster und Herrschaftspraktiken dieser Positionselite festgestellt werden konnte, war es letztlich stets das koloniale Projekt, das im Fokus aller Erwägungen, Verhaltensmuster und Maßregeln seitens der Gouverneure stand. So unterschiedlich die individuellen Äußerungen und Handlungsweisen auch nach außen erscheinen mochten, ihrem Habitus gemäß blieben sie auch in den Kolonien ›staatstreue‹, pflichtbewusste und am Wohl des Kaiserreiches orientierte Beamte und Offiziere, die sich auf ihrem Posten in erster Linie als des Kaisers Gouverneure begriffen und dementsprechend handelten.
Anhang
Kurzbiographien
516
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Rudolf von Bennigsen
Eckdaten Geboren
12.5.1859 Gut Bennigsen/Kreis Springe
Verstorben:
3.5.1912 Berlin-Schöneberg
Konfession:
ev.
Vater:
Rudolf v. Bennigsen (1824–1902), Politiker, Oberpräsident der Provinz Hannover
Mutter:
Anna, geb. v. Reden (1834–1902), Tochter eines K.P. Majors
Ehefrau:
unverheiratet
Kinder:
keine
Lebenslauf Ostern 1878
Abitur in Hannover
1878–1881
Studium der Rechtswissenschaft in Straßburg, Berlin, Göttingen
1881–1882
Einjährig-Freiwilliger im Ulanen-Rgt. Nr. 13
16.8.1883
Leutnant d.R.
1883–1887
Referendar
1887
2. juristische Staatsprüfung
1887–1888
Regierungsassessor in Elsass-Lothringen
1889–1892
Landrat im Kreis Peine
Dezember 1892
Einberufung in KA
1.6.1893
komm. Intendant beim Gouv. von DOA
Januar 1894
Leiter Abt. Finanzen beim Gouv. von DOA
Kurzbiographien Sommer 1895
etatmäßiger Finanzdirektor beim Gouv. von DOA
11.5.1896-19.1.1897
stellv. Gouverneur
20.1.1897
komm. Oberrichter in Daressalam
Ende 1898-Anf. 1899
Dienst in KA
1.4.1899
Gouverneur von DNG (DA 25.7.1899)
10.7.1901
Abreise nach Deutschland (Urlaub)
19.6.1902
Verabschiedung aus dem Kolonialdienst
Sommer 1902
Vorstandsmitglied der Dt. Kolonialgesellschaft für Südwestafrika
Januar-Sept. 1903
Reise nach DSWA
Ende 1903
Rücktritt als Direktor der Dt. Kolonialgesellschaft für Südwestafrika
Januar 1904
Direktor der Kaoko-Land- und Minengesellschaft
1904–1909
Korrespondent der Kölnischen Zeitung in Berlin
Juli 1908
Mitglied im Ausschuss der Dt. Kolonialgesellschaft
Februar 1909
erneut Direktor der Dt. Kolonialgesellschaft für Südwestafrika
1910
Reise nach DSWA
517
518
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Edmund Brückner Eckdaten Geboren:
1.1.1871 Friedersdorf/Kreis Görlitz
Verstorben:
31.12.1935 Berlin
Konfession:
ev.
Vater:
Edmund Brückner, Pastor u. Kreisschulinspektor
Mutter:
Adelheid, geb. Seckt (+1908)
Ehefrau:
Charlotte, geb. Voß, Tochter eines Kaufmanns (∞1909)
Kinder:
Ursula (1911–1917), Ekkart (*1912), Joachim (*1913), Jutta (*1914)
Lebenslauf 1884–7.3.1891
Gymnasium in Görlitz (Abitur)
4.5.1891-5.7.1895
Studium der Rechtswissenschaft in Halle, Leipzig, Breslau
1.10.1896-30.9.1897
Einjährig-Freiwilliger im Garde-Rgt. zu Fuß Nr. 3
15.7.1895
Referendar im Justizdienst
18.8.1899
Leutnant d.R.
30.3.1901
Große juristische Staatsprüfung
28.5.1901
Gerichtsassessor am Amtsgericht Görlitz
23.9.1902
Dienstantritt KA
29.9.1903
komm. Bezirksamtmann in Victoria/Kamerun
23.4.1904
komm. Beschäftigung Referat II beim Gouv. von Kamerun
Kurzbiographien 7.6.1905
Beschäftigung in KA (Politische, allgemeine Verwaltungs- und Rechtsangelegenheiten der Schutzgebiete, später Personalabt.)
28.9.1905
Festanstellung in KA
27.1.1907
Charakter als Ksrl. RegR
20.5.1907
Ksrl. RegR und Ständiger Hilfsarbeiter in Abteilung B (Finanzen, Verkehrs- und technische Angelegenheiten) im RKA
23.12.1909
Geh. RegR und VR
20.7.1910
Vertr. des Ersten Referenten beim Gouv. von DSWA
31.3.1911
Ernennung zum Gouverneur von Togo (DA 24.5.1911)
6.5.1911
Befugnisse eines Konsuls für Dahomey und Goldküste
8.5.1912
Abreise nach Deutschland
19.6.1912
Absetzung als Gouverneur u. Ernennung zum Geh. ORegR und VR (m.W. 27.7.1912)
August 1912
Leitung des Referats für DSWA in Abt. A/RKA
1.8.1914
Kompanieführer an der Westfront, dort verwundet
5.12.1914
Kommissar des RKA beim Generalgouverneur in Belgien
20.11.1918
Rückkehr nach Berlin, zuständig für Entschädigungsangelegenheiten der Kolonialdeutschen
15.3.1920
komm. Beschäftigung in Abt. V/Reichsfinanzministerium
1.2.1921
Ministerialdirigent in Abt. Vb/Reichsfinanzministerium
16.4.1924
Leiter KA im Auswärtigen Amt
13.12.1924
VLegR
519
520
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Karl Ebermaier Eckdaten Geboren:
2.10.1862 Elberfeld
Verstorben:
21.8.1943 Bernried/Starnberger See
Konfession:
ev.
Vater:
Friedrich Wilhelm Ebermaier, Oberstaatsanwalt
Mutter:
Sophie, geb. Küntzel
Ehefrau:
Helene, geb. Jung (∞1922)
Kinder:
keine
Lebenslauf 1872–1881
Humanistisches Gymnasium Elberfeld (Abitur)
1881–1884
Studium der Rechtswissenschaft in Marburg, Tübingen, Berlin, Bonn
März 1884
Referendarexamen
7.7.1884
Referendar am Oberlandesgericht Köln
1.10.1884-30.9.1885
Einjährig-Freiwilliger im 7. Westfälischen Infanterie-Rgt. Nr. 56
14.6.1886
Leutnant d.R.
Februar 1888
Große juristische Staatsprüfung
September 1889
Gerichtsassessor in Bonn
Juli 1897
Landrichter in Elberfeld
Ende 1897
Einberufung KA
24.2.1898
komm. Oberrichter in Daressalam
1899
Charakter als Oberrichter
Kurzbiographien Frühjahr 1900
zu drei Monaten Festungshaft verurteilt (Duell)
Feb. 1901-Ende 1902
Landrichter in Essen
Dezember 1902
erneute Einberufung KA
April 1903
komm. 1. Referent und Oberrichter in Buea/Kamerun
1.7.1903
1. Referent beim Gouv. von Kamerun, Charakter als Ksrl. RegR
Juli 1903-Jan. 1904
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
9.5.-9.11.1904
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
Ende 1904/Anf. 1905
Charakter als Geh. RegR und Ständiger Hilfsarbeiter in KA (Vertreter des Referenten für Kamerun und Togo)
Juli 1906
WLegR und VR (m.W. 1.4.1906) in Abteilung B der KA
Aug. 1908-Anf. 1909
Teilnahme an Ostafrikareise des Unterstaatssekretärs Lindequist
April 1909
Geh. ORegR
Oktober 1911
komm. Direktor der Finanzabteilung/RKA
30.1.1912
Gouverneur von Kamerun (DA 29.3.) zugl. Generalkonsul für Nigerien, Fernando Po, Muni, Gabun
1.7.1913
zugl. Generalkonsul für Sao Thomé
14.2.1916
Internierung zusammen mit Verwaltung und Schutztruppe in Muni
16.4.1916
Überführung nach Spanien
seit Juli 1916
Leiter der Internierungsverwaltung in Madrid
Ende 1919
Rückkehr nach Deutschland
1919–1921
Vors. einer Spruchkammer, anschl. Reichsentschädigungsamt
1921
Versetzung in den einstweiligen Ruhestand
1926
Versetzung in den dauernden Ruhestand
521
522
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Dr. Otto Gleim Eckdaten Geboren:
22.4.1866 Kassel
Verstorben:
17.8.1929 München
Konfession:
ev.
Vater:
Wilhelm Gleim, Wirkl. Geh. Oberrat im K.P. Ministerium d. öffentlichen Arbeiten
Mutter:
k.A.
Ehefrau:
Adelheid, geb. Krause, Tochter eines Stadtrats (∞1905)
Kinder:
Wilhelm, Erwin, 2 Töchter
Lebenslauf Frühjahr 1885
Abitur in Berlin
1885–89
Studium der Rechtswissenschaft in Marburg, Leipzig, Berlin
Frühjahr 1889
Referendarexamen
1889
Promotion zum Dr. jur. in Jena
1.10.1889-30.9.1890
Einjährig-Freiwilliger im Hessischen Jäger-Btl. Nr. 11
1889–94
Referendariat
17.11.1892
Leutnant d.R.
14.11.1894
Große juristische Staatsprüfung
5.2.1895
Einberufung KA
10.3.1896
DA als Kanzler und Bezirksamtmann in Duala/Kamerun
19.11.1896
komm. Kanzler in Lomé/Togo
Kurzbiographien 28.3.1897
Stellvertretung des Landeshauptmanns von Togo
1.4.1898
etatmäßiger Kanzler des Togo-Gebiets
4.1.1899
komm. Leiter des Konsulats in San Paulo de Loanda/Angola (DA 8.7.1899)
1.10.1901
Ernennung zum ständigen Hilfsarbeiter in der KA (Referent für Verwaltungsangelegenheiten in Kamerun und Togo)
20.12.1901
Charakter als LegR
25.5.1904
WLegR und VR (m.W. 1.4.1904)
9.11.1904-30.1.1905
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
Feb. 1905–31.3.1905
Stellvertretung des Gouverneurs von Togo
15.11.1906-30.7.1907
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
Frühjahr 1908
Geh. ORegR
28.8.1910
Gouverneur von Kamerun (DA 25.10.1910) zugl. Generalkonsul für Nigerien, Gabun, Fernando Po, Muni
Anfang Nov. 1911
Abschiedsgesuch
30.1.1912
Versetzung in den dauernden Ruhestand
27.4.1912
Wiedereinberufung als Direktor der Abt. A (Politische, allgemeine Verwaltungs- und Rechtsangelegenheiten) im RKA
1916
Unterstaatssekretär im RKA
1918
WGehR
1921
Versetzung in den dauernden Ruhestand
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524
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Gustav Adolf Graf von Götzen Eckdaten Geboren:
12.5.1866 Scharfeneck/Neurode
Verstorben:
1.12.1910 Berlin
Konfession:
ev.
Vater:
Adolf Graf v. Götzen (1821–1879), K.P. Premierleutnant und Rentier
Mutter:
Wanda, geb. Freiin v. Zedlitz und Neukirch (1845–1922)
Ehefrau:
May, geb. Loney, verwitwete Stanlay Lay (1861–1931) (∞1898)
Kinder:
Wanda (*1898)
Lebenslauf 29.9.1875-1.4.1879
Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal bei Gotha
1879-Ostern 1885
Städtisches Gymnasium Frankfurt a.M. (Abitur)
1885-Sommer 1887
Studium der Rechtswissenschaft in Paris, Berlin, Kiel (ohne Abschluss)
1.10.1885-30.9.1886
Einjährig-Freiwilliger im Garde-Ulanen-Rgt. Nr. 2
17.9.1887
Eintritt als aktiver Sekondeleutnant in Garde-Ulanen-Rgt. Nr. 2
Anfang 1891
kdrt. an Ksrl. Botschaft in Rom (Militärattaché-Stab)
Mai-September 1891
beurlaubt für Jagdausflug nach Usambara/DOA
10.6.-22.7.1892
beurlaubt für Erkundungsreise nach Zentralanatolien
1.10.1892-Sommer 1893
kdrt. an Kriegsakademie (1. Jahr)
Ende 1893-Anf. 1895
beurlaubt für Afrika-Expedition (Ostafrika und Kongo)
30.5.1895
Premierleutnant im Garde-Ulanen-Rgt. Nr. 3
Kurzbiographien 1.10.1895-Sommer 1896
kdrt. an Kriegsakademie (2. Jahr)
19.9.1896
kdrt. als Militär- u. Marineattaché an Ksrl. Botschaft in Washington (DA 18.12.1896)
April-August 1898
als Beobachter im Feldzug der US-Truppen auf Kuba
1.10.1898-Sommer 1899
kdrt. an Kriegsakademie (3. Jahr)
1.4.1900
kdrt. in den Großen Generalstab (de facto seit Herbst 1899)
14.9.1900
Patent als Hauptmann
11.12.1900
kdrt. zur Dienstleistung ins Auswärtige Amt
12.3.1901
Gouverneur von DOA und Kommandeur der Schutztruppe (DA 19.4.1901), zugl. Charakter als Major
10.4.1906
Patent als Major
12.4.1906
Abreise nach Deutschland
15.4.1906
Ausscheiden aus der Stellung des Gouverneurs und Kommandeurs der Schutztruppe, zugl. bei den Offizieren á la suite der Armee
3.3.1908
außerordentlicher K.P. Gesandter und bevollmächtigter Minister bei den Großherzoglich-Mecklenburgischen Höfen und den Hansestädten Hamburg, Bremen und Lübeck (m.W. 23.4.1908)
22.3.1910
Oberstleutnant á la suite
525
526
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Eduard Haber Eckdaten Geboren:
1.10.1866 Risa/Mechernich
Verstorben:
14.1.1947 Tübingen
Konfession:
kath.
Vater:
Carl Haber (1833–1914), Grubendirektor
Mutter:
Elisabeth, geb. Meiring, Tochter eines Gymnasialdirektors
Ehefrau:
I) Constanze, geb. Hammer (1866–1906), Tochter eines Landrats (∞1894) II) Antoinette, geb. Gründgens (1876–1962), Tochter eines Rentiers (∞1907)
Kinder:
Hedwig (*1895), Karl (1908–1926), Joachim (1911–1914)
Lebenslauf 1881–13.3.1884
Gymnasium Petrinum zu Brilon/Westfalen (Abitur)
Sommer 1884–1888
Studium der Bergwissenschaft in Berlin, Freiburg, Aachen, Bonn
12./13.7.1888
Bergreferendarprüfung
17.7.1888-31.3.1893
Bergreferendar beim Oberbergamt Wuppertal-Barmen
1889/90
Studienreisen nach Mexiko und Peru
24.3.1893
Bergassessor-Prüfung, anschl. Assessor beim Oberbergamt Bonn
1896–1900
Studienreisen nach Nordamerika, Australien, Neuseeland
20.10.-30.11.1900
Berginspektor im Kohlebergwerk Bielschowitz
1.12.1900
Eintritt KA
15.4.1901
komm. Referent beim Gouv. von DOA (DA 5.7.1901)
20.4.1902
Charakter als Ksrl. RegR
17.6.1903
1. Referent u. stellv. Gouverneur in DOA (m.W. 1.4.1903)
Kurzbiographien Okt. 1904–26.4.1905
Stellvertretung des Gouverneurs
28.3.1906
Charakter als Ksrl. Geh. RegR
12.4.-12.9.1906
Stellvertretung des Gouverneurs
ab 6.12.1906
Beschäftigung in KA
20.5.1907
Geh. RegR und VR im RKA (m.W. 1.4.1907), Referent für DOA
12.4.1910
Ksrl. Geh. ORegR (m.W. 1.4.1910)
22.11.1913
Beauftragung m. Stellv. d. Gouverneurs von DNG (DA 13.4.1914)
21.9.1914
Übergabe des ›Schutzgebietes‹ an australische Truppen
4.3.1915
Rückkehr nach Deutschland
28.4.1915
mit der Fortführung der Gouverneursgeschäfte beauftragt
1.2.-25.5.1916
Delegierter d. Freiwilligen Krankenpflege bei Etappeninspektion III
17.6.1916-6.1.1917
Bergwirtschaftlicher Beirat in Konstantinopel
18.1.-2.5.1917
Zwangsverwalter bei der Militärverwaltung in Brüssel
Okt. 1917-Dez. 1919
Delegierter des Militärinspekteurs der Freiwilligen Krankenpflege
14.12.1917
Gouverneur von DNG
Ende 1919
Leitung der Kohlenwirtschaftsstelle in Schwerin
1.4.1920
Präsident des Reichsausgleichsamtes (DA 22.5.1920)
11.6.1923
Versetzung in den Ruhestand
18.7.1923-30.9.1927
Dozent a.d. Bergakademie Clausthal (27.9.1924 Honorarprofessor)
Dez. 1928–31.3.1930
Vorstand der Forstbetriebs- u. Sandverwertungs-AG Haardt, Essen
1.4.1930
Dozent Universität Tübingen
November 1932
Mitglied des NS-Kraftfahrkorps
1.10.1936
Ehrensenator der Universität Tübingen
1.5.1937
Eintritt in die NSDAP
4.2.-25.5.1941
Leitung des Kreiswirtschafts- und Ernährungsamtes B in Tübingen
21.8.1945
Entlassung als Hochschullehrer
527
528
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Dr. Albert Hahl Eckdaten Geboren:
10.9.1868 Gern/Niederbayern
Verstorben:
25.12.1945 Gern/Niederbayern
Konfession:
ev.
Vater:
Jakob Hahl (1833–1898), Braumeister
Mutter:
Bertha, geb. Hübschmann (1836–1905), Tochter eines Buchbindermeisters
Ehefrau:
Luise, geb. Freiin v. Seckendorff-Aberdar (1875–1935), Tochter eines K.B. Oberleutnants (∞1903)
Kinder:
N.N. (unehelicher Sohn), Bertha (*1903), Karola (*1911), Albert (1916–2001)
Lebenslauf Ostern 1887
Abitur am Gymnasium Freising
1887–1891
Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Würzburg
1.10.1887-30.9.1888
Einjährig-Freiwilliger im K.B. Infanterie-Rgt. Nr. 9
Sommer 1891
1. juristische Staatsprüfung
ab 1.9.1891
Rechtspraktikant am Amtsgericht Mainburg
30.11.1891
Leutnant d.R.
1893
Promotion Universität Würzburg
Dezember 1894
2. juristische Staatsprüfung
30.5.-Sept. 1895
geprüfter Rechtspraktikant in Bayreuth (Regierung v. Oberfranken)
17.10.1895
Ernennung zum komm. Ksrl. Richter in Herbertshöhe/DNG (DA 14.1.1896)
13.8.-14.9.1897
Stellvertretung des Landeshauptmanns
Kurzbiographien 11.10.1899
Vizegouverneur in Ponape (Mikronesien)
7.7.1901-Mai 1902
Stellvertretung des Gouverneurs von DNG
28.9.1901
Bezirksamtmann in Herbertshöhe
20.11.1902
Gouverneur von DNG (DA 17.4.1903)
13.4.1914
Abreise nach Deutschland
16.8.1914
Meldung als Kriegsfreiwilliger
24.9.1914
Kompanieführer im K.B. Reserve-Infanterie-Rgt. Nr. 4
20.12.1914
Oberleutnant d.R.
27.2.1915
als dienstunfähig aus der Armee entlassen
4.5.1915
VR und Wirkl. Geh. ORegR im RKA
Juli 1916–1918
Beauftragter für Landwirtschaft und Landesentwicklung des Osmanischen Reiches im Rang eines Vizeministers
21.9.1918
auf eigenen Wunsch aus dem RKA ausgeschieden
1.10.1918-30.6.1938
Direktor der Deutschen Neuguinea-Compagnie
1919
Vorsitzender des Reichsverbandes der Kolonialdeutschen
1920–1933
Stellvertretender Präsident der Dt. Kolonialgesellschaft
1938
Kolonialrat im Reichskolonialbund
529
530
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Woldemar Horn Eckdaten Geboren:
9.9.1864 Ploetz bei Halle/Saale
Verstorben:
1945 Berlin
Konfession:
ev.
Vater:
Carl Horn, Gutsbesitzer in Ploetz
Mutter:
Auguste, geb. Schaff
Ehefrau:
nicht verheiratet
Kinder:
keine
Lebenslauf 1877-Herbst 1884
Städtisches Gymnasium Halle/Saale (Abitur)
1884–1888
Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg, Berlin, Halle
30.4.1888
1. juristische Staatsprüfung
17.5.1888
Referendar am Amtsgericht Ellrich
1.10.1888-1.10.1889
Einjährig-Freiwilliger im Magdeburgischen Feldartillerie-Rgt. Nr. 4
17.11.1891
Leutnant d.R.
28.3.1894
2. juristische Staatsprüfung
Mai 1894–30.6.1895
Assessor am Amtsgericht Osterwieck
1.7.-30.9.1895
Assessor am Amtsgericht Greußen
1.10.1895-Feb. 1896
Assessor am Amtsgericht Osterwieck
März-April 1896
Assessor am Amtsgericht Magdeburg
23.4.1896
Eintritt KA
4.8.1897
Hilfsarbeiter beim Gouvernement in Duala/Kamerun
Kurzbiographien 1898-Frühjahr 1899
Ksrl. Richter in Kamerun, zugl. Wahrnehmung der Geschäfte des Bezirksamtmanns in Victoria
11.12.1899-15.8.1900
komm. Bezirksrichter in Swakopmund/DSWA
7.9.1900
komm. Kanzler und stellv. Gouverneur von Togo
14.9.1900
Oberleutnant d.R.
Herbst 1901
Ernennung zum Kanzler beim Gouv. von Togo
3.3.1902
Charakter als Ksrl. RegR
Frühjahr-Nov. 1902
Stellvertretung des Gouverneurs von Togo
1.12.1902
Gouverneur von Togo
Dezember 1903
Abreise nach Deutschland
1.4.1905
Urteil des Bezirksgerichts in Lomé wegen »Körperverletzung im Amte«: Freispruch
11.5.1905
Versetzung in den einstweiligen Ruhestand
4.7.1905
Revisionsurteil des Obergerichts in Buea: 900 Mark Geldstrafe
Juli 1906
Einleitung eines Disziplinarverfahrens wegen »Dienstvergehens«
4.5.1907
Urteil der Ksrl. Disziplinarkammer: Dienstentlassung unter Belassung von zwei Dritteln der gesetzlichen Pension auf Lebenszeit
23.12.1907
Revisionsurteil des Ksrl. Disziplinarhofs: Strafversetzung und 300 Mark Geldstrafe
1914–1918
Hauptmann d.R. in einer Landsturmbatterie, später in einer schweren Munitionskolonne
531
532
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
August Köhler
Eckdaten Geboren:
13.9.1858 Eltville/Rheingau
Verstorben:
19.1.1902 Lomé/Togo
Konfession:
ev.
Vater:
Theodor Köhler (+1889), Domänenrentmeister
Mutter:
Johannette, geb. Krön (+1900), Tochter eines Schuhmachers
Ehefrau:
nicht verheiratet
Kinder:
Josef Komla Köhler (unehelicher Sohn in Lomé, *1897)
Lebenslauf Ostern 1878
Abitur am Gymnasium Weilburg/Lahn
10.5.1878-1882
Studium der Rechtswissenschaft in Bonn und Leipzig
Frühjahr 1882
1. juristische Staatsprüfung
1882–1883
Einjährig-Freiwilliger im 1. Rheinischen Infanterie-Regiment Nr. 25
1889
2. juristische Staatsprüfung
1889–1891
Regierungsassessor bei der Direktion der direkten Steuern, Berlin
Februar 1891
Einberufung KA
Frühjahr 1891
Ernennung zum Richter in Otjimbingue/DSWA (DA 10.7.1891)
10.8.-10.12.1891
Stellvertretung des Ksrl. Kommissars von DSWA
31.12.1891-1.2.1892
Stellvertretung des Ksrl. Kommissars von DSWA
26.2.-10.5.1892
Stellvertretung des Ksrl. Kommissars von DSWA
Kurzbiographien 2.9.-2.10.1892
Stellvertretung des Ksrl. Kommissars von DSWA
17.10.1892-28.2.1893
Stationsleiter in Swakopmund
16.3.-2.4.1893
Stellvertretung des Ksrl. Kommissars von DSWA
20.3.-17.11.1895
komm. Landeshauptmann von Togo
18.11.1895
Landeshauptmann von Togo, zugl. Befugnisse eines Konsuls für das westafrikanische Küstengebiet von Sierra Leone bis Nigerien
18.4.1898
Ernennung zum Gouverneur von Togo
17.1.-Juli 1900
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
533
534
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Theodor Leutwein Eckdaten Geboren:
9.5.1849 Strümpfelbrunn/Odenwald
Verstorben:
13.4.1921 Freiburg i.Br
Konfession:
ev.
Vater:
Johann Leutwein (1811–79), Pfarrer
Mutter:
Sophie, geb. Hanser (1819–55), Tochter eines Handelsmanns
Ehefrau:
I) Frieda, geb. Mammel, Tochter eines Kaufmanns (∞1874, 1891 geschieden) II) Klara, geb. Milenz (1872–1967), Tochter eines Großkaufmanns (∞1906)
Kinder:
Theodora (1874–76), Friedrich (1879–1914), Paul (1882–1956), N.N. (Tochter)
Lebenslauf 1860-Sommer 1867
Pädagogium bzw. Lyzeum Pforzheim, Ludwigsburg, Konstanz, Heidelberg (Primareife)
1867/68
Studium der Rechtswissenschaft in Freiburg i.Br. (1 Semester)
16.2.1868
Eintritt in das Badische 5. Linien-Infanterie-Rgt. [ab 1871 Nr. 113]
1.3.-6.8.1869
Kriegsschule in Engers
15.10.1869
Sekondeleutnant
16.7.1870-26.4.1871
Adjutant im 5. Landwehr-Btl
18.1.1872-19.9.1873
kdrt. 8. Brandenburgisches Infanterie-Rgt. Nr. 46
1.3.1875
Adjutant im II./Infanterie-Rgt. Nr. 113
12.4.1877
Premierleutnant
1.10.1877-21.7.1880
kdrt. Kriegsakademie
3.5.1881-18.4.1882
kdrt. Großer Generalstab
Kurzbiographien 15.1.1885
Hauptmann und Kompaniechef
20.9.-6.10.1886
kdrt. zur Generalstabsreise des VI. Armeekorps
15.12.1886-9.1.1887
Stellvertr. des Generalstabsoffiziers und Adjutanten der 29. Division
17.6.1887-21.3.1891
Taktiklehrer an der Kriegsschule Neiße
1.10.1888
Hauptmann 1. Klasse
11.8.-27.9.1889
kdrt. Badisches Feldartillerie-Rgt. Nr. 14
22.3.1891-16.12.1891
Taktiklehrer an der Kriegsschule Hersfeld
17.12.1891
Kompaniechef im 1. Niederschlesischen Infanterie-Rgt. Nr. 46
27.1.1893
überzähliger Major
16.11.1893
als Beobachter nach DSWA entsandt (DA 31.12.1893)
15.3.1894
komm. Landeshauptmann von DSWA
15.8.1894
komm. Kommandeur der Schutztruppe für DSWA
7.1.1895
Kommandeur der Schutztruppe für DSWA
27.6.1895
Landeshauptmann von DSWA
18.4.1898
Ernennung zum Gouverneur von DSWA
22.5.1899
Oberstleutnant
16.6.1901
Oberst
16.5.1904
als Kommandeur der Schutztruppe für DSWA abgesetzt
30.11.1904
Abreise nach Deutschland
22.4.1905
Charakter als Generalmajor
19.8.1905
Versetzung in den Ruhestand
535
536
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Eduard [von] Liebert Eckdaten Geboren:
16.4.1850 Rendsburg
Verstorben:
14.11.1934 Tscheidt/Kr. Ratibor-Land
Konfession:
ev.
Vater:
Friedrich Wilhelm Liebert (1805–53), K.P. Major im Großen Generalstab
Mutter:
Emilie, geb. Lohmeier (1829–1908), Tochter eines Proviantmeisters
Ehefrau:
I) Helene, geb. Dittmer (1856–98), Tochter eines Weingroßhändlers (∞1876) II) Maria Charlotte, geb. Dittmer (*1872), Schwester von I) (∞1899)
Kinder:
Elsa (*1877), Hermann (1880–1906)
Adelsprädikat:
1.1.1900 (erblich)
Lebenslauf 1857–1861
Gymnasium Latina Halle/Saale
1.4.1861-Juni 1866
K.P. Kadettenkorps in Bensberg bei Deutz und Berlin-Lichterfelde
13.6.1866
Portepeefähnrich im 3. Posener Infanterie-Rgt. Nr. 58
6.8.1866
Sekondeleutnant
1.11.1869
Adjutant II./Infanterie-Rgt. Nr. 58, dann 20. Infanterie-Brigade
13.7.1872
Premierleutnant
1.10.1872-21.7.1875
Kriegsakademie
1.1.1876
Taktiklehrer an der Kriegsschule Hannover, dann Metz
17.9.1878
Hauptmann
2.4.1881
in den Großen Generalstab versetzt, Lehrer an der Kriegsakademie
18.4.1882-12.12.1883
Generalstab des III. Armeekorps
4.12.1884-4.12.1885
Kompaniechef im 2. Hanseatischen Infanterie-Rgt. Nr. 76
Kurzbiographien 29.12.1885-19.9.1887
Ia/12. Division
20.2.1886
überzähliger Major
März-April 1890
Beobachter und Stellvertreter Wißmanns in DOA
7.2.1891
Ia/Generalkommando X. Armeekorps
16.5.1891
Oberstleutnant
28.7.1892
Chef des Generalstabs/Generalkommando X. Armeekorps
14.5.1894-8.12.1896
Oberst u. Kommandeur 2. Brandenburg. Grenadier-Rgt. Nr. 12
9.12.1896
Gouverneur von DOA (DA 19.1.1897)
16.2.1897
zugl. kommissarischer Kommandeur der Schutztruppe für DOA
20.7.1897
Generalmajor
22.9.1897
zugl. Kommandeur der Schutztruppe für DOA
13.8.1900
Abreise nach Deutschland
12.3.1901
Entlassung aus Kolonialdienst
18.5.1901
Generalleutnant und Kommandeur der 6. Division
7.4.1903
zur Disposition gestellt mit gesetzlicher Pension
9.5.1904
Vorsitzender des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie
Feb. 1907–20.1.1914
Abgeordneter im Reichstag (Reichs- und Freikonservative Partei)
4.-29.10.1914
Kommandant von Lodz (DA 10.10.1914)
14.1.1915
Kommandeur der 15. Reserve-Division
20.1.1916
Charakter als General der Infanterie
25.2.1917
Kommandierender General des Generalkommandos z.b.V. LIV. Korps
17.6.1917
Versetzung in den dauernden Ruhestand
1918
Mitglied des Preußischen Landtags
1.12.1929
Eintritt in die NSDAP
537
538
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Friedrich von Lindequist
Eckdaten Geboren:
15.9.1862 Wostevitz/Rügen
Verstorben:
25.6.1945 Macherslust bei Eberswalde
Konfession:
ev.
Vater:
Olof v. Lindequist (1824–1901), Landwirt und K.P. Eisenbahnbeamter
Mutter:
Anna, geb. Hoffmann (1834–1909), Tochter eines Rittergutsbesitzers
Ehefrau:
Dorothea, geb. v. Heydebreck (1877–1945), Tochter eines Gutsbesitzers (∞1909)
Kinder:
Fritz Olof (1909–10), Anna Helene (*1910)
Lebenslauf Ostern 1883
Abitur am Städtischen Gymnasium Greifswald
1883–1886
Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen, Berlin, Greifswald
1.10.1883-30.9.1884
Einjährig-Freiwilliger im 5. Pommerschen Infanterie-Rgt. Nr. 42
Frühjahr 1886
1. juristische Staatsprüfung
18.5.1886
Referendar am Oberlandesgericht Stettin
18.9.1886
Sekondeleutnant d.R.
1889
Regierungsreferendar in Trier
1.1.1892
Regierungsassessor
1.9.1892
Einberufung in KA (DA 3.10.1892)
17.2.1894
Premierleutnant d.R.
17.5.1894
Ksrl. Richter und stellv. Landeshauptmann von DSWA
Kurzbiographien 30.12.1896
Stellv. Landeshauptmann v. DSWA u. Bezirksamtmann v. Windhuk
31.12.1896
Charakter als Ksrl. RegR
7.9.1897-Juni 1898
Stellvertretung des Landeshauptmanns von DSWA
1.11.1898
Abreise nach Deutschland
Frühjahr 1899-Juni 1900
Beschäftigung in KA (Justiz und Westafrikanisches Referat)
20.6.1900
kommissarischer Generalkonsul in Kapstadt (DA 28.7.1900)
30.6.1900
Charakter als Generalkonsul
22.9.1902
Generalkonsul für Britisch Südafrika (Kapstadt)
27.1.1902
Hauptmann d.B.
22.8.1904
Abreise nach Deutschland
19.8.1905
Gouverneur von DSWA (DA 19.11.1905)
3.8.1906
Ehrendoktor Universität Greifswald
22.10.1906
Abreise nach Deutschland
20.5.1907
Unterstaatssekretär im Reichskolonialamt
14.7.-26.8.1907
Kommissarischer Gouverneur von DSWA
Sept. 1908–1909
Informationsreise nach DOA
9.6.1910
WGehR
10.6.1910
Staatssekretär im Reichskolonialamt
3.11.1911
Rücktritt wegen des Marokko-Kongo-Abkommens
Juni 1914–1933
Vizepräsident der Dt. Kolonialgesellschaft
1914
Etappendelegierter der freiwilligen Krankenpflege der 2. Armee, später Generaldelegierter Ost (Ansiedlungsfragen in Transkaukasien)
1917
Mitbegründer der Vaterlandspartei
1932/33
Reise nach Süd-, Südwestafrika und Tanganyika
seit Juni 1936
Mitglied im Kolonialrat des Reichskolonialbundes, zugl. Vorsitzender des Generalreferats des Kolonialpolitischen Amtes der NSDAP
539
540
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg
Eckdaten Geboren:
10.10.1873 Schweriner Schloss
Verstorben:
5.4.1969 Eutin/Holstein
Konfession:
ev.
Vater:
Großherzog Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin (1823–1883)
Mutter:
Marie, geb. Prinzessin von SchwarzburgRudolstadt (1850–1922)
Ehefrau:
I) Viktoria Feodora, geb. Prinzessin zu Reuß jüngere Linie (1889–1918) (∞1917) II) Elisabeth, geb. Prinzessin zu StolbergRoßla (1885–1969) (∞1924)
Kinder:
Koffi Herzog (unehel. Sohn in Togo, *1913), Herzogin Woizlawa-Feodora (*1918)
Lebenslauf 1883
formaler Eintritt in das Artillerie-Rgt. Nr. 24
10.10.1885
Sekondeleutnant
1886–14.3.1894
Vitzthumsches Gymnasium Dresden (Abitur)
14.9.1893
Premierleutnant
Mai-Herbst 1894
Reise in den Vorderen Orient
8.1.1895
Eintritt in das Garde-Kürassier-Rgt.
13.6.1898
Sieger beim Großen Armee-Jagdrennen
15.6.1898
Patent als Rittmeister
1900
Mitbegründer des Kaiserlichen Automobil-Klubs
Frühjahr 1902
Jagdreise nach Ceylon und DOA
1902
Teilnahme am ersten deutschen Kolonialkongress
15.9.1904
Major, zugl. Übertritt in das 2. Garde-Dragoner-Rgt.
Kurzbiographien 24.1.-Mai 1905
Reise nach DOA
April 1907
Vorsitzender d. Abt. Berlin-Charlottenburg/Dt. Kolonialgesellschaft
1907
aus dem aktiven Armeedienst ausgeschieden
Mai 1907-Juni 1908
Leitung der Deutschen Zentralafrika-Expedition
1908
Ehrendoktorwürde Universität Rostock (Dr. phil.)
Juli 1910-Aug. 1911
2. Expedition nach Zentral- und Westafrika
Herbst 1911
Mitglied der Wildschutzkommission der Dt. Kolonialgesellschaft
22.6.1912
Gouverneur des Togo-Gebiets (DA 28.8.1912)
1912
Oberstleutnant á la suite
28.4.1914
Abreise nach Deutschland
Sommer 1914
Oberst im Stab des Generalkommandos des K.P. Gardekorps
März 1916
im Stab des Feldmarschalls von der Goltz in Bagdad
1919
Ehrendoktorwürde Universität Rostock (Dr. med.)
1920
Vizepräsident der Deutsche Kolonialgesellschaft
1921
Präsident Kolonialkriegerdank
1926
Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees
1927
Eintritt in Herrengesellschaft Mecklenburg
1928–1934
Präsident Automobilclub von Deutschland
Sommer 1936
im Organisationsausschuss für die Olympischen Spiele in Berlin
September 1949
Präsident des dt. Nationalen Olympischen Komitees
1951
Schirmherr der Landsmannschaft Mecklenburg
541
542
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Jesko von Puttkamer Eckdaten Geboren:
2.7.1855 Berlin
Verstorben:
24.1.1917 Berlin
Konfession:
ev.
Vater:
Dr. Robert v. Puttkamer (1828–1900), K.P. Staatsminister des Innern, zuletzt Oberpräsident von Pommern
Mutter:
Ida Auguste, geb. v. Puttkamer (1830–1920), Tochter eines Landrats
Ehefrau:
Elisabeth, geb. Passow (*1887), Tochter eines Universitätsprofessors und Arztes (∞1914)
Kinder:
Jesko (*/+1915)
Lebenslauf bis 1871
Wilhelms-Gymnasium Berlin
1871–1.8.1873
Friedrichs-Gymnasium Gumbinnen (Abitur)
1873–1881
Studium der Rechtswissenschaft in Straßburg, Freiburg i.Br., Breslau, Königsberg (mit Unterbrechungen)
1873–1874
Einjährig-Freiwilliger im Schleswig-Holsteinischen Ulanen-Rgt. Nr. 15
Frühjahr 1881
1. juristische Staatsprüfung
seit 1.5.1881
Referendar am Oberlandesgericht in Königsberg
1.4.1882-März 1883
Referendar am Kammergericht in Berlin
3.3.1883
Einberufung in den Auswärtigen Dienst (konsularische Laufbahn)
Frühjahr 1883–1.5.1884
Stellvertretender Vizekonsul beim Ksrl. Konsulat in Chicago
14.4.1884
Expedient Handelsabteilung/Ausw. Amt (DA 29.5.1884)
15.4.1885-7.11.1887
Kommissarischer Kanzler in Kamerun (DA 5.7.1885)
Kurzbiographien 13.5.-30.9.1887
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
30.7.1887-17.10.1888
geschäftsführender Kommissar des Togo-Gebiets (DA 18.11.1887)
8.2.1888-18.4.1890
Wahlkonsul in Lagos (DA 1.11.1888)
26.11.1889-Sommer 1890
zugl. geschäftsführender Kommissar des Togo-Gebiets
3.6.-1.12.1890
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun (DA 14.8.1890)
Dez. 1890-Juni 1891
geschäftsführender Kommissar des Togo-Gebiets
Herbst 1891
kommissarischer Hilfsarbeiter in der KA
6./16.12.1891
Ksrl. Kommissar des Togo-Gebiets (DA 27.6.1892)
17.11.1893
Landeshauptmann von Togo
seit 1.1.1895
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
13.8.1895
Gouverneur von Kamerun
9.1.1906
Abreise nach Deutschland
19.5.1906
Antrag auf Versetzung in den dauernden Ruhestand
20.6.1906
Antrag zurückgezogen, Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen sich selbst beantragt
25.4.1907
Urteil der Ksrl. Disziplinarkammer: Verweis und 1.000 Mark Strafe
9.5.1907
Versetzung in den vorläufigen Ruhestand
14.1.1908
Revisionsurteil des Ksrl. Disziplinarhofs: Verweis
14.7.1908
Versetzung in den dauernden Ruhestand
543
544
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Dr. Albrecht Freiherr von Rechenberg
Eckdaten Geboren:
15.9.1861 Madrid
Verstorben:
26.2.1935 Berlin
Konfession:
kath.
Vater:
Julius Freiherr v. Rechenberg (1812–92), Wirkl. Geh. LegR
Mutter:
Helene, geb. Fiedler (1841–1911), Tochter eines Bankiers
Ehefrau:
Gabriele, geb. Mittenzweig, verwitwete Wellenberg (1839–1904), Tochter eines Gerichtsarztes (∞1914)
Kinder:
keine
Lebenlauf 1879
Abitur am Deutschen Gymnasium in Prag
1879–83
Studium der Rechtswissenschaft in Berlin, Prag, Leipzig
ca. 1880/81
Einjährig-Freiwilliger im 2. Garde-Rgt. zu Fuß
1883
1. juristische Staatsprüfung und Promotion zum Dr. jur. an der Universität Leipzig, anschließend Referendar in Berlin
14.8.1884
Leutnant d.R.
ca. 1887
2. juristische Staatsprüfung
17.10.1889
Einberufung in den Auswärtigen Dienst (konsularische Laufbahn) (DA 23.10.1889)
29.7.1893
Übertritt in KA
Herbst 1893
kommissarischer Bezirksrichter im Nordbezirk von DOA
17.10.1893
Oberleutnant d.B.
Kurzbiographien Frühjahr 1894
Stellvertretung des Bezirksamtmanns in Tanga
Sommer 1895
Stellvertretung des Bezirksamtmanns in Daressalam
15.2.1896
Handelsabteilung des Auswärtigen Amts (DA 11.3.1896)
2.5.1896
Charakter als Vizekonsul und Übernahme der Geschäfte des Konsulats in Sansibar (DA 28.6.1896)
30.3.1898
Konsul in Sansibar
29.9.1900
Konsul in Moskau (DA 24.2.1901)
23.3.1901
Hauptmann d.B.
30.12.1904
Generalkonsul in Warschau (DA 6.2.1905)
15.4.1906
Gouverneur von DOA (DA 12.9.1906)
22.10.1911
Abreise nach Deutschland
8.5.1912
Versetzung in den vorläufigen Ruhestand
2.2.1914
Versetzung in den dauernden Ruhestand unter Verleihung des Charakters eines WGehR
24.4.1914-1918
Reichstagsabgeordneter (Zentrum)
1914
Mitwirkung bei der Gründung der Deutschen Gesellschaft 1914
Frühjahr 1919
Vorsitzender der Deutschen Ostmarkenkommission
1922
Deutscher Gesandter in Warschau
1927
Mitglied des Internationalen Arbeitsamtes in Genf
545
546
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Friedrich Freiherr von Schele Eckdaten Geboren:
15.9.1847 Berlin
Verstorben:
20.7.1904 Berlin
Konfession:
ev.
Vater:
Werner Freiherr v. Schele (1814–1869), K.P. Hofjägermeister und Präsident der Königlichen Hofkammer
Mutter:
Marie, geb. Eichhorn (1822–1861)
Ehefrau:
Emma, geb. Freiin v. HammersteinEquord (1855–1918) (∞1879)
Kinder:
Marie-Agnes (*1880), Rabod (*1883), Werner (1887–1952)
Lebenslauf 1.5.1858
Kadettenanstalt in Potsdam
1.5.1862
Kadettenanstalt in Berlin
18.4.1865
Eintritt in das Magdeburgische Dragoner-Rgt. Nr. 6
15.6.-4.8.1866
Ordonnanzoffizier beim Stab der kombinierten Kavallerie-Brigade der Main-Armee
2.11.1867
Garde-Ulanen-Rgt. Nr. 3
3.7.1870
stellv. Adjutant 2. Garde-Kavallerie-Brigade
30.8.1870-15.5.1871
Ordonnanzoffizier 2. Garde-Kavallerie-Brigade
11.6.1872
Premierleutnant und kdrt. zur 1. Garde-Kavallerie-Brigade
11.11.1875
überzähliger Rittmeister
3.2.1877
Eskadronchef im 2. Hannoverschen Dragoner-Rgt. Nr. 16
4.3.1879
Persönlicher Adjutanten des Prinzen Albrecht v. Preußen
Kurzbiographien 15.4.1884
Major ohne Patent, zugl. Versetzung zur Adjutantur
4.12.1884
Major mit Patent
15.11.1887
dem 1. Brandenburgischen Ulanen-Rgt. Nr. 3 aggregiert
17.1.1888
etatmäßiger Stabsoffizier
23.5.1890
Oberstleutnant
12.8.1890
Kommandeur Rheinisches Ulanen-Regiment Nr. 7
28.4.1891
Chef Abteilung Kavallerie im K.P. Kriegsministerium
26.10.1892
kdrt. zur Dienstleistung ins Auswärtige Amt
22.2.-3.10.1893
Stellvertretung des Gouverneurs von DOA
25.3.1893
Oberst
15.9.1893
Ernennung zum Gouverneur von DOA (m.W. 4.10.1893)
23.10.1893
komm. Kommandeur der Schutztruppe für DOA
20.11.1894
Pour le Mérite
9.1.1895
Rücktrittsgesuch
13./14.1.1895
Abreise nach Deutschland
25.2.1895
Entbindung vom Amt als Gouverneur von DOA
14.4.1895
Flügeladjutant des Kaisers und Königs von Preußen
13.5.1895
Rang und Gebührnisse als Brigadekommandeur
1.6.1896
zugl. Kommandeur 2. Garde-Kavallerie-Brigade
22.3.1897
Generalmajor
1.7.1897
von seiner Stellung als Flügeladjutant entbunden
10.6.1899
komm. Inspekteur der 3. Kavallerie-Inspektion
22.5.1900
Generalleutnant und Inspekteur der 3. Kavallerie-Inspektion
18.5.1901
Kommandeur 16. Division
17.2.1903
Gouverneur der Festung Mainz
1.5.1904
zur Disposition gestellt, zugl. Gouverneur des Berliner Invalidenhauses
547
548
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Dr. Heinrich Schnee Eckdaten Geboren:
4.2.1871 Neuhaldensleben
Verstorben:
23.6.1949 Berlin
Konfession:
ev.
Vater:
Hermann Schnee (1829–1901), Landgerichtsrat
Mutter:
Emilie, geb. Scheibe (1840–1894)
Ehefrau:
Ada, geb. Woodhill (1873–1969) (∞1901)
Kinder:
Lieselotte (Pflegetochter)
Lebenslauf 1880–27.3.1889
Gymnasium Nordhausen (Abitur)
1889–1892
Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg, Kiel, Berlin
1.4.1890-31.3.1891
Einjährig-Freiwilliger beim Infanterie-Rgt. Nr. 85
7.7.1892
1. juristische Staatsprüfung
30.7.1892
Justizreferendar bei den Amtsgerichten in Ellrich und Nordhausen
18.7.1893
Dr. jur. Universität Jena
14.9.1894
Regierungsreferendar in Erfurt
15.12.1894
Sekondeleutnant d.R. (Grenadier-Rgt. Nr. 6)
8.5.1897
2. juristische Staatsprüfung
24.7.1897
Einberufung KA (DA 4.8.1897)
10.8.1898
Ksrl. Richter für den Bismarck-Archipel/DNG (DA 13.12.1898)
Kurzbiographien 1.4.-24.7.1899
Stellv. Gouverneur von DNG
27.6.1900
Stellv. Gouverneur, Referent u. Richter in Samoa (DA 8.11.1900)
12.8.-1.10.1901
zur Dienstleistung im Personalreferat der KA
23.12.1901-Feb. 1903
Stellv. Gouverneur von Samoa
23.5.1903
zur Dienstleistung in KA (DA 3.6.1903)
21.2.1904
Ständiger Hilfsarbeiter in KA (m.W. 1.11.1903)
17.7.1904
Charakter als LegR
30.6.1905
Beirat f. koloniale Angelegenheiten an der Ksrl. Botschaft in London
8.5.1906
Versetzung in KA/Personalreferat (DA 21.5.1906)
1.4.1906
WLegR und VR
22.5.1907
Dirigent, kommissarische Leitung der Personalabteilung/RKA
seit 1908
Kommissar des RKA am Hamburgischen Kolonialinstitut
7.4.1909
Geh. ORegR
Frühjahr 1911
zugl. komm. Leitung Abt. A/RKA (Politische Angelegenheiten)
3.10.1911
Direktor u. Leiter der Abt. C/RKA (Personalangelegenheiten)
Anfang 1912
WGehR
8.5.1912
Gouverneur von DOA (DA 22.7.1912)
25.11.1918
Kapitulation mit der Schutztruppe in Rhodesien
15.11.1921
Ehrendoktorwürde Universität Hamburg
Mai 1924-Juli 1932
Mitglied des Reichstags (DVP)
1927–1945
Präsident der Dt. Gesellschaft für Völkerrecht und Weltpolitik
1931–1936
Präsident der Dt. Kolonialgesellschaft (seit 1933 Reichskolonialbund)
1.5.1933
Eintritt in die NSDAP
26.5.1933-1949
Präsident der Dt. Weltwirtschaftlichen Gesellschaft, Berlin
1933–1937
Vorsitzender der Dt. Gesellschaft für Völkerbundfragen
Nov. 1933-Mai 1945
Mitglied des Reichstags
549
550
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Bruno von Schuckmann Eckdaten Geboren:
3.12.1857 Rohrbeck bei Arnswalde
Verstorben:
6.6.1919 Stettin
Konfession:
ev.
Vater:
Otto v. Schuckmann (1824–1902), Gutsbesitzer
Mutter:
Elisabeth, geb. v. Behr (1831–1895), Tochter eines Gutsbesitzers
Ehefrau:
Maria, geb. v. Radowitz (1864–1943), Tochter eines K.P. Generalleutnants und Botschafters (∞1887)
Kinder:
Siegfried (*1888), Maria Elisabeth (*1890), Erika (*1892), Josepha Elisabeth (*/+1897)
Lebenslauf 1867–1877
Gymnasien/Pädagogium Landsberg/W., Putbus, Friedland (Abitur)
1877–1880
Studium der Rechte in Heidelberg, Marburg, Breslau, Leipzig
16.6.1880
1. juristische Staatsprüfung
1880–1884
Referendar an den Amtsgerichten Arnswalde und Landsberg/W.
Juni 1884
2. juristische Staatsprüfung, anschl. Assessor in Alt-Landsberg
1885–1886
Staatsanwaltschaft am Landgericht II Berlin
17.3.1886
Einberufung Ausw. Amt, Abt. II (Handelspolitik) (DA 20.3.1886)
21.9.1886
Versetzung in Abt. IB (Personal und Verwaltung)
22.11.1886
Hilfsarbeiter K.P. Gesandtschaft in Hamburg (DA 29.11.1886)
17.3.1888-20.2.1890
Konsulat in Chicago, Charakter als Vizekonsul (DA 20.5.1888)
6.2.1890
komm. Hilfsarbeiter KA (DA 4.4.1890)
30.8.1890
Ständiger Hilfsarbeiter
1.5.1891
Charakter als LegR
Kurzbiographien 24.6.1891
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun (DA 7.8.1891)
29.12.1891
Abreise nach Deutschland
8.4.1893
Versetzung in Abt. IB (Personal und Verwaltung), Ordensreferat
8.2.1895
Abt. II (Handelspolitik), Konsularreferat
2.4.1895
WLegR und VR
2.10.1895
Generalkonsul in Kapstadt (DA 20.2.1896)
16.8.1898
Abreise nach Deutschland
13.3.1899
Abt. II (Handelspolitik), Referat ›Handel über See‹
4.4.1899
Geh. LegR
17.12.1900
Versetzung in den einstweiligen Ruhestand
10.11.1904-Juni 1907
Preußisches Abgeordnetenhaus (Konservative Partei)
20.5.1907
Gouverneur von DSWA (DA 26.8.1907)
16.2.1910
Abreise nach Deutschland
20.6.1910
Versetzung in den dauernden Ruhestand
Feb. 1912–1918
Preußisches Abgeordnetenhaus (Konservative Partei)
10.8.1914
Kriegsfreiwilliger im Garde-Ulanen-Rgt. Nr. 3
14.10.1914
Leutnant d.R.
9.11.1914
Vors. des Wirtschafts-Ausschusses der Etappen-Inspektion Gent
Aug.-Okt. 1915
Zugführer im Landwehr-Kürassier-Rgt. Nr. 8
Januar 1916
kdrt. zum Generalkommando des XIV. Reservekorps
April 1916
Wirtschaftsoffizier im Reserve-Infanterie-Rgt. Nr. 109
Juni 1916
kdrt. zum Kriegs-Ernährungsamt
November 1916
kdrt. zum stellv. Generalkommando des Garde-Korps
Januar 1917
Referent für Hilfsdienst beim Stab General v. Loewenfeld
April 1917
dauernde Dienstunfähigkeit
551
552
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Dr. Erich Schultz[-Ewerth] Eckdaten Geboren:
8.3.1870 Berlin
Verstorben:
25.6.1935 Berlin
Konfession:
ev.
Vater:
k.A., Lehrer
Mutter:
k.A., geb. Ewerth
Ehefrau:
Charlotte (*1898), geb. N.N. (∞ nach 1918, 1933 geschieden)
Kinder:
Henning, Christine, Eckhardt, Mario Tuala (1924–1961)
Lebenslauf 1879–1888
Luisenstädtisches Gymnasium Berlin (Abitur)
1888-ca. 1893
Studium der Rechtswissenschaft in Berlin und Jena
ca. 1893
1. juristische Staatsprüfung
ca. 1893–1897
Referendar in Liebenwalde und Berlin
5.5.1897
2. juristische Staatsprüfung
1897–1898
Assessor bei der Rechtsanwaltschaft in Berlin und bei den Staatsanwaltschaften in Berlin I und Graudenz
1898
Dr. jur. Universität Jena
28.4.1898
Einberufung in KA
24.1.1899
komm. Bezirksrichter in Daressalam
22.3.1899
Abreise nach Deutschland (Krankheit)
Mai 1899
Entlassung aus dem Kolonialdienst
Kurzbiographien Sommer-Dez. 1899
Assessor bei der Staatsanwaltschaft des Landgerichts Berlin I
22.12.1899
erneute Einberufung in KA/Personalreferat
26.9.1901
kommissarischer Referent und Bezirksrichter in Apia/Samoa
1.4.1903
Referent und Bezirksrichter in Apia
17.7.1904
Oberrichter für Samoa
17.9.1905-Juli 1906
Stellvertretung des Gouverneurs von Samoa
März-22.11.1908
Stellvertretung des Gouverneurs von Samoa
1.4.1910
zugl. Erster Referent beim Gouv. von Samoa
1910–18.6.1912
Stellvertretung des Gouverneurs von Samoa
16.12.1911
Charakter als Geh. RegR
19.6.1912
Gouverneur von Samoa (m.W. 1.4.1912)
29.8.1914
Besetzung Samoas durch neuseeländische Truppen
17.9.1914
Internierung auf Motuihi bei Auckland/Neuseeland
1919
Rückkehr nach Deutschland Kommissar bei der Hauptstelle zur Verteidigung Deutscher vor feindlichen Gerichten
Ende 1919
Eintritt in den diplomatischen Dienst
1920
Attaché an der dt. Gesandtschaft in Brüssel
Ende 1924
Versetzung in den Ruhestand, danach Rechtsanwalt in Berlin
ca. 1926–1933
außenpolitischer Mitarbeiter der Kreuzzeitung
553
554
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Dr. Theodor Seitz Eckdaten Geboren:
12.9.1863 Seckenheim bei Mannheim
Verstorben:
28.3.1949 Seckenheim bei Mannheim
Konfession:
ev.
Vater:
Jakob Seitz (1828–1902), Tabakkaufmann und Zigarrenfabrikant
Mutter:
Maria Susanna, geb. Mieg (1831–1902)
Ehefrau:
Hildegard (+1933), geb. Jähns, Tochter eines K.P. Offiziers und Militärhistorikers (∞1907)
Kinder:
keine
Lebenslauf Frühjahr 1883
Abitur am Gymnasium Heidelberg
1883–1886
Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg, Berlin, Leipzig, Straßburg
ca. 1884/85
Einjährig-Freiwilliger im 2. Badischen Feldartillerie-Rgt. Nr. 30
1886
1. juristische Staatsprüfung
24.2.1886
Dr. jur. Universität Heidelberg
1886–1889
Referendariat
8.3.1887
Leutnant d.R.
1889
2. juristische Staatsprüfung
1891
Ernennung zum Polizei-Amtmann in Mannheim
18.10.1894
Oberleutnant d.B.
7.12.1894
Dienstantritt in KA
Kurzbiographien April 1895
komm. Kanzler beim Gouv. von Kamerun
April-5.5.1895
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
Juni-4.7.1895
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
Sommer 1895
zugl. komm. Bezirksamtmann in Kamerun (Duala)
27.10.1895-9/1896
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
Anfang 1896
etatmäßiger Kanzler beim Gouvernement von Kamerun
November 1896
Charakter als Ksrl. RegR
Ende 1896
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
14.8.-10.9.1897
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
4.1.-3.10.1898
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
1.-19.12.1898
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
20.2.1899
Abreise nach Deutschland
Juli 1899
Personalreferent in KA
6.12.1899
außeretatmäßiger Hilfsarbeiter
Herbst 1900
Charakter als LegR
Anfang 1902
Leiter Finanzreferat/KA
22.3.1902
Hauptmann d.B.
Frühjahr 1902
WLegR und VR
November 1905
Charakter als Geh. LegR
9.5.1907
Gouverneur von Kamerun (DA 30.7.1907)
Ende Juni 1910
Abreise nach Deutschland
28.8.1910
Gouverneur von DSWA (DA 17.11.1910)
9.7.1915
Kapitulation gegenüber der Südafrikanischen Armee, anschl. Internierung
1917
WGehR
Frühjahr 1919
Abreise nach Deutschland
1920
Versetzung in den Ruhestand
Mai 1920-Dez. 1930
Präsident der Dt. Kolonialgesellschaft, anschl. Ehrenpräsident
555
556
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Julius Freiherr von Soden Eckdaten Geboren:
5.2.1846 Ludwigsburg
Verstorben:
2.2.1921 Tübingen
Konfession:
ev.
Vater:
Julius Freiherr v. Soden (1793–1854), Württ. Oberstleutnant
Mutter:
Marie Franziska Albertine, geb. v. Neurath (1805–1849)
Ehefrau:
Helene, geb. v. Sick (*1856), Tochter eines Württ. Generalmajors (∞1900)
Kinder:
keine
Lebenslauf 1854–1858
Knabeninstitut Ev. Brüdergemeinde Korntal-Münchingen
1858–1864
Gymnasium Stuttgart (Abitur)
1864–1869
Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen und Göttingen
Juni 1869
1. juristische Staatsprüfung
15.6.1869
Referendar in Heilbronn
1870/71
Kriegsfreiwilliger im Kgl. Württ. Reiter-Rgt. Nr. 4
Herbst 1871
2. juristische Staatsprüfung
22.11.1871
Einberufung Auswärtiger Dienst (konsularische Laufbahn)
20.12.1871
dem Generalkonsulat in Bukarest attachiert
15.5.1872
Konsul in Algier (DA 11.7.1872)
28.12.1875
Konsul in Kanton (DA 4.4.1876)
Kurzbiographien Anfang 1877
zugl. komm. Leitung des Wahlkonsulats Hongkong
24.1.-6.4.1877
zugl. komm. Leitung des russischen Konsulats in Hongkong
18.4.1877
Konsul in Hongkong
1.5.1879
Konsul in Havanna (DA 16.10.1879)
20.1.1882-3.4.1883
zugl. komm. Leitung der Minister-Residentur in Lima
30.1.1884-23.4.1885
Konsul in St. Petersburg (DA 2.6.1884)
23.4.1885
Gouverneur von Kamerun (DA 25.6.1885)
26.12.1889
Abreise nach Deutschland
1.4.1891
Gouverneur von DOA (DA 9.4.1891)
24.1.1893
Abreise nach Deutschland
19.9.1893
Versetzung in den Ruhestand
17.5.1899
mit der Führung der Geschäfte des Kgl. Württ. Kabinetts betraut
24.5.1899
Geheimer Rat und Mitglied des Oberhofrats
5.7.1899
Kgl. Württ. Kammerherr
17.1.1900
Kabinettschef
9.11.1900
Kgl. Württ. Staatsminister der auswärtigen Angelegenheiten, Minister der Familienangelegenheiten des Königlichen Hauses und Kanzler der Königlichen Orden
14.11.1900
zugl. Bevollmächtigter zum Bundesrat
27.6.1906
Versetzung in den Ruhestand
seit 1907
erneut Kabinettschef in Württemberg
Ende 1916
Versetzung in den dauerhaften Ruhestand
1920–1921
Studium der Philosophie, Philologie und Ästhetik in Tübingen
557
558
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Dr. Wilhelm Solf Eckdaten Geboren:
5.10.1862 Berlin
Verstorben:
6.2.1936 Berlin
Konfession:
ev.
Vater:
Hermann Solf (+1913), Zechenbesitzer und Rentier
Mutter:
Augusta (+1900), geb. Peters
Ehefrau:
Johanna, geb. Dotti (1887–1954), Tochter eines Fabrikanten (∞1908)
Kinder:
Marie Elisabeth Lagi (1909–55), HansHeinrich Georges (1910–87), Wilhelm Hermann (1915–83), Otto Isao (1921–89)
Lebenslauf 1874-Juli 1881
Gymnasien u.a. in Anklam und Mannheim (Abitur)
1881–1886
Studium indische Philologie, Philosophie in Kiel, Göttingen, Halle
28.1.1886
Dr. phil. Universität Halle
4.2.1886-30.4.1887
Hilfsarbeiter Universitätsbibliothek Kiel
1.10.-31.12.1886
Einjährig-Freiwilliger im I. Halb-Btl. des See-Btl. in Kiel (vorzeitig entlassen)
10.12.1888
Einberufung in Auswärtigen Dienst beim Generalkonsulat in Kalkutta als Sekretär und Übersetzer (DA 31.1.1889)
Frühjahr 1891
Entlassung
1891–1892
Studium der Rechtswissenschaft in Berlin
12.12.1892
1. juristische Staatsprüfung
1892–1896
Vorbereitungsdienst Kammergericht Berlin u. Amtsgericht Weimar
Kurzbiographien 29.9.1896
2. juristische Staatsprüfung
13.11.1896
Einberufung in KA
5.4.1898
komm. Bezirksrichter in Daressalam
1.12.1898
Bezirksrichter in Daressalam
14.1.1899
Abreise nach Deutschland
1.4.1899
Präsident der Munizipalität in Apia/Samoa (DA 3.5.1899)
25.1.1900
Gouverneur von Samoa
22.9.1910
Abreise nach Deutschland
4.11.1911
mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Staatssekretärs im RKA beauftragt
20.12.1911
Staatssekretär im RKA, zugl. Charakter als WGehR. (m.W. 1.4.1912)
7.10.1918
zugl. Staatssekretär des Äußern und stellv. Reichskanzler im Geschäftsbereich des Ausw. Amtes
13.12.1918
Niederlegung der Amtsgeschäfte (m.W. 30.12.1918)
8.4.1920
erneute Einberufung in den Auswärtigen Dienst
Juni 1920
Ernennung zum deutschen Geschäftsträger in Tokio (DA 10.8.1920)
2.12.1920
komm. Botschafter in Tokio
26.2.1921
Botschafter in Tokio
1.2.1928
Versetzung in den Ruhestand
15.12.1928
Abreise nach Deutschland
30.11.1929
Ehrendoktorwürde Universität Heidelberg
1930
Ehrendoktorwürde Universität Göttingen
559
560
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Hermann [von] Wißmann Eckdaten Geboren:
4.9.1853 Frankfurt/Oder
Verstorben:
15.6.1905 Fischen/Obersteiermark
Konfession:
ev.
Vater:
Hermann Wißmann (1820–69), K.P. RegR
Mutter:
Elisabeth, geb. Schach v. Wittenau (*1829)
Ehefrau:
Hedwig, geb. Langen (*1867), Tochter eines Industriellen (∞1894)
Kinder:
Hermann (*1895), Hildegard (*1900), Hedwig (*1901), Herta (*1903)
Adelsprädikat:
24.6.1890 (erblich)
Lebenslauf ca. 1864–71
Gymnasien in Erfurt, Kiel, Neuruppin
1871–72
Hauptkadettenanstalt in Berlin
Frühjahr 1872
Eintritt als Portepeefähnrich in das Großherzoglich Mecklenburgische Füsilier-Rgt. Nr. 90
Frühjahr 1873
Fähnrich-Examen
1873–74
kdrt. an Kriegsschule
15.1.1874
Sekondeleutnant
19.11.1880-4/1883
Afrika-Durchquerung
15.11.1883
Premierleutnant, zugl. Abschied bewilligt
16.11.1883-Sommer 1885
Kassai-Expedition (im Dienst des belgischen Königs)
Anf. 1886-Sommer 1888
Kongo-Expedition
1.1.1889
Wiedereinstellung in die K.P. Armee, kdrt. zur Verfügung des Auswärtigen Amtes
Kurzbiographien 8.2.1889
Ksrl. Kommissar für DOA
22.5.1889
Hauptmann
19.11.1889
Charakter als Major
8.4.1891
Übergabe der Geschäfte an Gouverneur Soden
20.4.1891-10.1.1895
Kommissar zur Verfügung des Ksrl. Gouverneurs von DOA
26.4.1895
Gouverneur von DOA (DA 24.7.1895)
1895
Ehrendoktorwürde Universität Halle
11.5.1896
Abreise nach Deutschland
3.12.1896
Versetzung in den einstweiligen Ruhestand, zugl. zur Verfügung des Kolonialdirektors
561
562
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Julius Graf von Zech auf Neuhofen Eckdaten Geboren:
23.4.1868 Straubing/Niederbayern
Verstorben:
29.10.1914 Gheluvelt/Flandern
Konfession:
kath.
Vater:
Friedrich Graf von Zech auf Neuhofen (1826–1907), K.B. Oberlandesgerichtsrat
Mutter:
Elisabeth, geb. Berger (1838–1912), Tochter eines Bezirksarztes
Ehefrau:
nicht verheiratet
Kinder:
keine
Lebenslauf 1.10.1880-Sommer 1886
K.B. Kadettenkorps München
21.7.1886
Eintritt in das K.B. Infanterie-Rgt. Nr. 2 als Portepeefähnrich
18.1.1887-1.3.1888
Kriegsschule (München)
9.3.1888
überzähliger Sekondeleutnant
1.10.1888
etatmäßiger Sekondeleutnant
1.10.1891-30.4.1894
Adjutant/Infanterie-Rgt. Nr. 2
19.11.-15.12.1894
Lehrkursus für Waffenrevisionsoffiziere
23.2.1895
Premierleutnant ohne Patent, zugl. kdrt. in KA
20.6.1896
Premierleutnant mit Patent
April-Mai 1895
Stellvertretung des Stationsleiters von Misahöhe
Mai 1895
Stationsleiter von Kete-Kratji
Kurzbiographien April 1900
komm. Bezirksamtmann des Anecho-Distrikts
16.7.1900
Bezirksamtmann in Klein Popo (Anecho)
20.10.1900
Bezirksamtmann beim Gouv. von Togo (DA 30.4.1901)
1.11.1900
Reserveoffizier im K.B. Infanterie-Rgt. Nr. 2
25.11.1900
Königlich-bayerischer Kämmerer
24.12.1902
Kanzler beim Gouv. von Togo (DA 26.9.1903)
9.3.1903
Charakter eines Ksrl. RegR
16.3.-25.4.1903
Wehrübung
Dez. 1903-Mai 1905
Stellvertretung des Gouverneurs von Togo
24.1.1904
Hauptmann d.R.
11.5.1905
Gouverneur von Togo (DA 27.7.1905)
26.7.1905
Befugnisse eines Konsuls für die Gold- und Nigerküste sowie Dahomey
13.5.1910
Abreise nach Deutschland
15.12.1910
Versetzung in den dauernden Ruhestand
26.10.1911
Major d.R.
3.8.1914
freiwillige Reaktivierung als Kommandeur des Ersatz-Btl. im K.B. Infanterie-Rgt. Nr. 2
10.9.1914
Kommandeur des I. Btl. im K.B. Reserve-Infanterie-Rgt. Nr. 16
563
564
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Eugen [von] Zimmerer
Eckdaten Geboren:
24.11.1843 Germersheim/Rheinpfalz
Verstorben:
11.3.1918 Frankfurt a.M.
Konfession:
kath.
Vater:
Joseph Zimmerer (+1893), K.B. Regierungsdirektor
Mutter:
Therese, geb. Wind (+1884)
Ehefrau:
Ida, geb. Kiesling, Tochter eines Fabrikdirektors (∞1896)
Kinder:
Eugen (*1902)
Adelsprädikat:
2.12.1893 (ad personam)
Lebenslauf Frühjahr 1861
Abitur Gymnasium Bayreuth
1861–65
Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und Würzburg
18.10.1865
Referendarprüfung
Oktober 1865
Eintritt in den K.B. Justizdienst (Stadtgericht Bayreuth)
Mai 1868
Assessorexamen
18.11.1872
Hilfsarbeiter bei der Staatsanwaltschaft Bayreuth
12.1.1874
Substitut bei der Staatsanwaltschaft am Bezirksgericht Straubing
19.10.1876
Assessor am Landgericht Starnberg (m.W. 1.11.1876)
18.11.1878
2. Staatsanwalt am Bezirksgericht Bayreuth (m.W. 16.12.1878)
16.5.1879
Versetzung an das Landgericht I in München
26.3.1886
Landgerichtsrat (m.W. 1.5.1886)
Kurzbiographien 2.6.1887
Einberufung in den Auswärtigen Dienst (konsularische Laufbahn), Abt. I A (Politik)/Kolonialreferat (DA 7.6.1887)
30.7.1887
Kanzler und stellv. Gouverneur von Kamerun (DA 4.10.1887)
3.8.1888
Ksrl. Kommissar von Togo (DA 19.10.1888)
26.12.1889-21.4.1890
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
2.12.1890-14.4.1891
Stellvertretung des Gouverneurs von Kamerun
15.4.1891
Gouverneur von Kamerun
5.1.1895
Abreise nach Deutschland
20.7.1895
Versetzung in den vorläufigen Ruhestand
25.6.1898
komm. Leitung d. Konsulats Desterro/Florianopolis (DA 20.9.1898)
16.7.1898
Konsul mit Charakter als Generalkonsul
25.1.1902
Generalkonsul in Valparaiso (Chile) (DA 28.4.1902) zugl. komm. Leitung des Generalkonsulats Santiago de Chile (bis 22.6.1903)
9.3.1903
Ministerresident und Konsul in Port-au-Prince/Haiti, zugl. für die Dominikanische Republik (DA 13.11.1903)
25.6.1907
Titel und Rang eines außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers
24.12.1910
Versetzung in den dauernden Ruhestand
565
Abkürzungen
AA A.K.O. ANT ANY ANZ APuZ BA BA-B BA-DKG/UBF BA-K BA-MA BayHStA BHAD Bl. Btl. DA d.B. Dir Dirig DKB DKG DKL DKZ DNG DOA DOAG d.R. DSWA ev. FN
Auswärtiges Amt Allerhöchste Kabinettsorder Archives Nationales du Togo, Lomé Archives Nationales de la Republique uni du Cameroun Archives New Zealand, Wellington Aus Politik und Zeitgeschichte Bezirksamt Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde Bildarchiv der Deutschen Kolonialgesellschaft/Universitätsbibliothek Frankfurt a.M. Bundesarchiv, Koblenz Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i.Br. Bayerisches Hauptstaatsarchiv (München) Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes Blatt Bataillon Dienstantritt (Übernahme der Amtsgeschäfte) des Beurlaubtenstandes (Offiziere) Direktor Dirigent Deutsches Kolonialblatt Deutsche Kolonialgesetzgebung Deutsches Koloniallexikon Deutsche Kolonialzeitung Deutsch-Neuguinea Deutsch-Ostafrika Deutsch-ostafrikanische Gesellschaft der Reserve (Offiziere) Deutsch-Südwestafrika evangelisch Fußnote
568
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Frhr. geb. geh. GG GLA-KA Gouv. GStA PK GWU HStA HZA JB k.A. KA kath. K.B. Kdo. kdrt. komm. K.P. Ksrl. KTB LegR LGG LHA-SN MGM MGZ m.W. NAA NAN Nl. Obkdo. o.D. ORegR PA-AA Ref. RegR RGBl. Rgt. Rj. RKA RT Schutztr. S.M.S. St Sta-MA
Freiherr geborene Geheim Geschichte und Gesellschaft Generallandesarchiv, Karlsruhe Gouvernement Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Hauptstaatsarchiv Hohenlohe-Zentralarchiv, Neuenstein Jahresbericht keine Angabe Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes katholisch Königlich Bayerisch Kommando kommandiert kommissarisch Königlich Preußisch Kaiserlich Kriegstagebuch Legationsrat Landesgesetzgebung Landeshauptarchiv, Schwerin Militärgeschichtliche Mitteilungen Militärgeschichtliche Zeitschrift mit Wirkung National Archives of Australia, Canberra National Archives, Windhuk Nachlass Oberkommando ohne Datum Oberregierungsrat Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin Referat/Referent Regierungsrat Reichsgesetzblatt Regiment Rechnungsjahr (1.4.-31.3.) Reichskolonialamt Reichstag Schutztruppe(n) Seiner Majestät Schiff (Zusatz bei Kriegsschiffen) Staatssekretär Stadtarchiv Mannheim (MARCHIVUM)
Abkürzungen
Tgb. TNA UA-HGW UA-J UA-L VLegR VO VR WGehR WLegR z.b.V. ZfG
Tagebuch Tanzania National Archives, Daressalam Universitätsarchiv Greifswald Universitätsarchiv Jena Universitätsarchiv Leipzig Vortragender Legationsrat Verordnung Vortragender Rat Wirklicher Geheimer Rat Wirklicher Legationsrat zur besonderen Verwendung Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
569
Tabellenverzeichnis
Die deutschen Kolonialgouverneure und ihre Amtszeiten .......................... 29 Herkunftsorte der Gouverneure ................................................... 39 Väterberufe der Gouverneure ..................................................... 45 Mitgliedschaften in studentischen Verbindungen ................................... 71 Die aktiven Offiziere und ihre Stammtruppenteile .................................. 81 ›Einjährig-Freiwillige‹ und Reserveoffiziere unter den Gouverneuren ............... 92 Formale Kriterien zur ›Staatstreue‹ in der Untersuchungsgruppe .................. 129 Einnahmen aus der Hüttensteuer in DOA, 1898–99 ................................ 287 Gerichtsbarkeit gegenüber der indigenen Bevölkerung in Deutsch-Neuguinea (ohne ›Inselgebiet‹) nach Strafarten ................................................... 387 Tabelle 10: Gehälter für die samoanische Hilfsverwaltung.................................... 400 Tabelle 11: Die Entwicklung der samoanischen Kopfsteuer (Beträge in Mark) ................. 408 Tabelle 12: Zensusdaten für die indigenen Ethnien in DSWA .................................. 445 Tabelle 13: Arbeitskräftemobilisierung im Berichtsjahr 1909/10 ................................ 461 Tabelle 14: Anzahl der Europäer und der registrierten ›Mischlinge‹ in den ›Schutzgebieten‹, 1913 ............................................................................. 467 Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9:
Abbildungsnachweis
Rudolf von Benningsen Edmund Brückner Karl Ebermaier Otto Gleim Gustav Adolf Graf von Götzen Eduard Haber Albert Hahl Woldemar Horn August Köhler Theodor Leutwein Eduard [von] Liebert Friedrich von Lindequist Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg Jesko von Puttkamer Albrecht Freiherr von Rechenberg Friedrich Freiherr von Schele Heinrich Schnee Bruno von Schuckmann Erich Schultz-[Ewerth] Theodor Seitz Julius Freiherr von Soden Wilhelm Solf Hermann [von] Wißmann Julius Graf von Zech auf Neuhofen Eugen [von] Zimmerer
BA-DKG/UBF 018–0070-11 BA-DKG/UBF 018–0070-20 BA-DKG/UBF 018–0075-02 BA-DKG/UBF 018–0076-02 BA-DKG/UBF 018–0076-04 BA-DKG/UBF 033–7020-41 BA-DKG/UBF 018–0077-01 DKZ 20 (1903), Nr. 2 vom 8.1.1903 BA-DKG/UBF 018–0076-24 BA-DKG/UBF 018–0080-23 BA-DKG/UBF 018–0080-03 BA-DKG/UBF 018–0080-06 BA-DKG/UBF 023–0098-23 BA-DKG/UBF 018–0085-11 BA-DKG/UBF 018–0085-17 BA-DKG/UBF 018–0088-03 BA-DKG/UBF 018–0088-09 BA-DKG/UBF 002–0055-10 BA-DKG/UBF 018–0088-19 BA-DKG/UBF 018–0087-05 BA-DKG/UBF 018–0087-04 BA-DKG/UBF 023–0098-55 BA-DKG/UBF 018–0092-10 BA-DKG/UBF 018–0093-10 BA-DKG/UBF 018–0093-18
Quellen- und Literaturverzeichnis
Ungedruckte Quellen 1.
Bundesarchiv, Berlin (BA-B)
N2105 N2139 N2146 N2160 N2225 N2231 N2272 N2340 N2345 N2350 NS 5-VI R43 R43-II R1001 R1002 R3017 R8023 R8034-II R8034-III R8133 R9361-I R9361-V
2. N1030 N1037
Nachlass Friedrich Hammacher Nachlass Paul Kayser Nachlass Bernhard v. König Nachlass Heinrich v. Kusserow Nachlass Joachim Graf v. Pfeil Nachlass Jesko v. Puttkamer Nachlass Bruno v. Schuckmann Nachlass Julius Graf v. Zech auf Neuhofen Nachlass Alfred Zimmermann Nachlass Rudolf v. Bennigsen (sen.) Deutsche Arbeitsfront – Zeitungsausschnitte-Sammlung Alte Reichskanzlei Neue Reichskanzlei Reichskolonialamt Behörden des Schutzgebietes Deutsch-Südwestafrika Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof Deutsche Kolonialgesellschaft Pressearchiv des Reichslandbundes Pressearchiv des Reichslandbundes Neu Guinea Compagnie Parteistatistische Erhebung, 1939 Reichskulturkammer
Bundesarchiv, Koblenz (BA-K) Nachlass Victor Franke Nachlass Oskar Hintrager
576
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
N1053 N1067 N1121 N1130 N1145 N1175 N1669 N1740 N1783 N1816 PERS 101
3.
Bundesarchiv – Militärarchiv, Freiburg i.Br. (BA-MA)
N5 N14 N18 N38 N103 N134 N154 N227 N559 N 786 RM 2 RM 121-I
4.
Nachlass Wilhelm Solf Nachlass Walter Frank Nachlass Elisabeth v. Gustedt Nachlass Bernhard Dernburg Nachlass Paul bzw. Theodor Leutwein Nachlass Theodor Seitz Nachlass Friedrich v. Lindequist Nachlass Franz Olshausen Nachlass Wilhelm Eich Nachlass Rudolf Böhmer Personalakten Beschäftigte des öffentlichen Dienstes
Nachlass Joachim v. Stülpnagel Nachlass Ludwig Boell Nachlass Wilhelm Heye Nachlass Arnold Lequis Nachlass Paul v. Lettow-Vorbeck Nachlass Walther Scherbening Nachlass Ludwig v. der Leyen Nachlass Curt v. Morgen Nachlass Berthold v. Deimling Nachlass Georg Maercker Kaiserliches Marinekabinett Landstreitkräfte der Kaiserlichen Marine
Archives Nationales de la Republique uni du Cameroun, Yaoundé (ANY)
FA 1 Kaiserliches Gouvernement FA 4 Bezirksämter und Stationen FA 5 Kaiserliche Schutztruppe für Kamerun
5.
Archives Nationales du Togo, Lomé (ANT)
FA 1 Kaiserliches Gouvernement FA 2 Kaiserliches Obergericht FA 3 Bezirksämter und Stationen
6.
National Archives of Namibia, Windhoek (NAN)
ZBU Zentralbüro des Kaiserlichen Gouvernements
Quellen- und Literaturverzeichnis
7.
Tanzania National Archives, Daressalam (TNA)
G1 Kaiserliches Gouvernement – Allgemeine Verwaltung G3 Kaiserliches Gouvernement – Finanzsachen G4 Kaiserliches Gouvernement – Kommunalverwaltung
8.
National Archives of Australia, Canberra (AAC), Commonwealth Record Service (CRS)
G30 Kaiserliches Gouvernement von Deutsch-Neuguinea G254 Administrative Records of German New Guinea G255 Correspondence Files
9.
Archives of New Zealand, Wellington (ANZ)
AGCA 6051 Archives of the German Colonial Administration (Samoa)
10.
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA-AA)
P1 Personalakten Altes Amt NL 8 Nachlass Rudolf Asmis
11.
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA PK)
Rep. 7 Rep. 77 Rep. 81 Rep. 89 Rep. 125 Nachlass Nachlass
12.
K.P. Kriegsministerium – Pensionsabteilung K.P. Ministerium des Innern K.P. Gesandtschaft in Hamburg Geheimes Zivilkabinett des Kaisers Prüfungskommission für höhere Beamte Heinrich Schnee Alfred Graf v. Waldersee
Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München (BayHStA)
Abteilung II MA MInn
K.B. Staatsministerium des Äußern K.B. Staatsministerium des Innern
Abteilung IV Kriegsarchiv MKr HS OP Nachlass
K.B. Kriegsministerium Handschriftensammlung Offiziers-Personalakten Rudolf v. Hirsch
577
578
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
13.
Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStA-S)
E130c E297 M1/4 M1/8 P10 Q2/48 Q3/11
Württ. Staatsministerium – Personalakten Württ. Kriegsministerium – Personalakten Württ. Kriegsministerium – Abteilung für allgemeine Angelegenheiten Württ. Kriegsministerium – Medizinalabteilung Archiv der Freiherren Varnbüler von und zu Hemmingen Gemeinschaftsnachlass Rudolf v. Ganßer sen. und Rudolf Ganßer jun. Familienarchiv der Freiherrn v. Neurath (zu Kleinglattbach)
14.
Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA-KA)
238 Personalakten Offiziere 456E Personalakten Offiziere des XIV. (badischen) Armeekorps Nachlass Cai Friedrich Dame
15.
Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden (HStA-W)
469/17 Amtsgericht Limburg – letztwillige Verfügungen
16.
Landeshauptarchiv Schwerin (LHA-SN)
5.2-4/1-4 Nachlass Großherzogin Marie v. Mecklenburg 5.2-4/1-6 Nachlass Johann Albrecht zu Mecklenburg
17.
Hohenlohe-Zentralarchiv, Neuenstein (HZA)
La 142 Nachlass Ernst II. zu Hohenlohe-Langenburg
18.
Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München (IfZ-Archiv)
Bestand Zeugenschrifttum
19.
Stadtarchiv Mannheim – Marchivum (Sta-MA)
Nachlass Theodor Seitz Zeitgeschichtliche Sammlung
20.
Universitätsarchiv Jena (UA-J)
Bestand K Rechts- u. Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät/Promotionsakten
21.
Universitätsarchiv Leipzig (UA-L)
Juristenfakultät – Doktorbuch, 1810–1902
Quellen- und Literaturverzeichnis
22.
Universitätsarchiv Greifswald (UA-HGW)
Jur Fak Juristische Fakultät, Ehrenpromotionen R 1314 Stammbuch des Mevius’schen Stipendiums
23.
Museum Fünf Kontinente, München
Nachlass Julius Graf v. Zech auf Neuhofen
24.
Forschungsbibliothek Gotha
Nachlass Hermann v. Wißmann
25.
Leibnitz-Institut für Länderkunde, Leipzig
K 190 Nachlass Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg
26.
Hamburgisches Weltwirtschaftsarchiv
Sammlung von Zeitungsausschnitten
27.
Universitätsbibliothek Frankfurt a.M.
Bildarchiv der Deutschen Kolonialgesellschaft
Gedruckte Quellen Zeitgenössische Periodika Adressverzeichnis Heidelberg Allgemeine Zeitung für Chemnitz und das Erzgebirge Amtlicher Anzeiger für Deutsch-Ostafrika Amtliches Verzeichniss des Personals und der Studirenden der Königlichen Universität zu Greifswald Amtliches Verzeichniß des Personals und der Studirenden der Königlichen FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin Amtliches Verzeichniß des Personals und der Studirenden der Königlichen Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn Amtsblatt für das Schutzgebiet Deutsch-Neuguinea Amtsblatt für das Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika Amtsblatt für das Schutzgebiet Kamerun Amtsblatt für das Schutzgebiet Togo Archiv für Öffentliches Recht Berliner Börsenkurier
579
580
Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
Berliner Lokalanzeiger Berliner Morgen-Zeitung Berliner Neueste Nachrichten Berliner Tageblatt Centralblatt der Bauverwaltung Der Tag Deutsche Kolonialzeitung Deutsche Revue Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik Deutsche Tageszeitung Deutsche Zeitung Deutsches Kolonialblatt. Amtsblatt für die Schutzgebiete des Deutschen Reiches Deutsch-Ostafrikanische Zeitung Die deutschen Kolonien Ethnologisches Notizblatt Frankfurter Zeitung Globus Hamburger Nachrichten Jahrbuch über die deutschen Kolonien Jahresberichte des Friedrichs-Gymnasiums zu Gumbinnen Kölnische Zeitung Kreuzzeitung Magdeburgische Zeitung Marine-Rundschau Mittheilungen von Forschungsreisenden und Gelehrten aus den Deutschen Schutzgebieten Münchner Allgemeine Zeitung Nachrichten über Kaiser-Wilhelmsland und den Bismarck-Archipel Nationalzeitung Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) Personalbestand der Königlich Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg Preußische Jahrbücher Rang- und Quartier-Liste der Königlich Preußischen Armee Reichsgesetzblatt Samoanisches Gouvernements-Blatt Schulnachrichten des Gymnasiums Elberfeld Schulnachrichten des Gymnasiums Petrinum zu Brilon Schulnachrichten des Luisenstädtischen Gymnasiums zu Berlin Schulnachrichten des Städtischen Gymnasiums zu Frankfurt a.M. Schulnachrichten des Städtischen Gymnasiums zu Halle/Saale Schulnachrichten des Vitzthumschen Gymnasiums zu Dresden Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages (zitiert als Verhandlungen RT) Verhandlungen des Reichstags (siehe unter Stenographische Berichte)
Quellen- und Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Beamten, Lehrer und Studirenden der königlich württembergischen Universität Tübingen Verzeichnis der Vorlesungen welche an der Königlich Bayerischen Julius-MaximiliansUniversität zu Würzburg gehalten werden Vollständige Anciennetäts-Liste der Offiziere der Königlich Preußischen Armee Vollständige Anciennetäts-Liste der Offiziere der Königlich Preußischen Armee und des XIII. (Königl. Württemb.) Armeekorps Vollständige Anciennetäts-Liste der Offiziere des Deutschen Reichs-Heeres, der Kaiserlichen Marine und der Kaiserlichen Schutztruppen Vossische Zeitung Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde
Publizierte Quellen und Literatur Christel Adick/Wolfgang Mehnert (Hg.), Deutsche Missions- und Kolonialpädagogik in Dokumenten. Eine kommentierte Quellensammlung aus den Afrikabeständen deutschsprachiger Archive 1884–1914, Frankfurt a.M. – London 2001. Rudolf Asmis, Kalamba Na M’Putu. Koloniale Erfahrungen und Beobachtungen, Berlin 1942. Auszugsweise Zusammenstellung der wichtigsten in Deutsch-Neu-Guinea (BismarckArchipel, Deutsche Salomons-Inseln und Kaiser-Wilhelmsland) geltenden Verordnungen, hg. v. Kaiserl. Gouvernement von Deutsch-Neu-Guinea, Berlin 1903. Max Beneke, Die Ausbildung der Kolonialbeamten. Unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1894. Rudolf v. Bennigsen, Reise nach den deutschen und englischen Salomons-Inseln, in: DKB 12 (1901), S. 113–117 (zitiert als Bennigsen, Salomons-Inseln). ders., Reise nach dem Süden von Deutsch-Neu-Guinea, in: ebd., S. 282f. (zitiert als Bennigsen, Deutsch-Neu-Guinea) ders., Reise nach den Karolinen- und Palau-Inseln, in: ebd., S. 447–450 [zitiert als Bennigsen, Reise (1901)]. ders., Reise nach dem Weberhafen, in: ebd., S. 560f. (zitiert als Bennigsen, Weberhafen) ders., Neu-Guinea, in: ebd., S. 631–633. ders., Reise zum Zwecke der Übernahme des Inselgebiets der Karolinen, Palau und Marianen in deutschen Besitz, in: DKB 11 (1900), S. 100–112 (zitiert als Bennigsen, Reise (1900)). ders., Besuch der Marshall-Inseln, in: ebd., S. 112 (zitiert als Bennigsen, Marshall-Inseln). ders., Expedition im Hinterlande von Friedrich-Wilhelmshafen und Stephansort, in: ebd., S. 324–326 (zitiert als Bennigsen, Expedition (1900)). ders., Strafexpedition nach Neu-Mecklenburg und den Admiralitäts-Inseln, in: ebd., S. 326–332. ders., Bericht über eine Bereisung Neu-Mecklenburgs durch den Kaiserlichen Gouverneur und Prof. Dr. Koch, in: ebd., S. 630–637 (zitiert als Bennigsen, Bereisung). ders., Dienstreise nach der Nordostküste von Neu-Mecklenburg, nach Neu-Hannover und der Inselgruppe St. Matthias, in: ebd., S. 637–641.
581
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Jürgen Kilian: Des Kaisers Gouverneure
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