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German Pages 348 [350] Year 2019
Dogmatik in der Moderne herausgegeben von
Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel
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Matthias Schnurrenberger
Der Umweg der Freiheit Falk Wagners Theorie des christlichen Geistes
Mohr Siebeck
Matthias Schnurrenberger, geboren 1985; 2006–13 Studium der Ev. Theologie in Göttingen, Kiel und Bonn; 2013 kirchliches Examen; 2013–17 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Georg-August-Universität Göttingen; seit September 2017 Vikariat in der Kirchengemeinde Gristow-Neuenkirchen.
Gedruckt mit Unterstützung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.
ISBN 978-3-16-156992-0 / eISBN 978-3-16-156993-7 DOI 10.1628/978-3-16-156993-7 ISSN 1869-3962 / eISSN 2569-3913 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine an wenigen Stellen veränderte Version meiner Dissertation, die ich im November 2017 an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen eingereicht habe. Dass diese Arbeit zu einem guten Ende gekommen ist, verdanke ich der Unterstützung vieler Menschen. An erster Stelle möchte ich Prof. Dr. Dr. h.c. Christine Axt-Piscalar danken. Sie hat die Entstehung der Arbeit von den ersten Ideen bis zur Schlussfassung mit großem Interesse verfolgt. In ihren Kolloquien und in vielen Einzelgesprächen konnte ich meine Überlegungen zur Theologie Falk Wagners profilieren. Dabei waren ihre kritischen Einwände für mich ebenso wichtig wie der ermunternde Zuspruch während schwieriger Phasen. Zudem hat sie es mir ermöglicht, auf einer Tagung in Wien zentrale Gedanken der vorliegenden Studie erstmals vorzutragen. In meiner Zeit als ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter hat sie mir viel Freiheit für die Arbeit an der Dissertation gelassen und gegen Ende mit sanftem Druck dafür gesorgt, dass ich fertig werde. Herzlich danken möchte ich außerdem Prof. Dr. Martin Laube. Er hat nicht nur das Zweitgutachten erstellt, sondern mir auch die Möglichkeit gegeben, in seinen Doktorandenkolloquien einzelne Teile der Arbeit vorzustellen und zu diskutieren. Prof. Dr. Dr. h.c. Christine Axt-Piscalar und Prof. Dr. Martin Laube haben mein Interesse und meine Freude an der Systematischen Theologie auf je eigene Weise geweckt und gefördert. Dafür bin ich beiden sehr dankbar. Der dritte Wagner-Kenner, der die Entstehung dieser Arbeit begleitet hat, ist Prof. Dr. Christian Polke. Auch ihm möchte ich an dieser Stelle danken. Insbesondere seine Anmerkungen zur Schussfassung der Arbeit waren für mich sehr hilfreich. Julia Rolfes, Tobias Grassmann und Dr. Benjamin Apsel haben Teile der Arbeit Korrektur gelesen und wertvolle Hinweise gegeben. Ein besonderer Dank gebührt Markus Weskott, der die gesamte Schlussfassung korrigiert und umfassend kommentiert hat. In der Rückschau wichtig waren für mich zudem die zahlreichen Bürodiskussionen mit Oskar Hoffmann und die Cafégespräche mit Moritz Emmelmann, die mich immer wieder zum Durchhal-
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Vorwort
ten motiviert haben. Ihnen und allen anderen Freundinnen und Freunden, die in den letzten Jahren dabei waren, bin ich zutiefst dankbar. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Dogmatik in der Moderne danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Christian Danz, Prof. Dr. Jörg Dierken, Prof. Dr. Hans-Peter Großhans und Prof. Dr. Friederike Nüssel. Katharina Gutekunst, Bettina Gade und Kendra Mäschke danke ich für die gute Zusammenarbeit mit dem Verlag Mohr Siebeck. Ich danke der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, die sich an den Druckkosten beteiligt hat. Schließlich danke ich meinen Eltern Gisela und Michael Klotz. Sie haben geholfen, wann immer es nötig war, und mich gelegentlich daran erinnert, dass es anderes und wichtigeres als die Theologie gibt. Ich widme diese Arbeit meiner Frau Carina Schnurrenberger. Gristow, im Januar 2019
Matthias Schnurrenberger
Inhalt Vorwort .......................................................................................................... V Abkürzungsverzeichnis ................................................................................ XI
Einleitung .................................................................................................... 1 I. Aufbau und Inhalt der Arbeit ...................................................................... 3 II. Forschungsüberblick ............................................................................... 16
Erster Teil ................................................................................................. 35 I. Die Religionstheologie .............................................................................. 35 1. Von der vorneuzeitlichen Theologentheologie zur modernen Theologie des religiösen Bewusstseins .......................... 35 a) Darstellende Theologie – Wagners Deutung des Altprotestantismus ...................................... 35 b) Die Unterscheidung von Religion und Theologie ........................... 39 2. Das religiöse Bewusstsein als das Subjekt der Religion ....................... 44 a) Unmittelbares Wissen: Zur Struktur des religiösen Bewusstseins .. 44 b) Die religiöse Vorstellung ................................................................ 55 3. Religionstheologie als positionelle Theologie ...................................... 64 II. Der Kontext der Religionstheologie ......................................................... 69 1. Das Verhältnis von Religionstheologie und Neuzeit............................. 69 a) Funktionale Differenzierung und Säkularisierung .......................... 70 b) Bürgerliche Theologie .................................................................... 75 c) Verwertende Theologie ................................................................... 78 2. Religion als neuzeitspezifischer Begriff ............................................... 80 a) Alle Menschen werden Brüder – die Vernunftreligion ................... 81 b) Die ‚Christianisierung‘ der Vernunftreligion .................................. 83
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Inhalt
c) ‚Eine eigne Provinz im Gemüthe‘ – Die Selbständigkeit der Religion .................................................... 87 III. Religion als reflexives Freiheitsbewusstsein: Schleiermacher ............... 89 1. Die Religionstheorie der Dialektik und der Glaubenslehre ................... 90 a) Dialektik ......................................................................................... 90 b) Glaubenslehre ................................................................................. 95 2. Theologie innerhalb der Grenzen des frommen Selbstbewusstseins ..... 98 Fazit ............................................................................................................103
Zweiter Teil .............................................................................................111 I. Der Kontext der Wort-Gottes-Theologie ..................................................111 1. Die Radikalisierung der Freiheit ..........................................................111 2. Dialektik der Aufklärung – Adornos Kritik der Moderne ....................119 II. ‚Hoffnungslos drinnen‘ – Die Wort-Gottes-Theologie ............................124 1. Blinde Positionalität ............................................................................125 2. Der beschränkte Gott ...........................................................................130 a) Barth als Absolutheitstheoretiker ...................................................130 b) Das Andere – Barths Christologie..................................................132 c) Barth und Schleiermacher – und das religiöse Bewusstsein ..........136 3. Trinitarischer Pantheismus ..................................................................139 4. Entdifferenzierung – Die späte Barth-Kritik ........................................142 III. Das Identitätsdenken und der Einspruch religiöser Individualität ........144 1. Adornos Kritik am Identitätsprinzip ....................................................146 2. Tholucks Kritik am Pantheismus .........................................................151 Fazit ............................................................................................................155
Dritter Teil ...............................................................................................163 I. Die Ohnmacht des Allmächtigen ..............................................................163 1. Absolute Selbstbestimmung und Subjektivität ....................................163 a) Die Notwendigkeit göttlicher Selbstexplikation ............................163 b) Aktive und passive Substanz – die Dialektik der Gewalt ...............168
Inhalt
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2. Aporien ................................................................................................175 a) Fichte oder: der blinde Titan ..........................................................175 b) Schleiermacher oder: der homo religiosus als homo incurvatus in se ipsum ....................178 c) Barth oder: der Rückfall in die Barbarei ........................................182 II. Gottes Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins – die Christologie ......................................................................................184 1. Überblick .............................................................................................184 2. Der Christus des Glaubens ...................................................................186 a) Das Kerygma: Jesus ist Gott ..........................................................186 b) Der Weg Jesu .................................................................................190 c) Die theo-logische Wende ...............................................................195 3. Die Begründung der Christologie ........................................................197 a) Menschwerdung, Tod und Auferstehung Gottes (Negativer Begründungsgang) .......................................................198 b) Trinitätslehre und Christologie (Positiver Begründungsgang) .......201 4. Das System der Christologie ................................................................205 a) Christus der Prophet (Erstes Grundproblem der Christologie) .......206 b) Christus der Priester (Zweites Grundproblem der Christologie) ....208 c) Christus der König .........................................................................209 III. Wagners System .....................................................................................210 1. Die Gottesbeweise ...............................................................................211 a) Der kosmologische Beweis (Erster Beweisgang) ...........................212 b) Das zweite ontologische Argument (Zweiter Beweisgang) ...........215 c) Das erste ontologische Argument (Dritter Beweisgang) ................218 2. Jenseits von Dualismus und Pantheismus ............................................221 Fazit ............................................................................................................223
Exkurs zur Rede vom Tod Gottes .....................................................229 I. Gericht und Gnade: Luthers Kreuzestheologie ........................................230 II. Die Rede vom Tod Gottes in der Theologie des 20. Jahrhunderts ..........234 1. Ersatz und Stellvertretung – Dorothee Sölle ........................................234 2. Die Neudefinition der Gotteskindschaft – Jürgen Moltmann ...............240 3. Der gezeichnete Gott – Eberhard Jüngel ..............................................245
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Inhalt
Vierter Teil ..............................................................................................253 I. Pneumatologie .........................................................................................253 1. Begründungs- und Realisierungszusammenhang .................................253 2. Entfaltung der Sozialethik ...................................................................261 a) Ethik ..............................................................................................262 b) Recht ..............................................................................................264 c) „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ .........................................266 3. Die Rechtfertigungslehre .....................................................................270 II. Pathologien der Gegenwart ....................................................................273 1. Überblick .............................................................................................273 2. Individualisierung ................................................................................276 a) Luhmann ........................................................................................276 b) Kondylis ........................................................................................280 3. „Die Hölle auf Erden“ – Wagners Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem ................................................................................282 III. Religion und Gottesgedanke ..................................................................288 1. Wagners späte Religionstheorie ...........................................................290 2. Das Schicksal des Gottesgedankens ....................................................298 a) „Ent-theologisierung“ ....................................................................300 b) Das prädikative Verständnis des Gottesgedankens ........................305 Fazit ............................................................................................................308
Schlussbetrachtung: Christliche als soziale Freiheit ....................313 Literatur .......................................................................................................319 Personenregister ..........................................................................................331 Sachregister .................................................................................................333
Abkürzungsverzeichnis Für Wagners Schriften werden folgende Abkürzungen verwendet (alphabetisch geordnet): CM
Christentum in der Moderne
GoG
Geld oder Gott?
Lage
Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus
MM
Metamorphosen des modernen Protestantismus
RG
Zur Revolutionierung des Gottesgedankens
RuG
Religion und Gottesgedanke
WiR
Was ist Religion?
WiTh
Was ist Theologie?
Für alle weiteren Abkürzungen vgl.: Siegfried M. Schwertner, IATG3. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin/ Boston 32014.
Einleitung Falk Wagners Denken kreist um den Begriff der Freiheit. Das ist an sich nicht weiter aufregend, denn es ließe sich wohl sagen, dass jedes theologische Denken Freiheit thematisiert, ganz einfach darum, weil es in ihm um Gott geht. Wagners Interesse aber gilt der Freiheit des Menschen, genauer: der Freiheit des einzelnen Menschen, noch genauer: seiner Selbstbestimmung. Damit knüpft er an ein Freiheitsverständnis an, das zur allgemeinen Durchsetzung erst in der Neuzeit gelangt.1 Ich gehe nun davon aus, dass sich Wagners Werk insgesamt als eine theologische Theorie individueller Selbstbestimmung interpretieren lässt. Theologisch ist seine Theorie, weil sie die Autonomie des Individuums in ein positives Verhältnis zum Gottesgedanken bringen will. Wagners Gewährsmann für ein solches Unterfangen ist in erster Linie Hegel. Auch Hegel bejaht den neuzeitlichen Autonomiegedanken, bestimmt ihn jedoch zugleich neu, indem er im freien Menschen den Vermittler eines freien, göttlichen Geistes erblickt.2 Wagners Theologie bietet allerdings keine bloße Hegelexegese, sondern er entfaltet sie im Modus einer Darstellung der neuzeitlichen Theologiegeschichte. Dabei lässt er sich von der These leiten, „daß die Entwicklung der [neuzeitlichen] Theologie mit der Realisierung des freien und selbstbestimmenden Selbstbewußtseins konvergiert.“3 Wohlgemerkt bezieht sich Wagner nahezu ausschließlich auf die protestantische Theologiegeschichte. Die Lektüre ihrer Klassiker – insbesondere Friedrich Schleiermachers und Karl Barths – liefert Wagner so die Bausteine für die theologische Theorie individueller Selbstbestimmung. Auch wenn Wagner vor allem für seine scharfe Kritik an Schleiermacher und Barth berühmt und berüchtigt ist, lässt sich dennoch zeigen, dass er in ihren Konzeptionen notwendige Elemente für ein theologisches Verständnis individueller Autonomie findet. Die Einleitung verfolgt zwei Ziele. Einmal will sie einen ersten Überblick über den Aufbau und Inhalt der Arbeit vermitteln (I.). Dabei geht es vor allem darum, den Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen herauszustellen. Ein zweiter Abschnitt informiert dann über den gegenwärtigen For1
Vgl. HONNETH, Recht, 35ff. Vgl. zu dieser Hegel-Lesart TAYLOR, Hegel. 3 WAGNER, Christologie [WiTh], 313. Ergänzungen oder Auslassungen in eckigen Klammern stammen stets von mir. 2
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Einleitung
schungsstand (II.). Vorab empfiehlt es sich jedoch, die Idee von Freiheit knapp zu skizzieren, die Wagners Theologie insgesamt prägt. Ganz allgemein definiert Wagner Freiheit als vermittelte Selbstbestimmung. Für eine erste Annäherung an diese Formel ist es hilfreich, sich Hegels Freiheitsverständnis vor Augen zu führen.4 Hegels Begriff von Freiheit ergibt sich aus der Zusammenführung zweier scheinbar gegenläufiger Grundannahmen. Die erste lautet, dass nur eine solche Entität als frei bezeichnet werden kann, die nicht durch anderes bestimmt wird, sondern sich ausschließlich selbst bestimmt. Zweitens hält Hegel aber auch fest, dass alles, was ist, seine Bestimmtheit (seine Identität) nur durch die Beziehung zu einem anderen erhält. Das Dilemma besteht also darin, dass Bestimmtheit die Beziehung zu einem anderen fordert, während Freiheit als Selbstbestimmung eben diese Beziehung ausschließt. Hegels Lösungsvorschlag lautet, dass die Beziehung zum anderen, an dem die eigene Identität hängt, nicht als die Beziehung zu einem Fremden und Äußerlichen aufgefasst werden kann, sondern als eine Form von Selbstbeziehung zu interpretieren ist. Frei ist, so lautet Hegels bekannte Formel, wer im anderen bei sich selbst sein kann. Hegel verknüpft mithin die Annahme, dass ein Subjekt sich immer schon in Kontexten vorfindet, die es prägen und bestimmen und es dadurch zu diesem besonderen Subjekt machen, so mit dem Anspruch, dass Freiheit nur als Selbstbestimmung gefasst werden kann, dass es dem Subjekt möglich sein muss, ein positives Verhältnis zu diesen Kontexten aufzubauen, und zwar in dem Sinne, dass es sich mit ihnen identifiziert und dadurch sein Bestimmtwerden nicht länger als Fremdbestimmung, sondern als eine Form der Selbstbestimmung begreifen kann.5 Freiheit hat demnach viel mit der ‚richtigen‘ Sicht auf das Gegenüber zu tun (insofern es darum geht, dass es den Schleier der Fremdheit verliert); sie ist eine besondere Eigenschaft bewusster Wesen und lässt sich letztlich als ein Vorgang der Anerkennung begreifen. Es lässt sich schon jetzt sagen, dass für Wagner unter dieser Voraussetzung ein schlechthin Fremdes oder ganz Anderes nicht denkbar ist, weil es die Negation von Freiheit als Selbstbestimmung bedeuten würde. Wie Hegel kann Wagner Freiheit auch ganz explizit als ‚Bei sich selbst sein im anderen‘ bezeichnen, oder, so in den meisten Fällen, als ‚Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins‘. Letztere Formel macht deutlich, dass Freiheit nach Wagner nicht als ein Zustand, sondern als ein Vollzug zu beschreiben ist. Dieser Vollzug lässt sich im Anschluss an H. 4 Vgl. zum Folgenden NEUHOUSER, Foundations, 18–20. Sehr hilfreich sind auch die Ausführungen zum Begriff konkreter Freiheit bei IKÄHEIMO, Anerkennung, 65ff. 5 Ikäheimo kann den Aufbau einer solchen konkreten Freiheit auch im Sinne der Logik einer doppelten Negation beschreiben: „Die erste ‚Negation‘ meint hier die Beschränkung oder Bestimmung durch eine Andersheit; die zweite Negation – die die ‚absolute Negation‘ vervollständigt und konkrete Freiheit mit sich bringt – bedeutet die Überwindung der Äußerlichkeit, Fremdheit oder Feindlichkeit dessen, durch das man beschränkt wird“ (IKÄHEIMO, Anerkennung, 67).
I. Aufbau und Inhalt der Arbeit
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Ikäheimo und F. Neuhouser als die Überwindung der Fremdheit des Anderen bezeichnen. Hier liegt freilich alles daran, wie genau diese Überwindung zu verstehen ist. Ich werde dafür argumentieren, dass nach Wagner das Subjekt dieser Überwindung nur das Andere selbst sein kann. Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins darf daher keineswegs als Selbstdurchsetzung verstanden werden. Ist ein Subjekt immer in Kontexte eingebunden, so bedeutet Überwindung der Fremdheit nicht, dass das Subjekt die Andersheit seiner Umgebung wegarbeitet, sondern dass die Umgebung selbst den Charakter der Fremdheit ablegt, indem sie sich für die Belange und das Wohl des Subjekts einsetzt und in diesem Sinn das Subjekt an seiner Stelle expliziert oder verwirklicht. Muss dieser letzte Satz seine weitere Begründung im Verlauf der Arbeit erfahren, kann für eine theologische Theorie individueller Selbstbestimmung zumindest schon festgehalten werden, dass Wagner, indem er von vermittelter Selbstbestimmung redet, ein atomistisches Verständnis des Menschen ablehnt: von der Freiheit des Einzelnen kann demnach nur so geredet werden, dass dabei zugleich die Beziehungen zur Sprache kommen, in denen er steht. Von besonderem Interesse sind dabei einerseits sein Gottesverhältnis, andererseits die Beziehungen zu seinen Mitmenschen bzw. zur Gesellschaft insgesamt.
I. Aufbau und Inhalt der Arbeit I. Aufbau und Inhalt der Arbeit
Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Die ersten beiden behandeln das, was Wagner den theologiegeschichtlichen Entdeckungszusammenhang nennt, der dritte entfaltet den Begründungszusammenhang, im letzten Teil geht es um den Realisierungszusammenhang.6 Die vier Teile sind zudem chronologisch geordnet: Der erste Teil beschreibt – aus der Perspektive Wagners – Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts, der zweite Teil nimmt die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick, der dritte und der vierte Teil beschäftigen sich mit Wagners Analyse seiner eigenen Gegenwart und zeigen die Zielperspektive auf, die Wagner für die Zukunft formuliert. Zudem ist es möglich, die Architektonik der Arbeit aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zu beschreiben: Die ersten beiden Teile stellen zwei theologiegeschichtliche Positionen dar, die nach Wagner in idealtypischer Weise von Schleiermacher und Barth vertreten werden und die er als Religionstheologie und WortGottes-Theologie bezeichnet. Beide Theologietypen eint Wagner zufolge, dass sie einem bestimmten Freiheitsverständnis verpflichtet sind, das Wagner als ‚unmittelbare Selbstbestimmung‘ bezeichnet. Wagners eigene theologische Theorie individueller Autonomie findet sich demgegenüber im dritten 6
58.
Ein Überblick über Wagners System findet sich bei MURRMANN-KAHL, Theologie,
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Einleitung
und vierten Teil, hier kommen seine Gotteslehre im engeren Sinn, seine Christologie und schließlich seine Pneumatologie zur Darstellung. Im Zentrum dieser beiden Teile steht der eben skizzierte Begriff vermittelter Selbstbestimmung. Diese erste mögliche Perspektive auf die Arbeit stellt daher vor allem das Defizit der Religionstheologie und der Wort-Gottes-Theologie heraus, indem sie sich an der für Wagner grundlegenden Unterscheidung zweier Freiheitsverständnisse orientiert7 und dadurch den Gegensatz zwischen Wagner und seinen theologischen Vorgängern betont. Die Arbeit lässt sich aber auch im Lichte einer weiteren, für Wagners Theologie ebenfalls bedeutsamen Unterscheidung lesen: Wagner differenziert zwischen dem Begriff oder der Struktur der Freiheit einerseits und der Realisierung dieses Begriffs andererseits.8 Diese zweite Lesart greift die eingangs bereits angedeutete positive Bedeutung der neuzeitlichen Theologiegeschichte für Wagners Theoriebildung auf. Ihr zufolge artikulieren die ersten beiden Teile zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen notwendige Aspekte von Freiheit, nämlich das individuelle und das allgemeine Moment der Freiheit, und ihr Problem besteht in der einseitigen Betonung oder Verselbständigung des jeweiligen Aspekts, während der dritte Teil die berechtigten Anliegen beider Seiten aufnimmt und ein Modell von Freiheit präsentiert, das dem Anspruch nach die Versöhnung individueller und allgemeiner Selbstbestimmung ermöglicht. So gesehen, entwickeln die ersten drei Teile einen Begriff von Freiheit – und zwar einen Begriff, in dem die individuelle Autonomie aufgehoben ist –, während der vierte Teil die Realisierung dieses Begriffs – und damit zugleich die Realisierung individueller Autonomie – thematisiert. Aufgabe des ersten Teils ist es, eine Verbindung zwischen dem freien Individuum und der Theologie herzustellen. Das Bindeglied ist der Begriff der Religion. Es ist für Wagner das Spezifikum der Religion, dass sich in ihr das Individuum als solches artikuliert. Die These lautet: In der Religion klärt sich das autonome Individuum über die Voraussetzungen seiner Freiheit auf. Diese These impliziert zweierlei. Erstens, dass das Subjekt der Religion der einzelne Mensch ist. Das erkannt zu haben, ist das Verdienst der Religionstheologie. Gegenstand der Theologie ist ihr zufolge nicht Gott, sondern das religiöse Bewusstsein des Individuums; Gott ist der besondere Gegenstand oder Gehalt dieses Bewusstseins. Eine besondere Schwierigkeit der Wagnerinterpretation ergibt sich aus dem Umstand, dass für Wagner diese religionstheologische Sicht auf die Religion nicht identisch ist mit dem Selbstverständnis des religiösen Menschen. Denn dieser, so Wagner, versteht sich gerade nicht als handelndes Subjekt. Reflexivität und Aktivität als Eigenschaften des menschlichen Geistes sind im Bereich der Religion negiert und zwar darum, 7
Vgl. zur dieser Unterscheidung z.B. WAGNER, MM, 188. Auch darin folgt Wagner Hegel. Vgl. zu dieser Unterscheidung bei Hegel z.B. EMUNDTS/HORSTMANN, Hegel, 11. 8
I. Aufbau und Inhalt der Arbeit
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weil der religiöse Mensch nicht sich, sondern Gott für das eigentliche Subjekt hält. Im Vollzug der Religion ist der Mensch nicht länger bei sich, sondern bei einem Anderen und daher ist das Moment der Negation menschlicher Selbständigkeit ihr besonderes Merkmal. Dass sich eine Differenz zwischen der religiösen Binnenperspektive und der theologischen Sicht auf die Religion auftut, markiert für Wagner den Anfang der neuzeitlichen Theologiegeschichte. Bis dahin war die Theologie ganz den Selbstaussagen des religiösen Bewusstseins verpflichtet. Thema des ersten Kapitels (Teil 1, Kap. I) ist dieser Paradigmenwechsel, der allererst das Individuum als Subjekt der Religion zum Vorschein treten lässt. Soll sich das Individuum mittels des Gottesgedankens über seine Freiheit aufklären, so setzt das zweitens voraus, dass es überhaupt so etwas wie autonome Individualität gibt. Wagner koppelt daher die Entstehung der Religionstheologie an bestimmte sozialgeschichtliche Entwicklungen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Vorgang der Säkularisierung, die Entstehung des Bürgertums und die Herausbildung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die protestantische Theologie reagiert nicht nur auf diese Entwicklungen, sie befördert sie nach Wagner auch. Dies zeigen vor allem seine Ausführungen zur Geschichte des Religionsbegriffs in der Neuzeit: Am Anfang steht die Idee vernünftiger Religiosität jenseits der positiven Religionen, bei Semler findet sich dann der Versuch einer Integration dieser selbständigen Religiosität in das Christentum, der Abschluss der Neubestimmung des Religionsbegriffs findet in der Theologie Schleiermachers statt, insofern hier nun die Gehalte der christlichen Religion selbst zu Ausdrucksphänomenen des freien Individuums erklärt werden. Den sozial- und begriffsgeschichtlichen Kontexten der Religionstheologie widmet sich das zweite Kapitel (Teil 1, Kap. II). Weil Schleiermacher für die gelingende Vermittlung von freier Individualität und positiver Religion steht, kann man in ihm den paradigmatischen Fall eines Religionstheologen sehen. Darum erscheint es auch unabhängig von der Tatsache, dass Wagner sich in seinem Werk durchgängig mit Schleiermacher auseinandersetzt, sachgemäß ihm ein eigenes Kapitel zu widmen. Das dritte Kapitel (Teil 1, Kap. III) setzt dabei zwei Schwerpunkte. Einmal ist anhand von Wagners Habilitationsschrift9 zu klären, wie man vom Begriff menschlicher Selbstbestimmung zum Gottesgedanken gelangt. Zentral ist hier die Annahme einer Aporie menschlicher Selbsterklärung. In der Bearbeitung dieser Aporie besteht die positive Leistung der Religion: der Mensch, der sich nicht selbst zu begründen vermag, vergewissert sich in der Religion des Grundes seiner Freiheit. Zweitens ist festzuhalten, dass Wagner nicht nur von einer Aporie menschlicher Selbstbegründung, sondern außerdem von einer Aporie des religiösen Bewusstseins ausgeht. Während das erste Kapitel eine möglichst präzise Rekonstruktion
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WAGNER, Dialektik.
6
Einleitung
dieser religiösen Grundaporie bieten will,10 ist nun zu zeigen, weshalb es der Religionstheologie nicht gelingen kann, sie zu bewältigen. Es ist die Leistung der Religionstheologie, den Menschen als Produzenten religiöser Gehalte sichtbar zu machen (und damit die Religion über sich selbst aufzuklären); indem der Gegenstand der Religionstheologie aber das religiöse Individuum ist, erfasst sie Gott immer nur indirekt, nämlich aus der Perspektive dieses je besonderen Individuums. Die Religionstheologie hat es, so lautet eine wichtige Unterscheidung Wagners, mit dem menschlichen Gottesbewusstsein, nicht aber mit dem Gottesgedanken zu tun. Das religiöse Subjekt bezieht sich nicht auf den Gegenstand, auf den es sich beziehen will: seinen Grund, sondern es bezieht sich auf ein Erzeugnis seiner eigenen religiösen Bewusstseinstätigkeit. Mit diesem in sich widersprüchlichen Konstrukt des religiösen Bewusstseins – der Grund, der von Gnaden des Begründeten ist – kann es dann auch eine Theologie, die der Perspektive des religiösen Individuums verpflichtet ist, einzig und allein zu tun haben. Um den Grund zu erfassen, muss die Theologie einen anderen Ausgangspunkt als den des religiösen Bewusstseins wählen. Die Bedeutung der Wort-Gottes-Theologie ist darin zu sehen, eine solche Neuausrichtung der Theologie vollzogen zu haben. Das Thema des zweiten Teils ist daher Wagners Darstellung dieses Theologietyps. Die Wort-GottesTheologie zeigt, wo eine theologische Theorie individueller Selbstbestimmung anzusetzen hat: beim Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes. Mit einem Schlagwort: an die Stelle einer Theologie ‚von unten‘ tritt eine Theologie ‚von oben‘, die nicht länger das subjektive Gottesbewusstsein, sondern den objektiven Gottesgedanken zu entfalten sucht. Damit ist eine neue theologiegeschichtliche Epoche eingeläutet, die Wagner – wie schon im Fall der Religionstheologie – als Teil eines umfassenderen kulturellen Umbruchs deutet (Teil 2, Kap. I). Im Bereich der Theoriebildung bezeichnet Wagner diesen Umbruch als ‚Radikalisierung‘: Theorien haben nicht länger die individuelle, sondern die allgemeine Freiheit zum Gegenstand. Sie reflektieren die Herausbildung gesellschaftlicher Ordnungen, die das Leben des Einzelnen immer stärker normieren und den Eindruck einer Ohnmacht des Individuums entstehen lassen.11 Ich werde versuchen, die Bewegung der Radikalisierung, die auf eine Ausschaltung individueller Freiheit hinausläuft, im Sinne einer Dialektik der Aufklärung zu interpretieren, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sie beschrieben haben. Wagner will mit seiner BarthInterpretation dann auf einen problematischen Aspekt des neuzeitlichen Freiheitsverständnisses aufmerksam machen. Zwar steht die Neuzeit für die Entdeckung der Freiheit des Individuums und damit für das Ende der Vorherr10
Vgl. Teil 1, Kap. I.2. Vgl. zur Illustration die knappen Bemerkungen zur ‚entwickelten Moderne‘ bei ROSA, Theorien, 27f. 11
I. Aufbau und Inhalt der Arbeit
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schaft der Religion, der Mensch begreift seine neu erlangte Selbständigkeit jedoch auf die gleiche Weise wie zuvor schon die Religion ihren Gott. An Barths Theologie soll sich genau dies zeigen lassen, dass nämlich das neuzeitliche Freiheitsverständnis radikal – also an sich selbst – betrachtet der gleichen Logik wie die Religion und ihre Gottesvorstellung folgt. Wagners Kritik gilt damit weniger Barth selbst als vor allem dieser Logik. Sie führt, wenn sie von mehreren (endlichen) Subjekten in Anspruch genommen wird, zu Verhältnisweisen des Kampfes bzw. der Konkurrenz, die dadurch stillgestellt werden können, dass ein Subjekt zur allgemeinen Durchsetzung gelangt, ein Vorgang, der gleichbedeutend mit dem Ende der Freiheit der anderen ist. Diese Möglichkeit eines Rückfalls in Verhältnisse der Unfreiheit liegt im neuzeitlichen Autonomiebegriff selbst begründet, wenn er als eine Weise unmittelbarer Selbstbestimmung aufgefasst wird. Auch Wagners Beurteilung der Wort-Gottes-Theologie erweist sich damit als ambivalent. Zu Recht geht dieser Theologietyp davon aus, dass es die Aufgabe der Theologie ist, den Gottesgedanken an sich selbst zu erfassen. Es gelingt ihr aber nicht, den Gottesgedanken als den Grund individueller Freiheit zu entfalten. Stattdessen zeigt sich auch bei ihr das ‚Entweder-Oder‘, das schon für die Religion kennzeichnend war. Der Grundsatz der Religion lautet: Der Mensch lebt nicht in sich, sondern in Gott. Entsprechend ist ihre Bewegung die der Negation. Die Religionstheologie macht diese Bewegung als eine Aktivität des Menschen, als eine Selbstnegation durchsichtig. Damit zeigt sich zugleich das Unglück des religiösen Bewusstseins, entgegen seiner Intention stets bei sich zu bleiben. Auf diese Einsicht, dass auch die Religion ein Tun des Menschen ist, bezieht sich die Wort-Gottes-Theologie bei ihrer Entfaltung des Gottesgedankens aber allein negativ, nämlich indem sie die Religion als Unglaube markiert und ihr den wahren, einseitig aus dem Gottesgedanken abgeleiteten Glauben entgegenstellt. Die Annahme der Religion, entweder bei sich oder bei Gott sein zu können, taucht hier also in Gestalt eines Gegensatzes von Glaube und Religion auf, und wenn Wagner dieser Theologie ‚Gleichschaltung‘ vorwirft, dann will er damit deutlich machen, dass sich auch die WortGottes-Theologie von der religiösen Grundannahme einer Unvereinbarkeit von göttlicher und menschlicher Aktivität leiten lässt. Diese Zusammenhänge sollen am Beispiel von Barths Theologie ausführlich zur Darstellung kommen (Teil 2, Kap. II). Dabei geht es zum einen darum, im Durchgang durch verschiedene Texte Kontinuitätslinien zwischen dem ‚frühen‘ und dem ‚späten‘ Wagner aufzuzeigen. Zum anderen soll plausibel gemacht werden, dass es der gleiche Vorwurf ist, den Wagner an die Religionstheologie und die WortGottes-Theologie richtet, dass nämlich beide daran scheitern, ein Verhältnis von zwei selbständigen Subjekten zu beschreiben. Stattdessen entfalten beide ein Verhältnis, das einseitig durch den jeweils gewählten Ausgangspunkt beim subjektiven Gottesbewusstsein bzw. beim objektiven Gottesgedanken definiert wird. Die Kritik an den beiden Theologietypen ist auch ein Hinweis
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Einleitung
darauf, wie Wagner die Formel des Im-Anderen-bei-sich-selbst-Seins verstanden wissen will. Er interpretiert sie so, dass das Eigenrecht und die Selbständigkeit des Andersseins so stark wie nur irgend möglich gefasst werden. Mit dieser Intention folgt er seinem Frankfurter Lehrer Adorno, dessen Kritik am Identitätsprinzip im letzten Kapitel dieses zweiten Teils vorgestellt wird (Teil 2, Kap. III). Das Kapitel will zugleich auch zeigen, dass Wagner sich in seinem Eintreten für die Freiheit des Anderen nicht nur von philosophischen Argumenten leiten lässt, sondern zugleich auf genuin christliche Motive zurückgreift. Damit sind die Elemente benannt, auf denen Wagners eigener Entwurf aufbaut. Diesen von Wagner als ‚Theo-Logie‘ bezeichneten Theologietyp stellt der dritte Teil vor. Die Theo-Logie versucht den Gottesgedanken als Grund individueller Autonomie zu fassen, damit folgt sie der Religionstheologie. Zugleich geht sie davon aus, dass ein solches Unterfangen nur dann gelingen kann, wenn es als methodischen Ausgangspunkt den Gedanken der Selbstoffenbarung wählt, darin weiß sie sich der Wort-Gottes-Theologie verbunden. Im Zentrum des ersten Kapitels (Teil 3, Kap. I), das zugleich das spekulative Herzstück dieser Arbeit bildet, steht das Gottesverständnis, das sowohl die Religionstheologie als auch die Wort-Gottes-Theologie unhinterfragt voraussetzen. Gott wird als absolute Freiheit gedacht. Auch absolute Freiheit kann nur als Selbstbestimmung gefasst werden, Wagner spricht in diesem Fall von unmittelbarer Selbstbestimmung. Der Kerngedanke der Theo-Logie lautet nun, dass beim Versuch Gott als unmittelbare Selbstbestimmung zu beschreiben, Widersprüche auftreten, und dass eine Lösung dieser Widersprüche nur durch eine Neubestimmung des Gottesgedankens gelingen kann. Im Anschluss an R. Schäfer spreche ich von einer Manifestationsdialektik, die dem Gottesgedanken innewohnt. Vorausgesetzt ist dabei, dass eine Beschreibung Gottes nur als dessen Selbstbeschreibung denkbar ist. Im Sinne eines solchen Vollzugs göttlicher Selbsterfassung interpretiert Wagner den Offenbarungsgedanken. Gott offenbart sich, um sich als das, was er ist, zu erfassen oder zu erkennen; dieser Versuch der Selbstoffenbarung scheitert und führt zu einem neuen Begriff von Gott: Gott als vermittelte Selbstbestimmung. Der zweite Abschnitt des ersten Kapitels dient der Klärung der Frage, in welcher Beziehung die Aporie unmittelbarer Selbstbestimmung zu den beiden anderen bereits genannten Aporien steht, auf die Wagner immer wieder zurückkommt: die Aporie menschlicher Selbsterklärung und die Aporie des religiösen Bewusstseins und seiner Theorien. Thema des zweiten Kapitels (Teil 3, Kap. II) ist Wagners Christologie. Liest man Wagners Werk als eine theologische Theorie individueller Autonomie, dann kommt der Christologie eine besondere Stellung zu. Denn sie dient der Entwicklung eines theologischen Begriffs freier Individualität. An Jesus Christus lassen sich die Elemente aufzeigen, die diesen Begriff konstituieren. Zunächst: Freiheit macht das Wesen des Menschen aus; er ist sich als frei gegeben. Genau
I. Aufbau und Inhalt der Arbeit
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dies ist die Botschaft Jesu: Gott anerkannt den Menschen als ein freies Gegenüber. Sodann: Der Mensch – und zwar jeder einzelne – muss diese seine Bestimmung auf selbständige Weise realisieren. Wagner nennt dies die Anerkennung des Anerkanntseins durch den Menschen. Das geschieht konkret so, dass der Mensch nun seinerseits die Umwelt, in der er sich immer schon vorfindet, als sein freies Gegenüber anerkennt. Auf besonders radikale Weise demonstriert dies der Tod Jesu. Die Realisierung der Freiheit des Menschen vollendet sich jedoch erst dann, wenn nicht nur das Individuum die Freiheit seiner Umwelt anerkennt, sondern umgekehrt auch die Umwelt sich für die Freiheit des Einzelnen öffnet. Diese entscheidende Rolle der Umwelt wird bei Wagner dadurch deutlich, dass Jesus das Christusprädikat sich nicht selbst gibt, sondern von der Gemeinde zugesprochen bekommt. Diesen dritten Schritt setzt Wagner mit Jesu Auferstehung gleich. Die Freiheit des Individuums realisiert sich also dann, wenn das Individuum und seine Umwelt sich wechselseitig anerkennen. Auf diese Weise offenbaren sie die göttliche Struktur vermittelter Selbstbestimmung in der Welt. Die Durchführung der Christologie geschieht dann in drei Abschnitten. Den Entdeckungszusammenhang bildet der Glaube der Gemeinde an Jesus Christus. Das Urbild des freien Individuums begegnet hier in der Form der religiösen Vorstellung (II.2). Die Defizite dieser Form nötigen zu einer spekulativen Rekonstruktion der Christologie. Hier lassen sich ein negativer von einem positiven Begründungszusammenhang unterscheiden (II.3). In einem letzten Abschnitt (II.4) findet auf der Basis dieser begrifflichen Fassung der Christologie eine Interpretation des klassischen dogmatischen Formelguts statt. Das dritte Kapitel wagt schließlich einen ersten Rückblick (Teil 3, Kap. III). Es will zugleich die These plausibilisieren, dass Wagner der Religionstheologie und der WortGottes-Theologie nicht nur kritisch gegenübersteht, sondern dass sie notwendige Vorstufen für seinen eigenen Theologiebegriff bilden. Die innere Logik von Wagners System wird in diesem dritten Kapitel anhand von zwei Texten erarbeitet, in denen Wagner als Hegel-Interpret hervortritt. Zum einen geht es dabei um Hegels Kritik und Reformulierung der Gottesbeweise, zum anderen um seine Wissenschaft der Logik. Das Ergebnis lässt sich überblicksartig so darstellen:
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Einleitung ERSTER TEIL ReligionsTheologie
ZWEITER TEIL Wort-GottesTheologie
DRITTER TEIL Theo-Logie
Gottesbeweis
Kosmologisches Argument
2. ontologisches Argument
1. ontologisches Argument
Gottesmodell
Dualismus
Monismus
Trinität
Wissenschaft der Logik
Sein
Wesen
Begriff
Freiheitsverständnis
Unmittelbare Selbstbestimmung
Vermittelte Selbstbestimmung
Stellung im System
Entdeckungszusammenhang
Begründungszusammenhang
Die ersten drei Teile dienen also der Entwicklung eines Theologiebegriffs, der mit einem bestimmten Verständnis von Freiheit identisch ist. An ihrem Ende steht das, was Wagner wahlweise als die Struktur vermittelter Selbstbestimmung, der Subjektivität oder des göttlichen Geistes bezeichnen kann. Wie gesagt, unterscheidet Wagner zwischen der Struktur selbst und ihrer Realisierung. Dabei ist für Wagner die Realisierung dieser Struktur nichts anderes als die Offenbarung Gottes an der Stelle dessen, was er nicht ist und was man gemeinhin als die Welt bezeichnet. Die Struktur des göttlichen Geistes impliziert es nun, dass seine Offenbarung nur durch die Welt selbst (durch die Individuen und ihre Umwelt) geschehen kann. Gott, so könnte man formulieren, offenbart sich nicht direkt, sondern er lässt sich durch die Welt in der Welt offenbaren. Die selbständige Realisierung des göttlichen Geistes durch sein Anderssein ist das Thema des vierten Teils. Das erste Kapitel (Teil 4, Kap. I) dient der Entfaltung dieses Realisierungszusammenhangs, den Wagner zugleich als eine christliche Sozialethik konzipiert. Weil die Realisierung des Geistes in der Verantwortung der Welt liegt, ist sie bleibend gefährdet. Realisiert die Welt den Geist im Vollzug wechselseitiger Anerkennung von Individuum und gesellschaftlicher Umwelt, so sind zwei Orte denkbar, an denen der Prozess der Realisierung unterbrochen werden kann: sowohl das Individuum als auch seine Umwelt können die Anerkennung des jeweils anderen verweigern. Für beide Möglichkeiten findet Wagner Beispiele in seiner eigenen Gegenwart: auf der einen Seite beobachtet er übersteigerte Selbstverwirklichungsansprüche von Individuen, auf der anderen Seite die Ausbildung sozialer Systeme, deren Eigenlogik keine Rücksicht auf die besonderen Belange der Menschen nimmt. In besonderer Weise kritisiert er an dieser Stelle das Wirtschaftssystem. Wagner beschreibt die Gegenwart also als eine Gleichzeitigkeit der beiden Ausgestaltungen unmittelbarer Selbstbe-
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stimmung, die er in seiner Darstellung der theologiegeschichtlichen Positionen in der Form eines Nacheinanders präsentiert hatte (Teil 4, Kap. II). Als Überschrift für die beobachteten Pathologien seiner Zeit fungiert bei Wagner der Begriff einer halbierten Moderne. Diese gegenwartskritische Wendung findet ihr religionskritisches Pendant in Wagners Redeweise von einem halbierten Protestantismus. Es liegt nahe, beides aufeinander zu beziehen; es wären dann gerade die Gehalte des (protestantischen) Christentums, deren Realisierung einen Ausweg aus den Krisen der modernen Welt weisen könnten. Um diese therapeutische Funktion des Christentums geht es im dritten Kapitel (Teil 4, Kap. III).12 Denn für Wagner stellt das Religionssystem den sozialen Ort dar, an dem das Individuum sich und seine gesellschaftliche Umwelt thematisieren kann. Zugleich geht Wagner davon aus – und darin zeigt sich der hohe normative Anspruch, der auch noch seiner späten Religionstheorie innewohnt –, dass in den Vorstellungsgehalten der christlichen Religion die Wahrheit über das Verhältnis von individueller und allgemeiner Selbstbestimmung aufbewahrt ist. Diese Wahrheit besteht in der ontologischen Grundannahme eines symmetrischen Dualismus. Der symmetrische Dualismus wird in Wagners Werk dort sichtbar, wo beschrieben wird, dass Gott nicht ohne den Menschen, Jesus nicht ohne die Gemeinde und das Individuum nicht ohne die Gesellschaft gedacht werden kann. Von Freiheit kann nach Wagner dann geredet werden, wenn beide Seiten des Verhältnisses – also etwa das Individuum und die Gesellschaft – sich an der Stelle der jeweils anderen wiederfinden. Dies ist dann der Fall, wenn der Einzelne sich für die Interessen der Allgemeinheit einsetzt und wenn umgekehrt die gesellschaftlichen Systeme flexibel auf die Sorgen und Wünsche der Individuen reagieren – oder anders gesagt: die Freiheit des Individuums und der Gesellschaft ist dann realisiert, wenn sich beide im jeweils anderen ihrer selbst bewusst sein können. Es zeigt sich hier, welche zentrale Stellung die Kategorie der Negation in Wagners Theorie der Freiheit einnimmt. Unter der Bedingung eines symmetrischen Dualismus wird Freiheit nur so realisiert, dass die jeweils eigene Position nicht unmittelbar durchgesetzt, sondern die Position des Gegenübers als gleichermaßen bedeutsam anerkannt und berücksichtigt wird. Wagner benutzt für diesen Vorgang der Negation unmittelbarer Selbstdurchsetzung häufig die Metapher des Umwegs.13 Selbstexplikation an der Stelle 12
Die Begriffe der Pathologie und der Therapie übernehme ich von A. Honneth; vgl. HONNETH, Leiden, bes. 70ff. 13 Vgl. etwa WAGNER, Marktwirtschaft, 55: „Das von der protestantischen Religion der Moderne thematisierte personale und soziale Freiheitsverständnis fußt auf der Leitunterscheidung zwischen der Freiheit als unmittelbar-direkter Selbstbestimmung und als vermittelter-indirekter Selbstbestimmung, die sich auf Umwege einläßt.“ Vgl. z.B. auch WAGNER, MM, 166: „Jede Position personalen und sozialen Selbstseins kann sich nur dadurch erhalten, daß sie ihre eigene Position auf dem Umweg der praktischen Anerkennung anderer und fremder Positionen reflektiert und gestaltet.“
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Einleitung
des Andersseins heißt bei Wagner also gerade nicht, den Anderen zu überformen und damit den Dualismus aufzuheben, sondern es meint, die Position des Anderen beim Aufbau und bei der Realisierung der eigenen Position zu berücksichtigen, sodass der Andere wahrnehmen kann, dass seine Selbstexplikation auch an der Stelle seines Anderseins geschieht.14 Die Freiheit, so lautet Wagners grundlegende These, geht bei ihrer Realisierung Umwege. Das Paradigma für diesen Umweg der Freiheit ist der Zentralgehalt des Christentums – die Menschwerdung Gottes. Wagner entwickelt seine Theologie im intensiven Gespräch mit der Philosophie und der Soziologie. Je nachdem, welche Schwerpunkte hier gesetzt werden, wird auch die Wagner-Interpretation unterschiedlich ausfallen. Wie aus der Zusammenfassung deutlich geworden sein sollte, steht in der vorliegenden Arbeit der Hegelianer Wagner im Vordergrund. Außer zu Hegel werden Bezüge zu Niklas Luhmann 15 und Theodor W. Adorno16 herausgearbeitet. Von besonderer Bedeutung für Wagners Denken sind zudem die Philosophien Bruno Liebrucks’ und Wolfgang Cramers und die Religionstheorie des Soziologen Günter Dux.17 Der Einfluss dieser drei Denker auf das Werk Wagners wäre jeweils eigenständiger Untersuchungen wert; mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit mögen einige wenige Bemerkungen genügen.18 In der Philosophie Wolfgang Cramers19 findet Wagner ein Vorbild für seine theologische Theorie individueller Autonomie. Und zwar deshalb, weil Cramer das Absolute so denken will, dass es die Freiheit des Endlichen begründet. „In diesem Versuch, das Absolute als das Gründen des außer dem Absoluten relativ Selbständigen zu denken, besteht die Brisanz der Philosophie Cramers, durch die sie den Philosophien Fichtes und Hegels ebenbürtig an die Seite gestellt werden kann.“20 Cramer stelle sich demnach einer „Dop14
Man kann es im Anschluss an H. Ikäheimo auch so formulieren, dass sowohl das Selbst- als auch das Anderssein jeweils aus zwei Perspektiven agieren: Dann „besitzen die Sorgen und die Autorität des Objekts der Anerkennung die gleiche unbedingte Wichtigkeit wie die eigenen. Was gut und was übel, was richtig und falsch ist, wird somit zugleich aus zwei Perspektiven begriffen, von denen keine auf die andere reduziert werden kann.“ (IKÄHEIMO, Anerkennung, 98). Auch in diesen Worten, mit denen Ikäheimo den Vorgang der Anerkennung bei Hegel schildert, zeigt sich m.E. die Struktur eines symmetrischen Dualismus. 15 Vgl. Teil 1, Kap. II.1a; Teil 4, Kap. II.2a und Kap. III.1. 16 Vgl. Teil 2, Kap. I.1 und Kap. III.1. 17 Vgl. dazu Wagners Äußerungen in: WAGNER, Selbstdarstellung, 282.293f.; zur Einordnung Wagners in die Theologiegeschichte der Nachkriegszeit vgl. die entsprechenden Ausführungen bei ROHLS, Wagner (s. auch unten S. 18ff.) und FISCHER, Theologie, 255ff. 18 Ich beschränke mich dabei auf Cramer und Dux, da Wagner zu diesen beiden Autoren Aufsätze publiziert hat. 19 Vgl. zum Verhältnis Wagner – Cramer auch HOLTMANN, Barth, 174–182. 20 WAGNER, Vernunft [CM], 104; Hervorhebung MS.
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pelaufgabe“21, indem er einerseits zeigen wolle, dass alles aus dem Absoluten sei und andererseits die Selbständigkeit des Endlichen außerhalb des Absoluten zu sichern gedenke. Wagner wiederum meint, dass die Trinitätslehre22 zur Lösung genau dieser Doppelaufgabe geeignet sei. Bei Cramer findet sich zudem der Gedanke, dass eine Erkenntnis Gottes nur dann möglich ist, wenn Gott als „das in sich differenzierte Absolute“23 konzipiert wird. Wagner versucht zu zeigen, dass Cramer den Begriff, mittels dessen das Absolute als Absolutes erfasst oder qualifiziert wird, aus dem Absoluten selbst herleitet. Damit biete Cramer eine spekulative Rekonstruktion des Offenbarungsgedankens, die zugleich als eine Umkehrung der „Vorgehensweise des traditionellen ontologischen Gottesbeweises“24 zu begreifen sei. Eine solche Umkehrung findet sich dann auch in Wagners eigenen Überlegungen25 und ihre theologische Pointe lautet, dass eine „Selbstoffenbarung Gottes“ sich „allein aufgrund seiner trinitarischen Selbstdifferenzierung“ denken lasse.26 Bei Günter Dux findet Wagner eine Religionstheorie, die es unternimmt, „die Genese der Religion auf rein empirischem Wege zu erhellen“.27 Dabei schärft Dux’ Religionskritik nicht nur ein, dass dem Menschen allein die menschliche Rede von Gott zu Verfügung steht, sondern sie kann nach Wagner auch den mit dieser Rede gemeinten Gehalt als ein Produkt des Menschen plausibel machen. Die Natur des Menschen nötige ihn dazu, sich seine eigene (geistige) Umwelt allererst zu erschaffen; im Zuge der Ausbildung dieser „geistig-kulturellen Lebenswelt“28 entstünden auch die Religion und ihre
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WAGNER, Vernunft [CM], 104. Wagner will mit seiner Trinitätslehre die Schwierigkeiten sowohl eines Dualismus als auch eines Pantheismus vermeiden; entsprechend heißt es über Cramers Konzeption: „Sie rettet mit dem Dualismus gegen den Pantheismus die relative Selbständigkeit des Anderen außer dem Absoluten. Aber sie insistiert mit dem Pantheismus gegen den Dualismus darauf, daß das selbständige Andere aus dem Absoluten zu generieren ist“ (WAGNER, Vernunft [CM], 110). 23 WAGNER, Vernunft [CM], 114. 24 WAGNER, Vernunft [CM], 113. 25 WAGNER, Ausdruck, [RG], 169: „Der Begriff des Absoluten ist aus dem Absoluten selber, aus dem Gedanken (Bestimmbaren) des Absoluten zu begreifen. Oder: Das Wissen, daß das Absolute absolut ist, ist die eigene Manifestation des Absoluten.“ Das bedeute eine Neufassung des ontologischen Gottesbeweises: „Nicht vom Begriff Gottes ist zu seinem ‚Sein‘ überzugehen, sondern das Absolute selbst als Gedanke, Bestimmbares [‚Sein‘, ‚Sache‘] manifestiert seinen Begriff“ (eckige Klammer im Original, MS). 26 WAGNER, Vernunft [CM], 115. 27 WAGNER, Krise, 22. Vgl. für diese empirische Erklärung der Religion bei Dux dann v.a. ebd., 34–53. 28 WAGNER, Krise, 63. 22
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Einleitung
Götter.29 Auch wenn Wagner dieser Position zustimmt,30 ist damit für ihn noch nicht die Frage nach der Geltung des Gottesgedankens beantwortet. So kann er gleich zu Beginn seiner Dux-Interpretation notieren: „An der Geltung des vorstellungshaft und gedanklich formulierten Gehalts, auf den die Rede vom Handeln göttlicher Mächte zielt, läßt sich […] auch dann festhalten, wenn sich die religionskritische Sicht bestätigen sollte, daß dieser Gehalt ein Produkt des Menschen ist.“31 Denn der Gehalt mag zwar vom Menschen produziert sein, dennoch scheint er für Wagner eine objektive (allgemeingültige) Größe darzustellen, die von der subjektiven Gottesvorstellung zu unterscheiden sei.32 Im letzten Teil des Aufsatzes geschieht dann eine Überprüfung der Geltung des objektiven Gottesgedankens, von der Wagner – wie gewohnt – behauptet, dass sie in Gestalt einer „Selbstauslegung des Absoluten“ durchzuführen sei.33 Im Sinne der genannten Differenz von Gottesgedanke und Gottesbewusstsein stehe dem Menschen aber lediglich der „Gedanke der Selbstauslegung des Absoluten“ zu Verfügung; die Selbstauslegung kann allein „auf dem Umweg ihrer Fremdauslegung durch die menschliche Reflexion expliziert werden“.34 Mit der Differenz von Selbstauslegung und Fremdauslegung steht nach Wagner zugleich auch ein Maßstab bereit, anhand dessen die Geltung des Gottesgedankens überprüft werden kann. Die entscheidende Frage sei dann, ob die Fremdauslegung mit der gemeinten Selbstauslegung übereinstimme, ob also „die Äußerlichkeit [der menschlichen Fremdauslegung] als eine dem Absoluten entsprechende Äußerlichkeit erscheint.“ Die Fremdauslegung habe schließlich „nicht irgendetwas, sondern den gemeinten Gedanken des Absoluten auszulegen.“35
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Vgl. WAGNER, Krise, 51. Vgl. ebd., 22: „Die Menschen bringen zusammen mit ihren soziokulturellen Verhältnissen auch ihre Religion und die göttlichen Mächte hervor, denen sie den ursächlichen Grund ihres Geschicks und des Weltlaufs zuschreiben.“ 30 Vgl. WAGNER, Krise, 51. Hier verbindet Wagner Dux’ Theorie mit seinen eigenen religionskritischen Argumenten: „der göttliche Ursprungsgrund vermag das aus ihm Begründete nicht zu tragen. Denn der göttliche Grund verdankt seine Entstehung der vom Menschen selber hervorgebrachten und begründeten subjektivischen Weltdeutung.“ Vgl. auch ebd., 99. 31 WAGNER, Krise, 20. Vgl. ebd., 99. 32 WAGNER, Krise, 19: „Die Differenz zwischen der menschlichen Rede vom Handeln göttlicher Mächte und dem mit dieser Rede gemeinten semantischen Gehalt läßt sich […] nicht kassieren.“ Wenn Wagner darauf hinweist, dass es ihm darum gehe, Dux’ Religionstheorie kritisch zu rekonstruieren (vgl. ebd., 28), meint er damit eben diese Unterscheidung zweier „Aussageebenen“ (ebd.): „Es ist nämlich zu überprüfen, ob Dux immer zureichend zwischen der Ebene seines mitgebrachten Theoriewissens und der der erforschten Wissensgenese unterscheidet“ (ebd, 27; vgl. auch ebd., 44f.). 33 WAGNER, Krise, 90. 34 WAGNER, Krise, 90; Hervorhebungen MS. 35 WAGNER, Krise, 91; Hervorhebung MS.
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Wagner folgt Dux in der Annahme, dass der Gottesgedanke ein Konstrukt des Menschen ist, dessen Entstehung sich empirisch aufklären lässt. In diesem Sinn ist die Religionskritik nicht zu widerlegen.36 Mit Dux geht er weiterhin davon aus, dass die Religion nicht länger für die Erklärung der Naturund Sozialwelt zuständig sein kann, sondern dass ihr genuines Thema die menschliche Individualität ist.37 All das bedeutet aber nicht, dass Wagner nicht auch weiterhin von einer objektiven Geltung des Gottesgedankens reden könnte, an der sich die individuellen Gottesvorstellungen messen lassen müssen. Aus theologischer Sicht wird man allerdings die Verschiebungen, die sich gerade im Vergleich von Wagners Cramer- und seiner Dux-Interpretation zeigen, als problematisch beurteilen müssen. Denn während es Wagner in seiner Auseinandersetzung mit Cramer noch um eine theologische Begründung individueller Freiheit geht, er also den Gedanken der Vorgängigkeit des Absoluten mit der Selbständigkeit des Endlichen zu vermitteln sucht, scheint mir in der Rezeption von Dux’ Religionstheorie nicht einmal die sonst immer geforderte Symmetrie von Gott und Mensch gewahrt; denn hier erscheint die (irreduzible) Differenz von individuellem Gottesbewusstsein und objektivem Gottesgedanke eben doch als eine vom Menschen generierte Differenz.38 Damit aber gerät der Gottesgedanke in einseitige Abhängigkeit vom Menschen. Im Unterschied zur These eines symmetrischen Verhältnisses von Gott und Mensch stellt die Aufgabe der Selbständigkeit des Gottesgedankens wohl keine theologische Denkmöglichkeit dar. An diese Ausführungen zu Cramer und Dux lässt sich ein kurzer methodischer Hinweis anschließen. Meine Fragestellung war nicht, ob Wagner in seinen Aufsätzen die Positionen Cramers und Dux’ angemessen wiedergibt. Das gilt für die vorliegende Arbeit grundsätzlich: für mich ist nicht von Interesse, ob Wagners Interpretationen ihren Gegenstand wirklich treffen. Stattdessen geht es mir darum, wie genau z.B. die Aporie des religiösen Bewusstseins zu beschreiben ist und welchen Stellenwert sie in Wagners System hat, – und nicht darum, ob Wagners Darstellung dem gegenwärtigen Stand der Schleiermacherforschung noch gerecht wird.39 Es geht in dieser Arbeit also nicht um Wagner als Schleiermacher-, Barth- oder Hegelinterpreten, sondern es geht um die Argumente und Einsichten, zu denen er in der Auseinandersetzung mit diesen Denkern gelangt. Die entscheidende Frage ist dann, ob diese Einsichten – wie etwa die, dass es eine Schwierigkeit darstellt, den 36
WAGNER, Selbstdarstellung, 294. Vgl. etwa WAGNER, Krise, 64f. 38 Vgl. WAGNER, Krise, 22. 39 Entsprechend behandeln z.B. die Abschnitte über die Entwicklung des Religionsbegriffs oder die Säkularisierung immer nur Wagners Interpretation dieser Vorgänge. Wenn in solchen Abschnitten auch andere Literatur herangezogen wird, so dient dies dem Zweck, Wagners Position zu erhellen. 37
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Einleitung
Gedanken unmittelbarer Selbstbestimmung einerseits als Sünde zu verurteilen, anderseits für den Gottesgedanken in Anspruch zu nehmen – auch für die gegenwärtige Theologie noch eine Herausforderung darstellen.
II. Forschungsüberblick II. Forschungsüberblick
Ein Überblick über die bis 2012 erschienene Literatur zu Falk Wagner findet sich bei Katrin Mette.40 Sie unterscheidet fünf Schwerpunkte in der Wagnerforschung: das Gesamtwerk, die Barth-Kritik, die Theo-Logie im engeren Sinn, die Luhmannrezeption, die Religionstheorie. Mettes eigene Arbeit stellt die erste Monographie dar, die sich ausschließlich mit Wagner beschäftigt. Sie beschränkt sich dabei auf die Religionstheorie im sog. Frühwerk Wagners. Ich werde mich im Folgenden auf die von Mette noch nicht berücksichtigte Literatur konzentrieren. Zuvorderst ist hier der von Christian Danz und Michael Murrmann-Kahl herausgegebene Sammelband zu nennen, dessen Aufsätze verschiedene Aspekte der Theologie Wagners beleuchten und in der Zusammenschau als erste Darstellung seines Gesamtwerks gelten können.41 Hinzuweisen ist außerdem auf die Einführung in Wagners Theologie, die Jörg Dierken und Christian Polke ihrer Edition von Wagnertexten beigegeben haben.42 Sekundärliteratur, die sich mit der Christologie (bzw. dem Begründungszusammenhang insgesamt) und der Pneumatologie (bzw. dem Realisierungszusammenhang) beschäftigt, wird von Mette aufgrund ihrer Themenstellung nicht eingehend diskutiert. Da beide Themen aber für diese Arbeit von besonderem Interesse sind, sollen sie einen Schwerpunkt der folgenden Ausführungen bilden. Zunächst aber zur Arbeit von Mette.43 Sie unterscheidet an Wagners Religionstheorie eine affirmative und eine kritische Seite. Während letztere schon immer im Fokus der Wagnerforschung stand,44 ist es ihr vor allem darum zu tun, „die affirmativen Dimensionen seines Religionsverständnisses“45 herauszuarbeiten. Ihre These lautet, dass Wagner die Grundlagen einer solchen positiven Religionstheorie in seiner Habilitationsschrift über Schleiermachers Dialektik ausarbeitet und dass sich seine späteren, knappen Bemerkungen zur 40
METTE, Selbstbestimmung, 18–37. DANZ/MURRMANN-KAHL, Theologie. 42 DIERKEN/POLKE, Einleitung [CM]. 43 Eine Zusammenfassung ihrer Arbeit bietet Mette in dem genannten Band von Danz und Murrmann-Kahl; vgl. METTE, Endlichkeit. 44 Vgl. auch METTE, Selbstbestimmung, 246f. Hinsichtlich der kritischen Seite der Religionstheorie unterscheidet Mette fünf Aspekte: die Aporie des religiösen Bewusstseins, die klassische Religionskritik, die Säkularisierung und ihre Folgen, Wagners Kritik am theistischen Gottesgedanken und den kulturkritischen Blick auf die Religion. 45 METTE, Selbstbestimmung, 246. 41
II. Forschungsüberblick
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Funktion der Religion von hier aus erschließen.46 Mette geht außerdem davon aus, dass Wagners Schleiermacher-Deutung in erheblichem Maß von seinen Erkenntnissen über Fichte geprägt ist, wie er sie sich in seiner Dissertation erarbeitet hat. Dies zeige sich vor allem daran, dass Schleiermachers unmittelbares Selbstbewusstsein bei Wagner zum „Wiedergänger von Fichtes selbstsetzendem Ich“ werde. Die Ausführungen zu Wagners Qualifikationsschriften bilden bei Mette daher auch den „Löwenanteil“47 ihrer Arbeit.48 Wie beschreibt Mette nun Wagners positive Religionstheorie? 49 Den Ausgangspunkt bildet eine Aporie des menschlichen Geistes. Dieser werde von Wagner als unbedingt bestimmt: er setzt sich selbst, ist absolut frei. Allerdings scheitere der Geist daran, ein Selbstbewusstsein aufzubauen. Dafür müsse vielmehr „eine der menschlichen Spontaneität vorgängige Struktur in Anspruch genommen“ werden.50 Da der menschliche Geist diese Struktur nicht produziert habe, erweise er sich als endlich. Vom menschlichen Geiste werden also zwei Dinge zugleich ausgesagt: er ist absolute Spontaneität und endlich zugleich; und in diesem „Widereinander von Unbedingtheit und Bedingtheit oder von Absolutheit und Endlichkeit“51 erblickt Mette seine Aporie. Die Religion, so Mette, ist nun auf die dem Geist vorgängige Struktur bezogen; seine Endlichkeit stelle daher „den selbstbezüglichen Inhalt des religiösen Bewusstseins“ dar.52 Religion ist aber „für Wagner Gottesbewusstsein“53 und so entwickle sich das religiöse Bewusstsein erst dann zu seiner Vollgestalt, wenn es den „Gedanken eines Absoluten“ setze – und zwar „um der Erklärung seiner Endlichkeit willen.“54 Dabei werde das Absolute auf die gleiche Weise bestimmt wie zuvor der menschliche Geist selbst, nämlich als absolute Spontaneität. Mettes Formulierungen erwecken an manchen Stellen den Eindruck, dass es für Wagner erst die Ausbildung des Gottesgedankens ist, die das Problem menschlicher Freiheit löst.55 Dies hat m.E. darin seinen Grund, dass Mette die Religion einseitig auf die Endlichkeit des menschlichen Geistes bezieht, und nicht direkt auf seine Spontaneität. Ich meine hingegen, dass 46
Vgl. zu dieser zweiten Annahme METTE, Selbstbestimmung, 157–161. METTE, Selbstbestimmung, 17. 48 Vgl. dazu auch in dieser Arbeit die Abschnitte zu Schleiermacher (Teil 1, Kap. III) und Fichte (Teil 3, Kap. I.2). 49 Mette kann Wagners Religionstheorie als „transzendental“ bezeichnen; zur Erläuterung vgl. METTE, Selbstbestimmung, 244f. Mette lässt sich dabei von der Annahme leiten, dass Wagner die Religion „fundamental im menschlichen Wesen verwurzelt“ sehe (ebd., 169). 50 METTE, Selbstbestimmung, 162. 51 METTE, Endlichkeit, 99. 52 METTE, Endlichkeit, 99. 53 METTE, Selbstbestimmung, 163. 54 METTE, Endlichkeit, 99. 55 Vgl. z.B. METTE, Selbstbestimmung, 154. 47
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Wagner die Religion in der Dialektik genau so interpretiert: als das Selbstbewusstsein absoluter Spontaneität. Religion ist nichts anderes als der Akt, in dem sich die absolute Spontaneität ihrer selbst bewusst wird. Wo das geschieht, vollzieht sie eine Korrektur ihres Selbstbildes: sie versteht sich nicht länger als absolute Spontaneität, sondern als sich gegeben. Religion ist Kritik am Gedanken der causa sui – sofern er für den menschlichen Geist in Anspruch genommen wird. D.h. die Religion ist selbst schon die Lösung für eine Aporie, eben für die Aporie absoluter Spontaneität. Der Gottesgedanke ist demgegenüber sekundär; zu seiner Ausbildung kommt es, weil das neue menschliche Freiheitsverständnis der Religion – der Mensch setzt sich nicht selbst, sondern ist sich gegeben – eine von Menschen unterschiedene Instanz fordert. Mette formuliert also wenigstens unglücklich, wenn sie mit Blick auf die Dialektik von der „Aporie einer endlichen Freiheit“56 spricht. Denn in der Dialektik geht es nicht um die Aporie endlicher, sondern um die Aporie absoluter Freiheit und die Religion eröffnet gerade den Weg zu einem neuen, konsistenten Freiheitsverständnis (den sie freilich zugleich wieder verstellt, indem sie das Modell absoluter Freiheit lediglich einseitig kritisiert). Um die Aporie endlicher Freiheit in den Blick zu bekommen, erscheinen Wagners Ausführungen zur Glaubenslehre der geeignetere Ausgangspunkt, die Mette allerdings kaum berücksichtigt. Das ist auch darum von Nachteil, weil das Spezifikum des Wagnerschen Religionsbegriffs – dass es in ihm um das Individuum geht – eher in der Glaubenslehre als in der Dialektik sichtbar wird. Auch wenn ich sie anders akzentuiere: an Mettes grundsätzlicher Einsicht, dass bei Wagner eine positive und eine negative Seite des Religionsbegriffs zu unterscheiden sei, werde ich auch in dieser Arbeit festhalten. Während die Stärke von Mettes Studie in der präzisen Exegese zentraler Texte aus Wagners Frühwerk besteht, haben sich andere Autoren auch in jüngerer Zeit an einer Darstellung des Wagnerschen Gesamtwerks versucht. Kurz besprochen seien an dieser Stelle neben der bereits genannten Einführung von Dierken und Polke ein Aufsatz von Jan Rohls und die knappen Bemerkungen, mit denen Danz und Murrmann-Kahl ihren Sammelband eröffnen. Rohls ordnet Wagners Werk in seinen theologiegeschichtlichen Kontext ein. In den fünfziger Jahren dominiere ein „biblizistischer Supranaturalismus“57 die theologische Szene in Deutschland; vertreten werde er ebenso von Barthianern wie von konservativen Lutheranern. Damit ist das Feindbild benannt, an dem sich Wagner zeit seines Lebens abgearbeitet hat. Zu Beginn der sechziger Jahre sei es dann Wolfhart Pannenberg, der mit der Programmschrift ‚Offenbarung als Geschichte‘ eine neue Richtung in der Theologie einschlage. Zwar stehe Wagner dem geschichtstheologischen Ansatz seines 56 57
METTE, Selbstbestimmung, 154. Vgl. auch ebd., 244. ROHLS, Wagner, 14.
II. Forschungsüberblick
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Doktorvaters reserviert gegenüber, dennoch erweise sich Pannenberg als wichtiger Impulsgeber für seine eigene theologische Arbeit. Zu nennen sei hier „erstens die entschiedene Kritik an der Dialektischen Wort-GottesTheologie, zweitens die damit verbundene Überzeugung einer engen Verbindung von Theologie und Philosophie, drittens der Anschluss der Theologie an andere Disziplinen wie den Sozialwissenschaften und viertens das Konzept einer Theologie der Vernunft.“58 Rohls weist noch auf einen anderen wichtigen Punkt hin, in dem zwischen Pannenberg und Wagner Einigkeit herrscht: Es ist die Annahme einer (von Pannenberg kritisch bewerteten) „Entwicklungslinie von Schleiermacher zu Barth“, welche eine „Radikalisierung“ des Prinzips der Subjektivität beschreibe.59 Zu notieren sind außerdem Rohls Bemerkungen, dass Pannenberg in der ‚Systematischen Theologie‘ seine Kritik an Barth auf Wagner ausweite und dass Wagner mit seiner Abkehr von einer Theorie des Absoluten in der Wiener Zeit letztlich einem Einwand Pannenbergs Recht gebe, den dieser bereits in den siebziger Jahren gegen Hegel geäußert habe.60 Als zweiten wichtigen theologischen Einfluss nennt Rohls Trutz Rendtorff. Von Bedeutung seien hier insbesondere die positive Neubewertung der Epoche der Aufklärung, die Überlegungen zum Verhältnis von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Einbindung und die Einordnung der Theologie Barths in die Geschichte des neuzeitlichen Autonomiebegriffs61. Drittens weist Rohls auf eine theologische Debatte hin, die für Wagners Werk von besonderer Bedeutung sei. Gemeint ist der „Streit um den theistischen Gottesbegriff“.62 Auf der einen Seite stehe Herbert Braun mit seiner These, „dass Gott eine bestimmte Art der Mitmenschlichkeit sei“.63 Die Gegenposition vertrete Hellmut Gollwitzer, für den der christliche Glaube genuin „Glaube an den persönlichen Gott sei“64 und der zugleich darauf insistiere, dass Gott frei und keineswegs auf den Menschen angewiesen sei. In den Kontext dieser Auseinandersetzung gehöre dann auch Sölles Entwurf einer Theologie nach dem Tode Gottes; auch hier werde die Menschwerdung Gottes als seine Entäußerung an die Welt und damit als Inanspruchnahme des Menschen gedeutet. Während nun Wagners erster Aufsatz eine kritische Reaktion auf Sölles Hegelinterpretation darstellt,65 meint Rohls in Wagners später Anerkennungstheorie eine Annäherung an die Ideen Brauns und Sölles erkennen zu können.66 Zweifelsohne rückt das Konzept wechselseitiger An58
ROHLS, Wagner, 21. ROHLS, Wagner, 29f. 60 ROHLS Wagner, 34f.; 39. 61 ROHLS, Wagner, 36f. 62 ROHLS, Wagner, 25; Hervorhebung MS. 63 Ebd. 64 ROHLS, Wagner, 26. 65 Vgl. ROHLS, Wagner, 27f. 66 ROHLS, Wagner, 42. 59
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erkennung in Wagners späten Schriften verstärkt in den Fokus. Zugleich wird man aber sagen müssen, dass es sich sowohl bei der Rede vom Tod Gottes – wenn man sie auf das Scheitern unmittelbarer Selbstbestimmung bezieht – als auch bei der besonderen Betonung menschlicher Verantwortung um Motive handelt, die sich in allen Phasen seines Schaffens finden.67 Zudem war es immer Wagners Anliegen – gleichsam mit Gollwitzer – die Selbständigkeit Gottes zu wahren. Auch diese Intention findet sich noch in spätesten Äußerungen Wagners, etwa dann, wenn er sagt, dass eine (weiterhin als notwendig empfundene) Kritik der Religionstheologie „von der schlechterdings nicht hintergehbaren Differenz von menschlicher Rede vom Wort Gottes und dem in dieser Rede gemeinten Wort Gottes ausgehen“ müsse.68 Auch Dierken und Polke betonen in ihrem Aufsatz „Kontinuitätslinien“ 69 im Werk Wagners. Zuvorderst sei hier „[d]er ethische Fokus seines Christentumsverständnisses“70 zu nennen. Im Zentrum seiner „ethische[n] Theologie“71 stehe der Begriff der Freiheit. So werde Gott von Wagner als „Selbstbestimmen“ gedacht, ein Selbstbestimmen freilich, dass die Freiheit des Menschen mit einschließen soll. Schon in Gott selbst sei daher „die Aufgeschlossenheit für die Freiheit des Andersseins von Welt und Mensch verankert“.72 Dierken und Polke weisen darauf hin, dass das so gefasste Absolute „gleichsam als Urbild“73 menschlicher Lebenswirklichkeit genommen werden könne. So wie Gott schon an sich selbst „das Verhältnis des Einen zu seinem Anderen“74 sei, gelte auch vom Menschen, „daß das Subjekt immer unter Anderen ist.“75 An der Stelle Gottes wie an der Stelle des Menschen könne Freiheit daher nur als ‚vermittelte Selbstbestimmung‘ beschrieben werden – eine Formel, die ebenso wie der Kontrastbegriff der ‚unmittelbaren Selbstbestimmung‘ in Wagners gesamten Werk anzutreffen sei.76 Neben solchen Kontinuitäten arbeiten die Autoren auch die Umbrüche in Wagners Werk heraus. Betont wird unter anderem, dass Wagner dem Religionsbegriff in der Wiener Zeit „ein neues Profil“ gebe.77 Während es bislang um ihre „Reformulierung 67
Die ethische Zuspitzung von Wagners Theologie hebt auch Rohls selbst hervor: „Wagners spekulative Theologie hat, ungeachtet der Tatsache, dass in der Münchener Zeit die Konstruktion der trinitarisch-christologischen Theorie des Absoluten im Vordergrund stand, ihr Ziel im sozialethischen Realisierungszuammenhang“ (ROHLS, Wagner, 35). 68 WAGNER, MM, 60. 69 DIERKEN/POLKE, Wagner, 6. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 DIERKEN/POLKE, Wagner, 14. 73 DIERKEN/POLKE, Wagner, 13. 74 Ebd. 75 DIERKEN/POLKE, Wagner,11. 76 Vgl. zu den verschiedenen Formeln, mit denen Wagner den Gedanken vermittelter Selbstbestimmung zum Ausdruck bringt auch ebd., 12. 77 DIERKEN/POLKE, Wagner, 17.
II. Forschungsüberblick
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im Zeichen der Allgemeinheit der Vernunft“ gegangen sei, werde die Religion jetzt „zum ausgezeichneten Ort für die Artikulation der Individualität der Individuen“78. Völlig zu Recht heben Dierken und Polke in diesem Zusammenhang den „tiefen Respekt Wagners für die Unverrechenbarkeit des Individuellen“79 hervor. Hier sind allerdings zwei Aspekte zu unterscheiden. Der Respekt vor dem Individuum ist ein Grundmotiv der Theologie Wagners; er äußert sich in seiner Sozialethik der siebziger Jahre und in seiner Kritik an Barths gleichschaltender Theologie. Dass es nun gerade in der Religion um Freiheit des Individuums geht und dass die Religionstheologie eben diesem freien Individuum verpflichtet ist, ist die These schon der Religionsmonographie. Von der Beobachtung, dass Wagner die Religion zu dem Ort macht, an dem sich das Individuum als solches thematisiert, ist aber die Annahme zu unterscheiden, dass Wagner ein „Interesse für die Religion der Individuen“80 zeige. Man wird nicht wirklich sagen könne, dass der ‚späte‘ Wagner plötzlich anfängt, mit neugierigem Blick die Welt individueller Religiosität zu erkunden, sondern auch er hat eine ganz konkrete Vorstellung, was die Religion für die Individuen und ihre soziale Umwelt zu leisten hat.81 Teilweise betonen die Autoren die Differenzen zwischen Früh- und Spätwerk zu stark. So stellen sie fest: „Während der frühere Wagner auf ein Allgemeinwerden der christlichen Religion durch ihre Reformulierung im Medium der Vernunft drängte, ging es dem späten Wagner um die ‚Übersetzung‘ von deren – cum grano salis: ethischen – Prinzip in seinen autonomen Selbst- und Weltumgang.“82 Meines Erachtens formulieren die beiden Satzhälften aber gar keinen Gegensatz, denn die Übersetzung des Prinzips der christlichen Religion in den Selbst- und Weltumgang hat ja gerade seine Reformulierung im Medium der Vernunft zur Voraussetzung. Wenn der späte Wagner eine Fortsetzung des Umformungsprozesses fordert, wenn er gegen einen halbierten Protestantismus polemisiert, dann geht es ihm doch immer noch darum, dass die christliche Religion und Theologie weiterhin dem aporetischen Prinzip unmittelbarer Selbstbestimmung verhaftet sind und dass mithin die Realisierung des vernünftigen Prinzips vermittelter Selbstbestimmung noch aussteht, wobei eine solche Realisierung nichts anderes als ein Allgemeinwerden der christlichen Gehalte wäre. Nur kurz soll schließlich auf die Einleitung von Danz und Murrmann-Kahl eingegangen werden. Sie weisen darauf hin, dass Wagners zentrales Argu78
Ebd. Ebd. 80 DIERKEN/POLKE, Wagner, 18. 81 Siehe dazu unten Teil 4, Kap. III.1. Vgl. auch das Urteil bei DANZ, Protestantismus, 152: „Die spekulative Theologie des Absoluten und seine Verwirklichung als Geist in dem soziokulturellen Weltumgang des Menschen weist nur wenig Sensibilität für die konkreten Formen und Medien auf, in denen sich das religiöse Leben vollzieht.“ 82 DIERKEN/POLKE, Wagner, 19. 79
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ment hinsichtlich der Aporie des Selbstbewusstseins sich einer „sehr spezifischen“83, durch Dieter Henrich und Peter Reisinger geprägten Fichteinterpretation verdanke, die mittlerweile jedoch als wiederlegt gelten könne. Wagners Theologie hängt aber nicht an der Aktualität seiner Fichte-Interpretation, sondern daran, ob seine Darstellung dessen, was ich im Abschluss an Rainer Schäfer die Manifestationsdialektik der Wesenslogik nenne, überzeugend ist. In diesem Zusammenhang ist auch nicht der Abschnitt zur formellen, sondern derjenige zur bedingten Kausalität der entscheidende.84 Als neuere Arbeiten, die sich mit Wagners Theo-Logie im engeren Sinn beschäftigen, sollen hier die Aufsätze von Kazimir Drilo und Christine AxtPiscalar genannt werden.85 Drilo rekonstruiert „Falk Wagners theologische Interpretation von Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘“86. Von Interesse ist der Text deshalb, weil er sich vor allem auf zwei Aufsätze Wagners stützt, die man auch als das Rückgrat der vorliegenden Arbeit bezeichnen könnte.87 Die besondere Bedeutung von Wagners Ansatz erblickt Drilo darin, dass er es unternimmt, „Hegels Logik und die Realphilosophie (insbesondere die Religionsphilosophie) miteinander zu verknüpfen, ebenso das spekulative Denken der Logik und das endliche Bewusstsein.“88 Wie sieht diese Verknüpfung aus? Drilo erläutert sie anhand von Hegels Transformation des ontologischen Gottesbeweises. „Hegels entscheidender und neuer Gedanke lautet: das Absolute existiert nur als das Denken seiner Selbstauslegung an der Stelle seines Andersseins.“89 Der Mensch ist die Realität Gottes, genauer: der Mensch, der den Gehalt des Gottesgedankens an seiner Stelle vollzieht. Ich werde auf diesen Gedanken im letzten Kapitel des dritten Teils näher eingehen, der vierte Teil stellt dann seine konkrete Entfaltung dar. Die Einsicht, dass der Mensch die Realität Gottes ist, impliziert eine Angewiesenheit Gottes auf den Menschen und genau das will Wagner Drilo zufolge mit seiner Interpretation der Wissenschaft der Logik zum Ausdruck bringen. „Der Gedanke der symmetrischen Anerkennung von Gott und Welt und die Angewiesenheit des begrifflich-seinslogischen Gottesgedankens auf den konkreten Vollzug durch das menschliche Individuum ist für Wagner das Eigentümliche der Wissenschaft der Logik, zugleich aber auch das Eigentümliche des Christentums.“90
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DANZ/MURRMANN-KAHL, Theologie, 3. Gegen DANZ/MURRMANN-KAHL, Theologie, 6. 85 DRILO, Kritik; AXT-PISCALAR, Religionskritik. 86 So der Untertitel seines Aufsatzes. 87 Dabei handelt es sich um: WAGNER, Theo-Logik und DERS., Neukonstitution. Siehe dazu Teil 3, Kap. III und die Tabelle in Kap. I dieser Einleitung. 88 DRILO, Kritik, 142. 89 DRILO, Kritik, 148. 90 DRILO, Kritik, 150f. Vgl. auch ebd., 152: „In seiner theologischen Interpretation der Wissenschaft der Logik betont Wagner zu Recht die zentrale Bedeutung des darin enthalte84
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Interessant ist nun aber vor allem die Kritik, die Drilo an Wagners Interpretation äußert. Drilo kritisiert, dass Wagner zwischen dem Gedanken der Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins und seiner Realisierung durch ein externes Andersseins unterscheidet. An dieser Stelle kann auch auf den Aufsatz Kurt Walter Zeidlers verwiesen werden, der einen ähnlichen Vorwurf zu formulieren scheint, wenn er darauf hinweist, dass Wagner „letztlich an der Differenz von Denken und Sein“ festhalte.91 Drilo macht darauf aufmerksam, dass Wagners Rede von einem externen Anderssein, das Gott auf selbständige Weise realisiert, Hegel nicht gerecht wird. Offenbar zeigt sich hier eine entscheidende Differenz zwischen Hegel und Wagner. Für Drilo resultiert aus dieser Differenz auch Wagners späte Einsicht, dass eine Theorie des Absoluten zum Scheitern verurteilt sei. Hinzuweisen ist an dieser Stelle allerdings darauf, dass Wagner bereits 1982 Hegel dafür kritisieren kann, dass er die Selbständigkeit des Andersseins nicht genügend berücksichtigt, und zwar schon ‚in‘ Gott selbst nicht. Denn Hegels Lehre von der immanenten Trinität laufe letztlich auf einen Subordinatianismus hinaus.92 Es ist also eine Grundintention Wagners, die Selbständigkeit des Andersseins zu wahren. Drilo beschreibt die Differenz zwischen Hegel und Wagner nun folgendermaßen: „Die Angewiesenheit des Gottesgedankens auf das welthaft-menschliche Anderssein ist für Hegel keine bloße ‚Idee‘, die zunächst nur in Gedanken existiert und dann durch eine ‚externe‘ Anerkennung (sozusagen einen individuellen Entschluss, das Gedachte zu verwirklichen) realisiert werden muss. Hegels spekulative Philosophie braucht kein ‚Außerhalb‘, auf das sie sich beziehen müsste, denn sie entwickelt nicht ein Verfahren, das von dem ‚außerhalb‘ stehenden endlichen Bewusstsein erst zu realisieren wäre. Ihre Aufgabe ist es gerade, diese Trennung als Schein zu entlarven.“93
Sollte damit Hegels Intention angemessen wiedergegeben sein, dann besteht tatsächlich eine tiefe Differenz zwischen ihm und Wagner. Und sie lässt sich nicht erst beim späten Wagner nachweisen, sondern steht im Zentrum seiner spekulativen Hochphase. Denn Wagner geht es ja gerade darum, eine Theorie des Absoluten zu entwerfen, die einer Position außerhalb des Absoluten zu ihrem Recht verhilft. Dieses Ziel lässt sich an vielen Formulierungen festmachen.94 Dass Wagner an diesem Ziel auch gegen Hegel festhält, zeigt vor nen Konzepts der Angewiesenheit des Gottesgedankens auf das endliche menschliche Bewusstsein.“ 91 ZEIDLER, Protestantismus, 217. 92 WAGNER, Inhalt [WiTh], 270. 93 DRILO, Kritik, 153. 94 Stellvertretend seien hier nur die zwei von Wagner so genannten ‚Grundprobleme‘ der Christologie angeführt, die Frage lautet hier „wie aus der trinitarischen Subjektivität Gottes (immanente Trinität) das Anderssein Gottes so entwickelt werden kann, daß dieses dann als selbständiges Anderssein außerhalb der absoluten Subjektivität Gottes realisiert werden kann“ (WAGNER, Christologie-VL, 361).
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Einleitung
allem eins: Wagner ist zuerst christlicher Theologe und erst dann Hegelianer, wenn denn die Grundidee des Christentums lautet, dass der Mensch „als freies Subjekt anerkannt“ ist.95 Was das Verhältnis Wagner – Hegel so kompliziert werden lässt, ist Wagners Meinung, er könne diese Grundidee gerade mit den Mitteln der hegelschen Philosophie rechtfertigen. Wohin demgegenüber ein ‚konsequenter‘ Hegelianismus führen kann, wird an Drilos Bemerkungen zu Hegel deutlich, die sich an seine Wagner-Kritik anschließen. Er weist darauf hin, dass „[d]er endliche Geist (das endliche Bewusstsein) […] bei Hegel als ein ‚Mittel‘ der Selbstverwirklichung des absoluten Geistes“ erscheine.96 Entscheidend sei ein „Perspektivwechsel“, auf den auch Wagner mit seiner Rede von der ‚Umkehr der Blickrichtung‘ hinweise. „Dieser Perspektivwechsel (bzw. die Umkehr der Blickrichtung) bedeutet: ‚Wir‘ denken nicht mehr über die absolute Idee nach, sondern es ist die absolute Idee selbst, die durch ‚uns‘ denkt und lebt.“ Dieser konsequente Hegelianismus erscheint dann aber identisch mit dem von Wagner so scharf kritisierten Barthianismus, der es eben nicht schafft, die Selbständigkeit des Individuums zu wahren. Dass Wagner Drilo vorwerfen könnte, dass seine Hegeldeutung der Logik absoluter Selbstbestimmung verhaftet bleibt, lässt sich auch am Text selbst festmachen. Denn bei der Darstellung der Gottesbeweise97 sieht Drilo nicht, dass Wagner drei Versionen unterscheidet: den kosmologischen, den reformulierten kosmologischen und den ontologischen Beweis.98 Vielmehr hält er den reformulierten kosmologischen Beweis, der in Wagners System auf der gleichen Ebene wie Barths Theologie angesiedelt ist, fälschlicherweise bereits für den ontologischen Beweis: „Die Voraussetzung des kosmologischen Beweises, das endliche Sein, wird in der Begriffslogik so gedacht, dass es mit der absoluten Notwendigkeit zusammenfällt. Das endliche Sein ist nichts anderes als die Selbstvoraussetzung der absoluten Notwendigkeit.“99 Was hier geschildert wird, ist nach Wagners Interpretation nicht das begriffslogische, sondern erst das wesenslogische Modell des Gottesgedankens, dem eben der reformulierte kosmologische Gottesbeweis entspricht und das Wagner als pantheistisch bezeichnet. Axt-Piscalar will das Scheitern einer Theorie des Absoluten in Wagners Spätwerk konstruktiv lesen: „In diesem Scheitern bringt sich der Wahrheitsgehalt der christlichen Religion und der christlichen Theologie gegen die spekulative Theorie des Absoluten in Geltung.“100 Diese These erweckt allerdings den Anschein eines Gegensatzes von philosophischer und christlicher 95
WAGNER, Friedensfähigkeit [RG], 530. DRILO, Kritik, 154. 97 Vgl. DRILO, Kritik, 147f. 98 Siehe dazu unten Teil 3, Kap. III.1. 99 DRILO, Kritik, 147f. 100 AXT-PISCALAR, Religionskritik, 112. 96
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Theologie; letztere ist dann nur negativ auf den Gottesgedanken der Vernunft bezogen, eine Annahme, die Wagner immer entschieden zurückgewiesen hat. Zudem findet sich auch am Ende von Wagners Denkweg eine Theorie des Absoluten, das nun allerdings prädikativ aufgefasst wird. Dieser prädikative Gott ist für Wagner aber immer noch der Gott der Vernunft und des Christentums. Axt-Piscalar macht dann im Abschluss an Wolfhart Pannenberg zwei Einwände gegen Wagner geltend. Einmal übernehme Wagner von Hegel auch den „Gedanken der Notwendigkeit der Selbstentfaltung des Absoluten“. Die Folge sei, dass es Wagner nicht gelinge, die Selbständigkeit des von Gott Unterschiedenen zu wahren.101 Zweitens unterscheide Wagner nicht zwischen „Gott und [dem] Gottesgedanken, wie er im menschlichen Bewusstseins konzipiert wird.“ Die Autorin meint, dass Wagner erst in seiner späten Phase eben diese Unterscheidung explizit gemacht habe.102 Beide Einwände müssen bedacht werden. Von beiden meine ich allerdings auch zeigen zu können, dass sie Wagner nicht treffen. Auf eine Spannung sei hier bereits hingewiesen. Die Aussage, dass der späte Wagner „von der Einsicht in den Unterschied zwischen dem Gedanken Gottes und der Wirklichkeit Gottes eingeholt worden“ sei,103 dass er also nun, so könnte man doch auch formulieren, zwischen dem Gott an sich und dem Gott für uns differenziert, erscheint nur schwer vereinbar mit einer anderen Beobachtung zum Spätwerk Wagners: „Bei Wagner scheint das Scheitern des Absoluten zu einer gänzlichen Entäußerung des Absoluten an die Anerkennungspraxis der Individuen zu führen.“104 Dieser letzte Satz gibt m.E. den Grundzug von Wagners Spätwerk angemessen wieder; ich gehe zudem davon aus, dass bereits Wagners ‚Münchener Theologie‘ Motive enthält, die zu ihm hinführen. In der Annahme, dass es bestimmte „Grundintentionen“105 gibt, die Wagners gesamte Schaffensphase prägen, stimme ich mit Axt-Piscalar überein. Neuere Interpretationen zur Christologie Wagners liegen von Christian Danz, Michael Murrmann-Kahl und Jörg Dierken vor.106 Es sind vor allem zwei Aspekte, die für Danz an Wagners Christologie von bleibendem Interesse sind: erstens „die Funktion der Christologie für die Theologie“, wie sie Wagners Wiener Christologie-Vorlesung beschreibe und zweitens „die Bindung der Religion an individuelle Vollzüge“, die insbesondere das Spätwerk zum Thema mache.107 Die beiden Aspekte sollen damit die Wende in Wagners theologischem Denken verdeutlichen – weg von der spekulativen Theo101
AXT-PISCALAR, Religionskritik, 118f.; 127f. (Zitat 118). AXT-PISCALAR, Religionskritik, 119; 129 (Zitat 119). 103 AXT-PISCALAR, Religionskritik, 129. 104 AXT-PISCALAR, Religionskritik, 131. 105 AXT-PISCALAR, Religionskritik, 112. 106 DANZ, Selbstexplikation; vgl. auch: DERS., Grundprobleme, 173–176; MURRMANNKAHL, Komplexität; DIERKEN, Christologie. 107 DANZ, Selbstexplikation, 135. 102
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Einleitung
Logie hin zu einer empirisch fundierten Religionssoziologie. Im Spätwerk, dem die Christologie-Vorlesung von 1989 noch nicht zuzurechnen sei,108 übe die Christologie eine Funktion für die religiösen Individuen aus: „Die Funktion der Christologie für die Theologie verschiebt sich [in] den späten Schriften Wagners in die für die Selbstauslegung der religiösen Individuen.“109 Wie ist es nun zu verstehen, dass die Christologie eine Funktion ausübt, einmal für die Theologie, das andere Mal für das religiöse Individuum? Im ersten Fall lese ich Danz so, dass es in der Christologie um den Aufbau eines theologischen Selbstbewusstseins geht. Ich werde Danz’ Hinweis, dass sich in der Christologie die Theologie selbst thematisiert,110 so aufgreifen, dass mit Jesus Christus der Begriff eines Menschen expliziert wird, in dem sich Gott wiedererkennen kann; Selbstthematisierung identifiziere ich also mit Selbstoffenbarung. Steht Gott bei Wagner für den Gedanken der Freiheit, dann wird man auch sagen können, dass es in der Christologie um die Manifestation freien Menschseins geht.111 Der freie Mensch ist der Gott entsprechende Mensch – wobei hier freilich alles darauf ankommt, dass diese Freiheit als vermittelte Selbstbestimmung gefasst wird. Welche Funktion nun aber die Christologie für die Individuen ausübt, wird bei Danz nicht wirklich klar. Seine Bemerkung, die Christologie transformiere sich nach der Wende „vollständig in den pneumatologisch-sozialethischen Realisierungszusammenhang“112, scheint eher andeuten zu wollen, dass der Christologie eine eigenständige Rolle im Spätwerk gerade nicht mehr zukommt. Dieser Einschätzung widerspricht jedoch Wagners späte Religionstheorie, wie er sie vor allem in der Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann entwickelt hat113. Zudem vermisst man bei Danz den Hinweis, dass Wagner die Religion der Individuen nicht nur positiv sieht, sondern dass sie vor allem auch ein Krisensymptom der modernen Welt darstellt, ein Umstand, den zu Recht AxtPiscalar hervorgehoben hat.114 Eine Fülle wichtiger Hinweise zu Wagners Christologie findet sich bei Murrmann-Kahl. Aufgreifen werde ich etwa die Bemerkung, dass Wagner 108
Vgl. auch MURRMANN-KAHL, Komplexität, 164f. DANZ, Selbstexplikation, 143; vgl. ebd., 140: „Die religiösen Gehalte hab nun [in den Metamorphosen] eine Funktion für die individuelle Religion bzw. für ‚den Aufbau und die Auslegung einer sich religiös verstehenden Individualität‘ und nicht mehr für die Theologie wie noch in der Wiener Vorlesung über die Christologie vom Anfang der 1990er Jahre.“ 110 DANZ, Selbstexplikation, 136. 111 DANZ, Grundprobleme, 175: „Die dogmatisch-christologischen Vorstellungsgehalte bezieht Wagner auf die Begründung einer Freiheit, die sich in wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen realisiert.“ 112 DANZ, Selbstexplikation, 143. 113 Vgl. Teil 4, Kap. III.1. 114 Vgl. AXT-PISCALAR, Religionskritik, 129. 109
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trotz aller Verschiebungen in seinem Werk einen Gedanken niemals aufgeben habe: dass ‚Jesus Christus‘ für ein Selbstbewusstsein steht, „das an sich selbst die Einheit von besonderem und allgemeinem Selbstbewusstsein repräsentiert.“115 Die Idee einer Einheit von Selbst- und Anderssein bildet das Fundament von Wagners Theologie, auf dem sich auch seine Überlegungen z.B. zum Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen noch bewegen. An Murrmann-Kahls Ausführungen wird sodann besonders deutlich, dass es Wagner in seiner Christologie gerade um das ‚starke Anderssein‘ geht. Die Grundbewegung sieht so aus, dass Gott ein „zunächst unbestimmte[s] Anderssein“116 setzt, das dann auf selbständige Weise die Struktur der Subjektivität aufbaut. „Auf diesem Wege kommt Wagner dem selbstgestellten Anspruch nach, alles aus Gott, aber das aus Gott Erklärte zugleich als selbständig gegenüber Gott zu denken.“117 Murrmann-Kahl hebt zudem hervor, dass Wagner in der Wiener Christologie-Vorlesung von 1989 trotz des spekulativen Ansatzes seiner Christologie an der „Mittlerrolle Jesu“118 festhalte, während er sie in seiner späteren Christologie, wie sie in der (nicht publizierten) Vorlesung von 1993 zu fassen sei, aufgebe.119 Hier stehe die Christologie für nichts anderes als die Erkenntnis des Menschen, dass der Gottesgedanke der Allmacht zum Scheitern verurteilt und ihm selbst die Realisierung der göttlichen Struktur der Anerkennung aufgegeben sei. M.E. ließe sich allerdings der Einwand, beim späten Wagner werde die Christologie zur „Kopie der TheoLogie“120, auch auf seine früheren Texte beziehen. Deutlich wird das u.a. an den Ausführungen von Danz, der die Funktion der frühen Christologie ja gerade als Selbstthematisierung der Theologie beschreibt. Zu überlegen wäre außerdem, ob nicht schon Wagners Kritik an der religiösen Vorstellung als eine Absage an jede selbständige Christologie zu begreifen ist. Wichtig ist schließlich Murrmann-Kahls Unterscheidung von drei christologischen Modellen bei Wagner.121 Wagner christologische Überlegungen bedienen sich, so Murrmann-Kahl, verschiedener „Theoriemodelle“, die man mit den Begriffen „Selbstbewußtsein, Subjektivität und Intersubjektivität (Anerkennung)“ bezeichnen könne.122 Diesen Theoriemodellen entspreche „in der 115
MURRMANN-KAHL, Komplexität, 162. MURRMANN-KAHL, Komplexität, 167. 117 MURRMANN-KAHL, Komplexität, 167. Vgl. auch die Betonung des Moments der Eigentätigkeit ebd., 169. 118 MURRMANN-KAHL, Komplexität, 169. Vgl. die Rekonstruktion ebd., 167f. 119 MURRMANN-KAHL, Komplexität, 173. Vgl. ebd., 185. 120 MURRMANN-KAHL, Komplexität, 174. 121 Vgl. MURRMANN-KAHL, Komplexität, 176–179. 122 MURRMANN-KAHL, Komplexität, 178. Der Beispieltext für das erste Modell ist der Christologie-Aufsatz von 1975, das zweite Modell findet sich in der Vorlesung von 1989, das dritte im ‚Antinomie‘-Aufsatz (WAGNER, Tod; dazu vgl. MURRMANN-KAHL, Komplexität, 172f.). 116
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Einleitung
Gotteslehre Wagners Weg von der Substanz über die Subjektivität zum Prädikat.“123 Angesichts dieses Weges muss man sich m.E. allerdings weniger Sorgen um die Selbständigkeit der Christologie, als vielmehr um die von Wagner ursprünglich intendierte Selbständigkeit des Gottesgedankens machen.124 Man kann die Ablösung einer selbständigen Christologie durch die Logik der Anerkennung kritisch betrachten, man kann aber auch die These vertreten, dass Wagners Christologie immer schon auf Selbstüberschreitung angelegt ist. Davon geht Dierken aus, wenn er notiert, dass „die Christologie in den Spuren Wagners immer zugleich als Pneumatologie zu lesen“ sei.125 Der Inkarnationsgedanke ziele bei Wagner auf den Vollzug „selbstbestimmter Sittlichkeit, und diese steht gleichsam für eine soteriologische Teilhabe am Absoluten.“126 Gestalten die Menschen ihren Weltumgang nach dem Prinzip wechselseitiger Anerkennung, dann ist Gott in ihnen gegenwärtig. In der Christologie gehe es somit nicht um den historischen Jesus, sondern um einen „idealen Normbegriff“127, um die „innere Sollensdimension“128 des menschlichen Weltumgangs. Die Selbständigkeit der Christologie besteht dann darin, so ließe sich Dierken interpretieren, dass sie den Menschen mit einem Ideal konfrontiert, das zugleich den Anspruch erhebt seine Wirklichkeit zu sein, die der Mensch bisher allerdings nur unzureichend realisiert hat.129 Zu Recht weist Dierken darauf hin, dass die Christologie zwar auf den Vollzug von Anerkennung ziele, selbst aber lediglich den „Begriff des Vollzugs“130 repräsentiere. Diese Unterscheidung zwischen dem Begriff des Vollzugs und dem Vollzug selbst spiegelt sich in Wagners System in der Unterscheidung von Begründungs- und Realisierungszusammenhang wider. Dierken vertritt die 123
MURRMANN-KAHL, Komplexität, 184f. Dies wird an der von MURRMANN-KAHL beschriebenen Antinomie des Gottesgedankens besonders deutlich: „entweder supranaturalistisch gedachter Allmachtsgott (Antithese) oder entsubstantialisiertes Göttliches (These)!“ (MURRMANN-KAHL, Komplexität, 172). Vgl. DANZ, Selbstexplikation, 143: „In den Aufstellungen des späten Wagner scheint der Gottesgedanke entweder lediglich als absolute Substanz oder als Prädikat für die Logik der wechselseitigen Anerkennung zu fassen zu sein. Tertium non datur.“ 125 DIERKEN, Christologie, 192. 126 DIERKEN, Christologie, 193. 127 DIERKEN, Christologie, 200. 128 DIERKEN, Christologie, 193. 129 Vgl. insbesondere DIERKEN, Christologie, 200, Anm. 31. Dabei muss m.E. festgehalten werden, dass das christologische Ideal nicht etwa von außen an den Menschen herangetragen wird, sondern die Wahrheit der Verhältnisse darstellt, in denen er sich immer schon vorfindet. Denn Wagner leitet die symmetrische Verhältnis ja gerade aus dem Scheitern der asymmetrischen Verhältnisse ab, die die Gegenwart beherrschen. Vgl. etwa STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 170 (s. dazu auch den folgenden Abschnitt zur Pneumatologie). 130 DIERKEN, Christologie, 200. 124
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Auffassung, dass der späte Wagner die Christologie mit den „sittlichen Anerkennungsvollzügen“ in eins setze. Dies würde dann allerdings wieder der These vom Verlust einer selbständigen Christologie im Spätwerk entsprechen. Demgegenüber meine ich, dass Wagner zwar den trinitarischchristologischen Begründungszusammenhang in seiner positiven Variante tatsächlich aufgibt, an einem negativen Begründungsgang (in dem auch die Christologie weiterhin ihren Ort hat) jedoch weiterhin festhält. In diesem Sinn beschreibt auch Ewald Stübinger den Unterschied zwischen dem sog. Früh- und Spätwerk: „Der Unterschied zwischen dem frühen und dem späten Wagner besteht vor allem in der Frage, ob eine spekulativbegriffliche Genetisierung und Begründung symmetrischer Verhältnisse auf der Basis einer an Hegels Wissenschaft der Logik orientierten Theorie des Absoluten möglich ist – so bekanntlich die Überzeugung des frühen Wagner –, oder ob begrifflich-genetisch lediglich das Scheitern von absoluter Selbstbestimmung aufgezeigt werden kann, was zur Konstituierung von reziproksymmetrischen Beziehungsweisen auf welthaft-irdischer Ebene führt.“131 Neben Christian Danz ist es vor allem Ewald Stübinger, der sich mit Wagners Pneumatologie bzw. Sozialethik beschäftigt hat.132 Deutlich wird an dem Zitat Stübingers auch, dass es Wagner im Früh- wie im Spätwerk um die Verwirklichung symmetrischer (Anerkennungs-)Verhältnisse geht. Stübinger betont diese Kontinuität133, ja er geht davon aus, dass man die Anerkennung als „das beherrschende Thema im Denken Wagners“134 bezeichnen könne. An diese These, die ich für zutreffend halte, ließe sich die Frage anknüpfen, welche symmetrischen Verhältnisse Wagner jeweils beschreibt: während Wagner den Begriff der Anerkennung zumeist auf die Verhältnisse Gott – Mensch/ Welt und Mensch – Mensch anwendet, erwecken seine spätesten Schriften den Anschein, dass er ihn jetzt nur noch für die Beschreibung von Verhältnissen im zwischenmenschlichen Bereich bzw. des Verhältnisses von Individuum und Institution, nicht aber für die Beschreibung des menschlichen Gottesverhältnisses heranzieht. In jedem Fall gilt aber, dass die Kritik am „klassischen Gottesbegriff der Theologie“135, der ein asymmetrisches Verhältnis zum Ausdruck bringt, ein durchgängiges Motiv des Wagnerschen Denkens darstellt. Stübinger vergleicht in seinem Aufsatz Wagners Überlegungen zur Anerkennung mit der Anerkennungstheorie Axel Honneths. Gegen letztere, die man als eine „subjektzentrierte“ Anerkennungstheorie bezeichnen könne, 131
STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 171. DANZ, Sozialethik; DERS., Protestantismus; STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse; DERS., Christologie; DERS., Ökonomie. 133 Vgl. STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 169. 134 STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 163. 135 STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 170. 132
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werde häufig eingewendet, dass sie „blind […] gegenüber systemimmanenten Asymmetrien und Ungleichheiten“ sei.136 Wagner hingegen entfalte eine rein begriffliche Anerkennungstheorie (eine Theorie der Subjektivität), die er erst nachträglich auf das konkrete Subjekt anwende. „Vereinfacht ausgedrückt ist Honneths Anerkennungskonzept geprägt von einer ‚Subjekttheorie‘, das von Wagner demgegenüber von einer ‚Theorie der Subjektivität‘ als reziproksymmetrischer Beziehungsverhältnisse.“137 Ich verstehe Stübinger so, dass der Unterschied zwischen Honneth und Wagners darin zu sehen ist, dass letzterer gewissermaßen von einem absoluten Standpunkt aus argumentiert. Typisch für Wagners Ethik sei die „Zugrundelegung eines absoluten Maßstabs von Symmetrie, reziproker Anerkennung, Gleichheit“138. Absolut ist der Maßstab darum, weil er sich aus dem Scheitern des Gottesgedankens ergibt. „[D]er spezifische Beitrag der Theologie“ für eine Theorie der Anerkennung bestehe daher „im kritisch-selbstkritischen Aufweis des Scheiterns absoluter und asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse und der daraus sich ergebenden Konstituierung symmetrischer Anerkennungs- und Freiheitsverhältnisse.“139 Völlig zu Recht betont Stübinger, dass eine Anerkennungstheorie im Anschluss an Wagner als „Theorie der Wirklichkeit“ zu entwerfen sei.140 Diese globale Ausrichtung bringt Stübinger auch dadurch zum Ausdruck, dass er Wagners Ethik als eine „begriffliche Strukturethik“141 charakterisiert. In ihr gehe es um die Realisierung eines „logischen Prinzips“142, das Wagner als ‚Subjektivität‘ bezeichne. Das entscheidende am Begriff der Subjektivität sei, dass er sich auf alle möglichen und nicht etwa nur auf zwischenmenschliche Verhältnisse anwenden lasse.143 An Stübingers Ausführungen wird eines deutlich: Die Sozialethik, wie Wagner sie konzipiert und an der er auch im Spätwerk festhält, ist ohne den 136
STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 168. STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 170. 138 STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 174. 139 STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 174. 140 „Statt beim Subjekt, bei der Intersubjektivität, der kulturgeschichtlichen Wirkung oder bei der Kommunikation hebt eine solche Theorie bei der Wirklichkeit als ganzer an – und damit bei dem Bereich, für den der Gottesbegriff traditionellerweise steht. Auf diese Weise sind nicht nur normative Aussagen über Sozial- und Interpersonalitätsverhältnisse möglich, sondern auch darüber, dass diese mit der Wirklichkeit als ganzer kompatibel sind und nicht ein utopisches und illusionäres Sollen darstellen.“ (STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 177). 141 STÜBINGER, Ökonomie, 63. Ebenso DANZ, Sozialethik, 106.118. 142 STÜBINGER, Ökonomie, 63. 143 Vgl. STÜBINGER, Christologie, 223. Stübinger meint, dass Wagner letztlich deshalb vom Begriff des Selbstbewusstseins Abstand genommen und ihn durch den Begriff der Subjektivität ersetzt habe, weil ersterer noch zu sehr an das konkrete menschliche Subjekt erinnere; vgl. STÜBINGER, Christologie, 220, Anm. 30. Es gehe Wagner aber gerade um die Überwindung eines individualethischen Ansatzes; vgl. ebd., 223f. 137
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spekulativen Begründungszusammenhang nicht zu haben. Denn für das Prinzip vermittelter Selbstbestimmung, das im Zentrum seiner Sozialethik steht, beansprucht Wagner Allgemeingültigkeit; er geht davon aus, dass jeder gesellschaftliche Teilbereich auf dieses Prinzip ansprechbar ist. Die Allgemeingültigkeit wird im Spätwerk weiterhin auf spekulative Weise begründet, nämlich über den Nachweis des Scheiterns unmittelbarer Selbstbestimmung. Diesen Zusammenhang betont auch Danz in seiner Darstellung der Wagnerschen Sozialethik: „Der späte Wagner ermäßigt den begründungstheoretischen Status der spekulativen Theologie, verzichten kann er auf sie nicht, wenn anders an der Sozialethik als innerem Zielgedanken der Theologie festgehalten werden soll. Die Figur des Scheiterns des Absoluten übernimmt nun die Funktion das Prinzip von Subjektivität […] zu begründen.“144 Danz rekonstruiert Wagners sozialethischen Ansatz in drei Schritten. Den Ausgangspunkt bilde die Frage der Vermittelbarkeit von Theologie und Gesellschaft. Was muss gegeben sein, damit sich theologische Gehalte auf die Probleme der modernen Gesellschaft beziehen lassen? Danz zeigt auf, dass diese Fragestellung für Wagner im Laufe der Zeit zunehmend an Gewicht gewinnt.145 Dies hänge mit der intensivierten Rezeption der Systemtheorie zusammen. Die grundlegende Bedeutung systemtheoretischer Annahmen insbesondere für den pneumatologischen Realisierungszusammenhang wird zu berücksichtigen sein. Der zweite Schritt besteht nun darin, dass Wagner zur Lösung des Problems der Vermittelbarkeit eine „Beobachterebene zweiter Ordnung“146 einführe. Die besondere Leistung dieser Ebene sei es, das begriffliche Gerüst der theologischen Gehalte freizulegen. Zum Vorschein trete die Struktur der Subjektivität, der hohe Abstraktionsgrad ermögliche es zudem eine „Strukturäquivalenz“ aufzuzeigen, denn, so laute Wagners These, „[i]n dieser Struktur von Subjektivität […] stimmen Christologie und Gesellschaft überein.“147 Der dritte Schritt, der den Übergang zur eigentlichen Sozialethik markiert, sei nun als „Selbstanwendung der Christologie“ zu beschreiben. Gemeint ist, dass der freigelegte vernünftige Gehalt der Christologie (also die Struktur der Subjektivität) nun auch in der Gesellschaft realisiert wird. In diesem Sinn führe Wagner den Begriff des Geistes ein; er stehe für die „Realisierung des christologischen Selbstbewusstseins am Ort des individuellen und sozialen Weltumgangs“. Deutlich wird bei Danz: Wagner entfaltet die Sozialethik als
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DANZ, Sozialethik, 117. Auch die Kritik an der spekulativen Theologie im Spätwerk stellt natürlich „eine Form spekulativer Theologie dar, wenn auch mit negativem Vorzeichen“ (ebd.). 145 Vgl. DANZ, Sozialethik, 113ff. 146 DANZ, Sozialethik, 109. 147 DANZ, Sozialethik, 110. Danz selbst versucht eine solche Strukturäquivalenz dann am Beispiel der Wirtschaft zu plausibilisieren, vgl. ebd., 120f.
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Einleitung
eine „theologische Theorie der modernen Gesellschaft“148 und wie schon bei Dierken und Stübinger zeigt sich auch hier der hohe normative Anspruch dieser Theorie. Es wird allerdings zu fragen sein, ob und wie es gelingen kann, diesen „normativen ethischen Zielgedanken“ mit Wagners „Anerkennung der Eigenständigkeit des gesellschaftlichen Andersseins“149 zum Ausgleich zu bringen, die Danz ebenfalls und zu Recht betont. In der Forschung wird generell davon ausgegangen, dass sich in Wagners theologischem Denken eine ‚Wende‘ beobachten lasse. Von Wagner selbst stammt die Bemerkung, dass er mit dem Wechsel nach Wien von einer Theorie des Absoluten im Hegelschen Sinn zunehmend Abstand genommen und schließlich „so etwas wie eine empirisch-historische Wende vollzogen“150 habe. Ulrich Barth, der die Akzentverlagerungen in Wagners Werk sorgfältig analysiert hat,151 vertritt die Auffassung, dass in Wagners Spätwerk die (Religions-)Soziologie zur neuen Leitwissenschaft aufsteige: „Der Maßstab der von der Theologie zu erbringenden Anschlußrationalität hat sich verschoben. Er ist übergangen von der spekulativen Theologie auf die sozialwissenschaftliche Analyse der modernen Gesellschaft.“ 152 Dass es Verschiebungen in Wagners Theologie gegeben hat, dass man also zwischen einem ‚Frühwerk‘ und einem ‚Spätwerk‘ oder zwischen einem ‚Münchener‘ und einem ‚Wiener‘ Wagner sinnvoll unterscheiden kann, dürfte sich kaum bestreiten lassen.153 Ich gehe in dieser Arbeit aber davon aus, dass sich auch dann, wenn 148 DANZ, Sozialethik, 116. Danz kann auch von einer „umfassenden Theorie der sozialen Wirklichkeit des Menschen“ oder von einer „Theorie der menschlichen Freiheit und ihrer soziokulturellen Realisierungsbedingungen“ sprechen (DANZ, Protestantismus, 151f.). 149 DANZ, Sozialethik, 113. 150 WAGNER, Selbstdarstellung, 296. 151 Vgl. BARTH, Umformungskrise. 152 Ebd., 182. Vgl. ebd., 173. Vgl. auch den Titel, den Hermann Fischer seiner Darstellung der Wagnerschen Theologie gegeben hat: „Von der spekulativen Theologie in der Nachfolge Hegels zu einem empirisch-soziologischen Verständnis von Religion“ (FISCHER, Theologie, 255). 153 M. Murrmann-Kahl hat die Veränderungen in Wagners Denken jüngst anhand der verschiedenen Hegelinterpretationen untersucht (vgl. MURRMANN-KAHL, Umorientierung). Während in den Münchener Texten eine positive Bezugnahme auf Hegel vorherrsche, finde sich vor allem im späten Aufsatz Absolute Notwendigkeit (vgl. WAGNER, Notwendigkeit) eine kritische Neubewertung zentraler Gedankengänge der Wissenschaft der Logik. Während Wagner bisher Hegel auf seinem „Weg vom Ende der Wesens- in die Begriffslogik“ gefolgt sei, an dessen Ende der entscheidende Gedanke der Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins steht, werde jetzt „das Ergebnis des Wesenslogik Hegels als unaufhebbarer Schlusspunkt der logischen Entwicklung im geraden Gegensatz zu Hegel selbst festgeschrieben“ (MURRMANN-KAHL, Umorientierung 78f.). Das hat für Murmann-Kahl zur Folge, dass die späte Wagnersche Formel einer ‚Kopräsenz von Selbstund Anderssein‘ auf einer anderen Ebene stehen muss als die frühere Rede von der ‚Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins‘ (vgl. ebd., 79, Anm. 39 und S. 85). Die
II. Forschungsüberblick
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man Wagners Texte synchron liest, ein schlüssiges Gesamtbild seiner Theologie ergibt. Anders als Barth bin ich aufgrund der synchronen Lesart z.B. nicht gezwungen, Wagners kritische und würdigende Bemerkungen gegenüber der Religionstheologie verschiedenen Schaffensphasen zuzuordnen.154 In meiner Perspektive arbeitet Wagner mit seiner Darstellung des religionstheologischen Ansatzes ein notwendiges Element im Aufbau eines genuin christlichen Begriffs von Freiheit heraus (dies ist die positive Funktion der Religionstheologie), seine Kritik besitzt sich dann auf die Verabsolutierung dieses Ansatzes. Ich sehe bei Wagner daher auch weniger die Konkurrenz, als vielmehr den Versuch einer Vermittlung von theo-logischem und soziologischem Denken. Entsprechend versuche ich zu zeigen, dass seine Rekonstruktion theologischer Positionen immer mit der Darstellung entsprechender sozialgeschichtlicher Entwicklungen verbunden ist. Die These der vorliegenden Arbeit lautet, dass es Wagner letztlich immer darum ging, einen Begriff von Freiheit zu entwickeln, der vermeintlich gegensätzliche Perspektiven und Ansätze zu integrieren vermag.
Formel der ‚Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins‘ ergibt sich bei Wagner jedoch aus einer affirmativen Lesart der Wechselwirkung und ich meine, dass Wagner die Formel von der ‚Kopräsenz‘ auf demselben Weg gewinnt (vgl. z.B. WAGNER, MM, 163: Hier kann die Einsicht in die „Unterschiedslosigkeit“ von Gott und Mensch einerseits zu einem bloßen „Austausch des Machtpersonals“ (ebd., 164) führen, oder aber sie kann anderseits den Übergang zur „Logik der Anerkennung“ (ebd.) nach sich ziehen. Diese beiden Alternativen entsprechen m.E. der negativen und affirmativen Lesart der Wechselwirkung, die sich in den Münchener Texten findet.) Vgl. dazu Teil 3, Kap. I.1 und Teil 4, Kap. III. Den entscheidenden Unterschied zwischen der ‚Selbstexplikation an der Stelle des Anderssein‘ und der ‚Kopräsenz von Selbst- und Anderssein‘ erblicke ich darin, dass die zweite Formel das Moment der Differenz stärker betont – ohne freilich das Moment der Einheit aufzugeben. 154 Nach Barth lässt sich bei Wagner eine „positive[] Neubewertung“ der Religionstheologie beobachten, die auf seine Rezeption „der religionssoziologischen Modernisierungsdebatte“ zurückzuführen sei (BARTH, Umformungskrise, 177).
Erster Teil I. Die Religionstheologie I. Die Religionstheologie
1. Von der vorneuzeitlichen Theologentheologie zur modernen Theologie des religiösen Bewusstseins a) Darstellende Theologie – Wagners Deutung des Altprotestantismus Kennzeichen vorneuzeitlicher Theologie ist, dass es sie in gewisser Hinsicht noch gar nicht gibt. Bei Johann Gerhard etwa, den Wagner mit Vorliebe heranzieht, um das altprotestantische Theologieverständnis zu erläutern, umfasst der Theologiebegriff jede Bezugnahme auf den christlichen Gott. Der Glaube des Einzelnen, die Verkündigung der Kirche und die Darstellung der christlichen Lehre durch die Wissenschaft – alles ist gleichermaßen Theologie. Damit „erscheint die kirchliche Welt des Altprotestantismus als eine Versammlung von Theologen.“1 Dass in der Welt der Altprotestanten jeder Christ auch Theologe ist, erklärt sich für Wagner aus dem Umstand, dass Gerhard Theologie als Lehre auffasst. Diese Lehre verfolgt ein bestimmtes Ziel, sie soll den Menschen zum ewigen Leben führen. Dem „lehrhaften Charakter der Theologie“2 entspricht es, dass auch der Glaube als ein intellektueller Vorgang identifiziert wird. Der Glaube ist eine Form von Erkenntnis, eben die Erkenntnis, die den Menschen zum ewigen Leben führt. Zwischen der Glaubenserkenntnis des einfachen Christen und dem Wissen des Theologen besteht also im Prinzip kein Unterschied; beides ist ein Fall von Theologie, insofern diese das „Geschehen der Vergegenwärtigung des göttlichen Wortes in menschlicher Erkenntnis und Lehre“3 meint. Wenn alle Theologen sind, dann stellt sich die Frage, was eigentlich das Spezifikum desjenigen Tätigkeitsfeldes ausmacht, das gemeinhin als wissenschaftliche Theologie bezeichnet wird. Mit anderen Worten: wie kann an der Grundthese des Altprotestantismus, der „Einheit von Glaube und Theolo-
1
WAGNER, MM, 23. WAGNER, MM, 23. 3 WALLMANN, Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt, Tübingen 1961, zitiert nach: WAGNER, MM, 23. 2
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Erster Teil
gie“4, festgehalten werden, „wenn die besondere Eigenart der speziell wissenschaftlichen Theologie thematisiert werden soll?“5 Da auch die Glaubenserkenntnis des Einzelnen Theologie sein soll, kann der Unterschied zwischen ihr und der wissenschaftlichen Theologie nur ein gradueller sein. Glaubenserkenntnis, kirchliche Verkündigung und wissenschaftliche Theologie markieren verschiedene Punkte auf derselben Theologieskala. Dies geht, weil der Altprotestantismus nach Wagner auch den Glauben und die Verkündigung als intellektuelle Vorgänge versteht. So können die Unterschiede zwischen den drei Theologien „als intellektuell bedingte Sachdifferenzen interpretiert werden, die einzig und allein den mehr oder weniger elaborierten Umgang mit der christlichen Glaubenslehre betreffen.“6 An Gerhard ist dann die Frage zu richten, warum es überhaupt eine Theologieskala gibt. Wie kommen in der altprotestantischen Theologenwelt die Unterschiede zustande, warum weiß der eine mehr als der andere? Am Gegenstand kann es nicht liegen; das Wissen aller Theologen speist sich aus der gleichen „übernatürliche[n] Quelle des Schriftprinzips“7. Der elaboriertere Umgang des wissenschaftlichen Theologen lässt sich nicht dadurch erklären, dass ihm noch weitere Erkenntnisquellen zur Verfügung stehen, zu denen der Laie keinen Zugang hat. Wenn sich das Mehr oder Weniger innerhalb der Theologie nicht auf eine Pluralität von Erkenntnisgegenständen zurückführen lässt, dann muss sich der Blick auf die Ebene des subjektiven Erkenntnisvollzugs richten. Erkennen ist ein Tun und für Gerhard unterscheidet sich das Tun des wissenschaftlichen Theologen vom Tun des einfachen Gläubigen. Ersteres besteht in der Darstellung der vorgegebenen Inhalte, während man bei der Glaubenserkenntnis, die mit den Begriffen ‚notitia‘ und ‚assensus‘ charakterisiert wird,8 vielleicht von einem hinnehmenden Tun reden könnte. Diejenigen Theologen, die die vorgegebenen Inhalte nicht bloß rezipieren, tun dies aufgrund einer besonderen „Fertigkeit oder Geschicklichkeit“, die sie dazu ermächtigt, „die ‚doctrina de deo‘, nämlich ‚das im Glauben gegebene Wissen von Gott‘ in der Form der wissenschaftlich-theologischen ‚Gottesgelehrsamkeit‘“ darzustellen.9 Wissenschaftliche Theologie ist demnach eine tiefere Form von Glaubenserkenntnis. Dass es sich gleichwohl in beiden Fällen – also sowohl bei der ‚schlichten‘ Glaubenserkenntnis als auch bei der Gottesgelehrsamkeit – um die gleiche Art von Erkenntnis handelt, wird dadurch sichergestellt, dass sich die Erkenntnis hier wie dort dem Handeln Gottes 4
WAGNER, MM, 26. WAGNER, MM, 24. 6 WAGNER, MM, 23. 7 WAGNER, MM, 24. 8 WAGNER, MM, 22. 9 WAGNER, MM, 24. 5
I. Die Religionstheologie
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verdanken soll und es sich insofern um theologische Erkenntnis handelt. „Die praktische Fähigkeit bzw. Geschicklichkeit der Theologie ist weder erworben noch angeboren, sondern sie ist durch Gott gewirkt, womit die theologische Gelehrsamkeit einen einzigartigen Erkenntnisanspruch anmeldet.“10 Es gibt, so könnte man Wagners Interpretation der altprotestantischen Theologie zusammenfassen, die eine seligmachende Wahrheit, die der wissenschaftliche Theologe darstellt, die der Prediger verkündigt und die der Christ eben glaubt. Die behauptete Einheit dieses Modells, in dem jeder Christ ein Theologe und jeder Theologe ein Christ ist, meint Wagner jedoch als „Fiktion“11 entlarven zu können. In diesem Modell verläuft ein unbemerkter Bruch durch die Theologenwelt. Auf der einen Seite stehen die, die den Traditionsstoff neu zur Darstellung bringen. Dabei fügt sich der Traditionsstoff der Logik der Darstellung, indem er z.B. mittels der analytischen Methode „in eine bestimmte Ordnung“ 12 gebracht wird. Das darstellende Tun verändert also den vorgegebenen Inhalt, es erschafft ihn in gewisser Weise neu.13 Dem neuen Inhalt wohnt die Logik des darstellenden Tuns inne, er trägt jetzt die Signatur seines Autors. Aus der vorgegebenen Wahrheit ist für den darstellenden Theologen seine Wahrheit geworden. Entscheidend ist nun, dass sich die darstellende Theologie der Veränderung und Neuschöpfung, die dieser Prozess der Aneignung bedeutet, nicht bewusst ist. Das darstellende Tun meint gerade, dass es den vorgegebenen Inhalt durch sein Tun nicht verändert, sondern vielmehr originalgetreu wiedergibt – eben darstellt. Weil es sich um eine originalgetreue Wiedergabe handeln soll, dürfen die Veränderungen nicht als Veränderungen, sondern müssen als zum Original gehörig erfasst werden. Indem das darstellende Tun sich selbst völlig ausblendet, wird ihm die Logik der Darstellung zur Logik der Sache selbst, wird aus seiner Ordnung die Ordnung der Dinge. Das tiefere Wissen, das den wissenschaftlichen Theologen vom Laien unterscheidet, wird dann nicht bloß so erklärt, dass ersterer sich den vorgegebenen Inhalt selbständig angeeignet hat, sondern dieser Aneignungsprozess wird selbst noch einmal in den vorgegebenen Inhalt eingezeichnet, indem er als Geschenk Gottes interpretiert wird. Weil der wissenschaftliche Theologe die Veränderungen, die der vorgegebene Inhalt durch sein darstellendes Tun erfährt, nicht als Folgen seines eigenen Handelns erkennt, sondern als zum Inhalt gehörig missversteht, kann man sagen, dass es ihm an Selbstbewusstsein mangelt. Er erkennt sich selbst im Inhalt nicht wieder, er erfasst den Inhalt nicht als seine Darstellung. Der mangelhaften Selbsterkenntnis entspricht eine mangelhafte Bestimmung des 10
WAGNER, Einleitung [RG], 356f. WAGNER, MM, 27. 12 WAGNER, Einleitung [RG], 356. 13 Vgl. WAGNER, Einleitung [RG], 356. In Wagners Beschreibung der Struktur der Darstellung wird deutlich, dass sie der Struktur der religiösen Vorstellung entspricht. 11
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Erster Teil
Inhalts: dieser wird nicht als Produkt, sondern als vorgegeben interpretiert.14 Die hier zu beobachtende Selbstvergessenheit ist für Wagner ein Merkmal des religiösen Bewusstseins überhaupt. Wagner kann daher urteilen, dass „das darstellende Bewußtsein die Schranke des religiösen Bewußtseins noch nicht vollends überschritten“ habe. Anders als das religiöse Bewusstsein bestimmt das darstellende Bewusstsein die vorgegebenen Inhalte zwar „durch das Instrument eines wissenschaftlichen Verfahrens“. „Aber dieses instrumentelle Tun führt nicht dazu, dass es sich als selbständige und seiner selbst bewusste ‚Macht‘ gegenüber den positiven Inhalten in Szene setzt. In diesem Sinne weiß das darstellende ebenso wenig wie das religiöse Bewusstsein, daß es weiß; es hat noch kein explizites Wissen davon, daß sein Tun die theologischen Inhalte (mit-)konstituiert.“15 Wagner zufolge trifft dieses Urteil die „gesamte vorneuzeitlich-vormoderne Theologie“ 16. Der Bruch, der durch die Theologenwelt verläuft, muss dann so beschrieben werden: Er scheidet diejenigen, die ihre eigenen Konstruktionen als die vorgegebene Wahrheit erfassen, von denen, die die Konstruktionen anderer als vorgegebene Wahrheit rezipieren. Indem die konstruktiven Anteile an der Wahrheit nicht als solche erfasst werden, wird übersehen, dass dem Bruch „die soziale Differenz verschiedener Trägergruppen“17 zugrunde liegt. Stattdessen wird er lediglich „als graduelle Sachdifferenz“18 gedeutet: Gott schenkt manchen eine tiefere Einsicht in die seligmachende Wahrheit als anderen. Die Einheit der altprotestantischen Theologenwelt rührt also daher, dass die Lehren der partikularen Gruppe der Berufstheologen selbst Teil der vorgegebenen allgemeinen Wahrheit werden. Überblickt man Wagners Darstellung der altprotestantischen Theologie, die zugleich repräsentativ für die vorneuzeitliche Theologie überhaupt sein soll, dann kann festgehalten werden: 1. Es wird noch nicht zwischen Glaube und Theologie unterschieden. Beides ist eine Form von Erkenntnis. 2. Diese Erkenntnis versteht sich selbst als von Gott gewirkte Teilhabe an der göttlichen Wahrheit. 3. Innerhalb der einen Erkenntnis der Wahrheit, die allen Christen gemeinsam ist, sind graduelle Abstufungen möglich. Sie werden ebenfalls auf göttliches Handeln zurückgeführt. Damit erscheint der faktische Unterschied zwi14
Das darstellende Tun setzt den Inhalt als nicht gesetzt. Alle Zitate in: WAGNER, Einleitung [RG], 357. Ähnliche Formulierung in WAGNER, Erwägungen [WiTh], 401.Vgl. auch WAGNER, Einleitung [RG], 356: „Theologie als Wissenschaft geht nicht über den Glauben hinaus, sondern bringt ihn zur Darstellung. Glaube und Theologie verhalten sich wie Sache und dargestellte Sache, wie Bezeichnetes und Zeichen, ohne daß das Zeichen als Zeichen erfaßt wird.“ 16 WAGNER, Einleitung [RG], 356. 17 WAGNER, MM, 26. 18 WAGNER, MM, 25. 15
I. Die Religionstheologie
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schen wissenschaftlicher Theologie und einfacher Glaubenserkenntnis als gottgegeben. 4. Wagner erblickt in dem vermeintlich gegebenen Unterschied einen gemachten Unterschied. Sein Konstrukteur ist das darstellende Tun der wissenschaftlichen Theologie. 5. Das darstellende Tun betreibt mittels eines wissenschaftlichen Verfahrens eine Neukonstruktion der göttlichen Wahrheit. Allerdings wird diese Neukonstruktion nicht als solche erfasst, sondern mit der vorgegebenen Wahrheit identifiziert. Dies geschieht so, dass der darstellende Theologe die Neukonstruktion nicht sich selbst, sondern Gott zuschreibt, so dass sie nicht als Neukonstruktion, sondern als von Gott gewirkte tiefere Einsicht in die ewige Wahrheit erscheint. 6. Kennzeichen dieses Theologietyps ist also die Dominanz der einen vorgegebenen Lehre. Wo tatsächlich eine selbständige Auseinandersetzung mit ihr stattfindet, wird diese nicht als eine solche erkannt, sondern sofort vom Konzept des Vorgegebenen absorbiert. 7. Eine solche Theologie, die sich ihres eigenen selbständigen Tuns deshalb nicht bewusst wird, weil sie es sofort vergöttlicht, nennt Wagner „Theologentheologie“19. b) Die Unterscheidung von Religion und Theologie Die Einheit der altprotestantischen Theologenwelt wird durch die Entdeckung eines neuen religiösen Akteurs erschüttert. Es ist die Entdeckung, dass dem Theologen in den geoffenbarten religiösen Gehalten nicht unmittelbar Gott begegnet, sondern Menschen, die von Gott reden. Der Theologe erkennt, dass nicht Gott das Subjekt ist, mit dem er es zu tun hat, sondern ein anderer Mensch, der gleichsam zwischen ihm und Gott steht. Diese Einsicht, die man auch so ausdrücken könnte, dass Gott vom Subjekt zum Gehalt wird, wird laut Wagner mit der neuzeitlichen Unterscheidung von Theologie und Religion zum Ausdruck gebracht. Die „Pointe dieser Unterscheidung“ ziele nämlich darauf, „Theologie und Religion verschiedenen Subjekten zuzurechnen“. Dies hat zur Folge, dass „sich die Theologie nicht in direkter Weise auf die Gehalte der Religion als auf ihren Gegenstand“ bezieht. „Vielmehr ist ihr der Gegenstand allein so gegeben, wie er dem religiösen Bewusstsein erscheint, also von diesem gewusst […] wird.“20 Es ist das Ende der Selbstvergessenheit, die für die vorneuzeitliche Theologie kennzeichnend war; der Mensch entdeckt sich selbst in den religiösen Gehalten. Dieser Erkenntnisgewinn, der in der Unterscheidung von Theologie
19 20
WAGNER, MM, 25. WAGNER, Funktionalität, 292f.
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Erster Teil
und Religion zum Ausdruck kommt, markiert für Wagner den Eintritt in die neuprotestantische Epoche der Theologiegeschichte.21 Der Mensch erkennt: Die religiösen Gehalte sind ihm nicht vorgegeben, sie sind, salopp gesprochen, nicht vom Himmel gefallen, sondern er selbst hat sie (mit)konstituiert. Was hier geschieht, ist aus Sicht des Menschen als die Ausbildung eines religiösen Selbstbewusstseins zu bezeichnen; der Mensch erkennt sich selbst als Produzenten religiöser Gehalte und genau dieses Selbstbewusstsein erhebt die neuprotestantische Theologie zum Prinzip ihres Tuns. Das Konzept des Vorgegebenen, das für die vorneuzeitliche Theologie spezifisch war, wird damit zunächst verabschiedet. Denn das Vorgegebene zerfällt in zwei nun unterscheidbare Größen: Glaube und Gegenstand des Glaubens, Wissen und Gewusstes. Indem die Theologie „die Unterscheidung zwischen den Inhalten der christlichen Religion, dem Gegenstand des Glaubens, und dem subjektiven Glauben und Vorstellen“22 ins Bewusstsein rückt, verlässt sie die Perspektive des religiösen Bewusstseins, dessen Spezifikum gerade das Bewusstsein unmittelbarer Einheit mit Gott und das Fehlen jeglicher Selbständigkeit ist: „Die Grundaussage dieses Bewusstseins kommt in der Formel ‚Ich glaube an…‘ zum Ausdruck. Sie besagt, dass der subjektive Glaubensvollzug (‚Ich glaube‘) und der Gegenstand des Glaubens (‚an…‘), fides qua und fides quae creditur, eine unmittelbare Einheit bilden.“23 Das religiöse Bewusstsein ist, so kann Wagner dies auch ausdrücken, Gegenstandsbewusstsein, es ist Wissen von etwas und zwar ein Wissen, welches sich „aufgrund der Dominanz des Gewußten mit diesem eins weiß.“24 Es ist ein Gegenstandswissen, dass sich seinem Selbstverständnis nach nicht dem erkennenden Zugriff des Wissenden verdankt, sondern seine Ursache im Gegenstand selbst hat – es ist, traditionell gesprochen, von Gott geoffenbartes Wissen. Die Theologie nun fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Gegenstandsbewusstseins. Hierbei zeigt sich, dass die vorneuzeitliche Theologie nur die Antwort wiederholt, die das religiöse Bewusstsein selbst gibt: Das Gottesbewusstsein verdankt sich selbst dem Handeln Gottes; damit ein Mensch Wissen von Gott haben kann, muss Gott sich ihm offenbaren.25 21 Neben der Aufklärungstheologie nennt Wagner den Pietismus als Wegbereiter des theologischen Epochenwechsels. Die hier zu beobachtende Konzentration auf das fromme Individuum und seine persönliche religiöse Erfahrung führen Wagner zu dem Urteil, dass es der Pietismus ist, „der innerhalb der Welt des Christentums die Wende zur Neuzeit, zur Moderne, nämlich zur Selbständigkeit von Subjektivität anfänglich vollzieht“ (WAGNER, Bemerkungen [RG], 130). 22 WAGNER, Erwägungen [WiTh], 400. 23 WAGNER, WiR, 525. 24 WAGNER, WiR, 526. 25 Die Grundidee lautet also: Gott kann nur durch Gott erkannt werden.
I. Die Religionstheologie
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Das Aufkommen neuzeitlicher Theologie resultiert für Wagner dann aus einem Erkenntnisfortschritt, den der Mensch bezüglich seines Gegenstandsbewusstseins macht und der besagt, „daß alles Bewußtsein von etwas, also jedes Gegenstandsbewußtsein, Selbstbewußtsein voraussetzt.“26 Steht das Gegenstandsbewusstsein unter der Bedingung des Selbstbewusstseins, dann sind auch die Gegenstände des Gegenstandsbewusstseins durch das Selbstbewusstsein bedingt.27 Die Entstehung der Theologie erklärt sich in Wagners Perspektive aus der Anwendung dieses Satzes auf das religiöse Gegenstandsbewusstsein. „Religiöser Inhalt und theologischer Inhalt unterscheiden sich dann so, dass die Theologie anders als das religiöse Bewußtsein weiß: Der religiöse Inhalt wird immer auch durch menschliche Tätigkeit produziert und konstruiert.“28 Wagner unterscheidet also scharf zwischen Religion und Theologie, zwischen dem religiösen und dem theologischen Bewusstsein. Gegenstand der Theologie ist nicht der religiöse Gegenstand, sondern das religiöse Gegenstandsbewusstsein, nicht Gott, sondern der Glaube an Gott.29 „Nicht die gegebene Religion und ihre tradierten Gehalte bilden den der Theologie direkt gegebenen Gegenstand. Ihr primärer Grundgegenstand stellt vielmehr das Subjekt der Religion dar, das als religiöses Bewußtsein die Perspektive vertritt, in der die Religion und ihre Gehalte vergegenwärtigt werden.“30 Damit verändert sich auch die Stellung der Theologie zu den überlieferten Gehalten. Diese werden nicht mehr als gegeben, sondern als produziert erfasst. Den Umgang der Theologie mit der Tradition bezeichnet Wagner als (re-)konstruierendes Tun. Damit ist gesagt, dass die Theologie die überlieferten Gehalte nicht mehr vorbehaltlos übernimmt, sondern dies nur unter einer bestimmten Bedingung tut. Die Bedingung lautet, dass die überlieferten Produktionen als Produktionen eines wie auch immer bestimmten religiösen 26
WAGNER, Konstitution [WiTh], 148. WAGNER, Konstitution [WiTh], 149: „Ist einmal die Subjektivität, nämlich das Selbstbewusstsein als ursprüngliche Subjekt-Objekt-Einheit als die Bedingung erkannt, unter der nicht nur das Denken, Wollen und Fühlen [als Arten intentionalen Bewusstseins], sondern auch die Gegenstände und Gehalte des Denkens, Wollen und Fühlens stehen, so ist deutlich, dass sie jeden Gehalt mitkonstituiert. Die Subjektivität ist in diesem Sinne ein konstitutives Moment eines jeden geistigen Gehalts und eines jeden Gegenstands der Außenwelt, daß allererst das Denken des Gehalts und der Gehalt selbst den ganzen Gehalt ausmachen.“ 28 WAGNER, Erwägungen [WiTh], 400. 29 Vgl. WAGNER, WiR, 527. 30 WAGNER, Funktionalität, 293. Mit dieser Beschreibung will Wagner alle Religionstheologien erfasst wissen, denn der faktischen Pluralität zum Trotz seien sie alle „demselben Grundtyp verpflichtet: Die philosophisch und/oder theologisch explizierte Religion nimmt ihren Ausgang nicht bei der behaupteten oder zu begründenden Selbständigkeit und Objektivität Gottes bzw. des Gottesgedankens. Gott oder der Gottesgedanke werden vielmehr auf indirekte Weise thematisiert, nämlich so, wie sie in der Perspektive des religiösen Bewußtseins als Gottesbewußtsein erscheinen.“ (WAGNER, Theo-Logik [RuG], 60f.). 27
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Erster Teil
Bewusstseins erfasst werden können. Die Theologie nimmt die Perspektive des religiösen Bewusstseins ein und fragt: kann sich das religiöse Bewusstsein in der Tradition widerspiegeln, können die vorgefundenen religiösen Gedanken überhaupt als seine Gedanken identifiziert werden? Anders gefragt: Ist die Tradition so beschaffen, dass das religiöse Bewusstsein „dabeisein kann“, oder erscheint sie ihm als so fremd, dass sie unweigerlich „den Makel des Autoritären an sich“ tragen muss?31 Die Fragen sind Ausdruck des „bisher einzigen Paradigmenwechsel[s]“32 innerhalb der protestantischen Theologie. Er lässt sich so beschreiben, dass die Theologie sich einem neuen Gegenstand zuwendet – eben dem christlich-religiösen Bewusstsein – und dass ihr bisheriger Gegenstand – also die christliche Überlieferung – nur noch dann eine Rolle spielt, wenn er sich als ein Element im Aufbau des neuen Gegenstands identifizieren lässt. Wie bereits angedeutet, ändert sich damit der Status der positiven Gehalte grundlegend. Sie werden jetzt beschrieben als Elemente von etwas (als Gehalte eines Bewusstseins), verlieren also ihre Selbständigkeit und werden ganz von ihrer Funktion für das religiöse Bewusstsein her verstanden. „Die Positivität der Gehalte wird […] in der bestimmten Weise negiert, daß die Gehalte ihres substantiellen Eigendaseins entkleidet werden, um ihre Karriere als Aufbau- und Ausdruckselemente des religiösen Bewusstseins anzutreten.“33 Es findet demnach eine Umkehr statt: War zuvor der Glaube ein Element im Aufbau des göttlichen Heilsplans,34 so werden jetzt die Bestandteile des göttlichen Heilsplans zu Aufbauelementen des religiösen Bewusstseins. Anders gesagt: Nicht von den positiven Gehalten her ergibt sich, was christlicher Glaube ist, sondern es gilt umgekehrt, dass der christliche Glaube festlegt, was christliche Gehalte sein können. Mit dem Begriff der ‚Umkehr‘ ist angedeutet, dass die Theologie im Zuge ihres Paradigmenwechsels gewissermaßen die Seiten wechselt. Wie sie als vorneuzeitliche Theologie ganz dem Konzept des Vorgegebenen verpflichtet war, so engagiert sie sich jetzt ausschließlich für das Konzept des religiösen Bewusstseins. D.h. sie affirmiert nicht nur die Selbständigkeit des religiösen Subjekts neben der geoffenbarten Religion, sie unterscheidet nicht nur fides qua und fides quae, sondern sie ordnet die fides quae der fides qua unter, 31
WAGNER, Konstitution [WiTh], 149. WAGNER, Art. Religion TRE, 529. Vgl. WAGNER, Einleitung [RG], 358f. und DERS., Funktionalität, 291ff. 33 WAGNER, Funktionalität, 294. 34 Vgl. etwa WAGNER, Reflexionskultur, 36: „In der lehrhaft systematisierten Darstellung des protestantischen Christentums repräsentiert das christlich-religiöse Bewusstsein, dem ja schließlich die Lehrgehalte zugute kommen sollen, bloß ein vom dogmatischen Gesamtzusammenhang abhängiges wie final gegängeltes Durchgangsmoment.“ Bei WAGNER, WiR, 48 wird das „fromme Individuum“ als „internes Moment des durch die Theologie objektiv dargestellten Heilsprozesses“ bezeichnet. 32
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indem sie das religiöse Subjekt zu ihrem einzigen Untersuchungsgegenstand erhebt und die positiven Gehalte nur insoweit berücksichtigt, als sie dem religiösen Bewusstsein als seine Aufbauelemente oder Ausdrucksphänomene plausibel gemacht werden können.35 Das Thema der Theologie ist nicht länger die Darstellung einer objektiven Realität, sondern die Auslotung eines Innenraums. Die Theologie, bisher gehorsame Statthalterin der Offenbarung, dient nun dem religiösen Subjekt.36 „Das religiöse Bewusstsein, das in und außerhalb der kirchlich vermittelten Praxis der gelebten Religion auftreten kann, stellt für die Theologie den Leitfaden oder das Konstruktionsprinzip dar, aufgrund dessen die gegebenen Inhalte der christlichen Religion auseinandergelegt, also kritisch analysiert und neu zusammengesetzt werden. Aufgrund ihres rekonstruierenden Tuns übt die Theologie ihre Funktion im Dienst des Subjekts der Religion aus. Indem sie dieses zum Konstruktionsprinzip erhebt, dient sie dem Selbstaufbau und der Selbstauslegung des religiösen Bewusstseins insofern, als dieses die Leitperspektive darstellt, von der aus die tradierten Gehalte analysiert und rekonstruiert werden.“37
So wie Wagner es beschreibt, besteht allerdings ein Widerspruch im Verhältnis von religiösem Bewusstsein und Religionstheologie. Denn zwar weiß sich die Theologie der Perspektive des religiösen Bewusstseins verpflichtet, jedoch wird sich das religiöse Bewusstsein in seiner Beschreibung durch die Theologie nicht wiederfinden können. Deutlich wird dies bei der gegensätzlichen Beurteilung der Gehalte. Für den Glaubenden gilt, dass er die Gehalte seines Glaubens überhaupt nicht als Gehalte erfasst. Gott ist für den Glaubenden kein Gehalt, sondern eine Realität. Und zwar diejenige Realität, die ihn als Glaubenden hervorgebracht hat. Es ist ein Merkmal dieser Realität Glaubende hervorzubringen, sodass sich der Glaubende als Glaubender eins mit dieser Realität weiß. Der Glaubende erfährt sich daher als Teil einer Realität, die er nicht hervorgebracht hat, die ihm vielmehr vorgegeben ist und die 35
Für Karl Barth scheint hier ein notwendiger Zusammenhang zu bestehen. Die Anerkennung menschlicher Selbständigkeit hat zwangsläufig ihre Überordnung zur Folge: „Es bedeutet immer schon ein entscheidendes Mißverständnis, wenn man es überhaupt unternimmt, die Offenbarung und die Religion systematisch zusammenzuordnen, d.h. als vergleichbare Bereiche nebeneinander zu stellen, gegeneinander abzugrenzen und miteinander in Beziehung zu setzen. […] Ist man überhaupt in der Lage, die menschliche Religion auf der gleichen Ebene und im gleichen Sinn Ernst zu nehmen wie die göttliche Offenbarung und sie also in irgendeinem Sinn als ein Zweites neben ihr zu sehen, ihr der Offenbarung gegenüber ein selbständiges Wesen und Recht zuzubilligen, nach einem Ausgleich und Verhältnis beider Größen zu fragen – so zeigt man eben damit, daß man von der Religion, das heißt vom Menschen und nicht von der Offenbarung her zu denken die Meinung und Absicht hat […].“ (BARTH, KD I,2, 321). 36 Dabei kann Wagner den ‚Herrschaftswechsel‘ innerhalb der Theologie durchaus als einen allmählichen Übergang beschreiben. So stelle etwa Semlers Unterscheidung von öffentlicher Religion und Privatreligion ein Nebeneinander beider Paradigmen dar, bei Schleiermacher sei der Umbau der Theologie dann abgeschlossen. 37 WAGNER, Funktionalität, 294.
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die Bedingung seiner Existenz darstellt. Es ist für Wagner gerade das „Spezifikum“38 des religiösen Bewusstseins, dass „es sich immer schon durch den Gegenstand seines Glaubens begründet und bestimmt weiß.“39 Der Theologe hingegen erfasst diese Realität als Gehalte eines Bewusstseins. Er unterscheidet zunächst das religiöse Bewusstsein von dieser Realität als eine selbständige Größe. Sodann bestimmt er das Verhältnis von Realität und Bewusstsein so, dass er das Bewusstsein zum (Mit-)Produzenten der Realität erhebt. Das Problem besteht nun darin, dass der Theologe mit seiner Beschreibung des religiösen Bewusstseins dessen Struktur ja nicht verändern, sondern lediglich offenlegen will. Er beansprucht, die „faktische Eigenverfaßtheit des religiösen Bewußtseins“40 zu durchschauen, die diesem selbst nicht bewusst ist. Damit drohen aber Wesen und Wahrheit des religiösen Bewusstseins auseinanderzubrechen. Denn einerseits soll das „Immer-schonBegründetsein im absoluten Subjekt“41 konstitutiv für das religiöse Bewusstsein sein, andererseits sagt nun aber die Religionstheologie, dass das religiöse Bewusstsein tatsächlich dasjenige Bewusstsein sei, das mittels des Gottesgedankens allererst seine Selbstbegründung unternehme, indem es nämlich im Gottesgedanken die notwendige Voraussetzung für sein Da- und Sosein artikuliere. Glaube und Theologie gelangen so zu gegensätzlichen Aussagen, und dies sowohl mit Blick auf das religiöse Subjekt (begründet – begründend), als auch mit Blick auf die religiösen Gehalte (gegeben – gemacht). Dieser Analyse Wagners, dass die „faktische Eigenverfasstheit“ und das „Selbstverständnis“ des religiösen Bewusstseins sich gegenseitig ausschließen, soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. 2. Das religiöse Bewusstsein als das Subjekt der Religion a) Unmittelbares Wissen: Zur Struktur des religiösen Bewusstseins Es wurde bereits festgehalten, dass Wagner das christlich-religiöse Bewusstsein als Gegenstandsbewusstsein klassifiziert. Zu dieser Klassifizierung gelangt Wagner mittels einer Analyse christlicher Selbstaussagen.42 Wagner erhebt also durchaus den Anspruch, dass seine Beschreibung des christlichreligiösen Bewusstseins dessen Selbstsicht entspricht. Es sollte einem Christen möglich sein, sich in ihr wiederzuerkennen. Was heißt es nun, dass das christlich-religiöse Bewusstsein oder – das ist für Wagner gleichbedeutend43 – der Glaube ein Gegenstandsbewusstsein ist? 38
WAGNER, Einleitung [RG], 345. WAGNER, WiR, 527. 40 WAGNER, WiR, 527. 41 WAGNER, WiR, 527. 42 Vgl. WAGNER, WiR, 525. 43 WAGNER, WiR, 525; WAGNER, Einleitung [RG], 344. 39
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Zunächst ist damit gesagt, dass der Glaube stets fremdreferentiell ist. Der Glaube bezieht sich nicht auf sich selbst. Im Unterschied etwa zum Denken handelt es sich beim Glauben um eine Tätigkeit des menschlichen Geistes, die nicht sich selbst zum Gegenstand haben kann.44 „Der Glaube als Aktvollzug des christlich-religiösen Bewusstseins schließt jede Form von Selbstbezüglichkeit, Selbstreflexivität und Selbstanwendung aus.“45 Entsprechend kann Wagner den Glauben als einen „Akt des Vertrauens“46 bezeichnen. Denn für das Vertrauen gilt ja gerade, dass es sich immer auf etwas oder jemanden richten muss. „Der Glaube als subjektiver Vertrauensvollzug bedarf also der inhaltlichen Sättigung.“47 Für den Glauben als Vollzug ist die Bezugnahme auf Inhalte demnach konstitutiv, es kann sozusagen keinen leeren Glauben geben; ein Fall von Glauben liegt genau dann vor, wenn Vollzug und Inhalt zusammenkommen, „fides qua und fides quae creditur […] eine unmittelbare Einheit bilden.“48 Des Weiteren stellt der Glaube gemäß seiner Selbstaussage ein solches Gegenstandsbewusstsein dar, das seine Existenz ausschließlich dem Gegenstand verdankt, auf den es sich bezieht. Der Inhalt und der Grund des Glaubens sind identisch; man könnte auch sagen: der Glaube ist ein Geschenk Gottes. Diesem Satz räumt Wagner den Status eines „formalen Kriteriums“ ein, „um einen vagabundierenden Allerweltsglauben von einem begründeten Glauben unterscheiden zu können.“49 Kann es Glauben immer nur als inhaltlich gefüllten Glauben geben, dann liegt begründeter Glaube nur dort vor, wo die inhaltliche Sättigung ihren Grund nicht in der Bezugnahme des Subjekts hat, sondern wo sich umgekehrt die Herstellung der Einheit von Glaubensvollzug und Glaubensgegenstand auf den Glaubensgegenstand zurückführen lässt. Die von Wagner vorgenommene Unterscheidung zwischen begründetem und Allerweltsglauben lässt sich an Luthers Ausführungen zu Glaube und Unglaube, Gott und Abgott im Großen Katechismus verdeutlichen. Ob der Glaube recht oder ob er unrecht ist, entscheidet sich für Luther an seinem Gegenstandsbezug. Der Glaube muss sich fragen lassen, ob er „den rechten einigen Gott treffe und an ihm alleine hange“50. Der Unglaube nun wurzelt in einer allgemeinen Religiosität, die ihrerseits Ausdruck eines Sicherungsbedürfnisses ist. Dieses Sicherungsbedürfnis beschreibt als Luther eine Art Götterfabrik: „Gewalt und Hirrschaft“51, Verwandtschaft, Reichtum oder 44
Vgl. WAGNER, Begründung [RuG], 115. Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 WAGNER, WiR, 525. 49 WAGNER, Begründung, 116. 50 BSLK 560, 32–34. 51 BSLK 564, 2. 45
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Glück – die Größe, von welcher der Mensch sich alles erhofft – und das kann für Luther alles Mögliche sein –, erhebt er in den Status einer alles entscheidenden Instanz und macht sie dadurch zu seinem Gott. Unglaube heißt also, dass sich der Mensch nicht auf seinen Schöpfer, sondern auf seinen eigenen, je individuellen „Traum von Gott“52 verlässt. Ist Gott nur das Echo der eigenen Hoffnung, dann verlässt der Mensch „sich auf eitel nichts“53, er bleibt gefangen in seinen Wunschgebilden und unterwirft sich den Ausgeburten seiner Ängste. Eine vergleichbare Metaphorik findet sich auch bei Wagner; er charakterisiert die Bewegung des Allerweltsglaubens als ein „In-sichkreisen“; er sei „Reflex gewordener Glaube an den Glauben“, der „sich in sich verschließt“54. Mit Blick auf den Allerweltsglauben kann festgehalten werden: hier gibt es erst den subjektiven Glauben, der dann aufgrund seines Bedürfnisses nach inhaltlicher Sättigung irgendetwas zum Glaubensgegenstand erhebt. Damit ist der Gegenstand abhängig vom Subjekt, dessen Eigenbestimmtheit bedingt die Suche nach Glaubensinhalten; der Mensch ist der Schöpfer seines Gottes. Die christlichen Selbstaussagen implizieren hingegen für Wagner, dass der Glaube als ein inhaltlich immer schon gesättigter aufgefasst werden muss. Denn verdankt der Glaube als Gegenstandsbewusstsein seine Existenz den Gegenständen, auf die er sich bezieht, dann ist es nicht möglich, von ihm unter Absehung seiner Inhalte zu reden; er stellt keine von seinen Gegenständen unabhängige, selbständige Größe dar. Wagner lehnt daher auch das Konzept einer natürlichen Religion ab; eine Analyse des christlich-religiösen Bewusstseins von seinen Selbstaussagen her führt ihn zu dem Urteil, „[d]aß sich der Begriff der Religion nur auf dem Boden einer positiven Religion konkret entfalten läßt“55. Es gibt den Glauben überhaupt nur als inhaltlich bestimmten, als Einheit von fides qua und fides quae; die beiden Merkmale „immer referenziell und objektiv vermittelt“56 zu sein, definieren gleichsam das Selbstverständnis des Glaubens. Für Wagner entspricht daher die Rede von einem Bewusstsein, das sich um Begründung bemüht, nicht der religiösen Selbstsicht;57 diese ist eben so zu beschreiben, dass das religiöse Bewusstsein „sich immer schon durch den Gegenstand seines Glaubens begründet und bestimmt weiß.“58 Stellt der Glaubensgegenstand auch den Grund des Glaubens dar, dann ist die Beziehung von Gegenstand und Glaube als ein Verhältnis einseitiger Abhängigkeit zu beschreiben.
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BSLK 564, 17. BSLK 564, 18. 54 WAGNER, Geld [RG], 572. 55 WAGNER, WiR, 526. 56 WAGNER, Begründung [RuG], 116. 57 So Wagner gegen Hans-Walter Schütte. 58 WAGNER, WiR, 527. 53
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Wie steht es nun um Wagners Anspruch, die christliche Selbstsicht zu beschreiben? Wiederum kann auf den Großen Katechismus verwiesen werden: es war bekanntlich Luther selbst, der einschärfte, dass der Glaube immer nur als Einheit von Gegenstand und subjektivem Vollzug auftritt: „Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott.“59 Gerhard Ebeling interpretiert diesen Satz so, dass er ihn auf die „Grundsituation des Menschen“60 bezieht. Diese sei wie folgt zu beschreiben: der Mensch könne nicht „in sich selbst und aus sich selbst bestehen“61, er sei vielmehr darauf angewiesen, sich auf etwas zu verlassen, das nicht er selbst ist. Dieses andere sei Gott: „Gott – so erklärt Luther – ist das Woraufhin dieses Sichverlassens, das woran der Mensch sich hängt und wovon er abhängt, und zwar in der Weise eines über das Menschsein selbst entscheidenden Vorgangs. Glaube und Gott […] oder: Mensch und Gott sind dann in der Tat Komplementärbegriffe. Man kann nicht „Mensch“ sagen, ohne dass damit „Gott“ zum Thema wird. Und man kann nicht „Gott“ sagen – wenn anders man bedenkt, wer es ist, der „Gott“ sagt –, ohne dass damit der Mensch zum Thema wird. […] Er [der Mensch] kann nur sein, indem er sich an das hängt und auf das verlässt, was außerhalb seiner ist und was eben darum ihn hat und ihn sein lässt. Die Relation des Externen kommt zum Menschen nicht hinzu, sondern konstituiert sein Wesen.“62
Ersetzt man in diesen Sätzen Ebelings ‚Mensch‘ durch ‚Glaube‘, dann lassen sich in ihnen unschwer die beiden wagnerschen Bestimmungen des Glaubensbegriffs ausfindig machen: a) der Glaube ist stets fremdreferentiell – die Relation des Externen konstituiert sein Wesen; b) der Inhalt und der Grund des Glaubens sind identisch – Gott ist das, wovon der Glaube abhängt, was ihn hat und sein lässt. Den zweiten Aspekt – dass sich die Herstellung der Einheit von Glaube und Gott nicht dem Glauben, sondern Gott verdankt – betont auch Eberhard Jüngel.63 Glaube sei bei Luther zu verstehen als „das Ereignis des Zusammenkommens und Zusammenseins von Gott (Christus) und Mensch“64. Da dieses Ereignis sich allein dem Handeln Gottes verdanke, sei es unsinnig, zwischen Glaubensgegenstand und Glaubensvollzug zu unterscheiden. Es gibt den Glaubensakt eben nicht als eine seinem Gegenstand gegenüber selbständige Größe.65 Jüngel weist zudem darauf hin, dass Luther 59
BSLK 560, 21f. EBELING, Gott, 294. 61 EBELING, Gott, 297. 62 EBELING, Gott, 298f. 63 Vgl. JÜNGEL, Glaube, 962. 64 Ebd. 65 Zu Luthers Ablehnung von falschen Unterscheidungen im Glaubensbegriff vgl. auch R. SLENCZKA, Glaube, 320f. Dass der Glaube immer als Einheit von Gegenstand und Vollzug auftritt, betont z.B. auch PÖHLMANN, Abriss, 116: „Der Glaube hat eine objektive und eine subjektive Seite, er ist fides quae creditur und fides qua creditur, fides generalis und fides specialis, Einsicht und Zuversicht, Inhalt und Halt, Wissen und Vertrauen zugleich.“ 60
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das Ereignis des Glaubens als eine Vergottung des Menschen beschreiben kann. Die Vorstellung einer Vergottung liegt ja durchaus in der Fluchtlinie des Gedankens, dass der Glaube und Gott zusammengehören und zwar so zusammengehören, dass der Glaube aus Gott ‚stammt‘. Zur Rede vom göttlichen Menschen gesellt sich bei Jüngel indes sofort auch ihre orthodoxe Lesart: Recht verstanden sei der Mensch dann ‚göttlich‘, wenn er sich als Kreatur begreife, also genau dann, wenn er zwischen sich und seinem Schöpfer zu unterscheiden weiß.66 Ist damit Wagners Analyse der Selbstsicht des Glaubens dargestellt, so ist nun zweitens nach der faktischen Eigenverfasstheit des religiösen Bewusstseins zu fragen, wie sie Wagner zufolge erstmals durch die Religionstheologie herausgearbeitet wird. Dies soll anhand von zwei Aussagen geschehen, die Wagner über das christlich-religiöse Bewusstsein trifft.67 Die erste Aussage lautet, dass das religiöse Bewusstsein seine Tätigkeit im Glaubensgegenstand stillstellt, die zweite besagt, dass es sich an seinen Gegenstand entäußert. Während die erste Aussage aus der Perspektive des religiösen Bewusstseins formuliert ist, stellt die zweite eine objektive Beschreibung desselben Sachverhalts dar. Ich schlage vor, das Verhältnis beider Sätze mithilfe einer weiteren Unterscheidung zu analysieren. Dabei handelt es sich um die Annahme eines Gegensatzes von Glauben und Denken, von unmittelbarem und vermitteltem Wissen. Eine solche Unterscheidung findet sich prominent bei Jacobi; ihr schärfster Kritiker ist Hegel.68 Diese Kategorien als Interpretationshilfe heranzuziehen ist deswegen der Sache angemessen, weil Wagner selbst notiert hat, dass das christlich-religiöse Bewusstsein „die Gestalt unmittelbaren Wissens“69 repräsentiere. Das vermittelte Wissen nun ist ein solches, das durch die Erkenntnistätigkeit des Subjekts zustande kommt. Das, was erkannt wird, ist damit bedingt durch die Begriffe, die dem Erkenntnissubjekt zur Verfügung stehen. Ist das Subjekt immer schon in seinen Gegenstand involviert, scheint eine Erkenntnis des Unbedingten unmöglich zu sein. Das Ideal des unmittelbaren Wissens ist demgegenüber eine Erkenntnis, die nicht durch Tätigkeit des Subjekts ‚verstellt‘ wird; der Gegenstand soll so, wie er ‚an sich‘ ist, aufgenommen werden. Im Glauben, so die Überlegung, ist die Trennung von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein, die das vermittelte Wissen voraussetzt, aufgehoben. Letztlich handelt es sich um die 66
JÜNGEL, Glaube, 962f. Vgl. WAGNER, WiR, 526. 68 Wagner hat sich in seiner Promotion mit Jacobi auseinandergesetzt (vgl. WAGNER, Gedanke, 113ff.). Dort diskutiert er Jacobis Trennung von Verstand und Vernunft. Während der Verstand für Jacobi auf die Sphäre des Sinnlichen beschränkt bleibe, erblicke er in der Vernunft ein „vernehmendes Organ“ (ebd., 117), welches „die übersinnlichen Ideen als gefühlte Gewißheit unmittelbar erfassen“ (ebd., 118) könne. Zur Kritik an dieser Trennung vgl. ebd., 121ff. 69 WAGNER, Einleitung [RG], 344. 67
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These, dass sich im menschlichen Geist Vorstellungen der Wirklichkeit an sich finden, die ihren Grund in der Wirklichkeit selbst haben. Es ist das Konzept einer Vorstellung der Wirklichkeit, die sich der Mensch nicht erst macht, indem er sich ihr erkennend zuwendet, sondern die in seinem Geist immer schon bereit liegt, die ihren Grund, wie Jacobi sagt, „in sich selbst hat“ und damit ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit garantiert.70 Behauptet wird eine Art Selbstvorstellung der Wirklichkeit, eine Vorstellung, die der Mensch nicht produziert, sondern die sich ihm gibt.71 Unmittelbares Wissen zielt also auf das Zusammensein von Objekt und Subjekt, und zwar so, dass das Subjekt zum passiven Träger einer gleichsam objektiven Wissensform wird. Genau das ist mit der Aussage, dass das religiöse Bewusstsein sich im Glaubensgegenstand stillstellt, gemeint. Das unmittelbare Wissen existiert sozusagen unabhängig von dem Subjekt, das es hat; dieses nimmt lediglich die Rolle des – zwar notwendigen, aber austauschbaren72 – Trägers dieser Wissensform ein. Versteht man das christlich-religiöse Bewusstsein als un70
FALKE, Geschichte, 71ff., Zitat [Jacobi] 74; vgl. auch HEGEL, Enzyklopädie, 153 (§64): „Das aber, was dies unmittelbare Wissen weiß, ist, daß das Unendliche, Ewige, Gott, das in unserer Vorstellung ist, auch ist, – daß im Bewußtsein mit dieser Vorstellung unmittelbar und unzertrennlich die Gewißheit ihres Seyns verbunden ist.“ In den Annahmen, dass die Wirklichkeit unabhängig von uns existiert und dass wir sie als solche erkennen können, stimmen für Hegel der Glaube und der gesunde Menschenverstand überein: „Mit dem, was hier Glaube und unmittelbares Wissen heißt, ist [es] übrigens ganz dasselbe, was sonst Eingebung, Offenbarung des Herzens, ein von Natur in den Menschen eingepflanzter Inhalt, ferner insbesondere auch gesunder Menschenverstand, common sense, Gemeinsinn, genannt worden ist.“ (HEGEL, Enzyklopädie, 152 (§63); Ergänzung im Original). Vgl. zu Hegels Kritik am unmittelbaren Wissen auch SIEP, Weg, 83ff. 71 „Für Jacobi fällt im Gegensatz zu Kant nicht zwischen ‚das erkennen und das Absolute eine sich schlechthin scheidende Gräntze‘, sondern für ihn ist das Absolute ‚an und für sich schon bey uns‘ und will es sein“ (FALKE, Geschichte, 73; beide Zitate stammen aus der Einleitung der Phänomenlogie des Geistes). 72 Vgl. Wagners Urteil über den gegenwärtigen Geldpantheismus mit seiner Beschreibung der Glaubensstruktur: „[zwar] bedarf das Geld […] zur Auslegung und Durchsetzung seiner selbst des Anderen, der Güter, Waren und Inhalte. Aber dieses Andere erscheint nur als unselbständiges und ephemeres Mittel, das jederzeit durch beliebige andere Mittel ersetzt werden kann“ (WAGNER, GoG, 135). „Das religiöse Bewusstsein vollzieht […] seinen Glauben in Negation seiner Besonderheit, nämlich seiner Geschlechts-, Rassen-, National-, und Sozialbestimmtheit, um sich so als bloß Glaubender mit dem geglaubten Inhalt als Grund seines Glaubens zusammenzuschließen. Der so bestimmte Vorgang kommt in der bekannten Formel zum Ausdruck, vor Gott seien alle Menschen gleich; sie teilen alle die Abstraktion von ihren besonderen biologischen und soziokulturellen Eigenschaften, da diese coram deo gleich-gültig sind“ (WAGNER, Begründung [RuG], 116). Notwendig ist der Träger, um überhaupt die Differenz von gewusstem Inhalt und Wissensform denken zu können; Hegel gesteht dem unmittelbaren Wissen denn auch zu, Einheit nicht als „reine Einheit“, sondern als in sich differenzierte Einheit zu konzipieren, vgl. HEGEL, Enzyklopädie, §70. Vgl. Gal 3,28.
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mittelbares Wissen, dann lässt sich das Ereignis des Zusammenseins von Gott und Mensch näherhin so beschreiben: Der Glaube versteht sich selbst als göttliches Wissen und unterscheidet sich vom menschlichen Wissen. D.h. der Glaubende versteht seine Vorstellungen von Gott gar nicht als seine Vorstellungen, sondern als solche, die zu dem Gegenstand, auf den sie sich beziehen, dazu gehören, also als göttliche Selbstvorstellungen. Dass der Glaube für Wagner gegenständliches Wissen ist, kann wörtlich verstanden werden: es ist ein Bewusstsein, das zum Gegenstand dazugehört. Im Glauben meint der Mensch demnach, sich selbst zu überschreiten,73 da er in ihm an einem anderen, nämlich dem göttlichen Bewusstsein teilhat. Auch der Gedanke, dass der Glaube Partizipation am göttlichen Wissen ist, ist natürlich nicht ohne Anhalt in der christlichen Tradition. Zu verweisen wäre etwa auf die „pneumatologische Erkenntnistheorie“74, wie sie Paulus in 1. Kor 2,11ff. entfaltet. Ritschl kann denselben Gedanken geltend machen, um die Sonderstellung des Christentums als vollkommene Religion zu behaupten: vollkommen sei die Religion, in der „vollkommene Erkenntnis Gottes möglich“ sei; diesen Anspruch erhebe nun die christliche Religion, „indem sie ihre Erkenntnis Gottes aus demselben Geiste Gottes ableitet, in welchem Gott sich selbst erkennt.“75 Bevor ich mich der zweiten Aussage zuwende, also der Behauptung Wagners, dass die Wahrheit des Sichstillstellens ein Sichentäußern an den Gegenstand sei, mögen die folgenden zwei Bemerkungen aus der Phänomenologie des Geistes noch einmal verdeutlichen, dass Wagner das christlich-religiöse Bewusstsein als unmittelbares Wissen beschreibt. Beide stammen aus dem Kapitel über die sinnliche Gewissheit. Zunächst beschreibt Hegel, wie der Mensch sich verhalten muss, damit tatsächlich von unmittelbarem Wissen die Rede sein kann: „Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes sein als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seienden ist. Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern und von dem Auffassen das Begreifen abzuhalten.“76 73
„Für den subjektiven Glaubensvollzug ist folglich das Moment der Erhebung oder Selbstüberschreitung, des Transzendierens, konstitutiv“ (WAGNER, Begründung [RuG], 116). Vgl. HEGEL, Enzyklopädie, 159 (§68): Das unmittelbare Wissen, insofern es „Wissen von Gott“ ist, „wird allgemein als ein Erheben über das Sinnliche, Endliche, wie über die unmittelbaren Begierden und Neigungen des natürlichen Herzens beschrieben – ein Erheben, welches in den Glauben an Gott und das Göttliche übergeht, in demselben endigt […]“ (es folgt der Hinweis, dass die vermeintliche Unmittelbarkeit vermittelt ist durch den Vorgang des Erhebens). Vgl. auch die vorhergehende Anmerkung. 74 Vgl. WOLTER, Paulus, 162–164; Zitat 162. 75 RITSCHL, Unterricht, 9 (§5), mit Verweis auf 1. Kor 2,10–12. 76 HEGEL, Phänomenologie, 82; Hervorhebungen im Original.
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Eingefordert wird genau jenes Sichstillstellen, das Wagner als Eigenart des religiösen Bewusstseins beschreibt. Weiterhin stellt sich das Verhältnis von Gegenstand und Wissen innerhalb der sinnlichen Gewissheit genau so dar, wie das oben beschriebene Verhältnis von Glaubensvollzug und Glaubensgegenstand: „Es ist in ihr [der sinnlichen Gewissheit] eines als das unmittelbar Seiende oder als das Wesen gesetzt, der Gegenstand, das andere aber als das Unwesentliche und Vermittelte, welches darin nicht an sich, sondern nur durch ein Anderes ist, Ich, ein Wissen, das den Gegenstand nur darum weiß, weil er ist, und das sein kann oder auch nicht sein kann. Der Gegenstand aber ist, das Wahre und das Wesen; er ist, gleichgültig dagegen, ob er gewußt wird oder nicht; er bleibt, wenn er auch nicht gewußt wird; das Wissen aber ist nicht, wenn nicht der Gegenstand ist.“77
Die sinnliche Gewissheit weist die gleiche Struktur einseitiger Abhängigkeit auf, die auch für Wagners Darstellung des christlichen Glaubens charakteristisch ist: das eine existiert nur durch das andere. Wenn es richtig ist, dass Wagner den christlichen Glaubensbegriff mithilfe der Kategorie des unmittelbaren Wissens deutet, dann hat das zur Folge, dass sich an der Struktur des Glaubens dieselbe Aporie aufweisen lässt, von der nach Hegel auch das unmittelbare Wissen betroffen ist. Denn das unmittelbare Wissen stellt für Hegel eine inkonsistente Wissensform dar, womit gesagt ist, dass sie tatsächlich das Gegenteil dessen ist, was sie zu sein beansprucht. D.h. die Wahrheit des unmittelbaren Wissens ist es, vermitteltes Wissen zu sein. „Was bei Jacobi als zwei durch einen unüberspringbaren Graben getrennte Erkenntnisformen auftritt, wird bei Hegel als Schein und Wahrheit derselben Erkenntnis dargestellt.“ 78 Der Glaube ist in Wahrheit vermitteltes Wissen, was bedeutet, dass der Glaubensgegenstand sein Sosein dem erkennenden Subjekt verdankt. Genau diesen Umstand macht Wagner geltend, wenn er sagt, „daß der Gegenstand des Glaubens, durch den es [das religiöse Bewusstsein] bestimmt ist, durch sein eigenes Tun als der Glaubensgegenstand vermittelt und gesetzt ist, von dem es sich bestimmen lässt.“79 Wie genau das zu verstehen ist, möchte Wagner mit jener zweiten Aussage klären, welche besagt, dass das religiöse Bewusstsein sich an den Glaubensgegenstand entäußert. Damit soll gesagt sein, dass das unmittelbare Wissen von seinem Gegenteil nicht loskommt. Es bleibt negativ auf das vermittelte Wissen bezogen, weil es von diesem her seine Bestimmung erhält, sich allein
77
HEGEL, Phänomenologie, 83f. FALKE, Geschichte, 71. 79 WAGNER, WiR, 526. Ähnlich WAGNER, Erwägungen [WiTh], 399: Das religiöse Bewusstsein weiß nicht, „daß der Gegenstand des Glaubens, mit dem es unmittelbar eins ist, durch sein Tun auch vermittelt und gesetzt ist.“ 78
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über sein Gegenteil definiert.80 Unmittelbares Wissen ist: nicht vermitteltes Wissen. Unmittelbares Wissen kann das endliche Subjekt also nur dann haben, wenn es sich seiner Erkenntnistätigkeit enthält. Anders gesagt: alles das, was das endliche Subjekt erkennt, kann nicht Wissen von Gott sein. Hegel kann deshalb dem unmittelbaren Wissen inhaltliche Armut und infolge dessen religiöse Beliebigkeit (Allerweltsglaube!) vorwerfen.81 Das Endliche bleibt Gott äußerlich; folglich muss sich das endliche Subjekt seiner selbst entäußern, um in der Glaubenseinheit Aufnahme finden zu können. Wird das unmittelbare Wissen durch Ausschluss des vermittelten Wissens definiert, so hat es an diesem seine Grenze und ein solcherart begrenztes Wissen kann nicht das Wissen des Göttlichen im Sinne des Unendlichen bzw. Absoluten sein, das es zu sein beansprucht.82 Liest man Wagners Beschreibung des Glaubens vor dem Hintergrund der Unterscheidung von vermitteltem und unmittelbarem Wissen, wie sie prominent von Hegel problematisiert worden ist, dann zeigt sich als das Problem des Glaubens das Festhalten an einer falschen Differenz. Ermöglicht nur eine Wissensform das Zusammensein mit Gott, kann Gott also nur dem Glaubenden erscheinen, ist der Glaube in seiner Eigenart aber bedingt durch den Gegensatz Glauben – Wissen, dann schlägt diese Bedingtheit auf den Glaubensgegenstand durch. Dadurch, dass das göttliche Wissen das menschliche (endliche) Wissen nicht zu integrieren vermag (eben das ist im Vorgang des Sichstillstellens, des sich Transzendierens oder Erhebens ja zum Ausdruck gebracht), es also unbewältigt neben sich stehen lässt, verwandelt es sich in ein endliches Wissen, eben weil es am menschlichen Wissen seine Grenze hat.83 Damit ist der Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Wissen aufgehoben bzw. entpuppt sich als ein Schein-Unterschied: beides ist vermitteltes Wissen. Auch der Gegenstand des Glaubens ist durch die Tätigkeit des erkennenden 80
Vgl. auch WAGNER, Gedanke, 122: „Die Verstandeserkenntnis soll von der Vernunftanschauung strikt ausgeschlossen sein, so daß diese zunächst nur negativ bestimmt ist, insofern sie eben alles das ist, was nicht Verstandeserkenntnis ist. Damit ist das unmittelbare Wissen der Vernunft aber selbst durch das von ihr ausgeschlossene Wissen des Verstandes bedingt.“ 81 Vgl. HEGEL, Enzyklopädie, §63. Die inhaltliche Leere eines Wissens, das allein über die Abgrenzung vom vermittelten Wissen (von der Verstandeserkenntnis) bestimmt wird, betont auch Wagner: „Wohl ist Jacobi von der richtigen Absicht geleitet, die Gotteserkenntnis anders als nur durch den Verstand und die formale Logik zu begründen, da der Verstand allein Gott nicht erkennen kann. Aber Jacobi täuscht sich, wenn er meint, er könne Gott im unmittelbaren Wissen näher kommen. Denn würde die Unmittelbarkeit des Wissens konsequent festgehalten, so erwiese sie sich als völlige Leere.“ (WAGNER, Gedanke, 127, vgl. ebd., 123). 82 Zu diesem Argument vgl. HERMANNI, Metaphysik, 204; siehe auch unten zum kosmologischen Gottesbeweis Teil 3, Kap. III.1a. 83 Vgl. WAGNER, Gedanke, 130.
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Subjekts bedingt, diese Tätigkeit ist eben jener Akt der Selbstentäußerung bzw. der Selbstnegation. Der Satz, mit dem oben die Struktur des Glaubens beschrieben wurde – das eine existiert nur durch das andere – erhält so eine gegenläufige Bedeutung: Meint der Glaube selbst, dass er seine Existenz Gott verdankt, gilt tatsächlich, dass Gott seine Existenz dem Glauben verdankt. Die Aporie des Glaubens resultiert also daraus, in einen Dualismus menschlicher Wissensformen eingespannt zu sein und seine Eigenart allein durch die Negation seines Gegenübers zu gewinnen. Diese Aporie wird nun aber dadurch unsichtbar, dass der Mensch den Glauben überhaupt nicht als seine Wissensform identifiziert, sie kommt ja durch Negation alles Eigenen zustande. Indem er nicht sieht, dass der Glaube durch seine Negation alles Eigenen überhaupt erst entsteht, indem er sich also seiner eigenen (negativen) Produktionsleistung nicht bewusst ist, muss dem Menschen der Glaube als die Wissensform des ganz Anderen, Nicht-Menschlichen, eben als göttliches Wissen erscheinen. Das Problem ist also, dass der Mensch sich über die Genese des Glaubens nicht im Klaren ist. Er sieht nur das Resultat: Inhalte, die ihm fremd sind, nicht aber den Weg dorthin, seinen Akt der Selbstentäußerung. Dies ist der Grund, weshalb Wagner von der „Positivität“ des Glaubens sprechen kann: die Glaubensinhalte erscheinen dem Menschen nicht als seine Inhalte; der Glaube „nimmt den religiösen Inhalt als gegeben und somit als etwas, was sich nicht seiner Produktion verdankt.“84 Zugespitzt formuliert, verdankt der Glaube seine Existenz als göttliches Wissen menschlicher Selbstvergessenheit, der Mensch übersieht seine eigene Verfremdungsleistung.85 Erst mit dem Übergang zur Neuzeit wird sich der Mensch des Glaubens als seiner eigenen Wissensform inne; er bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass er ‚Religion‘ hat. Kehrseite dieses Zuwachses an Reflexivität ist jedoch, dass nun auch die Aporie, die dem Glauben wesentlich ist, allererst sichtbar wird. Die Aporie besteht darin, dass der Glaube zwar meint, sich auf einen vorgegebenen Inhalt zu beziehen, dass er tatsächlich aber selbst der Produzent dieses Inhalts ist. Mit Blick auf Wagners Beschreibung des christlichen Glaubens lässt sich Folgendes festhalten: 1. Es kann den Glauben als subjektiven Vollzug nie ohne Inhalte geben. Das Verhältnis von Glaube und Inhalt ist so zu bestimmen, dass der Inhalt den Glauben hervorbringt. Der Inhalt ist also als Grund des Glaubens zu qualifizieren. Dabei ist die Pointe, dass der Mensch im Glauben nicht mehr bei sich, sondern bei Gott ist; der Glaubende weiß sich eins mit seinem Gegenstand. Dass der Mensch als Glaubender nicht bei sich, sondern bei Gott ist, äußert sich so, dass der Mensch sich im Glaubensverhältnis nicht als ak84
WAGNER, WiR, 526. Damit sollte auch deutlich sein, dass das theologische Denken im Altprotestantismus noch ganz der Struktur des religiösen Bewusstseins entspricht. 85
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tiv, sondern als schlechthin abhängig erfährt: „Das religiöse Bewusstsein weiß sich […] im strikten Sinn als Moment seines Grundes: es ist auf ihn bezogen und von ihm abhängig.“86 2. Wagner entwickelt zwar eine eigene Theoriesprache. Dennoch kann er sich bei seiner Beschreibung des Glaubensgeschehens auf die christliche Tradition berufen. Das gilt sowohl für den Gedanken, dass der Mensch als Glaubender zu Gott gehört, als auch für die Überlegungen, dass sich diese Aufnahme dem Handeln Gottes verdankt und für den Menschen die Aufgabe seiner Selbsttätigkeit impliziert. 3. Wagners stark von Hegel geprägte Kritik am Glauben hat zur Voraussetzung, dass der Glaube als unmittelbares Wissen beschrieben wird. Während vermitteltes Wissen besagt, dass der Mensch im Erkenntnisprozess stets bei sich bleibt, soll das unmittelbare Wissen einen Zugang zur Wirklichkeit an sich garantieren. Im Modus unmittelbaren Wissens soll der Mensch also wirklich beim anderen sein. Wagners Einwand lautet, dass das unmittelbare Wissen in Wahrheit ein vermitteltes Wissen ist, das nicht darum weiß, dass es vermitteltes Wissen ist. Damit der Mensch überhaupt im Glaubensverhältnis vorkommen kann, muss er sich seiner Selbsttätigkeit enthalten; er muss von seinem wirklichen Sein abstrahieren. Das Glaubensverhältnis ist durch diese Abstraktionsleistung des erkennenden Subjekts bedingt – und damit auch Gott, der allein in diesem Verhältnis vorkommt. Damit erschafft der Mensch das Verhältnis, in dem er selbst als schlechthin abhängig erscheint. Das aber heißt, er ist im Glauben gar nicht beim anderen, sondern immer noch bei sich selbst. Da er das aber nicht weiß, muss der Glaube als entfremdetes Bewusstsein beschrieben werden. 4. Die für den Glauben konstitutive Bewegung der Negation (vgl. dazu auch Teil 3, Kap. I.2.b) wird von Wagner zwar kritisiert. Vorausgreifend kann an dieser Stelle aber bereits festgehalten werden, dass die Negation auch eine positive Funktion in Wagners Theorie individueller Freiheit einnimmt. Sie bildet ein entscheidendes Element innerhalb der Realisierung der Freiheit (vgl. Teil 4, Kap I.2., hier v.a. den Abschnitt zu Kants Ethik). Kritisiert wird die Negation von Wagner immer dann, wenn sie nicht von beiden Seiten eines Verhältnisses, sondern – wie im Fall der Religion – einseitig vollzogen wird. Im Folgenden soll die herausgearbeitete Struktur des christlich-religiösen Bewusstseins anhand von Wagners Ausführungen zum Begriff der Vorstellung überprüft werden. Gewinnbringend erscheint ein solches Vorgehen, weil Wagner – wie schon Hegel – davon ausgeht, dass das religiöse Bewusstsein, die Vorstellung und der kosmologische Gottesbeweis allesamt dieselbe Struk-
86
WAGNER, Begründung [RuG], 117.
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tur aufweisen.87 Damit kann dieser Abschnitt auch zur Verdeutlichung des Vorangegangenen dienen. b) Die religiöse Vorstellung Auffällig ist zunächst, dass Wagner den Begriff der Vorstellung auf zwei verschiedene Weisen verwendet. Zum einen will Wagner darunter „bildhafte, symbolische und metaphorische Sprachmittel“88 subsumieren. Dabei ist nicht jede Metapher eine Vorstellung, sondern eine solche liegt dann vor, wenn ein sinnlicher Ausdruck mit einem nichtsinnlichen Gehalt verknüpft wird. „Dieses Verhältnis von sinnlich bedingter Formgebung und nichtsinnlichem Gehalt macht das Spezifikum der religiösen Vorstellung aus.“89 Zum anderen kann Wagner von einem „Tun der Vorstellung“ sprechen, welches er genauer „als ein reproduzierendes Produzieren“90 charakterisiert. Mit der Rede vom reproduzierenden Produzieren möchte Wagner zweierlei einholen: Erstens den Umstand, dass sich die Vorstellung auf ein sinnliches, aber vergangenes Ereignis bezieht. Dieses wird mittels der Vorstellung vergegenwärtigt. In diesem Sinn ist die Vorstellung ein Reproduzieren. Zweitens verwandelt die Vorstellung das Ereignis aber auch. Als sinnliches Ereignis ist es ja vergangen, es existiert nur noch im Modus seiner Vergegenwärtigung durch das Tun der Vorstellung, nur noch als erinnertes Ereignis. In diesem Sinn produziert die Vorstellung das Ereignis. Worin unterscheiden sich die beiden Vorstellungskonzepte? Im ersten Fall ist das Ziel die Bezugnahme auf einen nichtsinnlichen Sachverhalt. Sie wird erreicht mittels einer „verfremdenden Verwendung“91 sinnlicher Ausdrücke. Im zweiten Fall möchte die Vorstellung den Bezug auf ein sinnliches Ereignis festhalten, auch wenn dieses vergangen ist. Auch in diesem Fall findet eine ‚Verfremdung‘ auf Seiten der Sinnlichkeit statt: „denn die Vorstellung stellt den Gegenstand nicht so vor, wie er gegeben war, sondern so, wie er als vergegenwärtigter und erinnerter von ihr hervorgebracht und produziert wird.“92 In beiden Fällen geht es, wenn man so will, um das Ereignis des Zusammenseins von Nichtsinnlichem und Sinnli87
Den kosmologischen Gottesbeweis behandle ich in einem eigenen Abschnitt; siehe dazu unten Teil 3, Kap. III.1. 88 WAGNER, WiR, 540. 89 WAGNER, WiR, 542; vgl. auch ebd., 543 (nach einer Darstellung von Tillichs Symbolbegriff): „Wie die metaphorische, so läßt sich auch die symbolische Darstellung des religiösen Gehalts auf das Verständnis der religiösen Vorstellung zurückführen; sie kann vorläufig so bestimmt werden, daß der gemeinte nichtsinnliche Gehalt im Medium sinnlich oder anschaulich geformter Inhalte dargestellt wird.“ Beispiele für eine Vorstellung, die Wagner anführt, sind Gott als Vater oder Gott als Herr; vgl. dazu auch DERS., Konstitution [WiTh], 161. 90 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 211. 91 WAGNER, WiR, 542. 92 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 211.
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chem, allerdings geschieht die Zusammenführung jeweils auf Kosten der Sinnlichkeit. Nach diesen Vorbemerkungen sollen die beiden Vorstellungskonzepte noch einmal für sich betrachtet werden. Bezüglich des ersten Konzepts weist Wagner darauf hin, dass die Definition der Vorstellung als „einer synthetischen Verbindung von nichtsinnlichem Gehalt und sinnlicher Form“93 die Annahme einer Differenz zur Voraussetzung hat, nämlich „die Differenz zwischen vorzustellendem Gehalt und vorstellendem Tun, zwischen gemeintem Sachverhalt und ihn prägender Vorstellungsweise, zwischen Gedanke und Sprachgestalt“94. Wagner meint nun, dass sich die Differenz von Form und Inhalt, wie sie für die Vorstellung konstitutiv ist, auf die gleiche Weise beschreiben lässt, wie das Verhältnis des Glaubens zu seinem Gegenstand. „Diese Korrespondenz zwischen religiöser Vorstellung und Verfaßtheit des religiösen Bewußtseins besagt, daß der vorzustellende nichtsinnliche Gehalt vom Tun des Vorstellens genauso vorausgesetzt wird, wie sich das religiöse Bewußtsein das absolute Subjekt zu seiner Begründung voraussetzt.“95 Genauso – d.h., wie für den subjektiven Glaubensvollzug sind auch für das Tun der Vorstellung Grund und Gegenstand identisch. „Die Differenz zwischen vorzustellendem Gehalt und vorstellendem Tun ist sonach als Differenz zwischen Nichtproduziertem und Produktion, Gegebenem und Produziertem zu fassen […].“96 Man wird diesen Satz m.E. so auffassen dürfen, dass auch die Vorstellung für Wagner eine Einheit darstellt, in der das eine (hier: das Tun der Vorstellung) durch das andere (den vorgestellten Gehalt) existiert. Wagner sieht hier allerdings auch die Schwierigkeit wiederkehren, die er schon für den Glauben namhaft gemacht hatte: der Vorstellungsgehalt erscheint als bestimmt durch den vorausgesetzten Dualismus von Form und Inhalt. Nur für die Vorstellungsweise, die sich selbst als produziert setzt, erscheint Gott als gegeben,97 damit erscheint Gott abhängig von einer bestimmten Bewusstseinsgestalt. Wagner macht geltend, „daß der vorausgesetzte nichtsinnliche Gehalt allein in den durch das religiö-
93
WAGNER, WiR, 545. WAGNER, WiR, 545. 95 WAGNER, WiR 545; Hervorhebung MS. 96 WAGNER, WiR, 545. 97 An anderer Stelle sagt Wagner, dass das religiöse Bewusstsein die Differenz, die sein Spezifikum ist (Grund – Begründetes bzw. frei – abhängig), selbst setzt. Wagner begründet dies so, dass das Bewusstsein, das sich selbst als schlechthin abhängig aussagt, mit dieser Aussage einen Akt der Selbstqualifizierung vollzieht. Als dieses sich selbst qualifizierende Bewusstsein ist es aber gerade nicht abhängig, sondern frei. Es ist eben das religiöse Bewusstsein, das eine Aussage über sich selbst trifft. In dieser Aussage erscheint es als schlechthin abhängig von Gott, allerdings ist die „so ausgesagte Abhängigkeit selbst abhängig vom religiösen Subjekt“, das die Aussage tätigt (vgl. WAGNER, WiR, 538). 94
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se Bewußtsein produzierten Vorstellungsweisen präsent ist.“98 Die Möglichkeit der Präsenz des nichtsinnlichen Gehalts erscheint so als abhängig von der „verfremdenden Verwendung“ sinnlich vermittelter Ausdrücke, also davon, dass der übliche Sprachgebrauch „in bestimmter Weise negiert wird“99. Umgekehrt gilt dann auch: Für ein Bewusstsein, das sich der Sprachverfremdung verweigert, gibt es auch keinen Gott. Damit aber erscheint der Gehalt, von dem das Tun der Vorstellung abhängig sein soll, selbst als abhängig vom Tun der Vorstellung. Wagner hält daher abschließend fest: „Die religiöse Vorstellung fällt also der Aporie anheim, von der auch das religiöse Bewusstsein betroffen ist: Der nichtsinnliche Gehalt, den das religiöse Bewußtsein um seiner Begründung willen voraussetzt, erscheint im Medium der religiösen Vorstellung allein so, wie er vom Tun des vorstellenden Bewußtseins gebildet wird. Das die Begründung des religiösen Bewußtseins tragende absolute Subjekt ist von Gnaden des es vorstellenden Bewußtseins.“100 Das zweite Konzept charakterisiert das Tun der Vorstellung als reproduzierendes Produzieren. Wagner gebraucht diese Formel in einem Aufsatz, in dem er die Würdigung und Kritik der christlichen Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes analysiert. Gewürdigt werde der Inhalt des Christentums. Er bestehe für Hegel in der Menschwerdung Gottes; diese wiederum meine letztlich nichts anderes als die Überwindung des abstrakten Gegensatzes von Gott und Mensch: „Gott macht sich zu seinem Anderen, er wird singuläres Selbstbewußtsein und ist damit in dieser seiner Entäußerung, in seinem Anderssein bei sich selbst; Gott ist nur Geist, insofern er sich selbst überschreitet und sich im anderen seiner selbst als sich selbst erfaßt.“101 Kritisiert werde hingegen das Bewusstsein, dessen Inhalt die Menschwerdung Gottes ist. Denn dieses sei als vorstellendes Bewusstsein gerade ein „Bewußtsein der Differenz“102, und zwar derjenigen Differenz, die in seinem Inhalt als überwunden angezeigt werde. Das Problem sieht Wagner darin, dass das vorstellende Tun auch die Menschwerdung Gottes entsprechend seiner eigenen Logik als einen gegebenen (nicht produzierten) Gehalt auffasst, von dem es selbst abhängig ist. D.h. als vorstellendes (aktives) Bewusstsein taucht der Mensch in diesem Gehalt nicht auf. In der Vorstellung ist Gott Mensch geworden, sind, wie Hegel auch sagen kann, Gott und Mensch versöhnt. Aber um in der Vorstellung vorkommen zu können, muss der Mensch von seiner vorstellenden Tätigkeit abstrahieren, so dass Wagner sagen kann, „dass das vorstellende als wirkliches
98
WAGNER, WiR, 545; Hervorhebung MS. WAGNER, WiR, 541. 100 WAGNER, WiR, 546. 101 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 210. 102 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 218. 99
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Bewußtsein noch unversöhnt bleibt“103, ja sogar unversöhnt bleiben muss. Nun macht Wagner wie für den Glauben, so auch für die Vorstellung geltend, dass sich das vorstellende Bewusstsein seiner Abstraktionsleistung, durch die es sich in den Vorstellungsgehalt setzt, nicht bewusst ist. „Das vorstellende Bewußtsein produziert zwar den vorgestellten Inhalt […]. Aber es weiß nicht um diese seine Produktion als Produktion; es ist im Vorgestellten nicht bei sich selbst.“104 Auch hier zeigt sich also der Vorgang der Entfremdung, auf den oben schon hingewiesen wurde. Das vorstellende Bewusstsein erfasst den Vorstellungsgehalt nicht als seinen Gehalt, sondern als „einen positivgegebenen Gegenstand“105. Weil das vorstellende Tun nicht erkennt, dass das Versöhnungsgeschehen sich seiner Abstraktionsleistung verdankt, erscheint es ihm als ein Ereignis, welches sich ohne sein Zutun abspielt. So erscheint der Mensch im Versöhnungsgeschehen nicht als aktiv, sondern als passiv; „[d]as vorstellende Bewußtsein versteht also die Versöhnung nur als das einseitige Geschehen der Menschwerdung Gottes […]“106. Da der Mensch in der Vorstellung als passiv erscheint und das vorstellende Bewusstsein nicht weiß, dass diese Passivität Produkt seiner Selbstentäußerung ist, erkennt es sich in der Vorstellung nicht wieder; „es nimmt die Versöhnung als ‚die Vorstellung von etwas‘ und damit als ‚die Handlung einer fremden Genugtuung‘“.107 Während der Inhalt der christlichen Religion gerade die Überwindung des Gegensatzes von Gott und Mensch zum Ausdruck bringt, stellt das vorstellende Tun diesen Gegensatz wieder her. Indem es sich selbst aus der Vorstellung heraushält, prägt es auch den Inhalt um, und zwar dergestalt, dass nun wieder allein Gott als der Handelnde erscheint; in diesem Sinn muss man wohl Wagners Hinweis verstehen, dass „das Sosein des Inhalts durch das vorstellende Bewußtsein bestimmt“ sei.108 An dieser Stelle wird deutlich, dass die Aporie des vorstellenden Bewusstseins für Wagner keine andere als die des zuvor analysierten religiösen Bewusstseins ist: zwar meint das vorstellen103
WAGNER, Aufhebung [WiTh], 213. WAGNER, Aufhebung [WiTh], 212. 105 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 213. 106 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 212. 107 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 213. Vgl. zur Entfremdung des christlich-religiösen Bewusstseins auch folgende Äußerungen Wagners: „der vorgestellte Inhalt bleibt dem vorstellenden Bewusstsein ein fremdes Ereignis, das es nur betrachtet, aber nicht selbst vollbringt.“ (ebd., 213). Das religiös-vorstellende Bewusstsein betrachte das Leben des absoluten Geistes „als ein ihm fremdes und anderes Geschehen.“ (ebd., 215). „Die Aufhebung [dieses Zustands] kann […] nur durch ein Bewußtsein vollzogen werden, das für sich selbst Selbstbewußtsein ist und sich als solches weiß – ein Bewußtsein, das das andere seiner selbst nicht als ein ihm Fremdes betrachtet, sondern das im anderen seiner selbst sich selbst findet“ (ebd.). Vgl. auch ebd., 216. 108 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 213. 104
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de Bewusstsein in der Vorstellung seines eigenen Grundes ansichtig zu werden, de facto ist dieser Grund aber bedingt durch die Tätigkeit des vorstellenden Bewusstseins. In einem verschärften, stellenweise polemischen Tonfall109 gibt Wagner in den Metamorphosen Hegels Kritik der Vorstellung wieder. Auch hier hält Wagner zunächst fest, dass das vorstellende Tun sich auf vorgegebenes ‚Material‘ bezieht, das durch das Tun der Vorstellung angeeignet und vergegenwärtigt wird.110 Zu einem vergangenen sinnlichen Ereignis (in den Metamorphosen ist mit diesem Ereignis der historische Jesus gemeint) wird durch das vorstellende Subjekt eine Beziehung der Meinigkeit hergestellt: mittels der Vorstellung verwickelt sich das Subjekt in ein vergangenes Geschehen, es wird zu seinem Geschehen. Folglich verändert das Tun der Vorstellung das Geschehen. „Das vergangene Selbstbewußtsein [gemeint ist Jesus] geht damit nicht als unmittelbar einzelnes Selbstbewußtsein, als das es ja vergangen ist, sondern als von der christlichen Gemeinde re-flektiertes, be-stimmtes und vor-gestelltes Selbstbewußtsein in dieselbe über.“111 Damit das vergangene Geschehen auch für das gegenwärtige Subjekt von Bedeutung sein kann, muss das, was an ihm nur damals von Bedeutung war, ausgeblendet werden, d.h. aus dem besonderen, vergangenen Ereignis muss ein Ereignis von allgemeiner (kontextunabhängiger) Bedeutung werden. Die Gemeinde stellt daher Jesus „nicht als ein exklusiv einzelnes, sondern als inklusiv allgemeines Selbstbewußtsein“112 vor. Vorstellungen haben also im Unterschied zu dem Material, aus dem sie gebildet werden, den Charakter der Possessivität113 und einen höheren Grad an Allgemeinheit,114 da sie an dem vorgegebenen Material das herausarbeiten, was gewissermaßen über es hinausweist und es zu einem Ereignis macht, das auch das gegenwärtige Subjekt etwas angeht. Anders als im vorgegebenen Material (der historischen Gestalt Jesus von Nazareth) findet das vorstellende Subjekt sich in der Vorstellung wieder. Die Gemeinde hebt den historischen Jesus in die Christus-Vorstellung auf, verwandelt ihn in ein Subjekt von universaler Bedeutung.115 Daher kann Wagner 109
Vgl. z.B. WAGNER, MM, 116. Vgl. die Rede von der „Er-innerung“ (WAGNER, MM, 103). 111 WAGNER, MM, 103. 112 WAGNER, MM, 103. 113 GABRIEL, Begriff, 12. 114 HALBIG, Vorstellung, 161. 115 Erst durch das vorstellende Tun der Gemeinde wird also die Jesus-Geschichte zur Religion, d.h. zu einem Ereignis, das jeden betrifft. Vgl. JAESCHKE, Religionsphilosophie, 114: „Erst nach der Aufhebung der Anschauung durch den Tod des Individuums [Jesus], im Übergang zur Vorstellung nimmt eigentlich die Religion ihren Anfang.“ M. Gabriel weist in seiner Darstellung des psychologischen Vorstellungsbegriffs bei Hegel darauf hin, dass erst Vorstellungen die sinnlichen Anschauungen, auf die sie sich beziehen, „mit Referentialität ausstatten“ (GABRIEL, Begriff, 13, vgl. ebd.: „Die Anschauung wird durch die 110
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sagen, dass das „inklusiv allgemeine Selbstbewußtsein […] einerseits mit der vorstellenden Tätigkeit der Gemeinde zusammen[fällt], so daß die Gemeinde, indem sie ihre Vorstellungen expliziert, sich selbst erfaßt.“116 Genau an dieser Stelle bringt Wagner jedoch erneut das Problem der Vorstellung zur Sprache. Denn von dem, was das vorstellende Tun tut, weiß es selbst nichts. D.h. es betrachtet zwar ein Geschehen von allgemeiner Bedeutung, also ein Geschehen, in das auch es selbst involviert ist. Es ist sich aber nicht darüber im Klaren, dass dieses Involviertsein die Folge seines eigenen Tuns ist, sondern es geht davon aus, dass es sein Involviertsein in das Geschehen dem Geschehen selbst verdankt. Das vorstellende Tun erkennt in der Vorstellung nicht sein eigenes Werk, sondern hält sie für eine unabhängig von ihm existierende Größe, etwas, das vor ihm steht, einen Gegenstand im Wortsinn. Daher fährt Wagner fort: „Aber da die Selbständigkeit der Gemeinde ein vorstellendes Tun darstellt, ist sie anderseits genötigt, das von ihr vorgestellte Selbstbewußtsein auf gegenständliche Weise von ihrer Tätigkeit als inklusiv allgemeinem Selbstbewußtsein zu unterscheiden.“117 Einerseits verknüpft das vorstellende Tun also das sinnliche Material (in diesem Fall: Jesus) mit dem allgemeinen Bewusstsein (hier: der Gemeinde). Dadurch verändert sich das Material, und zwar in dem Sinn, dass es seine Partikularität verliert: Gott hat sich nicht allein mit Jesus, sondern in Jesus mit der Menschheit versöhnt.118 Die Struktur der Vorstellung bringt es nun aber andererseits mit sich, dass dieses Bewusstsein einer allgemeinen Versöhnung vergegenständlicht wird, diesem (objektiven) Gegenstandsbewusstsein bleibt das (subjektive) vorstellende Bewusstsein äußerlich.119 Indem sich die Gemeinde in jenem allgemeinen Bewusstsein nicht wiedererkennt, erscheint es ihm als das Bewusstsein eines fremden Wesens; die Vorstellung kommt also darin mit dem religiösen Bewusstsein überein, dass sie als ein von sich entfremdetes Bewusstsein zu beschreiben ist.120 Vorstellung zum Zeichen, nämlich für dasjenige, worauf sie verweist.“) Erst im Glauben der Gemeinde wird also Jesu Bedeutung ersichtlich, wird er zum Zeichen für Gott. 116 WAGNER, MM, 103. 117 WAGNER, MM, 103. 118 Vgl. etwa den Hinweis bei RINGLEBEN, Theorie, 26: „Die Vorstellung hat dasselbe sinnliche Material [wie die Anschauung], aber in der Bestimmung des dem Bewusstsein gehörigen, d.h. es nimmt auch an dessen Charakter der Einfachheit und Allgemeinheit teil.“ 119 Zum vergegenständlichenden Tun der Vorstellung vgl. auch RINGLEBEN, Theorie, 25; zu ihrem Festhalten am Subjekt-Objekt-Gegensatz ebd., 30. 120 Weil das vorstellende Bewusstsein sein eigenes vergegenwärtigendes und aneignendes Tun als das Tun eines anderen interpretiert, weil aus den Handlungen seines eigenen Geistes die Handlungen eines fremden, ‚heiligen‘ Geistes macht, ist es nach Hegel als unglückliches Bewusstsein zu beschreiben. „Es tritt ein Selbstbewusstsein gegen ein anderes; in dem einen ist die Versöhnung vorgestellt; das andere stellt die Versöhnung zwar vor, ist aber eben deshalb nicht das Selbstbewußtsein der Versöhnung. Weil die Differenz
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Da das vorstellende Tun nicht weiß, dass sich die Aufhebung der Differenz zwischen ihm und dem vergangenen Ereignis in der Vorstellung seinem eigenen vergegenwärtigenden und aneignenden Tun verdankt, da es ihm also an voller Selbstdurchsichtigkeit mangelt, geht es davon aus, dass diese Aufhebung immer schon vorliegt, es betrachtet sein eigenes Produkt als etwas, das ihm vorgegeben ist. Das hat zur Folge, dass die eigene Versöhnung wiederum zu einem Ereignis der Vergangenheit wird. Hier offenbart sich die Widersprüchlichkeit der Vorstellung: sie stellt die Distanz, die sie zu überwinden trachtet, selbst wieder her. Am Ende des Kapitels urteilt Wagner daher, dass die christliche Religion aufgrund ihrer vorstellenden Tätigkeit einem „Dualismus der Entzweiung“121 verhaftet sei. Dieser betreffe sowohl die Zeit- als auch die Sozialdimension. Mit Blick auf die Zeitdimension verwandle das vorstellende Tun die Versöhnung in ein „Geschehen der Vergangenheit, so daß diese Versöhnung von einer ihm fremden und fernen Handlungsweise des resubstantialisierten Geist-Gottes dependiert.“122 Der Hinweis auf eine Entzweiung im sozialen Bereich hebt m.E. darauf ab, dass das Zusammensein von Gott und Mensch in der Vorstellung sich einer unbemerkten Abstraktionsleistung durch das vorstellende Subjekt verdankt. Als vorstellendes, wirkliches Bewusstsein kommt der Mensch in der Vorstellung nicht vor, oder genauer: er kommt zwar darin vor (nämlich durch den Akt der Selbstnegation, der die Vorstellung überhaupt erst hervorbringt), erkennt sich aber nicht wieder. Die Folge des vorstellenden Tuns ist für den Menschen daher „die Trennung seines wirklich-welthaften Bewußtseins von seinem isolierten religiösen Bewusstsein.“123 Wagner resümiert: „Das christlich-religiöse Selbstbewusstsein kultiviert in seinem ‚Herzen‘ das Gefühl, aufgrund der ihm extern zugerechneten göttlichen Genugtuung versöhnt zu sein; aber das versöhnte Herz schließt nicht die Versöhnung der Praxis seines wirklichen Selbst- und Weltumgangs ein, so daß diese einer zukunftsbezogenen Sehnsucht überantwortet werden muss.“124
von Vorstellendem und Vorgestelltem konstitutiv für die Vorstellung ist, kann die Versöhnung nicht als Selbstbewußtsein des Geistes realisiert werden. An sich ist zwar die Vorstellung das Selbstbewußtsein des Geistes; daß sie dies aber ist, bleibt ihr verborgen.“ (JAESCHKE, Religionsphilosophie, 115). 121 WAGNER, MM, 112. 122 WAGNER, MM, 112. 123 WAGNER, MM, 112. 124 WAGNER, MM, 112. Der Diagnose einer Entzweiung von versöhntem Herzen und unversöhntem ‚wirklichen‘ Weltumgang entspricht Wagners Kritik an einem halbierten Protestantimus (vgl. dazu den vierten Teil dieser Arbeit) und an einer Kirche, die zu einer geschlossenen Anstalt geworden sei. Wagners Forderung nach einer Aufhebung der Vorstellung ist stets auf die seines Erachtens noch ausstehende Realisierung des (protestantischen) Christentums zu beziehen. Vgl. dazu auch die Ausführungen zur ‚halbierten Menschwerdung‘ in Teil 2, Kap. II.2.
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Dieser zweite Abschnitt wurde eingeleitet mit dem Hinweis auf einen Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis des religiösen Bewusstseins und seiner tatsächlichen Struktur, die erstmals in den religionstheologischen Konzeptionen zur Sprache kommt. Das spannungsvolle Verhältnis von Religion und Religionstheologie ist abschließend noch einmal zu thematisieren. Zuvor sei auf eine Unterscheidung hingewiesen, die sich ebenfalls bei Hegel findet und anhand derer gezeigt werden kann, dass es sich auch bei der Vorstellung um ein vermitteltes Wissen handelt, das nicht weiß, dass es vermitteltes Wissen ist. Gemeint ist die Unterscheidung von Denken und Nachdenken.125 Hegel setzt voraus, dass es das Denken ist, das den Menschen zum Menschen macht. Weil der Mensch als Mensch immerzu denkt, ist die Wirklichkeit, mit der er es allein zu tun haben kann, eine durch das Denken strukturierte Wirklichkeit. Jede menschliche Bezugnahme auf die Wirklichkeit ist für Hegel immer auch ein Denken, was allerdings nicht bedeutet, dass dem Menschen die Begriffe, die er hierbei in Anspruch nimmt, auch thematisch werden müssen. Ein Beispiel für ein solches Denken, das sich selbst nicht zum Thema macht, ist das Tun der Vorstellung.126 Weil ihm „die Formen seines Erkennens […] vollständig transparent und damit unsichtbar“127 sind, geht es davon aus, sich direkt auf die Wirklichkeit und nicht auf seine Vorstellungen der Wirklichkeit zu beziehen. Christoph Halbig weist darauf hin, dass der Mensch, wenn er sich seiner eigenen Wissensformen nicht bewusst ist (also nicht weiß, dass er sich anschauend, vorstellend usw. auf einen Inhalt bezieht), davon ausgeht, dass er es mit verschiedenen Inhalten zu tun hat. D.h. er rechnet die Form, in der ihm ein Inhalt erscheint, dem Inhalt selbst zu.128 Genau daraus resultiert die vermeintliche Positivität der Vorstellung: weil das vorstellende Bewusstsein sein eigenes Tun ausblendet, erscheint ihm sein Inhalt als gegeben (und nicht gemacht). Woran es dem vorstellenden Tun also mangelt, ist ein Bewusstsein für die eigene Erkenntnisleistung; aus diesem Mangel an Selbstbewusstsein resultiert dann auch eine fehlerhafte Gegenstandsauffassung. Die Leistung des Nachdenkens besteht nun gerade darin, die vom Menschen immer schon in Anspruch genommenen Begriffe explizit zu machen. Das Nachdenken ist für Hegel das Proprium der Philosophie. Damit ist aber auch deutlich, dass das Verhältnis von Philosophie und Religi125
Vgl. zum Folgenden HALBIG, Vorstellung. Vgl. auch GABRIEL, Begriff, 17: „die Vorstellung ist eine Bezugnahme auf Inhalte, die ihre eigene Form nicht zum Inhalt machen kann.“ 127 HALBIG, Vorstellung, 171. 128 Vgl. z.B. HEGEL, Phänomenologie, 391, zitiert bei HALBIG, Vorstellung, 166: „Indem aber das Denken zunächst das Element dieser Welt ist, hat das Bewußtsein nur diese Gedanken, aber es denkt sie noch nicht oder weiß nicht, daß es Gedanken sind; sondern sie sind für es in der Form der Vorstellung.“ Dem vorstellenden Bewusstsein erscheint es so, als würden seine Gedanken zum Gegenstand dazugehören, genau darum bezeichnet Wagner m.E. das religiöse als ein gegenständliches Bewusstsein. 126
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on nicht als ein Gegensatz aufgefasst werden darf. Das religiöse Bewusstsein ist als vorstellendes Bewusstsein eben auch ein Denken. „Die philosophische Reflexion auf die Religion projiziert nicht etwa ihr äußerliche begriffliche Gehalte auf religiöse Phänomene, sondern sie macht im Zuge des reflexiven Nachdenkens eben die begrifflichen Strukturen explizit, die konstitutiv für solche Phänomene sind.“129 Wagner begreift das Verhältnis von Religionstheologie und religiösem Bewusstsein vor dem Hintergrund einer solchen Unterscheidung von Denken und Nachdenken. Aus dem Zuwachs an Reflexivität erklärt sich der Widerspruch zwischen der Beschreibung des Glaubens durch die Religionstheologie und dessen Selbstsicht. Dieser Widerspruch lässt sich an Begriffspaaren wie aktiv und passiv, selbständig und abhängig, Produzent und Produkt festmachen. Gezeigt hat sich nun allerdings auch, dass dieser Widerspruch seine Ursache in der Struktur des religiösen Bewusstseins selbst hat und dass er nur deshalb verborgen bleibt, weil sich das religiöse Bewusstsein seines eigenen Tuns nicht bewusst ist. Diese Selbstvergessenheit hat das religiöse Bewusstsein mit der vorneuzeitlichen Theologie gemeinsam. Wichtig ist nun, dass es gerade die Selbstvergessenheit des Glaubens ist, die Gott Gott sein lässt. Nur weil das religiöse Bewusstsein das eigene Tun für das Tun eines anderen hält, kann Gott die alles bestimmende Wirklichkeit sein. Gott verdankt sich so einer besonderen menschlichen Bewusstseinsform, deren Eigentümlichkeit darin besteht, sich nicht als menschliche Bewusstseinsform zu wissen. Den Glauben als eine besondere Bewusstseinsform und Gott als ihren Gehalt sichtbar gemacht zu haben, ist die Leistung der neuzeitlichen Religionstheologie. Für Wagner besteht die Bedeutung der Religionstheologie dann vor allem darin, das Unglück des religiösen Bewusstseins freigelegt zu haben: Der Grund ist von Gnaden des Begründeten. Bei der Aporie, die für Wagners Denken zentral ist, handelt es sich also nicht um eine Aporie der Religionstheologie – das will Wagner gegen Pannenberg festgehalten wissen –, sondern um eine Aporie des religiösen Bewusstseins, die allerdings erst durch die Religionstheologie ins Bewusstsein gehoben wird.130 Dass die Religions129
HALBIG, Vorstellung, 165. Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen der Theologie Wagners und dem Entwurf von Christian Danz, der ansonsten in vielem an Überlegungen Wagners anschließt. Während Wagner zwischen unbewusster Religion und bewusster Theologie unterscheidet, weiß das religiöse Bewusstsein bei Danz bereits als solches um seine eigene Produktivität. „Im Unterschied zu Wagner“ geht es ihm darum, „die der theologischen Theologie zugeschriebene Reflexivität in den religiösen Akt zu verlagern“ (DANZ, Protestantismus, 152). Wagner selbst kann den Unterschied zwischen Religion und Theologie (im Zusammenhang mit seiner Semler-Interpretation) auch so beschreiben, „daß eine wissenschaftlich, nämlich theologisch bearbeitete von einer vorwissenschaftlich-gelebten Religion unterschieden werden kann“ (WAGNER, Religion, 49). In diesem Sinn bekäme man bei Danz lediglich die Religion in der Form ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung zu Gesicht. 130
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theologie an der Aporie des religiösen Bewusstseins partizipiert, zeigt auch der folgende Abschnitt: gerade weil die Religionstheologie von einer besonderen Bewusstseinsform ausgeht, kann es sie nur in einer Pluralität konkurrierender Positionen geben. 3. Religionstheologie als positionelle Theologie Eine Eigenart der Religionstheologie ist es nach Wagner, als positionelle Theologie aufzutreten. Diesen Begriff übernimmt Wagner von Dietrich Rössler.131 Auch Rössler geht davon aus, dass die Theologie sich in der Neuzeit dem religiösen Subjekt verpflichtet weiß; sie wird damit prinzipiell zur „Privatsache“132. Eine solche Privattheologie wird allerdings erst dann zur „Position“, wenn sie bei anderen Christen auf Zustimmung stößt, wenn sie also die Sphäre des Privaten verlässt und öffentliche Anerkennung erlangt.133 Positionelle Theologie ist daher nicht die Theologie eines Einzelnen, sondern vertritt eine mehrheitsfähige Form christlicher Subjektivität. Sie „repräsentiert die Anschauung einer Gruppe“ und diese steht wiederum für „eine jeweils bestimmte Gestalt der Frömmigkeit“134. Die positionelle Theologie ist also gegenüber einer bloßen Privattheologie durch einen bestimmten Anspruch gekennzeichnet: sie zielt auf Allgemeinheit. Dieser Anspruch auf Allgemeinheit kommt nach Rössler darin zum Ausdruck, dass die positionelle Theologie sich als „kirchliche Theologie“135 verstehe. Nun erhebt nicht nur eine Gruppe frommer Subjekte den Anspruch auf Kirchlichkeit, sondern mehrere, sodass die Situation des neuzeitlichen Christentums durch die Konkurrenz verschiedener Frömmigkeitsstile gekennzeichnet ist. Das „Ziel“ der Theologie ist dabei die „Begründung“ einer bestimmten Gestalt christlicher Frömmigkeit.136 Als positionelle Theologie partizipiert sie daher an der Situation der Konkurrenz. „Es ist die Konkurrenz um die öffentliche Auslegung des Christentums in der Kirche und durch die Kirche, die Konkurrenz um die Vorherrschaft in der Definition des offiziellen und institutionellen Selbstbewusstseins.“137 Wagner geht nun ebenfalls davon aus, dass es Religionstheologien immer nur im Plural gibt und dass sie zueinander im Verhältnis der Konkurrenz stehen. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, dass die objek131
RÖSSLER, Theologie, 215–231. RÖSSLER, Theologie, 219. 133 RÖSSLER, Theologie, 222, 134 RÖSSLER, Theologie, 223. Vgl. ebd., 224: „Die theologische Position ist die Theorie einer bestimmten Glaubens- und Lebenspraxis.“ 135 RÖSSLER, Theologie, 226. 136 RÖSSLER, Theologie, 225. Rössler führt allerdings nicht aus, was er unter ‚Begründung‘ versteht. 137 RÖSSLER, Theologie, 226. 132
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tiven Gestalten der Religion, die religiösen Texte und Bräuche, als Ausdrucksformen menschlicher Subjektivität zu begreifen sind. Die kopernikanische Wende im Bereich des Göttlichen vollzogen zu haben, ist für Wagner das bleibende Verdienst der Religionstheologie. Die Pluralität der Religionstheologien kommt nun dadurch zustande, dass dieser Theologietyp nicht das Selbstbewusstsein „rein als solches“138 zum Prinzip seiner Konstruktionsbemühungen erhebt. Nicht dem „allgemeinen und apriorischen Selbstbewusstsein“ weiß sich die Religionstheologie verpflichtet, sondern sie rekurriert nach Wagner auf ein „besonderes, nämlich inhaltlich bestimmtes Selbstbewusstsein“139. Was ist damit gemeint? Die Beispiele, die Wagner für eine solche inhaltliche Bestimmtheit des Selbstbewusstseins gibt, variieren.140 Hilfreicher ist eine Passage, die sich in der Religionsmonographie findet.141 Wagner resümiert hier seinen Durchgang durch die Geschichte des Religionsbegriffs. Dem modernen Verständnis zufolge äußere sich in der Religion das individuelle Bewusstsein. Es sei nun aber falsch zu meinen, dass damit der Anspruch der Religion auf Allgemeinheit aufgegeben sei. Es werde durchaus behauptet, dass sich in der Religion ein Sachverhalt Geltung verschaffe, der allen Individuen gemeinsam ist. Worin genau das Allgemeine der Religion bestehe, darüber gingen die Meinungen indes auseinander. An dieser Stelle spricht Wagner nun von inhaltlicher Bestimmtheit. Der Streit innerhalb der Theologie entzündet sich nämlich an der Frage, worin genau „die inhaltliche Bestimmtheit der vom religiösen Bewusstsein repräsentierten Allgemeinheit“ 142 besteht. In der genannten Passage folgt dann der Hinweis auf Schleiermacher, der die Allgemeingültigkeit der Religion dadurch sichern wolle, dass er sie an ein besonderes Bewusstseinsvermögen binde. Dass die Religionstheologie in einer inhaltlichen Bestimmtheit des Selbstbewusstseins das Prinzip ihres Tuns erblickt, meint also, dass sie die Religion nicht in der Subjektivität überhaupt, sondern in einer besonderen Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins, z.B. im „Erkennen, Handeln, Füh-
138
WAGNER, Einleitung [RG], 359. WAGNER, GoG, 122. 140 In Geld oder Gott formuliert Wagner so, als gäbe er eine vollständige Aufzählung: Das religiöse Bewusstsein könne „als frommes, moralisches, geistiges, erwecktes, wiedergeborenes, bekehrtes Selbstbewusstsein oder in der Form sittlich-religiöser Persönlichkeit auftreten“ (WAGNER, GoG, 122). Andere Passagen machen aber deutlich, dass die Liste prinzipiell unabschließbar ist, vgl. z.B. DERS., Einleitung [WiTh], 402 oder DERS., Pluralität, 158. In seinem TRE-Artikel zur Religion unterscheidet Wagner drei Typen positioneller Theologie, die jeweils eine andere menschliche Bewusstseinstätigkeit ins Zentrum stellen. So könne man „voluntativ orientierte von emotiv und kognitiv geleiteten Religionstheologien unterscheiden.“ (WAGNER, Religion TRE, 529f.). 141 Vgl. WAGNER, WiR, 165f. 142 WAGNER, WiR, 165. 139
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len, Anschauen, Erleben, Ahnen“143, verortet. Die Rede von der inhaltlichen Bestimmtheit zielt damit auf dieselbe Thematik, die Wagner an anderer Stelle unter dem Stichwort ‚Selbständigkeit der Religion‘ verhandelt.144 Kompliziert wird Wagners Rede von der positionellen Theologie allerdings dadurch, dass er die Formulierung ‚inhaltliche Bestimmtheit‘ nicht nur auf die auf die besondere Bewusstseinstätigkeit bezieht (auf die fides qua), sondern auch auf den intentionalen Gehalt dieser Bewusstseinstätigkeit (also auf die fides quae). Etwa dann, wenn es heißt, dass die besondere Bewusstseinstätigkeit „an eine inhaltliche Bestimmtheit gebunden“ sei, „durch die das religiöse Bewusstsein seine Zugehörigkeit zu einer positiven Religion zu erkennen gibt.“145 M.E. kann man die Bemerkung, dass die besondere Bewusstseinstätigkeit stets an Inhalte gebunden ist, als einen Hinweis darauf lesen, wie die Religionstheologie eigentlich zu ihrer Bestimmung des religiösen Bewusstseins gelangt. Sie geht von einem gegebenen Gehalt aus und unterscheidet an ihm Vollzug und Inhalt; sie kann nicht anders vorgehen, als dass sie die spezifisch religiöse Bewusstseinstätigkeit aus den vorgefundenen Gehalten abstrahiert. Tritt das religiöse Bewusstsein immer nur als Einheit von Vollzug und Inhalt auf, so erfasst erst die Religionstheologie diese Einheit als eine Einheit von zwei unterscheidbaren Größen. Man kann es vielleicht so formulieren: Indem die Religionstheologie das Allgemeine im Besonderen sucht, lenkt die Antwort auf die Frage, welcher besondere Gehalt als typisch christlich gelten kann, auch die Suche nach dem Allgemein-Religiösen. Ob die Tätigkeit des religiösen Bewusstseins als ein Erkennen, als ein Handeln oder als ein Fühlen bestimmt wird, hängt eben davon ab, welche Gehalte man heranzieht, um aus ihnen das religiöse Bewusstsein zu abstrahieren. Dass sich etwa im Textbestand der Bibel alle drei genannten mentalen Aktivitäten ausfindig machen lassen, dürfte kaum strittig sein. Wagner erklärt die Entstehung der Positionalität der Religionstheologie jedenfalls so, dass „aus der möglichen inhaltlichen Bestimmtheit, die in der bestimmten positiven Religion enthalten ist“, ein „Grundzug“ ausgewählt werde, der dann „zur wesentlichen und zentralen Bestimmtheit des religiösen Bewusstseins erklärt“ werde.146 Ich lese den Satz so: Die Verfasstheit des vorfindlichen Christentums lässt es zu, dass man in ihm sowohl ein Fühlen, Glauben, Wollen etc. am Werk sieht. Der Streit, der für die positionelle Theologie kennzeichnend ist, kommt dann dadurch zustande, den Bestand des Christentums aus nur einer Bewusstseinstätigkeit – eben der spezifisch religiösen – ableiten zu wollen. Der Religionstheologie ist es darum zu tun, alle Gehalte als Gehalte eines bestimmten Bewusstseins auszuweisen, sie will sie als Gehalte für das christ143
WAGNER, WiR, 165. Siehe dazu unten S. 87ff. 145 WAGNER, Funktionalität, 295. 146 WAGNER, Funktionalität, 296; Hervorhebungen MS. 144
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lich-religiöse Bewusstsein verstanden wissen. Leitend ist also eine funktionale Sichtweise auf die Gehalte: „Sie dienen dazu, die Einheit des Selbstbewusstseins gerade auch unter der Bedingung der Verschiedenheit mannigfaltiger Inhalte zum Zuge zu bringen.“147 Zugespitzt formuliert: die Inhalte der christlichen werden auf eine bloße Dienstleistungsfunktion reduziert; ihr Zweck ist es, die Richtigkeit einer bestimmten Religionstheorie zu erweisen. So kann Wagner mit Blick auf Schleiermacher urteilen: „Die (Re-)Konstruktion der Inhalte wird davon abhängig gemacht, daß mittels ihrer das christlich-fromme Selbstbewusstsein sich entfalten kann. Den Inhalten eignet nicht ein Selbstzweck, sondern sie dienen als Vehikel zu Erfassung und Darstellung des Selbstbewusstseins.“148 Wagners Überlegungen zur positionellen Theologie stimmen nun allerdings auch darin mit Rössler überein, dass sie letztlich darauf zielen, die aporetische Struktur dieses Theologietyps offenzulegen. Wagners These lautet, dass jede religionstheologische Position sich selbst widerspricht. Er gelangt zu dieser Behauptung mittels eines argumentativen Dreischritts, der in seiner kürzesten Form so aussieht: „(1) Jede Position ist das, was sie ist, nur durch die negative Bezugnahme auf andere Positionen. (2) Um der Selbstständigkeit einer Position willen ist aber auch die negative Bezugnahme auf andere Positionen auszuschließen. (3) Da aber auch die negative Bezugnahme für jede Position konstitutiv ist, schließt sich die Position durch Auschluss der anderen Positionen von sich selbst aus. D.h. sie widerspricht sich selbst.“149
Der erste Satz lässt erkennen, dass die Religionstheologie an einem Prinzip festhält, welches schon die Struktur des religiösen Bewusstseins bestimmt. Was Glaube ist, wurde dort nicht positiv, sondern allein negativ definiert: kein vermitteltes Wissen. Eine religionstheologische Position gewinnt ihr Profil nun durch Abgrenzung von anderen theologischen Standpunkten, deren Anspruch, ebenfalls das christlich-religiöse Selbstbewusstsein zu repräsentieren, damit verneint wird. So hält Wagner mit Blick auf Semler fest: „Die negative Beziehung der allgemeinen Religion auf die Theologie, der Privatauf die kirchliche Theologie, des selbständigen auf den unselbständigen Christen verhilft dem vernünftig-moralischen Selbstbewusstsein zur Profilierung der eigenen Selbständigkeit.“150 Ein anderes Beispiel ist Schleiermacher, dessen eigene Position sich der kritischen Auseinandersetzung mit Supranaturalismus und Rationalismus verdanke. Wichtig ist, dass in diesem Bestimmungsverfahren die Endlichkeit einer Position zum Ausdruck kommt. Was eine Position ausmacht, lässt sich nur im Kontext anderer, alternativer Positionen sagen. „Positionelles Selbstbewusstsein ist daher eo ipso bedingtes 147
WAGNER, Erwägungen [WiTh], 401. WAGNER, GoG, 123. 149 WAGNER, GoG, 124. 150 WAGNER, Bemerkungen [RG], 133. 148
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Erster Teil
Selbstbewusstsein“151. Anspruch einer jeden religionstheologischen Position ist es nun aber, nicht ein, sondern das christliche Selbstbewusstsein zu repräsentieren. Diesen Anspruch der Religionstheologie auf Allgemeinheit soll der zweite Satz zum Ausdruck bringen. So wie das unmittelbare Wissen nicht weiß, dass es eigentlich vermitteltes Wissen ist, so blendet jede Religionstheologie um ihrer Selbständigkeit willen die sie konstituierende Bezugnahme auf andere Positionen aus. Weil nun aber jede religionstheologische Position zu ihrer inhaltlichen Bestimmtheit allein über die Negation anderer Positionen gelangt, weil sie ihre Identität also den anderen Positionen verdankt, negiert sie, so lautet Wagners Konklusion, wenn sie die anderen Positionen negiert, auch sich selbst. Der Widerspruch besteht demnach darin, dass die Wendung gegen den anderen zugleich die Wendung gegen sich selbst bedeutet. Die Wendung gegen den anderen, die zum Konkurrenzkampf der Religionstheologie führt, wird dann erforderlich, wenn eine besondere Gestalt der christlichen Frömmigkeit den Anspruch erhebt, die allgemeine christliche Frömmigkeit zu sein. Denn dieser Anspruch wird widerlegt durch die bestehende Pluralität christlicher Frömmigkeitsstile. Abstrakt formuliert lautet Wagners Kritik an der Religionstheologie also, dass etwas Besonderes hier den Status des Allgemeinen erlangen will und dass es diesen Status nur so meint erreichen zu können, dass es andere Besondere, die diesen Status momentan dementieren (und mit gleichem Recht beanspruchen könnten und auch beanspruchen), bekämpft. Setzt das Besondere sich aber durch, so wird es zu einem Allgemeinen ohne jede inhaltliche Bestimmtheit, die sich eben dem bekämpften Anderen verdankte. Man könnte auch sagen: Auf dem Weg nach oben verliert sich das Besondere, ein Dilemma, das sich schon an der Erhebung des religiösen Bewusstseins zeigte. Weil die Religionstheologie von einer inhaltlichen Bestimmtheit des Selbstbewusstseins ausgeht, gibt es sie nur in einer Pluralität von Religionstheologien. Weil die Religionstheologien für ihre jeweilige inhaltliche Bestimmtheit Allgemeinheit reklamieren, stehen sie zueinander in einem Verhältnis der Konkurrenz. Wie gesehen, hat der Anspruch auf Allgemeinheit Auswirkungen auf den Umgang mit christlichen Gehalten. An ihnen soll sich die Allgemeinheit des eigenen Konstruktionsprinzips aufweisen lassen. Die Folge ist eine Pluralisierung der Gehalte: jeder Frömmigkeitstyp entwirft seinen eigenen Christus. Es zeigt sich hier die Aporie des religiösen Bewusstseins: Der Glaube, der sich eigentlich dem Inhalt verdanken soll, produziert seinen Inhalt nun selbst: „Der Inhalt ist so das, was er ist, nur als Gesetztsein, nur als Produziertes, nur so, wie er relativ zum jeweiligen Konstruktionsprinzip vorgestellt und gedacht werden kann.“152 Der jeweilige Frömmigkeitstyp, von dem eine Religionstheologie ausgeht, erfährt seine Rechtfertigung also 151 152
WAGNER, Bemerkungen [RG], 133. WAGNER, GoG, 125.
II. Der Kontext der Religionstheologie
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nicht aus den gegebenen Inhalten des Christentums, diese werden vielmehr so modelliert, dass sie als seine Ausdrucksphänomene erscheinen können. Verlieren die Inhalte ihre Selbständigkeit und damit ihre Funktion als Maßstab, so ist „der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet.“153 Die Religionstheologie mag als eine freie Theologie gelten, da sich ihr Subjekt nicht länger fremden Gehalten unterwirft, sondern sie als seine Gehalte, als Ausdruck seiner Frömmigkeit, zu identifizieren vermag. Unter Freiheit wird hier allerdings, so Wagner, „die Beliebigkeit subjektiver Setzungen“154 verstanden. Eine Entscheidung, welcher Frömmigkeitstyp zurecht den Anspruch auf Allgemeinheit erheben, welcher zurecht als christlich gelten kann, ist nicht mehr möglich, wenn die Selbständigkeit der Gehalte aufgegeben wird. Es gilt dann das ‚Recht des Stärkeren‘.
II. Der Kontext der Religionstheologie II. Der Kontext der Religionstheologie
1. Das Verhältnis von Religionstheologie und Neuzeit Es fällt auf, dass Wagners theologiegeschichtliches Interesse nahezu ausschließlich der Neuzeit gilt. Das ist kein Zufall; für Wagner erscheinen Neuzeit und Christentum, und zwar das protestantische Christentum, als hochgradig kompatibel. Man wird sagen können, dass es spezifisch neuzeitliche Entwicklungen sind, die es dem Christentum ermöglichen, sich überhaupt erst zu realisieren.155 Dies soll nun zunächst mit Blick auf die neuprotestantischen Religionstheologien gezeigt werden. Dabei ist zu beachten, dass der Umbruch, den der Neuprotestantismus gegenüber aller vorherigen Theologie bedeutet, für Wagner nicht lediglich als Folge theologieexterner Revolutionen zu deuten ist.156 Natürlich müssen die Schriften Schleiermachers oder Ritschls auch als Reaktionen auf die Krise gelesen werden, in die eine metaphysisch operierende Theologie durch Kants erkenntnistheoretische Überlegungen gestürzt wurde. Aber eben nicht nur. Hinsichtlich des Säkularisierungsprozesses etwa kann Wagner vom Neuprotestantismus auch als Antriebskraft sprechen.157 Wer das Verhältnis von Neuzeit und Religionstheologie mit Kategorien wie Ursache und Wirkung zu begreifen versucht, scheint nach Wagner zu irren; der Zusammenhang ist komplexer und, das zeigt sich schon jetzt, in jedem Fall als 153
WAGNER, GoG, 126. WAGNER, GoG, 126. 155 Vgl. insbesondere WAGNER, Christentum [RuG]. Für eine knappe Zusammenfassung dieser spezifisch neuzeitlichen Entwicklungen vgl. WAGNER, Neuzeit, 699–704. 156 Zur Bedeutung der Revolutionen in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft für Religion und Theologie vgl. WAGNER, MM, 13ff. 157 Vgl. WAGNER, WiR, 223. 154
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Erster Teil
ein Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung zu beschreiben. Aus Wagners oft nur skizzenhaft angefertigter Beschreibung der Neuzeit sollen im Folgenden vier Grundzüge herausgehoben und auf ihren Zusammenhang mit der Religionstheologie hin befragt werden; dabei handelt es sich um die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, die Säkularisierung, die Entstehung des Bürgertums und die Ausbildung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Da die ersten beiden Punkte für Wagner aufs Engste miteinander verbunden sind, sollen sie hier zusammen behandelt werden. a) Funktionale Differenzierung und Säkularisierung Mit dem Begriff der Säkularisierung kann alles Mögliche gemeint sein, Wagner meint aber, die Bedeutungsvielfalt auf zwei Grundtypen reduzieren zu können. Damit eignet er sich eine Unterscheidung Trutz Rendtorffs an.158 Dieser hat in einem Aufsatz vorgeschlagen, dass zum einen dann von Säkularisierung zu reden sei, wenn es um die Übersetzung religiöser Gehalte in nicht-religiöse Kontexte gehe. Wagner führt als ein Beispiel für eine solche Übersetzung Max Webers These an, dass die Wurzeln des ‚kapitalistischen Geistes‘ im asketischen Protestantismus zu suchen seien.159 Als zweites nennt Rendtorff folgenden Bedeutungsgehalt: „Säkularisierung steht für einen Prozeß der Entchristlichung oder Entkirchlichung, in dem das Christliche durch eine Autonomisierung der Gesellschaft immer mehr beiseite gedrängt worden ist. Sie bezeichnet dann einen dichotomischen Zustand, in dem sich säkularisierte Gesellschaft und Kirchen gegenüberstehen.“160 Die beiden Grundtypen unterscheiden sich also darin, dass sie auf die Frage, was eigentlich säkularisiert wird, gegensätzliche Antworten geben. Das eine Mal bezieht sich der Vorgang der Säkularisierung auf die Religion (genauer: auf die religiösen Gehalte), das andere Mal auf die Gesellschaft; damit sind für Wagner alle religionssoziologischen Antwortmöglichkeiten ausgeschöpft. Wagner hat sich in verschiedenen Texten zu beiden Säkularisierungsbegriffen geäußert; mit seiner „Theorie autonomer Säkularisierung“ hat er zudem den Versuch unternommen, zwischen den beiden Grundtypen der Säkularisierung zu vermitteln.161 Zumeist aber, wenn Wagner von Säkularisierung redet, meint er damit jenen zweiten Typ, also das, was Rendtorff die Autonomisierung der Gesellschaft genannt hat. Allerdings bezieht er sich zur weiteren Beschreibung dieses Vorgangs nicht länger auf Rendtorff, sondern greift hierfür auf die 158
Vgl. WAGNER, WiR, 197, Anm. 150. Vgl. WAGNER, WiR, 197 und 187–189. 160 RENDTORFF, Kirchensoziologie, 119. 161 Vgl. dazu WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 463f. Ohne Rendtorff zu nennen, unterscheidet Wagner hier zwischen einem geistesgeschichtlichen und einem religionssoziologischen Modell der Säkularisierung. 159
II. Der Kontext der Religionstheologie
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Soziologie Niklas Luhmanns zurück: mit Luhmann begreift Wagner die Säkularisierung als eine Folge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft.162 Die Säkularisierung mit der Theorie funktionaler Differenzierung verknüpfend kann Wagner sagen, dass die neuzeitliche Autonomisierung der Gesellschaft zugleich eine „Autonomisierung der Religion“163 bedeutet. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme bedeutet, dass Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. (relativ) unabhängig voneinander operieren und sich auf die Bearbeitung eines bestimmten Problems konzentrieren.164 Säkularisierung meint dann also, dass Politik oder Wissenschaft sich von religiösen Anforderungen emanzipieren und ihrer je eigenen Logik folgen. „Die kirchlich organisierte Religion kann nicht damit rechnen, daß in ihrer sozialen Umwelt und d.h. innerhalb des Bereichs der sozialen Systeme für Politik, Wirtschaft, Recht, Bildung usw. spezifisch religiöse Erwartungen und Funktionen wahrgenommen werden.“165 Hatte die Religion in vormodernen Gesellschaften die Aufgabe, die hierarchische Ordnung zu legitimieren, diente sie also dem Zusammenhalt der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten,166 so musste diese Aufgabe mit dem Übergang zu einer funktional differenzierten Gesellschaft ihren Sinn verlieren; die Religion war „nun ihrerseits gezwungen, ein eigenes Sozial- und damit Teilsystem auszubilden.“167 Die Säkularisierung bedeutet daher mitnichten das Verschwinden der Religion, in gewisser Hinsicht markiert sie sogar ihre Geburtsstunde. Denn war die Religion bisher fraglos gültig, ist sie jetzt, da die anderen Teilsysteme sich säkularisieren und d.h. unabhängig von ihr agieren, erstmals gezwungen, über sich und ihre Funktion nachzudenken. Anders gesagt, erst der Umstand, „nicht mehr für alle verbindlich und verbindend“168 zu sein, mobilisiert die Religion zur Selbstbegründung und zur Konzentration aufs Eigene. In dem Ende der Verquickung von Religion und Politik oder Religion und Wissenschaft erblickt Wagner daher die Chance der Religion, erstmals ihr eigenes Thema zu artikulieren. „Zugespitzt könnte man sagen, daß erst unter der Bedingung der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems die Religion in die Lage versetzt wird, auf die ihr spezifische Funktion, Leistung und Reflexion sich zu konzentrieren.“169 An dieser Stelle lässt sich eine erste Brücke zur Religionstheologie schlagen. Denn für Wagner kommt in Schleiermachers Versuch die Selbständigkeit der Religion zu begründen, indem er sie von Wissen und Moral abgrenzt und ihr eine eigene Provinz im Gemüt zuordnet, 162
Vgl. WAGNER, WiR, 234. WAGNER, Zweideutigkeit, 140. 164 Vgl. ROSA, Theorien, 184ff. 165 WAGNER, Christentum [RuG], 252. 166 Vgl. KNEER/NASSEHI, Theorie, 126–129. 167 KARLE, Seelsorge, 10. 168 KARLE, Seelsorge, 11. 169 WAGNER, WiR, 237. 163
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Erster Teil
genau jener Vorgang der Autonomisierung der Religion zum Ausdruck. Die Autonomie oder Selbständigkeit der sozialen Systeme, die die funktionale Differenzierung der Gesellschaft impliziert, trifft also auf alle Gesellschaftsbereiche gleichermaßen zu und kann damit auch, so Wagners Überlegung, die Entstehung der neuprotestantischen Religionstheologien „soziologisch begreiflich […] machen.“170 Die Säkularisierung verändert nicht nur das Verhältnis der Religion zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt, auch die „Beziehung der Religion zu Personen“171 wandelt sich grundlegend. Dabei geht es um die Frage, wie die Teilhabe am Religionssystem geregelt wird, also um das Problem der Inklusion. In vormodernen Gesellschaften gehörte jede Person immer nur einem bestimmten gesellschaftlichen Teilsystem an. Diese Zuordnung zu einer Schicht wirkte dann auch identitätsstiftend.172 Mit der Umstellung auf die funktionale Form der Differenzierung ändern sich auch die Inklusionsbedingungen (Kneer/Nassehi): jede Person soll an jedem Teilsystem teilhaben können. Dies geschieht mittels der Unterscheidung von Berufs- und Komplementärrollen. Wer nicht Politiker ist, partizipiert dennoch als Wähler an der Politik, ebenso als Konsument an der Wirtschaft usw. Nun geht Wagner jedoch davon aus, dass dieses Inklusionsmodell „zumindest im Fall des protestantischen Christentums“173 beim Religionssystem keine Anwendung finden kann. Wagner macht an dieser Stelle, und das scheint mir wichtig zu sein, einen Unterschied zwischen dem Religionssystem und allen anderen Teilsystemen. Für diesen Unterschied führt er zwei Gründe an. So meint er erstens, dass die reformatorische Grundeinsicht, also die Freiheit und Gleichheit aller vor Gott, das genannte Inklusionsmodell aushebelt. Zweitens geht er davon aus, dass die Person sich der Teilhabe an den Subsystemen nicht entziehen kann: „Wer sein Leben erhalten will, ist durch den Verkauf seiner Arbeitskraft genötigt, seine Zahlungsfähigkeit zu sichern.“174 Eine solche „praktisch erzwungene[] Teilnahme“175 gilt jedoch nicht für die Religion. Während man an den anderen Teilsystemen partizipieren muss, basiert die Teilhabe an der
170 WAGNER, WiR, 237. Danz sieht daher in Wagners Säkularisierungsbegriff „eine doppelte Autonomie, nämlich sowohl die der Religion als auch die der gesellschaftlichen Systeme“ (DANZ, Sozialethik, 115). 171 WAGNER, WiR, 238. Wagner unterscheidet eine soziale und eine personale Seite der Säkularisierung, vgl. DERS., Rahmenbedingungen [WiTh], 458. 172 KNEER/NASSEHI, Theorie, 158: „Die Gesellschaft und ihre innergesellschaftlichen Grenzen waren es also selbst, die den Boden für eine stabile, an konkreten Rollen und Erfordernissen ausgerichtete Identität ermöglichten: Der Bauer identifiziert sich unreflektiert und alternativlos über seinen Stand, so auch der Bürger, der Adlige oder der Kleriker.“ 173 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 457. 174 WAGNER, Zweideutigkeit, 141. 175 WAGNER, Religion TRE, 538.
II. Der Kontext der Religionstheologie
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Religion auf einer freiwilligen Entscheidung.176 Dem entspricht es, dass es in der funktional differenzierten Gesellschaft für den Zugang zu den unterschiedlichen Systemen unerheblich ist, ob man einer (oder gar der richtigen) Religion angehört, ein Umstand, den auch das Grundrecht auf Religionsfreiheit widerspiegelt. Die Besonderheit des Religionssystems gegenüber den anderen Systemen besteht daher darin, dass hier nicht Rollenträger in den Blick geraten, sondern die „Individuen als solche[]“177. An die Stelle der Unterscheidung von Berufs- und Komplementärrollen tritt das „funktionale Äquivalent der Privatisierung des religiösen Entscheidens“178. Wagner kommentiert diese Luhmann’sche Formulierung im Licht der gerade genannten Eigenart der Religion: im Zuge der Säkularisierung ist die Religion „zur Angelegenheit frei entscheidender singulärer Subjekte geworden.“179 Nun weist Wagner darauf hin, dass auch dieser zweite, personale Aspekt der Säkularisierung seine Entsprechung in der Religionstheologie findet: „Die moderne, seit der Aufklärung auftretende protestantische Theologie hat sich sogar in den Gestalten ihrer bedeutendsten Vertreter an die Spitze der Bemühungen gesetzt, den an das privatisierte Entscheiden gebundenen Charakter der modernen Religion eigenständig auszuarbeiten.“180 Hierfür können zwei Punkte geltend gemacht werden: zum einen die Integration der Vernunftreligion ins Christentum mittels des Konzepts der Privatreligion,181 die von der professionalisierten Theologie unterschieden wird, zum anderen das Vorge176
Dieser Umstand wird laut Wagner durch die „volkskirchliche[] Praxis in vielen europäischen Gesellschaften“ (WAGNER, Christentum [RuG], 253) nicht widerlegt. Denn nicht auf die möglicherweise hohe formale Mitgliedschaft, sondern auf die geringe tatsächliche Beteiligung der Mitglieder sei zu achten. 177 WAGNER, Religion TRE, 538. 178 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 457. 179 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 458. Vgl. auch METTE, Selbstbestimmung, 208f. Nach Mette betrifft die Privatisierung des Entscheidens allerdings auch die anderen Systeme, während ich hier gerade die Besonderheit des Religionssystems sehe. Ich lese daher den Satz, mit dem Wagner an seine Bemerkung, dass die Unterscheidung von Berufs- und Komplementärrolle bei der christlichen Religion nicht greife, anschließt, mit folgender Akzentsetzung: „Daher wird die als Folge der funktionalen Differenzierung erforderliche Inklusion im Bereich der Religion durch das funktionale Äquivalent der Privatisierung des Entscheidens erfüllt.“ Betont wird der Unterschied auch an dieser Stelle: „Der individuell-personale Zugang zu ihr [der Religion] hängt nicht von der Wahrnehmung professioneller oder komplementärer Rollen ab, die für die Teilnahme an den anderen Sozialsystemen leitend sind; vielmehr erfolgt die Teilnahme an Religion vorwiegend in der Form einer „Privatisierung religiösen Entscheidens““ (WAGNER, Religion TRE, 538). Die Pointe der Privatisierung des Entscheidens besteht dann nicht zuerst in der „Individualisierung der Motive“ (METTE, Selbstbestimmung, 209), die den Zugang der Person zur Religion regeln, sondern (grundsätzlicher) darin, dass durch sie die Religion zu dem Ort wird, an dem das Individuum als solches zum Thema wird. 180 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 457f. 181 Siehe dazu in diesem Kapitel Abschnitt 2b.
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Erster Teil
hen der Religionstheologen, „subjektiven Medien (Frömmigkeit, Glaube, Erfahrung)“ den Status von „Konstruktionsprinzipien“ zuzuweisen,182 nach deren Vorgaben die überlieferten Gehalte rekonstruiert werden. Beides lässt deutlich werden, dass in der Religion die Selbständigkeit des Individuums gewahrt werden soll. Die Beobachtung, dass Wagner die Bedeutung der Religionstheologie darin erblickt, die christliche Religion als eine Artikulationsform des freien, individuellen Subjekts zu interpretieren – also desjenigen Subjekts, das sich in der Neuzeit selbst entdeckt –, wird durch einen Blick in seine Darstellung der Religionssoziologie Luckmanns bestätigt. Hier wird beschrieben, wie sich in der Neuzeit die Institutionen rationalisieren und dadurch die Privatsphäre für die Personen einen neuen Stellenwert erlangt. Weil die Person im wirtschaftlichen oder politischen Bereich nur als anonymer Rollenträger in den Blick gerät, kann sie ihre Individualität nur noch im Privaten frei entfalten. Eine Folge dieser Entwicklung ist das Entstehen einer neuen Sozialform der Religion, die ihren Ort in der Sphäre des Privaten und entsprechend einen „individuellen und personalen Charakter“183 hat. Wagner kritisiert nun, dass Luckmann die Ausbildung dieser neuen Sozialform der Religion jenseits der Institutionen nicht mit dem Christentum in Verbindung bringt. Die christliche Überlieferung diene in seiner Konzeption „der neuen subjektivierten und privatisierten Religionsform allenfalls als Vehikel […], das nach Gebrauch dann sozusagen aufs museale Abstellgleis gerät.“184 Demgegenüber macht Wagner geltend, dass es gerade der Grundzug des protestantischen Christentums seit Semler sei, dass das spezifisch neuzeitliche Spannungsverhältnis von Individuum und Institution in ihm selbst aufbricht und produktiv bearbeitet wird. Dass der Religionsbegriff ins Zentrum neuprotestantischer Theologien rückt, ist für Wagner ein Reflex darauf, dass sich innerhalb des Christentums „ein selbständiges religiöses Bewußtsein ausdifferenziert, das mit der Selbständigkeit des als autonom sich wissenden Individuums zusammenfällt.“185 Von diesem Bewusstsein gilt außerdem, „daß es seine Autonomie in Unterscheidung und Abgrenzung von der institutionalisierten christlichen Kirche behauptet.“186 Luckmanns Säkularisierungsthese, nach der die christliche und als kirchlich interpretierte Form der Religion tendenziell verschwindet und durch eine neue privatisierte Religionsform ersetzt wird, könne der christentumsgeschichtlich gebildete Zeitgenosse nicht zustimmen. „Denn in dieser vermeintlich neuen Form der Religiosität kommen der christlichen Religion ihre eigene, seit 200 Jahren geübte Theorie und Praxis des christ182
WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 458. Siehe dazu auch oben Kap. I. WAGNER, WiR, 210. 184 WAGNER, WiR, 215. 185 WAGNER, WiR, 216; Hervorhebung MS. 186 WAGNER, WiR, 216. 183
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lich-religiösen Bewußtseins entgegen, für das die Konstitution oder die Bewahrung und Erhaltung freien Subjektseins immer schon das entscheidende Thema gewesen ist, das in welchen Verschlüsselungen der religiös-dogmatischen Sprache auch immer zur Darstellung gelangt.“187 b) Bürgerliche Theologie Es sollte deutlich geworden sein, dass Wagner die Religionstheologie als eine Theologie der Freiheit verstanden wissen will. Ihr Thema ist die Autonomie des Individuums. Insofern ist sie spezifisch neuzeitliche Theologie. Es stellt sich nun aber die Frage, von welchem Individuum eigentlich die Rede ist. Wessen Freiheit wird hier thematisiert? Geht es um das Individuum überhaupt, um die Freiheit jedes einzelnen Menschen? Zwar zielen die Religionstheologien dem Anspruch nach durchaus auf das Allgemeinwerden des Christentums,188 tatsächlich aber entpuppt es sich in ihren Entwürfen als „Klassenreligion“189. Nicht das Individuum überhaupt, sondern das bürgerliche Individuum wird in ihnen thematisiert; Religionstheologie ist für Wagner bürgerliche Theologie.190 Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht. Wie gesehen, ist ein Merkmal des protestantischen Christentums unter den Bedingungen der Neuzeit, dass es „gleichsam zweigleisig existiert“ 191: neben die Institution tritt die Religion der Selbstdenker. Die beiden Christentümer stehen in einem Verhältnis der Konkurrenz. Wagner erklärt nun diese Ausdifferenzierung innerhalb des Christentums dadurch, dass er sie in einem umfassenderen Kontext verortet. Hierbei handelt es sich um die von Reinhart Koselleck in seiner Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt beschriebene Trennung von Politik und Moral, die mit der Durchsetzung des absolutistischen Staates einhergeht und zugleich die Entstehung einer kritischen bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht.192 Hobbes, der Theoretiker des Absolutismus, sah in der Berufung auf das Gewissen einen der Hauptgründe für die religiösen Kriege seiner Zeit. „Die Gewissensinstanz, anstatt eine causa pacis zu sein, ist in ihrer subjektiven Pluralität eine ausgesprochene causa belli civilis.“193 Die Lösung sollte für Hobbes in einer Entfremdung von Staat und Gewissen bestehen. Der Staat 187
WAGNER, WiR, 217; vgl. ebd., 216: „Eine religionssoziologische Analyse, die den längst vor der Ausbildung der Säkularisierungsthese einsetzenden Wandel innerhalb des Christentums als Ausdifferenzierung des von der christlichen Kirche unterschiedenen religiösen Bewußtseins nicht zur Kenntnis nimmt, steht in der Gefahr, die moderne Form des christlich-religiösen Bewußtseins soziologisch nicht zu begreifen.“ 188 Zu Semler vgl. WAGNER, WiR, 53; zu Schleiermacher DERS., GoG, 108. 189 WAGNER, WiR, 53. 190 Vgl. etwa WAGNER, GoG, 128; WAGNER, Gefühl [WiTh], 71f. 191 BARTH, Umformungskrise, 175. 192 Vgl. zum Folgenden KOSELLECK, Kritik. 193 KOSELLECK, Kritik, 22.
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bietet Schutz gegen Gehorsam. Der Gehorsam gegenüber dem Staat gründet nicht in der inhaltlichen Qualität seiner Gesetzgebung, sondern allein in seiner Funktion, den Bürgerkrieg zu beenden. Das Gewissen wiederum wird politisch neutralisiert, es wird „zur privaten Moral“194. Folgt man Koselleck, dann basiert Hobbes’ Konzept des absolutistischen Staates also auf einer Spaltung des Individuums in innen und außen, Gesinnung und Tat, Mensch und Untertan. Die Unterwerfung unter den Souverän ist für den Menschen solange keine Selbstverleugnung, wie er im Privaten weiterhin frei, weiterhin er selbst sein kann.195 Die Entstehung des Bürgertums beschreibt Koselleck nun als einen Prozess der Ausweitung jenes „Innenraums der Gesinnung“196, der um des Friedens willen vom Staat ausgespart wurde; eine Ausweitung, die sich verborgen im Schutz der absolutistischen Ordnung vollzieht, die zur Ausbildung einer eigenen Öffentlichkeit führt und sich schließlich gegen den Staat selbst wendet. In den Kaffeehäusern und Salons bildet sich eine Gesellschaft, die einem eigenen Gesetz gehorcht – dem Gesetz der öffentlichen Meinung. Es entsteht gewissermaßen ein Reich im Reich und neben das Gesetz des Staates tritt das moralische Gesetz der bürgerlichen Öffentlichkeit. In den Salons sind Standesunterschiede außer Kraft gesetzt, hier tritt der Mensch als solcher auf, in den Diskussionen herrscht die Vernunft, nicht die Herkunft.197 Am Beispiel der Freimaurerlogen (über die Lessing gemutmaßt hat, sie stellten den Wurzelgrund der bürgerlichen Gesellschaft dar)198 zeigt Koselleck, wie ein Ort entsteht, der nicht mehr der Logik des absolutistischen Staates, sondern eigenen Regeln folgt; die Freimaurer leben im Geheimen (zumindest dem Ideal nach) den Gegenentwurf einer Gesellschaft, in der der Bürger nicht länger „Untertan der Staatsgewalt […], sondern Mensch unter Menschen“199 ist. In dem Augenblick nun, da die bürgerliche Gesellschaft anfängt, den bestehenden Staat an ihren eigenen Maßstäben zu messen, in dem Augenblick also, da die Moral politisch wird, wandelt sich das friedliche Nebeneinander beider Reiche in ein Verhältnis der Konkurrenz – „mit der Folge“, so Wagner im Anschluss an Koselleck und Habermas, „daß die mora194
KOSELLECK, Kritik, 23. Vgl. KOSELLECK, Kritik, 30: „Der Mensch im Geheimen ist frei; nur im Geheimen ist der Mensch Mensch. Der Mensch als Bürger ist dem Souverän unterworfen; nur als Untertan ist der Mensch Bürger.“ 196 KOSELLECK, Kritik, 29. 197 Vgl. HABERMAS, Strukturwandel, 48ff.; 52: „Die Parität, auf deren Basis allein die Autorität des Arguments gegen die soziale Hierarchie sich behaupten und am Ende auch durchsetzen kann, meint im Selbstverständnis der Zeit die Parität des ‚bloß Menschlichen‘“. Vgl. auch die knappe Darstellung der Idee einer „bürgerlichen Vereinigung“, wie sie Kant entwickelt hat, bei SCHÄFER, Geschichte, 28f.; zur Ausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit vgl. ebd., 33ff., für die Zeit ab 1800 ebd., 59f. 198 HABERMAS, Strukturwandel, 51. 199 KOSELLECK, Kritik, 58. 195
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lische die politische Gesetzgebung im Namen der Vernunftallgemeinheit kritisiert.“200 Das (evangelische) Christentum partizipiert nun deswegen an dieser kritischen Trennung, weil es einerseits als positive Religion „in das politische Herrschaftssystem eines Territorialstaates eingebunden“ ist; als „Obrigkeitsreligion“ (Hillerbrand) ist es „Ausdruck einer autoritären Gesetzgebung, die im Interesse der allgemeinen Moral kritisiert wird“201. Als positive ist die christliche Religion Bündnispartner der Politik. Das ‚Reich der Moral‘ jedoch entwirft eine eigene Vision der Religion, die sich folglich kritisch gegen die positive Religion wendet. Es ist dies die Religion, die dem Menschen als solchen eignen soll, die natürliche oder Vernunftreligion. Ihr sozialer Träger ist dementsprechend „der räsonnierende Bürger“202. Wagner betrachtet also das konflikthafte Verhältnis von positiver und natürlicher Religion vor dem Hintergrund der Trennung von Politik und Moral. Weil nach Wagner die Theologen des Neuprotestantismus das Konzept einer Vernunftreligion gleichsam christianisiert haben, vermag sich das Christentum andererseits auch als die Religion selbstdenkender Individuen begreifen. Innerhalb des Christentums bricht daher jener Streit auf, der sozialgeschichtlich als der Konflikt von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zu beschreiben ist. Besteht für Wagner ein Zusammenhang zwischen der Religionstheologie und der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft, dann wird man davon ausgehen können, dass die in Frage stehenden Theologen bestimmte, gemeinhin als ‚bürgerlich‘ geltende Prinzipien grundsätzlich bejahen. Als solche Prinzipien führt Michael Schäfer in seiner Darstellung der Geschichte des Bürgertums z.B. Bildung, Selbständigkeit und Bürgersinn an; sie vereint, dass sie „das Funktionieren einer selbst gesteuerten Gesellschaft ermöglichen“ sollen: „‚Bildung‘ als Auftrag an den Einzelnen, sich nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu vervollkommnen, eine innengeleitete Persönlichkeit zu entwickeln; ‚Selbständigkeit‘ als Verpflichtung nach eigenen vernünftigen Maßstäben zu entscheiden und zu handeln; ‚Bürgersinn‘ als Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwesen“203. Entscheidend ist, dass solche Prinzipien eine universale Ausrichtung haben; die Rekrutierung ihrer Mitglieder unternimmt die bürgerliche Gesellschaft dem eigenen Selbstverständnis nach unter Absehung bestehender Standesgrenzen; ihre Prinzipien zielen nicht auf bestimmte Gruppen, sondern auf den Menschen als solchen, ihre „Grundeinheit“ ist nicht länger „der Stand, sondern das Individuum, der einzelne Bürger“204. 200
WAGNER, WiR, 46. WAGNER, WiR, 47. 202 WAGNER, WiR, 46. 203 SCHÄFER, Geschichte, 129. 204 SCHÄFER, Geschichte, 29. 201
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Erster Teil
Das Label ‚bürgerlich‘ gibt Wagner jedoch auch Anlass, um Kritik an der Religionstheologie zu üben. Genau betrachtet, nutzt er an dieser Stelle eine Mehrdeutigkeit des Begriffs ‚bürgerlich‘. Denn zum einen können damit die eben genannten allgemeinen Prinzipien gemeint sein; zum anderen kann die Formulierung ‚bürgerliche Theologie‘ zum Ausdruck bringen wollen, dass es sich hierbei um die Theologie einer bestimmten sozialen Gruppe, eben die Theologie des Bürgertums, handelt. In der Tat ist es so, dass jener Bereich, in dem sich erstmals ein selbständig urteilendes Publikum bildet, keine für jedermann offene Öffentlichkeit darstellt: die Personen, die in der Sphäre der Kultur, im Konzertsaal und im Theater, ihren kritischen Geist entdecken, bringen Bildung und Besitz immer schon mit.205 Zudem herrscht die Meinung, dass nur derjenige eine selbständige Persönlichkeit auszubilden vermag, der auch in wirtschaftlicher Hinsicht unabhängig ist – wer hier Rücksichten nehmen muss, kann zu einer freien Urteilsbildung gar nicht in der Lage sein. Auch in anderer Hinsicht ist die Ausbildung einer ‚Persönlichkeit‘, Kennzeichen des Bürgerlichen, an die ökonomische Potenz gekoppelt: der Besuch von Gymnasien und Universitäten, die diesem Ziel dienen sollten, ist ohne ein bestimmtes Einkommen nicht möglich – und umgekehrt wird nur derjenige, der einen entsprechenden Abschluss macht, sich es später leisten können, dem eigenen Sprößling eine ‚bürgerliche‘ Ausbildung zu finanzieren. Mag das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft auch die Parität des bloß Menschlichen sein, tatsächlich handelt es sich um eine Gleichheit der Privilegierten und Gebildeten,206 die einen Großteil der Bevölkerung immer schon ausgrenzt. Dies macht auch Wagner geltend, indem er den Anspruch auf Allgemeinheit, den die bürgerliche Gesellschaft artikuliert, mit der Partikularität ihres sozialen Trägers konfrontiert: „Das bürgerliche Subjekt ist aber angesichts der gesellschaftlichen Allgemeinheit ein partikulares Subjekt […]; seine Freiheit und Gleichheit sind durch ökonomische Selbständigkeit vermittelt, die nicht allen Menschen zukommt.“207 Ist nun das Bürgertum das Subjekt der natürlichen Religion, dann wird man – in Anlehnung an eine Formulierung Schäfers – urteilen müssen: Die natürliche Religion, dem Anspruch nach klassenlose Bürgerreligion im Sinne einer Religion des bloß Menschlichen, entpuppt sich als bürgerliche Klassenreligion. c) Verwertende Theologie Ein Beispiel bürgerlicher Klassenreligion ist nach Wagner das Bild einer religiösen Gemeinschaft, welches Schleiermacher in seiner vierten Rede über
205
Vgl. HABERMAS, Strukturwandel, 44.54–58. HABERMAS, Strukturwandel, 48. 207 WAGNER, WiR, 47f. 206
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die Religion entwirft.208 Schleiermacher unterscheidet hier die wahre Kirche von der institutionalisierten Großkirche. In der ersten versammeln sich jene, die bereits Religion haben, um sich wechselseitig ihre religiösen Anschauungen und Gefühle mitzuteilen, während die zweite als ein Ort der Religionslosigkeit bzw. der Suche nach Religion erscheint. Die wahre Kirche weist die Merkmale des Bürgertums auf: im Zentrum steht das Individuum als solches, Standesunterschiede sind aufgehoben, „jeder [ist] Redner und Hörer, Priester und Laie zugleich.“209 Allerdings sind es die gebildeten und besitzenden Individuen, die sich in ihr vereinen; die wahre Kirche trennt, so kann Wagner unter Verweis auf Semler auch sagen, die Fähigen von den Unfähigen, sie ist „ein aus der Menschheit und Gesellschaft ausgegrenztes Subjekt“ 210. Dass sich in der wahren Kirche das Bürgertum versammelt, zeigt sich für Wagner nun auch daran, dass die Kommunikation der religiösen Inhalte, die der Erweiterung der je individuellen und daher begrenzten Religiosität dient, der Logik der Ökonomie folgt. D.h.: die religiösen Inhalte, die ein Individuum mitbringt, werden allein unter dem Aspekt ihrer Verwertbarkeit betrachtet; der Wert eines Inhalts lässt sich nun nicht an seiner „substantiellen Inhaltlichkeit“211 ablesen, sondern wertvoll erscheint ein Inhalt nur, solange er sich mitteilen lässt. Die religiösen Inhalte werden in dem Sinne vergleichgültigt, dass sie auf ihre bloße Mitteilbarkeit reduziert werden. Die maßgebliche „Verwertungsinstanz“ 212 ist das individuelle religiöse Bewusstsein. Damit die verschiedenen Subjekte ihre je individuellen Inhalte einander mitteilen können, müssen die Inhalte etwas gemeinsam haben. Dabei, so Wagners Einwand, handelt es sich jedoch um eine bloß abstrakte Allgemeinheit: „Sie besteht in der Mitteilbarkeit der Anschauungen und Gefühle, die diese ihres individuellen Charakters zum Trotz mit anderen teilen müssen, um mitteilund austauschbar zu sein.“213 Ein bestimmter religiöser Inhalt findet also nur dann Eingang in den religiösen Kommunikationsprozess, wenn er der Bedingung genügt, dass verschiedene religiöse Subjekte ihn als ihren Inhalt akzeptieren können, wenn er also allgemein mitteilbar ist. Das, was alle Inhalte eint, ist der bloße Umstand, dass es sich um Inhalte (Produkte) eines Bewusstseins handelt. Von Bedeutung für den religiösen Austausch ist allein dies, nicht aber die Eigenbedeutung der Inhalte. Der Übergang in die Sphäre religiöser Kommunikation (in die Sphäre des Allgemeinen) bedeutet daher für einen religiösen Inhalt eine Strukturveränderung:214 er verliert seine in208
Vgl. zu Wagners Deutung der vierten Rede auch METTE, Selbstbestimmung, 233–
235.
209
WAGNER, GoG, 106. WAGNER, GoG, 107. 211 WAGNER, GoG, 109. 212 WAGNER, Theologie, 944. 213 WAGNER, GoG, 107. 214 S.u. S. 286. 210
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haltliche Bestimmtheit. Das Ziel, einen Inhalt möglichst vielen Subjekten zugänglich zu machen, die Steigerung seines Tauschwerts sozusagen, wird dadurch erreicht, dass die Eigenbedeutung des Inhalts bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen wird. Religiöse Inhalte werden so wie „Warenobjekte“ 215 behandelt: was verkauft wird, ist im Prinzip beliebig, das einzige Kriterium ist, dass es sich verkaufen lässt. Für Wagner entpuppt sich der „Chor von Freunden“216, als den Schleiermacher die wahre Kirche beschreibt, als eine Versammlung von Kaufleuten. „Die Substanz der Inhalte wird durch das religiöse Bewusstsein so paralysiert, dass die Inhalte nach dem Kurswert ihrer Mitteilbarkeit bemessen werden. Die religiöse Geselligkeit wird zur Börse des religiösen Bewusstseins.“217 Indem das religiöse Individuum nur noch das produziert, was ankommt, ist der Preis für die Teilnahme am religiösen Handel die Aufgabe seiner religiösen Individualität. Zwar entwirft Schleiermacher das Idealbild einer Gemeinschaft versöhnter Verschiedenheit, Wagner jedoch interpretiert die vierte Rede so, dass die religiöse Vergesellschaftung den Einzelnen gerade zur Aufgabe seiner religiösen Selbständigkeit zwingt.218 Auf diese Beobachtung, dass die einseitige Betonung von Individualität zu ihrer Auflösung führt, wird zurückzukommen sein.219 2. Religion als neuzeitspezifischer Begriff220 Nachdem der Zusammenhang von Religion und Neuzeit eben mit einem eher soziologischen Vokabular beschrieben wurde, will der folgende Abschnitt dieselbe Thematik noch einmal anhand von Wagners begriffsgeschichtlichen Untersuchungen darstellen.221 Es ist zu zeigen, dass beide Betrachtungsweisen im Ergebnis konvergieren. Die Entwicklung des Religionsbegriffs, wie Wagner sie rekonstruiert, lässt sich in drei Etappen einteilen. Am Anfang steht das Konzept einer Vernunftreligion, das in kritischer Abgrenzung gegen die zerstrittenen positiven Religionen entworfen wird (a); es folgt der Versuch einer Integration der Vernunftreligion in das Christentum, der allerdings die Idee der Vernunftreligion selbst unangetastet lässt. Die Folge ist das un215
WAGNER, GoG, 127. SCHLEIERMACHER, Reden, 159. 217 WAGNER, GoG, 110. 218 WAGNER, WiR, 72: „Nur das religiöse Individuum ist zur Teilnahme an der religiösen Geselligkeit fähig, das seine Religion in allgemeine Mitteil- und Austauschbarkeit überführt.“ 219 Vgl. bes. Teil 2, Kap. I. Siehe aber auch oben den Abschnitt zur positionellen Theologie. 220 Die Überschrift ist von G. Wenz übernommen, vgl. WENZ, Religion, 89ff. 221 Neben Wagners Religionsmonographie werden dafür auch die von ihm verfassten Lexikonartikel herangezogen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es keinen Artikel zur Religion im HWPh von Wagner gibt, auch wenn dieser immer wieder angeführt wird. 216
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vermittelte Nebeneinander zweier christlicher Religionsformen (b). Den Schlusspunkt bildet demgegenüber die Einsicht, dass die Allgemeinheit der Religion nicht neben, sondern in den positiven Religionen zu suchen sei. In den Mittelpunkt des Interesses rückt jetzt die Frage nach der Selbständigkeit der Religion (c). a) Alle Menschen werden Brüder – die Vernunftreligion Natürlich ist der Religionsbegriff älter als die Neuzeit; gleichwohl geht Wagner davon aus, dass er erst im Zuge der Aufklärung sein entscheidendes, bis heute wirksames Profil gewinnt.222 Das Neue an der neuzeitlichen Verwendungsweise des Religionsbegriffs erblickt Wagner darin, dass er nun als Allgemeinbegriff gebraucht wird: „er bezeichnet seitdem sowohl so etwas wie eine anthropologisch bedingte individuelle ‚Gegebenheit‘ als auch von allen Gruppen und Völkern immer und überall ausgebildete soziale Sinnsysteme, die in unterschiedlicher Gewichtung mythisch-narrative und lehrhaftdogmatische Vorstellungsgehalte ebenso einschließen wie kultisch-rituelle und praktisch-ethische Vollzüge.“223 Trotz mancher Wandlungen orientiert sich die Verwendung des Religionsbegriffs bis in die frühe Neuzeit hinein grundsätzlich an der Definition Ciceros: religio bezeichnet die korrekte kultische Gottesverehrung. In diesem Sinne ist es etwa der Mönch, der – „im Unterschied zu den Weltchristen“ – im Mittelalter als religiös gilt.224 Die altprotestantische Orthodoxie nutzt den Begriff der Religion zur Kennzeichnung der reichsrechtlich anerkannten Konfessionen. Daneben kann sie auf die Unterscheidung von religio vera und religio falsa zurückgreifen, um das Christentum von Häresien und den außerchristlichen Religionen abzugrenzen. Deutlich ist, dass der Religionsbegriff in seiner vorneuzeitlichen Verwendungsweise dazu dient, Trennlinien innerhalb desjenigen Phänomenbereichs zu ziehen, zu dessen Erfassung er in seiner gegenwärtigen Bedeutung herangezogen wird. Maßstab dafür, dass etwas als (wahre) Religion gelten kann, ist die mittels der Schrift offenbarte christliche Wahrheit. Die „in der Schrift niedergelegte Offenbarung“225 lenkt demnach die Verwendung des Religionsbegriffs und verhindert seinen Gebrauch als Allgemeinbegriff. Es ist nicht jede Ausrichtung auf Gott gleichermaßen Religion, sondern nur eine solche, die von der vorgegebenen Offenbarung entsprechend honoriert wird. 222
WAGNER, Religion WBC, 1051. WAGNER, Religion TRE, 522. Vgl. DERS., Religion WBC, 1050: „Erst in der neuzeitl. Aufklärung tritt der R.sbegriff seine Karriere als Allgemeinbegriff an; seitdem benennt er sowohl die geschichtlichen R.en (einschl. ihrer theoret. Vorstellungen und prakt.kult. Vollzüge) als auch eine – als universal angenommene – anthropolog. ‚Anlage‘ oder ‚Dimension‘“. Vgl. auch WAGNER, Begriff, 16. 224 WENZ, Religion, 93. 225 WAGNER, WiR, 32. 223
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Ein Moment der Aufklärung ist es nun, dass die Religion ihre Ineinssetzung mit der wahren christlichen Gottesverehrung aufkündigt und sich zum Allgemeinbegriff verselbständigt. Begreifen lässt sich dieser Vorgang für Wagner nur auf dem Hintergrund zweier anderer (früh-)neuzeitlicher Ereignisse. Einmal emanzipiert sich die Vernunft von den Vorgaben der Theologie. Hinsichtlich ihrer Erkenntnismöglichkeiten meint die Vernunft, nicht mehr auf Erweiterung, Vervollkommnung oder auch Korrektur durch die Offenbarung angewiesen zu sein; sie ist aus sich heraus zu vollständiger Erkenntnis fähig. Diese Selbständigkeit der Vernunft umfasst auch die Gotteserkenntnis. Zweitens lösen die Religionskriege im Gefolge der Reformation die Suche nach einer neuen Basis der Verständigung jenseits konfessionell bedingter Differenzen aus. Sie wird gefunden in der Idee einer natürlichen Religion, die allen positiven Religionen zugrunde liegen soll. Die natürliche Religion ist ein Produkt der selbst denkenden Vernunft.226 Legte bisher die Offenbarung fest, was Religion genannt werden darf, so befindet jetzt die Vernunft darüber, was an den Traditionen, die sich auf Offenbarung zurückführen, Aberglaube und was wahrhaft Religion zu heißen verdient. Indem die neuzeitliche Aufklärung und ihr Akteur, die den Menschen zum Menschen machende Vernunft, sich „zum Anwalt einer natürlichen Religion“227 aufschwingen, findet eine radikale Umdeutung des Religionsbegriffs statt: statt etwas zu bezeichnen, das die Menschen trennt, meint er nun etwas, das allen Menschen gemeinsam ist. Interessanterweise verursacht also gerade die Krise der positiven (in diesem Fall: christlichen) Religion eine Umprägung des Religionsbegriffs, die dessen Umfang derart sprengt, dass nunmehr jeder Mensch Religion hat. Denn während auf Seiten des Christentums die beanspruchte Allgemeingültigkeit durch den Zerfall in einander befehdende Konfessionen konterkariert wird, stellt die natürliche Religion das Ergebnis des Versuchs dar, die Allgemeinheit der Religion auf der Basis der allgemeinmenschlichen Vernunft neu zu begründen.228 Kritik an der positiven Gestalt der Religion und ihre totale Entgrenzung sind mithin als zwei Seiten desselben Geschehens zu begreifen. Wagner macht allerdings darauf aufmerksam, dass die natürliche Religion ihren Anspruch auf Allgemeinheit nicht einlösen kann. Dies begründet er erstens damit, dass er auf das Bürgertum als den sozialen Träger der natürlichen Religion verweist.229 Das zweite Argument gründet auf seiner eben dargestellten Analyse, „[d]aß die Entstehung der natürlich226
Vgl. WAGNER, MM, 36. Vgl. DERS., WiR, 46f.: Die natürliche Religion wird „im Namen der Allgemeinheit der Vernunft“ entwickelt, „im Interesse selbständig denkender und moralisch urteilender Individuen“. 227 WAGNER, WiR, 35. 228 WAGNER, WiR, 45: „Die Entstehung der natürlich-moralischen Religion verdankt sich so einem Protest, der im Namen der Allgemeinheit von Religion gegen die Partikularisierung der christlichen Religion erhoben wird.“ 229 Siehe dazu oben S. 76ff. und unten S. 87.
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moralischen mit der Kritik der positiv-geoffenbarten Religion Hand in Hand geht“230. Denn dort, wo die Vernunftreligion eine vornehmlich „negativkritisch[e]“231 Haltung gegenüber der positiven Religion einnehme, verweigere sie sich von vornherein der Frage, „ob und inwieweit die Gehalte der positiven Religion nicht auch als Inkarnation der allgemeinen Vernunft angesehen werden können.“232 Indem die natürliche Religion den Bereich der positiven Religion als unvernünftig markiert und damit von sich ausschließt, wird sie entgegen ihrer Intention selbst wieder zu einer partikularen Größe. Natürliche und positive Religion, Vernunft und Unvernunft stehen unvermittelt nebeneinander. Dies widerspricht aber dem Anspruch der natürlichen Religion auf Allgemeinheit.233 Erst wo die „Vernunftaufgeschlossenheit“234 auch der positiven Religion demonstriert wird, kann wirklich von einer Allgemeinheit der natürlichen Religion die Rede sein. Anders gesagt: Religion kann als Allgemeinbegriff nicht gegen die positiven Religionen bestimmt werden, sondern muss diese umgreifen. b) Die ‚Christianisierung‘ der Vernunftreligion Der zweite Schritt auf dem Weg zum Religionsbegriff der Religionstheologie besteht in dem Versuch, zwischen Vernunftreligion und überlieferter Religion zu vermitteln. Die Vernunftreligion selbst wird zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht in Frage gestellt. Dies mag ein Blick auf Wagners Lesart der Konzeptionen Kants und Semlers verdeutlichen. Wagners Kant-Interpretation unterstreicht eine These, die jetzt schon öfter anklang: Das Subjekt der Religion ist der einzelne Mensch235 und ihr Thema ist die Realisierung seiner Autonomie. Kants religionsphilosophischer Entwurf ist damit als ein Produkt jener Suche nach der Selbständigkeit der Religion zu lesen, die durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft
230
WAGNER, WiR, 47. WAGNER, WiR, 48. 232 WAGNER, WiR, 48. 233 WAGNER, WiR, 48: „[S]oll der moralisch-praktischen Vernunft allgemeine Gültigkeit zukommen, so muss sich die Tätigkeit der Vernunft auch in den Gehalten der positiven Religion nachweisen lassen. Wäre die positive Religion völlig vernunftlos, so wäre es müßig, sie zu kritisieren. Vernunft aber, die bestimmte Gehalte als unvernünftig deklariert, verkehrt ihre Allgemeinheit in Partikularität; sie sondert sich von dem Unvernünftigen ab und ist so nicht fähig, Vernunft und Unvernunft als Erzeugnisse derselben einen Vernunft zu begreifen.“ 234 WAGNER, WiR, 48. 235 Wagner weist darauf hin, dass Kants Moralreligion „das religiöse Bewußtsein als ein empirisch-lebensweltlich sich gegebenes Subjekt thematisiert“ (WAGNER, Religion TRE, 530). Während das Subjekt der Moral die allgemeine und transzendentale Menschenvernunft sei, gehe die Religion vom empirisch-singulären Subjekt aus (ebd.). 231
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nötig wurde.236 Das besondere Thema der Religion führt Kant so ein, dass er sie auf ein „Folgeproblem“237 der Moral bezieht. Während die Moral zu ihrer Begründung nicht auf die Religion angewiesen ist, ja nicht angewiesen sein darf, spielt die Religion im Bereich der Verwirklichung der Moral unter irdischen Bedingungen eine entscheidende Rolle. Aus der Perspektive der Moral erscheint jeder Mensch als Vernunftwesen. Ausgeblendet wird dabei das, was den Menschen zum Individuum macht, d.h. seine „sinnliche Natur“, seine je besonderen „Neigungen, Bedürfnisse und Interessen“238. Die Religion erfasst eine Dimension menschlicher Existenz, die die Moral nicht wahrnehmen kann und garantiert dadurch die Verwirklichung des moralischen Anspruchs am Ort des konkreten Individuums. „[S]ie betrachtet die Menschen nicht bloß als allgemeine Vernunftwesen, sondern als Individuen, die ihre moralische Rationalität im Kampf gegen sinnliche Verstrickungen zu bewähren haben.“ Damit „weiß sich die natürliche Religion der Bildung und Erziehung der Individuen zu moralisch handelnden Subjekten verpflichtet.“239 Wird der Mensch als moralisches Wesen aufgefasst und ist er nur als moralisches Wesen frei, dann kann gesagt werden, dass die Religion der Menschwerdung und damit der Freiheit des Individuums dient. Einen Fortschritt stellt dieses Religionskonzept insofern dar, als Kant sich darum bemüht, die Gehalte der christlichen Religion im Geiste der Moralreligion zu reformulieren. Die Vernunftreligion wird nicht länger in Abgrenzung gegen die positive Religion entworfen; letzterer wird vielmehr zugetraut, mit der Übernahme einer Vehikelfunktion dem „Allgemeinwerden der Moral-Religion“ zu dienen.240 Während Kant versucht, die Inhalte des Christentums in die Vernunftreligion zu integrieren, soll die Vermittlung beider Instanzen bei Johann Salomo Semler mit umgekehrter Zielrichtung geschehen: intendiert wird jetzt ein Verständnis des Christentums, welches grundlegende Aspekte eines aufklärerischen Religionsbegriffs schon mitbringt. Nach Semler ist es daher gerade die Aufgabe der christlichen Religion, „‚die Menschen mit sich selbst, mit ihrer eigenen moralischen Geschichte bekannt zu machen‘“.241 Nicht das abstrakte Konstrukt der natürlichen Religion, sondern die christliche Lehre stellt den Weg zu wahrer Menschlichkeit dar.242 Indem Semler die natürliche 236
Vgl. WAGNER, Begriff [RuG], 23. WAGNER, WiR, 43. 238 WAGNER, WiR, 44. 239 WAGNER, WiR, 44. Hervorhebung MS. 240 WAGNER, Begriff [RuG], 25. Zu Wagners Kritik an der kantischen Religionsphilosophie vgl. ebd., 25f. 241 J. S. SEMLER, Versuch einer freiern theologischen Lehrart, Halle 1777, zitiert in: WAGNER, WiR, 49; DERS., Religion TRE, 527. 242 Rendtorff, auf dessen Semler-Interpretation Wagner in seiner Darstellung vor allem zurückgreift, weist darauf hin, dass es für Semler im Wesen der christlichen Religion verankert sei, dass sie von jedem Menschen auf selbständige Weise angeeignet werde, 237
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Religion und damit auch das traditionskritische Denken in seine Konzeption des Christentums einbindet, entfesselt er eine Form christlicher Existenz, für die der prüfende Blick auf die eigene Überlieferung konstitutiv ist. Für das, was Semler die Privatreligion nennt, ist die christliche Wahrheit nicht länger identisch mit dem, was die Kirche verkündigt und lehrt, sondern ein konstitutiver Bestandteil dieser Wahrheit ist ihre aktive Aneignung durch den einzelnen Menschen. Sie kann daher auch nicht endgültig fixiert werden, sondern ereignet sich jeweils im Augenblick verstehender Aneignung; die christliche Wahrheit liegt nicht vor, sondern sie will immer wieder neu vollzogen werden.243 Für ein solches Christentumsverständnis ist die Vielgestaltigkeit der Überlieferung nicht länger ein zu überwindendes Übel, sondern adäquater Ausdruck des Allgemeinheitsanspruchs der einen christlichen Wahrheit. Zur Rechtfertigung der Privatreligion verweist Semler auf die Geschichte des Christentums. Um ihrer Allgemeinheit willen hat sich die christliche Wahrheit immer schon an das menschliche Fassungsvermögen angepasst; da die Menschen verschieden sind, realisiert sich das Christentum in einer Pluralität von „Lehrmustern“244. Mit seiner Akkommodationstheorie kann Semler erklären, „warum es verschiedene Lehre, Sprache, Theologie in der christlichen Geschichte gibt. Sie ist mit der natürlichen Verschiedenheit der Menschen nahegelegt und wird durch die Absicht der Religion, den Menschen einen besseren und leichteren Zugang zu sich zu verschaffen, zwingend.“245 Die Privatreligion ist nun Semlers eigener Versuch, dem aufgeklärten Menschen seiner Gegenwart einen leichteren Zugang zum Christentum zu ermöglichen. Mit ihr öffnet er das Christentum „für die Selbstdenker“246. Die Idee einer Privatreligion kann damit als ein Versuch gewertet werden, durch die ‚Christianisierung‘ des Allgemeinbegriffs ‚Religion‘ den Anspruch des Christentums auf Allgemeingültigkeit neu zu begründen, da er durch die kirchliche Lehre offensichtlich nicht länger gewährleistet werden kann.247 Es ist nun möglich, christliche Existenz außerhalb der institutionell verfassten Kirche zu denken.248 Deutlich ist, dass Wagner Semlers Arbeiten am Religionsbegriff im Kontext der Scheidung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft bzw. Politik und denn die „‚eigentliche Beschaffenheit und Absicht der christlichen Lehre‘ [Zitat Semler]“ sei so zu charakterisieren, „daß sie den einzelnen Menschen in dem, was ihn als Menschen ausmacht“, angehe (RENDTORFF, Kirche, 41). 243 Vgl. RENDTORFF, Kirche, 47ff. WAGNER, WiR, 50f. 244 RENDTORFF, Kirche, 49. 245 RENDTORFF, Kirche, 51. 246 WAGNER, WiR, 52. 247 WAGNER, WiR, 53: „Der auf das Christentum Anwendung findende Religionsbegriff soll dessen Allgemeinheit sichern.“ 248 Vgl. WAGNER, Bemerkungen [RG], 132: Die Privatreligion dient „der Entgrenzung des Christentums über die Kirche hinaus“. Vgl. auch WAGNER, WiR, 52.
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Moral verortet.249 Auch von der Privatreligion kann gesagt werden (zumindest, wenn man der Wagnerschen Deutung folgt), dass ihre Grundeinheit das Individuum ist.250 Auch sie zielt auf Allgemeinheit.251 Entsprechendes gilt für die andere von Semler getroffene Unterscheidung, die Unterscheidung von Theologie und Religion. Indem sie die Differenzierung zweier sozialer Gruppen meint, ermöglicht die Einschränkung der Theologie auf das Expertenwissen einer bestimmten Berufsgruppe die Entgrenzung der Religion – „prinzipiell auf alle Individuen“252. Den Anspruch auf Allgemeinheit nimmt Wagner allerdings auch zum Anlass, um in doppelter Weise Kritik an Semlers Versuch zu üben, die Ideale der Vernunftreligion als genuin christliche auszuwei249 Vgl. neben WAGNER, WiR, 51 auch DERS., Bemerkungen [RG], 131, hier mit Verweis auf Koselleck und Habermas. 250 Auch die Privatreligion nimmt ihren Ausgang beim je besonderen Menschen, nicht etwa bei der überindividuellen praktischen Vernunft. Nur so ist ein Satz wie dieser überhaupt verständlich: „Die Privatreligion löst die uniforme Gestaltung der öffentlichen Religion durch pluriforme moralisch-religiöse Ausdrucksmöglichkeiten ab“ (WAGNER, WiR, 52). Vgl. auch ebd., 51: Es ist Semlers Ziel, „die selbständige Beteiligung der einzelnen Christen an der Lehrüberlieferung zu sichern“ (Hervorhebung MS). An anderer Stelle (WAGNER, Bemerkungen [RG], 132) weist Wagner darauf hin, dass es Semler um die „vernünftig denkende Subjektivität in ihrer Singularität“ zu tun sei. Diese, so Wagner weiter, „gewinnt ihre Selbständigkeit nicht dadurch, daß sie sich direkt mit der Vernunft in eins setzt“ (Hervorhebung MS). Man wird daher nicht zwangsläufig urteilen müssen, dass Wagner mit seiner Semler-Deutung „ein gegenläufiges Moment zu der von Luhmann betonten Individualisierung der religiösen Partizipationsmotive“ in seine Darstellung der Säkularisierung einträgt, die dadurch widersprüchlich zu werden droht (so aber METTE, Selbstbestimmung, 209f., Zitat 210). Abgesehen davon wird der Diagnose einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft auf Seiten der Theologie noch nicht von Semler, sondern erst von Schleiermacher entsprochen, insofern erst hier die Religion zu ihrer Selbständigkeit gelangt (darauf weist auch Mette hin, ebd., 215). 251 Vgl. WAGNER, WiR, 52. 252 WAGNER, MM, 38. Vgl. auch ebd., 39: „Sachlich unterscheiden sich Religion und Theologie also so, daß die Religion der Bildung und Selbstbildung der sich selbst thematisierenden Individuen dient, die Theologie aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse vermittelt, die für eine funktionstüchtige Ausübung einer kirchlichen und theologischen Profession erforderlich sind. Diese sachliche Unterscheidung zwischen den praktisch-religiösen Bildungs- und Selbstbildungsaktivitäten und den berufstheologischen Kenntnissen läuft der sozialen Differenzierung zwischen der Allgemeinheit der religiösen Individuen und der Partikularität der Berufstheologen parallel.“ An dieser Stelle macht Wagner auch noch einmal deutlich, dass er die Religionstheologie nicht allein als eine Folgeerscheinung gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse begreifen möchte, sondern dass er in ihr selbst einen entscheidenden Schrittmacher dieser Entwicklungen sieht: „Die sachliche Unterscheidung und eine soziale Differenzierung zwischen Religion und Theologie stellen aber nicht nur einen Reflex der sich im deutschsprachigen Mitteleuropa allmählich anbahnenden funktionalen Differenzierung der sich modernisierenden Gesellschaft im Gefolge der Politischen und Industriellen Doppelrevolution dar; sie tragen überdies zur Beschleunigung dieser Differenzierung bei.“
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sen. Zum einen kommt Semler von der Partikularität der natürlichen Religion nicht los. Das liegt daran, dass er versucht, einen bereits feststehenden Religionstyp in das Christentum zu integrieren. Semler wendet das Schema ‚es gibt die natürliche Religion und daneben gibt es die positive Religion‘ auf das Christentum an: ‚es gibt die Privatreligion und daneben gibt es die öffentliche Religion‘. Das dualistische Denken, das Wagner der Vernunftreligion vorgeworfen hat, entdeckt er auch in Semlers Konzeption einer Privatreligion. Da es sich bei der Privatreligion um die „im Gewande der christlichen Religion auftretende natürlich-moralische Religion“253 handelt, kann Wagner den kritisierten Dualismus zum anderen auch in sozialer Hinsicht geltend machen. Semler teilt nämlich die Menschheit in zwei Gruppen: in solche, die fähig sind, selbst zu denken, und in solche, die dies nicht vermögen. Dieser Unterschied zwischen Fähigen und Unfähigen ist für Semler naturgegeben. Das Konzept einer Privatreligion richtet sich nur an die Fähigen, die Unfähigen sollen mittels der öffentlichen Religion, d.h. der kirchlichen Lehre, zum gleichen Ziel, nämlich zur Aneignung der christlichen Wahrheit geführt werden. Durch die Unterscheidung von Fähigen und Unfähigen erfährt der Allgemeinbegriff Religion im Konzept der Privatreligion eine empfindliche Einschränkung: Er eint jetzt nicht mehr alle Menschen, sondern lediglich eine bestimmte Gruppe, nämlich „die zur Bildung – ökonomisch und so auch geistig – fähigen Bürger“254. Wagner hält Semler vor, den Gedanken, dass die (christliche) Religion der Bildung des Individuums diene, um seine „produktive und zukunftsträchtige Kraft“ zu bringen. Semler setzt für die Teilnahme an einem solchen Bildungsprozess eine „Fähigkeit zu Bildung“ voraus, von der er behauptet, dass sie nicht bei jedem Menschen gegeben sei. Die These eines natürlichen Unterschieds zwischen Bildungsfähigen und -unfähigen weist Wagner energisch zurück, „derartige ‚natürliche‘ Unterschiede“ sind für ihn in Wahrheit „sozial und ökonomisch bedingt.“255 c) ‚Eine eigne Provinz im Gemüthe‘ – Die Selbständigkeit der Religion Die „funktionale Abhängigkeit“ 256 der Religion, die darin besteht, das Allgemeinwerden eines moralischen Bewusstseins auf der Ebene des Individuums sicherzustellen und die sowohl bei Kant als auch bei Semler unhinterfragte Voraussetzung ist, wird erst von Schleiermacher zerschlagen. In diesem emanzipatorischen Akt ist es begründet, dass dem Verfasser der Reden in der 253
WAGNER, WiR, 55. WAGNER, WiR, 53. Im Anschluss an den in Anm. 373 zitierten Satz heißt es dann auch: „Aber indem dieser Religionsbegriff weitgehend Bestimmtheiten des bürgerlichen Bewusstseins auf sich zieht, wird die christliche Religion zur Religion des Bürgertums.“ Die folgenden Zitate ebd. 255 WAGNER, WiR, 53. 256 WAGNER, Begriff [RuG], 23. 254
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Geschichte des Religionsbegriffs epochale Bedeutung zukommt.257 Dadurch, dass Schleiermacher die Religion von Moral und Metaphysik abgrenzt und für sie eine eigene Provinz im Gemüt ausfindig macht, tritt in seiner Theologie erstmals jener Vorgang einer Autonomisierung der Religion zutage, der mit Blick auf die anderen Funktionsbereiche als Säkularisierung zu bezeichnen ist.258 Entscheidend ist weiterhin, dass Schleiermacher, indem er die Religion an die besonderen Bewusstseinstätigkeiten der Anschauung und des Gefühls bindet, zwar an einem Allgemeinbegriff oder Wesen der Religion festhält, dem Konzept einer natürlichen Religion jedoch eine schroffe Absage erteilt. Die Religion sei vielmehr in den positiven Religionen zu suchen.259 Der Dualismus zweier Religionstypen ist damit überwunden. Die Religion existiert nirgendwo anders als in den geschichtlichen Religionen, genauer: diese sind Ausdrucksformen religiöser Subjektivität; das Subjekt der Religion ist das religiöse Bewusstsein. Zuletzt gilt auch für Schleiermachers Neubegründung des Religionsbegriffs, dass das religiöse Bewusstsein „immer zugleich individuelles Bewusstsein“260 ist. Zwar ist die Selbständigkeit des religiösen Bewusstseins in einem überindividuellen Vermögen, in bestimmten Bewusstseinstätigkeiten, auf die prinzipiell jeder Mensch ansprechbar ist, begründet. Aber als ein solches allgemeines Bewusstssein tritt das religiöse Bewusstsein nie zum Vorschein: „Als von anderen Bewußtseinsformationen abhebbares Bewußtsein ist es nicht ein allgemeines Bewußtsein überhaupt, sondern das besondere Bewußtsein eines Individuums.“261 Dies ist so zu erklären, dass Anschauung und Gefühl ihre ‚Aktivierung‘ dem Kontakt mit einem je besonderen Einzelnen verdanken, das sie als „Manifestation des Ganzen und Unendlichen“ 262 deuten; die Anschauung beruht „auf einer Einwirkung des angeschauten einzelnen auf das anschauende Subjekt“ und wird 257
Vgl. WAGNER, WiR, 60; DERS., Religion WBC, 1051. WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 458; DERS. Religion WBC, 1052. Vgl. auch METTE, Selbstbestimmung, 215. Der Selbständigkeit der Religion korrespondiert bei Schleiermacher dann auch eine Autonomie von Denken und Handeln (vgl. WAGNER, WiR, 60f.). Siehe dazu auch oben den Abschnitt zur Säkularisierung, in diesem Kapitel 1a. 259 „Daher erscheint der an der besonderen Bewusstseinstätigkeit abgelesene allgemeine Charakter des religiösen Bewusstseins niemals als solcher, sondern immer nur in der bestimmten und besonderen Weise, die aus dessen Zugehörigkeit zu einer historisch gegebenen Religion resultiert“ (WAGNER, Funktionalität, 295). Im nächsten Satz sagt Wagner, dass die besondere Bewusstseinstätigkeit, die die Selbständigkeit der Religion sicherstellt, sich überhaupt erst in der Bindung an einen bestimmten Inhalt „verwirklicht“. D.h. die Rede von einem religiösen Bewusstsein ohne inhaltliche Bestimmtheit stellt eine Abstraktion dar – eine Einsicht, die die oben getätigte Behauptung, dass der Glaube als Vollzug niemals leer sei, sondern umgekehrt sein Dasein seiner inhaltlichen Bestimmtheit verdankt, bestätigt. 260 WAGNER, WiR, 72. 261 WAGNER, WiR, 72. 262 WAGNER, WiR, 64. 258
III. Religion als reflexives Freiheitsbewusstsein
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von diesem auf je individuelle Weise verarbeitet, und zwar durch „eine sein Selbst verändernde Gefühlsregung.“263 Die Religion stellt also eine besondere Weise der Beziehung des einzelnen Subjekts zum Ganzen dar, nämlich eine solche, die sich unableitbar – durch eine kontingente „Anregung“ der Anschauung – einstellt, und in der das Subjekt das Ganze als den Grund seiner faktischen Verfasstheit erfährt. Die Religion kann daher als ein bestimmter Modus menschlicher Selbstverständigung im Horizont des Unendlichen bestimmt werden, der seine Möglichkeit in bestimmten Bewusstseinstätigkeiten der menschlichen Subjektivität hat, deren Erwachen oder Realisierung eine (kontingente) Stimulation von außen zur Voraussetzung hat. Die Eigenart dieses Modus besteht darin, dass das singuläre Subjekt sein Sosein auf das Ganze zurückführt, in ihm seinen Grund erblickt und also „sein Subjektsein als verdanktes Sein“264 begreift. Das religiöse Bewusstsein steht für eine Sicht auf sich selbst, auf die Verfassung, in der sich der Mensch vorfindet, und zwar eine Sichtweise, die sich am Ort des singulären Subjekts einstellt; „[i]n symbolisch verschlüsselter Weise“ macht das religiöse Bewusstsein „die Faktizität des Daseins des singulären Subjekts“265 zum Thema: „Die Faktizität entziehe sich seiner Selbsttätigkeit und Eigenproduktivität. Es habe sich nicht selbst dazu gemacht, ein selbsttätiges Subjekt zu sein. Das Thema der auf der Gottesbeziehung des religiösen Subjekts aufbauenden Religion besteht also in dem Versuch, die Faktizität des singulären Subjekts als sich gegebene Faktizität verständlich zu machen.“266
III. Religion als reflexives Freiheitsbewusstsein: Schleiermacher III. Religion als reflexives Freiheitsbewusstsein
Findet die Entwicklung des modernen Religionsbegriffs bei Schleiermacher einen vorläufigen Höhepunkt, so liegt es nahe, sich nun noch einmal eingehender mit ihm als einem Hauptrepräsentanten der Religionstheologie zu beschäftigen. Dabei soll es um einen von Wagner herausgestellten Zusammenhang gehen, der bereits häufiger anklang, nämlich um den Zusammenhang von Religion und Freiheit. Wagner hat sich immer wieder mit Schleiermacher auseinandergesetzt, am ausführlichsten in seiner Habilitationsschrift. Hier interpretiert er einerseits Schleiermachers Dialektik und denkt in diesem Zusammenhang über die Bedingungen absoluter Freiheit nach, andererseits wirft er aber auch einen Blick auf die Glaubenslehre Schleiermachers und findet dort eine Theorie endlicher Freiheit. Im Folgenden soll es darum gehen, den von Wagner herausgestellten Zusammenhang von Subjektivität, Freiheit und Religion möglichst präzise zu rekonstruieren. Den Ausgangs263
WAGNER, WiR, 62. Vgl. ebd., 72. WAGNER, Begriff [RuG], 28. 265 WAGNER, Begriff [RuG], 28. 266 WAGNER, Begriff [RuG], 28. 264
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punkt bildet dabei der Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins. Zugleich lässt sich an Schleiermacher auch Wagners Kritik an der Religionstheologie verdeutlichen; dies soll in einem zweiten Abschnitt geschehen. 1. Die Religionstheorie der Dialektik und der Glaubenslehre a) Dialektik Wagner setzt mit der Frage ein, wie Schleiermacher zu der Bestimmung ‚Unmittelbares Selbstbewusstsein‘ gelangt. Den Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass das Denken und das Wollen zwar zwei zu unterscheidende Aktivitäten des menschlichen Geistes darstellen, die aber beide in einer „ihnen vorgängigen, also unmittelbaren Identität gründen“ 267 müssen. Wäre dem nicht so, dann herrschte „statt zweckgerichteten Handelns […] blinder Voluntarismus, und Denken bliebe ohne praktische Bedeutung.“ 268 Das Wollen muss die Möglichkeit haben, etwas zu wollen, d.h. einen Zweck auszubilden, und das Denken muss die Möglichkeit haben, sich in die Wirklichkeit zu übersetzen; als die Bedingung dieser Möglichkeit eines Übergangs des Denkens ins Wollen und des Wollens ins Denken bezeichnet Schleiermacher das unmittelbare Selbstbewusstsein oder das Gefühl. Das Gefühl stellt damit keine dritte Bewusstseinstätigkeit neben Denken und Wollen dar, sondern die Größe, die die „Einheit“ verschiedener Bewusstseinstätigkeiten garantiert. Wagner erblickt daher im unmittelbaren Selbstbewusstsein eine „Konstruktion des Schleiermacherschen Denkens“269: Schleiermacher führt ein „Etwas“270 namens unmittelbares Selbstbewusstsein ein, um die „Einheit der an sich selbst betrachtet nicht identischen Bewusstseinsfunktionen“271 (und damit zugleich die Einheit des Gegenstands, auf den sich die verschiedenen mentalen Tätigkeiten richten,) erklären zu können.272 Damit ist zugleich gesagt, dass es sich beim unmittelbaren Selbstbewusstsein in der Dialektik seiner Bestimmung nach um ein „transzendentales Vermögen“ handelt, das als solches empirisch gerade nicht vorkommt.273 267
WAGNER, Dialektik, 139. WAGNER, Dialektik, 140. 269 WAGNER, Dialektik, 150. 270 WAGNER, Dialektik, 141. 271 WAGNER, Dialektik, 150. 272 Vgl. auch WAGNER, Dialektik, 148f. 273 WAGNER, Dialektik, 140. Mettes These, Wagner erblicke in Schleiermachers Subjektivitätstheorie fälschlicherweise eine typentheoretische Argumentation, ist daher zurückzuweisen. Mette unterscheidet mit Verweis auf U. Barth eine elemententheoretische von einer typentheoretischen Interpretation des Selbstbewusstseins. Während letztere mentale Funktionen erfasse, „die als solche empirisch vorkommen können“ (METTE, Selbstbestimmung, 134), rekonstruiere erstere Subjektivität als „Funktionszusammenhang verschiedener zu abstrahierender Elementarfunktionen“ (ebd., 133), die dann je für sich 268
III. Religion als reflexives Freiheitsbewusstsein
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Wie ist nun dieses transzendentale Vermögen, das jede gegenstandsbezogene Bewusstseinstätigkeit allererst ermöglichen soll, näherhin zu beschreiben? Da es sich um eine mentale Tätigkeit handelt, die jedem auf die Welt gerichteten Handeln (sprich: jedem vermittelten Handeln, sei es nun ein Wollen oder Denken) schon vorausliegt,274 kann sie sich nur auf sich selbst beziehen. Diese auf sich selbst gerichtete Tätigkeit bezeichnet Wagner als SelbstSetzen. Nach Wagner macht also „der Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins eine Selbsterzeugungsstruktur namhaft“275, das Gefühl ist zu beschreiben „als der Kreisprozeß des Sich-selbst-Setzens“, d.h. als „causa sui“276. Damit ist allerdings erst der „Gehalt des unmittelbaren Selbstbewusstseins“277 bestimmt. Als nächstes ist daher zu fragen, wer eigentlich um diese Bestimmung des unmittelbaren Selbstbewusstseins weiß; wer erkennt, dass das Gefühl sich selbst setzt? „Wer identifiziert das unmittelbare Selbstbewusstsein als unmittelbares Einssein von setzendem und gesetztem Sein?“278 Das Subjekt dieser Erkenntnis kann natürlich niemand anderes sein als das
vorgestellt würden und entsprechend als solche empirisch nicht fassbar seien. Während nun Schleiermacher in der Dialektik tatsächlich eine elemententheoretische Darstellung der Subjektivität biete, habe Wagner bei seiner Rekonstruktion der Dialektik sozusagen die typentheoretische Brille auf. Dieser Umstand führt nach Mette notwendig „zu Missdeutungen und unberechtigter Kritik“ (ebd., 134). So meint sie, Wagner identifiziere als Gegenstand der Dialektik das unmittelbare Selbstbewusstsein, „wie es abgesehen von seiner subjektivitäts- und transzendentalphilosophischen Funktion als reales psychologisches Vorkommnis in Erscheinung tritt“ (ebd., 139). Dem widerspricht schon Wagners eben zitierte Bemerkung, beim unmittelbaren Selbstbewusstsein handle es sich um ein „transzendentales Vermögen“, mit dessen Hilfe Schleiermacher erklären will, „warum das Denken überhaupt ins Wollen und das Wollen überhaupt ins Denken übergehen kann.“ Dass Wagner im unmittelbaren Selbstbewusstsein der Dialektik kein empirisch fassbares Vorkommnis erblickt, wird vor allem dort deutlich, wo er die Subjektivitätstheorie der Dialektik gegen diejenige der Glaubenslehre abgrenzt. Während es Schleiermacher in der Dialektik darum gehe, „das Gefühl als ursprüngliche, dem Denken und Wollen vorausliegende und sie fundierende Einheit zu entwickeln“, bringe er das unmittelbare Selbstbewusstsein in der Glaubenslehre „als wirkliches Bewusstsein, d.h. in seiner empirisch-zeitlichen Bezüglichkeit“ zur Darstellung (WAGNER, Dialektik, 188). Folglich sei das Gefühl in der Glaubenslehre von „komplexerer Struktur als das ‚Selbst an und für sich‘“, welches die Dialektik analysiere: während es hier „nur als reines Selbst-Setzen gefasst“ werde, erscheine es dort „im Medium seines empirischen Vorkommens“ (ebd.). Wenn Wagner darauf hinweist, dass das Gefühl auch in der Dialektik niemals alleine, sondern immer nur zusammen mit dem Denken oder Wollen auftritt, dann würde er doch ebenfalls der Aussage zustimmen, dass Schleiermacher dann, wenn er das Gefühl an sich selbst untersucht, einer elemententheoretischen Darstellung verpflichtet ist. 274 Vgl. WAGNER, Dialektik, 189f. 275 METTE, Selbstbestimmung, 142. 276 WAGNER, Dialektik, 143. 277 METTE, Selbstbestimmung, 142. 278 WAGNER, Dialektik, 144.
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unmittelbare Selbstbewusstsein selbst, denn andernfalls wäre das Wissen des Selbstbewusstseins um seine Selbsterzeugungsstruktur vermittelt durch die Erkenntnis eines externen Beobachters; von einem unmittelbaren Selbstbewusstsein könnte nicht länger die Rede sein. Damit wird nun innerhalb des unmittelbaren Selbstbewusstseins die Unterscheidung von Subjekt und Objekt geltend gemacht; das Gefühl vertritt sowohl die Position des Wissenden als auch des Gewussten. Struktur von Selbstbewusstsein liegt dann vor, wenn das wissende Sich-selbst-setzen das gewusste Sich-selbst-setzen als sich selbst erkennt. Damit das wissende Gefühl sich als gewusstes Gefühl haben kann, muss es sich zunächst von sich unterscheiden. Diese Selbstteilung ist also die Voraussetzung für die Ausbildung von Selbstbewusstsein;279 dieses ist durch jene vermittelt.280 Der Vorgang der Selbstteilung soll erklären, wie es möglich ist, dass ein Selbst-Setzen von sich wissen kann. An dieser Stelle tut sich für Wagner jedoch eine Aporie auf. Es verhält sich nämlich so, „daß sich das Selbstbewusstsein, um sich als Selbst-Setzen erfassen zu können, schon als Selbst-Setzen mitbringen und als solches voraussetzen muß.“281 Das Selbst-Setzen, soll es wirklich sich erfassen, kann dies nur mittels einer „Selbst-Darstellung“282 tun. Den Begriff der Selbstteilung kann man dann so verstehen, dass das Selbst-Setzen sich in einer Art Selbstporträt zur Darstellung bringt. Das Selbst-Setzen ‚sieht‘ so aber niemals sich selbst, sondern immer nur sein Bild bzw. seine Darstellung. Wagner drückt dies so aus, dass sich „das unmittelbare Selbstbewusstsein […] nur über sich als Gehabtes haben [kann]“283; „es kann sich nur als Konstruiertes konstruieren; es als Subjekt kann sich nur durch seine Beziehung auf sich als Objekt haben.“284 Nun besteht offensichtlich ein Unterschied zwischen dem Selbst-Setzen und seinem Selbstporträt. Soll von Selbstbewusstsein die Rede sein, dann muss das Selbst-Setzen das Andere – das Bild –, als Bild von sich identifizieren können. Mit Wagners Worten: „[d]as unmittelbare Selbstbewusstsein muß für 279
Wagner argumentiert, „dass sich das unmittelbare Selbstbewusstsein [zunächst] teilen muss, damit es [dann] aufgrund der Differenz von habendem und gehabtem Selbstbewusstsein sich als gehabtes Selbstbewusstsein haben kann. Da das Haben sich haben soll, kann es sich nur so haben, dass es sich als Gehabtes hat. […] Nur eine […] Selbstteilung würde […] verständlich machen, wie die notwendig anzusetzende Differenz zwischen Haben und Gehabtem im Sich-Haben entsteht, damit sich das unmittelbare Selbstbewusstsein haben und für sich sein kann“ (WAGNER, Dialektik, 144). 280 „Der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der nach Schleiermacher auf das unmittelbare Selbstbewußtsein nicht angewendet werden können soll (287), kehrt sonach mit der Differenz zwischen Setzen und Gesetztem, zwischen Haben und Gehabtem wieder; durch diese Differenz und ihre Glieder ist das unmittelbare Selbstbewußtsein vermittelt.“ (WAGNER, Dialektik, 145). 281 WAGNER, Dialektik, 160. 282 WAGNER, Dialektik, 145. 283 WAGNER, Dialektik, 150; Hervorhebung MS. 284 WAGNER, Dialektik, 151.
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sein Sich-Haben offen, prägbar und bestimmbar sein“ oder anders gesagt, das Selbst-Setzen muss sich selbst als Darstellung, als Bild, als Konstruiertes „empfangen können“285. Woher soll das Subjekt wissen, dass es sich selbst erkennt, wenn es doch nicht sich selbst, sondern eben sich selbst als Bild, als Objekt sieht?286 Kann sich das Subjekt nur über sich als Objekt erfassen, dann muss es immer schon um sich als Objekt wissen, d.h. es muss an sich selbst Subjekt und Objekt, Dargestelltes und Darstellung, aktiv und passiv sein. Das heißt dann aber, dass der zweischrittige Vorgang der Selbstteilung und Selbstidentifikation (das Subjekt wird zum Objekt und erkennt sich in dem Objekt) nur dann möglich ist, wenn das Subjekt immer schon um sich als Objekt weiß. Das Subjekt, das sich gemäß seiner Selbsterzeugungsstruktur durch den Vorgang der Selbst-Darstellung allererst als selbstbewusste Subjekt-Objekt-Einheit herstellen will, muss sich für diesen Vorgang schon voraussetzen. Das, was durch den Vorgang erst möglich werden soll, erklärt selbst die Möglichkeit des Vorgangs. „Das Selbstbewusstsein, das sich erst kraft seines Setzens als Einheit von Setzen und Gesetztsein, von Produzieren und Produkt erfassen soll, setzt sich schon qua sich auf sich beziehendes Setzen als diese Einheit voraus; schon im Setzen ist das Selbstbewusstsein seiner ganzen Struktur nach präsent, die doch allererst aus dem Selbst-Setzen resultieren soll.“287 Das Wissen um sich als Selbst-Setzen kann das SelbstSetzen also nicht herstellen, denn es muss sich für diesen Vorgang der SelbstDarstellung immer schon als Gewusstes voraussetzen. Wagner resümiert daher: „das Selbstbewusstsein ist sich schon als Selbst-Setzen und freie Tätigkeit gegeben.“288 Jener Akt der Selbstteilung, der erklären soll, warum das Selbst-Setzen um sich wissen kann, setzt demnach voraus, dass sich das Selbst-Setzen schon als Selbst-Setzen gegeben ist, d.h. er setzt voraus, was er erklären soll. Das unmittelbare Selbstbewusstsein muss die Struktur, die es aus seinem Tun heraus erklären will – selbstbewusste Subjekt-Objekt-Einheit zu sein – für jenes Tun schon in Anspruch nehmen. Um sich als Selbst-Setzen erkennen zu können, muss es sich als Selbst-Setzen schon voraussetzen. „Das Selbstbewusstsein setzt sich somit als selbstsetzende Tätigkeit schon voraus, so daß aus dem Selbst-Setzen nicht erklärt werden kann, wie das Selbstbewusstsein ursprünglich dazu gekommen ist, Selbst-Setzen zu sein.“289
285
WAGNER, Dialektik, 145. Peter Reisinger formuliert die Frage so (REISINGER, Reflexion, 241): „wie kann I wissen, dass I’ sein Abbild ist, wenn es I’ nicht mit sich als I vergleichen kann, da es sich als I nicht sieht, wenn es I’ sieht? Es ist also zu erklären, warum für I nicht I’ als I’, sondern wie dem I es selber als I über I’ ist, welches es als Abbild zwar braucht, aber nicht meint.“ 287 WAGNER, Dialektik, 160. 288 WAGNER, Dialektik, 161. 289 WAGNER, Dialektik, 160. 286
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Die Aporie des unmittelbaren Selbstbewusstseins besteht also darin, sich als Selbererzeugungsstruktur zu erfassen, die sich nicht selbst erzeugt hat. In dem Moment, da das Selbst-Setzen zu Selbstbewusstsein gelangt, wird es sich zum Problem, oder anders: sobald Freiheit zu selbstbewusster Freiheit wird, verstrickt sie sich in Widersprüche. Die Bedeutung der Religion besteht für Wagner darin, dieses Problem, diese Widersprüche zu lösen. Wagner meint nun, Schleiermachers Konzept eines Abhängigkeitsgefühls als einen solchen Lösungsvorschlag interpretieren zu können. Für tragfähig hält Wagner diesen Vorschlag aber erst, nachdem er ihn in kritischer Abgrenzung gegen Schleiermacher reformuliert hat. Wagner kritisiert vor allem den Status der Unmittelbarkeit des Abhängigkeitsgefühls. Die Behauptung eines unmittelbaren Abhängigkeitsgefühls führt nach Wagner dazu, dass sich zwei einander widersprechende Formen menschlicher Selbstbeurteilung gegenüberstehen: auf der einen Seite das Freiheitsbewusstsein (Selbst-Setzen), auf der anderen das religiöse Abhängigkeitsgefühl. Für Wagner gefährdet Schleiermacher mit seiner Behauptung eines unmittelbaren Abhängigkeitsbewusstseins seinen eigenen Systementwurf, denn sie bedeutet, „dass Schleiermachers Philosophie und Theologie, Dialektik und Glaubenslehre, die nach Schleiermacher ‚fest entschlossen‘ sind, ‚sich nicht zu widersprechen‘, in einen unüberbrückbaren Gegensatz treten. Mit der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem unmittelbaren Selbstbewusstsein und dem religiösen Gefühl steht also zugleich das Verhältnis von Philosophie und Theologie auf dem Spiel.“290 In dem Bestreben, einen Gegensatz von Theologie und Philosophie zu vermeiden, weiß sich Wagner mit Schleiermacher einig. Er unternimmt daher den Versuch, den Text der Dialektik so zu lesen, dass darin ein konstitutiver Zusammenhang zwischen Selbst-Setzen und religiösem Gefühl, zwischen Freiheit und Abhängigkeit zum Ausdruck kommt. Wagner stellt diesen Zusammenhang heraus, indem er nach der „Leistung und Funktion“ des Abhängigkeitsgefühls „für die Explikation des unmittelbaren Selbstbewusstseins selber“291 fragt. Diese Leistung lässt sich so beschreiben, dass das Freiheitsbewusstsein erst im Abhängigkeitsgefühl zu voller Durchsichtigkeit gelangt. Mittels des Abhängigkeitsgefühls wird die „unmittelbare Bewusstseinstatsache des Sich-Gegebenseins des Selbstbewusstseins in seiner Selbsttätigkeit“292 einer Erklärung zugeführt. Da die Bewusstseinstatsache des SichGegebenseins erst dann auftritt, wenn das Selbst-Setzen zu Selbstbewusstsein gelangt, ist das Abhängigkeitsgefühl durch diesen Vorgang vermittelt: „Erst dadurch, dass das Selbstbewusstsein in seinem Selbst-Setzen sich als sich selbst vorausgesetzt erkennt, kommt es zum Wissen um das Abhängigkeitsgefühl. Dieses Wissen resultiert also aus der Beziehung des Selbstbewusstseins auf sich selbst. Und durch diese 290
WAGNER, Dialektik, 157. Vgl. ebd., 170–172. WAGNER, Dialektik, 159. 292 WAGNER, Dialektik, 162f. 291
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Beziehung ist das Abhängigkeitsgefühl vermittelt. Denn nur aufgrund dieser Vermittlung ist das Abhängigkeitsgefühl in seiner Funktion für das Selbstbewusstsein manifest.“ 293
Interpretiert Wagner das schleiermachersche Abhängigkeitsgefühl als „Wissen des Selbstbewußtseins von sich selbst“294 und ist das unmittelbare Selbstbewusstsein seiner Struktur nach als Selbst-Setzen, mithin als „freie Selbsttätigkeit“295 zu beschreiben, so lässt sich der in der Auseinandersetzung mit der Dialektik gewonnene Religionsbegriff wie folgt bestimmen: Religion ist reflexives Freiheitsbewusstsein. In der Religion klärt sich die Freiheit über sich selbst auf. Entsprechend hat dann auch der Gottesgedanke bzw. – in der Sprache der Dialektik – der transzendente Grund seine Funktion im Kontext der Selbstvergewisserung des Freiheitsbewusstseins. Ist das Abhängigkeitsgefühl ein „konstitutives Moment“ des unmittelbaren Selbstbewusstseins, insofern es dessen Sich-Gegebensein artikuliert, so ist der transzendente Grund wiederum ein notwendiges Implikat des Abhängigkeitsgefühls.296 Denn das Selbstbewusstsein ist „dann, wenn es sich in seinem Sich-Gegebensein als Abhängigkeitsgefühl selbst thematisch wird, notwendig auf die Rückführung auf den ihm vorausgesetzten Grund angewiesen.“297 Wagner interpretiert die Dialektik also so, dass sie den Prozess der Selbstaufklärung des neuzeitlichen Selbstbewusstseins als eines Bewusstseins freier Selbsttätigkeit beschreibt und zwar so, dass sich das neuzeitliche Freiheitsbewusstsein erst im Gottesbezug vollends durchsichtig wird. Freiheit ist – recht verstanden – stets sich gegebene oder, wie Wagner auch sagen kann, verdankte Freiheit. An Schleiermacher kritisiert er, dass dieser an der Unmittelbarkeit des Abhängigkeitsbewusstseins festhalten will, welches damit zu einer Bewusstseinsform neben dem Freiheitsbewusstsein wird. Das damit drohende Auseinanderbrechen von Philosophie und Theologie kann nur dann verhindert werden, wenn das Abhängigkeitsgefühl und der in ihm mitgesetzte Grund als notwendige Elemente in der „Entfaltung der freien Selbsttätigkeit“298 plausibel gemacht werden können. Wagner versucht aufzuzeigen, dass sich die Dialektik in diesem Sinn lesen lässt. b) Glaubenslehre Wird in der Dialektik Wagner zufolge Freiheit überhaupt auf ihre Voraussetzungen hin durchleuchtet, so soll es in der Glaubenslehre weniger abstrakt 293
WAGNER, Dialektik, 163. WAGNER, Dialektik, 163. 295 WAGNER, Dialektik, 168. 296 WAGNER, Dialektik, 164: „Sowohl das religiöse Gefühl als Abhängigkeitsgefühl als auch der transzendente Grund als Woher der Abhängigkeit stellen daher einen Beitrag zur Explikation des Selbstbewusstseins dar.“ 297 WAGNER, Dialektik, 165. 298 WAGNER, Dialektik, 170. 294
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zugehen. Gegenstand der Untersuchung ist nicht länger ein transzendentales Vermögen, sondern die Freiheit, wie sie empirisch vorkommt; ins Blickfeld rückt nun die Freiheit des konkreten einzelnen Menschen.299 Auf eine Formel gebracht: Die Dialektik analysiert die Bedingungen der Möglichkeit absoluter Freiheit, die Glaubenslehre hingegen die Bedingungen der Möglichkeit relativer oder endlicher Freiheit.300 Die Glaubenslehre entwirft so eine ‚realistischere‘ Freiheitstheorie, das bisher gleichsam freischwebende Selbstbewusstsein wird geerdet, gefragt wird jetzt nach der Freiheit weltverhafteter Wesen, wie eben der Mensch eines ist. Indem sich die Freiheitstheorie der Wirklichkeit annähert, steigert sie zugleich ihre Komplexität.301 In das Selbstbewusstsein muss nun sein Weltbezug, sprich die Endlichkeitsdimension, integriert werden. Dies geschieht so, dass Schleiermacher „in ihm [dem Selbstbewusstsein] von vornherein zwei Elemente, nämlich ein ‚Sichselbstsetzen‘ und ein ‚Sichselbstnichtsogesetzthaben‘ unterscheidet.“302 Als Synonyme für diese beiden Elemente, die das endliche Selbstbewusstsein konstituieren, verwendet Wagner auch die Begriffspaare „Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, Spontaneität und Rezeptivität oder Bestimmen und Bestimmbarkeit“303. Wagner weist darauf hin, dass für Schleiermacher die Selbsttätigkeit, soll sie nicht ins Leere laufen, ein Affiziertwerden der Empfänglichkeit zur Voraussetzung hat. Das ‚Sichselbstsetzen‘ der Glaubenslehre erfahre damit gegenüber dem absoluten ‚Selbst-Setzen‘ der Dialektik eine entscheidende Einschränkung: handle es sich hier um eine „reine auf sich selbst gehende Selbsttätigkeit“, wolle Schleiermacher die Selbsttätigkeit dort so denken, „daß sie immer auf einen Gegenstand bezogen ist.“304 Folglich „gründet das Sosein des Selbstbewusstseins nicht in sich selbst, sondern dieses ist durch das ‚Andere‘ vermittelt.“305 Wagner macht an dieser Stelle auf einen Widerspruch aufmerksam; während Schleiermacher in der Dialektik über die Möglichkeit absoluter Freiheit nachdenkt, schließt er sie in der der Glaubenslehre von vornherein „als indiskutabel“306 aus. Lösen lässt sich die299 Vgl. Anm. 273. Vgl. auch WAGNER, Dialektik, 188: Während es in der Dialektik um das Gefühl „als ursprüngliches und sich selbst konstituierendes Selbstbewußtsein“ geht, wird das Gefühl in der Glaubenslehre „als an die gegenständliche Wirklichkeit und damit als an Raum und Zeit gebundenes Selbstbewußtsein entfaltet.“ 300 Vgl. WAGNER, Dialektik, 209: „[U]nter den Bedingungen ihrer empirischen Bezüglichkeit“ tritt die Freiheit „nicht als solche rein“ auf; „sie erscheint nicht absolut, sondern relativ, nämlich so, daß sie auf die Gegenstände der Welt bezogen und durch sie bedingt ist.“ Vgl. auch ebd., 193: Die Denkmöglichkeit des Begriffs eines selbst setzenden Selbstbewusstseins sei für Schleiermacher der zentrale Gegenstand der Dialektik. 301 Vgl. WAGNER, Dialektik, 188. 302 WAGNER, Dialektik, 188. 303 WAGNER, Dialektik, 189. 304 WAGNER, Dialektik, 189. 305 WAGNER, Dialektik, 191. 306 WAGNER, Dialektik, 193.
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ser Widerspruch nur dann, wenn man berücksichtigt, dass Dialektik und Glaubenslehre von zwei unterschiedlichen Gegenständen handeln. Das „Selbstbewusstsein im Kontext seines empirischen Vorkommens“307, wie es die Glaubenslehre zum Thema macht, unterscheidet sich vom Selbstbewusstsein der Dialektik dadurch, dass es das Andere, auf das sich seine freie Selbsttätigkeit richtet, nicht selbst hervorgebracht hat; die Möglichkeit des Freiheitsvollzugs ist daher abhängig davon, dass ihr Gegenstände vorgegeben sind. Aus ihren Vollzügen, in denen sie sich immer schon vorfindet, aus ihren gegenstands- oder weltbezogenen Aktivitäten also, kann sich die freie Selbsttätigkeit allerdings nicht selbst erklären, sie handelt ja immer schon auf Gegenstände hin, die sie nicht selbst hervorgebracht hat. Umgekehrt kann sie ihre Freiheit auch nicht aus den Gegenständen der Welt ableiten, da diese wiederum von ihr abhängig sind. Da sich die Freiheit unter empirischen Bedingungen immer schon in einem Verhältnis der Wechselwirkung vorfindet, das weder sie noch ihr Gegenüber (die Welt) konstituiert hat, ist sie sich zusammen mit der Welt gegeben. Ist die Freiheit immer schon das Bestimmen von Gegenständen (und in diesem Sinne durch Gegenstände bestimmte Freiheit), so kann sie sich durch dieses Bestimmen selbst nicht hervorbringen, sondern muss sich dafür bereits voraussetzen. Dieses Sich-Gegebensein als relative Freiheit wird durch das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit explizit gemacht. „Die freie Selbsttätigkeit ist gerade in ihrer Freiheit dadurch schlechthin abhängig, dass sie sich nicht selbst ursprünglich dazu gemacht hat, freie Selbsttätigkeit zu sein; sie setzt sich vielmehr als sich gegeben voraus.“308 Die Freiheit kann jeden Gegenstand der Welt bestimmen – nur eben sich selbst als gegenstandsbestimmende Freiheit nicht, denn sobald sie aktiv wird, wird sie dies immer schon als gegenstandsbestimmende Freiheit; „sie findet sich zusammen mit den Gegenständen der Welt als sich gegeben vor.“309 Das Ergebnis der Dialektik wiederholt sich also bei der Analyse der Glaubenslehre: wie die absolute, so wird sich auch die endliche Freiheit erst im Gottesbezug vollends durchsichtig. Durch das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl wird das Moment des Sich-Gegebenseins ins Selbstbewusstsein eingeholt; das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit bringt gerade dies zum Ausdruck: dass die freie Selbsttätigkeit um ihr Sich-Gegebensein als das „von ihr nicht gesetzte Moment“310 weiß; es ist das „sich wissende[] SichGegebensein der freien Selbsttätigkeit.“311 Wagner kann daher auch vom Abhängigkeitsgefühl als dem Erkenntnisgrund der freien Selbsttätigkeit re307
WAGNER, Dialektik, 192. WAGNER, Dialektik, 195. 309 WAGNER, Dialektik, 194. 310 WAGNER, Dialektik, 197. 311 WAGNER, Dialektik, 203f. 308
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den; damit sieht er im Abhängigkeitsbewusstsein das Medium, in dem „sich die freie Selbsttätigkeit ihrer Freiheit vergewissert.“312 Und wie schon in der Dialektik, so gilt auch für die Glaubenslehre: Sobald sich die Freiheit ihrer selbst bewusst wird, verlangt sie nach einem „Subjekt“313, auf das sie ihr Sich-Gegebensein zurückführen kann. Dieses Subjekt wird als der Grund gegenstandsbezogener Freiheit erfasst, d.h. es wird als Schöpfer nicht nur der Freiheit, sondern auch der Gegenstände bestimmt. „Gott“, so Wagner, ist daher „ein auf dem Boden der sich in ihrem Sich-Gegebensein erfassenden freien Selbsttätigkeit entworfenes funktionales Konstrukt.“314 Ist also das Abhängigkeitsgefühl der Erkenntnisgrund endlicher Freiheit, gilt umgekehrt jedoch auch, dass die Freiheit der Seinsgrund des Abhängigkeitsbewusstseins und des in ihm mitgesetzten Gottes ist.315 D.h. erst im „Vollzug“316 seiner Freiheit wird sich der Mensch seiner Abhängigkeit bewusst. An diesem Punkt kritisiert Wagner dann auch Schleiermachers Rede von der Unmittelbarkeit des Abhängigkeitsgefühls. In vergleichbarer Weise kritisiert er eine Beschreibung des Glaubens als unmittelbares Wissen und das Bemühen der positionellen Theologie, ihr jeweiliges Verständnis von Religion in Abgrenzung von anderen Bewusstseinstätigkeiten zu formulieren. Demgegenüber will Wagner nur die Redeweise von einer „vermittelten Unmittelbarkeit“ 317 zulassen. 2. Theologie innerhalb der Grenzen des frommen Selbstbewusstseins Wagner arbeitet – freilich im Modus permanenter Korrektur – die Stärke der Schleiermacherschen Religionstheorie deutlich heraus. Gott erscheint in dieser nicht länger als Gegenpol zur Freiheit des Individuums, sondern als ihre Voraussetzung; Gott gefährdet die Freiheit nicht, er gewährleistet sie. Im Zentrum dieser Religionstheorie steht das einzelne Subjekt. Das religiöse Gefühl bringt zum Ausdruck, dass das Subjekt sich nicht selbst dazu gemacht hat, dieses einzelne Subjekt zu sein; die Religion hat die Funktion, das SichGegebensein des Subjekts zu erklären. Die religiösen Gehalte haben wiederum die Funktion, die Religion (im Sinne des Abhängigkeitsgefühls) selbst zu erklären.318 Das Problem besteht für Wagner darin, dass Schleiermacher die 312
WAGNER, Dialektik, 202. WAGNER, Dialektik, 203. Vgl. auch ebd., 199: „Abhängigkeit kann nur dann sinnvoll ausgesagt werden, wenn sie als Abhängigkeit von etwas namhaft gemacht wird; Abhängigkeit impliziert ein Woher der Abhängigkeit.“ 314 WAGNER, Dialektik, 203. 315 WAGNER, Dialektik, 202. Auch das Abhängigkeitsgefühl steht also unter der Bedingung des Wissen-Könnens (vgl. WAGNER, Theologie, 933f.). 316 WAGNER, Dialektik, 199. 317 WAGNER, Dialektik, 199; vgl. ebd., 209f. 318 Vgl. WAGNER, Funktionalität, 306: „Das göttliche Wesen stellt […] ein funktionales Konstrukt zur Erklärung des Abhängigkeitsgefühls dar“. 313
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religiösen Gehalte – und allen voran Gott – in dieser Dienstleistungsfunktion aufgehen lässt. Schleiermacher, so lautet der Vorwurf, führt „das mit dem Ausdruck ‚Gott‘ Gemeinte allein als ein funktionales Konstrukt des frommen Selbstbewusstseins ein.“319 Gott wird ausschließlich von seinem Für-Bezug her verstanden. „[A]lle religiösen Vorstellungen und dogmatisch-theologischen Gehalte“ geraten nur als „Ausdrucksphänomene des Gefühls und des frommen Selbstbewusstseins“ in den Blick.320 Dabei leugnet Wagner nicht, dass diese Perspektive ihr Recht hat. Er hält sie vielmehr für unhintergehbar.321 Die Stärke der Religionstheologie besteht gerade darin, Gott als Gott für den Menschen, als Gott für uns plausibel zu machen. Als Gott für uns, als gewusster Gott ist Gott ein Konstrukt des menschlichen Geistes. Die Schwäche der Religionstheologie besteht darin, dass Gott auf diese ‚Rolle‘ reduziert wird. Dass Gott ‚auftritt‘, hat seinen Grund allein in der Tätigkeit des Bewusstseins. So wahr es für Wagner ist, dass Gott als Gehalt des menschlichen Bewusstseins durch dieses bedingt ist, so wahr ist für ihn auch, dass Gott als Gehalt eine vom Bewusstsein zu unterscheidende, eine selbständige Größe darstellt. Wagner wirft Schleiermacher also vor, die Entstehung des Bewusstseinsgehaltes ‚Gott‘ „einseitig“ vom Bewusstsein, und nicht auch vom Gehalt her zu erklären. Was Wagner hier beschreibt, ist der Rückfall in den Monismus, den Schleiermacher eben erst überwunden hatte. Denn gegenüber der altprotestantischen Orthodoxie hatte die Religionstheologie ja das religiöse Bewusstsein als eine selbständige Größe geltend gemacht. Der so offengelegte Dualismus von Bewusstsein und Gehalt, Mensch und Gott wird nun aber mittels des gleichen einseitigen Denkens erklärt, der für das religiöse Bewusstsein selbst und damit auch für die Orthodoxie leitend ist: Der Ursprung des Dualismus wird allein auf einer Seite verortet. War es zuvor Gott, so ist es nun der Mensch. „Denn gelten die theologischen Inhalte allein als Ausdrücke des frommen Selbstbewusstseins, so dient dieses als Konstruktionsprinzip und Leitfaden zur Gewinnung jener Inhalte.“322 Die Quelle religiöser Inhalte ist allein der Mensch, denn das religiöse Gefühl, das sich in ihnen artikuliert, referiert selbst wiederum „allein auf das sich gegebene Dasein des Selbstbewusstseins“, zu dessen Erklärung es dient. Die Gottesvorstellung – als Gottes 319
WAGNER, Funktionalität, 306; Hervorhebung MS. WAGNER, Theologie, 941. 321 Wagner macht keinen Unterschied zwischen Gott als einem religiösen Gehalt und anderen Gehalten des menschlichen Geistes. Wie diese steht auch jener unter der Bedingung, gewusst werden zu können. Vgl. WAGNER, Dialektik, 169. Entsprechend kann die Aporie der Religionstheologie auch nicht darin gesehen werden, dass Gott hier als ein Produkt oder Konstrukt erscheint. Wäre dies das Argument der Religionskritik, dann müsste man es, so Wagner, „billigerweise als trivial bezeichnen.“ (WAGNER, Theo-Logik [RuG], 61; vgl. auch DERS., Atheisten [RG], 309ff.). 322 WAGNER, Theologie, 941. 320
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Stellvertreter im menschlichen Geist sozusagen – steht nicht mehr zwischen Gott und Mensch,323 sondern ihr einziger Bezugspunkt, der einzige „Maßstab und Kanon“, um sie „zu beurteilen und zu überprüfen“324, ist das Abhängigkeitsgefühl, das selbst wiederum Ausdruck der Selbsterklärungsnot des Menschen ist. Die Repräsentation ‚Gott‘ repräsentiert dem Menschen nicht Gott, sie spiegelt ihm vielmehr die Erklärungsbedürftigkeit seines eigenen Wesens; „so wird die Grundlosigkeit, weil nicht Begründetheit des religiösen Gefühls zum Grund der es ausdrückenden Gehalte und Vorstellungen.“325 Damit hat Wagner gezeigt, was er zeigen will. Die „Intention“ Schleiermachers und die „Art ihrer Durchführung“ widersprechen einander.326 Denn Schleiermachers Ziel ist es, ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu plausibilisieren: der Mensch, der sich recht versteht, ist schlechthin abhängig von Gott. Dieser Gott erscheint jetzt aber in der Durchführung der Argumentation als ein Konstrukt, das seine Bestimmung ausschließlich – also wiederum einseitig – der Größe verdankt, die es doch begründen soll. Für Gott treffen also beide Aussagen zu: er begründet das religiöse Gefühl und er ist begründet durch das religiöse Gefühl. Und für das religiöse Gefühl treffen ebenfalls zwei Aussagen zu: Es ist begründet durch Gott und es begründet Gott. Tatsächlich ist also das intendierte „einsinnig-asymmetrische Gefälle zwischen Grund und Begründetem doppeldeutig und zirkulär: Gott als Grund des zu begründenden Abhängigkeitsgefühls wird durch dieses ebenso begründet, wie
323 Vgl. WAGNER, Funktionalität, 306f.: „Die Kritik richtet sich allein auf die Tatsache, daß Schleiermacher die Gottesvorstellung durchgehend an das Gottesbewußtsein einseitig bindet“ (Hervorhebungen MS). Vgl. auch WAGNER, Theologie, 942: Bei Schleiermacher „wird die alles entscheidende Differenz zwischen subjektiver, nämlich aufgrund des frommen Gefühls gebildeter Gottesvorstellung und dem objektiven Gottesgedanken eingezogen.“ M.a.W.: Schleiermacher hebt den Unterschied zwischen Sein und Schein auf. Es gibt für ihn hinter dem Gott für das religiöse Bewusstsein keinen Gott an sich. Gott ist für Schleiermacher also eine rein relationale Größe; er setzt Gott mit Gotteserscheinung gleich. Durch diese Gleichsetzung verliert die Rede von einer Erscheinung ihren Sinn; damit aber wird aus Gott ein Konstrukt, das sich ausschließlich der Tätigkeit des religiösen Bewusstseins verdankt (insofern eine Erscheinung die Differenz zwischen dem, was erscheint, und der Erscheinung selbst impliziert): „[d]er mit dem Ausdruck ‚Gott‘ gemeinte Gehalt erscheint damit als ein konstruiertes Konstrukt“ (WAGNER, Funktionalität, 306). Das alles wäre kein Problem, wenn das religiöse Bewusstsein mit dem Konstrukt ‚Gott‘ nicht seine schlechthinnige Abhängigkeit zum Ausdruck bringen wollte. Jetzt aber sieht es so aus, als gehörte es zur Struktur des religiösen Bewusstseins, ein Gedankending zu produzieren, von dem es behauptet, dass es von ihm schlechthin abhängig sei. Ob dieser Gedanke gilt, lässt sich mit den Mitteln der Religionstheologie nicht zeigen. 324 WAGNER, Theologie, 941. 325 WAGNER, Theologie, 941. 326 Genau in diesem Scheitern an der eigenen Intention besteht die eigentliche Aporie des religiösen Bewusstseins und der Religionstheologie: Sie erfassen nicht den Gehalt, den sie zu erfassen beabsichtigen, vgl. WAGNER, Theo-Logik [RuG], 61 und 67.
III. Religion als reflexives Freiheitsbewusstsein
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dieses als Begründetes zugleich für den begründenden Grund begründend ist.“327 Man kann das Problem auch so formulieren: Gott wird von Schleiermacher nur als Moment innerhalb einer Relation gedacht.328 Was Gott ist, hängt dann davon ab, was als das andere Moment gesetzt wird: Eine Wirkung verlangt nach einer Ursache, ein Gegründetes nach einem Grund. Das Entscheidende dabei ist, dass das Moment, welches innerhalb der Logik des Relationsgefüges die sekundäre Größe darstellt (das Gegründete bzw. die Wirkung), bei Schleiermacher gerade nicht als aus der primären Größe abgeleitet erscheint, sondern selbst den Ausgangspunkt der Argumentation bildet: Nur indem Schleiermacher den Menschen als schlechthin abhängig setzt, erscheint Gott „als rein spontane Ursächlichkeit“329. Das, was ausgesagt wird, widerspricht so dem, was ausgesagt werden soll: Nicht von Gott ergibt sich, was der Mensch ist, sondern aus der Bestimmung des Menschen leitet sich ab, was Gott ist. Das religiöse Gefühl wird nicht vom Gottesgedanken her begründet, sondern stellt als „nicht begründbares Faktum“330 die Voraussetzung der gesamten Theologie dar. Dass Schleiermacher eine Theologie innerhalb der „Grenzen des frommen Selbstbewusstseins“331 entwerfen will, hat nach Wagner zur Folge, dass Gott seine Bestimmung ausschließlich dem vom Schleiermacher gesetzten Ausgangspunkt verdankt und sich so in einen begründeten Grund verkehrt. Abschließend lässt sich Folgendes festhalten. Folgt man Wagner, dann besteht Schleiermachers Bedeutung darin, den Zusammenhang zwischen Religion und neuzeitlichem Freiheitsbewusstsein aufgeklärt zu haben. Den Ausgangspunkt bildet das freie Subjekt; und Schleiermacher hat dabei sowohl das Konzept absoluter Freiheit als auch die Idee gegenstandsbezogener, endlicher Freiheit im Blick. Für beide Konzepte meint Wagner nun im Modus der Schleiermacher-Interpretation zeigen zu können, dass sie aporetisch verfasst sind.332 Der Grundsatz lautet: Wird Freiheit ihrer selbst bewusst, dann erkennt sie, dass sie sich nicht selbst erzeugt hat, sondern dass sie sich gegeben ist. Schlicht formuliert: Der Mensch kann aller möglichen Dinge Herr werden, nur nicht seiner selbst. Für Wagner ist dies das „Kardinalproblem des Selbstbewußtseins“333: 327
WAGNER, Theologie, 938. Vgl. WAGNER, Theologie, 924f. Vgl. auch DRILO, Kritik, 144. 329 WAGNER, Theologie, 938. 330 WAGNER, Theologie, 941. 331 WAGNER, Theologie, 941. 332 Wagner kann die „Aporie der Zirkelhaftigkeit“ daher an anderer Stelle für das endliche und das absolute Subjekt gleichermaßen geltend machen (WAGNER, Christologie [WiTh], 325). 333 WAGNER, Christologie [WiTh], 314. 328
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„Der Mensch kann alles produzieren, hervorbringen, projizieren, - nur nicht sich selbst. Das vom Atheismus offengelassene Problem ist das der Selbsterklärung des Menschen. Der Mensch kann aufgrund seiner Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit alles in Natur, Gesellschaft und Geschichte erklären, nur nicht sich selbst. Denn der Versuch der menschlichen Selbsterklärung fällt zirkulär aus: Der Mensch als selbsttätiges Subjekt muß sich zur Erklärung seiner selbst schon voraussetzen, sich mitbringen. Insofern läuft die menschliche Selbsterklärung auf eine petitio principii hinaus. Wird dieser Sachverhalt positiv gewendet, so kann festgehalten werden: Der Mensch findet sich als sich gegeben vor. […] Kann sich der Mensch nicht selbst erfassen, so ist alles eitel. Der Mensch kann alles produzieren, aber er weiß nicht, warum und wozu er das tut, denn er kann sich selbst nicht erklären; er ist sich selbst unerklärbar.“334
Wagner liest Schleiermachers Religionstheorie als eine Antwort auf die Unerklärbarkeit neuzeitlicher Subjektivität. Wichtig ist dabei, dass Schleiermacher ein bestimmtes Freiheitsverständnis (der Mensch kann alles produzieren…) aufgreift, es als typisch neuzeitlich identifiziert und so dem Menschen seiner Gegenwart einen „Weg zur Religion“335 bahnt. Denn die Religion ist nichts anderes als eine Interpretation des Bewusstseins, dass der Mensch sich gegeben ist. Sie bietet eine Lösung für das Problem, dass der Mensch sich nicht selbst erklären kann. Die Lösung der Religion lautet, dass der Mensch schlechthin abhängig ist von einem Subjekt, dass sich – im Unterschied zum Menschen – selbst erklären kann. Die Religion ist Gottesbewusstsein. Der Fortschritt gegenüber der Orthodoxie besteht darin, dass die Religion bei Schleiermacher in ihrer Bedeutung für den Menschen entfaltet wird. Die Religion bearbeitet ein Problem, das sich stellt, sobald sich der Mensch als ein freies Wesen bewusst wird. So urteilt Wagner mit Blick auf die Glaubenslehre: „Das Abhängigkeitsgefühl ist […] ein Konstrukt, das sich dem auf sich reflektierenden sinnlichen Selbstbewusstsein verdankt.“336 Mit der Religion erklärt sich der Mensch die Tatsache seines Sich-Gegebenseins als (im Fall der Glaubenslehre) „jeweils in bestimmter Weise tätige[s] sinnliche[s] Selbstbewusstsein.“337 Die religiösen Gehalte müssen dann so beschaffen sein, dass sich das freie Selbstbewusstsein auf sie mittels des Abhängigkeitsgefühls zurückführen kann. „[D]er Ausdruck Gott muss den Bedingungen der in ihrem Sich-Gegebensein, ihrer Abhängigkeit sich durchsichtig werdenden Selbsttätigkeit genügen.“338 Dass Gott kein Weltding sein kann, ist eben bedingt durch die Struktur des sinnlichen Selbstbewusstseins.
334 WAGNER, Instanz [WiTh], 171f. Mette weist darauf hin, dass sich diese Passage nur vor dem Hintergrund von Wagners Schleiermacher-Interpretation erschließt (vgl. METTE, Selbstbestimmung, 158). 335 WAGNER, MM, 53. 336 WAGNER, Dialektik, 207. 337 WAGNER, Dialektik, 207. 338 WAGNER, Dialektik, 203.
Fazit
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Das Problem besteht nun aber darin, dass Schleiermacher keine anderen Aussagen über Gott zulassen will, als diejenigen, die das religiöse Bewusstsein tätigt. Er reduziert Gott auf das menschliche Gottesbewusstsein.339 Dem religiösen Bewusstsein, das einen Ausweg aus der Aporie des menschlichen Freiheitsbewusstseins zu bieten verspricht, eignet damit selbst eine Aporie. Denn das religiöse Bewusstsein hat es immer nur mit seinem Produkt zu tun, also mit einer Entität, die von ihm schlechthin abhängig ist, und es behauptet wiederum, von dieser Entität selbst schlechthin abhängig zu sein. Der Mensch ist aber nicht von seinem Gotteskonzept abhängig, sondern (wenn überhaupt, dann) von Gott. Das Gotteskonzept ist lediglich Ausdruck der Grundlosigkeit und Erklärungsbedürftigkeit des Menschen. Ob diesem Konzept etwas entspricht, vermag eine Theologie, die wie die Schleiermachersche nur die Aussagen des religiösen Bewusstseins wiederholt,340 nicht zu zeigen. Eine Theologie, die bloß Religionstheorie ist, entschlüsselt zwar die Frage, welche die Produktion religiöser Gehalte motiviert. Sie ist aber noch nicht selbst die Antwort. Schleiermachers Theologie erweist sich als leistungsfähig, wenn es um die Entschlüsselung religiöser Gehalte geht. Sie kann erklären, was diese Gehalte ‚eigentlich‘ bedeuten. Von der Frage nach der eigentlichen Bedeutung religiöser Gehalte zu unterscheiden ist aber die Frage nach der Geltung dieser Gehalte. Und diese Frage ist es, die die Religionstheologie nicht zu beantworten vermag.
Fazit Fazit
Die Religionstheologie steht nicht nur am Anfang der neuzeitlichen Theologiegeschichte, sie markiert zugleich auch den Ausgangspunkt der Wagnerschen Theoriebildung. Das Grundprinzip der Neuzeit ist die Freiheit des selbstbewussten Individuums,341 und diesem Prinzip weiß sich Wagner mit der Religionstheologie verpflichtet. Im Zuge der Säkularisierung sind es die Religionstheologen, die die neu entdeckte Frage nach der Funktion der Religion stellen. Ihre Antwort lautet, dass in der Religion das Individuum als solches sich zum Thema macht.342 Daher die Nähe zur bürgerlichen Gesellschaft, die dem Anspruch nach ebenfalls eine Gemeinschaft des bloß 339
Wagner kann Schleiermacher eine „Überdehnung seines funktionalen Theologieverständnisses“ vorwerfen. Aus dem Umstand, dass der Gottesgedanke „allein um der funktionalen Perspektive des religiösen Bewusstseins willen expliziert wird“, resultiert die „Grundaporie“ dieser Theologie: „Der allein in der Perspektive des frommen Selbstbewusstseins explizierte göttliche Grund verkehrt sich in ein von diesem abhängiges Relat“ (WAGNER, Funktionalität, 308). 340 Vgl. WAGNER, Theologie, 943. 341 So z.B. auch WENZ, Christentum, 123f. 342 An dieser Einsicht wird Wagner auch in seiner eigenen Religionstheorie festhalten.
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Menschlichen ist. Zwar ist Wagners Beschreibung der Religionstheologie als bürgerlicher Theologie durchaus als Kritik zu verstehen, in ihr kommt aber auch etwas Positives zum Ausdruck: das Subjekt, das die Religionstheologie in den christlichen Gehalten entdeckt – das religiöse Bewusstsein –, ist kein anderes als das sich als autonom verstehende bürgerliche Individuum. In der Religion klärt sich das Individuum über die Voraussetzungen seiner Freiheit auf.343 Diese These Wagners dürfte auch unter gegenwärtigen Religionstheologen auf Zustimmung treffen.344 Wagner unterscheidet allerdings die religionstheologische Sicht auf die Religion strikt von deren Selbstsicht. Der herausfordernde Befund hinsichtlich dieser Unterscheidung besteht nun darin, dass sich Außen- und Innenperspektive der Religion widersprechen. Bezüglich der Binnenperspektive des Glaubens kann folgendes festgehalten werden. Der Glaubende weiß sich eins mit Gott. Er versteht sein Wissen von Gott als Teilhabe am göttlichen Selbstbewusstsein. Im diesem Sinn handelt es sich beim Glauben um unmittelbares Wissen. Ist Gott das eigentliche Subjekt des Glaubens, so kann es der Mensch nicht sein. Als Glaubender ist der Mensch so gerade nicht selbständiges, von Gott unterschiedenes Subjekt; Glaube ist daher immer ein Akt der Negation, mortificatio. Die Negation aller Aktivität auf Seiten des Menschen, die für den Glauben konstitutiv ist, schreibt der Glaube nicht sich selbst, sondern Gott zu. Ist der Glaube so (aus Sicht des Menschen) als völlige Passivität bestimmt, dann liegt die spezifische Dialektik des Glaubens nun darin, dass er nicht nur mit Gott eint, sondern dass er den Menschen zugleich auch von ihm trennt. Das wird besonders deutlich, wenn man sich den Begriff der Vorstellung vergegenwärtigt.345 Man kann hier durchaus an eine Bühnenvorstellung denken: Der Glaube ist etwas, das dem Menschen passiert, das sich vor ihm abspielt, auf das er als aktives Wesen aber keinerlei Einfluss nehmen kann. Es kann das Geschehen auf der Bühne lediglich betrachten, zwischen ihm als Zuschauer, der außerhalb des Theaters ein aktives Leben führt und der Ge343
Vgl. z.B. WAGNER, WiR, 215f.; an dieser Stelle wird der Zusammenhang von individueller Autonomie und Religion besonders deutlich: „der Religionsbegriff tritt erst in dem Augenblick seine Karriere innerhalb des Christentums an, in dem dieses ein selbständiges religiöses Bewußtsein ausdifferenziert, das mit der Selbständigkeit des als autonom sich wissenden Individuums zusammenfällt.“ 344 Vgl. z.B. W. Gräbs Skizze des Kulturprotestantismus unter dem Titel „Protestantische Religionskultur: Die Heiligung der Individualität“ (in: GRÄB, Sinnfragen, 40–50). Gräb selbst interpretiert die Rechtfertigungslehre im Sinn einer solchen Aufklärung über das neuzeitliche Freiheitsverständnis: „Die Rechtfertigungslehre spricht den modernen Menschen in seiner Autonomieanmutung an, im Bewußtsein seiner Freiheit. Sie gibt zu verstehen, dass sich diese Freiheit keineswegs von selbst versteht. Individuelle Freiheit muss in der Kraft des Jenseits, aus der selbstbewussten Gründung des Subjekts in der Gottesbeziehung, vollzogen werden.“ (ebd., 86). 345 Vgl. oben Kap. I.2.b.
Fazit
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schichte, die sich vor ihm ereignet, besteht ein kategorialer Unterschied. Dass dem Glaubenden dieser Unterschied nicht zum Problem wird, liegt daran, dass er – um im Bild zu bleiben – sich nicht als Zuschauer und die Vorstellung nicht als Vorstellung begreift; selbstvergessen versinkt er in der Geschichte, die er betrachtet und hält sie für die Wirklichkeit an sich. D.h. aber auch: damit die Vorstellung zur Wirklichkeit werden kann, muss der Mensch sich vergessen, die Wirklichkeit des selbstbewussten, aktiven Menschen kann sie daher nicht sein, ihm bleibt sie unerreichbar.346 Wie gesehen, rückt die Religionstheologie nun aber diesen aktiven Menschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zeichnen Passivität und Selbstvergessenheit den Glaubenden aus, so sind dem Menschenbild der Religionstheologie Aktivität und Selbstbewusstsein eingeschrieben (es zieht damit die Merkmale des Göttlichen auf sich). Die Religionstheologie entdeckt, dass der Mensch auch in religiösen Dingen Subjekt ist, dass die Religion eine menschliche Bewusstseinsform unter anderen ist, und zwar gerade die, in der der Grund dieses freien Menschen erscheinen, in der er gegenwärtig sein kann. Damit hält sie fest, dass Gott nicht jeder menschlichen Bewusstseinsform, sondern nur einer bestimmten zugänglich ist, eben der Religion. In diesem Sinn legt z.B. Schleiermacher sie in den ‚Reden‘ auf die Bewusstseinsform der Anschauung fest. „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen lassen.“347 Das Zitat zeigt m.E., dass Schleiermachers Beschreibung der Religion grundsätzlich mit der eben skizzierten Binnenperspektive übereinstimmt. Entscheidend ist aber der Zuwachs an Reflexivität: Die Religion wird als bestimmter Modus des menschlichen Geistes gewusst: zwar nicht als ein Denken oder Wollen, aber eben doch als ein sich ergreifen und erfüllen lassen. Damit wird offenbar, was der Glaube tatsächlich ist: kein fremdes Geschehen, das nur Gott zum Subjekt hat, sondern eines, bei dem der menschliche Geist dabei ist. Offenbar wird damit aber auch die Aporie des Glaubens. Um Gott erfahren zu können, muss sich das menschliche Subjekt in einen Zustand kindlicher Passivität versetzen; nicht dem Wissenden, nicht dem Wollenden, sondern allein dem Sichstillstellenden vermag Gott zu erscheinen. In dem Sinn verdankt sich Gott einer bestimmten menschlichen Bewusstseinstätigkeit, ist er ein Produkt des menschlichen Geistes, was eben der Selbstsicht des Glaubens widerspricht, sich ganz und gar Gott zu verdanken. Die Religionstheologie deckt einerseits die Produktivität des Glaubens auf, andererseits hält sie aber an dessen Selbstaussage fest, Bewusstsein des 346
Vgl. auch die Ausführungen zur Selbstentäußerung als der Grundbewegung des Glaubens oben S. 51ff. 347 SCHLEIERMACHER, Reden, 79.
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Grundes zu sein. Theologie im Ausgang vom religiösen Bewusstsein treiben zu wollen, heißt dann aber, die Aporie des Glaubens festzuschreiben. Das zeigt sich vor allem daran, dass verschiedene Religionstheologien den Modus des menschlichen Geistes, in dem der Grund gegenwärtig sein soll, ganz unterschiedlich bestimmen können. Die Folge einer solchen positionellen Theologie ist, dass sich der eine Grund „in die Pluralität der Vorstellungsweisen atomisiert.“348 Man könnte gegen Wagner einwenden, dass er Glaube und Theologie zu scharf unterscheidet. In seiner Konzeption sieht es so aus, als wüsste der Theologe etwas, was der Glaubende selbst nicht weiß, und man kann fragen, wie plausibel eine solche Annahme ist. Eine alternative Position findet sich gegenwärtig etwa bei Christian Danz, der den Glauben nicht „an bestimmte Bewusstseinsvermögen […] zurückgebunden“349 wissen will, sondern ihn als einen „Akt der ganzen Person“350 auffasst. Danz hält „Beschreibungen des Glaubens als eines ausschließlich passiven Konstitutionsgeschehens“351, wie sie in der gegenwärtigen Theologie häufig vertreten würden, für unzutreffend. Mit Albrecht Ritschl bemerkt er, „dass die ‚Anwendung passiver Prädicate auf den menschlichen Geist […] immer eine ungenaue Redeweise‘ sei“352. Wagner würde dem voll und ganz zustimmen, allerdings darauf hinweisen, dass damit schon die Perspektive des Religionstheologen eingenommen sei, während der Glaube selbst sich eben gerade als ausschließlich passiv konstituiert verstehe. Danz hingegen insistiert auf der Reflexivität bereits des Glaubens, indem er ihn als „das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen in seiner Endlichkeit und Geschichtlichkeit“353 bestimmt und festhält: „Glaube und Religion werden […] von der theologischen Dogmatik selbst schon als die sich durchsichtige Grundlegung des Selbst verstanden.“354 Weiß der Glaube um seine Produktivität, dann wird er Gott nicht länger als seinen Grund verstehen können, von dem er einseitig abhängig ist; ein selbstbewusster Glaube führt also auch zu einem anderen Gottesverständnis. So meint Danz denn auch (unter Berufung auf Luther), „dass Glaube und Gott gleichursprünglich sind, miteinander und zugleich entstehen.“355 Es erscheint mir jedoch fraglich, ob damit tatsächlich das Selbstverständnis des christlichen Glaubens getroffen ist. Denn für diesen scheint die Relation des Externen356 348
WAGNER, GoG, 125. DANZ, Einführung, 40. 350 Ebd. 351 Ebd. 352 Ebd. 353 Ebd., 31. 354 Ebd., 23. 355 Ebd., 41. 356 S.o. S. 47. Der Vorwurf an Danz wäre dann, dass er die für die Selbstsicht des Glaubens konstitutive Dimension des Sich-Verlassens nicht einholt. 349
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doch unhintergehbar zu sein. Gründet die Gewissheit des Glaubens nicht darin, nicht länger bei sich, sondern bei einem anderen (in Gott bzw. in Christus) zu sein? Die in Kap I.2 aufgestellte Behauptung, dass es zumindest möglich ist, das lutherische Glaubensverständnis im Sinne Wagners zu deuten, lässt sich mit Hinweisen, die Notger Slenczka in einem Aufsatz gegeben hat, weiter untermauern.357 Slenczka thematisiert zwei gegensätzliche Annahmen Luthers. Einerseits gehe Luther selbstverständlich davon aus, dass Gott der Schöpfer des Glaubens sei. Andererseits finde sich bei ihm eben auch jene berühmte Wendung, dass der Glaube der Schöpfer der Gottheit sei, zwar „nicht in der Substanz, wohl aber in uns“. Dabei habe Luther den Satz, dass die Fides creatrix divinitatis sei, keineswegs beiläufig und unbedacht ausgesprochen, er gehöre vielmehr ins Zentrum seiner Theologie.358 Slenczka löst die Spannung zwischen den beiden Aussagen nun so auf, dass er sie verschiedenen Subjekten zuordnet. Ohne auf Wagner Bezug zu nehmen, hält er genau wie dieser fest: 1. „Der Glaube ist nicht Bewusstsein des Erschaffens, sondern […] Bewusstsein des Nichtseins und der Abhängigkeit.“359 2. „Die Aussage, dass der Glaube creatrix divinitatis ist, entspringt der theologischen Reflexion auf den Zusammenhang von Gott und Glaube“360. An anderer Stelle kann Slenczka den Glauben als selbstvergessen bezeichnen, womit gemeint ist, dass der Glaube um seine gegenstandskonstituierende Tätigkeit nicht weiß, während die Theologie gerade auf diese Produktivität des Glaubens reflektiert.361 Inwiefern erschafft der Glaube nun seinen Gott? Slenczka bezeichnet den Glauben als ein „negatives Selbstverhältnis“362. Damit soll eine bestimmte „Lebenshaltung“363 zum Ausdruck gebracht werden, die nichts von sich, aber alles von einem anderen erwartet – Slenczka kann auch von einem Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit reden. Dieses Bewusstsein völliger Angewiesenheit fordert eine Instanz, die alles gibt und eine solche Instanz nennt man üblicherweise Gott. Die Haltung des Glaubens formt allerdings 357
Vgl. zum Folgenden SLENCZKA, Fides. Slenczka schließt mit seiner Interpretation des lutherischen Glaubensbegriffs an einen Aufsatz Ebelings an, an dem sich auch meine eigenen Ausführungen orientierten (vgl. ebd., 172, Anm. 6). In Kap I.2 habe ich zu zeigen versucht, dass sich Wagners recht abstrakte Ausführungen zur Struktur des Glaubens mithilfe von Luthers Bemerkungen im Großen Katechismus veranschaulichen lassen. Die folgenden Ausführungen sollen daher die These stützen, dass Wagner mit seiner Kritik des religiösen Bewusstseins auch auf das lutherische Glaubensverständnis zielt – bzw. auf eine bestimmte Lesart des lutherischen Glaubensbegriffs, wie sie sich z.B. bei Slenczka findet. 358 Vgl. den entsprechenden Nachweis bei SLENCZKA, Fides, 173f. 359 SLENCZKA, Fides, 187. 360 Ebd. Vgl. auch ebd., 192. Slenczka setzt das Bewusstwerden der Produktivität des Glaubens ähnlich wie Wagner „mit einer Art transzendentaler Kehre“ (ebd.) in Verbindung. 361 Vgl. SLENCZKA, Christus, 232f. 362 SLENCZKA, Fides, 184.186. 363 Ebd., 180. Im Original kursiv.
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nicht nur eine bestimmte Vorstellung, deren Gehalt die Merkmale des traditionellen Gottesgedankens aufweist, sie ermöglicht Gott auch allererst am Ort des Subjekts zu erscheinen. In diesem Sinn interpretiert Slenczka den Zusatz Luthers, dass der Glaube der Schöpfer Gottes in uns sei.364 Gott kann dann am Ort des Menschen sein, wenn dieser „sich ganz negiert und alles von Gott erwartet“365. Diese Selbstnegation, durch die der Mensch in Gott aufgenommen wird, interpretiert der Glaubende – ganz im Sinne der Logik völliger Passivität – aber nun als das Handeln „einer fremden Macht“366 an ihm. Nicht: er negiert sich, sondern: er wird negiert. Nicht: er vergegenwärtigt Gott, sondern: Gott vergegenwärtigt sich. Es sollte deutlich sein: Slenczkas Darstellung der Selbstsicht des Glaubens, wie er sie aus Luthers Schriften rekonstruiert, stimmt mit der in Kapitel I.2 beschriebenen Struktur des Glaubens weitgehend überein. Das heißt dann aber: es ist genau dieses (lutherische) Glaubensverständnis, das Wagner als aporetisch bezeichnet und dessen „Dualismus einer Entzweiung“367 er scharf kritisieren kann. Dieser Dualismus findet sich auch in den Ausführungen Slenczkas. Denn, so die Worte Luthers, Gott fordert eine geistlich arme Seele; nur der Glaube, nicht aber die Vernunft ermöglicht Einheit mit Gott. In diesem „nur“, das Slenczka immer wieder betont,368 steckt jedoch das ganze Problem. Der Glaube, der sich doch ganz Gott verdankt wissen will, ist selbst die Bedingung dieses Gottes. Gott wird damit eingebunden in ein korrelatives Verhältnis, das dem vom Glauben intendierten Gottesgedanken (seiner schlechthinnigen Aktivität, Unbedingtheit, Aseität) gerade widerspricht.369 Bei Wagner findet sich, so kann abschließend festgehalten werden, beides nebeneinander: eine Würdigung der Leistung der Religion und eine (zum Teil polemische) Religionskritik.370 Das Recht der Religionstheologie besteht darin, das positive Verständnis der Religion herausgearbeitet zu haben. Sie zeigt die Funktion der Religion für den Menschen auf: In der Religion thematisiert das autonome Individuum den Grund seiner Freiheit. Die Religion ist als Gottesbewusstsein Ausdruck der Tatsache, dass sich der Mensch nicht 364
„Die These Luthers wäre dann die, das nur durch den Glauben tatsächlich Gott im Menschen gegenwärtig wird, und dass der Glaube in dem Sinne Schöpfer der Gottheit ist, dass er Gott im Menschen vergegenwärtigt.“ (Ebd., 185). 365 Ebd., 186. 366 Ebd., 188. 367 WAGNER, MM, 112. 368 SLENCZKA, Fides, 185.191.193. 369 Ein anderer Gewährsmann für dieses korrelative Verhältnis von Gott und Glaube ist für Slenczka Schleiermacher (vgl. SLENCZKA, Christologie, 211): „Wo die vollkommene Kräftigkeit des frommen Bewusstseins ist, da und nur da ist Gott.“ 370 Wagner selbst kann in einem Aufsatz von der „Stärke und Schwäche der modernen Religionstheorie“ reden, die „miteinander verwoben“ seien (vgl. WAGNER, Subjektivität, 324–331, Zitat 331).
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selbst erklären kann; er ist sich gegeben, seine Freiheit ist verdankte Freiheit. Das Problem der Religionstheologie ist nun das Folgende. Sie legt zwar die Intention des religiösen Subjekts frei: es will des Grundes seiner Freiheit ansichtig werden. Sichtbar wird aber auch, dass das religiöse Subjekt von sich aus niemals zu seinem Grund gelangen kann. Der Grund, den es erfasst, ist nicht der Grund, sondern das Produkt seiner Freiheit. Indem die Religionstheologie der Perspektive des individuellen Subjekts verpflichtet bleibt, wird sie auch von Wagners Religionskritik getroffen. Dieses negative Religionsverständnis besagt, dass das freie Subjekt nur durch ein anderes begründet werden kann, die Religion selbst aber noch ein Tun eben dieses freien Subjekts ist. Insofern die Religion ganz gegen ihre Intention es nicht mit ihrem Grund, sondern mit ihrem Konzept des Grundes zu tun hat, ist sie auch für Wagner eine „fabrica idolorum.“371
371
BARTH, KD I,2, 355.
Zweiter Teil I. Der Kontext der Wort-Gottes-Theologie I. Der Kontext der Wort-Gottes-Theologie
1. Die Radikalisierung der Freiheit Typisch für Wagner ist ein Denken in theologiegeschichtlichen Epochen. Dabei lässt er sich von der Annahme leiten, dass sich jede Epoche auf einen Begriff bringen lässt; dieser Begriff ist das die Epoche „bestimmende Prinzip.“ Entscheidend ist, dass der Begriff nicht nur die Entwicklung innerhalb der Theologie lenkt, sondern dass er gewissermaßen das Label einer Epoche insgesamt darstellt. Von daher ergibt sich für Wagner die Forderung, dass das postulierte Prinzip auch „im Hinblick auf die [der Theologie] gleichzeitigen Theorie-Gestalten identifiziert werden können“ muss.1 Ist für die Neuzeit Freiheit das zentrale Thema, so lässt sich der Zeitraum von der Aufklärung bis zum ersten Weltkrieg mit dem Begriff der positionellen Freiheit erfassen; die Theorien dieser Epoche drehen sich um die Freiheit des partikularen, besonderen Subjekts. Die „Theoriebildung des 20. Jahrhunderts“2 stellt nun insofern einen Umbruch dar, als jetzt der Versuch, Selbständigkeit durch Abgrenzung zu gewinnen, d.h. positionelle Freiheit zu verwirklichen, verabschiedet wird. Stattdessen schwingen sich die Theoretiker nach dem ersten Weltkrieg dazu auf, „nicht länger besondere, sondern Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung überhaupt, nämlich als Selbstbestimmung des absoluten Subjekts, zur Darstellung zu bringen.“3 Mit diesem Urteil erhebt Wagner den Anspruch, das „bestimmende Prinzip“ oder das Thema für das 20. Jahrhundert zu formulieren. Der zitierte Satz bezieht sich auf die Theologie; entsprechend der oben genannten Forderung hat Wagner jedoch auch den Versuch unternommen, seine These an zwei außertheologischen Theoriefiguren zu bewähren. Dabei handelt es sich einerseits um die politische Theorie des Nationalsozialismus, andererseits um Arnold Gehlens Hand1
WAGNER, Nationalsozialismus [WiTh], 73. So vermerkt Wagner hinsichtlich des Kontextes positioneller Theologie: „Entsprechende Positionsbildungen können […] auch in den gleichzeitigen außertheologischen Aktivitäten identifiziert werden (etwa Parteien- und Klassenbildungen, Nationwerdung, Natur contra Geist etc.).“ (WAGNER, Systemtheorie [CM], 161; vgl. auch DERS., Nationalsozialismus [WiTh], 80f.). 2 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 93. Wagner nennt es an dieser Stelle ein Verdienst F.W. Marquardts, Barths Theologie erstmals vor dem Hintergrund dieser Theoriebildung interpretiert zu haben. 3 WAGNER, Systemtheorie [CM], 162.
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Zweiter Teil
lungstheorie. Sie sollen nun zunächst vorgestellt werden. Stimmt Wagners Überlegung zum Prinzip einer geschichtlichen Epoche, dann werden mittels der Darstellung dieser beiden Theorien Grundzüge auch des theologischen Denkens im 20. Jahrhundert sichtbar. Wagner erblickt in der politischen Theorie des Nationalsozialismus, die er aus den Schriften Adolf Hitlers rekonstruiert, eine „Gestalt unbedingter und radikaler Theorie“4. Radikal ist sie deshalb, weil in ihr die Identität einer Nation nicht wie bisher in Abgrenzung gegen andere Nationen gewonnen wird.5 Die Nation, von der in der Theorie des Nationalsozialismus die Rede ist, ist nicht eine Nation unter anderen, sondern die Nation überhaupt, die absolute Nation. „Damit radikalisiert Hitler den Begriff der Nation, wie er ihn vorgefunden hat, zum Prinzip der Nation schlechthin“6. Die Freiheit, die hier zum Thema wird, ist nicht die Freiheit einer bestimmten, einzelnen Nation; „nicht eine Nation gegen eine andere“7 soll sich durchsetzen, es geht vielmehr um die Freiheit eines allgemeinen, absoluten Subjekts. „Souveränität und Selbständigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit werden […] auf ein Subjekt übertragen, das prinzipiell gesehen, nicht mehr mit einem empirisch gegebenen Subjekt identifiziert werden kann. Hitler überschreitet den bis dato bekannten Nationalismus. Das neue Subjekt ist die Nation als solche, das Prinzip der Nation, das im Angesicht des jüdischen Antiprinzips identifizierbar ist.“8 Die Theorie des Nationalsozialismus ist radikal, weil sie darauf abzielt, das absolute Subjekt zu erfassen. Sie ist aber nach Wagner „nicht radikal genug“9, und zwar deshalb nicht, weil sie das absolute Subjekt mit einer Größe identifiziert, die allererst realisiert werden muss. Denn Hitler setzt das absolute Subjekt mit der absoluten Nation gleich, dem Begriff der absoluten Nation entspricht aber nichts in der Wirklichkeit;10 der Begriff der Nation ist zunächst einmal eine partikulare Größe,11 die den Bezug auf die 4
WAGNER, Nationalsozialismus [WiTh|, 82. Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd., 83. 10 Die Theorie des Nationalsozialismus will zwar „als Theorie der Nation schlechthin Theorie der politischen Gesamtwirklichkeit sein. Indem sie aber mit dem Begriff der Nation Partikulares in den Stand des Absoluten erhebt, können der Begriff der Nation schlechthin und die Gesamtwirklichkeit erst dann identisch sein, wenn die Wirklichkeit nach dem Begriff der Nation umgestaltet worden ist, denn diesem ist die ihm entsprechende Wirklichkeit noch transzendent.“ (ebd., 91). Vgl. auch HOLTMANN, Barth, 198ff. 11 Das gilt sowohl, weil der Begriff der absoluten Nation negativ auf das jüdische „Antinationenprinzip“ bezogen ist, das im Zuge der Verwirklichung allererst überwunden werden muss, als auch, weil der Begriff der Nation selbst auf die bestehende Pluralität von Nationen verweist, sodass Hitler gezwungen ist, eine bestimmte Nation mit der absoluten Nation gleichzusetzen. Vgl. HOLTMANN, Barth, 199: „Das selbstbestimmende Subjekt sei 5
I. Der Kontext der Wort-Gottes-Theologie
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real existierenden Nationen impliziert. „Die Nation ist nicht das Subjekt, sondern bestimmtes Subjekt.“12 In Hitlers Theorie wird mithin eine partikulare Größe, ein bestimmtes Subjekt absolut gesetzt. Die Theorie des Nationalsozialismus erfasst nicht das absolute Subjekt, sondern sie ist der Versuch, ein partikulares Subjekt, eben die Nation – und das heißt dann immer eine bestimmte Nation – , allererst in den Stand eines absoluten Subjekts zu erheben; sie zielt damit nicht auf die Beschreibung, sondern auf die Verwirklichung, ja die Erschaffung des absoluten Subjekts und führt so „notwendig zu permanentem Terror.“13 Der Rückgriff auf den Begriff der Nation verhindert also von vornherein das Erfassen des absoluten Subjekts. Zwei allgemeine Einsichten lassen sich aus Wagners Rekonstruktion der nationalsozialistischen Gedankenwelt herausarbeiten. Einmal die grundsätzliche Beobachtung, dass die Epoche nach dem ersten Weltkrieg durch die Ausbildung radikaler Theorien geprägt ist. Radikal ist eine Theorie dann, wenn sie beansprucht, eine Theorie der Gesamtwirklichkeit zu sein. Dabei wird das Konzept der Selbstbestimmung in dem Sinn radikalisiert, dass nicht mehr die Selbstbestimmung eines einzelnen Subjekts (in diesem Fall: einer einzelnen Nation), sondern Selbstbestimmung überhaupt (hier: die Selbstbestimmung der absoluten Nation)14 gedacht werden soll. Zweitens weist Wagner auf die Schattenseiten dieser Theorien hin: sie schlagen dann in Terror und Gewalt um, wenn sie, statt das immer schon verwirklichte absolute Subjekt zu erfassen, ein einzelnes Subjekt in den Stand des all-einen Subjekts erheben wollen.15 Die andere außertheologische Position ist die Handlungstheorie Arnold Gehlens. Auch bei ihr beobachtet Wagner eine „Radikalisierung“16. Und auch hier wird der Vorgang der Radikalisierung als eine Eigenart des 20. Jahrhunderts erkennbar: Gehlens Handlungslehre sei „in die Reihe der Versuche des 20. Jahrhunderts einzuordnen, die die Verwirklichung von Selbstbestimmung und Freiheit auf radikal-unbedingte Weise zur Geltung bringen.“17 Wagner ‚die Nation als solche‘, da diese aber faktisch nicht existierte, werde eine bestimmte Nation zum Kampf eingesetzt, bis sie den Status der ‚Nation überhaupt‘ erlangt habe.“ 12 WAGNER, Nationalsozialismus [WiTh], 83. 13 WAGNER, Nationalsozialismus [WiTh], 90. 14 Die absolute Nation soll insofern das Prinzip absoluter Selbstbestimmung repräsentieren, als das ihr entgegenstehende Prinzip ein solches darstellt, „durch das […] Selbstbestimmung und Selbständigkeit überhaupt und schlechthin vernichtet werden soll[]“ (WAGNER, Nationalsozialismus [WiTh], 81). Das Gegenüber zur absoluten Nation ist nach dieser Theorie nicht länger ein anderes selbständiges Subjekt, sondern die Infragestellung von Selbstbestimmung und Selbständigkeit überhaupt. 15 Im Anschluss an Holtmann: der Gegenstand einer solchen Theorie ist dann nicht „absolute“, sondern „verabsolutierte Subjektivität“ (HOLTMANN, Barth, 200). 16 WAGNER, Handlungsbegriff, 216. 17 WAGNER, Handlungsbegriff, 227f.
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Zweiter Teil
liest den Vorgang der Radikalisierung an den Veränderungen des Handlungsbegriffs ab, wie er sie im Durchgang durch Gehlens Schriften beobachtet. Dabei erkennt er in der Entwicklung des Handlungsbegriffs bei Gehlen drei Stufen. Den Ausgangspunkt bildet das „zweckrational-instrumentelle Handeln“, die erste Radikalisierung besteht dann darin, dass das Handeln zum Selbstzweck wird, dieses „Handeln um des Handelns willen“ radikalisiere sich schließlich zum darstellenden Handeln, „zum Handeln des Handelns“, wie Wagner es nennt.18 Der Unterschied zwischen dem Selbstzweckhandeln und dem darstellenden Handeln besteht darin, dass das erste noch von einer Voraussetzung abhängig ist, die es nicht selbst hervorgebracht hat. Diese Voraussetzung ist der Zweck, auf den hin die Handlung geschieht. Handeln kann erst dann zum Selbstzweck werden, wenn es zuvor einen anderen Zweck verfolgt hat.19 Diese dem Handeln selbst noch äußerliche Bedingung wird beim darstellenden Handeln überwunden. Dieses setze „als Handeln des Handelns kein Außerhalb mehr voraus. Das Handeln des Handelns ist so durch sich selbst bestimmt, daß es nicht nur um seiner selbst willen geschieht, sondern sich auch durch sich selber ursprünglich hervorbringt.“20 Es ist also auch das Ziel dieser Theorie „Selbstbestimmung überhaupt“21 zu denken. Allerdings, wendet Wagner kritisch ein, konzipiere Gehlen das unbedingte Handeln unter Ausschluss endlicher bzw. individueller Subjektivität. Gehlen integriert den Umstand, dass es sich beim Handeln des Handelns um eine Theorie, nämlich um seine, Gehlens, Theorie handelt, nicht in seinen radikalisierten Handlungsbegriff. Dieser ist damit, so ließe sich mit Wagner auch hier urteilen, noch nicht radikal genug. Denn die Darstellung des Handelns des Handelns ist die Bedingung, die dem Handeln des Handelns selbst noch äußerlich ist.22 Es handelt sich somit um ein Handeln, das sich selbst nicht weiß, um Selbstbestimmung, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist; „es ist Selbstbestimmung, aber noch nicht Subjektivität.“23 Gehlen identifiziert nun die Ausbildung des unbedingten Handelns mit der Verfestigung menschlichen Handelns zu Institutionen. Institutionen sind also Ausdruck der Realisierung radikaler Selbstbestimmung, die allerdings unter Ausschluss des individuellen Subjekts geschieht. Weil die Institutionen sich nicht als Konstruktionen menschlicher Subjekte durchsichtig werden, sondern sich zu
18
WAGNER, Handlungsbegriff, 226. „Selbstzweckhandeln“, so lautet Wagners These, gehe „aus einem bestimmten zwecktätigen Handeln“ hervor; „erst in Verfolgung bestimmter Zwecke schlägt die bestimmte Zwecktätigkeit in Selbstzweckhandeln um.“ (WAGNER, Handlungsbegriff, 226). 20 WAGNER, Handlungsbegriff, 226. 21 WAGNER, Handlungsbegriff, 226f. 22 WAGNER, Handlungsbegriff, 227: „Als nicht bewußt gemachte Bedingung fällt das Wissen-Können mit der Gehlenschen Darstellung des Handelns des Handelns zusammen.“ 23 WAGNER, Handlungsbegriff, 227. 19
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scheinbar objektiven Gegebenheiten „kristallisieren“24, in denen das Individuum als solches nicht vorkommt, „kommt es […] zu einer Entzweiung von kristallisierten Institutionen, in denen das Handeln als Selbstzweckhandeln um seiner selbst willen geschieht, und der sich wissenden Subjektivität, die sich in ihre individuellen Bedürfnisse einhaust.“25 Auch das Subjekt unbedingten Handelns, wie Gehlen es konzipiert, tendiert schließlich „zur Gewalt“: „das Individuum soll sich von den Institutionen konsumieren lassen.“26 Damit gewinnt die Theoriebildung des 20. Jahrhunderts weiter an Kontur. Wie in der Theorie des Nationalsozialismus erkennt Wagner auch bei Gehlen den Versuch, absolute Freiheit zu denken und auch hier tritt ein Dualismus auf, der mit Gewalt überwunden werden muss. Neu ist die Beobachtung, dass die absolute Freiheit sich auf Kosten der individuellen Subjektivität realisiert, also auf Kosten genau jener Größe, deren Emanzipation als das vorherrschende Thema der vorangegangenen Epoche ausgemacht wurde. Zur Erinnerung: Die Konstitution individueller Subjektivität bildet für Wagner den Auftakt neuzeitlicher Theoriebildung. Deren Fortgang beschreibt er nun so, dass im 20. Jahrhundert ein Punkt erreicht wird, an dem die Ausschaltung des Individuums zum Thema wird. Diese Bewegung bezeichnet Wagner als Radikalisierung. Der Begriff der Radikalisierung führt den Gedanken einer Entwicklung mit sich. Das, was in der Neuzeit sich entwickelt, ist der Begriff der Freiheit. In diesem Kontext sind Gehlens Überlegungen zum Handlungsbegriff zu verorten: „Seine Theorie vom Handeln steht durchaus in der Tradition der spezifisch neuzeitlichen Thematisierung von Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit.“27 Diese spezifisch neuzeitliche Thematisierung von Selbstbestimmung verläuft nun aber so, dass sie von einem Konzept individueller Selbstbestimmung zu einem Konzept absoluter Selbstbestimmung führt, das individuelle Selbstbestimmung von sich ausschließt. Die Entwicklung trägt so eher die Züge einer Restauration; an ihrem vorläufigen Ende ist die individuelle Selbstbestimmung, deren Erwachen die Geburtsstunde der Neuzeit markiert, wieder negiert. Dies ist nun der Hintergrund, auf dem Wagner die dialektische Theologie interpretiert. Unverstanden bliebe sie, erblickte man in ihr lediglich die „Repristination von Reformation und Orthodoxie“28. Stattdessen hat sie für Wagner ihren Ort in der Entwicklungsgeschichte des neuzeitlichen Freiheitsbegriffs. Nicht als Rückschritt hinter die Einsichten der Religionstheologen sei die dialektische Theologie zu begreifen, sondern in ihr geschehe – ganz im 24
Die Folge ist, „dass die Institutionen als nicht mehr veränderbar, als kristallisiert und versteinert betrachtet werden“ (WAGNER, Handlungsbegriff, 228). 25 WAGNER, Handlungsbegriff, 228. 26 Ebd. 27 WAGNER, Handlungsbegriff, 227. 28 WAGNER, Nationalsozialismus [WiTh], 87.
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Gegenteil zu einer solchen These und ganz in Übereinstimmung mit zeitgleichen geistigen Strömungen – eine „Radikalisierung der Subjektivitätsproblematik und damit der liberalen Theologie“, und zwar insofern, als „daß an die Stelle der unmittelbar-individuellen die unbedingte und absolute Subjektivität Gottes tritt“29. So gehe es in Barths Römerbrief um die radikale Autonomie Gottes und auch in Bultmanns Schriften findet Wagner „das Interesse an einer radikalen Theorie von Freiheit“30 wieder.31 Wenn diese These stimmt, wenn es also stimmt, dass Wagner darauf aus ist, der dialektischen Theologie ihren Ort in der Geschichte des neuzeitlichen Freiheitsbegriffs zuzuweisen, dann erscheint seine Kritik der dialektischen Theologie in einem neuen Licht. Der Zwang zur Gleichschaltung etwa, den Wagner bei Barth diagnostiziert, ist dann gar kein Spezifikum der barthschen Theologie, sondern spiegelt ein Stadium in der Entwicklungsgeschichte des Freiheitsbegriffs wider,32 nämlich eben jenen Punkt, an dem sich die individuelle Freiheit zur absoluten Freiheit radikalisiert und sich damit als individuelle Freiheit selbst ausschaltet. Die Kritik richtet sich dann nur vordergründig gegen die dialektische Theologie selbst. Tatsächlich aber will sie – folgt man dieser These – die Aporien eines Freiheitsbegriffs aufzeigen, und zwar desjenigen Freiheitsbegriffs, der im Zuge der Aufklärung formuliert wird und der sich im 20. Jahrhundert zur absoluten Freiheit radikalisiert. Wenn dem so ist, dann müssen die Religionstheologie und die dialektische Theologie letztlich demselben Freiheitsverständnis verpflichtet sein. Um das zu überprüfen, seien hier noch einmal die Grundsätze des positionellen Freiheitsverständnisses angeführt, „wie es den Theorien Kants, Fichtes und Schleiermachers zugrundeliegt.“33 Selbstbestimmung wird hier durch Abgrenzung vollzogen. „Das Spezifikum einer Position besteht […] darin, daß sie ihre Selbständigkeit aus der negativen Bezugnahme auf anderes, auf ihr Nichtsein zieht.“ „Die positionelle Freiheit ist auf etwas bezogen, das von der Freiheit noch unabhängig ist“34. Auf die beiden oben dargestellten außertheologischen Theorien treffen diese Sätze zu, sodass sie – nach Wagner entgegen ihrer Intention – weiterhin als Ausdrucksweisen positioneller Freiheit zu begreifen sind. So wird die absolute Nation im Gegenüber zu einem Antiprinzip aufge29
Ebd. Vgl. auch WAGNER, Einleitung [RG], 363: „Die Aufhebung des positionell verfaßten Selbstbewusstseins erfolgt im Namen der an sich selbst gedachten Selbstbestimmung der absoluten Subjektivität Gottes“. 30 WAGNER, Nationalsozialismus [WiTh], 88. 31 Explizit lautet dann auch die entsprechende Überschrift in Wagners Aufsatz über die Theorie des Nationalsozialismus: „Dialektische Theologie als Theorie absoluter Freiheit“ (WAGNER, Nationalsozialismus [WiTh], 87). 32 Als Beleg für diese These sei v.a. auf WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 124 verwiesen. 33 WAGNER, Systemtheorie [CM], 177. 34 WAGNER, Systemtheorie [CM], 177.
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baut;35 dieses ist daher konstitutiv für den Aufbau der absoluten Nation und zugleich ihre Grenze. Die Folge ist, dass „das verabsolutierte Subjekt Nation immer noch auf anderes negativ bezogen“36 ist, das durch Gewalt allererst überwunden werden muss. Weil dieses andere aber konstitutiv für die absolute Nation selbst ist, richtet sie ihre Gewalt letztlich gegen sich selbst. Gleiches gilt auch für Gehlens Konzept unbedingten Handelns, das sich in den Institutionen manifestiert. „Weil Gehlen das Wissen-Können aus dem Handeln des Handelns ausschaltet, tritt das Sich-Wissen in der Gestalt der individuellen Subjektivität dem Handlungsgefüge der Institutionen äußerlich, also abstrakt, gegenüber.“37 Nun ist das Wissen-Können zugleich aber konstitutiv für das Handeln des Handelns, es ist seine „nicht bewusst gemachte Bedingung“38. Infolgedessen ist die von Gehlen festgestellte Entzweiung von Institution und Individuum für Wagner bloß falscher Schein, der nur deshalb entsteht, weil das Individuum sich seine eigene Konstitutionsleistung im Aufbau der Institution nicht bewusst macht. Im „Aufruf zum Zwang“39, der von den Institutionen ausgeht, schallt der individuellen Subjektivität daher also ihre eigene, freilich aufgrund der Entfremdung nicht erkannte Stimme entgegen und die Gewalt, die vom unbedingten Handeln ausgeht, hat ihre Wurzel in der individuellen Subjektivität selbst. Nochmal anders gesagt: Es ist nicht die Institution, sondern die Institutionentheorie des Individuums Gehlen, von der die Forderung ausgeht, das Individuum müsse sich von der Institution konsumieren lassen. Sowohl die Theorie des Nationalsozialismus als auch Gehlens Handlungstheorie sind also weiterhin einem positionellen Freiheitsverständnis verpflichtet. Wie steht es nun mit der dialektischen Theologie? Ist es für das „positionell bestimmte[] Selbstbewußtsein[]“ charakteristisch, dass es sich „in Kritik und Negation anderer Positionen“40 generiert, so erblickt Wagner im Vorgehen der dialektischen Theologie eine Iteration dieser Verfahrensweise. Denn auch bei ihr identifiziert er die Struktur eines „bloß negativ-kritischen Umgangs mit dem anderen“41. Das andere ist hier allerdings nicht mehr eine weitere inhaltliche Bestimmtheit von Selbstbewusstsein, so wie z.B. „das fromme auf das denkend-handelnde […] Selbstbewusstsein negativ bezogen“42 ist, sondern das andere ist für die dialektische Theologie jede inhaltliche Bestimmtheit von Selbstbewusstsein, und damit die positionelle Theologie insgesamt. Denn für diese war ja kennzeichnend, dass sie stets von „einer 35
Vgl. Anm. 511. WAGNER, Nationalsozialismus [WiTh], 89. 37 WAGNER, Handlungsbegriff, 228. 38 WAGNER, Handlungsbegriff, 227. 39 WAGNER, Handlungsbegriff, 228. 40 WAGNER, Systemtheorie [CM], 177; vgl. DERS., Christologie [WiTh], 311. 41 WAGNER, Einleitung [RG], 365. 42 WAGNER, Systemtheorie [CM], 177. 36
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besonderen inhaltlichen Bestimmtheit des Selbstbewusstseins“ ausging. Demgegenüber ist das bestimmende Prinzip der dialektischen Theologie Selbstbestimmung überhaupt. „Insofern leitet die dialektische Theologie das Ende der positionellen Theologie ein.“43 Zugleich bleibt sie der Logik der positionellen Freiheit jedoch verpflichtet, weil die Konstruktion der absoluten Selbstbestimmung „unter Ausschluss der anderen“, d.h. unter dem Ausschluss der positionellen Theologie geschieht. Man kann das Problem folgendermaßen formulieren: Die dialektische Theologie verhält sich zur positionellen Theologie insgesamt, wie sich innerhalb der positionellen Theologie eine Position zur jeweils anderen verhält. In beiden Fällen ist die Beziehung eine bloß negativ-kritische, ausschließende, abgrenzende. Weil eine solche, bloß „negative[] Beziehung auf anderes“44 gleichsam die Definition positioneller Freiheit darstellt, müssen auch die Entwürfe der dialektischen Theologie als Ausdruck eines positionellen Freiheitsverständnisses begriffen werden. Mit Blick auf Barth erklärt Wagner diesen Sachverhalt so: Der „positionelle Charakter rührt daher, dass Barth die absolute Selbstbestimmung Gottes der kritisierten Theologie des positionell bestimmten Selbstbewusstseins unmittelbar entgegensetzt. Die Unmittelbarkeit dieser Entgegensetzung führt dazu, dass es Barth nicht gelingt, die Selbstbestimmung Gottes im Kritisierten selbst zur Darstellung zu bringen.“45 Die von der dialektischen Theologie intendierte „Aufhebung des positionell verfassten Selbstbewusstseins“46 meint daher nur ihre Negation, nicht auch ihre Bewahrung. Weil Aufhebung den Ausschluss, nicht aber die Integration der positionellen Theologie bedeutet, bleibt diese außen vor. Damit erreicht auch die dialektische Theologie nicht die Darstellung des absoluten Subjekts. Mit der „Entgegensetzung“47 von dialektischer und positioneller Theologie handelt es sich tatsächlich um die Darstellung eines Dualismus bzw. einer Entzweiung. Weil die dialektische Theologie sich selbst aber nicht als Moment eines Dualismus begreift, sondern sich vielmehr für die Theorie von Selbstbestimmung überhaupt hält,48 weil sie mithin ihrer eigenen Positionalität nicht gewahr wird, tritt auch hier jener Effekt auf, der für die radikale Theorie des 20. Jahrhunderts überhaupt typisch ist: „[i]nsofern nämlich die Selbstbestimmung Gottes ihres positionellen Charakters zum Trotz als unbedingt, allgemein und
43
WAGNER, Christologie [WiTh], 312; Hervorhebung MS. Vgl. WAGNER, Systemtheorie [CM], 177. 44 WAGNER, Systemtheorie [CM], 177. 45 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 120. 46 WAGNER, Einleitung [RG], 363. 47 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 120. 48 In diesem Sinn urteilt Wagner über Barth, dass dieser „über die Konstruktion einer abstrakten Selbstbestimmung nicht hinausgelangt ist“ (WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 120).
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souverän behauptet wird, nimmt sie die Züge von Gewaltherrsschaft [sic] an.“49 2. Dialektik der Aufklärung – Adornos Kritik der Moderne Zu der Art und Weise, wie Wagner die Moderne und ihre Theoriegestalten in meiner Rekonstruktion interpretiert, finden sich Parallelen in dem Werk eines anderen Denkers der entwickelten Moderne: Theodor W. Adorno.50 Der folgende Abschnitt will keine Einführung in Adornos Werk bieten; es sollen lediglich zwei Aspekte hervorgehoben werden, die eine besondere Nähe zu Wagners Überlegungen aufweisen. Ihre Vorstellung mag vielleicht dabei helfen, das von Wagner Gemeinte klarer zu fassen. Der erste Punkt betrifft Adornos Beobachtungen zur Stellung des Individuums in der modernen Gesellschaft, danach werde ich kurz auf den Zusammenhang von Mythos und Aufklärung eingehen. „Daß die Welt im Argen liege“, das ist für Kant „eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte“51. Bedauernd besungen wird der katastrophale Zustand der eigenen Gegenwart seit der „ältesten unter allen Dichtungen, der Priesterreligion“52, und Adornos Schriften fügen diesem Klagelied, das sich wie ein blutroter Faden durch die Weltgeschichte zieht, eine besonders drastische Strophe hinzu. Denn „Adorno nimmt die soziale Situation seiner Gegenwart als den Augenblick total gewordener Herrschaft wahr. In dem von der stalinistischen Sowjetunion über das faschistische Deutschland bis in die staatskapitalistische USA reichenden Ring politischer Machtsysteme entdeckt er die Einheit eines einzigen Herrschaftsgeschehens; das Umschlagen der sowjetrussischen Revolution in die diktatorische Staatsbürokratie Stalins, die terroristische Etablierung von faschistischen Machtapparaten in Mitteleuropa und das scheinbar unangefochtene Wachstum des amerikanischen Kapitalismus sind ihm bloß unterschiedliche Entwicklungsformen eines auf den Kulminationspunkt totaler Herrschaft zutreibenden Geschichtsprozesses.“53 Es sei hier nur am Rande darauf hingewiesen, dass Wagner an verschiedenen Stellen eine strukturelle Verwandtschaft der Theologie Karl Barths mit den drei im Zitat genannten Gestalten totaler Herrschaft andeutet. Adorno jedenfalls beschreibt die „Gegenwartsgesellschaft als totales System“54. Die Welt ist zu jenem stahlharten Gehäuse geworden, als das Max Weber sie vorausgesagt hatte; der Einzelne findet sich in einem Gefängnis wieder, in dem jede 49
WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 121. Zur Verortung Adornos in der modernen (soziologischen) Theoriegeschichte insgesamt vgl. ROSA, Theorien, 21–30, zum Begriff der entwickelten Moderne ebd., 27f. 51 KANT, Religion, 20. 52 Ebd. 53 HONNETH, Kritik, 47. 54 ROSA, Theorien, 127. 50
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Ausübung individueller Freiheit als Trug entlarvt werden muss.55 Es gelten die Regeln des Allgemeinen und das Individuum „wird nur insoweit geduldet, wie seine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht. Von der genormten Improvisation im Jazz bis zur originellen Filmpersönlichkeit, der die Locke ins Gesicht hängen muss, damit man sie als solche erkennt, herrscht Pseudoindividualität.“56 Begriffe wie Kulturindustrie und Staatskapitalismus zeigen das Verwachsen ehemals selbständiger gesellschaftlicher Sphären an; sie sind Ausdruck einer Monopolbildung, der Dominanz eines einzigen, absoluten Subjekts.57 Dessen totale Herrschaft bildet den Endpunkt eines Prozesses, den Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung als die Unterwerfung der Natur durch den Menschen beschreiben.58 Am Anfang steht die Furcht vor der übermächtigen Natur. Der Mensch bezwingt sie, indem er der Natur gewissermaßen die Seele austreibt.59 An der Natur ist für den Menschen fortan nur das von Interesse, was er zum Zweck seiner Selbsterhaltung bearbeiten kann; es ist dieser einseitige, rein funktionalistische Blick auf die Natur, unter dem sie zum seelenlosen Ding, zur toten Materie verkümmert. Die Dialektik der Aufklärung kann diesen Vorgang auch mit der Sprache der Erkenntnistheorie formulieren: Es ist das ordnende Denken des Subjekts, durch welches der Mensch die chaotische Wirklichkeit, die ihn ängstigt, zum Gegenstand bändigt; dieser „Vorgang der begrifflichen Strukturierung der Wirklichkeit“ erscheint „als die ursprüngliche Stufe der Verdinglichung“60. Die Welt, die der Mensch erkennt, ist so die Welt, die er selbst erschaffen hat. Indem der Mensch die Natur nach seinem Bilde formt und sie sich dadurch unterwirft, verliert er jedoch die Natur als Natur, als selbständiges Gegenüber;61 Naturbeherrschung und Entfremdung von der
55 Vgl. zur Linie Weber – Adorno – Foucault, bei denen die Gesellschaft als eine Art „überdimensionale[s] Gefängnis“ beschrieben wird, SCHROER, Individuum, 124ff., Zitat 125. Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bei Adorno vgl. auch den Abschnitt „2. Individualisierung in der verwalteten Welt. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno“ ebd., 42–81. Schroer weist allerdings darauf hin, dass Adorno und Horkheimer auch deshalb zu ihrer düsteren Gegenwartsprognose gelangen, weil sie ein bestimmtes Idealbild von Individualität als Maßstab voraussetzen, vgl. ebd., 58ff. Ganz ähnlich kann Wagner urteilen, vgl. WAGNER, Lage [Lage], 23. 56 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 139. Vgl. SCHROER, Individuum, 129. 57 Vgl. ROSA, Theorien, 123–127; zum Begriff der Kulturindustrie vgl. auch SCHROER, Individuum, 62ff.; zum Staatskapitalismus knapp AUER, Naturbefangenheit, 29, Anm. 19. 58 Vgl. zum Folgenden HONNETH, Kritik, 43–69, bes. 50–60. 59 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 7: „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.“ 60 HONNETH, Kritik, 52. 61 Vgl. ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 27: „Kein Sein ist in der Welt, das Wissenschaft nicht durchdringen könnte, aber was von Wissenschaft durchdrungen werden kann, ist nicht das Sein. Auf das Neue zielt nach Kant das philosophische Urteil ab, und doch
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Natur sind zwei Seiten desselben Geschehens. Dieser Vorgang schlägt nun aber auf die Menschengattung selbst zurück, und zwar insofern, als sie an der Natur partizipiert. Denn so wie der Mensch die Vielfalt der äußeren Natur auf das Prinzip der „Bearbeitbarkeit“62 reduziert, so wird auch die innere Vielfalt des menschlichen Subjekts zugunsten des einen herrschenden Subjekts geopfert. Der Preis, den der Mensch für die Naturbeherrschung zahlt, ist also der Ausschluss von Vielfalt und das heißt von Individualität überhaupt. Die Zurichtung der Natur zur beherrschbaren ist zugleich die Zurichtung des Subjekts zum herrschenden, was einmal die „Abwehr und Unterdrückung aller arbeitshemmenden Triebimpulse“63 impliziert und außerdem bedeutet, dass der Einzelne gezwungen ist, die ursprüngliche Offenheit seiner Wahrnehmung zu jenem einen zweckgerichteten Blick auf die Natur zusammenzuziehen.64 „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen erschaffen war […]“65. Was das Subjekt der Natur antut, das tut es auch sich selbst an: Verarmung ist die Kehrseite der Herrschaft.66 Diese Verarmung zeigt sich auf Seiten des Subjekts als der Ausschluss aller individueller Subjektivität. So wird der Eintritt in das gesellschaftliche Subjekt, so wird die Zugehörigkeit zur herrschenden Menschengattung für den Einzelnen zu genau jenem Gefängnisaufenthalt, für den Adorno das Leben in der Moderne hält. Adorno und Wagner stimmen also darin überein, dass es im 20. Jahrhundert eine Tendenz zur Ausbildung totaler Systeme gibt, womit die Gefährdung, letztlich die Ausschaltung individueller Freiheit einhergeht. Einig sind sie sich auch insofern, als sie einen Zusammenhang sehen zwischen dem „Erwachen des Subjekts“67, für das die Aufklärung steht, und seiner nun zu beobachtenden Auslöschung. Die Frage, „warum die Menschheit, anstatt in erkennt es nichts Neues, da es stets bloß wiederholt, was Vernunft schon immer in den Gegenstand gelegt.“ 62 HONNETH, Kritik, 53. 63 HONNETH, Kritik, 58. 64 HONNETH, Kritik, 56f. 65 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 33; vgl. HONNETH, Kritik, 59. 66 So folgt auf den in Anm. 561 (ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 27) zitierten Satz: „Diesem in den Sparten der Wissenschaft vor den Träumen eines Geistersehers gesicherten Denken aber wird die Rechnung präsentiert: die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden beide nichtig. Das abstrakte Selbst, der Rechtstitel aufs Protokollieren und Systematisieren hat nichts sich gegenüber als das abstrakte Material, das keine andere Eigenschaft besitzt als solchem Besitz Substrat zu sein. Die Gleichung von Geist und Welt geht am Ende auf, aber nur so, daß ihre beiden Seiten gegeneinander gekürzt werden.“ Die gleiche Argumentation findet sich dann auch in Adornos negativer Dialektik; siehe dazu in diesem Teil Kap. III. 67 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 12.
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einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“68, beantwortet die Dialektik der Aufklärung mit der These, dass es das Denken der Aufklärung selber sei, dem der „Keim zu jenem Rückschritt“ innewohne, „der heute überall sich ereignet.“69 Ist die Grundbewegung der Aufklärung die „Trennung von Subjekt und Objekt“70, und zwar in dem Sinn, dass der Einzelne sein Leben nicht länger durch Tradition, durch Schicksal und durch kollektive Mächte bestimmt sein lassen will,71 so wird diese Emanzipationsbewegung nach Adorno faktisch doch so vollzogen, dass an ihrem Ende der Einzelne vom Ganzen wieder verschlungen wird.72 Diese „Selbstzerstörung der Aufklärung“73 versucht Adorno verständlich zu machen. Sein Ausgangspunkt ist dabei der vermeintliche Gegensatz von Mythos und Aufklärung. Die entscheidende Annahme lautet dann aber, dass die Aufklärung in ihrer Wendung gegen das Bestehende, das durch die Mythenbildung den Anschein ewiger Wahrheiten erhalten hat,74 einem Prinzip folgt, das schon die Mythologie selbst beherrscht: es ist die „Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen“75, das sowohl in der Mythologie als auch in der Aufklärung zum Ausdruck kommt.76 Denn die Trennung von Subjekt und Objekt findet schon in den Mythen selbst statt. Ist die Welt anfangs von Göttern und Geistern bevölkert, so ist es der Mythos, der mit ihrer „Entzauberung“ beginnt. „Die olympischen Gottheiten sind nicht mehr unmittelbar mit Elementen identisch, sie bedeuten sie.“77 Die Scheidung der Götter von der Welt folgt jedoch der Logik der Herrschaft, am Ende „steht Zeus dem Taghimmel vor“ und „Apollon lenkt die Sonne“78. Folgt man dieser Lesart der Dialektik der Aufklärung, dann ist das treibende Motiv hinter dem Götterexodus die Naturbeherrschung. Es ist 68
ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 1. ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 3. 70 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 17. 71 Vgl. AUER, Naturbefangenheit, 26. In Wagners Rekonstruktion der Religionstheologie entspricht der Trennung von Subjekt und Objekt die Unterscheidung von fides quae und fides qua. 72 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 36: „Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwanghaft gelenkten Kollektivität.“ 73 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 3. 74 Vgl. ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 28. 75 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 12. 76 Behauptet wird also, dass es sich beim Mythos und beim modernen Denken um „zwei verschiedene Varianten desselben Zugriffs auf die Welt“ handelt (AUER, Naturbefangenheit, 28). 77 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 11. 78 Ebd. 69
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nun durchaus angemessen, den weiteren Fortgang der Geschichte, wie ihn Adorno beschreibt, mit dem Begriff der Radikalisierung zu charakterisieren. Die Entwicklung geht dahin, dass aus den vielen Geistern, die ihre je eigenen Herrschaftsbereiche haben, der eine Geist wird, der über alles herrscht. Die Pluralität der Götter wird dabei auf ihre noch fortdauernde Verflechtung mit der Natur zurückgeführt, sodass die Einheit des Geistes dadurch erreicht wird, dass er alle Naturbezüge abstreift. Die Aufklärung nun erblickt in jenem göttlichen Geist, der die Natur beherrscht, ein Produkt des Menschen.79 Indem der Mensch sich mit den Göttern identifiziert, wird der Glaube, dass ein anderer als der menschliche Geist in oder über der Natur herrscht, zum bloßen Aberglaube. Die Aufklärung stürzt also die Götter der Mythen, die Logik der Herrschaft selbst stellt sie nicht in Frage. Die Radikalisierung der Trennung von Subjekt und Objekt, die zuvor im Mythos zu beobachten war, vollzieht das aufklärende Denken nun an sich selber; es befreit sich von aller Naturbefangenheit. So entsteht jenes eine, absolute Subjekt, das – wie oben beschrieben – alle individuelle Subjektivität aus sich ausschließt.80 Was trägt nun der Blick auf Adorno zum Verständnis der wagnerschen Neuzeittheorie bei? Da ist zum einen Adornos These von der „Kreisähnlichkeit der Geschichte in ihrem Fortschritt“81. Kreisähnlich ist die Geschichte, weil der Mensch an ihrem Ende von den kollektiven Mächten, denen er zu entfliehen suchte, wieder eingeholt wird. Wie gesehen, kann Wagner eine solche Deutung der Geschichte durchaus affirmieren, mit dem Unterschied freilich, dass er mit seinem Plädoyer für die Realisierung des Christentums einen möglichen Ausweg aufzeigt. Wichtig ist nun, dass Adorno sich diese Kreisbewegung
79 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 10: „Die vielen mythischen Gestalten lassen sich der Aufklärung zufolge alle auf den gleichen Nenner bringen, sie reduzieren sich auf das Subjekt.“ Die These lautet also, dass es sich bei den „geistigen Formen“, mit denen der Mensch die Welt erfasst, um „rationalisierte[] Abwandlungen früherer Götter und Gottheiten“ handelt (BERNSTEIN, Dialektik, 99, Anm. 6). 80 Dass der Mythos für die Trennung von Gott und Welt steht und dass die Aufklärung für eine menschliche Fortschreibung dieses Prozesses steht, zeigt sich etwa in folgender Passage, die erst von den griechischen Mythen und dann von der Philosophie der Aufklärung redet: „Die Götter scheiden sich von den Stoffen als deren Inbegriffe. Sein zerfällt von nun an in den Logos, der sich mit dem Fortschritt der Philosophie zur Monade, zum bloßen Bezugspunkt zusammenzieht, und in die Masse aller Dinge und Kreaturen draußen.“ (ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 11). Dieses Zusammenziehen des Selbst zum bloßen Bezugspunkt wird an anderer Stelle als ein Herauslösen der Subjektivität aus der Natur beschrieben: „Das Selbst, das nach der mythologischen Ausmerzung aller natürlichen Spuren als mythologischer weder Körper noch Blut noch Seele und sogar natürliches Ich mehr sein sollte, bildete zum transzendentalen oder logischen Subjekt sublimiert den Bezugspunkt der Vernunft, der gesetzgebenden Instanz des Handelns.“ (Ebd., 30). 81 ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 35.
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mithilfe eines Prinzips erklärt, welches in der Neuzeit dominiert und dem folglich seine Kritik gilt. Es ist dies das Prinzip der Herrschaft. Dieses Prinzip, und das ist der nächste Punkt, ist für Adorno nun aber gar nicht spezifisch neuzeitlich. Es lässt sich vielmehr bereits in der Antike identifizieren. Sowohl im Mythos als auch in der Aufklärung wird das Verhältnis des Geistes zur Natur als ein Herrschaftsverhältnis interpretiert. Zwar löst mit der Aufklärung der menschliche Geist die Götter des Mythos ab, letztendlich bleibt aber alles beim Gleichen, weil der Mensch ebenfalls als Gebieter aufzutreten gedenkt.82 Da Wagner sich zumindest andeutungsweise die These von einer Selbstzerstörung der Aufklärung aneignet, kann gefragt werden, ob er auch in diesem Punkt Adorno folgt. Problematisiert also auch Wagner in seiner Darstellung der Theologiegeschichte ein Prinzip, das nun nicht erst seit der Aufklärung virulent ist, sondern dass schon in der vorneuzeitlichen Theologie nachweisbar ist? Tatsächlich lässt sich ein solches Prinzip nachweisen. Es ist die Logik eines bestimmten Freiheitsverständnisses, die sowohl in Wagners Darstellung der altprotestantischen Orthodoxie als auch in seiner Darstellung der Religionstheologie bestimmend ist. Dass sie auch in der Theologie des 20. Jahrhunderts durchschlägt, wird im Folgenden zu zeigen sein.
II. ‚Hoffnungslos drinnen‘ – Die Wort-Gottes-Theologie II. Die Wort-Gottes-Theologie
Das Kapitel beschränkt sich auf Wagners Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths. Zwar hat Wagner auch anderen Theologen aus der oben skizzierten Epoche Aufsätze gewidmet,83 als zentrale Figur, an der Recht und Unrecht des (vermeintlichen) theologischen Neuansatzes besonders deutlich hervortreten, gilt ihm aber dennoch Barth. Im Folgenden werden vier Texte vorgestellt, die verschiedene Phasen in Wagners Schaffen widerspiegeln. Dabei geht es vor allem darum, Kontinuitäten aufzuzeigen. Die Kritik an Barth hat exemplarischen Charakter: In Reinform tritt hier ein Verständnis von Gott zutage, dass die Theologiegeschichte insgesamt beherrscht. Es ist das Gottesbild, das die religiöse Vorstellung produziert; Wagners Einwände gegen Barth entsprechen daher der Kritik, die er an der Religion insgesamt äußert und die sein Werk wie ein roter Faden durchzieht. Den Anfang macht ein Text von 1969, der aus dem Nachlaß publiziert wurde (1). Es folgt der 82
Adorno urteilt daher: „Gegenüber der Einheit solcher Vernunft sinkt die Scheidung von Gott und Mensch zu jener Irrelevanz herab, auf welche unbeirrbar Vernunft seit der ältesten Homerkritik schon hinwies. Als Gebieter über die Natur gleichen sich der schaffende Gott und der ordnende Geist. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn im Kommando.“ (ADORNO, Dialektik der Aufklärung, 12). 83 Vgl. etwa zu Tillich: WAGNER, Positivität.
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berüchtigte Aufsatz zu Barths Christologie. An ihm lässt sich aufzeigen, dass die Probleme, die Wagner bei Barth identifiziert, sich gleichsam spiegelbildlich zu jenen verhalten, die er in Schleiermachers theologischem Ansatz ausmacht (2). Anhand der Religionsmonographie wird dann die für Wagners Barth-Kritik zentrale Kategorie des Pantheismus eingeführt. Sie ist auch deshalb von Relevanz, weil sie in Wagners Gegenwartsdiagnose eine wichtige Rolle spielt; auch dieser Umstand zeigt die exemplarische Bedeutung von Wagners Barth-Studien (3). Der letzte Abschnitt widmet sich Wagners Auseinandersetzung mit der sogenannten ‚Wendetheologie‘. Hier geht es auch darum, ob und inwiefern Verschiebungen in Wagners Einschätzung der WortGottes-Theologie zu beobachten sind (4). 1. Blinde Positionalität Schon in einem seiner frühesten Texte – „Die Bedeutung der Theologie für die inhaltliche Gestaltung des Religionsunterrichts“ – bemüht sich Wagner um eine eingehende Interpretation der dialektischen Theologie. Bereits hier überwiegt der kritische Ton. Auf eine knappe „Vorerwägung“ folgen zwei umfangreiche Kapitel zur „Theologie des Wortes Gottes“, im abschließenden dritten Kapitel stellt Wagner in Grundzügen sein eigenes Programm vor. Dabei zeigt sich schon hier das für Wagner typische Vorgehen, dass er nämlich die Notwendigkeit seiner eigenen theologischen Position durch den Aufweis der inneren Unstimmigkeit vorgefundener Theologien plausibel zu machen sucht. Der Vollzug einer „immanenten Kritik“84 der Positionen Barths und Bultmanns, wie sie im zweiten Kapitel geschieht, ist also bereits als Vorbereitung seines eigenen Standpunkts zu verstehen. Im ersten Kapitel zeigt Wagner, dass das Denken der dialektischen Theologie durch drei Abgrenzungen gekennzeichnet ist. Es stellt der natürlichen Theologie die Theologie der Offenbarung entgegen, es unterscheidet zwischen Religion und Glaube und es zieht eine scharfe Linie zwischen Philosophie und Theologie. Auffällig ist zunächst, dass Wagner an Barths Kritik der natürlichen Theologie Züge hervorhebt, die in seiner eigenen kritischen Darstellung der Religionstheologie wiederkehren. Barth wende Feuerbachs Religionskritik auf die natürliche Theologie an und erfasse so als deren „innerste[n] Kern“ die „Selbstauslegung des Menschen“85. Nun sei es aber nach Barth nicht der Mensch überhaupt, der sich in der Religion auslege, sondern der „‚bürgerliche Mensch‘“86. Wagners Kennzeichnung der Religionstheologie als bürgerliche Theologie hat also ihren direkten Vorläufer in Barths Urteil über die natürliche Theologie, sie sei „bourgeoise Theologie.“87 Weiter84
WAGNER, Bedeutung [RG], 68. WAGNER, Bedeutung [RG], 26. 86 BARTH, KD II/1, 157, zitiert in: WAGNER, Bedeutung [RG], 26. 87 BARTH, KD II/1, 158, zitiert in: WAGNER, Bedeutung [RG], 26. 85
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hin findet sich schon hier der erste Hinweis auf das Problem der Offenbarungstheologie, wie Barth sie entfaltet. Es ist ihre Positionalität, die sich in der ausschließlich negativen Bezugnahme auf die natürliche Theologie äußert. Denn „Barth benutzt die zur Polemik an der natürlichen Theologie des bürgerlichen Menschen umfunktionierte Religionskritik des philosophischen Atheismus allein dazu, die natürliche Theologie aus der Theologie des Wortes Gottes auszuscheiden.“88 Indem Barth auf den „Grundsatz wahrer Offenbarungstheologie“ rekurriert, dass Gott nur durch Gott erkannt werden könne, wird jedes menschliche Reden von Gott jenseits der Verkündigung zur „Selbstvergottung des Menschen“89. Diese Ausscheidung der menschlichen Rede von Gott aus der Theologie hat Wagner zufolge jedoch bedrohliche Folgen für den Gottesgedanken selbst, denn der „für ihn konstitutive Bezug zum Ganzen der Wirklichkeit“90 sei so nicht mehr gewährleistet. Dass ambivalente Verhältnis Wagners zur Theologie Barths zeigt sich auch bei dessen Unterscheidung von Glaube und Religion. Denn, und das ist zu beachten, Wagner stellt die Richtigkeit dieser Unterscheidung gar nicht in Frage. Was er Barth (und dann vor allem auch seinen Nachfolgern) vorwirft, ist wiederum die rein negative, die bloß polemische Bezugnahme auf die Religion, die dazu führt, dass die Berufung auf den Gegensatz von Glaube und Religion zur bloßen Behauptung wird. Nur wer sich mit der Religion beschäftigt, nur wer die Disziplinen, die sich ihr zuwenden, zur Kenntnis nimmt, kann überhaupt zeigen und begründen, dass und inwiefern sich der christliche Glaube von der Religion unterscheidet. „Gerade dann nämlich, wenn man an der Unterscheidung interessiert ist, wäre es notwendig, auf die Religionen einzugehen, weil nur von ihnen her ausgemacht werden kann, ob und inwieweit die christliche Theologie von sich zu Recht behaupten kann, daß sie die Überwindung der Religion sei.“91 Festzuhalten ist also, dass Wagner an dieser Unterscheidung interessiert ist und dass in diesem Interesse ein Motiv für seine intensive Beschäftigung mit der Religionsthematik zu vermuten ist.92 88
WAGNER, Bedeutung [RG], 27; Hervorhebung MS. WAGNER, Bedeutung [RG], 32. 90 WAGNER, Bedeutung [RG], 32. 91 WAGNER, Bedeutung [RG], 37. 92 Man wird daher m.E. Wagners Religionsbuch durchaus als Antwort auf die in diesem frühen Text geäußerten Anfragen lesen können, die Grundmotive des wagnerschen Denkens formulieren: „Müßte nicht die Theologie gerade dann, wenn sie ihr Vorgehen nicht als Religion, sondern als Aufhebung der Religion verstanden wissen will, sich der Religion und den Religionen mehr denn je annehmen? Die These nämlich, daß die christliche Theologie keine Religion sei, läßt sich offensichtlich doch nur dann explizieren, wenn die Theologie inhaltlich zeigen kann, ob und inwiefern sich ihre Ausführungen von Religion unterscheiden. Gerade die Einsicht, daß die christliche Theologie die Aufhebung der Religion sei, setzt das Wissen sowohl um einen inhaltlich gefüllten Begriff der Religion als auch um die konkreten Erscheinungsweisen der Religionen voraus“ (WAGNER, Bedeutung [RG], 37). 89
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Beim dritten Begriffspaar hingegen, dem Gegenüber von Theologie und Philosophie, ist Wagners Kritik nicht länger ambivalent. Schon die zentralen Dogmen der alten Kirche lassen sich auf eine Auseinandersetzung mit dem damals geltenden Wahrheitsbewusstsein zurückführen; die Umformung der überlieferten Gehalte vor dem Horizont des jeweils geltenden Weltbildes ist dem Christentum demnach seit seinen Anfängen eingeschrieben. Da Barth sich diesem Vergegenwärtigungsgeschehen verweigert, muss seine Theologie dem neuzeitlichen Wahrheitsbewusstsein, das nur solche Gehalte anerkennt, die es selbst mit konstituiert hat, als autoritär erscheinen. Im folgenden Kapitel überprüft Wagner, ob Barth seinem eigenen Anspruch gerecht wird. Nach Wagner besteht dieser Anspruch darin, die Unabhängigkeit Gottes festzuhalten. Ausgangspunkt ist die Behauptung, dass die (menschliche) Verkündigung und das Wort Gottes nicht einfach in eins fallen dürfen. Vielmehr sei das „Wort Gottes als Voraussetzung der Verkündigung“93 zu explizieren. Durch die Explikation ihrer Voraussetzung will Barth begründen, dass es sich bei der kirchlichen Verkündigung um Rede von Gott handelt. Dieses Ansinnen teilt Wagner.94 Damit ist die Grenze der Einigkeit aber auch schon erreicht. Denn auch wenn Wagner es mit Barth für nötig hält, das Wort Gottes als Voraussetzung der Verkündigung eigens zu explizieren, wirft er Barth nun vor, diesen Begründungsvorgang nicht als sein eigenes Tun durchsichtig zu machen. Barth überspiele den Umstand, dass es seine Theologie ist, die das Wort Gottes als Voraussetzung expliziert, oder, wie Wagner es auch ausdrückt: setzt.95 Für Wagner besteht das Problem nun nicht darin, dass das Wort Gottes „von Gnaden der Barthschen Reflexion und Explikation“96 ist. Denn diese Beobachtung lässt sich für die Bestimmung des Gottesgedankens selbst fruchtbar machen, und zwar dann, wenn man sie allgemein formuliert: „Gott bedarf, um Gott zu sein, der Menschen, die von Gott als Gott sprechen.“97 Barth aber verweigere sich der Einsicht, dass das menschliche Denken konstitutiv für den Gottesgedanken sei, er „will sogar“, so kann Wagner scharf formulieren, „bewußt nicht auf den Zusammenhang reflektieren, daß Gott und Gottes Wort zunächst auch menschliche Setzungen, also von Gnaden menschlicher Reflexion sind.“98 Die Verweigerungs93
WAGNER, Bedeutung [RG], 50. WAGNER, Bedeutung [RG], 49f.: „Daß Barth es für nötig hält, die kirchliche Verkündigung durch die Voraussetzung des Wortes Gottes zu begründen ist vollauf zu akzeptieren. […] Indem Barth die Verkündigung als menschliches Tun in der Voraussetzung des Wortes Gottes zu verankern sucht[,] gibt er zu erkennen, daß die Rede von der Verkündigung allein nicht ausreicht, um das Unternehmen von Theologie und Kirche zu rechtfertigen.“ 95 WAGNER, Bedeutung [RG], 54. 96 WAGNER, Bedeutung [RG], 54. 97 WAGNER, Bedeutung [RG], 55. 98 WAGNER, Bedeutung [RG], 55. 94
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haltung gegenüber einer möglichen Konstitutionsleistung menschlichen Denkens äußere sich besonders in dem Umstand, dass Barth jedes theologische Bemühen, die neuzeitliche Subjektivitätsphilosophie zur Basis der eigenen Theoriebildung zu machen, als nicht theologisch abwertet. Gemäß dem oben schon genannten Grundsatz, dass Gott nur durch Gott erkannt werden kann, entfalte Barth anstelle der ausgeschlossenen menschlichen eine göttliche Erkenntnistheorie, um die menschliche Bezugnahme auf Gott, wie sie faktisch geschieht, erklären zu können. Gottes „Aseität“99 wird dann nicht gefährdet, wenn Gott dem Menschen die Fähigkeit, ihn erkennen zu können, schenkt. So bleibt die Bedingung gewahrt, dass „das Wort Gottes nur von göttlicher Setzung her, also a se“100 ist. Dieses Modell hängt jedoch nach Wagner von einer Voraussetzung ab, die bei Barth verdeckt wird. Es ist die Fähigkeit des Menschen das Geschenk empfangen zu können. Diese, wenn man so will, Offenheit des Menschen für die göttliche Zuwendung leitet Barth nun nicht wiederum aus dem Wort Gottes ab, sondern sie ist der Baustein zu einer Theorie des sich selbst gebenden Gotteswortes, die Barth selbst hinzufügt; genauer: Barths Schriften und die in ihnen entfaltete Theorie des Wortes Gottes sind selbst der Ausdruck dieser vorausgesetzten Fähigkeit des „Empfangen-Könnens“. Das hat zur Folge, „daß das Wort Gottes vom Empfangen-Können des Menschen abhängig ist.“101 Weil Barth nun aber alle anderen Zugangsweisen zum Wort Gottes ausgeschlossen hat, kann es nur dem menschlichen Empfangen-Können erscheinen, sodass es, wenn es erscheint, immer als durch diese von Barth stillschweigend vorausgesetzte Fähigkeit bedingt erscheint. Ging es Barth darum, die Unabhängigkeit Gottes zu wahren, so meint Wagner durch seine Interpretation der entsprechenden Texte das Gegenteil aufzeigen zu können: Tatsächlich sei das Wort Gottes (und damit auch Gott) bei Barth eine durch anderes bestimmte und also eine endliche Größe. Barths scheinbar objektive Rede von Gott entpuppt sich in Wagners Interpretation als, wie ich es nennen möchte, blinde Positionalität. Blinde Positionalität besteht dann, wenn der eigene Standpunkt übersehen oder bewusst unterschlagen wird.102 Die Theologie der altprotestantischen Orthodoxie hat Wagner als einen Fall von blinder Positionalität beschrieben, und während die Religionstheologie die Dependenz religiöser Gehalte vom menschlichen Geist zu ihrem Thema macht, will die dialektische Theologie die Unabhängigkeit Gottes sicherstellen – ohne dabei offenzulegen, dass Gott seine neu erlangte Unabhängigkeit den Theorien der dialektischen Theologie 99
WAGNER, Bedeutung [RG], 56. WAGNER, Bedeutung [RG], 56. 101 WAGNER, Bedeutung [RG], 57. 102 Wagner spricht auch (im Anschluss an D. Sölle) von „unreflektierter Subjektivität“. Indem der subjektive Standpunkt, von dem aus Theologie betrieben wird, nicht thematisiert und damit auch nicht gerechtfertigt wird, muss eine solche Theologie als subjektivbeliebig erscheinen (WAGNER, Bedeutung [RG], 60). 100
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verdankt: „Nur für den setzenden Menschen, nur relativ zu dessen Reflexion und Explikation kann somit von der Aseität des Wortes Gottes gesprochen werden.“103 Weil Barth diese Einsicht nicht positiv verarbeitet, bleibt er nach Wagner einem vorchristlichen, genauer: dem „alttestamentlich-jüdisch-spinozistischen Gottesgedanken“104 verhaftet. Denn das Wissen, dass der Mensch konstitutiv für den Gottesgedanken sei, findet seinen Ausdruck nun gerade im christlichen Zentraldogma: der Menschwerdung Gottes. „Ist aber Gott Mensch geworden so ist die menschliche Form der Darstellung theologischer Inhalte eine der theologischen Sache absolut angemessene Form und nicht nur ein dieser inadäquates Mittel.“105 Vorchristlich wird das Verhältnis von Gott und Mensch nach dem Modell einer „abstrakt-absoluten Trennung“106 gedacht. Es ist ein Denken, „das Gott und Mensch, Substanz und Akzidenz, Unendliches und Endliches um der vom Relativen separierten Absolutheit willen strikt auseinanderhält.“107 Auch Barth denkt Gott als ein solches vom Menschen strikt getrenntes Absolutes, was man daran sieht, dass er das menschliche Denken als eine mögliche Weise der Gotteserkenntnis ausschließt. Gott soll nur durch Gott erkannt werden können. Weil Wagner jedoch zeigt, dass das menschliche Erkennen sehr wohl konstitutiv für den Gottesgedanken ist, wird Gott bei Barth de facto durch ein Erkennen bestimmt, dass diesem – der eigenen Theorieanlage nach – äußerlich ist. Gott wird also durch etwas bestimmt, das nicht er selbst ist und in diesem Sinne verendlicht. Indem Barth einerseits sagt, dass alles menschliche Erkennen Gott nicht erfassen kann, andererseits jedoch auch beim ihm das menschliche Erkennen konstitutiv für Gott ist, ist der Gott, den Barth erfasst, „das Nichts des menschlichen Begreifens“ und insofern – wenngleich negativ – weiterhin durch das menschliche Erkennen bestimmt. Deutlich wird an dieser frühen Auseinandersetzung Wagners mit Barth, dass Wagners Kritik sich gegen eine abstrakte Trennung von Gott und Mensch, Unendlichem und Endlichem richtet. Diese Kritik ist christologisch motiviert und ihr korrespondiert die neuzeitliche Erkenntnis, „daß die menschliche Subjektivität qua Denken und Erkennen für die Darstellung theologischer Gegenstände – allen voran Gott – ein schlechterdings konstitu-
103
WAGNER, Bedeutung [RG], 57. WAGNER, Bedeutung [RG], 63. 105 WAGNER, Bedeutung [RG], 63. 106 WAGNER, Bedeutung [RG], 65. Aus der Annahme einer solchen absoluten Trennung von Gott und Mensch resultiert auch die Idee, dass der Mensch sich verlassen müsse, um bei Gott zu sein. Die Forderung nach einer solchen (einseitigen) Erhebung des Menschen zu Gott hat Wagner zeit seines Lebens kritisiert. Vgl. die entsprechenden Abschnitte zur Struktur des religiösen Bewusstseins (Teil 1, Kap. I.2. und Teil 3, Kap. I.2b.). 107 WAGNER, Bedeutung [RG], 65. 104
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tives Moment ausmacht.“108 Die abstrakte Trennung von Gott und Mensch identifiziert Wagner sowohl in der vorchristlichen Religion (das alttestamentliche Gottesbild) als auch in der vorkantischen Metaphysik (Spinoza) und in beiden Fällen beschreibt sie das Verhältnis von Gott und Mensch als ein Gefälle (Schöpfer und Geschöpf bzw. Substanz und Akzidenz); indem die Christologie die abstrakte Trennung überwindet, ist sie in einem Religionsund Metaphysikkritik. Dass Wagner seine Kritik an der Theologie Karl Barths in den Rahmen seiner grundsätzlichen Religionskritik einordnet, wird auch daran ersichtlich, dass die beschriebenen Aporien dieser Theologie in Wagners Darstellung der Struktur des religiösen Bewusstseins wieder auftauchen.109 Und auch in den Metamorphosen und anderen späten Texten, in denen Wagner durchaus eine würdigende Sicht auf die Religion entwickeln kann, ist seine Religionskritik in Form einer scharfen Auseinandersetzung mit Barth und anderen Repräsentanten der sog. Wendetheologie weiter präsent.110 2. Der beschränkte Gott a) Barth als Absolutheitstheoretiker Ausführlich hat sich Wagner in einem Aufsatz mit Barths Christologie beschäftigt. Dieser Text hat besondere Bedeutung, weil Wagner hier seine These untermauert, dass man die Theologie Karl Barths im Kontext jener Radikalisierungstendenzen zu interpretieren habe, die für das 20. Jahrhundert insgesamt bestimmend seien. Er tut das, indem er versucht, das eine Konstruktionsprinzip der Barthschen Theologie herauszuarbeiten. Wer sie richtig liest, so lautet seine Behauptung, der liest sie als eine „Theorie der unbedingten Subjektivität Gottes“111, als „die Selbstexplikation des allgemeinen und absoluten Subjekts“112. Entscheidend ist hier der Begriff der Selbstexplikation. Denn das allgemeine Subjekt bzw. Gott wird auch in den Religionstheologien thematisch, nur eben nicht als deren Konstruktionsprinzip. Für die Religionstheologien gilt vielmehr, dass sie zwischen Gott und ihrem Konstruktionsprinzip unterscheiden.113 Das allgemeine Subjekt wird so als Gehalt eines besonderen Subjekts expliziert; Gott ist für die Religionstheologie ein Genitiv-Gott: Der Gott des religiösen Bewusstseins, der Gott des Glaubens. Zwar soll das religiöse Bewusstsein Gott als seinen Grund namhaft machen, sodass sich die Konstruktion der religiösen Gehalte nicht nach einer ihnen externen Richtschnur vollzieht. Dieser Selbstaussage des religiösen Bewusstseins 108
WAGNER, Bedeutung [RG], 95. Zu dieser Korrespondenz vgl. v.a. 97f. Vgl. Teil 1, Kap. I.2.; Teil 3, Kap. I.2b. 110 Siehe dazu auch unten den vierten Abschnitt in diesem Kapitel. 111 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 122. 112 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 96. Vgl. auch ebd., 95: „Selbstdarstellung des absoluten Subjekts“; ebd., 98: „Selbstdefinition des Wortes Gottes.“ 113 Vgl. Teil 1, Kap. I.1. und I.3. 109
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widerspricht Wagner jedoch, wenn er sagt, dass die „Definition“ des Glaubens „auf eine Position außerhalb seiner selbst bezogen“ bleibe.114 Denn nach Wagners Auffassung gewinnt der Glaube seine inhaltliche Bestimmtheit nicht von den religiösen Gehalten her, auf die er sich bezieht; entgegen seiner Intention verdankt er seine Definition nicht seinem Grund – Gott –, sondern er definiert sich über die Abgrenzung von anderen Bewusstseinstätigkeiten wie dem Wissen oder dem Wollen. Tatsächlich stammt der Glaube also nicht aus Gott, sondern – wenn auch vermittels der Negation – aus dem Menschen. Wird Gott nun nach Maßgabe des Glaubens konstruiert, so ist der intendierte Gott des Glaubens de facto der Gott des negierten Wissens bzw. des negierten Wollens.115 Die Rede von der Selbstexplikation des allgemeinen Subjekts ist nun als eine Reaktion auf dieses Problem zu begreifen. Barth – so wie Wagner ihn verstehen will – denkt die religiösen Gehalte nicht als Gehalte für ein von ihnen unterschiedenes Bewusstsein, sondern er denkt sie an sich selbst. Zwischen dem religiösen Gehalt und dem Konstruktionsprinzip soll nicht länger unterschieden werden; Barth zieht, so formuliert es Wagner, „die Differenz zwischen Prinzip und Prinzipiatum ein.“116 Nicht das religiöse Bewusstsein, sondern der religiöse Gehalt selbst ist das Konstruktionsprinzip dieser Theologie. Indem Barth die Differenz zwischen Prinzip und Prinzipiatum einzieht, will er erreichen, dass nicht er, sondern Gott der Konstrukteur seiner Theologie ist. Nach Wagners Lesart versucht Barth demnach ein Problem zu bewältigen, in das die Religionstheologie bei ihrem Versuch, Gott zu explizieren, gerät. Der Lösungsvorschlag lautet, dass die Darstellung Gottes nur als dessen Selbstdarstellung gelingen kann. Wagner zeigt damit auf, dass auch die Barthsche Theologie ein Konstruktionsprinzip hat, nur eben keines, dass von außen an sie herangetragen wird, sondern das einzige, das ihrem Gegenstand entspricht: Die Konstruktion Gottes kann nur dessen Selbstkonstruktion sein. Seine These ist sodann, „daß die kirchliche Dogmatik insgesamt die konsequente Ausarbeitung dieser unbedingten Selbstbestimmung repräsentiert.“117 Indem Wagner Barths Theologie als Reaktion auf die Aporie der Religionstheologie liest, betont er zunächst einmal das Recht dieses Ansatzes. Vor
114 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 98. Das Zitat bezieht sich eigentlich auf das Wort Gottes in Barths Kirchlicher Dogmatik, dessen „Definition nicht auf eine Position außerhalb seiner selbst“ (ebd.; Hervorhebung MS) bezogen sein soll. Indirekt ist damit aber zugleich zum Ausdruck gebracht, was das Problem des religiösen Bewusstseins ist. 115 Siehe dazu auch oben S. 48ff. die Ausführungen zum unmittelbaren Wissen. 116 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 97. Die dieser Formel folgende Begründung bringt zugleich das Problem der Religionstheologie zum Ausdruck: „Denn wäre die Explikation des Wortes Gottes an ein Prinzip gebunden, so wäre das Wort Gottes als Prinzipiatum von etwas abhängig, das es nicht selbst hervorgebracht hat“ (ebd.). 117 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 99.
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jeder Kritik ist festzuhalten, dass Barths Theologie einen „Fortschritt“ 118 bedeutet, und zwar einen Fortschritt, der sich mit Notwendigkeit vollzieht. Dieser Fortschritt besteht in der Radikalisierung des Ausgangspunktes. Auch die Religionstheologie geht von der Selbstbestimmung des Subjekts aus, sie denkt sie jedoch „im Medium inhaltlicher Besonderungen“119. Damit ist gemeint, dass die Religionstheologie die Selbstbestimmung eines inhaltlich bestimmten, etwa des frommen Subjekts meint. Dessen Selbstbestimmung geschieht durch Ausschluss anderer inhaltlicher Bestimmungen – etwa: Das fromme ist nicht das moralische Subjekt. Barth nun „erfaßt den Begriff des selbstbestimmenden Subjekts so an sich selbst, daß Selbstbestimmung sich selbst zum Inhalt hat.“120 Barth denkt nicht länger ein Subjekt, das seine inhaltliche Bestimmtheit durch Ausschluss anderer Subjekte erhält, sondern ein Subjekt, für dessen Definition auf keine von ihm unterschiedene Größe zu verweisen ist, das sich also im strikten Sinn selbst definiert, selbst bestimmt, m.a.W.: Barth denkt das absolute Subjekt. b) Das Andere – Barths Christologie Im Zentrum der Theologie steht ein Rätsel. Es steht da, wenn sich die Theologie einem monotheistischen Gottesbild verpflichtet weiß, wenn sie also davon ausgeht, dass es nur einen Gott gibt, der an keinem anderen Wesen, an keinem Gegenprinzip seine Grenze hat. Rätselhaft wird der Monotheismus dann, wenn Gottes Einssein nicht seine Einsamkeit bedeuten soll. Man kann es vielleicht so formulieren: Das Andere ist das Rätsel einer jeden monotheistischen Theologie. Darauf weist auch Wagner am Anfang seiner Auseinandersetzung mit Barths Christologie hin. Für ihn besteht „[d]as Hauptproblem nicht nur der Barthschen, sondern der Theologie überhaupt […] darin, wie die Unterscheidung von Gott und Mensch, von Schöpfer und Geschöpf, von Gott für sich und Gott für anderes so gedacht werden kann, daß Gott angesichts dieser Unterscheidung seiner Gottheit und Absolutheit nicht verlustig geht.“121 Da Wagner Barths Theologie nun gerade so liest, dass es in ihr um die Selbstexplikation des absoluten Subjekts geht, stellt er an sie die entscheidende Frage: Wie hält sie es mit dem Anderen? Dass er auf der Suche nach der Antwort den Fokus auf die Christologie legt, begründet Wagner damit, dass in ihr der „Unterschied, das andere, in ausgezeichneter Weise“ expliziert werde.122 Denn in der Christologie schlägt sich der Unterschied gleich in doppelter Weise nieder: Zum einen setzt sie den Unterschied zwischen Gott und etwas, das nicht Gott ist, voraus; sie verlangt „das andere als 118
HOLTMANN, Barth, 188. WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 97. 120 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 97. 121 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 100. 122 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 101. 119
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solches“123. Zum anderen geht die Christologie davon aus, dass Gott sich zu dem anderen in Beziehung setzt, dass er nicht bei sich bleibt, sondern für das andere da ist; dies wiederum impliziert eine Unterscheidung in Gott: „er muß als Gott für sich und als Gott für anderes gedacht werden können.“124 Wagners Barth-Kritik lässt sich nun so zusammenfassen: Barth schafft es nicht, den ersten Unterschied in seine Theologie zu integrieren. Der erste und der zweite Unterscheid stehen zusammenhangslos nebeneinander; Barth denkt nicht wirklich die Menschwerdung Gottes. Das Andere als solches hat in Barths Theologie keinen Ort, sondern wird „nur im Modus seiner Zurücknahme“125 eingeführt. Dem Anderen kommt keine Selbständigkeit zu, sondern es ist immer schon das Andere Gottes. „Das andere ist so nur eine Weise göttlicher Selbstunterscheidung“126. Die Christologie beschreibt dann nicht das Verhältnis zweier unterschiedlicher Größen, sondern ein Selbstverhältnis. Wagner weist zunächst darauf hin, dass Barth den christlichen Gott so beschreibt, dass dieser nicht nur für sich, sondern für anderes sein will. Dieses Sein-für-anderes impliziert Gottes Anderswerden, seine Menschwerdung also. Denn vorausgesetzt wird, „daß Gott, wenn er sich für anderes darstellt, sich selbst als anderes explizieren muss.“127 Barth will also mit der Menschwerdung durchaus Gottes „Negation“128, seine „Grenzüberschreitung zum Menschen hin“ denken. Diese Selbstnegation Gottes, deren Ziel in der Versöhnung von Gott und Mensch besteht, wird bei Barth nun aber so konzipiert, dass Gottes Gottheit dabei in keinem Augenblick gefährdet ist. „Gott geht in 123
WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 101. WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 101. Die Interpretation des Wagner-Textes gestaltet sich hier als schwierig. Denn Wagner sagt einmal, man müsse die immanente Selbstunterscheidung, wie sie die (immanente) Trinitätslehre entfalte, von der „Unterscheidung Gott-Mensch, Schöpfer-Geschöpf, Für-sich-Sein – Für anderes-Sein“ unterscheiden. Wenig später setzt er aber Gottes Selbstunterscheidung mit der Unterscheidung von „Gott für sich“ und „Gott für anderes“ gleich. Ich verstehe das so, dass bei einer bloßen Selbstunterscheidung Gottes noch nicht von einem Für-anderes-Sein geredet werden kann. „[D]as von Gott unterschiedene andere (Geschöpf, Welt, Mensch etc.) [kann] nicht unmittelbar aus der immanenten Selbstdifferenzierung Gottes abgeleitet werden“ (ebd., 100). Das von Gott unterschiedene andere muss vielmehr vorausgesetzt werden, und erst daraufhin kann Gottes Selbstunterscheidung als ein Sein-für-anderes aufgefasst werden. Dieses Sein-füranderes ist dann so zu verstehen, dass Gott sich selbst als anderes (als Mensch) zur Darstellung bringt. Vgl. in diesem Sinn ebd., 105f.; hier kommt Wagner noch einmal auf die beiden Bedingungen der Christologie zu sprechen: „Dazu [zur Menschwerdung Gottes] muß nicht nur vorausgesetzt werden, daß das andere, für das Gott ist, existiert, sondern auch dies, daß Gott sich selbst in Jesus Christus als anderes expliziert.“ Diese beiden Bedingungen tauchen in Wagners eigenen christologischen Ausführungen als die beiden von ihm so genannten ‚Grundprobleme der Christologie‘ wieder auf. 125 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 101. 126 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 101. 127 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 105. 128 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 106; vgl. auch ebd., 109. 124
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das Anderssein ein, bleibt dabei aber zugleich Gott, denn das einzige, „was Gott nicht kann: er kann nicht aufhören, Gott zu sein, er kann sich nicht in ein anderes verwandeln.“129 Es soll also beides zugleich gelten: Gott wird ein anderer, er wird Mensch und Gott bleibt Gott. Barth löst diese Aufgabe so, dass Gott zwar Mensch wird, aber ein anderer Mensch als alle anderen Menschen. Weil Barth sich von dem Grundsatz leiten lässt, dass Gott sich selbst gleichbleiben soll, vollzieht sich die Menschwerdung Gottes nicht auf Kosten Gottes, sondern auf Kosten des Menschen. Gott wird nicht das Andere als solches, sondern „das andere des anderen“130. Wagner illustriert „[d]iese Ungleichheit in der Gleichheit“ am Beispiel der Jungfrauengeburt: „Mit der Jungfrauengeburt wird das Anderssein des starken anderen aus dem Anderswerden Gottes ausgeschlossen.“131 Mit dem Ausdruck ‚starkes Anderes‘ bezeichnet Wagner das für Gott ganz andere, also den Menschen als solchen; davon zu unterscheiden ist der Sohn Gottes als das innertrinitarische ‚schwache andere‘. Barths Problem besteht für Wagner darin, dass er diese „Differenz im Begriff des anderen verwischt.“132 Jedoch kann nur da, wo die Differenz nicht verwischt wird, tatsächlich von einer Inkarnation des Logos die Rede sein. Bei Barth hingegen bedeutet die Menschwerdung des Gottessohnes keinen Schritt über das bereits gegebene innertrinitarische Verhältnis hinaus. Vielmehr wird dies lediglich „unter der Bedingung des Andersseins“133 wiederholt. Die Christologie erscheint so „als Kopie der Theologie.“134 Zur Begründung dieser These verweist Wagner auf Barths Rede vom Gehorsam Jesu Christi. Sein Gehorsam gegenüber Gott markiert den Unterschied zwischen Jesus Christus und allen anderen Menschen. Man kann es auch so formulieren: Jesus Christus ist zwar Mensch, jedoch „ohne Sünde.“135 Nun kennzeichnet Gehorsam bereits das innertrinitarische Verhältnis von Vater und Sohn: „Gott ist in sich selbst sowohl gebietender Vater als auch gehorsamer Sohn.“136 Indem der Sohn Gottes als Mensch dem Vater gehorsam ist, bringt er mithin das innertrinitarische Verhältnis im Medium des Menschseins zur Darstellung – ohne freilich selbst Mensch zu werden. Barth kann seinem Grundsatz, dass Gott sich selbst gleichbleibt, im Prozess der Menschwerdung Gottes also nur durchhalten, weil er den Menschen Jesus Christus so entwirft, dass er den Menschen als solchen von sich ausschließt. 129 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 108; vgl. auch ebd., 104: „Der Grundsatz der Barthschen christologischen Konstruktion heißt daher: ‚Gott hört, indem er Fleisch, d.h. anderes als solches wird, nicht auf, Gott zu sein.‘“ 130 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 106. 131 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 104. 132 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 103. 133 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 111. 134 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 100. 135 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 104. 136 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 111.
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Das Andere als solches wird im Vollzug der Inkarnation „gar nicht erreicht.“137 Indem Gott in die Welt kommt, findet so eine Verwandlung der Welt statt, die ihr jede Selbständigkeit raubt und sie mit Gott gleichschaltet. Der Mensch wird gewissermaßen neu definiert: Er ist jetzt nichts weiter als die neue Hülle138 des gehorsamen Gottessohnes, die ermöglicht, dass Gott auch ‚im anderen‘ als sich entsprechend erscheinen kann. „Was sich dieser Gleichschaltung nicht fügt, wird ausgeschaltet. Denn nur das andere Gottes, das seiner Andersheit beraubt ist, ist fähig, zu Gottes Selbstbestimmung in ein Entsprechungsverhältnis gebracht zu werden.“139 Insofern Gott sich in einem Anderen expliziert, das als sein „Gegenbild“140 seine Definition ganz von Gott her erhält, bleibt er im intendierten Vorgang der Selbstexplikation im Anderen tatsächlich bei sich. Entsprechend wird Gottes Gericht über den Menschen als sein „Selbstgericht“, und der Tod des Menschen als Gottes „Selbstopfer“ interpretiert. War das Ziel der Inkarnation eigentlich die Versöhnung von Gott und Mensch, so kann Wagner nun zeigen, dass die Versöhnung bei Barth letztlich ohne den Menschen und also gar nicht stattfindet.141 Die Tatsache, dass Gott nicht zum starken anderen wird, sondern als ein Mensch erscheint, der in seinem absoluten Gehorsam Gottes absoluter Herrschaft entspricht, stellt nun allerdings gerade Gottes Status als absolutes Subjekt in Frage und damit Barths Projekt insgesamt. Denn Barths Ziel war es ja – folgt man denn der Deutung Wagners – unbedingte Selbstbestimmung zum Konstruktionsprinzip seiner Theologie zu erheben. Dafür unternimmt er es, die theologischen Gehalte an sich selbst zu denken; die Selbstexplikation aller christlichen Gehalte soll dabei so geschehen, dass in ihnen die unbedingte Selbstbestimmung Gottes zum Ausdruck kommt. Die Christologie stellt hierbei eine besondere Herausforderung dar, weil es in ihr explizit um die „Selbstdarstellung Gottes im anderen“142 geht. Nun gelingt es Barth aber gerade nicht, Gott als anderen zur Darstellung zu bringen, sondern Jesus Christus ist, wie gesehen, der andere des anderen. Barth kann die Mensch137
WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 105; vgl. ebd., 104: „Die Inkarnation bezieht nicht das andere in sich ein, für das Gott offenbar sein soll.“ 138 Vgl. WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 103f. Wagner kann daher urteilen, dass „die Christologie Karl Barths der gegenteiligen Versicherung zum Trotz einen doketischen Zug“ aufweist (ebd., 121). Vgl. auch ebd., 111. Das starke andere dient so lediglich dem Vorgang göttlicher Selbstdarstellung; es „fungiert […] nur als Medium der Selbstoffenbarung Gottes“ (ebd., 105). 139 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 112. Gottes Menschwerdung meint so eine Zurichtung des Menschen im Sinne des innertrinitarischen Verhältnisses. Dass Gott den Menschen nach seinem Bilde zurichtet, bedeutet zugleich seine Entfremdung vom Menschen als solchem. So beschrieben, erinnert der Vorgang an den Prozess der Naturbeherrschung, wie er im Zentrum der Dialektik der Aufklärung steht. 140 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 111. 141 Vgl. WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 112f. 142 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 105.
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werdung Gottes also nur so beschreiben, dass er dabei vom Anderssein des Anderen abstrahiert. „Wie kann Gott für anderes sein, wenn dieses starke andere außerhalb des schwachen Andersseins Gottes bleibt“143, fragt Wagner. Die Formulierung zeigt, dass der Gottesgedanke, wie Barth ihn fasst, am ausgeschlossenen starken Anderen seine Grenze hat. Ein solcherart beschränkter Gott ist nicht das absolute Subjekt. Auch wenn das Andere in Barths Theologie de facto außen vor bleibt, kann er dennoch von einem Gott für andere reden. Das liegt daran, dass seine Rede das Anderssein des Anderen negiert. Diese Negation stellt damit aber eine Bedingung für Barths Theorie des absoluten Subjekts dar. Die Christologie erscheint nur dann als Ausdruck unbedingter Selbstbestimmung, wenn das starke Andere negiert wird. Jesus Christus ist das Andere des Anderen, auch als negiertes bleibt das Andere eine Voraussetzung für Barths System. Theologisch formuliert: Die Menschwerdung Gottes ist bedingt durch die Sünde des Menschen, als deren Negation sie interpretiert wird. Damit erscheint der Sohn Gottes „als Konterrevolutionär gegen die Revolution der Sünde […] Wie eine Restauration negativ bezogen ist auf den Zustand, der im Zuge ihrer Verwirklichung beseitigt werden soll, so ist die Abstraktion von anderem konstitutiv für Explikation Gottes im Anderssein.“144 Der Barthsche Gott erreicht die Sünde nicht, er hat an ihr seine Grenze. Wie bereits gesehen, ist das hinsichtlich der Versöhnung ruinös: „sie ist nicht eine Versöhnung für und mit den Menschen, sondern ohne sie.“145 Ruinös ist diese Grenze aber auch für das absolute Subjekt selbst: es entpuppt sich durch sie als endliches Subjekt. Auch die Theologie Barths ist damit entgegen ihrem Selbstverständnis Ausdruck positioneller Freiheit: Selbstbestimmung erfolgt durch Ausschluss des anderen. c) Barth und Schleiermacher – und das religiöse Bewusstsein Dass Wagner Barths Theologie als einen „Rückfall in die Positionalität“ 146 interpretieren kann, gibt einen Hinweis darauf, dass er bei Barth immer noch das Prinzip am Werk sieht, dass seine Schleiermacher-Kritik herausgearbeitet hat. Wenn Wagner etwa meint, dass Barth nur deshalb von der Menschwerdung Gottes reden könne, weil er eine „Differenz im Begriff des anderen verwischt“147, dann zeigt sich hier eine Parallele zu Schleiermacher. Denn diesem hatte Wagner vorgeworfen, die alles entscheidende Differenz zwischen der subjektiven Gottesvorstellung und dem objektiven Gottesgedanken 143
WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 104; Hervorhebung MS. WAGNER, Christologie [WiTh], 113f.; Hervorhebung MS. 145 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 113; vgl. auch ebd., 121. 146 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 103; vgl. ebd., 105. 147 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 119. Diese Wendung findet sich auch in WAGNER, Einleitung [RG], 364. 144
137
II. Die Wort-Gottes-Theologie
einzuziehen. Auf gleiche Weise verwischt nun Barth die Differenz zwischen dem menschgewordenen Gott und dem Menschen als solchen. Man wird daher urteilen können, dass sich in Barths Theologie gleichsam spiegelbildlich das gleiche Problem auftut, an der Schleiermachers Konzeption leidet. Unterscheidet man Gott, den Menschen und Gott für den Menschen bzw. den Menschen für Gott, dann sieht es bei Schleiermacher so aus, dass er nur den Menschen und Gott für den Menschen, nicht aber Gott an sich zu denken vermag, während Barth sozusagen die Richtung wechselt und Gott und den Menschen für Gott denkt, dabei aber den Menschen an sich ausschaltet. In beiden Fällen leidet also das Andere als solches. Schematisch lässt sich das so darstellen: Schleiermacher
Der Mensch
Gott für den Menschen
Gott an sich
Barth
Gott
Der Mensch für Gott
Der Mensch an sich
Wie Schleiermacher dem Einwand der Religionskritik nicht entkommt, der Mensch beschäftige sich in der Religion nur mit sich selbst, so kann Wagner Barths Theologie mit den Worten konfrontieren, es handle sich hierbei lediglich um ein Spiel Gottes mit sich selbst.148 Barths Urteil über Descartes’ Gott lässt sich mithin sowohl auf Schleiermacher als auch auf ihn selbst anwenden: Bei beiden gibt es nur ein Subjekt – und das bleibt „hoffnungslos drinnen.“149 Ein weiteres Beispiel für die Parallelität der Barth- und Schleiermacherkritik zeigt sich in der Verwendung des Begriffs der Einseitigkeit. Einseitigkeit ist ein zentraler Terminus, wenn es Wagner darum geht, die Aporie der Religionstheologie zu kennzeichnen. Wie gesehen, intendiert die Religionstheologie ein „einsinnig-asymmetrisches Gefälle zwischen Grund und Begründetem“150. Dass die Durchführung dieser Intention in einen Widerspruch führt, „ist in der Einseitigkeit der im Abhängigkeitsgefühl gründenden Gottesbeziehung angelegt. Weil Gott allein als Grund für das Anderssein der Welt und des Selbstbewußtseins vorgestellt wird, kann er nur in Abhängigkeit vom zum Begründenden ausgesagt werden, so daß er als Grund für anderes eo ipso ein durch dieses begründeter Grund ist.“151 Auch Barths Christologie zielt nach Wagner auf ein solches einsinnig-asymmetrisches Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Das zeigt sich etwa dann, wenn von der Erhöhung des 148
WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 104. K. Barth, zitiert in: HÜBENER, Descartes, 505. 150 S.o. S. 100f., Anm. 327. 151 WAGNER, Theologie, 938. 149
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Zweiter Teil
Menschen die Rede ist. Während die Erniedrigung des Sohnes die Menschwerdung Gottes beschreibt, soll mit dem Begriff der Erhöhung nun nicht umgekehrt gesagt sein, „daß der Mensch Jesus Gott wurde. Vielmehr wird das menschliche Wesen Jesu allein aufgrund der Initiative des Gottessohnes in die Gemeinschaft mit Gott erhoben, so daß Gott der aktiv-gebende, der Mensch aber das passiv-empfangende Subjekt ist.“152 Entsprechend lege Barth die Lehre von der Idiomenkommunikation als „einseitige Mitteilung des göttlichen an das menschliche Wesen“153 aus. Diese Einseitigkeit äußert sich „in der völligen Bestimmung der menschlichen Natur Jesu Christi durch die ihr mitgeteilte Gnade und Zuwendung Gottes.“154 Die Erhöhung äußert sich damit als Gehorsam, sodass der erhöhte Mensch dem erniedrigten Sohn als Gegenbild göttlicher Herrschaft entspricht, oder, wie Wagner es formuliert, gleichgeschaltet ist. Das so erreichte einsinnig-asymmetrische Verhältnis von Gott und Mensch ist eine Wiederholung des göttlichen Selbstverhältnisses und insofern Ausdruck göttlicher Selbstbestimmung. Wie Schleiermacher jedoch aufgrund seines einseitigen Vorgehens den Grund nicht erreicht, so vereitelt dieselbe Einseitigkeit bei Barth die Selbstexplikation Gottes im Anderen. Der völlig durch Gott bestimmte Mensch „ist durch Abstraktion und Ausschaltung erkauft.“155 Denn durch den Gehorsam wird ein Unterschied zwischen Jesus und alle anderen Menschen gesetzt; nicht der Mensch als solcher, sondern der Gott gleichgeschaltete Mensch wird zu Gott erhöht. Diese unbewältigte und von Barth verwischte Differenz zwischen dem göttlichen Menschen und dem wirklichen Menschen ist nun ein Charakteristikum des religiösen Bewusstseins als eines vorstellenden Bewusstseins. Denn auch für das vorstellende Bewusstsein bleibt die Versöhnung ein ihm fremdes Ereignis. Es „weiß […] zwar, daß Gott und Mensch versöhnt sind“, aber, und jetzt kommt die bekannte Formel, es „versteht […] die Versöhnung nur als das einseitige Geschehen der Menschwerdung Gottes.“156 Der Gott entsprechende Mensch ist der gehorsame, rein passive Mensch, in dem das aktive Subjekt sich folglich nicht wiedererkennen kann. Das Problem besteht darin, dass das religiöse Bewusstsein von seiner Konstitutionsleistung hinsichtlich des religiösen Gehalts der Versöhnung abstrahiert.157 Die (nunmehr bewusste) Verneinung einer solchen Konstitutionsleistung menschlicher Sub-
152
WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 115. WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 116; Hervorhebung MS. 154 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 116; Hervorhebung MS. Damit scheint das Ziel der unbedingten Selbstbestimmung Gottes auch im anderen erreicht. „Der Mensch Jesus ist ganz durch Gott und durch die Sendung und Erniedrigung des Sohnes Gottes bestimmt“ (ebd.; Hervorhebung MS). 155 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 118. 156 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 212. 157 Vgl. WAGNER, Aufhebung [WiTh], 212f.; vgl. dazu Teil 1, Kap I.2. 153
II. Die Wort-Gottes-Theologie
139
jektivität hatte Wagner auch bei Barth herausgearbeitet.158 Damit sollte deutlich sein, dass auch Barth der Logik des religiösen Bewusstseins verhaftet bleibt. Diese Logik bildet in Wagners Rekonstruktion den roten Faden, der von den Entwürfen der altprotestantischen Orthodoxie bis in theologische Theoriebildung des 20. Jahrhunderts reicht.159 Die besondere Pointe dieser Beobachtung lautet dann, dass die Theologie bis in die Gegenwart hinein dem Proprium des Christentums, der Menschwerdung Gottes, noch gar nicht gerecht geworden ist. Dieser Gedanke wird bestätigt, wenn man sich – die Barth-Kritik noch in den Ohren – anhört, mit welchen Worten Wagner in seinem letzten Werk die griechische Kunstreligion beschreibt, wie sie Hegel in der Phänomenologie postuliert.160 Auch diese Religionsform kennt den Gedanken einer Menschwerdung Gottes, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung. Denn bei den Griechen vermag sich Gott zwar als Mensch zu inkarnieren, er tut es jedoch in der „Ideal-Gestalt“161 einer menschlichen Statue. „Die ideale Gestaltung des Göttlichen erscheint wohl als dessen Anderssein, aber als ein in Idealität und Realität gebrochenes Anderssein, so daß es nicht als das wirkliche Anderssein eines einzelnen menschlichen Selbstbewusstseins manifest ist. Die gebrochene und halbierte Menschwerdung Gottes wird von der christlichen Religion in die restlose Manifestation Gottes als einzelnen Menschen überführt.“162 Als eine solche „Ideal-Gestalt“ erscheint auch der gehorsame, sündlose Christus der barthschen Theologie. Wenn die Menschwerdung Gottes bei Barth den Ausschluss des besonderen, des wirklichen Menschen impliziert, was ist das dann anderes, als eine gebrochene oder halbierte Menschwerdung? Nicht zu vergessen ist schließlich, dass eine Menschwerdung Gottes, die sich auf Kosten des Menschen vollzieht, letztlich auch zu einem widersprüchlichen Gottesgedanken führt. Zugespitzt formuliert: Die Kehrseite des halbierten Menschen ist der beschränkte Gott. 3. Trinitarischer Pantheismus163 Auch die Religionsmonographie widmet Barth ein eigenes Kapitel. Sein Werk wird hier als die konsequente Ausarbeitung eines Pantheismus interpre158
Siehe in diesem Kapitel Abschnitt 1. Wie sich diese Logik des religiösen Bewusstseins und die für Wagner ebenfalls zentrale Logik unmittelbarer Selbstbestimmung zueinander verhalten, werde ich im dritten Teil dieser Arbeit eigens untersuchen. Ich werde dafür argumentieren, dass es sich in beiden Fällen um die gleiche Logik handelt, die aus jeweils verschiedenen Perspektiven beschrieben wird, vgl. Teil 3, Kap. I.2. 160 Vgl. WAGNER, MM, 94ff. 161 WAGNER, MM, 99; vgl. auch DERS., Aufbau [RuG], 175. 162 WAGNER, MM, 100. 163 Vgl. zu diesem Begriff WAGNER, WiR, 160f., Anm. 727. 159
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Zweiter Teil
tiert. Dass Barth einen theologischen Neuansatz für erforderlich hält, wird von Wagner zunächst bejaht. Denn der bisherige Ausgangspunkt, die Religion, könne das „Unglück des Menschen“ gerade nicht heilen, vielmehr treibe sie nach Barth seine „Ohnmacht und Krise […] auf die Spitze.“164 Der „Weg zu Gott“, den die Religion darstellen soll, führt in einen „Dualismus von Diesseits und Jenseits, Pol und Gegenpol“165. Barths Römerbrief benennt Wagner zufolge „das offen zutage liegende Geheimnis der Religion“, dass sie Gott stets als eingespannt in ein „Bedingungsverhältnis“ erfasst und damit als einen abhängigen Gott.166 Was Barth nun versucht, ist eine „Aufhebung des Bedingungsverhältnisses überhaupt“; Gott soll nicht mehr als Jenseits im Gegenüber zum Diesseits, sondern als das „absolut Unbedingte“ gedacht werden.167 Wenn an die Stelle des Gegensatzes Gott – Mensch, der für die Religion konstitutiv ist, die „Einheit des Unbedingten“168 tritt, dann stellt sich jedoch auf ein Neues die Gretchenfrage einer jeden dem Monotheismus verpflichteten Theologie, ob sie nämlich das Verhältnis von Gott und dem Anderen bloß ausschließen, oder ob sie es auch begründen kann. Wagner erkennt bei Barth nun durchaus die Absicht, dass Gottesverhältnis des Menschen nicht nur zu negieren, sondern es auch zu konstituieren; das Ergebnis seiner Analyse lautet jedoch, dass es bei einer bloßen Absichtserklärung bleibt, tatsächlich werde die „Aufhebung der Religion […] als ihre einseitige Auflösung und Destruktion durchgeführt“169. Barth gestaltet seinen Neuansatz bewusst so, dass er den alten „Weg zu Gott“ aus seiner Theologie ausschließt: Die Theologie der Selbstoffenbarung Gottes steht in keiner Beziehung zur Theologie der Religion. Deutlich ist schon jetzt, dass mit diesem Verfahren lediglich ein Dualismus durch einen anderen ersetzt wird. Denn der kritisierte Dualismus von Gott und Mensch wird unter dem Namen Religion zusammengefasst, als Unglaube identifiziert und der Offenbarung „im Sinne eines sich ausschließenden Widerspruchs“170 entgegengestellt. Um die Unbedingtheit der Offenbarung zu gewährleisten, muss jeder Anschein menschlicher Beteiligung vermieden werden, und so wird selbst dem „der Religion immanenten Selbstwiderspruch“ die Funktion einer „Voraussetzung oder Bedingung der Offenbarungserkenntnis“ abgesprochen.171 Die Religion erscheint so nur als Infragestellung der Absolutheit Gottes und ist als solche das Objekt der Kritik; dass sie im Modus einer Selbstkritik auch als Subjekt zu Gott gehören könnte, schließt Barth von vornherein aus. Barth nimmt das 164
WAGNER, WiR, 155. WAGNER, WiR, 154. 166 WAGNER, WiR, 155. 167 WAGNER, WiR, 156. 168 WAGNER, WiR, 156. 169 WAGNER, WiR, 158. 170 WAGNER, WiR, 157. 171 WAGNER, WiR, 158. 165
II. Die Wort-Gottes-Theologie
141
menschliche Gottesverhältnis (die Religion) weder als positives, noch als negiertes in seine Theologie auf, sondern er tauscht es gegen ein ganz von der Offenbarung her entworfenes, ‚neues‘ Gottesverhältnis aus: der Unglaube wird durch die „wahre Religion“ ersetzt.172 Diese einseitige Neudefinition eines Begriffs war auch schon im Zusammenhang der Christologie zu beobachten und es kann mit Recht gefragt werden, „ob die als Folge der Offenbarung apostrophierte wahre Religion überhaupt noch als Religion qualifiziert werden kann“173 – so wie zu fragen ist, was an Christus denn eigentlich noch menschlich sein soll, wenn Sündlosigkeit und Gehorsam ihn von allen Menschen unterscheiden. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, worum es Wagner eigentlich geht. Die entscheidende Frage lautet: Wie kann eine Kritik und Neukonstitution des menschlichen Subjekts durch Gott so geschehen, dass die Identität des Menschen dennoch erhalten bleibt? Bei Barth sieht Wagner nun eine solche Kritik und Neukonstitution, die aber auf Kosten des Menschen geschieht, d.h. der Mensch kann die wahre Religion nicht als seine Religion und sich nicht in Christus wiedererkennen, die Kontinuität der Identität im Prozess der Kritik und Neukonstitution ist also nicht sichergestellt. Es ist so kaum einsehbar, inwiefern das Verhältnis zum Barthschen Gott heilsam sein soll, da der Mensch, sobald er in das einseitig von Gott her aufgebaute Gottesverhältnis eintritt, „zum unselbständigen Akzidenz herabgesetzt und somit als selbständiges Subjekt […] beseitigt“174 wird. Dass Barths Theologie Wagner zufolge nur ein Subjekt zulässt, und dass die Teilhabe an der wahren Religion für jedes andere Subjekt folglich sein Ende als Subjekt bedeutet, mag folgende Passage verdeutlichen: „Die wahre Religion dient […] einzig und allein der Selbstbestätigung Gottes und seiner Offenbarung. Die Träger der wahren Offenbarung entsprechen dieser Selbstbestätigung Gottes, wenn sie an die Stelle ihres Subjektseins das der göttlichen Selbstbestimmung treten lassen. Denn nur dann ist gewährleistet, dass Gott ungebrochen und unmittelbar sich selber setzt. Gott ist in dem seines eigenständigen Subjektseins entkleideten Träger der wahren Religion bei sich, weil er die Stelle des Subjekts der Religion durch den ihm ge-
172
Für Wagner hingegen ist die Religion ein Ausdrucksmittel des menschlichen Individuums, das nach den Voraussetzungen seiner Freiheit fragt. Der dabei auftretende Selbstwiderspruch der Religion ist der Anknüpfungspunkt für seine Theorie des Absoluten; sie hat ihren Ort daher im Entdeckungszusammenhang seines Systems. Die Selbstexplikation Gottes dient bei Wagner dann der Begründung menschlicher Autonomie, keineswegs aber ihrer Negation. Zu beachten ist allerdings auch, dass der christliche Gottesgedanke ein ganz bestimmtes – nämlich ein soziales, d.h. das Individuum und seine gesellschaftliche Umwelt vermittelndes – Verständnis von Autonomie begründen soll. Insofern das religiöse Subjekt einen anderen, abstrakten Begriff von Freiheit transportiert, ist es auch bei Wagner weiterhin der Kritik ausgesetzt; vgl. dazu insgesamt Teil 3 und 4. 173 WAGNER, WiR, 159. 174 WAGNER, WiR, 159.
142
Zweiter Teil
horsamen und sich fügenden Sohn besetzen lässt. Die wahre Religion ist die kraft des christologischen Subjekts mit Gottes souveräner Herrschaft gleichgeschaltete Religion.“175
Auch die wahre Religion stellt lediglich eine Kopie der Theologie, eine Wiederholung des innertrinitarischen Verhältnisses dar. Weil die Stelle des religiösen Subjekts immer schon durch den gehorsamen Sohn besetzt ist, kann jedes andere Subjekt nur durch Selbstaufgabe in dieses Verhältnis eintreten. Von Freiheit kann unter solchen Bedingungen nur dann noch die Rede sein, wenn man auch diesen Begriff völlig neu versteht. Wagner jedenfalls urteilt über Barth, dass er über einen abstrakten Monotheismus nicht hinausgelangt. Das absolute Subjekt, das Wagner bei Barth ausmacht, duldet kein anderes Subjekt, kein selbständiges Anderssein neben sich. Wenn aber gilt, „daß Gott alles ist“, dann kann man von einem Pantheismus sprechen.176 4. Entdifferenzierung – Die späte Barth-Kritik In den Metamorphosen geht Wagner auf Barths Theologie im Rahmen seiner kritischen Darstellung der gegenwärtigen Lage des Protestantismus ein. Dieser wird beherrscht von einer „Mainstream-Theologie“, die „von Berufstheologen für Berufstheologen produziert“ und von Wagner unter dem Label „Wendetheologie“ als eine Art Barthianismus light beschrieben wird.177 Das Hauptmerkmal der Wendetheologie ist der Einzug der Differenz von Theologie und Religion. Aufgrund dieser „Ent-Differenzierung“178 erscheint die Wendetheologie als Wiedergänger der altprotestantischen Theologie. Wagner weist auf Barths explizite „Anknüpfung an die altprotestantische Weite des Theologiebegriffs“ hin, die sich darin äußere, dass ‚Theologie‘ nun wieder Glaube, kirchliche Verkündigung und wissenschaftliche Theologie gleichermaßen umfasse und im Wortsinn als Gottes eigene Rede verstanden werde.179 Da dieses Theologieverständnis die theologische Szene des ausgehenden 20. Jahrhunderts dominiert, diagnostiziert Wagner für seine eigene Gegenwart „den tendenziellen Ausstieg aus der Modernisierung des Protestantismus“180. Der äußerst polemische Tonfall der Metamorphosen mag vielleicht auch auf Wagners Eingeständnis zurückzuführen sein, dass der „faktische[] Sieg“ der
175
WAGNER, WiR, 160. Vgl. zur Beurteilung des Barthschen Theologie als Pantheismus auch WAGNER, Zukunft [Lage], 50. Hier spricht Wagner mit Blick auf Barth von einer „vereinseitigten Spinoza-redivivus-Theologie“. 177 WAGNER, MM, 63. Vgl. zur Darstellung dieser Mainstream-Theologie bei Wagner auch BERGER, Krise, 131ff. 178 WAGNER, MM, 59. 179 WAGNER, MM, 59. 180 WAGNER, MM, 52. 176
II. Die Wort-Gottes-Theologie
143
an Barth orientierten Wendetheologie letztlich die völlige Wirkungslosigkeit seiner seit Jahren geäußerten Barth-Kritik bedeutete.181 Die Folge der Entdifferenzierung ist die „Ausscheidung der lebensweltlichen Religion der Individuen“182 aus der Theologie. Das Subjekt der Religion soll nicht länger das religiöse Bewusstsein, sondern das Wort Gottes selbst sein, tatsächlich aber wird, so Wagner, bloß „das religiöse Bewusstsein als Subjekt der Religion durch das professionelle Subjekt von Berufstheologen ersetzt.“183 Der christliche Gott wird so zum Gott der Berufstheologen, oder anders: mit dem Ausschluss individueller Subjektivität vermag die Theologie der Gegenwart ihrem Anspruch auf Allgemeinheit nicht mehr gerecht zu werden, sodass Wagner urteilen kann: „Der dogmatisch korrekte und normativ aufgeladene Verbalradikalismus der Wort-Gottes-Anspruchs-Fiktion führt […] zu einer selbstgenügsamen Selbstisolierung der evangelischen Theologie, die sich von einer sektiererischen Gettomentalität kaum noch unterscheiden läßt.“184 Wagner macht an dieser Stelle also wieder das Problem blinder Positionalität namhaft. Die Wendetheologie verwechselt ihre Darstellung des Evangeliums mit dem Evangelium selbst. Sie lässt sich so als positionelle Theologie identifizieren, in deren Schriften sich die Interessen einer „partikularen sozialen Trägerschaft“, nämlich die Interessen „des berufstheologischen Personals“ widerspiegeln,185 die aber um diese ihre Positionalität nicht weiß bzw. sie bewusst ausblendet und daher mit dem Gestus der Objektivität auftritt. Damit aber gibt die Wendetheologie die Differenz von der Darstellung eines Sachverhalts und dem Sachverhalt selbst auf, eine Differenz, die Wagner für „schlechterdings nicht hintergehbar[…]“ hält.186 Bemerkenswert ist, dass Wagner an dieser Stelle auch auf das Recht der Wendetheologie zu sprechen kommt. Dieses Recht besteht in der Kritik am theologischen Ansatz des Neuprotestantismus. Die Durchführung der Kritik hält Wagner allerdings für misslungen, und zwar deshalb, weil der neue Ausgangspunkt, das Wort Gottes in seiner „Selbstgegebenheit“, „als differenzlose und in sich einheitliche Begründungsinstanz“ konzipiert wird.187 Eine überzeugende Kritik müsse aber gerade von der Differenz zwischen der (subjektiven) Rede vom Wort Gottes und dem (objektiven) Gehalt dieser Rede ausgehen. Man kann diese Stelle m.E. so lesen, dass Wagner beiden – der Wendetheologie wie auch der 181
Vgl. auch HOLTMANN, Barth, 244. WAGNER, MM, 60. 183 WAGNER, MM, 57. 184 WAGNER, MM, 57. 185 WAGNER, MM, 63; Hervorhebung MS. Vgl. auch ebd., 64. In vergleichbarer Weise kann Wagner die Religionstheologie als ‚bürgerliche Theologie‘ bezeichnen (vgl. Teil 1, Kap. II.1b.). 186 WAGNER, MM, 60. 187 WAGNER, MM, 60. 182
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Zweiter Teil
Religionstheologie – vorwirft, besagte Differenz nicht bewahrt zu haben, sondern jeweils einseitig nur das subjektive bzw. objektive Element zu entfalten. Stefan Holtmann geht in seiner Arbeit davon aus, dass Wagner in seinen späten Schriften den Übergang vom Neuprotestantismus zur Wort-GottesTheologie v.a. als einen „Bruch innerhalb der neuzeitlichen Theologiegeschichte“188 interpretiere. Während Wagner in seinen frühen Schriften die „Neuzeitlichkeit Barthscher Theologie“ zu erweisen suchte, übernehme er jetzt das verbreitete „theologiegeschichtliche Bild des Rückfalls hinter Einsichten der Aufklärung“, der sich mit der Durchsetzung der dialektischen Theologie ereigne.189 Sicher fällt in den Metamorphosen die Darstellung des Neuprotestantismus ungleich positiver aus als diejenige der sog. Wendetheologie. Andererseits war die Wagners Haltung gegenüber der Wort-GottesTheologie immer schon, d.h. in all seinen Schriften, ambivalent. Denn den Bruch, den die Wort-Gottes-Theologie gegenüber der liberalen Theologie meinte vollziehen zu müssen, hat Wagner stets für nötig gehalten. Das Problem besteht für ihn darin, dass sie diesen Bruch eben nie wirklich vollzogen hat, sondern weiterhin Theologie im Banne des religiösen Bewusstseins betrieben hat. Dies führte dazu, dass die Theorie des absoluten Subjekts, die sie in Wagners Augen zu entwerfen unternahm, stets nur auf Kosten der Selbständigkeit des starken Anderen realisiert werden konnte. So kann er auch in den Metamorphosen vom „uniformierten Pantheismus der göttlichen Selbstoffenbarung“190 reden und festhalten: „Die neuevangelische Wendetheologie des Wortes Gottes muß sich aufgrund ihrer biblisch- und dogmatischtheologischen Sachdominanz im Interesse des sich selbst inszenierenden Gottes gegenüber der differenten Eigenständigkeit der gelebten Praxis des christlichen Glaubens blind machen.“191 Durch dieses sich Blindmachen übersieht sie die Partikularität der eigenen Position, ein Vorwurf, der sich immer wieder in Wagners Darstellungen neuzeitlicher Theoriegestalten findet, den er besonders aber mit Blick auf das 20. Jahrhundert unter dem Stichwort der Radikalisierung verhandelt.
III. Das Identitätsdenken und der Einspruch religiöser Individualität III. Identitäsdenken und Individualität
Wagner ist mit seinem Urteil, Barths Theologie sei in Wahrheit pantheistisch, nicht allein. Vergleichbare Überlegungen finden sich etwa bei Wolfhart Pan188
HOLTMANN, Barth, 242. HOLTMANN, Barth, 251. 190 WAGNER, MM, 62. 191 WAGNER, MM, 63. 189
III. Identitäsdenken und Individualität
145
nenberg, der darauf hinweist, dass Barth die trinitarischen Bestimmungen aus Gottes Status als Subjekt ableitet. Für Pannenberg stellt dieser Ausgang bei der Subjektivität Gottes die „Häresie des christlichen Theismus“ dar, welcher als ein abstrakter Monotheismus von der christlichen Trinitätslehre als einem „konsequenten Monotheismus“ streng zu unterscheiden sei.192 Jener ordne die Einheit des göttlichen Subjekts den drei trinitarischen Personen vor und schlage daher letztlich in einen Pantheismus um. Zur vollendeten Gestalt gelangt der christliche Theismus Pannenberg zufolge in der Philosophie Hegels. Hegel gehe davon aus, dass Gott Subjekt sei; indem er die Struktur des göttlichen Subjekts mit der Struktur des Begriffs gleichsetze, könne er die Tätigkeit Gottes als die Selbstentfaltung des Begriffs beschreiben. „Mit der Vorstellung von einer Selbstentfaltung Gottes als Subjekt aber fällt dann auch von selber die Behauptung logischer Notwendigkeit eines solchen Prozesses.“193 Mit einer solchen Notwendigkeit göttlicher Selbstentfaltung sei jedoch weder die Freiheit Gottes noch die des Menschen vereinbar – ein Einwand, den bereits Julius Müller gegen Hegel formuliert habe und den Barth sich in seiner Hegel-Interpretation zu eigen mache. Nach Pannenberg besteht in diesem Punkt aber gar keine Differenz zwischen Hegel und Barth. Denn auch bei Barth benennt die Trinitätslehre die Aufbauelemente eines bestimmten Begriffs; sie folgt, so Pannenberg, „der inneren Logik des Offenbarungsbegriffs, in welchem Subjekt, Prädikat und Objekt oder der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein zu unterscheiden seien.“194 Es ist der Satz, das Gott sich als der Herr offenbare, aus dem alles Weitere folgt. Man könnte Pannenbergs Vorwurf gegen Barth und Hegel so formulieren, dass beide der Einheit Gottes gegenüber der trinitarischen Differenzierung den Vorzug geben. Auch wenn Wagner nicht in jedem Punkt mit Pannenberg übereinstimmt, ermöglicht es ihm die von Pannenberg aufgezeigte Nähe von Barth und Hegel aber doch, Argumente, die sein Frankfurter Lehrer Adorno gegen Hegel vorgebracht hat, nun seinerseits gegen Barth in Stellung zu bringen (1.). Auch wenn es sich dabei v.a. um philosophische Argumente handelt, kann trotzdem gezeigt werden, dass Wagners Kritik am Pantheismus und sein Eintreten für die Freiheit des Menschen letztlich in der These einer Selbständigkeit des religiösen Subjekts begründet sind, für welche die christliche Theologie im 19. Jahrhundert gegen die spekulativen Denker mit Nachdruck eingetreten ist (2.).
192
Vgl. insgesamt PANNENBERG, Subjektivität; Zitate ebd., 111. PANNENBERG, Subjektivität, 107; im Original kursiv. 194 PANNENBERG, Subjektivität, 101; vgl. ebd., 98.100.107. 193
146
Zweiter Teil
1. Adornos Kritik am Identitätsprinzip Barths Theologie will – folgt man Wagner – eine „Theorie des Allgemeinen“ sein, tatsächlich erweist sie sich als partikular. Sie zielt auf Versöhnung, offenbart in ihrer Durchführung aber „Züge von Gewaltherrschaft“. Die Menschwerdung vollzieht sich als Gleichschaltung, ausgeschlossen wird dabei das Anderssein als solches. Sie folgt einem „Identitätszwang“, zugleich aber ist „ihre innere Motorik auf Scheidung hin angelegt“. Ausgeschieden wird alles, was nicht die Signatur des Allgemeinen annimmt; am Besonderen als „dem nicht Identischen und Fremden“195 hat die Barthsche Theologie ihre Grenze. Die Zitate in dieser Skizze wollen auf die Verwandtschaft hinweisen, die zwischen Wagners Barth-Kritik und der Philosophie Adornos besteht. Adorno entfaltet sein Programm einer negativen Dialektik als eine „Selbstkritik des Begriffs“196. Denken hat es mit Begriffen zu tun und versteht man unter philosophischem Denken den reflektierten Umgang mit den immer schon in Anspruch genommen Begriffen,197 so geschieht die Selbstkritik des Begriffs als „Selbstkritik der Philosophie“198. Die Kritik richtet sich auf den Umgang des Denkens mit dem, was es denkt. Diesen Umgang bezeichnet Adorno als Identifizieren.199 Identifizieren heißt, dass die Erkenntnisgegenstände unter Begriffe gefasst, dass sie klassifiziert werden. Die Grundannahme des identifizierenden Denkens lautet nun, dass die Identifikation einer Sache mit einem Begriff zugleich ihre Identifikation mit dem denkenden Subjekt bedeutet.200 Eine Sache zu begreifen oder zu erkennen heißt demnach, als ihr Wesen eine Struktur freizulegen, die mit der Struktur des rationalen Subjekts übereinstimmt. Diese „Prämisse einer Identität von Rationalität und Wirklichkeit“201 dominiert nach Adorno die Philosophiegeschichte; ihren wirkmächtigsten Ausdruck findet sie im Idealismus Hegels. Nun kann sich Adorno dem epistemologischen Grundsatz, Ähnliches könne nur durch Ähnliches erkannt werden, durchaus anschließen, falsch wird er für 195
WAGNER, Systemtheorie [CM], 178. ADORNO, Negative Dialektik, 139. 197 Vgl. SEEL, Dialektik, 71. 198 ADORNO, Negative Dialektik, 156. 199 ADORNO, Negative Dialektik, 17: „Denken heißt Identifizieren.“ Vgl. ebd., 152. 200 Jay Bernstein bezeichnet die „Gleichsetzung der Einheit des Begriffs mit der Einheit des Subjekts“ als „die semantische These des Idealismus“ (vgl. BERNSTEIN, Dialektik, 92– 95, Zitat 93). Bei Hegel hört sich das dann so an: „Das Begreifen eines Gegenstandes besteht in der Tat in nichts anderem, als daß Ich denselben sich zu eigen macht, ihn durchdringt und ihn in seine eigene Form, d.i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit … ist, bringt.“ (ebd.) Adorno kann daher sagen, dass das Denken seinem Gegenstand immer Gewalt antut; „Denken ist […] Negieren“, sein „Urbild“ hat es im „Verhältnis der Arbeit zu ihrem Material“. Denken ist „spirituell gewordene Naturbeherrschung“ (ADORNO, Negative Dialektik, 30). 201 HONNETH, Einleitung, 19. 196
III. Identitäsdenken und Individualität
147
ihn erst dann, wenn er die Aufhebung des Unterschieds von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt – und zwar auf Kosten des Objekts – bedeutet. „Gelangt in der These, nur Ähnliches sei dazu [zur Erkenntnis] fähig, das untilgbare Moment der Mimesis in aller Erkenntnis und aller menschlichen Praxis zum Bewußtsein, so wird solches Bewußtsein zur Unwahrheit, wenn die Affinität, in ihrer Untilgbarkeit zugleich unendlich weit weg, positiv sich selbst setzt. In der Erkenntnistheorie resultiert daraus unausweichlich die falsche Konsequenz, Objekt sei Subjekt. Traditionelle Philosophie wähnt, das Unähnliche zu erkennen, indem sie es sich ähnlich macht, während sie damit eigentlich nur sich selbst erkennt.“202
Das Problem des identifizierenden Denkens besteht also darin, dass es das Andere als solches, das Nichtidentische, erkennen will, tatsächlich aber im Anderen immer nur sich selbst wiederfindet. Die Aporie wurzelt in den Umstand, dass der Begriff, dem als Begriff von etwas der Bezug auf das Nichtbegriffliche notwendig eingeschrieben ist, selbst als das Wesen des Nichtbegrifflichen gesetzt wird. Dasjenige, womit das Denken den Gegenstand erfasst, wird so für das Eigentliche des Gegenstands gehalten. Adorno kritisiert keineswegs den begrifflich vermittelten Zugang zur Wirklichkeit, dieser ist vielmehr der einzig mögliche. Jedoch sollen die Begriffe eine den Objekten dienende Funktion einnehmen; sie sollen dem Subjekt „deren Eigenart“203 erschließen und nicht selbst schon für deren Eigenart gehalten werden.204 „Nicht die Verabschiedung logischer Kategorien“ ist es, was Adorno einfordert, „sondern die Überwindung der Hypostasierung von klassifikatorischen Begriffsschemata, die mit dem verwechselt werden, wofür sie stehen“205. Werden die Begriffe hypostasiert, dann vermitteln sie nicht länger zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, vielmehr trennen sie jetzt beide
202
ADORNO, Negative Dialektik, 153. SEEL, Dialektik, 84. Seel sieht bei Adorno das Ideal einer „anerkennenden Erkenntnis“ (ebd., 83). 204 Nach Adorno ist jedes Einzelding unendlich viel komplexer als jeder einzelne Begriff, dem es zugeordnet wird. Einen Gegenstand einem Begriff zu subsumieren, führt so dazu, dass die vielen qualitativen Bestimmungen des Gegenstands nicht länger wahrgenommen werden. Adorno geht es aber umgekehrt darum, dass die Begriffe das Einzelding in der Vielfalt seiner Aspekte aufschließen sollen. Begriffe sollen einen Gegenstand nicht eindeutig definieren, sondern ergebnisoffene Erfahrung ermöglichen. „Die Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtbegrifflichen zuzukehren, ist das Scharnier negativer Dialektik.“ (ADORNO, Negative Dialektik, 24). Adornos Philosophie will sich den Dingen „anschmiegen“; sie „will […] buchstäblich in das ihr Heterogene sich versenken, ohne es auf vorgefertigte Kategorien zu bringen“ (ebd.). Ihr Ideal ist „die volle, unreduzierte Erfahrung im Medium begrifflicher Reflexion“ (ebd., 25). Vgl. auch ebd., 21: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“ 205 G. SCHWEPPENHÄUSER, Adorno, 66. Zur Verdinglichung des Begriffs vgl. ADORNO, Negative Dialektik, 23f. 203
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Zweiter Teil
voneinander. Wie eine „Mauer“206 blockieren sie den Zugang zur Sache selbst.207 Adorno geht davon aus, dass der Dualismus von Subjekt und Objekt nicht zu hintergehen ist, ja, es ist dieser Unterschied, „an dem schlechterdings alles hängt“208. Demgegenüber sei die gesamte philosophische Tradition, Hegel eingeschlossen, „parteiisch für die Einheit.“209 Diese Einheit wird so erreicht, dass der eine, subjektive Pol des Verhältnisses als die Wahrheit auch des anderen, objektiven Pols behauptet wird. Jedoch wird durch diese Annahme einer „Subjektivität aller Bestimmtheit“ nicht allein das Objekt jeglicher Eigenbedeutung beraubt – ein beliebtes Beispiel Adornos ist die Reduktion des objektiven Pols auf eine unbestimmte Mannigfaltigkeit, die erst durch das ordnende Tun des Subjekts zum Gegenstand wird –, auch das Subjekt wird auf ein abstrakt Allgemeines zurückgeschnitten.210 Das identifizierende Denken tut nicht nur der Vielfalt des Objekts Gewalt an, ebenso wird die individuelle Erkenntnis auf ein allgemeines – gleichsam objektives – Ich reduziert. Die Aneignung des Objekts durch das Subjekt – Adorno kann den Akt der Bestimmung auch als ein Fressen oder Einverleiben beschreiben –, führt also letztlich nicht zu einer Bereicherung des Subjekts, sondern generiert einen neuen Dualismus – dem Allgemeinen steht das Besondere gegenüber. Die Dialektik des Identitätsprinzips scheint dann darin zu bestehen, dass es den faktischen Dualismus als Bedrohung empfindet211 und ihn daher zu überwinden trachtet, dass es jedoch im Zuge der Herstellung von Einheit immer nur einen neuen Dualismus produzieren kann, der abermals auf Gewalt und Un206
ADORNO, Negative Dialektik, 27. Vgl. auch ADORNO, Negative Dialektik, 17: „Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will.“ 208 ADORNO, Negative Dialektik, 175. Allerdings ist Adorno auch kein Vertreter eines starren Dualismus; Subjekt und Objekt sind für einander nicht das ganz andere, vgl. ebd., 176f. Siehe auch unten S. 150. 209 ADORNO, Negative Dialektik, 160. 210 Vgl. ADORNO, Negative Dialektik, 142f.; vgl. auch ebd., 152: „Das Diktat seiner Autarkie verdammt Denken zur Leere.“ 211 Die Wurzel dieses Denkens ist die Bedrohung des Menschen durch die Naturgewalten, sein ursprüngliches Ziel entsprechend Naturbeherrschung, vgl. G. SCHWEPPENHÄUSER, Adorno, 53. Dabei kopiert die Naturbeherrschung die Logik der Natur, statt sie zu überwinden (vgl. ADORNO, Negative Dialektik, 181). Der Mensch emanzipiert sich daher nur scheinbar von der Natur, tatsächlich wird er weiter vom Prinzip der Selbsterhaltung beherrscht. Identifizierendes Denken ist einzig auf Selbsterhaltung aus, die Kategorien, mit denen, es die Welt erfasst, sind daher „instrumentell: Es gibt sie, um die Natur beherrschen zu können, wobei die Vorherrschaft über die Natur eine ausgefeilte Weise ist, die Natur aus der Perspektive der Befriedigung unserer Überlebensbedürfnisse zu betrachten.“ (BERNSTEIN, Dialektik, 101; Hervorhebung MS). Gefragt wird nicht, was eine Sache ist, sondern inwiefern sie dem Überleben des Menschen dient bzw. ob sie für dieses Ziel nutzbar gemacht werden kann (vgl. BERNSTEIN, Dialektik, 101). 207
III. Identitäsdenken und Individualität
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terdrückung beruht. Diese Aporie, dass dem Denken das Andere stets entgeht,212 erklärt wohl auch, warum Adorno von einer Wut des Idealismus reden kann.213 „Durchweg verbindet es [das Denken] den Appetit des Einverleibens mit Abneigung gegen das nicht Einzuverleibende, das gerade der Erkenntnis bedürfte.“214 Vermag das allgemeine Subjekt das Besondere nicht zu integrieren, so hat es an diesem seine Grenze und ist entgegen seiner Intention selbst partikular.215 Der Entzweiung von Allgemeinem und Besonderen, von Begriff und Sache, entgeht auch Hegel nicht. Er weiß zwar, dass das Allgemeine auf das Besondere angewiesen ist, indem er es aber in sein System integriert, wird das Besondere selbst zum Allgemeinen, verwandelt es sich „vom besonderen Ereignis zur Kategorie der Besonderheit.“216 Neben sprachlichen Übereinstimmungen (‚Gleichmachen‘217 – ‚Gleichschaltung‘; ‚Identitätszwang‘218) ist es v.a. dieser Befund, mit dem sich die Verwandtschaft von Wagners Barth-Kritik mit Adornos Hegel-Kritik belegen lässt. Denn der Christus der Kirchlichen Dogmatik – das Andere des anderen – ist ja nach Wagner genau dies: das Besondere im Medium des Allgemeinen. Und die These von der halbierten Menschwerdung will genau diese Spaltung „in Idealität und Realität“ kenntlich machen. Auch Barths Gott wird aufgrund dieser Spaltung zu einem endlichen Subjekt. Und auch bei Barth ist das Verhältnis von Gott und Welt hierarchisch bestimmt. Damit gleicht es dem Verhältnis von Geist und Natur, wie es der Idealismus beschreibt und welches Adorno überwinden will.219 Noch in einem weiteren Punkt zeigt sich Wagner von Adorno beeinflusst. Denn Adorno identifiziert das allgemeine, transzendentale Subjekt mit der Gesellschaft, genauer: mit einer Gesellschaft, die sich ganz dem Tauschprinzip verschrieben hat. Das Subjekt des identifizierenden Denkens, welches allem seine qualitative Bestimmtheit nimmt, ist letztlich die Gesellschaft, der alles zur Ware wird, indem sie es auf seinen Tauschwert reduziert.220 Es wird sich zeigen, dass auch Barths Theologie ihr reales Gegenüber in einem von Wagner so genannten Geldpantheismus hat.
212
Vgl. G. SCHWEPPENHÄUSER, Adorno, 65. ADORNO, Negative Dialektik, 33f. 214 ADORNO, Negative Dialektik, 163. 215 ADORNO, Negative Dialektik, 145. 216 BERNSTEIN, Dialektik, 109; vgl. ADORNO, Negative Dialektik, 175. 217 Adorno beschreibt das Tun des identifizierenden Denkens u.a. als „das Gleichmachen eines jeglichen Ungleichen“ (ADORNO, Negative Dialektik, 174). 218 WAGNER, Gleichschaltung [WiTh], 112: „Von der unbedingten Selbstbestimmung Gottes geht ein Identitätszwang aus, der den Vollzug des Sichentsprechens in den opera ad extra zur Gleichschaltung werden läßt“. Wagner interpretiert den Jüngelschen Terminus der ‚Entsprechung‘ als ‚Identifizierung‘, vgl. ebd., 101. 219 Vgl. ADORNO, Negative Dialektik, 182. 220 Vgl. BERNSTEIN, Dialektik, 100f. 213
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Zweiter Teil
Nicht nur als Kritiker des herrschenden Denkens weisen Adorno und Wagner Übereinstimmungen auf, auch ihre Beschreibungen einer Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem ähneln sich. Dies sei hier mittels zweier Aussagen Adornos zumindest angedeutet. Wagner beschreibt den Gedanken der Versöhnung mittels einer Struktur, die eine Alternative sowohl zum Dualismus wie auch zum Monismus darstellen soll. Vergleichbar formuliert Adorno: „Utopie wäre über der Identität und über dem Widerspruch, ein Miteinander des Verschiedenen.“221 „Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in gewährter Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.“222
Während man Barths Entwurf in seinen Augen wohl als theologischen Imperialismus bezeichnen könnte, zielt Wagners eigenes, trinitarisches Konzept ebenfalls auf ein Miteinander der Verschiedenen, das gerade dem starken Anderen (nämlich dem Anderen in seinem selbständigen Anderssein) zu seinem Recht verhelfen will. Zugleich lassen sich jedoch von Adorno her auch kritische Anfragen an Wagners Programm stellen. Denn gerade mit Adorno kann gefragt werden, ob Wagner seinen Anspruch, mit seiner Theologie das Andere in seinem Anderssein anzuerkennen, tatsächlich eingelöst hat. So macht Adorno einerseits gegen das Systemdenken das Moment des Kontigenten stark.223 Zu fragen wäre, ob nicht auch Wagners Anerkennungslogik Ausdruck einer letzten Notwendigkeit ist,224 ob also nicht auch bei ihm jener Einwand greift, den Pannenberg gegenüber Hegel und Barth geäußert hat. Zweitens geht es Adorno darum, die Natur gegen den Geist in ihr Recht zu setzen. „‚Negative Dialektik‘ heißt: Geist und Natur als unhintergehbar aufeinander bezogene Extreme zu entfalten.“225 Während ich meine zeigen zu können, dass die Kategorie des Kontingenten von Wagner durchaus berücksichtigt wird, sehe ich an dieser Stelle eine Schwachstelle seines Entwurfs. Wagners Theologie ist eine Theologie des absoluten Geistes und an der Idee seiner Realisierung hält Wagner bis zum Ende fest. Die Natur spielt demgegenüber kaum eine Rolle; das gilt sowohl für die dem Menschen äußere Natur, als auch für seine (unbewussten) Triebe und Gefühle. Wagners Theologie bleibt letztlich einer anthropozentrischen Perspektive verhaftet. 221
ADORNO, Negative Dialektik, 153. ADORNO, Negative Dialektik, 192. 223 BERNSTEIN, Dialektik, 103. 224 Schöndorf sieht hierin „das wohl grundlegende Problem der Hegelschen Sicht des Christentums: die alles durchherrschende Dialektik, die mit innerer Notwendigkeit vonstatten geht.“ (SCHÖNDORF, Anderswerden, 567). 225 HONNETH/MENKE, Einführung, 8. 222
III. Identitäsdenken und Individualität
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2. Tholucks Kritik am Pantheismus Eine Kritik des Idealismus kann aus verschiedenen Perspektiven geschehen. Sie kann die Perspektive des begrifflichen Denkens einnehmen und zeigen, dass dieses an seiner eigenen Intention scheitert, das Nichtbegriffliche zu erfassen. Um eine solche Selbstkritik des Denkens handelt es sich bei Adornos Negativer Dialektik und wie der folgende dritte Teil zeigen wird, hat auch Wagners Theologie ihr Zentrum in einem Akt göttlicher Selbstkritik, mit dem Unterschied freilich, dass Wagner meint, sich hierbei auf Hegel berufen zu können. Gemeinsam ist Adorno und Wagner jedenfalls der Gedanke einer Negation des Absoluten, und zwar einer „Negation des Absoluten um des Endlichen und seiner Rettung willen, die noch das Absolute zu bewahren vermöchte.“226 Kritik kann aber auch aus der Perspektive desjenigen geschehen, dem das begriffliche Denken Gewalt antut. Es waren nun gerade christliche Theologen, die sich im Namen des Nichtidentischen und Individuellen dem idealistischen Systemdenken des 19. Jahrhunderts entgegenstellten. Wagners Kritik am absoluten Subjekt und sein Eintreten für das Individuum hat eine Parallele daher nicht nur in der antiphilosophischen Philosophie Adornos, sondern hier kommen genuin christliche Motive zur Sprache, welche die Theologie in ihrer Auseinandersetzung mit dem Idealismus in besonderer Weise betont hat. Dies sei kurz am Beispiel des Erweckungstheologen F.A.G. Tholuck gezeigt.227 In seiner Jugendschrift „Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers“ wendet sich Tholuck gegen einen „Begriffspantheismus“228, von welchem er das philosophische Denken seiner Zeit beherrscht sieht. Er tut dies in Form eines Briefromans, der in bilderreicher Sprache von der Wahrheitssuche zweier junger Freunde handelt. Während der eine, Julius, sich für ein Studium der Philologie und Geschichte entscheidet, wendet sich der andere, Guido, der Theologie zu. Die Neologen und Supranaturalisten, bei denen Guido studiert, vermögen seinen Erkenntnisdurst jedoch nicht zu stillen, und so vertieft er sich stattdessen in die Systeme Spinozas, Schellings und Schleiermachers. Die Wahrheit, auf die er hier stößt, befriedigt zwar den Verstand, doch ist es keine Wahrheit „für die Menschen“229. Denn die Logik der spekulativen Systeme vernichtet den Menschen, ja, so kann Tholuck ganz ähnlich wie Adorno formulieren, sie frisst ihn auf und mit ihm Gott und die Welt. Guido „erkannte es nur zu klar, daß das Ende aller Speculation sei Läugnung alles bestimmten Seyns.“ 230 In
226
SCHWEPPENHÄUSER, Dialektik, 177. Vgl. zum Folgenden AXT-PISCALAR, Freiheit, 6–25; WENZ, Versöhnung, 401–411; DERS., Theologie, 251–264. 228 AXT-PISCALAR, Freiheit, 7. 229 THOLUCK, Lehre, 8. 230 THOLUCK, Lehre, 5. 227
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Zweiter Teil
der „Hölle des Pantheismus“231 lösen sich alle Unterschiede auf, hier „war alles bestimmte Seyn ein Schatten, den Niemand wirft, ein Echo, das Niemand ruft.“232 Während Guidos Verstand sich dem Sog der Syllogismen nicht zu entziehen vermag, pocht sein Herz auf eine andere Wahrheit. In der Brust ist die Erinnerung an ein „Du und Ich“ aufbewahrt, jenes „Urgefühl des Lebens, welches keine unbedingte Allgemeinheit zu gewähren vermochte.“233 Es ist dieser Streit zwischen dem Pantheismus der Spekulation und der persönlichen Gottesbeziehung des Herzens,234 an dem Guido verzweifelt und der ihn zuletzt in eine „trostlose Skepsis“235 fallen lässt. In diese Situation hinein schreibt ihm sein Freund Julius, berichtend von einem alles verändernden Ereignis, seiner Wiedergeburt, und von dem Entschluss, künftig ebenfalls Theologie studieren zu wollen. Euphorisiert erklärt er seinem zweifelnden Freund: „Guido! Es giebt eine Wahrheit, eine heilige Wahrheit, die auch nicht da ist, um bespekuliert, sondern um genossen zu werden; das sagt Dir der, welcher sie genossen hat.“236 Der Weg zur Wahrheit führt jedoch nicht über die philosophischen Systeme, sondern er führt hinab „in das tiefe Grauen der eignen Brust“237. Julius fordert Guido zur schonungslosen Selbsterforschung auf. Er soll sich fragen, woher das Böse kommt. Die Pantheisten lehren, dass es seinen Ursprung in Gott hat. Es ist nichts Positives, sondern lediglich ein Mangel, der im Laufe der göttlichen Entwicklung aufgehoben wird. Das Böse ist nichts weiter als eine notwendige Durchgangstufe in der Selbstentfaltung des Absoluten, eine Episode im göttlichen Leben. Die heilsame Erkenntnis besteht nach Julius demgegenüber in der Erkenntnis, dass weder Gott das Böse geschaffen hat, noch dass es als ein zweites Prinzip ewig neben Gott besteht, sondern dass es in einer freien Tat des Menschen,238 in seiner sündhaften Abwendung von Gott wurzelt. Julius’ Pointe lautet: Erkennt der Mensch, dass er Sünder ist, dann erkennt er seine Freiheit im 231
THOLUCK, Lehre, 30. THOLUCK, Lehre, 6. 233 THOLUCK, Lehre, 6. 234 Zur Bedeutung des Herzens bei Tholuck vgl. WENZ, Versöhnung, 407, Anm. 34. 235 THOLUCK, Lehre, 8. 236 THOLUCK, Lehre, 8. 237 THOLUCK, Lehre, 26. 238 Tholuck spricht in diesem Zusammenhang von „formelle[r] Freiheit“ (THOLUCK, Lehre, 114f., Anm.), die er von der realen Freiheit unterscheidet. Während diese meint, dass der Mensch entsprechend seiner Bestimmung oder seinem Wesen handelt, bezeichnet jene die Möglichkeit der Abweichung, des „Anderskönnen[s]“ (ebd., 115). Mit der formellen Freiheit wird also Kontingenz eingeräumt; erst sie kann tatsächlich eine Freiheit des Menschen genannt werden und ihretwegen ist das Auftreten der Sünde letztlich nicht zu erklären. Die Möglichkeit formeller Freiheit hat die Unterscheidung von Gott und Mensch, von Schöpfer und Geschöpf zur Voraussetzung. Tholuck bemerkt: „Diese formelle Freiheit ist die von den verschiedenen Systemen des Pantheismus nicht zugestandene“ (ebd.). Vgl. zur Unterscheidung von realer und formeller Freiheit AXT-PISCALAR, Freiheit, 18f. 232
III. Identitäsdenken und Individualität
153
Gegenüber zu Gott, dann erschließt sich ihm genau jene Ich-Du-Beziehung, an die sein Herz ihn gemahnt. In diesem Sinne ist der „erkenntnistheoretische[] Grundsatz“239 zu verstehen, den Julius an den Anfang seines Briefes stellt: „nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis macht die Himmelfahrt der Gottes-Erkenntnis möglich.“240 In der Erfahrung des Bösen zeigt sich, dass auch die Selbständigkeit des Menschen kein bloßer Schein ist.241 „Denn in der Sünde des Menschen manifestiert sich dessen individuelle Freiheit, wenn auch im Modus radikaler Verselbständigung gegen Gott.“242 Entsprechend geht es im Christentum um ein rechtes Verständnis menschlicher Selbständigkeit im Gegenüber zu Gott, einer Selbständigkeit, die der Sünder nur im verzerrten Modus radikaler Verselbständigung erfährt. Im Unterschied zum Pantheismus zielt die christliche Religion also auf eine Korrektur (verstanden als Gewinnung) menschlicher Selbständigkeit, keineswegs aber auf ihre Überwindung. An der Erkenntnis der eigenen Freiheit (gewonnen im Eingeständnis ihres Missbrauchs, nämlich durch die Einsicht, selbst der Grund des Bösen zu sein), hängt für den Menschen dann auch die Erkenntnis des persönlichen Gottes. Und genau diese christliche Grundannahme, dass einer menschlichen Person ein persönlicher Gott gegenübersteht, geht im Pantheismus verloren. „Es fällt mit der Annahme, daß Gott auch der Grund des Bösen und das Böse selbst nur Mangel sei, es fällt damit – unsere Persönlichkeit, wie Gottes!“243 Weil Tholuck in seinem Briefroman davon ausgeht, dass die rechte Gotteserkenntnis (Gott als das liebende und erlösende Gegenüber) von der rechten Selbsterkenntnis (der Menschen als hilfsbedürftiger Sünder) abhängig ist, kann er mit Wagner als ein Vertreter der positionellen Theologie bezeichnet werden. Ohne diesen Begriff zu verwenden, hat G. Wenz dies in seiner Tholuck-Interpretation deutlich gemacht. Auch Tholuck geht von einer inhaltlichen Bestimmtheit des Selbstbewusstseins aus: es ist die „Selbsterkenntnis des Sünders“, die er „zur Grundlage der Gotteserkenntnis erklärt.“244 Tholucks Gott ist der Gott des Sünders; dessen „Selbsterfahrung“, so Wenz mit einer Formulierung, die an Wagner erinnert, „avanciert damit zum Mediati239
AXT-PISCALAR, Freiheit, 13. THOLUCK, Lehre, 8. 241 An dieser Erfahrung müsste denn auch alle Spekulation zerbrechen. Die Idealisten indes wissen sich zu helfen: „Wie es Philosophen gab, welche um ungestörter der Contemplation zu leben, ihre Augen sich ausgruben […], so sticht sich so häufig der Speculant, damit seines eignen Gehirnes Ausgeburten wahr bleiben, beide Augen der Erfahrung aus.“ (THOLUCK, Sünde, 29). 242 AXT-PISCALAR, Freiheit, 10. Vgl. ebd., 8: Die „Sündenerkenntnis dient zur Vergewisserung der eigenen Freiheit, wenn auch im Modus ihrer Verkehrung als Grund des Bösen.“ Vgl. auch ebd., 24f. 243 THOLUCK, Lehre, 10. 244 WENZ, Versöhnung, 406. 240
154
Zweiter Teil
sierungsprinzip alles religiös-theologischen Gehalte.“245 In besonderer Weise tritt bei Tholuck das Subjekt der Religionstheologie hervor: das fromme Individuum;246 in besonderer Weise zeigt sich daher bei ihm auch die Kehrseite positioneller Theologie, auf die in diesem Zusammenhang auch Karl Barth aufmerksam gemacht hat. Theologie sei bei Tholuck „Beschäftigung mit sich selbst, theologische Darbietung durchaus Selbstdarbietung“247. Tholuck hält dem pantheistischen Denken seiner Zeit also entgegen, dass aus christlicher Sicht Gott und die Religion um des einzelnen Menschen willen da sind.248 Anders als die Philosophie weiß die Religion um die Bedürfnisse des Menschenherzens. In dieser Betonung der funktionalen Seite des Gottesgedankens besteht Tholucks Verdienst.249 Zugleich gefährdet er damit Gottes Status als den Allbedingenden. Tholuck scheint von der denkerischen Unvereinbarkeit von Gottes Absolutheit und der Idee einer persönlichen Gottesbeziehung ausgegangen zu sein. Hegel zumindest weist in der Vorrede seiner Enzyklopädie darauf hin, dass Tholuck hier vor einem Dilemma zu stehen meinte: „Der Verstand könne, so sagt er [Tholuck], nur auf folgende zwei Arten schließen: „entweder gebe es einen Alles bedingenden Urgrund, so liege auch der letzte Grund meines selbst in ihm, und mein Seyn und freies Handeln seyen nur Täuschung; oder ich bin wirklich ein vom Urgrund verschiedenes Wesen, dessen Handeln nicht von dem Urgrunde bedingt und bewirkt wird, so ist der Urgrund kein absolutes, alles bedingendes Wesen, also gebe es keinen unendlichen Gott, sondern eine Menge Götter u.s.f.“250
Wagner geht mit Hegel davon aus, dass die genannte Alternative nur eine für das Verstandesdenken ist. Es ist seines Erachtens das Spezifikum des christlichen Gottesgedankens, Gottes Absolutheit mit der Freiheit des Individuums
245 WENZ, Versöhnung, 408. Vgl. AXT-PISCALAR, Freiheit, 8: Bei Tholuck rücke das Sündenbewusstsein „in die Funktion ein, das die theologischen Inhalte konstruierende Prinzip zu sein.“ Vgl. zur Kritik an Tholuck auch ebd., 24. 246 „Das Wichtigste in Gegenwart und Geschichte der Religion ist für die Erweckungsbewegung demgemäß das Individuelle“ (WENZ, Versöhnung, 409). 247 WENZ, Versöhnung, 408. 248 So fragt Tholucks Guido die Pantheisten: „Kann auch der Mensch eine Wahrheit suchen und lieben, die ihn vernichtet?“ Kriterium der Wahrheitssuche ist also, dass sie dem einzelnen Menschen als seine Wahrheit einzuleuchten vermag. Entsprechend ist vom jungen Tholuck folgende Bitte an Gott überliefert: „Mache mich glücklich! In der Weise, wie du willst; du wirst es am besten wissen, aber so glücklich, daß ich mich selbst auch für glücklich halte.“ Zitiert bei AXT-PISCALAR, Freiheit, 9, Anm. 15. 249 Zu dieser Betonung des funktionalen Aspekts vgl. mit Blick auf die Versöhnungslehre AXT-PISCALAR, Freiheit, 8f. 250 HEGEL, Enzyklopädie, 8f., Anm. Der Hinweis auf Hegels Kritik an Tholuck findet sich bei PANNENBERG, Bedeutung, 95.
Fazit
155
zu versöhnen. Genau in diesem Sinn interpretiert Wagner die Trinitätslehre. Ob und wie das gelingt, wird sich im dritten Teil zeigen.251
Fazit Fazit
Wagner hält den Unterschied zwischen dem objektiven Gottesgedanken und der subjektiven Gottesvorstellung für nicht hintergehbar. Während die Religionstheologie Gott auf die subjektive Gottesvorstellung reduziert und damit aus einem Gott viele Götter macht, will die Wort-Gottes-Theologie dem objektiven Gottesgedanken – der Sache der Theologie – zu seinem Recht verhelfen. Dieses Ansinnen teilt Wagner, ebenso wie die Annahme, dass die Darstellung des Gottesgedankens, soll es sich denn um den Gottesgedanken handeln, nur als dessen Selbstdarstellung geschehen kann. Wagner vertritt sodann die These, dass die Wort-Gottes-Theologie den Gottesgedanken mit dem Gedanken der Freiheit, genauer: der Autonomie identifiziert. Dadurch ist es ihm möglich, in ihr eine spezifisch neuzeitliche Theorie zu erblicken. Den Gedanken, dass sich auch die Theologie des 20. Jahrhunderts dem Zentralbegriff der Neuzeit, der Autonomie, verpflichtet weiß, ja, dass sie es erst in diesem Jahrhundert unternimmt, ihn radikal, d.h. an sich selbst, zu erfassen, findet Wagner bei Trutz Rendtorff.252 Für Wagner ist das 20. Jahrhundert insgesamt das Zeitalter radikaler Theorien, solcher Theorien also, deren Gegenstand die alles bestimmende Wirklichkeit, das allgemeine, absolute Subjekt ist. Modelle absoluter Selbstbestimmung, die Wagner beschreibt, sind die Idee einer Nation überhaupt im Nationalsozialismus und die Institutionentheorie Gehlens; in vergleichbarer Weise entwirft Adorno das Bild einer vom Tauschprinzip beherrschten Gesellschaft. In der Durchsetzung allgemeiner Freiheit im 20. Jahrhundert erblicken beide, Wagner und Adorno, einen bedrohlichen Vorgang. Denn sie geht einher mit der Ausschaltung individueller Freiheit. Die Partizipation am herrschenden Subjekt ist für den Einzelnen gleichbedeutend mit dem Verschwinden in einer anonymen Masse. Dies ist der Kontext, in den Wagner nun auch die Theologie Karl Barths als des wirkmächtigsten Repräsentanten der Wort-Gottes-Theologie einordnet. Barths Gott: ein Gewaltherrscher, allein dem Identitätsprinzip verpflichtet; Barth: ein Pantheist und als solcher ein Kind seiner Zeit. Das sind die „wil251
In vergleichbarer Weise formuliert auch Axt-Piscalar, „daß die Trinitätslehre als christlich religiöse Rede von Gott, indem sie trinitarisch über Gott redet, diesem die Ehre gibt und zugleich zur Ehre des Geschöpfs gereicht“ (AXT-PISCALAR, Entzauberung, 479; Hervorhebung MS). Die Pointe der Trinitätslehre bestehe gerade in der Anerkennung des Geschöpfs durch den Schöpfer; zur Bedeutung Tholucks in diesem Zusammenhang vgl. ebd., 481, Anm. 19. 252 Vgl. RENDTORFF, Autonomie; DERS., Theologie.
156
Zweiter Teil
de[n] Thesen“, mit denen sich Wagner einem Kritiker zufolge in der theologischen Zunft „zu profilieren“ suchte.253 Zunächst scheint es so, dass Wagner einen scharfen Gegensatz zwischen der Theologie Barths und der Religionstheologie behauptet: hier die Freiheit des singulären Subjekts, dort die Freiheit des allgemeinen Subjekts, oder, wie Rendtorff mit Blick auf den Römerbrief bemerkt: „nicht die Freiheit und Autonomie des Menschen, sondern die Freiheit und Autonomie Gottes“254 wird behauptet. Hier Pluralisierung, dort Entdifferenzierung. In dieser Sichtweise erscheint die dialektische Theologie als ein Rückfall hinter die Errungenschaften der Aufklärung. Dieser Rückfall aber, und das ist die eigentliche Pointe, liegt nach Wagner im Freiheitsverständnis der Aufklärung selbst begründet. Im vermeintlichen ‚Rückfall‘ wird lediglich offenbar, dass Fortschritt der Aufklärung ein scheinbarer war. So bestimmt Adorno „die zivilisierende Moderne […] in ihrem Kern als Barberei“255. In den Gräueltaten des 20. Jahrhunderts tritt dieser Kern offen zutage, sie zeigen an, dass die Barbarei, das „Gegenprinzip“ der Aufklärung, tatsächlich „das geheime Grundprinzip [noch] der modernen Gesellschaft“ ist.256 Diese These, dass nämlich im 20. Jahrhundert sich die Wahrheit der Aufklärung enthüllt, eröffnet eine Möglichkeit, Wagners Sicht auf die neuzeitliche Theologiegeschichte zu rekonstruieren. Die dialektische Theologie sagt dann etwas über die Religionstheologie. Sie zeigt auf, dass deren Subjekt, das autonome Individuum, derselben Logik folgt wie der vormoderne Gottesgedanke. Freiheit bedeutet hier: nicht durch anderes bestimmt werden.257 Entsprechend duldet der Gott, wie ihn etwa die altprotestantische Theologie zur Darstellung bringt, kein anderes selbständiges Subjekt neben sich. Die Grundbewegung des religiösen Bewusstseins, welches das Zusammensein mit diesem Gott intendiert, ist denn auch die Selbstnegation. Im Hintergrund steht die Annahme eines Gegensatzes von Gott und Mensch; eine Bestimmung Gottes durch den Menschen wäre eine Infragestellung seiner Freiheit, ein Vorgang der Fremdbestimmung. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist ausschließend oder negativ. Der Glaube ist Gottesbewusstsein (Genitivus subjectivus) und als solches kein menschliches Wissen. Auch die positionelle Theologie ist weiterhin von einer solchen Logik der bloß negativen Bezugnahme auf anderes bestimmt. Das christliche Selbstbewusstsein ist entweder das fromme oder das moralische oder das erweckte. Die Folge ist der von Wagner im Anschluss an Rössler beschriebene Zustand der Konkurrenz. Ihm liegt die An253
KRÖTKE, Rezension, 301. RENDTORFF, Autonomie, 164. 255 MILLER/SOEFFNER, Modernität, 16. 256 MILLER/SOEFFNER, Modernität, 16f. 257 Oder positiv formuliert: Nur durch sich bestimmt zu sein. Vgl. dazu auch die Bemerkungen zum Freiheitsbegriff Hegels in der Einleitung, s.o. S. 2. 254
Fazit
157
nahme zugrunde, dass Gott nur einer bestimmten menschlichen Bewusstseinsform erscheinen kann. Die verschiedenen Religionstheologien beanspruchen jeweils für sich, diese Bewusstseinsform zu explizieren. Barth will nun nicht eine weitere subjektive Variante des menschlichen Gottesbewusstseins präsentieren, sondern er möchte das menschliche Gottesbewusstsein an sich selbst entfalten. Barth leugnet also keineswegs, dass Gott nur in der Weise menschlichen Gottesbewusstseins zugänglich ist; er identifiziert es nur nicht länger mit diesem oder jenem konkreten menschlichen Bewusstsein, sondern meint stattdessen, die objektive (allgemeine) Variante des menschlichen Bewusstseins von Gott zu thematisieren, indem er sie aus dem Gottesgedanken selbst ableitet. Damit ist das Vorhaben seiner Christologie benannt. Ebenso wie die Religionstheologen will Barth das eine menschliche Gottesbewusstsein zur Darstellung bringen. Anders als diese leugnet er aber, dass es mit dem Gottesbewusstsein irgendeines Individuums identisch sein könnte; vielmehr bringt er es kritisch gegen jede menschliche Individualität in Stellung. Die Logik des „Differenzschemas Evangelium/Glaube und Religion“ 258, von der Barth sich leiten lässt, ist also wiederum eine der bloß negativen Bezugnahme: das Gottesbewusstsein des Sohnes schließt alle anderen menschlichen Zugangsweisen zu Gott von sich aus und mit ihnen die Pluralität und Individualität, welche für die Religionstheologie kennzeichnend waren. Die Grundannahme der Religionstheologie, dass Gott nur in einer bestimmten Bewusstseinsform gegenwärtig ist, gelangt in Barths Christologie rein zur Darstellung. Damit akzeptiert Barth die religionstheologische Unterscheidung zwischen Gott und dem menschlichen Gottesbewusstsein; das abstrakte Gegenüber von Gott und Mensch, das für das vormoderne Gottesbild signifikant ist, wird von Barth dadurch überwunden, dass er das menschliche Gottesbewusstsein mittels der Trinitätslehre in den Gottesgedanken integriert. Die Trinitätslehre scheint so dafür zu sorgen, dass das Zusammensein von Gott und Mensch nicht länger als menschliche Selbstaufgabe beschrieben werden muss, insofern der Mensch bereits als solcher zu Gott gehört. Allerdings tut sich bei Barth sogleich ein neuer Gegensatz auf, oder besser: der alte Gegensatz erscheint bei ihm im neuen Gewand: neben dem zu Gott gehörigen Menschen (dem schwachen, innertrinitarischen Anderssein) steht unvermittelt der wirkliche Mensch (das starke Anderssein). Und Barth vermag das starke Anderssein nun nur so in seine Theologie aufzunehmen, dass er es mit dem schwachen Anderssein gleichschaltet. Darin zeigt sich auch Barth trotz aller Rede von einer Menschwerdung Gottes noch vom Gegensatzdenken der Religion beherrscht. Denn mit der Gleichschaltung des wirklichen Menschen wird genau die Negation vollzogen, die die Eigenart des religiösen Bewusstseins ausmacht. In der Analyse der Struktur des religiösen Bewusstseins hatte sich gezeigt, dass Gott durch den Akt der Selbstnegation bedingt ist. Eben 258
WAGNER, MM, 67.
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Zweiter Teil
dieses Argument macht Wagner auch gegen Barth geltend: Barth kann nur deshalb das menschliche Gottesbewusstsein in seine Theologie integrieren, weil er dabei den Unterschied zwischen dem allgemeinem und dem individuellen Gottesbewusstsein ausblendet. So wie Hegel nach Adorno das besondere Ereignis nur dadurch in seine Philosophie aufheben kann, dass er es mit der Kategorie der Besonderheit identifiziert, so kann Barth laut Wagner nur deshalb von der Menschwerdung Gottes reden, weil er den je besonderen Menschen mit dem allgemeinen Christus gleichsetzt. Damit lässt sich auch Barth noch von der Vorstellung leiten, dass der Mensch nicht als solcher, sondern nur in seiner Identifikation mit Christus, der in seinem totalen Gehorsam Gottes totale Herrschaft spiegelt, bei Gott sein kann. Auch Barth vermag in Gott nicht wirklich eine Differenz zu akzeptieren, denn die Bestimmung von Gottes innertrinitarischem Gegenüber ist vollständig aus seiner Bestimmung als Herr abgeleitet. Barth versucht den objektiven Gottesgedanken mit dem subjektiven Gottesbewusstsein zu vermitteln, konzipiert die Einheit von Gott und Mensch jedoch so, dass das menschliche Gottesbewusstsein seine Selbständigkeit aufgeben muss. Umgekehrt unternimmt die Religionstheologie eine solche Vermittlung vom Menschen aus, hier geschieht sie jedoch auf Kosten der Selbständigkeit des Gottesgedankens. In beiden Fällen wird man mit Adorno urteilen müssen, dass die Theologie ‚parteiisch für die Einheit‘ ist. An die Stelle wirklicher Differenz setzt Barth die „Einheit des bloß in sich differenzierten Wortes Gottes“259; aufgrund dieser Dominanz der Einheit kann Wagner mit Blick auf Barth von einem trinitarischen Pantheismus reden. In vergleichbarer Weise spricht Pannenberg von einem christlichen Theismus, der gleichsam die christliche Variante des „idealistischen Konzepts[s] einer Selbstentfaltung Gottes“ präsentiere. Die Trinitätslehre bezeichne hier die Aufbauelemente der „welttranszendenten Subjektivität“ Gottes. Damit ist ihr Thema aber gerade nicht die Vermittlung von Gott und Welt; Gott vollzieht seine Selbstentfaltung jenseits der Welt und hat an dieser weiterhin seine Grenze. Barth will nach Wagner zwar eine Grenzüberschreitung, ein Zur-Welt-Kommen Gottes denken, dies gelingt ihm jedoch nur, indem er die Welt mit dem schwachen Anderssein Gottes gleichschaltet. Dass Gott zur Welt kommt, verändert also nicht Gott, sondern nur die Welt. Wichtig ist: Die Veränderung der Welt erscheint damit als eine Bedingung der Menschwerdung Gottes. In gleicher Weise ist Barths Abstraktion von der eigenen konstruktiven Tätigkeit die Bedingung dafür, dass seine Theologie im Gestus der Objektivität auftreten kann. Die Wort-Gottes-Theologie ist nach Wagner ebenso wie die Religionstheologie einem bestimmten Freiheitsverständnis verhaftet, dessen Kritik und Überwindung das Thema des nächsten Kapitels (Teil 3, Kap. I) ist. Zugleich 259
WAGNER, MM, 60.
Fazit
159
sind mit Schleiermachers Bemühungen um eine Begründung individueller Freiheit und Barths methodischem Ausgang von der Selbstoffenbarung Gottes Elemente benannt, die bei einer theologischen Theorie individueller Autonomie zu berücksichtigen sind. Um deren Entfaltung wird es in der zweiten Hälfte der Arbeit gehen. Zum Abschluss der ersten beiden Teile bietet es sich an, einige kritische Rückfragen an Wagner zu stellen. Ein Problem, das aufgrund der Fragestellung dieser Arbeit ausgeklammert wurde, sei an dieser Stelle zumindest kurz genannt. Immer wieder wird Wagner mit dem Vorwurf konfrontiert, dass seine Interpretationen den behandelten theologischen Positionen nicht gerecht würden. So kann Katrin Mette über Wagners Auseinandersetzung mit Schleiermachers Dialektik urteilen, dass es sich hierbei um eine „methodisch und inhaltlich fragwürdige Interpretation von Schleiermachers erkenntnistheoretischem Hauptwerk“ handle, was vor allem „mit Wagners hegelianisierendem Blickwinkel auf die ‚Dialektik‘ zusammenhängt.“260 In vergleichbarer Weise meint Hermann Fischer, Wagner unterwerfe Schleiermachers Theorie des Gefühls „einer fremden Erwartungshaltung und Betrachtungsweise“261. Mit Blick auf die Wort-GottesTheologie wiederum weist Ulrich H.J. Körtner darauf hin, dass Wagner nicht hinreichend zwischen den verschiedenen Positionen, die dieser Begriffe umfasse, differenziere. „Pauschalurteile werden weder der Diskussionslage innerhalb der Barth- und Bultmann-Tradition noch der gegenwärtigen Krise in Theologie und Kirche gerecht.“262 In der Tat kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Wagners Umgang mit den Positionen, die er innerhalb des theologiegeschichtlichen Entdeckungszusammenhangs behandelt, nicht ganz frei von ‚gleichschaltenden‘ Tendenzen ist. Einerseits hat das sicher damit zu tun, dass Wagner die neuzeitliche Theologiegeschichte mit hegelschen Kategorien rekonstruiert,263 andererseits scheint das Ziel, mit dem er sich einer theologischen Position zuwendet, tatsächlich weniger deren angemessenes Verständnis zu sein, als vielmehr der Nachweis, dass auch sie Ausdruck eines aporetischen Freiheitsverständnisses ist. 260
METTE, Selbstbestimmung, 153f. FISCHER, Theologie, 257. Vgl. auch die Bemerkung ebd., 258, dass Wagner „Ansatz und Intention der Theologie Schleiermachers“ verfehle, weil er an die Stelle der Unmittelbarkeit die Produktivität des religiösen Gefühls setze. 262 KÖRTNER, Sache, 159. Eine zu schematische Rekonstruktion der Theologiegeschichte kritisiert auch Martin Berger (vgl. BERGER, Krise, 136f.139). Wenn Berger jedoch Wagner dafür kritisiert, dass dieser den theologiegeschichtlichen Epochenwechsel nach dem ersten Weltkrieg durch das Wirken einzelner Individuen erkläre, anstatt „von einer allgemeinen sozialen Disposition auszugehen, einer Mentalität, einem geistigen Klima, in dem eine solche Theoriebildung entstehen und gedeihen konnte […]“ (ebd., 137), dann übersieht er Wagners Überlegungen zum bestimmenden Prinzip einer Epoche (vgl. dazu in diesem Teil, Kap I). 263 S. dazu unten Teil 3, Kap. III. 261
160
Zweiter Teil
Schwierigkeiten bereitet außerdem Wagners Religionsbegriff. Denn dieser ist sehr eng gefasst, so dass sich z.B. polytheistische Formen von Religiosität mit ihm nicht erfassen lassen.264 Zudem gewinnt Wagner seine Beschreibung des religiösen Bewusstseins nicht aus der Beobachtung gelebter Religion,265 sondern bestimmt es stattdessen im Anschluss an Hegel als unmittelbares Wissen oder als vorstellendes Bewusstsein. Auch wenn sich dieses Verständnis von Religion durchaus auf bestimmte Selbstbeschreibungen des christlichen Glaubens beziehen lässt,266 betont es dennoch einseitig dessen kognitive Dimension. Die Folge ist einerseits die Unterbelichtung des „emotionale[n] Aspekt[s] der Religion“267, andererseits eine Abwertung der religiösen Vorstellungen, die Wagner lediglich als Produkte einer defizitären Wissensform wahrnehmen kann.268 Dass Wagner der sinnlichen Sprache des religiösen Bewusstseins keinerlei Eigenwert zugesteht, sondern er sie aufgrund seiner durch Hegel geprägten Perspektive von vornherein nur als „unwahre Form“269 in den Blick bekommt, scheint mir doch ein erheblicher Mangel seiner Konzeption zu sein. Zudem steht dieser Befund in einer Spannung zu Wagners eigentlichem Projekt. Denn Wagner zielt mit seiner spekulativen Theologie ja gerade auf die Begründung der Religion. Weil er aber die Religion als eine defizitäre Wissensform bestimmt, kann er ihre Rechtfertigung nur als ihre Aufhebung denken. Die Aufhebung betrifft dabei nicht allein die vermeintlich falsche Form der Religion, sondern auch ihren Inhalt, den göttlichen Grund.270 Es fragt sich dann aber, ob das schließlich begründete symmetrische Gottesverhältnis überhaupt noch als ein religiöses Verhältnis bezeichnet
264
Vgl. METTE, Selbstbestimmung, 170. So urteilt Dierken über den späten Wagner: „Es ist ein merkwürdiger Kontrast, dass Wagner den Akzent auf die individuell praktizierte Religion und ihre Sozialdimensionen legt, aber deren Artikulations- und Lebensformen kaum thematisiert“ (DIERKEN, Theologie, 96). An der „phänomenalen Beschreibung der religiösen Vollzüge“ (ebd., 97) zeige auch der späte Wagner kein Interesse. Vgl. auch FISCHER, Theologie, 269: „Der angeblich empirische Religionsbegriff entpuppt sich als ein Konstrukt von Religion, aus dem religiöse Urerfahrungen wie etwa Geschöpflichkeit, Geborgenheit, Liebe Gottes und Gnade ausgeklammert sind.“ 266 Vgl. Teil 1, Kap. I.2a und Fazit. 267 HENNING, Nutzen, 195. Henning bezieht dieses Urteil allerdings nur auf den ‚frühen‘ Wagner; in dessen späten Schriften findet er demgegenüber ein Interesse auch an der emotionalen Seite der Religion. 268 Die Kritik an der Form der Vorstellung bildet ein sich durchhaltendes Motiv in Wagners Schriften. 269 WAGNER, Aufhebung [WiTh], 218. 270 Vgl. WAGNER, Aufhebung [WiTh], 218. Wagner meint freilich, dass bei der christlichen Religion diese Aufhebung – verstanden als seine Selbstüberschreitung und Realisierung – „der eigenen Verfaßtheit des religiösen Inhalts“ entspricht (ebd.). 265
Fazit
161
werden kann, dessen Rechtfertigung doch eigentlich der Sinn und das Ziel der spekulativen Bemühungen war.271
271
So macht Körtner darauf aufmerksam, dass Wagner die Rechtfertigung des symmetrischen Gottesverhältnisses „nicht nur mit schroffer Kritik an der Theologie Barths, sondern auch an Schleiermachers Kritik schlechthinniger Abhängigkeit und folglich auch an der von Schleiermacher beeinflussten Kerygma-Theologie der Bultmann-Schule“ verbindet. Und Körtner fährt fort: „Es fragt sich nun aber, ob die in der bisherigen Theologie behauptete Asymmetrie des Gottesverhältnisses lediglich eine dogmatische Setzung oder nicht gerade eine religiöse Erfahrung ist“ (KÖRTNER, Sache, 160; Hervorhebung MS). Ein vergleichbares Problem erblickt Ulrich Barth in Wagners späten Schriften. Es sei nämlich zu fragen, „ob jene [von Wagner] als religiöse Grunderfahrung behauptete Anerkennungspraxis tatsächlich der Selbstauffassung gelebter Religion entspricht oder ob es sich allem empiristischen Pathos zum Trotz dabei doch nur um eine neue normative Idee der Religion handelt“ (BARTH, Umformungskrise, 199). Zwar meint Wagner, dass in dem von ihm begründeten Gottesverhältnis die Religion als negierte aufgehoben sei und dass darin der entscheidende Unterschied zu Karl Barths Konzeption einer wahren Religion bestehe (vgl. dazu in diesem Teil, Kap II.3), dennoch wird man sagen müssen, dass die von Hermann Fischer genannten religiösen Urerfahrungen (vgl. Anm. 265) in dem symmetrischen Gottesverhältnis keinen Ort haben.
Dritter Teil I. Die Ohnmacht des Allmächtigen I. Die Ohnmacht des Allmächtigen
1. Absolute Selbstbestimmung und Subjektivität a) Die Notwendigkeit göttlicher Selbstexplikation Warum braucht es die Theologie? Die Antwort muss nach Wagner lauten: weil es das religiöse Bewusstsein gibt und weil das religiöse Bewusstsein ein Problem hat, das es selbst nicht zu lösen vermag. Das Problem besteht darin, dass das religiöse Bewusstsein seine eigene Intention verfehlt; es will sich auf seinen Grund beziehen, tatsächlich aber bezieht es sich immer nur auf sein eigenes Konzept des Grundes. Da die Religionstheologie der Perspektive des religiösen Bewusstseins verpflichtet ist, besteht für sie keine Möglichkeit, dessen Aporie zu beheben. Von der Schwierigkeit des religiösen Bewusstseins, dass der Grund stets „durch anderes (ab alio)“1 erfasst wird, kommt auch sie nicht los, denn sie rekonstruiert die theologischen Inhalte anhand eines wie auch immer inhaltlich bestimmten Selbstbewusstseins. Durch eine solche Verfahrensweise wird der Grund gerade nicht erfasst, sondern zwangsläufig immer wieder nur verstellt.2 Wenn es nun der Theologie darum geht, die theologischen Inhalte nicht aus der Perspektive eines von ihnen unterschiedenen Bewusstseins, nicht durch anderes, sondern „an sich selbst zu explizieren“3, dann ist das kein Selbstzweck, sondern geschieht gerade um des anderen willen. Die Theologie ist für das religiöse Bewusstsein da; die „Wende zum absoluten Subjekt“4 bedeutet keine Abkehr vom religiösen Bewusstsein, sondern erfolgt, „um dessen Intention zu verwirklichen.“5 Überse1
WAGNER, Christologie [WiTh], 328. WAGNER, Einleitung [RG], 366. 3 WAGNER, Einleitung [RG], 366. 4 WAGNER, WiR, 572. 5 WAGNER, WiR, 574; vgl. ebd., 588f. Vgl. auch WAGNER, Einleitung [WiTh], 24: „Als Wissenschaft erlangt die Theologie allererst dadurch ihre Notwendigkeit, dass sie mit der ebenso lebenspraktischen wie theoretisch-geltungsmäßigen Strittigkeit der Religion konfrontiert ist.“ Das Geschäft der Theologie, „die Bewahrheitung, Überprüfung und (interdisziplinäre) Realisierung der Gehalte“ (WAGNER, Einleitung [RG], 369), bezieht sich also auf die Geltung einer positiven Religion. Eine Religion gilt nicht schon allein deshalb, weil es sie gibt. Wo diese Ansicht dennoch vertreten wird, kann nach Wagner zwischen Glaube und Aberglaube nicht länger unterschieden werden: „Wer allein auf der Ebene des nun einmal Gegebenen diskutiert, verfügt über keine seriösen Argumente, um Religion einer 2
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Dritter Teil
hen zu haben, dass es bei der Selbstexplikation des Grundes um die Begründung des anderen, des religiösen Bewusstseins geht, ist der Vorwurf, den Wagner an die Adresse der Wort-Gottes-Theologie richtet.6 Auf die Religionstheologie und die Wort-Gottes-Theologie folgt daher die theo-logische Theologie, welche, indem sie sowohl dem Grund als auch dem religiösen Bewusstsein Rechnung trägt, die Einseitigkeiten der beiden vorherigen Theologietypen überwinden will. Eine Theologie also, die weder verstellen noch gleichschalten will; es geht, so formuliert es Wagner, um eine „Theorie des Absoluten, die im Ausgang vom an sich selbst begriffenen Absoluten das Gegründetsein bedingten Daseins so denkt, dass dieses außer dem Absoluten in seiner relativen Selbständigkeit bewahrt werden kann.“7 Wie geht Wagner nun vor, wenn er die theologischen Gehalte an sich selbst denken will? Wagner setzt bei der Größe ein, die das religiöse Bewusstsein thematisiert: Gott als dem Grund alles Daseins oder, mit einer anderen bekannten Wendung, Gott als alles bestimmender Wirklichkeit.8 Wagner setzt dabei voraus, dass es sich bei dem Gegenstand, auf den sich der Ausdruck ‚Gott‘ bezieht, um einen Gedanken handelt. Der Gegenstand der Theologie hat demnach nicht die „objektive[] Realität eines Erfahrungsgegenstandes“9. Ist Gott ein Gedanke, dann existiert er nur im Denken; das Denken des Gottesgedankens ist seine Realität.10 Wenn Gott nur im Denken, anderen, und sei’s auch abergläubischen oder obskuren, Lebensbewältigungspraxis vorzuziehen.“ (WAGNER, WiR, 555). 6 „[G]egen K. Barth“ hält Wagner fest, dass der Begründungszusammenhang auf den Entdeckungszusammenhang bezogen bleiben müsse, vgl. WAGNER, Einleitung [RG], 351. Vgl. dazu auch die Kritik, die Wagner in der Religionsmonographie an Barth äußert (s.o. Teil 2, Kap. II.3). 7 WAGNER, WiR, 574. Vgl. auch WAGNER, Religionsphilosophie [RuG], 50; DERS., Theo-Logik [RuG], 68f. Wagner kann diese Intention auch so beschreiben, dass es darum gehe, ein Absolutes zu denken, dessen Selbständigkeit sein Dasein für anderes mit umfasst. Wagner bezeichnet diesen Zielgedanken als „inklusive Selbständigkeit“ (WAGNER, Notwendigkeit [RuG], 129.132). In diesem Bestreben weiß sich Wagner mit W. Cramer einig, dessen Theorie des Absoluten er mit vergleichbaren Formulierungen beschreibt. Vgl. WAGNER, Vernunft, bes. 287; DERS., Cramers Theorie. 8 WAGNER, WiR, 577. Wagner bezieht sich an dieser Stelle auf W. Pannenberg. Zur kritischen Auseinandersetzung Wagners mit Pannenberg und der Rede von Gott als alles bestimmender Wirklichkeit vgl. WAGNER, Wirklichkeit [RG], 211–213. 9 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 67. 10 Vgl. WAGNER, Einleitung [RG], 370: Gott „ist nur, insofern er gedacht wird. Das ist die unaufhebbare Denkart der Moderne. Wenn Gott allein Inhalt ist, insofern er gedacht wird, so besagt das, der Inhalt (Gedanke) Gott ist nur im Denken (Vorstellen) des Inhalts präsent und existent.“ Ebenso WAGNER, Religionsphilosophie [RuG], 54: „das Absolute ist und ‚existiert‘ nur als das Denken seiner Selbstauslegung.“ Vgl. auch die kritische Auseinandersetzung mit Kant hinsichtlich der Realitätsart des Gottesgedankens in: WAGNER, Theo-Logik [RuG], 62ff. (vgl. dazu DRILO, Kritik, 145f.); das Fazit lautet hier: „Der Gottesgedanke hat seine Realität als seine sprachlich-begriffliche Auslegung, die von dem sich
I. Die Ohnmacht des Allmächtigen
165
nur in den Begriffen und den Vorstellungsweisen, mittels derer er erfasst wird, existiert, dann ist zu fragen, welches Denken, welche Begriffe und Vorstellungsweisen dem Gottesgedanken entsprechen. „Dem intendierten gedanklichen Gehalt des Gottesgedankens soll durch die Art des den Gottesgedanken auslegenden Denkens entsprochen werden.“11 Wenn Gott nur im Denken existiert, dann muss sichergestellt sein, dass tatsächlich der Gottesgedanke gedacht wird. Das Denken habe sich, so kann Wagner es auch ausdrücken, im Denken des Gottesgedankens dem Gottesgedanken selber zu unterstellen.12 Wie also muss das Denken beschaffen sein, damit es das Denken des Gottesgedankens ist? Dafür ist zur inhaltlichen Bestimmtheit oder zum Gehalt des Gedankens zurückzukehren. Der Gehalt des Gedankens ist die alles bestimmende Wirklichkeit oder auch das Absolute. Der Gedanke der alles bestimmenden Wirklichkeit impliziert den Gedanken der Selbstbestimmung.13 Ist das Absolute jedoch ein Gedanke, dann existiert es, wie gesehen, nur in seiner Auslegung oder Qualifizierung als Absolutes durch das Denken. Das Absolute erscheint damit als abhängig vom Denken. Wenn die alles bestimmende Wirklichkeit durch das Denken als ein anderes als alles bestimmende Wirklichkeit qualifiziert wird, dann erweist sie sich als fremdbestimmt, was bedeutet, dass das Denken nicht die alles bestimmende Wirklichkeit denkt. Damit das Absolute nicht als abhängig vom Denken, damit es nicht als fremd-, sondern als selbstbestimmt erscheint, darf das Denken dem Absoluten nicht äußerlich sein, es muss sich vielmehr um sein eigenes Denken handeln. Anders gesagt, das Verhältnis von Denken und Gedanke oder von Aussage und Sachverhalt ist im Fall des Absoluten als ein selbstbezügliin begrifflichen Bestimmungen manifestierenden Denken des Gottesgedankens getätigt wird“ (ebd., 71). Zu diesem Zusammenhang vgl. auch AXT-PISCALAR, Religionskritik, 117f. und unten den Abschnitt zu den Gottesbeweisen (bes. S. 220). Der Einwand Pannenbergs, dass Wagner nicht zwischen der Wirklichkeit Gottes und dem Gottesgedanken des menschlichen Bewusstseins unterscheide (vgl. AXT-PISCALAR, Religionskritik, 119), trifft dann natürlich zu; die Vorstellung einer Wirklichkeit Gottes, die der Mensch nicht mit konstituiert, würde nach Wagner allerdings auch eine zu kritisierende Positivität darstellen. Wagners Grundunterscheidung ist nicht die von Wirklichkeit Gottes und menschlichem Gottesgedanken, sondern die von Gottesgedanke und Gottesbewusstsein (Religion). Dass Wagner zuletzt von dem „Unterschied zwischen dem Gedanken Gottes und der Wirklichkeit Gottes eingeholt worden“ sei (so AXT-PISCALAR, ebd., 129), ist m.E. zu bezweifeln. Vgl. nur Wagners Polemik gegen einen „absolut-isolierten Inhalt“ in: WAGNER, MM, 105. 11 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 68. Vgl. die Überlegungen zur „Theorie der Theologie als Entwicklung der an sich selbst erfaßten christlichen Gehalte“ in: WAGNER, Theorie [RG], 141f. 12 WAGNER, Einleitung [RG], 370. 13 WAGNER, WiR, 578. Damit ist „der ‚alte und ehrwürdige‘ Gedanke der Aseität“ zum Ausdruck gebracht (ebd.). Vgl. DIERKEN, Theologie, 87: „Das Absolute steht bei ihm [Wagner] für absolute Selbstbegründung und -bestimmung.“ Der Gehalt des Gottesgedankens ist damit nichts anderes als der „Inbegriff der Freiheit“ (ebd., 88).
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Dritter Teil
ches Verhältnis zu denken; die Qualifizierung des Absoluten kann nur dessen Selbstqualifizierung sein. Soll der Gedanke des Absoluten nicht durch anderes und also widersprüchlich gedacht sein, dann muss gelten: „Der Gedanke des Absoluten, nämlich das Bestimmbare als Selbstbestimmen, muss sich als Begreifen (Begriff, Denken) des Absoluten manifestieren.“14 Die Manifestation des Absoluten in der Form seines Begriffs kann nur dessen Selbstmanifestation sein. Die „einzig notwendige[] Aufgabe“ der Theologie bestehe sonach darin „[d]ie Selbsterfassung des absoluten Subjekts zu denken“15. Zu ihrer Lösung greift Wagner auf Hegels Wissenschaft der Logik zurück. Im dritten und letzten Teil des zweiten Buchs der Logik (der Lehre vom Wesen) behandelt Hegel „die Wirklichkeit“. Warum ist dieser Abschnitt für Wagner von Interesse? Zunächst geht es im Kapitel über die Wirklichkeit um das gerade thematisierte Verhältnis der Reflexion über das Absolute zum Absoluten selbst.16 Zu Beginn des Kapitels ist die Reflexion dem Absoluten „als äußerlich gesetzt“ und in seinem Verlauf geht es dann um die „Internalisierung jener äußeren Reflexion“17. Die Idee ist nun die, dass die Reflexion über das Absolute das Absolute selber ist, dass also die Reflexion über das Absolute die „Selbstmanifestation“ des Absoluten ist, das so „nichts anderes ist als diese ‚Manifestation‘ seiner selbst.“18 Nichts anderes - das besagt, das Absolute ist der Vollzug seiner Selbstmanifestation und das mit aller Konsequenz: „Das Absolute bleibt nicht hinter seinem Sich-Äußern noch zurück, sondern offenbart sich gleichsam rückhaltlos.“19 Das Wirklichkeitskapitel der Wesenslogik ist für Wagner also erstens deshalb von Interesse, weil hier die Kategorie der Selbstmanifestation des Absoluten entfaltet wird, also eben jene Kategorie, welche durch die Bestimmung Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit bzw. absoluter Selbstbestimmung eingefordert wird. Damit bieten die Ausführungen über die Wirklichkeit Wagner die kategorialen Grundlagen für die theologische (nach Wagner: theologisch notwendige) Lehre von der Selbstoffenbarung Gottes.20 Wichtig ist das Wirklichkeitskapi14
WAGNER, WiR, 578; Hervorhebung MS. WAGNER, Einleitung [RG], 351; Hervorhebung MS. Die Selbstmanifestation des Absoluten geschieht also um seiner Selbsterfassung willen. 16 FALK, Die Wirklichkeit, 166. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., 167. Vgl. Reisingers Abgrenzung der Bestimmungen des Seins von denen des Wesens: „Die Bewegungsweise des Seins ist das Werden, die des Wesens […] das Tun. […] Das Sein eines Tuns ist seine Äußerung (Bestimmtheit), vor dieser und ohne diese ist es nicht; es gibt kein Wesen ohne Gesetztsein, denn als diese erst ist es.“ (REISINGER, Voraussetzungen, 174). 20 Vgl. WAGNER, Theorie [RG], 143–145 (§9 Der sich offenbarende Gott). Wagner bestimmt Gott hier als das „Sich-Manifestieren“. Folglich gilt von Gott: „Er manifestiert nur das, was er ist, und was er ist, das manifestiert er“ (ebd., 145). Vgl. auch DERS., Christologie-VL, 347–349. 15
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tel für Wagner aber noch aus einem weiteren Grund. Dieser zweite Aspekt besteht in der These, dass die Manifestation des Absoluten zugleich dessen Transformation bedeutet.21 Wie bereits angedeutet, bildet der Abschnitt über die Wirklichkeit das Ende des zweiten Buchs der Logik. Er beschreibt somit zugleich den Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik. Die Bestimmung des Absoluten, die am Ende der Wesenslogik erreicht ist, ist diejenige der Substanz und die Transformation, die das Absolute im Vollzug seiner Realisierung vollzieht, ist der der Übergang von der Substanz zum Subjekt oder von der Notwendigkeit zur Freiheit.22 Der Bestimmung der Selbstmanifestation des Absoluten wohnt also eine besondere Form der Dialektik inne, und sie ist es, der Wagners besonderes Interesse gilt.23 Wagners These, die er in der Auseinandersetzung mit der hegelschen Logik erarbeitet hat, lässt sich vorläufig so beschreiben: Ist Gott ein Gedanke, dann existiert er nur an der Stelle eines Anderen, an der Stelle desjenigen, der ihn denkt. Das drohende Abhängigkeitsverhältnis kann dann vermieden werden, wenn Gott sich in den Vorstellungen des Anderen selbst manifestiert, sodass sie Gottes Realität sind.24 Dann erfasst nicht ein Anderer Gott, sondern Gott erfasst sich mittels des Anderen selbst. Soll sich Gott tatsächlich durch jene Vorstellungen erfassen, soll er sich in ihnen wirklich haben, dann muss er sich ganz entäußern, darf nichts von sich zurückhalten. Gott ist dann das Sich-Manifestieren, das Setzen eines Anderen, mittels dessen er sich erfasst. Das Andere hat hier nur eine Funktion im Vollzug der göttlichen Selbsterfassung.25 Im Zuge seiner Selbstmanifestation transformiert sich der Gedanke der absoluten Selbstbestimmung jedoch. Das Resultat dieser Transformation ist ein Absolutes, welches selbständiges Anderssein zulässt. Wagners zentrale Behauptung lautet, dass der christliche Gottesgedanke dieser letztgültigen Fassung des Absoluten entspricht. Lässt sich der Gedanke absoluter Selbstbestimmung mit dem monotheistischen Gottesgedanken identifizieren und bedeutet die Freilegung der Manifestationsdialektik zugleich auch die Enthüllung der Wahrheit absoluter Selbstbestimmung, dann könnte man Wagners Intention in Anlehnung an eine Aussage Hegels so zusammenfassen: Die Wahrheit des monotheistischen Gottesgedankens ist der trinitarische Gottesgedanke. Und sieht Wagner den Gedanken der Selbstoffenbarung in besonde-
21
Vgl. ANGEHRN, Freiheit, 62. Vgl. ANGEHRN, Freiheit, 57. 23 Vgl. zur Charakterisierung dieser „Manifestationsdialektik“ SCHÄFER, Dialektik, 307ff., Zitat 307. Vgl. DERS., Hegel, 109ff. 24 Diese hegelsche Grundidee lautet auf den Punkt gebracht: „die Religion ist das Dasein Gottes“ (DRILO, Kritik, 148). Näher entfaltet wird dieser Satz unten im Abschnitt über die Gottesbeweise; siehe in diesem Teil Kap. III.1c. 25 Vgl. DRILO, Kritik, 147: „In ihr [der Wesenslogik] wir das Anderssein zum bloßen Mittel, die eigene Selbständigkeit zu manifestieren.“ 22
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Dritter Teil
rer Weise im Alten Testament ausgebildet,26 dann kann in letzter Zuspitzung formuliert werden: Die Wahrheit des alttestamentlichen Gottes ist der Gott des Neuen Testaments.27 b) Aktive und passive Substanz – die Dialektik der Gewalt Nachdem damit Wagners theo-logisches Programm thesenhaft vorgestellt ist, soll es nun darum gehen, jenen Transformationsprozess, den Gott im Prozess seiner Selbstauslegung durchläuft, nachzuvollziehen. Es geht also im Folgenden um das Scheitern Gottes, insofern er als absolute Selbstbestimmung gedacht wird, ein Scheitern, das zugleich als die Genese des christlichen Gottesgedankens zu begreifen ist.28 Wagner rekonstruiert die Aufhebung absoluter Selbstbestimmung anhand des letzten Abschnitts des Wirklichkeitskapitels (das absolute Verhältnis), welches die drei Relationskategorien Substantialität (Substanz – Akzidentien), Kausalität (Ursache – Wirkung, unterteilt in formelle, bestimmte und bedingte Kausalität) und Wechselwirkung thematisiert.29 Wagner kann die Relationskategorien mit bestimmten Aspekten des alttestamentlichen Gottesbildes parallelisieren, so entspricht der Substantialität der allmächtige Gott und der formellen Kausalität der Schöpfergott, der bestimmten Kausalität korrespondiert der Bundesgott, die bedingte Kausalität schließlich stellt die begriffliche Struktur des gewaltigen Gottes dar. Das Verhältnis der Wechselwirkung markiert bereits den Anfang des christlichen Gottesgedankens.30 Nach einer einleitenden Überlegung werde ich mich im Folgenden auf den letzten Übergang, also den Übergang von der bedingten Kausalität zur Wechselwirkung konzentrieren.31 26
WAGNER, Christologie-VL, 347: „Der alttestamentliche Gottesgedanke zentriert […] im Gedanken des Sich-Offenbarens Jahwes.“ Die Verbindung des alttestamentlichen Gottesgedankens mit der Kategorie absoluter Notwendigkeit findet sich schon bei Reisinger; vgl. REISINGER, Voraussetzungen, 204. 27 Mit den Mitteln der Wesenslogik meint Wagner daher zeigen zu können, „daß der alttestamentliche Gottesgedanke durch eine innere Aporie gekennzeichnet ist, die zu seiner Selbstaufhebung drängt“ (WAGNER, Theorie [RG], 142). 28 Vgl. z.B. die Überschrift des ersten Abschnitts von §8 in Wagners „Einleitung in die theo-logische Theologie“: „1) Die genetische Konstitution des trinitarisch-christologischen Begründungszusammenhangs als Aufhebung der absoluten Notwendigkeit“ (WAGNER, Einleitung [RG], 377). 29 Vgl. FALK, Die Wirklichkeit, 165.171ff. REISINGER, Voraussetzungen, 181ff. TAYLOR, Hegel, 374ff. Es ist vielleicht nicht ganz unwichtig zu bemerken, dass Wagner im Zentrum seiner Theologie auf einen Text rekurriert, der als „die alles entscheidende Passage der ‚Wissenschaft der Logik‘“ bezeichnet worden ist (vgl. FINK-EITEL, Dialektik, 174). 30 Vgl. WAGNER, Theorie [RG], 145–153. WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 345ff. 31 Das entspricht dem Vorgehen Wagners in: WAGNER, Einleitung [RG], 380–385. Den Übergang von der bedingten Kausalität zur Wechselwirkung thematisiert Wagner in einer Vielzahl von Abhandlungen: WAGNER, Theorie [RG], 149–153; DERS., Wirklichkeit [RG], 198–203; DERS., Inhalt [WiTh], 264–267; DERS., Mensch [WiTh], 364–366; DERS., Erwä-
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Die einleitende Überlegung gilt Wagners Hinweis, dass die Selbstmanifestation des Absoluten dessen Selbstteilung erfordert. Zwar ist das Ziel der Selbstmanifestation des Absoluten an der Stelle des Begriffs, dass der Unterschied zwischen dem Absoluten und seinem Begriff aufgehoben ist, dass Inhalt und Form, Gedanke und Denken also identisch sind. Dass sich das Absolute an der Stelle des Begriffs manifestiert, impliziert jedoch ein Tun, eine Bewegung, die zunächst den Unterschied beider Seiten voraussetzt. Der Begriff ist nicht immer schon, er wird vielmehr allererst zum Ort der Selbstmanifestation des Absoluten.32 Soll es sich bei dieser Bewegung wirklich um die Bewegung des Absoluten handeln, dann darf der Unterschied zwischen den beiden Seiten dem Absoluten nicht vorgegeben sein, es muss ihn vielmehr selbst gesetzt haben. Der ‚Ort‘, an dem sich das Absolute manifestiert, der Begriff, durch den es als Absolutes bestimmt wird, muss also aus dem Absoluten selbst stammen. Das Absolute setzt sich sozusagen den Begriff voraus, bestimmt ihn dazu, Ort seiner Selbstmanifestation zu sein.33 Und insofern der Begriff aus dem Absoluten stammt, kann gesagt werden, in der Form des Begriffs bestimmt das Absolute sich, Ort seiner Selbstmanifestation zu sein. Selbstteilung meint also, dass das Absolute ein anderes von sich unterscheidet. Dies muss es tun, damit es sich an der Stelle des anderen manifestieren kann. Das damit besagt zugleich: das andere ist dazu bestimmt, Manifestation des Absoluten zu sein. Selbstteilung heißt aber auch, dass dieses andere letztlich nichts anderes als das Absolute selbst ist. So ist es das Absolute selbst, dass sich dazu bestimmt Manifestation des Absoluten zu sein. Wagner drückt es so aus: „Damit das Absolute zeigen (manifestieren) kann, daß es Selbstbestimmen ist, d.h. seinen Begriff (Selbstbestimmen zu sein) manifestieren kann, muß es das Selbstbestimmen als Selbstbestimmen voraussetzen, nämlich als das Bestimmtsein, Selbstbestimmen zu sein.“34 Das Absolute braucht das Andere, um zeigen zu können, dass es das Absolute ist; damit es sich als das Absolute (als Selbstbestimmen) manifestieren kann, muss das Andere so bestimmt sein, dass es dem Absoluten zu entsprechen vermag, also „als das Bestimmtsein, Selbstbestimmen zu sein.“ Zudem muss – soll das Absolute in seinem gungen [WiTh], 427–431.436–439; DERS., WiR, 580–585; DERS., Religionsphilosophie [RuG], 52f.; DERS., Theo-Logik [RuG], 82f. Vgl. auch MURRMANN-KAHL, Umorientierung, 73, Anm. 16. 32 Die Bestimmung des Begriffs als identisch mit dem Absoluten impliziert den Ausschluss gegensätzlicher Bestimmungen. Diese sind für einen solchen Bestimmungsvorgang also vorausgesetzt. Zu der hegelschen Grundidee, dass Bestimmen ausschließen heißt, vgl. PIPPIN, Logik, 102; vgl. auch DIERKEN, Theologie, 91. 33 Die Rede von der Selbstunterscheidung dient also dazu, den Menschen bzw. die Welt auf ihre Funktion für Gott hin durchsichtig zu machen. Es ist die Bestimmung der Welt, eine Gottesvorstellung auszubilden und dadurch Gott zu realisieren. 34 WAGNER, WiR, 579.
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Dritter Teil
Status als Absolutes nicht gefährdet werden – von diesem Anderen, das dazu bestimmt ist, Selbstbestimmen zu sein, gezeigt werden können, dass es erstens „nichts anderes als das Selbstbestimmen selber ist“ und dass es zweitens „dem Selbstbestimmen selber entstammt.“35 Wagners Fazit lautet daher: „Gott als absolutes Selbstbestimmen ist nur aufgrund seiner internen Selbstdifferenzierung erfaßbar, eine Selbstdifferenzierung, die von dem sich selber differenzierenden Selbstbestimmen beherrscht ist, für das aber die Auslegung als Differenz zugleich konstitutiv ist.“36
Zu klären ist nun, warum der Gottesgedanke, wenn er als absolute Selbstbestimmung gedacht wird, zum Scheitern verurteilt ist. Dies expliziert Wagner, wie gesagt, anhand des Übergangs von der bedingten Kausalität zur Wechselwirkung. Die bedingte Kausalität beschreibt das Verhältnis von Wirkung und Gegenwirkung; dieses entspricht der Struktur der Gewalt.37 Das besondere an der bedingten Kausalität ist, dass sie (anders als die vorherigen Relationskategorien, also Substantialität, formelle und bestimmte Kausalität) das Verhältnis zweier selbständiger Größen, das Verhältnis von zwei Substanzen thematisiert. „[F]ür die Kausalität des Gewaltverhältnisses [ist] signifikant, daß die Stellen von Ursache und Wirkung durch Substanzen (selbständige ‚Individuen‘) besetzt werden, die zueinander im Verhältnis von Aktivität und Passivität, von aktiver und passiver Substanz stehen. Von Gewalt kann sonach nur dort gesprochen werden, wo nicht bloß der Gewalt verursachende Akteur, sondern ebenso das Gewalt erleidende ‚Element‘ von substanzhafter, d.h. selbständiger, Verfaßtheit ist.“38
Der erste Schritt besteht nun darin, dass die eine auf die andere Substanz wirkt. Dadurch zeigen beide, was sie sind: Die aktive Substanz manifestiert sich als aktive Substanz, die passive als passive. Beides bildet sich ab an der Veränderung, die die passive Substanz erfährt: sie wird in ihrer Selbständigkeit negiert, ihr neuer Zustand verdankt sich ganz dem Wirken der aktiven Substanz.39 Das heißt aber auch: Die aktive Substanz wird als aktive Substanz lediglich vermittelt erfahrbar, nämlich als das Entstehen einer passiven Substanz. Man könnte auch sagen: die aktive Substanz hat ihre Realität nicht
35
Ebd. WAGNER, WiR, 580. 37 Zum Folgenden ist v.a. zu vergleichen: REISINGER, Voraussetzungen, 232–245.265ff. 38 WAGNER, Erwägungen [WiTh], 428. Wagner folgert daher: „Die Vorstellung einer ‚Gewalt gegen Sachen‘ nimmt sich angesichts dieser Gewaltstruktur als Unbegriff aus“ (ebd.). 39 Als Illustration mag folgendes Beispiel Reisingers hilfreich sein: „Das dem Hammerschlag gegenüber bestehende selbständige und passiv gleichgültige Anderssein der Wand […] wird durch jenen aufgehoben, gerät in Bewegung, wird verändert.“ (REISINGER, Voraussetzungen, 234). 36
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anders denn als passive Substanz.40 Auf einer ersten, gewissermaßen oberflächlichen Ebene sieht es also so aus: Eine Substanz übt auf eine andere Macht oder Gewalt aus und erfährt sich in den Veränderungen, welche die andere erleidet, als Macht bzw. Gewalt. In der Passivität der einen spiegelt sich die Aktivität der anderen Substanz. Wagners Grundthese ist nun aber die: durch diesen Vorgang wird die passive selbst zur aktiven Substanz. Diese These ist nur zu verstehen, wenn man auf den oben eingeführten Gedanken der Selbstteilung zurückgreift. Das Verhältnis von aktiver und passiver Substanz ist dann nur scheinbar das Verhältnis zweier selbständiger Größen. Denn es ist die aktive Substanz, die, um sich als aktive Substanz manifestieren zu können, sich als passive Substanz voraussetzt. An sich ist die passive Substanz also keineswegs selbständig, sondern für das Wirken der aktiven Substanz gesetzt. Damit ist gewissermaßen die Wahrheit der passiven Substanz formuliert; es ist ihr Begriff, ihre Bestimmung, „fremd gesetzt (ab alio)“41 zu sein. Durch das Wirken der aktiven Substanz realisiert die passive Substanz ihre Bestimmung, kommt sie zu sich selbst.42 Zu sich selbst kommen heißt, die Identität der passiven Substanz wird ersichtlich: sie ist die Voraussetzung für das Wirken der aktiven Substanz.43 Ohne die passive Substanz vermag sich die aktive Substanz nicht als das, was sie ist, zu manifestieren. Gilt also auf den ersten Blick, dass die passive Substanz ihre Identität dem Wirken der aktiven Substanz verdankt, so wird jetzt offenbar, dass es ebenso die passive Substanz ist, welche die Identität der aktiven Substanz ermöglicht. Weil sie die aktive Substanz allererst 40 REISINGER, Voraussetzungen, 271: „Jede Ursache als Aktivität, Tun, Setzen, Scheinen, Wirken hat wesentliches Dasein erst als Passivität, Tat, Gesetztsein, Schein, Wirkung.“ 41 WAGNER, Einleitung [RG], 380. 42 Wagners Formel dafür lautet: „Sie [die passive Substanz] wird als Gesetztsein (das sie schon ist) gesetzt“ (WAGNER, Einleitung [RG], 380). Vgl. dazu auch die entsprechenden Formulierungen im Christologie-Aufsatz (WAGNER, Christologie [WiTh], 338)! In diesen Kontext gehört auch jene leicht seltsam anmutende Bemerkung Hegels, dass der passiven Substanz dann, wenn sie Gewalt erleide, nur ihr Recht angetan werde. „Was sie verliert, ist jene Unmittelbarkeit, die ihr fremde Substantialität. Was sie als ein Fremdes erhält, nämlich als ein Gesetztsein bestimmt zu werden, ist ihre eigene Bestimmung“ (HEGEL, Wissenschaft, 235; Hervorhebungen im Original). Ist es der Begriff der passiven Substanz, nicht durch sich selbst, sondern durch anderes zu ihrer Identität zu gelangen, so realisiert sie sich eben in genau dem Augenblick, wo sie durch anderes bestimmt wird. Der Abschnitt, in dem sich das berüchtigte Zitat findet, endet denn auch mit dem Hinweis, dass „[d]as Gesetztwerden durch ein anderes und das eigene Werden […] ein und dasselbe“ (ebd., 236) sei. 43 Durch das Wirken der aktiven Substanz wird also offenbar, was die passive Substanz tatsächlich ist: die aktive Substanz, die sich für ihr eigenes Wirken als passive Substanz vorausgesetzt hat. Vgl. REISINGER, Voraussetzungen, 271: „Manifestiertwerden der passiven Substanz als aktive Substanz, welche sich an die Stelle der passiven substituiert hatte.“
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zur aktiven Substanz macht, ist die passive Substanz selbst aktive Substanz und weil die aktive Substanz nur durch ein anderes zur aktiven Substanz werden kann, ist sie selbst passive Substanz.44 Diese Umkehr der Rollen wird durch die Rede von der Gegenwirkung eingeholt: „In diesem Gegenwirken wird die aktive Substanz zur passiven wie zugleich die passive zur aktiven geworden ist. […] Aktive und passive Substanz werden so das Gegenteil ihrer selbst.“45 Wagners Punkt ist also der, dass beide Substanzen ihre Bestimmung durch die jeweils andere erhalten. Genau darin besteht für Wagner der Erkenntnisgewinn: Beide Substanzen sind sie selbst nicht ohne die jeweils andere. Das ist nicht nur so gemeint, dass man nicht wüsste, was eine aktive Substanz ist, gäbe es keine passive Substanz, so wie man vom Leben nicht ohne den Tod reden könnte. Wagner will vielmehr sagen, dass die Rede von einer aktiven und einer passiven Substanz, von All- und Ohnmacht unhaltbar ist, weil beide Seiten eines solchen asymmetrischen Verhältnisses sich im Vollzug seiner Realisierung als gleichermaßen aktiv und passiv erweisen. Weil die Manifestation des Verhältnisses aktiv – passiv darauf hinausläuft, dass beide Seiten an sich selbst aktiv und passiv sind, weil also letztlich „zwischen diesen drei Momenten [dem Verhältnis und seinen beiden Seiten] keine Differenz mehr besteht“, spricht Wagner von einem „Verhältnis der Verhältnislosigkeit“46. Damit ist die anfängliche Selbständigkeit zweier Substanzen, die ihren Grund in der Selbstteilung hatte, aufgehoben. Allerdings nicht so, dass es jetzt nur noch eine selbständige Substanz gibt, also nicht durch eine erfolgreiche Selbstmanifestation der aktiven Substanz. Sondern so, dass das Konzept einer Unterscheidung von aktiver und passiver Substanz insgesamt hinfällig wird. D.h., die Aufhebung der anfänglichen Differenz wird allein durch die Negation desjenigen Konzepts erreicht, für dessen Realisierung sie überhaupt eingeführt wurde. Anders gesagt: die aktive Substanz vermag sich nicht in einem Verhältnis zu realisieren, in dem sie als aktive Substanz erscheint, denn dies implizierte ein Gegenüber, welches „bloßes Gesetztsein, Echo, Reflex“47 wäre. Von dem manifesten Verhältnis gilt hingegen: „Jede Seite ist durch die andere bedingt.“48 Die aktive Substanz scheitert also daran, sich als sie selbst zu manifestieren; statt in einem – ihr entsprechenden – Verhältnis der Asymmetrie findet sie sich in einem Verhältnis der Wechselwirkung wieder, was nichts anderes als den Verlust ihrer ur44
Vgl. WAGNER, Theo-Logik [RuG], 83: „[D]ie Aktivität der absoluten Selbstbestimmung bedarf, um sich als die Aktivität zu manifestieren, der vorausgesetzten Passivität. Folglich ist die Aktivität durch die vorausgesetzte Passivität bedingt. Die Aktivität ist somit im Bedingen der vorausgesetzten Passivität durch diese selbst bedingt, wie umgekehrt die durch die Aktivität bedingte Passivität für die Aktivität selber bedingend ist.“ 45 WAGNER, Einleitung [RG], 381. 46 WAGNER, Einleitung [RG], 383. 47 WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 346. 48 WAGNER, Einleitung [RG], 382f.
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sprünglichen Identität bedeutet. Im Anschluss an Hegels Überlegungen zum Gewaltverhältnis, welches sich als ein Verhältnis der Wechselwirkung offenbart, diagnostiziert Wagner daher das Scheitern unmittelbarer Selbstbestimmung: „Die sich manifestierende Selbstmacht und Selbstbestimmung ‚scheitert‘, sie ‚scheitert‘ an der eigenen Voraussetzung, eine Differenz machen zu müssen, die nur dann aufgehoben werden kann, wenn der Unterschied zwischen den in Differenz stehenden Momenten – Setzen und Voraussetzen – aufgehoben wird. Die ‚Rettung‘ der Differenz in dem Sinne, daß sie als Voraussetzung aufgehoben wird, ist der Untergang dessen, wofür sie vorausgesetzt wird.“49
Die Differenz, die um der Selbstmanifestation willen gemacht werden muss, ist die oben beschriebene Selbstteilung; ihre Aufhebung ist die Negation der Selbständigkeit der passiven Substanz. Durch die Negation wird jedoch manifest, was die passive Substanz an sich ist – Bedingung für die Manifestation der aktiven Substanz. Dies bedeutet die Aufhebung des Unterschieds zwischen den in Differenz stehenden Momenten, denn von beiden Substanzen ist gleichermaßen zu sagen, dass sie ihre Bestimmung durch die jeweils andere erhalten und insofern beide bedingend und bedingt sind. Der bis hierher nachgezeichnete Gedankengang Wagners sei noch einmal in drei Punkten zusammengefasst. 1. Die absolute Selbstbestimmung (aktive Substanz) kann nicht durch anderes erfasst werden, sondern nur durch sich selbst. Damit ist der Gedanke der Selbstmanifestation (bzw. der Selbstoffenbarung) des Absoluten formuliert. 2. Dieser Gedanke fordert die Selbstteilung des Absoluten. Die Folge ist das Gegenüber zweier Substanzen. Indem die eine auf die andere wirkt, sie bestimmt und also in ihrer Selbständigkeit negiert, manifestiert sich die aktive Substanz. 3. In diesem Vollzug, der überhaupt erst zeigt, was die beiden Substanzen sind, findet nun jedoch zugleich eine gegenläufige Bestimmung statt. Indem die passive Substanz durch die aktive Substanz bestimmt wird und so als passive Substanz manifest wird, wird zugleich deutlich, dass sich die aktive Substanz nicht ohne die passive Substanz als sie selbst zu manifestieren vermag. In diesem Sinn erweist sich die aktive Substanz hinsichtlich ihrer Manifestation als abhängig von der passiven Substanz, was eine Umkehr der Rollen bedeutet. Gegenläufige Bestimmung heißt also: die aktive Substanz manifestiert sich als passiv, die passive als aktiv. In diesem Sinn verlieren beide Substanzen durch das Wirken der aktiven Substanz ihre Identität. Die Selbstmanifestation der aktiven Substanz erweist sich so als ihre Selbstaufhebung. 49
WAGNER, Einleitung [RG], 383.
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Mit dem Verhältnis der Verhältnislosigkeit ist die letzte Relationskategorie der Wesenslogik, die Wechselwirkung, erreicht. Was sie charakterisiert, ist eine „Egalisierung […] der differenten Momente“50, die bisher in einem Verhältnis der Asymmetrie zu einander standen. Diese Egalisierung lässt sich nach Wagner nun entweder negativ oder affirmativ begreifen. Die negative Lesart geht so: Dass beide Seiten des Verhältnisses identisch sind, bedeutet den Verlust der je eigenen Identität, insofern für diese die Abgrenzung vom jeweils anderen konstitutiv war. Indem sich die aktive Substanz als passiv manifestiert und die passive als aktiv, sind sie nichts mehr im Unterschied zur anderen – sie sind, so lautet das negative Resultat, „ohne Differenz“51. Wagner Argumentation zielt jedoch darauf ab, diese Egalisierung affirmativ zu beschreiben. Und an dieser Stelle, also bei dem Versuch die Wechselwirkung positiv zu lesen, hat nun jene Formel ihren Ort, die für lange Zeit im Zentrum der wagnerschen Theologie steht: „Beisichselbstsein im Anderssein oder Selbstexplikation im anderen“52. Zum Verständnis dieser Formel ist es entscheidend, dass beide Seiten des Verhältnisses jeweils in ihr Gegenteil übergehen. Dass also eine Seite ihre Bestimmung verliert (die aktive wird zur passiven Substanz), heißt zugleich, dass die andere Seite ebendiese Bestimmung gewinnt (die passive manifestiert sich als aktive Substanz); in diesem Sinn ist die Selbstexplikation der aktiven Substanz vermittelt, sie findet allein an der Stelle des Andersseins statt. Jede Seite weiß sich so in ihrem Gegenüber aufgehoben, oder jede Bestimmung kann sich nur an der Stelle ihres Gegenübers realisieren. „Da jede Seite das Gegenteil ihrer selbst wird, bleibt jede zugleich in ihrem aufgehobenen Gegenteil mit sich identisch.“53 Wagner sieht hier eine neue Struktur aufscheinen, in der gängige Dualismen, wie die von innen und außen, Eigenem und Fremdem, aufgehoben sind. Wo das Handeln des Anderen nicht länger die Beschränkung des Eigenen, sondern dessen Entfaltung ist, kann von absoluter Freiheit geredet werden. Diese neue Struktur der Freiheit, das affirmative Resultat der Wechselwirkung, ist die Subjektivität: „Subjektivität ist das Sichselbstexplizieren an der Stelle des anderen. Diese Logizität ist die von Freiheit; in ihr ist die Alternative von Selbst- und Fremdbestimmung aufgehoben.“54 Das Christentum entfaltet nach Wagner nichts anderes als diese Logizität von Freiheit. Es resultiert damit aus der Aufhebung absoluter Selbstbestimmung. Theologien, die noch der Logik absoluter Selbstbestimmung verpflichtet sind, sind daher als vorchristlich zu bezeichnen. Der dogmatische Ort, an 50
WAGNER, Theo-Logik [RuG], 82. WAGNER, Einleitung [RG], 383. 52 WAGNER, Einleitung [RG], 384. 53 WAGNER, Einleitung [RG], 384. 54 WAGNER, Einleitung [RG], 384. 51
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dem Wagner selbst ausführlich die Selbstexplikation Gottes an der Stelle seines Andersseins beschreibt, ist die Christologie. Um sie soll es daher im nächsten Kapitel gehen. Zunächst ist jedoch die beschriebene Aporie absoluter Selbstbestimmung in Beziehung zu setzen zu jenen anderen Aporien, die in dieser Arbeit bereits thematisiert wurden; diese sind die Aporie des neuzeitlichen Subjekts, die Aporie des religiösen Bewusstseins und die Aporie der Wort-Gottes-Theologie. Das Ziel des Abschnitts ist der Nachweis, dass Wagner hier aus verschiedenen Perspektiven das immer gleiche Problem zum Thema macht. 2. Aporien a) Fichte oder: der blinde Titan Das Problem der Selbsterklärung des Menschen wurde ausführlich im Abschnitt über Schleiermachers Dialektik behandelt.55 Wagner hält es für einen Grundzug neuzeitlichen Denkens überhaupt, das Selbstbewusstsein als „Grund und Quelle der Welterklärung“56 zu betrachten; der Mensch als Schöpfer seiner Welt bleibt sich selbst jedoch fraglich und diese Aporie menschlicher Selbstbegründung hatte Wagner im Zuge seiner Schleiermacher-Interpretation als ‚Weg zur Religion‘ identifiziert. Kathrin Mette hat gezeigt, dass die Wurzeln für Wagners Schleiermacherdeutung in seiner Dissertation zu suchen sind. Wagners Religionstheorie, wie sie in der Habilitationsschrift über Schleiermachers Dialektik grundgelegt sei, verdanke sich Erkenntnissen, die Wagner v.a. in der Beschäftigung mit Fichte gewonnen habe.57 Es sei „Fichtes Ich-Begriff“, in welchem Wagner „das Selbstverständnis des neuzeitlich-bürgerlichen Individuums ausgebildet“ finde.58 Es ist demnach auch Fichtes Ich-Begriff, an dem Wagner die Aporie neuzeitlicher Subjektivität erstmals sichtbar macht. Warum gerade Fichte? Fichte ist der erste Philosoph, der „das neuzeitliche Prinzip der Subjektivität auf die ihm immanente Struktur“ hin untersucht.59 „Fichte fragt nach der Letztbegründung des Ich und problematisiert somit das letztbegründende Prinzip alles Wissens selbst.“60 Es geht bei Fichte um die Selbstthematisierung desjenigen Prinzips, das seit Descartes die Philosophie beherrscht. Zwei
55
S.o. Teil 1, Kap. III. WAGNER, Christologie [WiTh], 310. 57 METTE, Selbstbestimmung, 110: „In Wagners Habilitation […] gibt es ganze Abschnitte, deren Argumentationslogik in der wagnerschen Dissertation vorgebildet sind.“ Die folgenden Ausführungen stützen sich v.a. auf die entsprechenden Passagen aus Wagners Dissertation. 58 Ebd., 109. 59 WAGNER, Gedanke, 42; vgl. ebd., 39f. 60 WAGNER, Gedanke, 42. 56
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Fragen interessieren im Folgenden: wie konzipiert Fichte dieses Prinzip und welches Problem wirft diese Konzeption auf?61 Fichte entwirft das Ich als „Selbst-Setzen“. Das Ich soll sich selbst begründen und wird „somit der Sache nach als causa sui“62 gedacht. Mette macht darauf aufmerksam, dass die entscheidende Passage, in der Wagner die Struktur des Selbst-Setzens rekonstruiert und als causa sui interpretiert,63 „eine unausgewiesene Referenz“64 hat. Diese Referenz ist der Abschnitt über die formelle Kausalität in Hegels Logik, genauer: die Interpretation dieses Abschnitts, wie sie Peter Reisinger in seiner Dissertation vorgelegt hat.65 Wie die Argumentation Reisingers im Einzelnen verläuft, kann an dieser Stelle ausgeblendet werden, entscheidend ist nur der Hinweis, dass Wagner im Anschluss an Reisinger davon ausgeht, dass sich für die Selbstbegründung des Ich durchaus überzeugend argumentieren lässt – wenn man Fichtes ‚Selbst-Setzen‘ im Sinne der formellen Kausalität liest. Indem Wagner Fichte auf diese Weise interpretiert, gelangt er zu dem Schluss, „dass Fichtes selbstsetzendes Ich zu Recht das Prädikat der Absolutheit für sich in Anspruch nehmen kann. Sofern in ihm die Differenz zwischen Ursache und Wirkung aufgehoben ist, kommt dem selbstsetzenden Ich Aseität zu.“66 causa sui, Aseität – Das Ich zieht Bestimmungen auf sich, die üblicherweise Gott zugesprochen werden. Wagner kann daher auch umgekehrt sagen, Gott könne als Ich gedacht werden, wenn man das Ich als die Struktur des Selbst-Setzens im Sinne Fichtes auffasst. Wird Gott im Sinne der formellen Kausalität gedacht, dann wird damit nach Wagner seine Tätigkeit als Schöpfer thematisiert.67 Dass Gott die Welt erschafft, bedeutet dann, dass er sich selbst erschafft, der Welt eignet kein selbständiges, von Gott unterschiedenes Sein, sondern sie ist Gott als Wirkung. Die Schöpfungsvorstellung für sich betrachtet, führt so in den Pantheismus. Das pantheistische Gottesbild und Fichtes Ich erscheinen so als austauschbare Größen. Man kann es auch im Sinne einer Ablösung formulieren: Was er einst Gott zuschrieb, beansprucht der Mensch nun für sich: Grund und Quelle aller Welterklärung zu sein. Worin besteht das Problem dieser Konzeption? Wagners These (die er dann in seiner Habilitation wieder aufnehmen wird) lautet, dass es zwar gelingt, das Selbst-Setzen widerspruchsfrei zu denken, allerdings nur als „be-
61
Vgl. bei METTE die Abschnitte 3.2. und 3.3. (81ff. und 92ff.). WAGNER, Gedanke, 54; Hervorhebung MS. 63 Vgl. WAGNER, Gedanke, 53f. 64 METTE, Selbstbestimmung, 82. Zu Wagners Verteidigung ist zu sagen, dass er seine Referenz wenige Seiten später zumindest andeutungsweise offenlegt. Vgl. WAGNER, Gedanke, 61, Anm. 69. Vgl. auch METTE, Selbstbestimmung, 83, Anm. 93. 65 METTE, Selbstbestimmung, 82ff. Zur Kritik an Reisingers Interpretation vgl. ebd., 88. 66 METTE, Selbstbestimmung, 91.Vgl. ebd., 108. 67 WAGNER, Gedanke, 61. 62
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wusstseinslose Spontaneität.“68 Das Selbst-Setzen kann also nicht als Selbstbewusstsein gedacht werden, „denn für das wirkliche Selbstbewusstsein ist nicht nur das Moment des Selbst-Setzens – der Kern des Selbstbewusstseins und der Persönlichkeit –, sondern auch das Moment des Sich-Erfassens als Fürsichsein konstitutiv.“69 Zur Begründung dieser These greift Wagner Mette zufolge auf Arbeiten Henrichs und Reisingers zurück. Mette selbst rekonstruiert Wagners Argumentation sehr detailliert durch Offenlegung der verschiedenen Quellen; ihre Darstellung steht damit allerdings von vornherein unter der Prämisse, dass Wagner der zweifelhaften Verfahrensweise folge, „disparate Argumentationslogiken in einen einzigen Gedankengang zu zwängen.“70 Ich möchte einen anderen Weg gehen, indem ich frage, ob es nicht möglich (und vielleicht auch fruchtbarer) ist, Wagners Gedankengang anhand einer einzigen Argumentationslogik zu begreifen. Dabei ist für mich weniger von Interesse, ob Wagner diese Argumentationslogik tatsächlich vor Augen hatte, als er den Text verfasste, ich frage lediglich, ob es möglich ist, Wagners Gedankengang in diesem Sinn zu interpretieren. Ausgangspunkt ist dabei Mettes Beobachtung, dass Wagner im Selbst-Setzen die Struktur der formellen Kausalität wiederfindet. Wenn dem so ist, wäre es dann nicht naheliegend, dem Lauf der Wesenslogik zu folgen und auch die Aporie des Selbst-Setzens mit ihren Mitteln zu beschreiben? Präziser gefragt: ist es nicht möglich, die Struktur des Selbst-Setzens anhand der formellen Kausalität, seine Aporie aber anhand der bedingten Kausalität zu rekonstruieren? Worin besteht diese Aporie? Darin, dass sich das Selbst-Setzen in dem Moment selbst aufhebt, wo es aus dem „unendlichen Kreisprozess bewußtseinsloser Spontaneität“71 heraustritt, um sich selbst zu erfassen. Dann nämlich „müßte das selbst setzende Ich zwangsläufig seines thetischen und absolut tätigen, schlechthin leidenslosen Charakters verlustig gehen.“72 Stattdessen würde sich das Ich schon an sich selbst „als synthetische Einheit von Spontaneität und Rezeptivität“ 73 offenbaren. Der absoluten Spontaneität gelingt es also nicht sich als solche zu erfassen. Dass das Selbst-Setzen sich nicht als solches erfassen kann – entspricht das nicht der Unmöglichkeit der aktiven Substanz, sich als sie selbst zu manifestieren? Meine These jedenfalls lautet, dass das „Dilemma“74 der 68
WAGNER, Gedanke, 58; Hervorhebung MS. WAGNER, Gedanke, 62; Hervorhebung MS. Interessant an dem Zitat ist v.a. die Rede vom wirklichen Selbstbewusstsein. Ihr scheint etwa Wagners Hinweis zu besprechen, dass die göttliche Allmacht dann, wenn sie sich nicht als solche offenbart (d.h. solange sie sich nicht als solche erfasst), „bloße Möglichkeit“ bleibt, vgl. WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 347. 70 METTE, Selbstbestimmung, 99. 71 WAGNER, Gedanke, 62. 72 WAGNER, Gedanke, 58. 73 WAGNER, Gedanke, 56. 74 WAGNER, Gedanke, 57. 69
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absoluten Spontaneität, wie es Wagner in seiner Dissertation beschreibt, strukturell vergleichbar ist mit der Aporie der absoluten Selbstbestimmung, wie er sie in seinen späteren Texten immer wieder bearbeitet hat. Für diese These spricht auch Wagners Hinweis, dass die Rede von der Selbstmanifestation bzw. Selbstoffenbarung Gottes auf die Selbsterkenntnis Gottes zielt.75 Gestützt wird sie zudem durch die Bemerkung Hegels, dass die absolute Notwendigkeit „blind“ sei. E. Angehrn deutet diese Blindheit als einen Mangel an Selbstbewusstsein; die absolute Notwendigkeit sei „für sich selbst noch nicht durchsichtig“, sie sei vielmehr „ein ‚Selbstloses‘“76. Durch den Prozess der Selbstmanifestation werde gerade „Transparenz für sich selbst“ erreicht, er beschreibe das „Fürsichwerden“ der absoluten Notwendigkeit – wobei dieses Fürsichwerden freilich die Aufhebung der absoluten Notwendigkeit in den Begriff bedeute.77 Abschließend kann festgehalten werden: indem das Prinzip neuzeitlicher Subjektivität im Sinne der causa sui konzipiert wird, übernimmt es auch die Probleme dieses Gedankens. Die Aporie, die Wagner zufolge auf Seiten Gottes auftritt, sofern dieser als absolute Selbstbestimmung gedacht wird, wiederholt sich also auf der Seite menschlicher Subjektivität, sofern diese derselben Logik verpflichtet bleibt. Es ist ein und dieselbe Aporie, die einmal auf der Seite Gottes und das andere Mal auf der Seite des Menschen auftritt und die allgemein als die Aporie unmittelbarer Selbstbestimmung bezeichnet werden kann. b) Schleiermacher oder: der homo religiosus als homo incurvatus in se ipsum Die Einsicht in das Scheitern unmittelbarer Selbstbestimmung auf Seiten des Menschen markiert die Geburtsstunde des religiösen Bewusstseins. Das religiöse Bewusstsein weiß, dass der Mensch „seiner selbst nicht mächtig“78 ist, und zwar seiner selbst nicht mächtig im Sinne der Selbstbegründung, also „im Blick auf den Ursprung seiner Konstitution“ 79. Dass das religiöse Bewusstsein dies weiß, ist sein Proprium; es ist, so wurde gesagt, reflexives Freiheitsbewusstsein.80 Dieses Wissen artikuliert das religiöse Bewusstsein in 75
WAGNER, Theo-Logik [RuG], 80: „Durch den Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes wird das Problem der Gotteserkenntnis auf eine dem Gottesgedanken adäquate Weise reformuliert. Die Reformulierung kann formelhaft in der Aussage zum Ausdruck gebracht werden, Gott könne alleine durch Gott erkannt werden.“ 76 ANGEHRN, Freiheit, 62. 77 ANGEHRN, Freiheit, 63. 78 WAGNER, Einleitung [WiTh], 15. 79 WAGNER, Einleitung [WiTh], 15. 80 S.o. S. 95. Dabei ist zu beachten, dass es die Religionstheologie ist, die das religiöse Bewusstsein als reflexives Freiheitsbewusstsein interpretiert. Erst die Religionstheologie sagt, dass es in der Religion um die Begründung menschlicher Freiheit geht; erst sie macht
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dem Glaubenssatz, „daß es nicht in sich selbst, sondern, insofern es sich als Gottesbewußtsein auslegt, in Gott begründet sei.“ 81 Mit seinem Wissen macht das religiöse Bewusstsein „das Moment opaker und fremder Andersheit im Selbstverhältnis von Subjektivität“82 geltend und es erblickt in diesem ganz Anderen den Grund seiner selbst. Damit formuliert das religiöse Bewusstsein zunächst eine Antithese zum Programm neuzeitlicher Subjektivität: Während diese den Menschen als Grund seiner selbst und seiner Welt zu denken sucht, weiß jenes den Menschen und die Welt in einem anderen, das sie Gott nennt, gegründet. In Anlehnung an Luther kann Wagner die Antithese auch so formulieren, dass der Glaubende nicht in sich selbst, sondern in Gott lebe.83 Besteht das Recht des religiösen Bewusstseins in der Einsicht, dass der Mensch sich einem Anderen verdankt, so lautet die entscheidende Frage, wie dieser Andere, wie Gott zu fassen ist. Wie also konzipiert das religiöse Bewusstsein seinen Grund? Wagner vertritt die Auffassung, dass das religiöse Bewusstsein sich bei seiner Konzeption des Grundes ebenfalls von der Logik unmittelbarer Selbstbestimmung leiten lässt. Der Unterschied zum vorherigen Abschnitt ist der, dass die Logik unmittelbarer Selbstbestimmung dort ‚von oben‘ her entfaltet wurde, während dies jetzt ‚von unten‘ her geschieht. ‚Von unten‘, d.h.: es geht auch hier um die Selbsterfassung der aktiven Substanz – jetzt aber beschrieben aus der Perspektive der passiven Substanz. Drei Punkte mögen dies deutlich machen. Zunächst einmal geht das religiöse Bewusstsein davon aus, dass nicht es selbst das Subjekt (der Produzent) seines Gottesbildes sei, sondern dass es der Grund ist, der sich mittels des religiösen Bewusstseins als solcher erfasst. Der Glaube geht demnach davon aus, „daß die Einsicht in seinen Grund dessen Selbsteinsicht sein muß; der Grund muß der Grund seines eigenen Wissens, des Wissens von seinem Grundsein sein.“84 Das religiöse Bewusstsein versteht sich selbst nicht als Produzent religiösen Wissens, sondern als den passiven Träger, den der Grund sich voraussetzt, um sich als Grund zu erfassen. Anders gesagt: Der Glaube versteht sich als den Ort der Selbstmanifestation Gottes; er versteht sich also als passive Substanz und Gott als aktive Substanz, oder, mit der Sprache der Tradition, er versteht sich als Geschöpf und Gott als Schöpfer. Indem das religiöse Bewusstsein Gott als unmittelbare Selbstbestimmung fasst (was impliziert, dass dieses ‚Fassen‘ nur als Gottes Selbsterfassen denkbar ist), beansprucht es für Gott eben jene Struktur, die auf Seiten des Menschen kritisiert wird. Die Selbstbegründung, die dem also das Wissen explizit, das in der Religion aufbewahrt ist, dass nämlich die Selbstbegründung des Menschen scheitert. 81 WAGNER, Einleitung [WiTh], 15. 82 DIERKEN, Christologie, 195. 83 WAGNER, Einleitung [WiTh], 14. 84 WAGNER, Begründung [RuG], 227; Hervorhebung MS.
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Menschen verwehrt wird, soll Gott möglich sein. Auf diese Gotteskonzeption, die sich an den Grundsatz „Quod licet Iovi, non licet bovi“ halte, könne, so Wagners Grundüberzeugung, „das christliche Freiheitsbewusstsein nur mit Empörung reagieren.“85 Zweitens sei daran erinnert, dass das Wirken der aktiven Substanz die Negation der Selbständigkeit der passiven Substanz bedeutet hatte. Ein solches Moment der Negation tritt nun auch in der Beschreibung des religiösen Bewusstseins auf. An anderer Stelle wurde es als „Sichstillstellen“ bezeichnet.86 Wagner kann diese Negation auch ein Transzendieren, eine Erhebung, oder – im Anschluss an die Tradition – die „mortificatio“ des Menschen nennen.87 Die Rede vom Sichstillstellen besagt also, dass das religiöse Bewusstsein genau die Funktion übernehmen will, die im Vollzug der Selbstmanifestation der aktiven Substanz der passiven Substanz zukommt: es will bloßes Echo, bloßer Widerhall göttlichen Wirkens sein. Wenn Wagner darauf hinweist, dass das religiöse Bewusstsein „im Interesse der Einsicht in seinen Grund“ (die nur dessen Selbsteinsicht sein kann) von seiner „besonderen Subjektivität“ abstrahiert,88 dann kommt eben darin die Intention des Glaubenden zum Ausdruck, seine Selbständigkeit im Gegenüber zu Gott aufgeben, um sich sozusagen mit Gott zusammenzuschließen, um nichts weiter als ein Element im Prozess der göttlichen Selbsterfassung zu sein. Nun macht Wagner – und das ist der dritte Punkt – allerdings deutlich, dass das religiöse Bewusstsein seine Intention nicht verwirklichen kann. Es meint zwar, dass seine Sicht auf den Grund dessen Selbstsicht sei. Tatsächlich aber verdankt sich die besondere Perspektive des religiösen Bewusstseins, welche den Anspruch erhebt, die Perspektive Gottes zu sein, der Negation der Perspektive, die der Mensch als denkendes und handelndes Subjekt einnimmt. Es ist demnach gar keine neue Sicht, die sich dem Menschen durch seine vermeintliche Erhebung zu Gott auftut; es ist nicht die Sicht eines anderen, an der der Mensch im Glauben partizipiert. Sondern die neue, andere, göttliche Sicht ist nichts anderes als das Resultat einer Negation der menschlichen Perspektive. Dem religiösen Bewusstsein und seinem Grund kommen keinerlei Selbständigkeit zu, ihre inhaltliche Qualifizierung verdanken sie vielmehr dem Prinzip neuzeitlicher Subjektivität, als dessen Negation sie eingeführt werden. Wagners Punkt ist also der, dass das religiöse Bewusst85
WAGNER, Einleitung [WiTh], 18. Vgl. dazu auch WAGNER, Verantwortung [CM], 123–128. Hier kritisiert Wagner, dass die Theologie „dieselbe Struktur der Freiheit als direkter Selbstbestimmung einer doppelten Beurteilung“ (ebd., 128, Hervorhebung MS) zuführe: an der Stelle Gottes gelte sie ihr als ‚gut‘, an der Stelle des Menschen hingegen als ‚böse‘. Indem die Theologie die Sünde als ein ‚Wie-Gott-Sein-Wollen‘ fasse, gerate ihr Gott ungewollt „zum Prototyp des Bösen und der Sünde“ (ebd., 124). 86 Siehe dazu das Kapitel über das religiöse Bewusstsein, Teil 1, Kap. I.2a. 87 WAGNER, Begründung [RuG], 230. Vgl. auch WAGNER, Bekehrung, 471. 88 WAGNER, Begründung [RuG], 232.
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sein dann, wenn es allein als Kritik bzw. Negation des Prinzips neuzeitlicher Subjektivität eingeführt wird, der Logik dieses Prinzips verhaftet bleibt, weil es selbst über keinerlei positiven Gehalt verfügt (es ist eben nichts anderes als die Negation eines anderen Bewusstseins).89 Mittels der „einfachen Umkehr“90, wie Wagner die Negation auch nennen kann, gelangt der Mensch nicht zu seinem Grund, sondern lediglich zu einem Konstrukt, das sich seinem eigenen selbstnegierenden Tun verdankt. Es ist die Logik der einfachen Umkehr, die den Menschen als schlechthin abhängig setzt und damit einen Gott fordert, der absolut frei ist. Das entscheidende Problem besteht darin, dass die einfache Umkehr ein Tun des Menschen darstellt und dass der Grund, zu dem sich der Mensch erhebt, durch dieses Tun vermittelt, also von ihm abhängig ist. Die Wahrheit des religiösen Bewusstseins ist es also, kein schlechthin passives, sondern ein (im Modus der Selbstnegation) aktives Bewusstsein zu sein; der Grund wiederum ist nicht schlechthin aktiv, sondern – insofern er sich der Selbstnegation des Menschen verdankt – passiv. Das Resultat nennt Wagner eine „Pattsituation: Das religiöse Bewusstsein gründet in einem Grund, der seine Abhängigkeit vom religiösen Bewusstsein doch nicht verleugnen kann.“91 Insofern sich beide Seiten (Grund und Begründetes) „in ihr jeweiliges Gegenteil verkehren“92, zeigt sich auch hier jene Egalisierung der differenten Momente, in der die oben beschriebene Manifestationsdialektik gipfelte. So wie die aktive Substanz sich nicht als solche zu manifestieren vermag, der Versuch vielmehr zur Aufhebung des Unterschieds zwischen ihr und der passiven Substanz führt, so schafft es das religiöse Bewusstsein nicht, sich zu seinem Grund als dem ganz anderen zu erheben. „Die einfache Umkehr führt im Gegenteil zum Verlust der Unterscheidbarkeit von Gott und Mensch.“93 Geißelt das religiöse Bewusstsein den Versuch des Menschen, sich selbst zu begründen, als ‚Sünde‘, indem es geltend macht, dass der Mensch sein Da- und Sosein einem anderen verdankt, so zeigt Wagner, dass das religiöse Bewusstsein und sein Grund selbst eine Form menschlicher Selbstbegründung darstellen, und zwar dann, „wenn das Gottesverhältnis des religiösen Bewusstseins bloß aus der einseitigen Negation des menschlichen Selbstverhältnisses hervorgeht.“94 Es ist freilich eine Form menschlicher Selbstbegründung, die sich selbst nicht als solche versteht, sondern vielmehr davon ausgeht, dass der Mensch in einem Anderen, das Gott genannt wird, seinen Grund habe. „In Umkehr von Gen 1,27“ wird die89 Vgl. die Argumentation, die Wagner gegen das unmittelbare Wissen (Teil 1, Kap. I.2a) und gegen den positionellen Charakter der Religionstheologie (Teil 1, Kap. I.3) richtet. 90 WAGNER, Einleitung [WiTh], 20. 91 WAGNER, Einleitung [WiTh], 20; Hervorhebung MS. 92 WAGNER, Einleitung [WiTh], 20. 93 WAGNER, Einleitung [WiTh], 20. 94 WAGNER, Einleitung [WiTh], 18.
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Dritter Teil
ser Gott jedoch „nach dem Bilde des menschlichen Selbstverhältnisses geschaffen“95, nämlich genau nach dem Bilde, welches der Mensch, sofern er ein religiöses Bewusstsein ausbildet, als Sünde durchschaut und zu verlassen sucht. Weil dieser Versuch des Menschen aber ausschließlich als „dessen eigene Leistung“96 in den Blick gerät, vermag der Mensch nicht von sich loszukommen. c) Barth oder: der Rückfall in die Barbarei Fichte deklariert die Freiheit des Menschen und verabsolutiert sie zugleich, indem er zu zeigen versucht, dass das Ich sich selbst begründet. Die Religionstheologie macht mit dem religiösen Bewusstsein auf die Aporie menschlicher Selbstbegründung aufmerksam und verweist auf Gott als den Grund menschlicher Freiheit. Die Religionstheologie bleibt also dem Standpunkt Fichtes verpflichtet, dem Standpunkt des menschlichen Subjekts, sagt aber – und damit formuliert sie die Gegenposition zu Fichte –, dass dieser Standpunkt nicht durch sich selbst, sondern allein durch ein anderes begründet werden kann. Das Andere, Gott, dient so zur Begründung des menschlichen Subjekts. Dabei geht die Religionstheologie davon aus, dass Gott über die Eigenschaft der Selbstbegründung verfügt, die sie dem Menschen abspricht. Das Problem ist nun, dass Gott ausschließlich als Setzung oder Produkt des religiösen Bewusstseins in den Blick gerät, so dass die faktische Eigenschaft Gottes, durch anderes begründet zu sein, die für ihn beanspruchte Eigenschaft, sich selbst zu begründen, dementiert. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Religionstheologie Gott vom Standpunkt des menschlichen Subjekts zu erreichen sucht. Zwar meint sie, mit dem religiösen Bewusstsein über eine Wissensform zu verfügen, die sich Gott selbst verdankt, tatsächlich aber stellt diese vermeintlich göttliche Wissensform lediglich die Negation aller menschlichen Erkenntnistätigkeit dar und bleibt daher durch diese bedingt. Karl Barths Theologie präsentiert sich insofern als Kehrtwende, als sie den Standpunkt verlässt, den Fichte und die Religionstheologie ihrer Opposition (menschliche Freiheit gründet in sich selbst/ gründet in einem anderen) zum Trotz miteinander teilen. Ihr geht es nicht länger um die Begründung menschlicher, sondern um die Begründung göttlicher Freiheit. Ihr Thema ist die radikale Autonomie Gottes. Sie weiß sich dem ganz Anderen, nicht dem Menschen verpflichtet, sie will zuerst Theologie, nicht Anthropologie sein. Die Kehrtwende bedeutet indes keinen Ausstieg aus der Logik, die sowohl die Selbstbegründungsversuche neuzeitlicher Subjektivität als auch das religiöse Bewusstsein und die ihm verpflichtete Religionstheologie beherrscht. Denn der Gott, den Barth thematisiert, ist – folgt man Wagner – der Gott des 95 96
WAGNER, Einleitung [WiTh], 16. WAGNER, Einleitung [WiTh], 20.
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religiösen Bewusstseins; der Unterschied zur Religionstheologie besteht nur darin, dass dieser Gott nicht mehr aus der Perspektive des religiösen Bewusstseins, sondern ‚an sich‘ erfasst werden soll. Der Gott des religiösen Bewusstseins entspricht aber hinsichtlich seiner Struktur Fichtes selbstsetzendem Ich.97 Die Folge ist, dass sich die Struktur radikaler Autonomie, die der Mensch bei Fichte für sich beansprucht hat, nun gegen den Menschen wendet.98 Diese Wendung gegen den Menschen kommt auch schon in der für das religiöse Bewusstsein charakteristischen Bewegung zum Ausdruck, also in der Rede vom Transzendieren, Erheben, Sich-Verlassen usw. Dort musste sie allerdings scheitern, da sie weiterhin eine Bewegung bzw. ein Tun des Menschen darstellt.99 Verdankt sich der Gott des religiösen Bewusstseins der Selbstnegation des Menschen, so will Barth Gott aus diesem Bedingungsverhältnis befreien, indem er das Verhältnis von christlichem Gott und Religion als ausschließenden Widerspruch konzipiert.100 Barth sieht, dass der externe Standpunkt, von dem aus die Religionstheologie sich auf Gott bezieht, ein Dementi göttlicher Unbedingtheit bedeutet, er entfaltet seine Theologie daher als Kritik dieses Standpunkts, der Fichte und Schleiermacher noch gemeinsam ist.101 Das Resultat ist nach Wagner ein Pantheismus, der auf die Ausschaltung menschlicher Selbständigkeit abzielt. „Das göttliche Herrschaftssubjekt bezieht sich auf das Anderssein der Welt und des Menschen im Modus der Negation.“102 Lässt Barth selbständiges Anderssein um der Souveränität Gottes willen von vornherein nicht zu, dann tut sich für seine „Spinoza-redivivusTheologie“103 allerdings ein Problem auf. Denn das Andere, so hatte sich gezeigt, ist für die Selbsterfassung absoluter Selbstbestimmung notwendig. Der Verdacht drängt sich daher auf, dass auch Barths Gott als ein Fall von bewusstseinsloser Spontaneität zu behandeln ist. Der Verdacht lässt sich erhärten, wenn man zunächst auf eine außertheologische Theorie des 20. Jahrhunderts schaut, auf Gehlens Handlungstheorie, die nach Wagner Strukturmomente aufweist, die mit Barths Theologie vergleichbar sind. Das Attribut unbedingten Handelns wird hier für Institutionen in Anspruch genommen. 97
Daher kann gesagt werden (DANZ, Selbstexplikation, 136f.), dass Fichtes Ich seine „funktionale Entsprechung in Karl Barths Gottesgedanken hat.“ 98 Vgl. dazu die Ausführungen in Teil 2, Kap. I und Fazit, auf die auch die Überschrift dieses Unterabschnitts anspielt. 99 Vgl. Wagners Bemerkung, dass „das pervertierte Selbstverhältnis nicht unter der Bedingung seiner Pervertierung […] aufgehoben werden“ könne (WAGNER, Einleitung [WiTh], 18). 100 S. dazu oben Teil 2, Kap. II.4. 101 Vgl. dazu auch die Ausführungen zu Barths Verhältnis zur positionellen Theologie oben S. 118. 102 WAGNER, Zukunft [Lage], 50. 103 Ebd.
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Dritter Teil
Mit Blick auf das „Handeln des Handelns“, welches die Institutionen verkörpern sollen, zeigt Wagner nun auf, dass es sich hierbei um „sich noch nicht wissende Selbstbestimmung“104 handelt. Der Mangel an Selbstbewusstsein hat seinen Grund in der Ausscheidung individueller Subjektivität aus dem Begriff der Institution. Dadurch erscheinen die Institutionen als gegeben und nicht als gemacht, als objektive Gebilde, die unabhängig von den Individuen bestehen. Der falsche Schein eines Gegensatzes von Individuum und Institution führt dazu, „daß die Institutionen als nicht mehr veränderbar, als kristallisiert und versteinert betrachtet werden.“105 Der Eindruck versteinerter Institutionen rührt jedoch daher, dass von der Abhängigkeit der Institutionen von der individuellen Subjektivität, die faktisch besteht, abstrahiert wird. Einen solchen Fall von blinder Positionalität stellt nun auch Barths Theologie dar.106 Barths Gegensatz von Gott und Religion entspricht der beschriebenen Entfremdung von Institution und Individuum; Barth erschafft sozusagen einen versteinerten Gott, der ebenfalls als nicht veränderbar betrachtet wird,107 und er erreicht diesen Anschein von Positivität durch die Abstraktion von seiner eigenen Konstruktionsleistung. Aber auch Barths souveräner Gott wird von der Manifestationsdialektik erfasst, wenn er sich als solcher offenbaren bzw. erfassen will. Wagner macht dies in der Auseinandersetzung mit Barths Christologie deutlich. Indem Barth die Christologie als Kopie der Theologie konzipiert, wird einerseits ersichtlich, dass Gottes Selbstmanifestation die Negation selbständigen Andersseins bedeutet. Andererseits zeigt sich damit zugleich, dass Gott für seine Selbstexplikation auf das Andere angewiesen ist; im Akt der Negation offenbart sich das andere als die notwendige Voraussetzung für Gottes Selbstoffenbarung.
II. Gottes Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins – die Christologie II. Die Christologie
1. Überblick Worum geht es in der Christologie? Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst einen Schritt zurück treten und fragen, worum es in der Theologie geht. Wagners schlichte Antwort lautet: In der Theologie geht es um Freiheit. Die Freiheit ist das Thema der Theologie.108 Damit erweist sie sich als eine spezifisch neuzeitliche Unternehmung, denn die Freiheit, um die es 104
WAGNER, Handlungsbegriff, 227. Ebd., 228. 106 Siehe dazu oben Teil 2, Kap. II.1. 107 Siehe oben Teil 2, Kap. II.2. 108 Vgl. WAGNER, Christologie-VL, 313. 105
II. Die Christologie
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ihr zu tun ist, ist keine andere als diejenige, die etwa Fichte für das neuzeitliche Subjekt in Anspruch nimmt. Es ist Wagners These, „daß die Entwicklung der Theologie mit der Realisierung des freien und selbstbestimmenden Selbstbewußtseins konvergiert.“109 Nun hatte sich in der Auseinandersetzung mit Fichte gezeigt, dass die Freiheit dann zum Problem wird, wenn sie sich selbst zu erfassen versucht. Genau von diesem Problem, der Selbsterfassung des freien Subjekts, meint Wagner nun, dass es in der Christologie bearbeitet und sogar gelöst wird. „Meine These ist […] die, daß die Theologie mit der Christologie, mit der Lehre von der Person Jesu Christi die Selbstdarstellung des Selbstbewußtseins zum Thema macht.“110 Ist das Tun der Theologie die Explikation der Freiheit im Sinne absoluter Spontaneität, so geht es in der Christologie um das Reflexivwerden dieses Tuns; sie ist die „Selbstthematisierung des theologischen Tuns.“111 In der Christologie, so könnte man es vielleicht auch formulieren, geht es um den Aufbau eines göttlichen Selbstbewusstseins. Die Selbsterfassung Gottes bedeutet allerdings seine Transformation. Diese Transformation Gottes bringt die Christologie zum Ausdruck, wenn sie sagt, dass Jesus der Christus ist. Dieser Satz soll im Folgenden im Durchgang durch Wagners Christologie erklärt werden. Ich beziehe mich dabei auf Wagners Aufsatz zur Christologie von 1975 und auf die aus dem Nachlass publizierte Wiener ChristologieVorlesung, die Wagner im Wintersemester 1989/1990 gehalten hat.112 In beiden Texten, die in etwa Wagners Zeit in München rahmen, gliedert Wagner seine Darstellung der Christologie in zwei Hauptteile. Im ersten Teil versucht Wagner seinen Neuansatz plausibel zu machen, also zu zeigen, dass es in der Christologie um die Selbsterfassung des absoluten Subjekts geht. Er stellt demnach die Grundlegung der Christologie dar. Der zweite Teil unternimmt es dann, die überlieferten christologischen Vorstellungen im Sinne dieses Neuansatzes zu interpretieren. Geht es in der Christologie um den Aufbau eines Selbstbewusstseins im Sinne einer „Selbstentwicklung“113, dann
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WAGNER, Christologie [WiTh], 313. WAGNER, Christologie [WiTh], 313. Statt Selbstdarstellung ließe sich also meiner Lesart zufolge auch sagen: Selbstmanifestation oder Selbsterfassung. 111 WAGNER, Christologie-VL, 313. Danz kann daher von der Christologie als einer „Reflexionsebene der Theologie“ sprechen (DANZ, Selbstexplikation, 136). „Ihr Thema ist das um sich selbst wissende Selbstbewusstsein. Dessen Genese beschreibt die Christologie auf verschlüsselte Weise“ (ebd.; Hervorhebungen MS). Wagner baue die Christologie nicht länger von ihren Inhalten her auf, sondern rekonstruiere sie unter der Leitperspektive, welche Funktion sie für die Theologie habe. „Der Problemhorizont der Moderne, der Übergang von der Substanz zur Funktion, ist mit dieser Problemstellung aufgenommen“ (ebd.). 112 WAGNER, Christologie [WiTh]; DERS., Christologie-VL. 113 WAGNER, Christologie [WiTh], 334. 110
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Dritter Teil
hat das für die Darstellung der „materialen Christologie“114 die Folge, dass sie als das System der Christologie zu entfalten ist. Die beiden Texte stimmen außerdem darin überein, dass die Grundlegung der Christologie selbst noch einmal zweigeteilt ist.115 Der erste Teil expliziert das Kerygma. Das Subjekt der Aussage, dass Jesus der Christus ist, ist hier die christliche Gemeinde. Gottes Selbsterfassung gerät hier also aus der Perspektive des Glaubens bzw. des religiösen Bewusstseins in den Blick. Der zweite Teil hebt die Aussage der Gemeinde in die Selbstaussage Gottes auf. Hier wird die Selbsterfassung Gottes ‚an sich‘ expliziert. In diesem Teil hat die Trinitätslehre ihren Ort. Die beiden Teile, gleichsam eine Christologie ‚von unten‘ und eine Christologie ‚von oben‘, verhalten sich zueinander wie Entdeckungs- und Begründungszusammenhang. Im Aufbau der Christologie spiegelt sich so im Kleinen der Gesamtaufbau der Wagnerschen Theologie, wie er bisher entfaltet wurde. 2. Der Christus des Glaubens a) Das Kerygma: Jesus ist Gott Es gibt, darin weiß sich Wagner mit der dialektischen Theologie einig, keinen Weg hinter das Kerygma zurück.116 Vorhanden sind lediglich „Aussagen über Jesus“117 und der Produzent dieser Aussagen ist die christliche Gemeinde. Was in der Christologie zunächst einmal entfaltet wird, ist der Glaube der Gemeinde, dass Jesus der Christus sei. Dennoch hat die sog. ‚neue Frage‘ nach dem historischen Jesus für Wagner ihren guten Sinn. Denn es könnte ja jemand auf die Idee kommen, dass die Aussagen über Jesus ihren Gegenstand verfehlen, dass sie also „bloße Produktion und Projektion des Glaubens der christlichen Gemeinde“118 sind. Die ‚neue Frage‘ nach dem historischen Jesus lässt sich so auch als die Frage nach der „Wahrheit“119 der christlichen 114
WAGNER, Christologie [WiTh], 333. Christologie-VL: Kapitel 2 und 3 (Teil 1) sowie Kapitel 4 und 5 (Teil 2); im Christologie-Aufsatz von 1975 ist diese Gliederung weniger deutlich, der Sache nach aber vorhanden. Dem zweiten Teil entspricht hier der Abschnitt 3c). 116 Vgl. WAGNER, Christologie-VL, 332. Dieser Satz ist vor dem Hintergrund des Wagnerschen Anliegens zu lesen, dass die Selbständigkeit des Gottesgedankens (die im Folgenden durch den historischen Jesus zum Ausdruck gebracht wird) immer zugleich mit seinem Für-Bezug entfaltet werden soll. Für diese Funktionalität des Gottesgedankens steht das Kerygma, wie Wagner z.B. auch in den Metamorphosen betont: die Bemerkung, dass „der Inhalt der christlichen Religion allein von der differenzierten vorstellenden Tätigkeit […] der christlichen Gemeinde entwickelt und durchgeführt wird“, begründet er hier damit, dass „jeder Inhalt dies allein dadurch [ist], daß er für ein wie auch immer geartetes sprachfähiges Bewußtsein erscheint“ (WAGNER, MM, 104). 117 WAGNER, Christologie-VL, 327; Hervorhebung MS. 118 WAGNER, Christologie [WiTh], 320; Hervorhebung MS. 119 WAGNER, Christologie [WiTh], 320. 115
II. Die Christologie
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Aussagen verstehen. Sie „dient […] dazu, die Aussagen über den geglaubten Jesus als den Christus in Jesu Auftreten und Verkündigung selbst zu verankern.“120 Gefragt wird nach der „Genese“ des Gemeindeglaubens. Wie ist es dazu gekommen, dass die Gemeinde Jesus als den Christus verehrt? „Wodurch ist die Erzeugung Jesu Christi erzeugt worden?“ 121 Die Antwort, die mit dem Hinweis auf den historischen Jesus plausibel gemacht werden soll, lautet: Der Urheber des Gemeindeglaubens ist Jesus selbst. Wagner bestimmt das Verhältnis von historischem Jesus und Gemeindeglaube hier im Sinne des Schemas von impliziter und expliziter Christologie.122 Nicht verhält es sich so, dass die Gemeinde der Jesusgeschichte das Prädikat des Göttlichen zuspricht; vielmehr spricht sie mit der Aussage, dass Jesus der Christus ist, lediglich die Bedeutung aus, die dieser Geschichte selbst innewohnt. Es ist also die Jesusgeschichte selbst, die Merkmale des Göttlichen aufweist und insofern das Bekenntnis der Gemeinde begründet. Die Rückfrage nach dem historischen Jesus soll mithin die Intention der Gemeinde absichern, dass Jesus nicht nur im und durch den Glauben Gott ist, sondern dem Glauben bereits als solcher vorausgesetzt ist.123 Wagner spricht diese Voraussetzungsstruktur – die Idee also, dass Jesus bereits an sich selbst Gott ist – nun so um, dass nicht die Gemeinde, sondern Jesus sich als Christus erzeugt hat. „Jesus Christus wird als sich selbst produzierendes Subjekt, als Jesus der Christus, von den Gemeinden für ihr Kerygma vorausgesetzt.“124 Um den Projektionsverdacht zu entkräften, wird also das Verhältnis der Verkündigung zu Jesus Christus als ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis bestimmt: Das Kerygma verdankt sich Jesus Christus, der wiederum sich selbst begründet hat.125 Damit wird für Jesus Christus die Struktur der Selbstbegründung bzw. der causa sui in Anspruch genommen, die Gemeinde interpretiert Jesus also ganz im Sinne des traditionellen Gottesgedankens. Wagners Formulierung, dass Jesus Christus als absolutes Subjekt von den Gemeinden 120 WAGNER, Christologie-VL, 327. Damit bringt die ‚neue Frage‘ ein Interesse der urchristlichen Gemeinden selbst zum Ausdruck: „Das Festhalten an der Positivität des historischen Jesus ist die Weise, wie die Gemeinden versuchen, den im Kerygma objektivierten Christus dem Projektionsverdacht zu entnehmen“ (WAGNER, Tod, 332). 121 WAGNER, Christologie [WiTh], 320. 122 Vgl. WAGNER, Christologie-VL, 332. Zur Unterscheidung von impliziter und expliziter Christologie vgl. DANZ, Grundprobleme, 185ff. 123 Der Sinn der neuen Frage nach dem historischen Jesus besteht dann nicht in der Kritik, sondern in der Begründung des Gemeindeglaubens, vgl. WAGNER, Christologie-VL, 328. Sie verfolgt damit dieselbe Intention, die zur Niederschrift der Evangelien geführt hat (s.u.). 124 WAGNER, Christologie-VL, 329. Vgl. DERS., Christologie [WiTh], 321: „Jesus hat sich selbst als Christus des Glaubens erzeugt und produziert.“ 125 WAGNER, Christologie-VL, 327: „Die Bedeutung der Rückfrage nach dem historischen Jesus besteht sonach darin, die Erhebung Jesu zum Gegenstand der kerygmatischchristologischen Aussagen aus der Selbstproduktion Jesu verständlich zu machen.“
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Dritter Teil
für ihr Kerygma vorausgesetzt wird, macht nun allerdings darauf aufmerksam, dass Jesus Christus die Bestimmung oder Qualifizierung als absolutes Subjekt der Gemeinde verdankt. Wagner geht davon aus, dass Jesus keinen der sog. christologischen Hoheitstitel für sich in Anspruch genommen habe. Er deutet diesen Umstand so, dass „Jesus […] sich nicht selbst als sich selbst produzierendes Subjekt gewußt“ hat.126 Wagner unterscheidet also offensichtlich zwei Dinge. Die Rückfrage nach dem historischen Jesus erinnert erstens an die Eigenbedeutung oder Selbständigkeit der Jesusgeschichte gegenüber den Deutungen der Gemeinde. Die Jesusforschung sichert mithin das irreduzible Gegenüber von Jesus und Gemeinde;127 sie stellt fest, dass die Jesusgeschichte im Gemeindeglauben nicht aufgeht, sondern einen normativen Eigengehalt besitzt. Darin besteht das Recht in der Rede von der Voraussetzung und das soll mit dem Begriff der Selbstproduktion eingeholt werden. Was ‚Jesus Christus‘ ist, steht fest, unabhängig davon, ob es geglaubt wird oder nicht. Die Selbstdefinition Jesu Christi vollzieht sich jenseits des Glaubens, das soll mit dem Festhalten am historischen Jesus zum Ausdruck gebracht werden.128 Zweitens hält Wagner mit Verweis auf die Hoheitstitel dann aber fest, dass die Thematisierung Jesu als Christus nicht durch ihn selbst, sondern durch die Gemeinde geschieht. Er holt damit die Einsicht ein, dass jeder Gehalt unter der Bedingung des Wissen-Könnens steht. Für Wagner ist damit eine wichtige Erkenntnis formuliert: Die Realisierung oder Manifestation dessen, was Jesus Christus bedeutet, geschieht allein durch die Gemeinde.129 Dieselbe Einsicht wird für die Gemeinde allerdings zum Problem. Denn sie erfasst Jesus Christus mit den Kategorien des religiösen Bewusstseins, d.h. sie erblickt in ihm ihren Gott, von dem sie sich einseitig abhängig weiß. Der Umstand aber, dass Jesus als Christus durch die Gemeinde gewusst wird (durch die Gemeinde als das, was er an sich ist, qualifiziert wird), steht in Spannung zu ihrer Behauptung, dass Jesus Gott ist. Denn diesem mangelt es scheinbar an Selbstbewusstsein: Jesus 126
WAGNER, Christologie-VL, 329; Hervorhebung MS. An diesem Urteil hält Wagner auch in seinem letzten Aufsatz zur Thematik fest, vgl. WAGNER, Tod, 331f. 127 Damit findet sich auch in der Christologie der Dualismus von Selbständigkeit und Für-Bezug (Funktionalität), den Wagner auch mit Blick auf das Absolute selbst zu entwickeln sucht. Vgl. zur Irreduzibilität des Dualismus v.a. Teil 2, Kap. II.2c und 4. 128 Wagner kann daher sagen, dass die Rückfrage nach dem historischen Jesus in dieser Argumentation dieselbe Funktion einnimmt wie die Trinitätslehre. „Der historische Jesus sichert das Voraussein Jesu vor dem Kerygma. Auf entsprechende Weise soll die Trinitätslehre das Voraussein der Subjektivität Gottes nicht nur gegenüber Welt und Mensch, sondern auch gegenüber dem verkündigten und geschriebenen Wort Gottes garantieren (K. Barth)“ (WAGNER, Christologie-VL, 329). Gerade diese Unabhängigkeit (Selbständigkeit) kann jedoch im Ausgang vom Glauben nicht erreicht werden. 129 Parallel zu der Formulierung, dass der Mensch das Dasein Gottes ist, ließe sich sagen, dass die Gemeinde das Dasein Jesu Christi ist.
II. Die Christologie
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Christus weiß sich nicht selbst, sondern er wird durch eine Instanz gewusst, die ihm äußerlich ist und durch die er insofern bedingt ist.130 Die Gemeinde jedoch, und darin erblickt Wagner den entscheidenden Fehler, der ihr Bewusstsein von Jesus Christus zugleich als ein religiöses Bewusstsein kenntlich macht, überwindet dieses scheinbare Gegeneinander von Gemeinde und Jesus Christus nicht dadurch, dass sie ihr Bewusstsein von Jesus Christus bereits als solches als Jesu Selbstbewusstsein auffasst, sondern sie hypostasiert dieses Bewusstsein, indem sie es dem Gegenstand (Jesus Christus) selbst zurechnet.131 Die Gemeinde begreift ihr Wissen von Jesus Christus nicht als ihr Wissen, sondern sie versteht sich als passiven Träger einer ihr fremden, gleichsam objektiv vorliegenden Wissensform. Um jeden Anschein einer Abhängigkeit zu vermeiden bzw. um die Voraussetzungsstruktur aufrecht zu erhalten, versteht die Gemeinde ihre Bestimmung Jesu als absolutes Subjekt als einen Reflex auf Jesu eigene Bestimmung als absolutes Subjekt. Jesus Christus soll nicht nur der Gegenstand, sondern auch der Grund ihres Glaubens sein.132 Das Implizit-Explizit-Schema wird also so verstanden, dass auch die Explikation der in Jesu Geschichte implizierten Christologie durch das Bekennen der Gemeinde auf Jesus selbst zurückgeführt wird. Ganz in diesem Sinn erklärt Wagner dann auch die Entstehung der Evangelien. Mittels ihrer will die Gemeinde zeigen, dass Jesus nicht nur an sich selbst, sondern dass er schließlich auch für sich Gott war, dass er sich letztlich auch als solcher offenbart hat. Die Evangelien sollen demonstrieren, dass Jesu Weg (Verkündigung, Tod und Auferstehung) „dessen Entwicklung zur sich wissenden Selbstproduktion der Jesus-Christus-Einheit“133 darstellt. Die Rekonstruktion des Weges Jesu dient also dem Nachweis, dass die Qualifikation Jesu als absolutes Subjekt in dessen Selbstqualifikation oder Selbstmanifestation gründet. Durch die Evangelien wird – neben dem Prädikat der Selbstproduktion – auch das zweite notwendige Moment des traditionellen Gottesgedankens (Gott als absolute Selbstbestimmung), das der Selbstmanifestation bzw. der Selbsterfassung für Jesus in Anspruch genommen. „Daß der geglaubte Christus sich der Selbstproduktion Jesu verdankt, ist […] erst dann im Sinne eines vollständigen Begriffs von Selbstbewußtsein erfaßt, wenn gezeigt werden kann, daß sich Jesus Christus auch als selbstproduzierendes Selbstbe130 Vgl. WAGNER, Tod, 331: „Als vorausgesetztes sich selbst produzierendes Subjekt wird Jesus als Christus zwar gewußt (von den Gemeinden verehrt und bekannt), aber so, daß Jesus nicht für sich selbst das sich selbst produzierende Subjekt, d.h. Jesus der Christus ist.“ Zur daraus resultierenden Abhängigkeit vgl. ebd., 332. 131 Während WAGNER also zwischen (1) der Selbstproduktion und (2) der Thematisierung Jesu Christi unterscheidet, erstere dabei Jesus selbst, die zweite aber der Gemeinde zuweist, erhebt die Gemeinde Jesus dadurch zu ihrem Gott, dass sie ihm beide Prädikate beilegt. 132 Vgl. WAGNER, Tod, 332, mit Verweis auf 1. Kor 3,11. 133 WAGNER, Christologie-VL, 330; Hervorhebung MS.
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Dritter Teil
wußtsein weiß“134. Verkündigung, Tod und Auferstehung als die entscheidenden Etappen des Weges Jesu sollen dabei als Aufbaumomente sich wissender Selbstproduktion durchsichtig gemacht werden. b) Der Weg Jesu Durch ihre Darstellungen des Weges Jesu will die Gemeinde zeigen, dass ihr Christusbekenntnis „‚Anhalt‘ an Jesus selber hat“135. Die Gemeinde ist der Produzent der Darstellungen, die die Entwicklung Jesu zum Christus, oder – in Wagners spröder Diktion – den Aufbau der Jesus-Christus-Einheit nachzeichnen. Diese Darstellungen sind jedoch, so meint Wagner mit der JesusForschung zeigen zu können, „nicht pure Konstruktion“136. Sie setzen vielmehr etwas voraus, „was nicht in bloßer Produktion der Gemeinde aufgeht.“137 Bei dieser Voraussetzung handelt es sich einerseits um Jesu Botschaft und andererseits um seinen Tod, der für Wagner nicht ohne diese Botschaft zu verstehen ist. Anders verhält es sich mit Jesu Auferstehung. Während es sich bei den Darstellungen der Verkündigung und des Todes um (vom Glauben geprägte) Rekonstruktionen historischer Ereignisse handelt, fehlt den Darstellungen der Auferstehung ein solcher Rückhalt in der Historie. Folgt man Wagner, so haben sie den Status reiner Gemeindeproduktionen. Anders gesagt: das Subjekt der Auferstehung ist die (ihrer selbst nicht bewusste) Gemeinde. Auf der letzten Station des Weges Jesu wird somit deutlich, wer immer schon der Regisseur der Geschichte war; an ihrem Ende tritt die Perspektive, der die Evangelien insgesamt verpflichtet sind, unverstellt zutage. i) Jesus als „Botschafter der Anerkennung“138 Jesus verkündigt einen neuen Gott. Was ist der Inhalt seiner Botschaft, die Wagner zufolge eine solche „Provokation“139 für seine Zeitgenossen ist, dass sie ihn hinrichten lassen? Jesus predigt und lebt die Annahme des Menschen durch Gott. Diese Annahme gilt unbedingt; Gott will nicht den gehorsamen Knecht, sondern ein freies Gegenüber. Wagner kann auch sagen, Jesu Botschaft sei die Anerkennung des Menschen durch Gott oder, so die abstrakteste Formel, Gottes Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins. Damit stellt er Jesus in einen fundamentalen Gegensatz zu seiner religiösen Umwelt, die der Logik unmittelbarer Selbstbestimmung verpflichtet sei. Gottes Anerkennung des Menschen impliziert, dass das Tun des Menschen „gleichnisfä134
WAGNER, Christologie [WiTh], 322; Hervorhebung MS. WAGNER, Christologie-VL, 332. 136 WAGNER, Christologie-VL, 332. 137 WAGNER, Christologie-VL, 332. 138 WAGNER, Tod, 337. 139 WAGNER, Christologie-VL, 334. 135
II. Die Christologie
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hig“ für das Tun Gottes ist. In Jesu Tun, in „seinem Verhalten zu anderen Menschen“140 ist Gottes Reich nahe; Gottes Liebe zu den Menschen realisiert sich in der menschlichen Nächstenliebe. Will Gott das freie Gegenüber, dann bedeutet die Realisierung seiner Herrschaft, die nun mit den Begriffen Liebe und Freiheit charakterisiert wird, nicht länger seine Selbstdurchsetzung, sondern ein Geschehen, dass die freie Antwort des Menschen mit umfasst. Jesu Verkündigung des neuen Gottesbildes ist in einem die Verkündigung eines neuen Menschenbildes und so im umfassenden Sinn „revolutionär“141. Ist Gott nicht länger Herr, dann ist der Mensch nicht länger Knecht; diese Einsicht aber ist eine, die der Mensch nur selbst vollziehen kann, eben das wird in „Jesu Forderung nach Umkehr“142 deutlich. Die Realisierung der Botschaft Jesu „schließt die Selbständerung des Menschen auf konstitutive Weise ein.“143 Der Bußruf Jesu ereignet sich daher nicht im Schatten eines kommenden Gerichts, sondern ist im Gegenteil Ausdruck „der zuvorkommenden Güte Gottes“144. Der neue Gott und der neue Mensch stellen nun zunächst nur den Inhalt einer Botschaft, eben der Botschaft Jesu dar. Zwar kommt in Jesu Tun jene Menschwerdung Gottes, die Realisierung der Anerkennungsbotschaft bereits zum Vorschein; Jesus selbst hält sich aber nicht selbst für den Menschen, an dessen Stelle sich Gott expliziert, er verkündigt ihn vielmehr; Christus ist der Gegenstand seiner Verkündigung, von der er selbst als Verkündiger unterschieden ist. ii) Jesu Tod als Realisierung seiner Botschaft Der Tod Jesu ist die Aufhebung der Differenz zwischen der Verkündigung und dem Verkündiger. Wagner interpretiert den Tod Jesu als das Einswerden von Gott und Jesus, von allgemeinem und besonderem Subjekt durch die Negation des besonderen Subjekts, verstanden als Aufhebung des besonderen in das allgemeine Subjekt. Konkreter bedeutet das Einswerden von Gott und Jesus, dass Jesus in seinem Tod mit Christus identifiziert wird. Christus ist dabei zu verstehen als das Andere Gottes, als der Mensch, an dessen Stelle sich Gott expliziert. Inwiefern kann nun gesagt werden, dass Jesus durch seinen Tod mit Christus identisch wird? Wagner geht zunächst davon aus, dass die Gegner Jesu diese Identifikation vornehmen, indem sie Jesus um seiner Botschaft willen töten. Mit der Kreuzigung des Botschafters soll auch die Idee des Gottessohnes aus der Welt geschafft werden.145 Angesichts des 140
WAGNER, Christologie-VL, 333. WAGNER, Christologie [WiTh], 323. 142 WAGNER, Christologie-VL, 333. 143 WAGNER, Christologie-VL, 334. 144 WAGNER, Christologie-VL, 333. 145 WAGNER, Christologie-VL, 335: „Durch den gewaltsamen Tod soll durch die Negation des Verkündigers auch der verkündigte Inhalt beseitigt werden.“ 141
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Dritter Teil
drohenden Todes distanziert sich Jesus aber nicht von der Idee des Gottessohnes, sondern er bleibt ihr treu. Wagner formuliert es so, dass sich Jesus an seine Botschaft entäußert und hingibt. Die Botschaft lautet, dass sich Gott an der Stelle des Menschen manifestiert (dass der Mensch gleichnisfähig für Gott ist), und zwar genau dann, wenn der Mensch selbst der „Logik der Anerkennung“146 folgt, also die Selbständigkeit des Anderen anerkennt. Dass Jesus sich vollständig an seine Botschaft hingibt, heißt dann: ich anerkenne, das ich Gottes Sohn bin, d.h. dass ich Gott in der Welt realisiere, und ich bin es genau dann, wenn ich mich nicht unmittelbar selbst durchsetze, sondern die Freiheit der Anderen anerkenne und mich durch sie bestimmen lasse. Diese Worte können m.E. als Auslegung des Satzes dienen, dass der Tod Jesu als „Selbstanwendung seiner Verkündigung“ 147 zu verstehen sei. Warum ist aber gerade der Tod Zeichen dafür, dass Jesus die Anerkennungsbotschaft realisiert, warum erblickt Wagner gerade in Jesu Tod den „Zusammenfall von Wort und Tat“148? Im gewaltsamen Tod, so könnte man sagen, wird man nicht mehr durch sich selbst, sondern nur noch durch anderes bestimmt, der Tod ist die Aufgabe jeglicher Souveränität über das eigene Dasein, die Auslieferung an die Freiheit der anderen in ihrer äußersten Zuspitzung und – aus der Perspektive der eigenen Freiheit und Aktivität – die „Entäußerung an das denkbar extremste Anderssein“149. Anerkennung des Anderen bedeutet, sich für den Anderen zu öffnen, sich durch ihn prägen und bestimmen zu lassen. Anerkennung des Anderen impliziert also in jedem Fall ein Anderswerden, und für Wagner zeigt sich am Kreuz genau dieses negative Moment der Anerkennung. „Durch den Tod Jesu wird auf radikale Weise die Einsicht vollzogen, daß zur Anerkennung möglichen Andersseins die Selbstveränderung als Selbstüberschreitung gehört, die im Falle des Todes Jesu sogar als Selbstpreisgabe realisiert wird.“ 150 Wagner kann sagen, dass sich Jesu Botschaft der Anerkennung durch seinen Tod als göttlich erweist, insofern der Tod nichts 146
WAGNER, Christologie-VL, 335. WAGNER, Christologie-VL, 335. 148 WAGNER, Christologie-VL, 335. 149 WAGNER, Tod, 336. Wagners Deutung des Todes Jesu ist mit der Schwierigkeit belastet, dass er das Andere, an das sich Jesus entäußert, unterschiedlich bestimmen kann. Nennt er an dieser Stelle den Tod (die Passivität) als das Andere der Aktivität, so redet er an anderer Stelle davon, dass der Botschafter Jesus sich an seine Botschaft als das Andere seiner selbst entäußert: „Er [Jesus] erkennt als besonderes Subjekt den Inhalt seiner Verkündigung dadurch an, daß er sich an der Stelle des Inhalts als Stelle seines Andersseins darstellt“ (WAGNER, Christologie-VL, 341). Die beiden Bestimmungen schließen sich m.E. nicht gegenseitig aus: Dass Jesus sich an der Stelle seiner Botschaft darstellt, heißt, dass er sich mit dieser Botschaft identifiziert. Sich mit der Botschaft zu identifizieren meint, sie zu vollziehen. Wenn Jesus die Botschaft der Anerkennung vollzieht, dann besagt das, dass er die Selbständigkeit der Anderen anerkennt. Eben das kommt in seinem Tod zum Ausdruck. 150 WAGNER, Christologie-VL, 335. 147
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anderes als der Vollzug oder die Realisierung dieser Botschaft ist. Formuliert Jesu Botschaft den Begriff der Anerkennung, so manifestiert sich in Jesu Tod eine Wirklichkeit, die diesem Begriff entspricht. Durch seinen Tod erweist sich Jesus, so könnte man mit Schleiermacher sagen, als das Sein des Begriffs selbst.151 „Eine derartige Einheit von Sagen und Tun oder von Begriff und Realität können wir als göttlich bezeichnen.“ 152 Gottes Manifestation als Christus, d.h. seine Manifestation an der Stelle seines Andersseins, vollzieht sich nun zwar durch Jesus, allerdings so, dass dieser als individuelles Subjekt negiert wird. Durch Jesu Tod ist die Anerkennung nicht länger der Inhalt einer Botschaft, nicht länger nur im Medium ihrer Verkündigung da, sondern durch und in seinem Tod wird sie selbst zu einem Ereignis dieser Welt. Ist Jesu Botschaft die Darstellung der Anerkennung durch einen Anderen, so gelangt sie in seinem Tod an sich selbst zur Darstellung. „Denn indem sich Jesus aufgrund seines Todes an den Inhalt der Verkündigung entäußert, kann der Inhalt, die Logik der Anerkennung und die sie einschließende göttliche Selbstentfaltung an der Stelle des Andersseins, an sich selbst erfaßt werden.“153 Dass die Logik der Anerkennung an sich selbst erfasst werden kann, bedeutet aber eben auch, dass das Individuum Jesus negiert wird. Darin erblickt Wagner noch eine Einseitigkeit,154 die durch die Auferstehung aufgehoben wird. iii) Jesu Auferstehung als seine Anerkennung durch die Gemeinde Jesus bringt durch seinen Tod Christus in die Welt. Dadurch realisiert er Gott an der Stelle seines Andersseins. Er tut das, indem er als menschliches Individuum seine menschliche Umwelt in ihrem Anderssein radikal anerkennt, oder, mit der Sprache der Überlieferung, indem er seine Feinde liebt. Während Jesu Umwelt von dem neuen Gott der Anerkennung in Jesu Botschaft lediglich hört, hat sie ihn in seinem Geschick vor Augen. Die Auferstehung interpretiert Wagner nun so, dass die Umwelt Jesus als den, der Christus realisiert, anerkennt.155 Eben das kommt in ihrem Bekenntnis, Jesus sei der Christus, zum Ausdruck. „‚Jesus als Christus‘ ist der Ausdruck für die Anerkennung der Gemeinde, daß Gott so ist: sich an der Stelle des Menschen zu entfalten, und zwar so, daß die Stelle des Andersseins die göttliche Selbstexplikation vollzieht und ihr so entspricht.“156 Es ist Jesu Bedeutung, auf exemplarische Weise zu demonstrieren, dass Gott sich an der Stelle des Menschen realisiert und wie genau man sich diese Realisierung vorzustellen 151
Vgl. SCHLEIERMACHER, Glaube, 43 (§94). WAGNER, Tod, 336. 153 WAGNER, Christologie-VL, 337. 154 Vgl. WAGNER, Christologie [WiTh], 323f. 155 Vgl. die Formulierung Wagners, Gott werde „an der Stelle des Andersseins durch das Anderssein anerkannt“ (WAGNER, Christologie-VL, 341). 156 WAGNER, Christologie-VL, 342. 152
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hat.157 Man wird daher urteilen müssen, dass es für Wagners Christologie unerheblich ist, wer genau Jesus von Nazareth war, es geht nicht um ihn als Individuum, sondern um das, was er ein für alle Mal über Gott und sein Verhältnis zum Menschen offenbart. Jesus zeigt, dass Gott sich an der Stelle des konkreten Menschen expliziert und wie er das tut. Offenbart sich in Jesu Lehre und Geschick ein allgemeiner Grundsatz über den Menschen, so besteht seine Auferstehung in der Anerkennung dieses Grundsatzes durch den Menschen. Auferstehung bedeutet also: der Mensch weiß, dass Gott durch den konkreten Menschen realisiert wird. Indem die Gemeinde eben dies ausspricht, dass Jesus der Christus ist, vollzieht sie „die Negation der Negation“158, spricht sie die positive Bedeutung des gestorbenen Jesus aus. „Der Bewegung vom Subjekt zum Objekt, die mit dem Tod Jesu erfolgt, korrespondiert die Bewegung vom Objekt zum Subjekt zurück, die durch die Vorstellung der Auferstehung namhaft gemacht wird.“159 Dass sich die Bewegung zurück ins Subjekt als Auferstehungsglaube artikuliert, weist jedoch auf ein bereits angesprochenes Problem hin: Die Gemeinde bindet Christus an das historische Subjekt Jesus, sie bezieht ihr Wissen nicht auf sich selbst, hält sich nicht selbst für das konkrete Subjekt, durch das Gott realisiert wird, sondern unterscheidet es von sich. Die Gemeinde weiß zwar um die Einheit von Gott und Mensch, bezieht sich aber selbst nicht in diese Einheit mit ein. Überblickt man Wagners Darstellung des Weges Jesu, dann zeigt sich, dass jede der drei Stationen einen Anerkennungsvollzug beschreibt, dabei aber jeweils von einem anderen Subjekt ausgeht. Jesu Botschaft verkündet die Anerkennung des Menschen durch Gott; Jesu Tod bedeutet wiederum die Anerkennung Gottes durch Jesus, die sich konkret in der radikalen Anerkennung seiner Mitmenschen äußert. Dieses Geschehen wechselseitiger Anerkennung ist nichts anderes als die Genese Jesu Christi. Die Auferstehung schließlich ist zu verstehen als Anerkennung dieses neuen Gottes, der sich der „Selbstentäußerung“ Jesu verdankt, durch die Gemeinde. Durch die Auferstehung wird der Verkündiger, wird Jesus, selbst zum Verkündigten. Die Gemeinde anerkennt, dass Jesus der Christus ist, d.h. sie macht die Identifikation von Jesus und Christus, die im Tode Jesu zum Ausdruck kommt, explizit. „Jesus wird anerkannt als derjenige, der an der Stelle des menschlichen Andersseins, nämlich als Mensch und für die Menschen die Selbstexplikation Gottes an der Stelle des Andersseins vollzieht.“160 Verkündigte Jesus den Gott, der sich an der Stelle des Menschen expliziert, der als Christus im Menschen den Menschen nahe ist, so verkündigt die Gemeinde Jesus selbst als 157
WAGNER, Christologie-VL, 342. WAGNER, Christologie [WiTh], 324. 159 WAGNER, Christologie [WiTh], 324. 160 WAGNER, Christologie-VL, 341. 158
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diesen Christus. „So ist Jesus als Christus selbst die Nähe Gottes, die Jesus verkündigt hat.“161 Mit der Rede von der Auferstehung will die Gemeinde freilich ihre Verkündigung Jesu Christi als dessen Selbstexplikation (Selbstmanifestation bzw. Selbstoffenbarung) geltend machen. Begründet so der Tod Jesu das Moment der Selbstbegründung (Jesus als sich selbst produzierendes Subjekt), so signalisiert die Rede von der Auferstehung das Moment sich wissender Selbstbegründung. Damit ist eingeholt, was durch die Darstellungen des Lebens Jesu gezeigt werden sollte: dass das Bekenntnis zu Jesus Christus keine Projektion der Gemeinde ist, sondern dass es seine Begründung durch die Stationen des Weges Jesu erfährt. c) Die theo-logische Wende Dennoch bleibt es dabei, dass die Darstellung des Lebens Jesu ein Produkt des Gemeindeglaubens ist. Auch der christliche Glaube ist so von der religiösen Grundaporie betroffen:162 Das Leben Jesu, dass den Glauben begründen soll, verdankt sich eben diesem Glauben. Wagner hält „diese Art der Begründung“ des Glaubens daher für „unzureichend“. „Der Versuch, von Jesus selbst zu zeigen, daß ihm die Bedeutung des sich selbst produzierenden Selbstbewußtseins, der Jesus-Christus-Einheit, zukommt, bleibt an den Ausgangspunkt: an die kerygmatisch-christologischen Aussagen der Gemeinde gebunden.“163 Was bisher entfaltet wurde, ist die Vorstellung der Gemeinde, dass Jesus Christus das sich wissende absolute Subjekt ist. Es ist die Behauptung oder der Gedanke der Gemeinde, dass Jesus Gott ist. Nun muss es darum gehen, diesen Gedanken von seinem Inhalt her zu verifizieren. Diese Unternehmung bezeichnet Wagner als „theo-logische Wende“. Gemeint ist damit der Versuch, die Aussage der Gemeinde über Gott anhand von dessen Selbstaussage zu begründen.164 Es geht also um einen Subjektwechsel: geriet bislang die Selbstexplikation Gottes aus der Perspektive der Gemeinde in den Blick, so soll sie nun ‚an sich‘, also von Gott her, vollzogen werden. Wagner will damit nicht leugnen, dass immer nur der Gedanke der Selbstexplikation Gottes zur Verfügung steht. Die Frage ist aber, wer das Subjekt dieses Gedankens ist. Auf der Ebene des Gemeindeglaubens wird der Gedanke der Selbstexplikation durch ein anderes Subjekt, eben durch die Gemeinde, ge161
WAGNER, Christologie-VL, 342. Vgl. dazu Teil 1, Kap. I.2. 163 WAGNER, Christologie-VL, 330. 164 WAGNER, Christologie-VL, 342f.: „Das menschliche Wissen von Gott, der menschliche Begriff Gottes ist in den Selbstbegriff Gottes oder die menschliche Qualifizierung Gottes in die Selbstqualifizierung Gottes zu überführen.“ Man könnte auch sagen, das (menschliche) Gottesbewusstsein ist in den Gottesgedanken, oder die Religionstheorie in die Theorie der Selbstoffenbarung Gottes zu überführen. Vgl. auch ebd., 347–349. 162
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dacht. Gottes Selbstexplikation erscheint so als der Gehalt eines Gedankens, dessen Subjekt dem Vorgang der Selbstexplikation äußerlich bleibt, das diesen Gehalt vielmehr als gegeben voraussetzt. Sinn und Zweck der theologischen Wende besteht nun darin, diese Differenz zwischen dem Subjekt der Selbstexplikation und dem Subjekt des Gedankens der Selbstexplikation, die für das religiöse Bewusstsein konstitutiv ist, aufzuheben. Das andere Subjekt, die Gemeinde, kann Gott nicht äußerlich sein – zumindest dann nicht, wenn Gott als das absolute Subjekt gedacht werden soll; der Gedanke der Selbstexplikation, die Vorstellung der Gemeinde, ist als Gottes eigener Gedanke, als seine Selbstvorstellung durchsichtig zu machen. Der Ausgangspunkt darf also nicht länger der Gemeindeglaube sein, sondern das, wovon der Glaube redet: die Selbstexplikation Gottes. Diese Selbstexplikation kann aber nur so geschehen, dass in ihr die Differenz zwischen Selbstexplikation und Glauben an die Selbstexplikation selbst zum Thema und dann auch aufgehoben wird. Ziel ist es, die „Vorstellungen [der Selbstexplikation Gottes] auf die Selbstvorstellungen des Vorgestellten“165 zurückzuführen. „Mit seiner Selbstvorstellung legt sich das Vorgestellte in solchen Vorstellungen aus, die nicht der Produktion eines Bewußtseins entstammen, das von diesem Vorgestellten different ist. Vielmehr erfolgt diese Selbstvorstellung so, daß es das Vorgestellte selbst ist, das sich in selbst produzierten Vorstellungen expliziert. Durch den gewiß auch produzierten Gedanken der Selbstvorstellung des Vorgestellten wird daher die für das religiöse Bewusstsein signifikante Differenz von Vorstellung und Vorgestelltem auf die Einheit eines sich selbst produzierenden Aktzentrums zurückgeführt.“166
Innerhalb der Christologie wird so noch einmal deutlich, dass die theologische Wende (oder: die Umkehr der Blickrichtung bzw. die Flucht in den Begriff) der Begründung der Religion dient.167 Diese Begründung bedeutet allerdings zugleich eine Kritik des religiösen Bewusstseins, insofern dieses ein Bewusstsein der Differenz darstellt. 165
WAGNER, Christologie [WiTh], 329. WAGNER, Christologie [WiTh], 329. Zum Begriff des sich selbst produzierenden Aktzentrums vgl. ebd., 310 und den Abschnitt 2b) „Die Ableitbarkeit der christologischen Vorstellungen aus dem Selbstbewußtsein“ ebd., 316–318, dort v.a. den Hinweis, „daß das Aktzentrum, auf das die Produktion der Vorstellungen zurückgeführt wird, in eben diesen Vorstellungen seinen Selbstaufbau als Selbstbewußtsein vollzieht“ (ebd., 317; Hervorhebung MS). Vgl. auch den entsprechenden Abschnitt in der Christologie-Vorlesung (WAGNER, Christologie-VL, 322f.). 167 WAGNER, Christologie [WiTh], 328: „Die Religion […] bedarf der Theo-Logie und die Vorstellung des Denkens, damit die religiösen Vorstellungen auf die Selbstdarstellung des Vorgestellten – des allgemeinen Selbstbewußtseins – bezogen bleiben. Denn die Vorstellungen treffen das Vorgestellte nur dann, wenn davon ausgegangen werden kann, daß sich das Vorgestellte in jenen Vorstellungen selbst vorstellt. Wer sich mit Vorstellungen bescheidet, bezahlt seine Bescheidenheit mit dem Ende der Theologie, nämlich mit der Preisgabe der Begründungen von Vorstellungen durch die Selbstbegründung und Selbstdarstellung des Vorgestellten selbst.“ 166
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3. Die Begründung der Christologie Wenn es im Folgenden um die theo-logische Begründung des christlichreligiösen Bewusstseins geht, dann sind zwei Begründungsgänge voneinander zu unterscheiden. Der erste nimmt seinen Ausgang beim Schöpfergott, beschreibt dessen Menschwerdung,168 „die […] bis zur letzten Konsequenz getrieben wird, dem Kreuz von Golgatha,“169 und zielt auf die Auferstehung Gottes als Geist. Dieser Begründungsgang stellt auf vorstellungshafte Weise jene Manifestationsdialektik dar, die im ersten Kapitel mit rein begrifflichen Mitteln expliziert wurde. Die Verknüpfung, die die Gemeinde zwischen Mensch und Gott durch ihre Rekonstruktion des Weges Jesu herstellt, findet ihre Bestätigung sozusagen von oben her, nämlich durch die Selbstexplikation absoluter Selbstbestimmung. Der Weg Jesu wird damit als Gottesgeschehen, als „Werden“170 des neuen Gottes durchsichtig – analog zum Dreischritt der eben entfalteten Christologie ‚von unten‘ redet Wagner jetzt von Menschwerdung, Tod und Auferstehung Gottes. Für diesen ersten Begründungsgang gilt, dass der christliche Gottesgedanke an seinem Ende steht – aus dem Scheitern unmittelbarer Selbstbestimmung resultiert die neue Struktur der Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins.171 Der zweite Begründungsgang hingegen stellt den christlichen Gottesgedanken an seinen Anfang. Er setzt ein mit der immanenten Trinitität und ihm geht es darum, die Christologie als ein Moment in der Selbstexplikation des – nun christlich verstandenen – Absoluten begreiflich zu machen. Das Thema ist hier die positive Begründung der Christologie aus dem Gottesgedanken. Eine solche leistet der erste Begründungsgang noch nicht. Denn die Frage, wie es eigentlich sein kann, dass Gott ein anderer wird, ohne dass er aufhört, er selbst zu sein, wird dort noch nicht geklärt. Der zweite Begründungsgang stellt somit sicher, dass die Veränderung, welche die Menschwerdung für Gott bedeutet, seine Identität nicht gefährdet.172 Wagner kann das Verhältnis beider Begründungsgänge 168
Vgl. WAGNER, Christologie [WiTh], 330; DERS., Christologie-VL, 349–351. WAGNER, Gott [RG], 446. 170 WAGNER, Theorie [RG], 153. 171 Vgl. auch WAGNER, WiR, 585: „Das Resultat der Aufhebung Gottes als unmittelbare Selbstmacht kann als Struktur des trinitarischen Gottes expliziert werden.“ 172 Eben darum orientiert sich Wagner in diesem zweiten Begründungsgang an der Hegelschen Logik des Begriffs (s.u. S. 201). Denn die „Entwicklungsdialektik“ des Begriffs ist genau so zu beschreiben: als das „Sich-Erhalten einer Bestimmung in ihrer entgegengesetzten; Identität im Wechsel“ (SCHÄFER, Hegel, 117). Dabei stellt für Wagner die Erkenntnis der Menschwerdung Gottes den Ausgangspunkt dar. Die Menschwerdung vorausgesetzt, wird gefragt, wie es denn möglich sei, dass Gott sich als der Andere darstellt ohne seinen Status als Gott zu gefährden. Der entscheidende Begriff ist hier der einer Selbstunterscheidung Gottes. „Insofern die Trinitätslehre aufgrund der durchgeführten Selbstdarstellung Gottes im anderen gebildet wird, soll durch sie dargelegt werden, daß die göttliche Selbstunterscheidung in allgemeines und besonderes Selbstbewußtsein dem Begriff und 169
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auch so beschreiben: Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus ist der „Erkenntnisgrund“ für das neue, christliche Gottesverständnis. Erst daraufhin stellt sich die Frage nach dem „Seins- oder Ermöglichungsgrund“173 des Inkarnationsgeschehens. Ihrer Antwort dient die Lehre von der immanenten Trinität. a) Menschwerdung, Tod und Auferstehung Gottes (Negativer Begründungsgang) Was bringt der Inkarnationsgedanke zum Ausdruck? Im ersten Kapitel hat sich gezeigt, dass der Gedanke der Selbstmanifestation eine Selbstteilung Gottes voraussetzt. Die Inkarnation bedeutet die Anerkennung des Sachverhalts, dass Gott sich nur dann als aktive Substanz manifestieren kann, wenn er sich als passive Substanz voraussetzt. Dass Gott „sich um des Offenbarseins seiner Macht willen als Passivität voraussetzt“174, ja, voraussetzen muss, diese Einsicht wird durch die Inkarnation offengelegt: „Gott macht sich zu dem, als was er sich voraussetzt: zur Passivität.“175 Durch den Tod Jesu wird nun sowohl die Wahrheit Gottes als auch die Wahrheit des Menschen sichtbar. Es wird sichtbar, dass der Mensch (im Verhältnis zu Gott) nicht schlechthin passiv und Gott (im Verhältnis zum Menschen) nicht schlechthin aktiv ist. Wagner interpretiert den Tod Jesu als ein Geschehen, in dem sowohl Gott als auch der Menschen die Stelle des Subjekts wie auch des Objekts einnehmen, in dem also die „Indifferenz und Egalisierung der Unterscheidung von Gott und Mensch, von Aktivität und Passivität“176 zum Ausdruck kommt. Denn erstens bedeutet Jesu Kreuzigung die Tötung eines Menschen durch andere Menschen. Diese Menschen aber handeln, so Wagner, „im Namen des unmittelbar-absolut selbstbestimmenden Gottes“177, es geht also – zweitens – beim Tod Jesu darum, dass sich Gottes absolute Macht vermittels Jesu absoluter Ohnmacht manifestiert. Das Kreuz ist auf dieser Ebene der Widerspruch gegen Jesu Botschaft und als solcher die Manifestation der überlieferten Ordnung: Gott ist Subjekt und der Mensch ist damit der Identität Gottes entspricht. Denn soll die Inkarnation als Gottes Selbstentfaltung im anderen diesem nicht äußerlich sein, so muß die Selbstexplikation als Selbstunterscheidung Gott selbst immanent sein.“ (WAGNER, Christologie [WiTh], 331; vgl. DERS., Christologie-VL, 355f.). 173 WAGNER, Gott [RG], 446; im Original kursiv. 174 WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 346. 175 WAGNER, Christologie-VL, 350. Wie gesagt, bezieht Wagner diese Aussage nicht auf den Logos (das würde die Trinität bereits voraussetzen), sondern auf Gott selbst: „Gott selbst wird Mensch, er entäußert sich, gibt sich als Gott preis. […] Gott, die absolute Macht und Selbständigkeit stellt sich als ohnmächtig und abhängig dar.“ Vgl. WAGNER, Einleitung [RG], 386; WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 445f. 176 WAGNER, Christologie-VL, 352. 177 Ebd.
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Objekt. Tatsächlich aber – und drittens – realisiert sich im Tod Jesu Gottes Menschwerdung. Ihr dunkelstes Symbol hat sie im Kreuz von Golgatha: Gott stirbt – durch den Menschen. Die Menschwerdung bedeutet so den Umsturz der alten Ordnung, die Umwertung aller Werte: Der Mensch handelt und Gott leidet, der Mensch ist Subjekt und Gott Objekt. In dieser dritten Hinsicht ist der Tod Jesu Symbol für den „Gottesmord“ bzw. für die „absolute Sünde“178. Der Gottesmord zeigt sich nun in einer vierten und letzten Hinsicht als Selbsttötung Gottes. Selbsttötung deshalb, weil Gott, sofern er sich als absolute Spontaneität erweisen will, sich als absolute Passivität voraussetzen muss. Sein Sich-Manifestieren bedeutet so zugleich sein Sich-Erleiden. „Gott, der Herr, leidet in seiner Machtausübung an sich selber. Er ist darin in sich zerrissen, denn Gott braucht den Menschen als Passivität seines Tuns, aber diese Passivität ist Gott selbst.“179 Zudem geht Wagner davon aus, dass der Mensch (als derjenige, der zur Passivität bestimmt ist) dann, wenn er Gottes Wirken erleidet, seine Bestimmung realisiert; er wird – so Wagner im Anschluss an Hegel – „mit sich selbst zusammengeschlossen und ist so nicht länger von anderem her“180. Durch das Wirken Gottes wird sich der Mensch als die Bedingung göttlicher Machtausübung durchsichtig. Wo der Mensch sich seiner Selbständigkeit bewusst wird, da wendet er sich gegen sein altes Selbstbild, in dem er als bloßes Medium göttlicher Machtausübung erscheint. Diese Wendung des Menschen gegen sich selbst ist zugleich eine Wendung gegen Gott, insofern Gott sich als eben jene Passivität vorausgesetzt hat. Die Wendung des passiven Pols in einen aktiven Pol, den die absolute Macht im Vollzug ihrer Selbstmanifestation bewirkt, bedeutet mithin den Untergang der absoluten Macht. Gott als absolute Macht ‚hängt‘ gewissermaßen an der absoluten Ohnmacht, er „teilt das ‚Schicksal‘ der Passivität, als die er sich voraussetzt.“181 Diese Voraussetzung wird durch die Menschwerdung explizit gemacht. Und an ihr geht Gott zugrunde. Denn Gott kann sich nur so manifestieren, dass er den Menschen in die Freiheit entlässt (oder abstrakt: dass er die Passivität „zur Aktivität umbestimmt“182). Wo der Mensch diese Freiheit ergreift, wo er sich als Aktivität begreift, stirbt der allmächtige Gott. Der Versuch sich als absolute Macht zu manifestieren, führt in die „göttliche Katastrophe“183. Sie kulminiert im Kreuz Jesu. In ihm erweisen sich Gott und Mensch gleichermaßen als Aktivität und Passivität. Damit ist es Ausdruck der Indifferenz von Gott und Mensch. 178
WAGNER, Christologie-VL, 352f.; WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 348. WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 347. 180 WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 346. 181 WAGNER, Christologie-VL, 352. 182 WAGNER, Christologie-VL, 353. 183 WAGNER, Christologie-VL, 352. 179
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Im Tod Gottes verlieren der Gott und der Mensch ihre ursprüngliche Bestimmung. War der Ausgangspunkt eine Verhältnisbestimmung, in welcher Gott durch sich selbst, der Mensch hingegen von anderem her ist, so führt der Gottesmord in den „Zustand ‚Null‘“184, in den Zustand völliger Bestimmungslosigkeit. Dieser Zustand markiert für Wagner den Beginn der Neuzeit. Der Mensch ist nicht länger durch anderes bestimmt, sondern muss sich selbst bestimmen. Er ist frei. An dieser Stelle eröffnen sich zwei Möglichkeiten. Sie beziehen sich auf die Frage, wie der Mensch seine Freiheit versteht. Erstens kann der Mensch an der Logik unmittelbarer Selbstbestimmung festhalten. Der Mensch ersetzt Gott, indem er die Freiheit, die er bislang Gott zusprach, nun für sich selbst in Anspruch nimmt.185 Dies ist der Weg, den der Mensch in der Neuzeit Wagner zufolge faktisch gegangen ist. An seinem Anfang stehen Fichte und sein theologiegeschichtliches Pendant Schleiermacher, in seinem Fortgang entwickelt sich jene Dialektik der Aufklärung, die den Menschen zurück in die Unfreiheit führt, theoriegeschichtliche Ausdrucksgestalten dieses Rückfalls sind die Institutionenlehre Gehlens oder die Theologie Karl Barths. Diese erste Möglichkeit bezeichnet Wagner als titanische Freiheit. Ihr gegenüber steht die christliche Freiheit. Sie besagt, dass Gott und Mensch sich nur in ihrem jeweiligen Gegenteil haben. Gott ist nicht ohne den Menschen Gott – und umgekehrt. Um das zu verstehen, ist von der Beobachtung auszugehen, dass am Ende der Selbstauslegung Gottes beide, Gott und Mensch, „als ihr Gegenteil manifestiert sind“186. Die Selbstauslegung Gottes bedeutet so zunächst seinen Verlust als Gott. Dieser Gedanke, der die Negation unmittelbarer Selbstbestimmung bedeutet, lässt sich affirmativ interpretieren, wenn man sieht, dass Gott und Mensch sich durch die Realisierung der jeweils anderen Seite manifestieren. Gott realisiert sich an der Stelle des Menschen, der Mensch realisiert sich an der Stelle Gottes. Die Selbstrealisierung von Gott und Mensch ist nur über die die Realisierung des jeweils anderen möglich. Man könnte sagen, Gott kommt in der Realisierung des Menschen zu sich selbst, wie der Mensch in der Realisierung Gottes zu sich kommt. Wo diese Struktur vollzogen wird, herrscht Gott als Geist. Das Reich Gottes realisiert sich damit als Liebe und als Freiheit: „Liebe, die in der Hingabe an anderes zu sich selbst kommt, und Freiheit, die die nicht haltbare Alternative von Selbst- und Fremdbestimmung durch die Selbstdarstellung im Fremden überwindet.“187 Zweierlei verdient schon an dieser Stelle mit Blick auf Wagners Geistbegriff festgehalten zu werden. Erstens nimmt er ein Grundmotiv reformatorischen Rechtfertigungsglaubens auf: Die eigene 184
WAGNER, Christologie-VL, 353. In einem solchen Fall „käme es nicht zu einer Revolutionierung des Gottesgedankens, sondern zu einem einfachen Subjekttausch“ (WAGNER, Verantwortung [CM], 131). 186 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 85. 187 WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 349. 185
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Identität ist nicht etwas, das man macht, nichts, für dessen Realisierung man selbst Sorge zu tragen hat, sondern etwas, das einem geschenkt wird. Durch Gott ist der Mensch „als unendlich, unverlierbar anerkannt“188; besonders deutlich wird dies in Jesu Bußruf (s.o.), denn dieser zielt nach Wagner auf die „Abkehr von der menschlichen Eigenleistung (Lohn, Verdienst) und Eigensicherung (Besitz, Sich-Sorgen)“189. Entscheidend ist, dass Wagner das so reformulierte ‚sola fide‘ ins Prinzipielle wendet: Nicht nur dem Menschen, auch Gott ist die Sorge um sein Selbst aus den Händen genommen. Zweitens gewinnt die Struktur des Geistes an Konkretion, wenn man sie vor dem Hintergrund lutherischer Kreuzestheologie liest.190 Denn auch deren Leitmotiv, dass Gott erniedrigt, um zu erhöhen, wird von Wagner aufgegriffen und verallgemeinert: Auch Gott verliert sich, um sich zu gewinnen; auch er stirbt, insofern er „die ferne Macht“191, der vom Menschen geschiedene Gott war, und dieses Sterben ist die Kehrseite seiner Neukonstitution, die sich durch den Menschen vollzieht. b) Trinitätslehre und Christologie (Positiver Begründungsgang) Eine endgültige Fassung seiner Trinitätslehre hat Wagner nicht publiziert. Das gilt sowohl für die Lehre von der immanenten Trinität192 als auch für den hier ebenfalls interessierenden Übergang zur ökonomischen Trinität,193 an dem die Christologie ihren Ort hat. Basierte der eben beschriebene erste Begründungsgang auf Hegels Ausführungen am Ende der Wesenslogik, so folgt der zweite (trinitarisch-christologische) Begründungsgang dem Aufbau der Begriffslogik. Eine tiefergehende Interpretation Wagners hochspekulativer Ausführungen kann hier nicht geschehen, stattdessen soll nach der grundsätzlichen Bedeutung der Trinitätslehre für Wagners Theologiekonzeption gefragt 188
WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 348. WAGNER, Christologie-VL, 333. 190 Siehe dazu unten im Exkurs Kap. I. 191 WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 348. 192 Vgl. hierzu v.a. WAGNER, Inhalt [WiTh], 256–285. In einem ersten Teil stellt Wagner hier Hegels verschiedene religionsphilosophische Interpretationen der Trinitätslehre vor, der zweite Teil rekonstruiert dann „die logische Struktur der Trinität“ mit den Mitteln der Begriffslogik (264–276, bes. 267–270; auf den letzten Seiten des Kapitels setzt sich Wagner kritisch mit Pannenberg auseinander). Das Fazit lautet jedoch, dass in Hegels Version der Trinitätslehre die Selbständigkeit des Sohnes und des Geistes nicht gewahrt werde (ebd., 270). In einem „experimentierenden“ (ebd., 277) dritten Teil versucht Wagner dann eine eigene Darstellung der immanenten Trinität; anders als Hegel selbst bezieht er hier das gesamte Subjektivitätskapitel der Begriffslogik in seine Interpretation mit ein (vgl. MURRMANN-KAHL, Theologie, 57–59). Allerdings behandelt er die Urteils- und Schlusslehre „nur thetisch“ (ebd., 278). 193 Vgl. hierzu das fünfte Kapitel der Christologie-VL (360–367). Vgl. MURRMANNKAHL, Komplexität, 166. 189
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werden.194 Eröffnet sei dieser Abschnitt daher mit einem längeren Zitat, das deutlich macht, worum es nach Wagner bei der Trinitätslehre eigentlich geht. „Die Intention des trinitarischen Gottesgedankens besteht darin, Gottes Selbstsein und sein Sein-für-Anderes, seine Funktionalität[,] aus Gott, [aus] seiner einer eigenen Selbstdifferenzierung begreiflich zu machen – und zwar unter der Bedingung, dass das Anderssein der Welt und des Menschen nicht nur als einseitig passiv und abhängig, sondern als frei und selbständig zu bestimmen ist. Der trinitarische Gottesgedanke hat also begreiflich zu machen, dass Gott nicht bloß das freie Anderssein zulässt, sondern dass für die Erfassung des Selbstseins Gottes das freie Andersseins konstitutiv ist, so dass das göttliche Selbstsein das freie Anderssein einschließt und dieses zugleich begründet. Das freie Anderssein ist aus dem göttlichen Selbstsein begreiflich zu machen, aber so, dass das freie Selbstsein als selbständiges Selbstsein außerhalb Gottes existieren kann.“195
In der Trinitätslehre geht es also um das Verhältnis von Gott und dem „Anderssein der Welt und des Menschen“. Sie versucht dieses Verhältnis so zu bestimmen, dass dabei weder Gottes Gottheit noch die Freiheit der Welt bzw. des Menschen gefährdet werden. Sie stellt eine Theorie des Absoluten dar, welche die Einseitigkeiten sowohl der Religionstheologie als auch der WortGottes-Theologie vermeidet und welche zugleich die „Wahrheitsmomente“ 196 beider Seiten berücksichtigt; damit ist die Trinitätslehre die Einlösung des Programms, das zu Beginn dieses dritten Teils formuliert wurde.197 Insofern die Trinität als Subjektivität konzipiert wird, ist sie das Ergebnis einer affirmativen Deutung der Wechselwirkung. Das bedeutet konkret, dass die freie Entfaltung des Menschen für Gott nicht die Gefährdung seiner Gottheit bedeutet, sondern dass – im Gegenteil – die freie Entfaltung des Menschen die Explikation seiner Gottheit ist. Soll es Gottes Wesen sein, sich allein über den Umweg der Selbstentfaltung des Anderen zu realisieren, so bedeutet das näherhin, dass Gott „immer schon – ewig – für das Anderssein der Welt und des Menschen offen, aufgeschlossen und prägbar ist“198. Mit der Aussage, dass Gott immer schon für Anderes offen ist, soll eingeholt werden, dass das Andere Gott nicht fremd ist. Gott selbst kann ein Anderer werden, ohne seine Identität zu gefährden, genauer: er muss ein Anderer werden, um sich als Gott zu erfassen. Das freie Anderssein, so heißt es in dem zitierten Abschnitt, ist konstitutiv für die Erfassung des Selbstseins Gottes. Damit wird 194 Der folgende Abschnitt verzichtet darum auch weitgehend auf die der Begriffslogik entnommene Terminologie (Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit; vgl. dazu z.B. IBER, Konzeption, 181–201), auf die Wagner bei seiner Rekonstruktion der Trinitätslehre zurückgreift. 195 WAGNER, Christologie-VL, 356. In dieser Betonung des ‚Außerhalb‘ ist der entscheidende Unterschied zu Barths Trinitätslehre zu sehen. 196 WAGNER, Gott [RG], 449. 197 Vgl. auch die Ausführungen zum „Thema“ der Trinitätslehre in: WAGNER, WiR, 586f. und DERS., Gott [RG], 448ff. 198 WAGNER, Gott [RG], 449.
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die Einsicht, dass Gott nicht ohne den Menschen bzw. die Welt Gott ist, oder dass Selbstsein und Anderssein zusammen gehören,199 im Gottesgedanken selbst verankert. Entsprechend lautet Wagners Formel für die Trinität, dass Gottes Selbsterfassung seine Selbstunterscheidung ist. Er will damit sagen, dass Gottes Selbsterfassung nicht unmittelbar geschieht, sondern vermittels seiner Explikation als Sohn und als Geist. Dabei steht der ‚Sohn‘ für das freie Anderssein (für die Negation, den Unterschied), der ‚Geist‘ für die Einheit von Selbst- und Anderssein (die Negation der Negation). Die Trinitätslehre bringt zum Ausdruck: Gott ist vermittelte Selbstbestimmung (und d.h. nach Wagners Verständnis: Gott ist Freiheit), und das sieht man daran, dass Gott an sich selbst keine Substanz ist, sondern eben jene drei Momente, die den Vollzug vermittelter Selbstbestimmung ausmachen. Ist damit die Weltbeziehung im Gottesgedanken aufgehoben, so ist zu beachten, dass die Welt bzw. der Mensch dort nicht als bloßes Durchgangsmoment im Prozess göttlicher Selbstbestimmung, sondern als selbständiges Anderssein ihren Ort haben. Während die überlieferte Zuordnung der drei trinitarischen Personen auf einen Subordinatianismus hinauslaufe200 (vgl. die opera ad intra: Sohn und Geist sind vom Vater abhängig), strebt Wagner „gleichsam eine innere Gewaltenteilung und Demokratisierung im Absoluten“201 an. Er erreicht dies, indem er Selbstsein, Anderssein und die Einheit beider (Vater, Sohn und Geist) so konzipiert, dass sie einander begrifflich entsprechen. Das bedeutet, dass „jede Bestimmung [Vater, Sohn, Geist] an ihrer Stelle die Totalität der Bestimmungen repräsentiert.“202 Auch der Sohn und der Geist entsprechen der Struktur vermittelter Selbstbestimmung, weisen an sich selbst die Momente des Selbstseins und der Einheit von Selbst- und Anderssein bzw. des Selbstseins- und des Andersseins auf. Also: wie Gott zu sich selbst nur über seine Menschwerdung gelangt, so vermag der Mensch sich nur über die Ausbildung eines Gottesbewusstseins zu verwirklichen. Das Verhältnis von Vater und Sohn kann eben darum als selbstbezügliches Verhältnis verstanden werden, der Vater kann sich eben darum im Sohn erfassen, weil der Sohn dem Vater strukturell entspricht, weil er, wie Wagner es ausdrückt, gleichgültig selbständig ist. Für Vater und Sohn gilt gleichermaßen, dass sie Selbständige sind, „die an der Stelle ihres Gegenteils (Andersseins) sich selbst (Gegenteil des Gegenteils) explizieren.“ 203 199
DIERKEN, Theologie, 91. WAGNER, Christologie-VL, 356. 201 DIERKEN, Theologie, 92. Vgl. DRILO, Kritik, 150. 202 WAGNER, Inhalt [WiTh], 281. 203 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 85; vgl. ebd., 84: „Die als Selbstexplikation an der Stelle des Anderseins begriffene absolute Subjektivität ist die sich wissende und sich selbst thematisierende Subjektivität allein dadurch, dass sie sich an der Stelle des Andersseins realisiert, das als Anderssein die Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins selbständig verwirklicht.“ 200
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Dritter Teil
Die immanente Trinität besagt, dass Gott sich nur über das Setzen eines Selbstunterschieds als Gott erfasst und beschreibt das Andere als ein solches, das in seiner Struktur Gott selbst entspricht. Gottes Einheit ist damit nichts Gegebenes, sondern nur als das Resultat einer Entwicklung der jeweils selbständigen Momente denkbar. Denn die Entwicklung der trinitarischen Momente vollzieht sich als Selbsterfassung nur durch das Setzen der jeweils anderen Momente.204 Die (je autonome) Selbstverwirklichung von Vater, Sohn und Geist ist nichts anderes als die Offenbarung ihrer Einheit;205 alle drei demonstrieren im Vollzug ihrer Selbsterfassung ihre Zusammengehörigkeit. Damit kann nun auch die Funktion der Christologie noch einmal näher bestimmt werden. Denn diese demonstriert die Zusammengehörigkeit aus der Perspektive des Andersseins.206 Sie vollzieht „die Selbstexplikation an der Stelle des Anderssein explizit an der Stelle des Andersseins“207. In einer äußerst gerafften Argumentation, die sich am Objektivitätskapitel der Begriffslogik orientiert, versucht Wagner erstens zu zeigen, dass sich aus dem immanenttrinitarischen Begriff Gottes selbständiges Anderssein entwickeln lässt (Übergang zum externen, unbestimmten Anderssein), in einem zweiten Schritt fragt er dann, ob und wie es möglich ist, dass dieses externe Anderssein (also die Welt bzw. der Mensch) sich nun selbst gemäß der Subjektivitätsstruktur expliziert.208 Diese beiden Schritte, die Wagner auch als die zwei 204 Der Vater, der Sohn und der Geist stehen in keinem Abhängigkeitsverhältnis zueinander, sondern sind selbständig (ihr Verhältnis ist nicht durch Asymmetrie, sondern durch Gleich-Gültigkeit bestimmt). Sie sind aber nur dann ‚ganz‘, kommen nur dann zu sich selbst, wenn sie die jeweils anderen Momente explizieren, und zwar so explizieren, dass sie das Setzen des Anderen als einen Vorgang der Selbstexplikation auffassen. „Weil jede Begriffsbestimmung an sich selbst die Totalität der Bestimmungen darstellt, ist jede selbständig, aber jede ist nur die selbständige Totalität, insofern sie an ihrer eigenen Stelle die Stelle des Andersseins expliziert“ (WAGNER, Inhalt [WiTh], 281; Hervorhebung MS). 205 WAGNER, Christologie-VL, 358: „Die Einheit der Trinität ist also nur als Einheit des Vollzuges des Sich-Zusammenschließens explizierbar. Denn jede Bestimmtheitsweise ist zugleich die als manifest explizierte Einheit ihres Selbst-und Andersseins.“ 206 Vgl. WAGNER, Christologie-VL, 359. 207 WAGNER, Einleitung [RG], 388f. Vgl. auch DERS., Theo-Logik [RuG], 86: „‚Jesus der Christus‘ ist das menschliche Anderssein, das als Anderssein der Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins entspricht.“ 208 Zu dieser Argumentation, die sich freilich nur in der aus dem Nachlass publizierten Christologie-VL findet, vgl. MURRMANN-KAHL, Komplexität, 165–169. Begreift man den zweiten Schritt als die Realisierung Gottes durch den Menschen, die sich als die Etablierung von Anerkennungsverhältnissen vollzieht (s.u.), dann ist die entscheidende Frage wohl die, ob Gott damit in die Abhängigkeit vom Menschen gerät. In diese Richtung tendieren einige Bemerkungen K. Drilos in seinen Ausführungen zum Verhältnis von Religionsphilosophie und Theo-Logie, vgl. z.B. DRILO, Kritik, 149: „Dass sich die Selbstoffenbarung des Geistes an der Stelle seines Andersseins vollziehe, bedeute [so Wagner], sie realisiere sich als menschliches Selbstbewusstsein. […] Die Realität des Gottesgedankens
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Grundprobleme der Christologie bezeichnet, liefern ihm sodann das begriffliche Instrumentarium, mit dem er eine Neuinterpretation der überlieferten christologischen Vorstellungen unternimmt. Um dieses „System der Christologie“ soll es im letzten Abschnitt dieses Kapitels gehen. 4. Das System der Christologie Mit seinem System der Christologie zielt Wagner darauf ab, die selbständige Entwicklung des zweiten Moments der Trinität (des Sohnes bzw. des Andersseins) nachzuvollziehen. Gemäß der Maxime, dass auch der Sohn die Totalität der trinitarischen Momente repräsentieren muss, entfaltet Wagner das System der Christologie in drei Schritten, die jeweils der Logik einer Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins folgen und also immer einen Vollzug der Selbstüberschreitung darstellen. Der erste Schritt beschreibt den Übergang von Christus (vom Logos als dem allgemeinen oder internen Anderssein)209 zu Jesus. Ihm ordnet Wagner den Stand der Erniedrigung und das prophetische Amt zu. Es folgt zweitens die Erhebung Jesu zu Christus. Ihr entspricht der Stand der Erhöhung und das priesterliche Amt. Beschreiben die ersten beiden Schritte den Aufbau des christologischen Selbstbewusstseins, so stellt sich zuletzt die Frage nach seiner Selbsterfassung bzw. Selbstthematisierung. Diese vollzieht sich abermals in der Form einer Selbstunterscheidung; Schritt drei markiert daher den Übergang von der Christologie zur Pneumatologie. Hier haben für Wagner die Lehre von der Idiomenkommunikation und das königliche Amt ihren Ort.210
hänge von dem Bewusstsein ab, an das der Gottesgedanke adressiert sei.“ (Vgl. ebd., 152: „Die Angewiesenheit des Absoluten auf das Endliche“). Man wird allerdings auf das Nacheinander der beiden Schritte zu achten haben: Der Selbstexplikation des Andersseins geht seine Setzung durch Gott voraus, das Andere (der Mensch bzw. die Welt) verdankt sich also der Selbstexplikation Gottes. Drilo hält daher am Ende seiner Ausführungen auch fest: „Das Absolute ist, um realisiert zu werden, nicht auf die externe Anerkennung durch die endlichen Individuen angewiesen, es ist vielmehr umgekehrt: Das Endliche ist nur kraft des Absoluten, es existiert nur als dessen Manifestation, d.h. als die Selbstoffenbarung des absoluten Geistes“ (ebd., 154). Wagner kann das Nacheinander von göttlicher Anerkennung des Menschen und menschlicher Antwort auf die Anerkennung auch so beschreiben, dass die Bekehrung des Menschen zu Gott Gottes Hinwendung zum Menschen zur Voraussetzung habe (vgl. WAGNER, Bekehrung, 471). 209 Wagner differenziert hinsichtlich der Rede von der „Allgemeinheit des Selbstbewusstseins“. Die Wendung kann sich entweder auf die Trinität insgesamt, auf den Vater oder auf den Sohn beziehen, vgl. WAGNER, Christologie-VL, 373. 210 Bei der Zuordnung der Ämter und Status gibt es Unterschiede zwischen dem Christologie-Aufsatz von 1975 und der Vorlesung von 1989/90. (Vgl. dazu auch die Ausführungen bei MURRMANN-KAHL, Komplexität, 174–176, in denen sich auch der Hinweis findet, dass Wagner in seinem frühen Aufsatz „zweifellos dem bei Karl Barth vorliegenden Aufriß der Versöhnungslehre“ folge (ebd., 174, Anm. 59)). Einen knappen Überblick zum System
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Dritter Teil
a) Christus der Prophet (Erstes Grundproblem der Christologie) Den Ausgangspunkt des Systems bildet das Allgemeine, der Logos. Wenn man so will, stellt dieser erste Schritt eine Exegese von Joh 1,14 dar: Wie ist es zu verstehen, dass das Wort Fleisch wird? Wagner interpretiert die Inkarnation im Licht seiner grundsätzlichen Fragestellung. Die Aufgabe lautet dann: wie kann aus Gott selbständiges Anderssein hervorgehen? Wagners These lässt sich so formulieren: Gott schafft anderes, indem er sich selbst negiert. Um dies zu verstehen, ist zunächst zu sehen, dass Wagner im Anschluss an Hegel die Tätigkeit von Selbstbewusstsein überhaupt als Negieren bezeichnet.211 Mit ‚Negieren‘ ist der Vorgang beschrieben, durch den Gegenstandsbewusstsein entsteht; es meint die Transformation der extramentalen Wirklichkeit in Gehalte des Bewusstseins. Das ‚Ich‘ etwas weiß, bedeutet die Negation dieses etwas in seiner bloßen Vorfindlichkeit. „[…] Ich kann nur dadurch jede Bestimmtheit zur seinigen machen, daß es sie mediatisiert, also im Negieren der Bestimmtheit mit sich identisch macht.“212 Dass Denken negiert,213 heißt also gerade, dass es dem Anderen (dem, was es nicht ist) seine Selbständigkeit raubt. Daher drängt sich die Frage auf, wie diese Tätigkeit zu einem selbständigen Anderen führen soll, und Wagners Antwort lautet: Durch Selbstanwendung. „Indem das Allgemeine seinen eigenen Begriff auf sich selbst anwendet, negiert es sich selbst und macht sich als Negation seiner Negationsfähigkeit zur Bestimmtheit, zur Besonderheit.“214 Wie sehr Wagner sich hier an Hegel orientiert, wird deutlich, wenn man sich Dieter Henrichs Ausführungen zur Negation bei Hegel vergegenwärtigt.215 Henrich macht darauf aufmerksam, dass für Hegels ‚Negation‘ (und darin stimme sie mit der Negation der Aussagenlogik zunächst überein) folgendes gelte: „(1) Die Negation negiert etwas. (2) Die Negation kann auf sich selber angewendet werden. (3) Der selbstreferentielle Gebrauch der Negation hat ein Resultat.“216 Setzt nun der übliche Gebrauch der Negation etwas von ihr unterschiedenes voraus, das sie negiert, bildet die Negation bei Hegel selbst den Ausgangspunkt der Argumentation. Henrich spricht daher von einer autonomen Negation. Die autonome Negation sei nun von vornherein als Selbstbeziehung zu denken, wenn es denn das Wesen der Negation sei, etwas zu negieren und wenn außer der Negation selbst nichts weiter vorausgesetzt werden dürfe. Die Bedingung der Möglichkeit einer autonomen Negation ist mithin ihre „Verdopplung“217. Die Durchführung der autonomen Negation ist dann zugleich ihre Aufhebung. „In der autonomen Negation ist die Negation selbst-negierend der Christologie bietet Wagner auch in: WAGNER, Systemtheorie [WiTh], 384, Anm. 16. Die folgende Darstellung orientiert sich an den Zuordnungen der Christologie-Vorlesung. 211 „Ich […] ist die allgemeine Mediationsfähigkeit, das Wissen-Können, die Tätigkeit des Negierens aller Bestimmtheit (Negation)“ (WAGNER, Konstitution [WiTh], 152). 212 Ebd. 213 Vgl. PIPPIN, Logik, 88ff. 214 WAGNER, Christologie [WiTh], 336. 215 Vgl. zum Folgenden HENRICH, Grundoperation. 216 HENRICH, Grundoperation, 214. 217 Ebd., 215.
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und durch sich negiert“218. Die Idee ist also die: Wenn die Negation als das einzige bestimmende Prinzip gedacht werden soll, dann muss sie als in sich unterschieden eingeführt werden. Der Unterschied hat die Form einer Selbstbeziehung, und das heißt: die Negation negiert sich. Die Folge dieser Selbstnegation ist dann ein Zustand, „in dem Negation ganz entfallen ist“219. Der Selbstbezug der autonomen Negation impliziert also den Bezug auf ihr Gegenteil – auf ein Positives. Impliziert die Logik der autonomen Negation aber die Beziehung auf ein Anderes, so ist damit jedoch der Gedanke strikter Selbstbezüglichkeit gefährdet. Um die Autonomie der Negation zu erhalten, muss das Andere, das aus der Selbstaufhebung der Negation resultiert, in die Struktur der Selbstbeziehung integriert werden. Dies kann nur dann gelingen, wenn das Andere, welches die autonome Negation ‚produziert‘, selbst als doppelte Negation aufgefasst wird.
Ist der Terminus der ‚allgemeinen Negationsfähigkeit‘ Chiffre für das Grundprinzip neuzeitlicher Subjektivität, dessen theologischer Zwillingsbruder das Konzept der radikalen Autonomie Gottes ist, so soll das Inkarnationsgeschehen nach Wagner zum Ausdruck bringen, dass dieses Prinzip sich dann selbst aufhebt, wenn es sich gegen sich selbst wendet, wenn es also nicht länger anderes, sondern sich zu erfassen sucht. Diese Selbstnegation ist so zu verstehen, dass das Prinzip allgemeiner Negationsfähigkeit im Vollzug seiner Selbsterfassung eine Korrektur an seinem Selbstbild vornimmt, und zwar dergestalt, dass es das selbständige Anderssein in sein Selbstbild integriert. Die Korrektur des Selbstbildes kann auch als ein Vorgang der Anerkennung beschrieben werden: Gott anerkennt, dass er nicht ohne das selbständige Anderssein Gott ist. Die Inkarnation macht diese „Anerkennung des Unterschiedes“220, macht das korrigierte Selbstbild explizit: „Schon die göttlichallgemeine Sichselbstgleichheit ist bestimmt [d.h. ist in sich unterschieden], welche Bestimmtheit durch den Vollzug der Erniedrigung als Besonderheit gesetzt wird.“ Wagner begreift demnach den status exinanitionis einerseits als das Ende des alten Gottesbildes, das dem Prinzip der allgemeinen Negationsfähigkeit entspricht. Anderseits stellt er den ersten Schritt in der Realisierung des neuen, christlichen Gottesbildes dar, insofern für dieses gilt, dass Gott sich allein über die Selbstexplikation des Andersseins gewinnt. Gottes Selbstentäußerung setzt eben jenes selbständige Andere, ohne welches Gott sich nicht zu realisieren vermag. Die Menschwerdung Gottes bedeutet das Ende des abstrakten Gegensatzes von Gott und Mensch.221 Dies wird daran ersichtlich, dass der Gott, den Jesus 218
Ebd., 216. Ebd., 217. 220 WAGNER, Christologie [WiTh], 336. 221 Die „Selbsterniedrigung ist die Selbstpreisgabe des Allgemeinen als abstrakt Allgemeines. Gott hört auf, bloße Wesensallgemeinheit als Substanz und Macht zu sein. Damit ist nicht der endgültige Verlust Gottes ausgesagt. Aber die Negation als das Nichtidentische kann vom Allgemeinen nicht ausgeschlossen werden, sonst wäre dieses negativ bestimmt und würde einer bloß positionellen Verfaßtheit anheimfallen.“ (WAGNER, Christologie [WiTh], 336). 219
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Dritter Teil
verkündigt, seine Realisierung durch Jesu Wort und Tat erfährt. Verkündigt Jesus den Gott, der sich selbst überschreitet, und ist er der Ort dieser Selbstüberschreitung, dann ist er als Prophet dieses neuen Gottes zugleich „sein eigener Prophet“222. Redet Jesus von Gott, dann redet er auch von sich selbst und in diesem Sinn markiert sein Auftreten das Ende aller Prophetie, sofern diese den Unterschied zwischen Botschafter und Botschaft impliziert. b) Christus der Priester (Zweites Grundproblem der Christologie) Wagner interpretiert die Inkarnation so, dass Gott den Menschen als ein freies Gegenüber anerkennt. Dadurch, dass Gott Mensch wird, ist zugleich gesagt, dass Gott den Menschen als ein Moment in seiner Selbstentwicklung anerkennt. Gott wird nicht ohne den Menschen Gott; er konstituiert sich durch das Tun des Menschen. Genau das will Wagner mit der Wendung von der vermittelten Selbstbestimmung einholen: Gottes Selbstaufbau vollzieht sich durch die freie Realisierung seines Gegenübers. Um diese freie Realisierung, um das Tun des Menschen also, geht es im zweiten Schritt des christologischen Systems. Dieses Tun verdankt sich bezüglich seiner Qualifizierung als freies Tun der Selbsterniedrigung Gottes. Der Mensch verdankt sich seiner Anerkennung durch Gott. Dies ist gewissermaßen seine Wesensdefinition. Durch diese Definition bekommt die Aporie menschlicher Selbstbegründung, welche in der Religion thematisch wird, ihren Ort im Aufbau des christologischen Selbstbewusstseins: Der Mensch begründet sich nicht selbst, sondern er ist verdankte bzw. sich gegebene Freiheit. Entscheidend ist nun, dass der Mensch diese seine Wesensdefinition, die bisher lediglich ein Gedanke ist, auch ergreift. Man könnte auch sagen: Der Mensch muss seine Bestimmung verwirklichen; und zwar in dem Sinn, dass ihm die tiefere, eigentliche Bedeutung seiner Freiheit aufgeht. Der Mensch verwirklicht seine Bestimmung dann, wenn er sich als das durchsichtig wird, was er ist: freies Moment in der Selbstrealisierung Gottes. Sagt die Inkarnation dem Menschen zu, dass er als solcher zu Gott gehört, dass der Mensch für Gott konstitutiv ist, so geht es nun um die Anerkennung dieser Zusage durch den Menschen. Erst durch diese Anerkennung des Anerkanntseins wird die Inkarnation, wird die Menschwerdung Gottes verwirklicht. Wagner ordnet diesem Schritt den status exaltationis zu. Nur dadurch, dass der Mensch anerkennt, dass er ein Moment der göttlichen Selbstrealisierung ist, wird er zu Gott erhöht. Wie verwirklicht der Mensch nun seine Bestimmung, wie realisiert er die Menschwerdung Gottes? Doch nur so, dass er begreift, dass allein er – der Mensch – es ist, der die Anerkennung des Men-
222
WAGNER, Christologie-VL, 376.
II. Die Christologie
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schen vollzieht.223 Erhöhung zu Gott heißt demnach konkret, als Mensch anderes Menschsein in seiner Selbständigkeit anzuerkennen, oder anders: die Menschwerdung Gottes realisiert sich als Nächstenliebe. Das christologische Symbol für die radikale Anerkennung des Anderen ist das priesterliche Amt, das Wagner als Christi „Selbstopfer“224 interpretiert. Dort also, wo der Mensch ebenfalls eine Selbstunterscheidung trifft, wo er selbst den Unterschied anerkennt, verwirklicht er Gott an der Stelle des Andersseins (an der Stelle des Menschen). Gott, der Anerkennende, wird also tatsächlich in der Welt realisiert, jedoch durch den Menschen, den Anerkannten. In diesem Sinn vollzieht sich Gottes Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins. c) Christus der König Die ersten beiden Teile des Systems beschreiben den Aufbau des christologischen Subjekts. Gott setzt ein Anderssein (die Welt bzw. den Menschen), das sich auf eigenständige Weise so entwickelt, dass Gott sich in ihm wiedererkennen kann, das also an seiner Stelle die Struktur der Subjektivität bzw. die Logik der Anerkennung aufbaut. Die Christologie wird in diesen Teilen demnach „als Selbsthematisierung der christlichen Theologie“225 entfaltet. Der dritte Teil führt nun eine weitere Reflexionsebene ein: in ihm soll es um die „Selbstthematisierung des christologischen Subjekts selber“ 226 gehen. Es ist nicht ganz leicht zu verstehen, worauf Wagners Rede von der Selbstthematisierung an dieser Stelle abzielt. Mein Vorschlag lautet, die Selbstthematisierung im Sinne eines Allgemeinwerdens des christologischen Subjekts zu interpretieren. Damit ist gemeint, dass diejenigen, die im zweiten Schritt durch Jesus Christus anerkannt werden, nun selbst ein christologisches Selbstbewusstsein aufbauen. Allgemeinwerden heißt also, dass nicht nur Jesus Christus, sondern alle der Logik der Anerkennung folgen. Wo das geschieht, manifestiert sich das partikulare Subjekt Jesus an der Stelle seines Andersseins (der Menschheit überhaupt), wird Jesus an der Stelle seines Andersseins thematisch. Erst damit wird die Einheit von Jesus und seiner Umwelt erreicht. Im folgenden Zitat Wagners verstehe ich unter „Selbstunterscheidung“ demnach die Umwelt, in die Jesus eingebunden ist, und deren Selbständigkeit er in seinem Tod anerkannt hat: „Die Selbstthematisierung des christologischen Subjekts folgt der Explizitmachung des Sachverhalts, daß sich das Selbstbewußtsein an der Stelle seiner Selbstunterscheidung als sich selbst erfaßt. Das Selbstbewußtsein thematisiert sich in seinem Unterschied, an der 223
WAGNER, Christologie-VL, 378: „Das anerkannte besondere Selbstbewusstsein [der Mensch] entwickelt sich so zum selbstapplikativen Anerkanntsein, zum Anerkennen des eigenen Anerkanntseins durch Anerkennung anderer.“ 224 WAGNER, Christologie-VL, 380. 225 WAGNER, Christologie-VL, 381. 226 WAGNER, Christologie-VL, 381f.
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Dritter Teil
Stelle seines Unterschieds, das selber als konkretes [d.h. in eine Umwelt eingebundenes] Selbstbewußtsein entfaltet ist.“227
Anders gesagt: Die Selbstthematisierung des christologischen Subjekts findet dann statt, wenn ein Mensch begreift, dass es in der Jesusgeschichte um ihn geht, dass es die Geschichte auch seiner Wahrheit ist. Die Idiomenkommunikation interpretiert Wagner entsprechend als die Lehre von der Mitteilbarkeit des christologischen Subjekts. Weiterhin ordnet er dem Allgemeinwerden Jesu Christi sein königliches Amt zu. Die Königsherrschaft Christi wird dabei als Herrschaft einer bestimmten Struktur, der Logik der Anerkennung verstanden: „Was ‚herrscht‘, ist die christologische Struktur, die freiheitsbegründend ist.“228 Christi Herrschaft in der Kirche (das regnum gratiae) deutet Wagner dann so, dass sie der Ort ist, an dem jedem Menschen jene Bedeutung für Gott zugesprochen wird, wie sie urbildhaft Jesus Christus verkörpert. „Der Mensch ist als Mensch als unendlich-unverlierbare Person anerkannt – unabhängig von Leistung und Haben. Evangelium und Sakrament sind dann als freie Mitteilung der Freiheit und Anerkennung auszulegen, denen allein durch freie Annahme entsprochen werden kann.“229 Dafür, dass die Freiheit des Einzelnen sich in seiner Umwelt auch zu manifestieren vermag, steht nach Wagner die Idee vom regnum potentiae, welches er als Christi Herrschaft in der Gesellschaft interpretiert. Das regnum gloriae schließlich ist dann verwirklicht, wenn Christus sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft herrscht. Erst dann kann von seiner Herrschaft über die Welt geredet werden. Und erst dann ist die Welt wirklich das Anderssein, indem sich Gott zu erfassen vermag. Das regnum gloriae erinnert als Zielvorstellung sowohl Kirche als auch Gesellschaft an ihre Vorläufigkeit.
III. Wagners System III. Wagners System
Das Ende des dritten Teils ist erreicht. An dieser Stelle bietet sich ein erster Rückblick auf das bisher Erarbeitete an. Dargestellt wurde erstens Wagners Interpretation der Religionstheologie, zweitens seine Sicht auf die WortGottes-Theologie und drittens sein eigenes Programm, das sein Zentrum in der Aufhebung der Struktur unmittelbarer Selbstbestimmung in die Struktur der Subjektivität hat, die Wagner zugleich als die Grundbewegung der christlichen Religion meint offenlegen zu können. Zwischen diesen drei theologischen Positionen besteht nun ein Zusammenhang, der dadurch zustande kommt, dass Wagner die neuzeitliche Theologiegeschichte im Licht der Philosophie Hegels rekonstruiert. Die folgende Analyse zweier Hegelinterpreta227
WAGNER, Christologie-VL, 382. WAGNER, Christologie-VL, 384. 229 WAGNER, Christologie-VL, 385. 228
III. Wagners System
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tionen Wagners hat daher das Ziel, den Gesamtzusammenhang der Wagnerschen Theologie und damit die Einheit der ersten drei Teile dieser Arbeit sichtbar zu machen. Die beiden Texte, die ich dafür heranziehe, beschäftigen sich mit dem Problem der Gottesbeweise (1) und mit der Möglichkeit einer theologischen Lesart der Wissenschaft der Logik (2). 1. Die Gottesbeweise Hegels Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gottesbeweisen ist für Wagner deshalb von Interesse, weil er bei Hegel die These findet, dass man „die Mehrzahl der Gottesbeweise […] auf einen in sich differenzierten Beweisgang reduzieren“ könne.230 Hegel entwickle diesen einen Beweisgang „in der Form von drei aufeinander aufbauenden Argumentationsgängen“231. Der erste Beweisgang ist eine Kritik des traditionellen kosmologischen Gottesbeweises. Der zweite Beweisgang bleibt insofern dem ersten verpflichtet, als die inhaltliche Bestimmtheit des Gottes, dessen Existenz er beweisen möchte, mit derjenigen des kosmologischen Gottesbeweises übereinstimmt. Diesen zweiten Beweisgang bezeichnet Wagner als das zweite ontologische Argument. Vorausgesetzt ist dabei eine Unterscheidung, die auf Dieter Henrich zurückgeht. Henrich differenziert in der Geschichte des ontologischen Gottesbeweises zwischen einem ersten und einem zweiten ontologischen Argument. Beide bestimmen Gott unterschiedlich. Im ersten Fall wird er als das höchst vollkommene Wesen (ens perfectissimum) aufgefasst, im zweiten Fall als das notwendige Wesen (ens necessarium). Der Zusammenhang zwischen dem zweiten ontologischen Argument und dem kosmologischen Gottesbeweis besteht darin, dass dieser ebenfalls auf die Existenz eines notwendigen Wesens schließt. Während jedoch der kosmologische Beweis von der Kontingenz der Welt zum notwendigen Gott zu gelangen sucht, expliziert der zweite Beweisgang den Begriff des ens necessarium an sich selbst. Bei diesem Ausgang vom Begriff selbst tritt nun allerdings die Aporie der inhaltlichen Bestimmtheit dieses Gottesgedankens offen zutage. Um die Aufhebung dieser Aporie in einen neuen Begriff von Gott geht es schließlich in dem dritten Beweisgang. Während das zweite ontologische Argument also scheitert, liefert Hegel mit diesem letzten Schritt eine „Neuformulierung der Thematik des traditionellen ersten ontologischen Arguments.“232 Von dem im 230
WAGNER, Kritik [RuG], 112. WAGNER, Kritik [RuG], 112. 232 WAGNER, Kritik [RuG], 112. Dabei handelt es sich tatsächlich um eine Neuformulierung des ontologischen Beweises, da der Begriff eines ens perfectissimum bei Hegel nicht länger Verwendung findet, vgl. WAGNER, Kritik [RuG], 95. Auch Bromand und Kreis weisen in ihrer Darstellung der Geschichte der Gottesbeweise darauf hin, dass man bei Hegel nicht von einer „Neubegründung“, sondern von einer „vollständige[n] Transformation der Gottesbeweise“ reden sollte (BROMAND/KREIS, Gottesbeweise, 225). 231
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Dritter Teil
dritten Beweisgang erreichten Gottesgedanken behauptet Wagner nicht nur, dass er als einziger konsistent sei, sondern auch, dass er „mit den Grundannahmen sowohl des Christentums als auch des modernen Bewusstseins kompatibel ist“233. Schon diese Skizze zeigt, dass die drei Beweisgänge den drei Stationen der Theologiegeschichte entsprechen, wie Wagner sie rekonstruiert: Schleiermacher unternimmt es einen bestimmten Gottesgedanken indirekt, nämlich vom religiösen Bewusstsein her zu erfassen, Barth stellt diesem Ausgang ‚von unten‘ eine Explikation desselben Gottesgedankens ‚von oben‘ entgegen, Wagner entwickelt aus dem Scheitern dieses Gottesgedankens den neuen, christlichen Gottesbegriff. Dies ist nun genauer auszuführen. a) Der kosmologische Beweis (Erster Beweisgang) Die von Hegel kritisierte Form des kosmologischen Gottesbeweises sieht so aus:234 i) Wenn Kontingentes existiert, dann existiert auch ein notwendiges Wesen. ii) Kontingentes existiert. iii) Also existiert auch ein notwendiges Wesen. Hegels Einwand lautet, dass in diesem Beweis „ein gleich-gültiges Nebeneinander von zufälligem und notwendigem Dasein“ angenommen wird. Dies führt zu einem widersprüchlichen Gottesbegriff und zwar insofern, als sich die als „unbedingte Bedingung“ gefasste absolute Notwendigkeit „in ein bedingtes Dasein verkehrt.“235 Wie ist das zu verstehen? Zunächst ist zu erklären, warum Wagner die absolute Notwendigkeit mit einer unbedingten Bedingung gleichsetzt. Hilfreich ist hier der Hinweis von Bromand und Kreis, dass der Begriff der notwendigen Substanz (des ens necessarium) in der Tradition des kosmologischen Gottesbeweises mit der Kategorie der Unabhängigkeit erläutert wird: „Eine notwendige Substanz ist in ihrer Existenz ‚ontologisch‘ unabhängig von anderen Sachen, zugleich sind aber umgekehrt alle anderen Sachen von ihr abhängig.“236 Auch für den Vorwurf, dass der Beweis ein gleich-gültiges Nebeneinander von zufälligem und notwendigem 233
WAGNER, Kritik [RuG], 96. WAGNER, Kritik [RuG], 99. 235 WAGNER, Kritik [RuG], 99. 236 BROMAND/KREIS, Gottesbeweise, 121 (die Ausführungen an dieser Stelle beziehen sich auf Leibniz’ Version des kosmologischen Gottesbeweises, auf die sich auch Hegel bezieht; eine Verteidigung des Beweises findet sich z.B. bei HERMANNI, Metaphysik, 31ff.). Vgl. HENRICH, Gottesbeweis, 4: „Notwendig ist, was in seinem Sein und in seinem Wirken nur von sich selbst abhängt.“ Ein notwendiges Wesen wird daher auch als causa sui bezeichnet (ebd.). Bei Wagner findet sich darum der Hinweis, dass von Kants Kritik am Begriff des ens necessarium ebenso die „Begriffe der absoluten Substanz, der causa sui und der immensa potestas“ erfasst werden (WAGNER, Kritik [RuG], 90). 234
III. Wagners System
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Dasein beschreibe, bieten Bromand und Kreis eine Verständnishilfe. Der Beweis suggeriert demnach, dass sowohl ein notwendiger als auch viele kontingente Gegenstände existieren. Wenn das aber so gemeint ist, dass der notwendige und die kontingenten Gegenstände auf die gleiche Weise nebeneinander existieren, dann wird der notwendige Gegenstand durch die kontingenten Gegenstände begrenzt. Damit weist er jedoch eine Eigenschaft auf – nämlich begrenzt zu sein – die einer anderen Eigenschaft, die zum Begriff des ens necessarium gehört – nämlich unbegrenzt zu sein – widerspricht. „Wer behauptet, dass es sowohl kontingente als auch notwendige Gegenstände gibt, behauptet, dass der notwendige Gegenstand zugleich begrenzt und unbegrenzt ist. Er verwickelt sich nach Hegel in einen Widerspruch.“237 Wird das Nebeneinander von zufälligem und notwendigem Dasein im Sinne eines symmetrischen Dualismus aufgefasst,238 dann verdankt der notwendige Gegenstand die Eigenschaft begrenzt zu sein auch nicht sich selbst, sondern der Existenz der kontingenten Gegenstände. Daher verkehrt sich die unbedingte Bedingung in ein hinsichtlich seiner begrifflichen Bestimmung durch anderes bedingtes Dasein. Für Wagner besteht das Grundproblem des kosmologischen Gottesbeweises darin, dass der Ausgangspunkt, von dem er zum ens necessarium gelangt, eine von diesem unterschiedene Größe darstellt. In diesem Fall ist der erreichte Begriff der Notwendigkeit eine Notwendigkeit für den wie auch immer bestimmten Ausgangspunkt. Erreicht wird nicht die intendierte „absolute“, sondern eine „relative Notwendigkeit“239, welche sich auf die eben beschriebene Weise selbst widerspricht. Es ist die „regressivreduktive Verfahrensweise“, in der Wagner den „Hauptmangel“ dieses Beweises erblickt. Sie führt dazu, dass sich „der so intendierte Begriff der Notwendigkeit nicht von seiner Einführungsbedingung lösen“ kann.240 Die gleiche regressiv-reduktive Verfahrensweise entdeckt Wagner nun auch beim religiösen Bewusstsein. Denn dessen „Tätigkeit der Erhebung“ 241 zu Gott entspricht der „Bewegung vom zufälligen zum notwendigen Dasein“242. Die Konstellation ist vergleichbar: auch hier gibt es zwei voneinander unabhängige Größen 243 – das religiöse Bewusstsein und Gott – und auch hier wird der Versuch unternommen, vom einen her das andere zu erfassen. 237
BROMAND/KREIS, Gottesbeweise, 226. Dieses Argument setzt voraus, dass zur notwendigen Substanz die Eigenschaft der Unbegrenztheit gehört. 238 Vgl. auch die Bemerkung bei BROMAND/KREIS, Gottesbeweis, 226, dass der kosmologische Beweis „Kontingentes und Notwendiges dualistisch als voneinander unabhängige Gegenstände interpretiert.“ 239 WAGNER, Kritik [RuG], 99. 240 WAGNER, Kritik [RuG], 100. 241 WAGNER, Kritik [RuG], 107. 242 WAGNER, Kritik [RuG], 108. 243 Die Religionstheologie geht von der Selbständigkeit des religiösen Bewusstseins aus, bestimmt sie als eine menschliche Tätigkeit.
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Dritter Teil
Entsprechend gleichen sich auch die Folgen: weil Gott in dieser Konstellation „nur so erschiene, wie er entsprechend der erhebenden Tätigkeit des Bewußtseins gefühlt und vorgestellt wird“, weist der intendierte Grund des Bewusstseins widersprüchliche Bestimmungen auf – er ist „Produzent und Erzeugnis des religiösen Bewußtseins“ zugleich.244 Hegel bietet nun eine korrigierte Version des kosmologischen Gottesbeweises an, die Wagner allerdings zurückweist. Besteht das Problem in dem behaupteten gleich-gültigen Nebeneinander von notwendigem und kontingenten Dasein, und zwar deshalb, weil dadurch das notwendige Dasein begrenzt wird, so könnte die Lösung sein, diese Grenze durch die Negation des kontingenten Daseins aufzuheben. Der Vorschlag lautet also, „die Affirmation des Zufälligen durch dessen Negation“245 zu ersetzen. Er korrigiert die Auffassung des kontingenten Daseins dahingehend, dass es mit dem Begriff der absoluten Notwendigkeit kompatibel ist. Eine parallele Lösung findet sich bei Hegel auch für die Aporie des religiösen Bewusstseins: statt „vom Fühlen und Vorstellen der singulären Subjektivität“ ist von der „Allgemeinheit des Denkens“ auszugehen als einer Tätigkeit, die der Allgemeinheit des Gottesgedankens entspricht.246 Das singuläre Subjekt soll sich negieren und sich dadurch zum „Standpunkt des Denkens“247 erheben. Nach Wagner gilt jedoch in beiden Fällen, dass Gott auch dann noch vom gewählten Ausgangspunkt abhängig bleibt, wenn dieser „im Modus der Negation“248 eingeführt wird. Es liegt nahe, die Unterscheidung zwischen einer affirmativen und einer negativen Version des kosmologischen Gottesbeweises auf die Unterscheidung zu beziehen, die im ersten Teil dieser Arbeit thematisiert wurde, auf die Unterscheidung von Religion und Religionstheologie also.249 Die Religion ist Ausdruck völliger Passivität und als solche kompatibel mit einem Gott, der reine Tätigkeit ist; sie intendiert genau jene Erhebung über alle Individualität, die Hegel mit der Erhebung zur Reinheit des Denkens beschreibt. Sie ist aber eine Form der Selbstnegation, die ihren Ausgangspunkt – das singuläre Subjekt – nicht los wird, sondern lediglich unsichtbar macht. Die Religionstheologie macht eben diesen Ausgangspunkt sichtbar; sie affirmiert den Dualismus, die Selbständigkeit des Individuums, den die Religion verbirgt. Indem sie das Individuum ausdrücklich thematisiert und seine Struktur durchleuchtet, macht sie zugleich sichtbar, warum es überhaupt einen Dualismus gibt: das singuläre Subjekt kann sich nicht selbst erklären, sondern ist auf ein anderes angewiesen. Damit zeigt sich jetzt auch die Aporie der Religion: Denn 244
WAGNER, Kritik [RuG], 108. WAGNER, Kritik [RuG], 100. 246 WAGNER, Kritik [RuG], 109; Hervorhebungen MS. 247 WAGNER, Kritik [RuG], 109. 248 WAGNER, Kritik [RuG], 102.109. 249 Vgl. Teil 1, Kap. I und Fazit. 245
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in der Selbstthematisierung des Individuums ist sein Grund zwar mitgesetzt; aber der vermittels der Erklärungsnot des Individuums gesetzte Grund trägt die Signatur des Widerspruchs: er ist Produzent und Erzeugnis zugleich. Religion und Religionstheologie beziehen sich also auf denselben Gegenstand: das selbständige, singuläre Subjekt. Die Religion thematisiert es im Modus der Negation: nicht selbständig, sondern abhängig, nicht singulär, sondern allgemein. Die Religionstheologie macht deutlich, dass es sich bei diesem Modus der Negation um eine Tätigkeit des selbständigen, singulären Subjekts handelt, durch die es sich zu eben dem Grund zu erheben versucht, den seine eigene Struktur verlangt. Wenn die Religionstheologie aufgrund ihres Ausgangs beim Individuum den Grund auch nicht zu erreichen vermag, formuliert sie dennoch eine entscheidende Bedingung für eine sachgemäße Explikation des Grundes: dieser muss so verfasst sein, dass er eine Antwort auf die Selbsterklärungsnot des singulären Subjekts darstellt, die seinen Entdeckungszusammenhang darstellt. In gleicher Weise kann Wagner von einem Recht des kosmologischen Gottesbeweises sprechen. Denn es ist ja gerade die Struktur des kontingenten Daseins, die überhaupt erst zum Begriff des grundlosen Grundes führt. Für den Überschritt zu einer Theorie des Absoluten formuliert der kosmologische Gottesbeweis daher wichtige Einsichten: „Mittels des affirmativ vorausgesetzten Zusammenhangs von Zufälligem und Notwendigem, Bedingtem und Unbedingtem soll ein solcher Begriff des Absoluten zur Sprache gebracht werden, der die Selbständigkeit des grundlosen Grundes mit der Funktionalität des Anderes gründenden Grundes vereint.“250 Genau einen solchen Überschritt vollzieht der zweite Beweisgang. b) Das zweite ontologische Argument (Zweiter Beweisgang) Der kosmologische Gottesbeweis muss nach Wagner scheitern, weil er einen Ausgangspunkt wählt, der vom Beweisziel unterschieden ist. Dadurch ist das, was er beweist nicht die absolute, sondern eine relative, durch den Ausgangspunkt bedingte Notwendigkeit. Hegel versucht diesen Fehler in seinem zweiten Beweisgang durch eine „Umkehr der Blickrichtung“251 zu beheben. Zu beachten ist: es geht immer noch darum, die Existenz des ens necessarium zu beweisen, geändert wird lediglich die Verfahrensweise, indem „das regressivreduktive Verfahren durch die produktive-progressive Selbstauslegung der absoluten Notwendigkeit selber ersetzt wird.“252 Der zweite Beweisgang, der das Beweisziel des kosmologischen Gottesbeweises dadurch erreichen will, dass er vom Begriff des ens necessarium ausgeht, ist demnach identisch mit
250
WAGNER, Kritik [RuG], 105. WAGNER, Kritik [RuG], 101. 252 WAGNER, Kritik [RuG], 100. 251
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dem zweiten ontologischen Argument.253 Soll der zweite Beweisgang allerdings der Rettung des ersten dienen, so scheint dieses Vorhaben durch die Änderung der Form des Beweises von vornherein vereitelt zu sein. Denn es ist gerade die Eigenart des kosmologischen Beweises, „auf der Basis gegebener Voraussetzungen zu argumentieren.“254 Diese Basis aber, um deren Begründung es dem kosmologischen Gottesbeweis geht, scheint Hegel mit dem Übergang zum ontologischen Gottesbeweis aufzugeben. Wagner macht an dieser Stelle auf ein „Dilemma“ 255 des kosmologischen Beweises aufmerksam. Sein Schluss funktioniert unter der Voraussetzung, dass es kontingente Gegenstände gibt, zugleich verhindert eben diese Voraussetzung die Entfaltung eines widerspruchsfreien Begriffs des Notwendigen. Hegel jedoch, so betont Wagner, gibt die Voraussetzung des Kontingenten im Zuge des Übergangs zum ontologischen Beweis keineswegs auf, er „radikalisiert“256 sie vielmehr. Man wird m.E. davon ausgehen dürfen, dass Wagner hier bewusst formuliert, und die Verwendung des Begriffs der Radikalisierung als einen ersten Brückenschlag zu seiner Deutung der Theologiegeschichte verstanden wissen will.257 Wagner beobachtet, dass bei Hegel „am Beweisziel des kosmologischen Begriffs, am Begriff der absoluten Notwendigkeit, und am Begriff der Voraussetzung zugleich festgehalten wird.“258 Dies geschieht auf die Weise, dass Hegel die Voraussetzung radikalisiert, womit gemeint ist, dass er sie in den Begriff der absoluten Notwendigkeit integriert. Der Dualismus, der für die Form des traditionellen kosmologischen Beweises charakteristisch ist, wird aufgehoben zugunsten der Annahme, dass das ens necessarium mit seiner Voraussetzung, dem kontingenten Dasein, „schlechthin eins ist“259. Das Kontingente wird zu einem Moment am Notwendigen selbst, zu seiner „Selbstvoraussetzung“260. Die „begriffliche Qualifizierung“ der absoluten Notwendigkeit durch das Kontingente muss so nicht länger als eine Qualifizierung durch anderes, sondern kann als ihre „Selbstqualifizierung“ verstanden werden.261 Die Selbstqualifizierung wird dabei genauer als „Selbstbewegung“ bestimmt: die absolute Notwendigkeit qualifiziert sich selbst in der Negation selbständigen Andersseins, welches sie sich zum Zwecke dieser Selbstqualifizierung vorausgesetzt hat. Damit integriert Hegel sowohl die 253
WAGNER, Kritik [RuG], 101. Vgl. ebd., 92: „Das kosmologische Argument gewinnt nur dadurch Konsistenz, daß es in das den Begriff der absoluten Notwendigkeit explizierende zweite ontologische Argument überführt und aufgehoben wird.“ 254 WAGNER, Kritik [RuG], 101. 255 WAGNER, Kritik [RuG], 102. 256 WAGNER, Kritik [RuG], 102. 257 Vgl. zum Begriff der Radikalisierung Teil 2, Kap. I.1. 258 WAGNER, Kritik [RuG], 102; Hervorhebung MS. 259 WAGNER, Kritik [RuG], 103. 260 WAGNER, Kritik [RuG], 102. 261 WAGNER, Kritik [RuG], 110.
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affirmative als auch negative Sicht auf die Selbständigkeit des Kontingenten in seine Neufassung der absoluten Notwendigkeit, indem er sie als aufeinander folgende Momente im Prozess ihrer Selbstauslegung begreift. Der Versuch, tatsächlich die absolute Notwendigkeit zu erfassen, ohne die Voraussetzung des kontingenten Daseins aufzugeben, hat mithin zur Folge, dass dem kontingenten Dasein keinerlei Selbständigkeit zugebilligt werden kann. Denkt man den Gedanken der absoluten Notwendigkeit an sich selbst, dann, so Wagners abschließendes Urteil, gelangt man zu einem „konsequenten Pantheismus, der zugleich als Akosmismus interpretiert werden muss.“262 Mögliches Anderssein lässt sich mit diesem Gottesgedanken nur so vereinbaren, dass es zugleich mit ihm identifiziert wird, und zwar in dem Sinn, dass es als ein „von der Selbständigkeit Gottes einseitig dependierendes Moment gedacht wird.“263 Der zweite Beweisgang thematisiert damit jenen Identitätszwang, der Thema des zweiten Teils dieser Arbeit war. So wie in Barths Theologie das selbständige Anderssein „nur im Modus seiner Zurücknahme“ eingeführt wird,264 so lässt die absolute Notwendigkeit die Selbständigkeit des Kontingenten „allein im Modus seines Negiertseins“265 zu. Barths Theologie stimmt insofern mit der Logik des zweiten ontologischen Arguments überein, als das Andere hier wie dort dazu dient, dass sich Gott als das, was er ist (absolute Notwendigkeit bzw. unmittelbare Selbstbestimmung) erweisen oder offenbaren kann.266 So wie Barth die Trinitätslehre aus dem Begriff der Selbstoffenbarung ableitet, so wird das Kontingente dadurch in die absolute Notwendigkeit integriert, dass diese als „das Sich-Selbst-Manifestieren oder das Sich-Selbst-Offenbaren“267 gefasst wird. Wagners Darstellung der Gottesbeweise bestätigt zudem, dass sich in der Aporie der Wort-GottesTheologie diejenige der Religionstheologie spiegelt.268 Schließlich zeigt sie noch einmal in aller Deutlichkeit, dass Wagner davon ausgeht, dass Barth und Schleiermacher beide dem „Schlüsselbegriff[] der überkommenen Ontotheologie“269 verhaftet bleiben.
262
WAGNER, Kritik [RuG], 111. WAGNER, Kritik [RuG], 111. 264 S.o. S. 133. 265 WAGNER, Kritik [RuG], 105, vgl. ebd., 111. 266 WAGNER, Kritik [RuG], 102: „Der Springpunkt des mit dem zweiten ontologischen Argument geeinten kosmologischen Beweises besteht also darin, die absolute Notwendigkeit als diejenige absolute Selbstbestimmung verständlich zu machen, die sich zu ihrem Selbsterweis selber voraussetzen muss.“ (Hervorhebung MS). 267 WAGNER, Kritik [RuG], 103. 268 Vgl. WAGNER, Kritik [RuG], 111. 269 WAGNER, Kritik [RuG], 112. 263
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c) Das erste ontologische Argument (Dritter Beweisgang) Die relative Selbständigkeit des Kontingenten ist mit dem Begriff der absoluten Notwendigkeit nicht zu vereinbaren. Dennoch verlangt das Kontingente nach einem Grund; dieser muss jedoch anders als bisher gefasst werden. Im Zentrum des dritten Beweisgangs steht daher ein neuer Begriff von Gott, es handelt sich daher um ein neues ontologisches Argument. Dieser neue Begriff wird von Hegel allerdings nicht einfach gesetzt, sondern entsprechend der Intention, einen einzigen Beweisgang zu führen, „durch das Ausziehen der Konsequenzen des Begriffs der absoluten Notwendigkeit“ 270 gewonnen. Das geschieht so: Die absolute Notwendigkeit benötigt die Selbständigkeit des Kontigenten, um sich als absolute Notwendigkeit zu erweisen (das zeigt das kosmologische Argument). Den dadurch eingeführten Dualismus überwindet das zweite ontologische Argument, indem es das Kontingente als Selbstvoraussetzung der Notwendigkeit interpretiert: die Notwendigkeit setzt ein anderes, mittels dessen sie sich als das, was sie ist, erweist. In diesem Vorgang erweist sich die Selbständigkeit des Kontingenten aber als etwas, worauf die Notwendigkeit zwingend angewiesen ist: Nur mittels der Negation dieser Selbständigkeit kann sie sich als absolute Notwendigkeit erweisen. Der Versuch der absoluten Notwendigkeit, sich als solche zu erweisen, führt also dazu, „daß die Differenz durch die Vergleichgültigung der differenten Momente von Setzen und Voraussetzen, Selbständigkeit und Abhängigkeit, Aktivität und Passivität, Selbst- und Anderssein in Indifferenz überführt wird.“271 Der Versuch den Dualismus dadurch zu überwinden (und die absolute Notwendigkeit dadurch zu retten), dass die einseitige Abhängigkeit des einen Pols vom anderen aufgezeigt wird, dass sich also die eine Seite als schlechthin aktiv, die andere aber als schlechthin passiv manifestiert, führt tatsächlich nur dazu, dass sich die Unterschiedslosigkeit beider Seiten (im Sinne wechselseitiger Angewiesenheit) offenbart. „Die einseitige Dependenz des vorausgesetzten Anderen von der Selbständigkeit des absoluten Selbstseins wird durch die Interdependenz der egalisierten Momente des Selbstund Anderssein ersetzt.“272 Zu einem neuen Gottesgedanken und damit zum Ausgangspunkt des dritten Beweisgangs führt die „Vergleichgültigung der differenten Momente“273 nun mittels der Einsicht, dass die Vergleichgültigung sich so vollzieht, dass jedes Moment die Bestimmung seines Gegenteils annimmt. Weil dieser Übergang in sein Gegenteil aber für beide Momente ein und dasselbe Geschehen darstellt, kann gesagt werden, dass „nicht nur jede Substanz zu ihrem Gegenteil, sondern zugleich zum Gegenteil des Gegen-
270
WAGNER, Kritik [RuG], 106. WAGNER, Kritik [RuG], 106. 272 WAGNER, Kritik [RuG], 107. 273 WAGNER, Kritik [RuG], 112. 271
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teils“274 wird, dass sie also an der Stelle ihres Gegenteils zu sich selbst kommt. Wagner spricht daher von einem „absolute[n] Zusammenschluß“ 275, der das Ende der beiden selbständigen Substanzen bedeutet, von denen der kosmologische Gottesbeweis ausging. Meinte Selbständigkeit dort das gleichgültige Nebeneinander zweier Substanzen, so wird dieses statische Modell jetzt durch ein dynamischeres ersetzt: das Andere ist nicht länger die Grenze des bereits feststehenden eigenen, sondern es wird jetzt als entscheidend für die Realisierung dieses Eigenen eingestuft. Oder mit Wagners berühmter Formel: die Selbstexplikation findet an der Stelle des Andersseins statt. Nichts anderes als die Struktur der Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins bzw. die Struktur der Subjektivität ist der Gottesgedanke, um dessen Realität es in Hegels Transformation des ersten ontologischen Arguments geht. Es sei noch einmal explizit darauf hingewiesen, dass der neue Gottesgedanke die Negation selbständiger Substanzen zu seiner Voraussetzung hat. Wagner kann daher sagen, dass die Negation der Selbständigkeit des kontingenten Daseins, die im ersten Korrekturversuch des kosmologischen Beweises an die Stelle ihrer Affirmation tritt, zwar keine zureichende, wohl aber eine notwendige Bedingung für einen konsistenten Gottesgedanken darstellt.276 Das Problem ist die Einseitigkeit dieser Negation: sie wird nur an der Stelle des kontingenten Daseins vollzogen, im ersten Beweisgang durch das kontingente Dasein selbst, im zweiten dann durch die absolute Notwendigkeit. Der Fortschritt des dritten Beweisgangs besteht demgegenüber in der vollständigen Verabschiedung des Konzepts einer selbständigen Substanz. Hegels Version des ersten ontologischen Arguments geht nicht länger von dem Begriff eines höchst vollkommenen Wesens aus, sondern vom Begriff der Subjektivität. Von der traditionellen Form dieses Beweises übernimmt er lediglich die These der „Untrennbarkeit von Begriff und Sein“.277 Wagner unterscheidet bei Hegel nun drei Argumentationsgänge, die diese Untrennbarkeit begründen sollen. Das erste Argument hält fest, dass das Sein ein Moment des Begriffs selbst ist. Sein wird hier mit Selbstbezüglichkeit gleichgesetzt: „Sein als Moment meint die Bestimmtheit der Beziehung auf sich […]“278. In diesem Sinn ist Sein auch ein Moment des Begriffs des Begriffs (bzw. der Subjektivität): „Die den Begriff auszeichnende Beziehung auf sich selbst beruht […] darauf, daß er sich auf ein Anderes bezieht, das als aufgehobenes Anderes als sein eigenes Selbstsein manifest ist.“279 Das zweite Argument vollzieht „die interne Realisierung des Begriffs“280 nach. Es ent274
WAGNER, Kritik [RuG], 112. WAGNER, Kritik [RuG], 113. 276 WAGNER, Kritik [RuG], 99. 277 WAGNER, Kritik [RuG], 114. 278 WAGNER, Kritik [RuG], 114. 279 WAGNER, Kritik [RuG], 115. 280 WAGNER, Kritik [RuG], 115; Hervorhebung MS. 275
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spricht Wagners Darstellung der immanenten Trinität. Die interne Realisierung des Begriffs vollzieht sich als seine „Selbstunterscheidung“281. Das andere des Begriffs (das Sein), das damit gesetzt ist, ist jedoch weder das ganz Andere, noch ist es bloß der „Schein eines Anderen“; sondern es ist ein Anderes, das selbst nun „in freier Weise“ die Struktur des Begriffs (Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins) aufbaut bzw. realisiert. Der entscheidende Schritt ist allerdings erst mit dem dritten Argument erreicht. In Wagners System entspricht ihm die Christologie. Ging es bisher um den Begriff und wurde die Einheit von Begriff und Sein bisher lediglich so aufgezeigt, dass das Sein als ein Moment des Begriffs expliziert wurde, so erfolgt erst jetzt der Überschritt „zu einem logisch externen Anderssein“282. Erst mit dem Überschritt des Begriffs zur „Objektivität“ unterscheidet sich dieser Beweisgang vom zweiten ontologischen Argument. Damit wird erst jetzt die ursprüngliche Intention des kosmologischen Beweises verwirklicht, nämlich die Begründung der „Selbständigkeit eines vom göttlichen Selbstsein real unterschiedenen Andersseins“ durch Gott aufzuzeigen.283 Diese Begründung wird so erreicht, dass Gott ein Anderes setzt, das allererst den Zusammenhang von Begriff und Sein herstellt, das den Begriff ins Dasein bringt. Vielleicht lässt sich der von Hegel intendierte Sachverhalt mit folgender Formulierung fassen: Gott realisiert sich nicht selbst, sondern er lässt sich realisieren. Dass seine Realisierung durch ein anderes – durch den Menschen – seinem Begriff entspricht, zeigt die Lehre von der immanenten Trinität. Dass Gott sich realisieren lässt, bedeutet, dass er sich dem Menschen ausliefert – und an dieser Stelle lässt Wagner m.E. Kontingenz in seinem System zu. Realisiert der Mensch die Subjektivitätsstruktur, dann bringt er Gott ins Dasein. Die Subjektivitätsstruktur zu realisieren heißt für den Menschen nun aber nichts anderes, als seine eigene Freiheit zu verwirklichen. Man könnte daher auch sagen: der freie Mensch ist die Realität Gottes. Wagners Fazit lautet entsprechend: „Hegels Neuformulierung der Thematik des ontologischen Gottesbeweises gipfelt in der Einsicht, daß die Subjektivität Gottes ihre objektive Realität als das frei entfaltete Anderssein hat, das an seiner Stelle die Subjektivitätsstruktur selbständig verwirklicht.“284 Allerdings kann nur der Mensch die Subjektivitätsstruktur verwirklichen, der um diese Struktur weiß. Anders gesagt: nur ein Mensch mit Gottesbewusstsein kann Gott realisieren. Daher muss der Satz, dass der Mensch die Realität Gottes ist, dahingehend präzisiert werden, dass der religiöse Mensch die Realität Gottes ist. Religion wird damit auf eine ganz bestimmte Weise gefasst. Sie meint nicht die Anbetung eines transzendenten Wesens, sondern ein bestimmtes Selbstverständnis des Menschen: 281
WAGNER, Kritik [RuG], 117. WAGNER, Kritik [RuG], 118; Hervorhebung MS. 283 WAGNER, Kritik [RuG], 120f. 284 WAGNER, Kritik [RuG], 121. 282
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dass er der „Realisator des Geistes [d.h. der Subjektivitätsstruktur]“285 ist. „Das objektive Dasein des Geistes Gottes ist also als die Religion präsent, die ihre Theorie und Praxis als Realisierung der Präsenz des göttlichen Geistes an der Stelle des menschlichen Weltumgangs begreift.“286 2. Jenseits von Dualismus und Pantheismus Der innere Zusammenhang der drei theologiegeschichtlichen Positionen Schleiermacher, Barth, Wagner lässt sich nicht nur anhand Wagners Darstellung der Gottesbeweise aufzeigen, ebenso findet er sich in seiner Rekonstruktion der Wissenschaft der Logik. In deren drei Teilen (der Seins-, Wesensund Begriffslogik) identifiziert Wagner „drei Grundmodelle des Absoluten“ bzw. des Gottesgedankens.287 Alle drei Modelle teilen die Annahme, dass der Gottesgedanke immer nur als das Gott-Welt-Verhältnis thematisiert werden kann. Sie unterscheiden sich darin, wie sie Gott und die Welt (oder das Selbst- und das Anderssein) und ihr Verhältnis zueinander bestimmen. Wagner vertritt die These, dass sich alle Versuche, das Verhältnis von Gott und Welt zu beschreiben, auf eines der drei Modelle zurückführen lassen. Zudem behauptet er – in Übereinstimmung mit den drei Teilen der Logik – eine Hierarchie zwischen den Modellen: sie „bauen […] so aufeinander auf, daß nicht nur der Mangel des seinslogischen Modells dazu nötigt, dieses in das wesenslogische Modell zu überführen; überdies macht es auch die Inkonsistenz des wesenslogischen Modells erforderlich, durch das begriffslogische Modell abgelöst zu werden.“288 Wagners Interpretation der Logik führt zwar einige neue Kategorien ein (wie z.B. den Unterschied zwischen Prozess- und Progressunendlichkeit in der Seinslogik), sie müssen aber in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden. Ansonsten enthält sie größtenteils Passagen, die bereits an anderer Stelle besprochen wurden. Daher halte ich hier nur die Ergebnisse fest. Das erste Modell geht vom Begriff des Endlichen aus. Am Endlichen zeigt sich ein Widerspruch, der zum Begriff des Nichtendlichen führt. Die Intention des ersten Modells besteht dann darin, das Verhältnis von Gott und Welt so zu beschreiben, dass das Endliche auf das Nichtendliche zurückgeführt wird. Diese Intention hält Wagner für berechtigt, denn „es entspricht dem Begriff des Endlichen […], nicht bloß von einem anderen Endlichen, vielmehr von einem Nichtendlichen abhängig zu 285
WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 348. WAGNER, Kritik [RuG], 121. Vgl. ebd., 125: „Die Funktion und das Funktionieren des Gottesgedankens in der Theorie und Praxis der Religion entscheiden über seine Realität und sein Dasein in der Gesellschaft.“ Vgl. zu diesem Religionsbegriff auch die entsprechenden Passagen in Wagners Darstellung der hegelschen Religionsphilosophie: WAGNER, Aufbau [RuG], 168f. und 176ff. 287 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 72. 288 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 72. 286
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sein.“289 Das auf diese Weise erreichte Nichtendliche ist allerdings aus der Struktur des Endlichen abgeleitet, insofern abhängig und daher ein „verendlichtes Nichtendliches“290. Das angestrebte asymmetrische Verhältnis (das Endliche ist vom Nichtendlichen abhängig) ist daher tatsächlich ein symmetrisches Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit: das Endliche ist von einem Nichtendlichen abhängig, das selbst wiederum vom Endlichen abhängig ist, oder, mit Wagners bekanntester Wendung, der Grund ist von Gnaden des Begründeten. Dieses erste Modell eines Absoluten bezeichnet Wagner als korrelativen Dualismus. Während das seinslogische Modell das Verhältnis von Gott und Welt gegensätzlich bestimmt (Gott ist nicht die Welt und die Welt ist nicht Gott), fasst das zweite, wesenslogische Modell dieses Verhältnis als ein Selbstverhältnis auf, genauer: als das Selbstverhältnis Gottes. Der Grundbegriff dieses Modells ist die „Selbstoffenbarung oder Selbstmanifestation Gottes“; die Explikation Gottes durch ein ihm Äußerliches, die für das erste Modell leitend war, wird durch seine Selbstexplikation ersetzt. Eine selbständige Welt kommt im zweiten Modell nicht vor. „Das absolute Selbstsein läßt nur ein solches Anderssein zu, das allein aus und im Absoluten ist“291. Wagner spricht daher von einem „konsequenten akosmischen Pantheismus“292. Dennoch benötigt Gott die Ohnmacht Welt, um sich als das, was er ist, nämlich als absolute Macht, zu erweisen. Er setzt daher ein von sich unterschiedenes und bestimmt sich dadurch als das Verhältnis von „Selbständigkeit und Abhängigkeit, Aktivität und Passivität (Macht und Ohnmacht, Herrschaft und Knechtschaft, Befehl/Gebot und Gehorsam etc.)“293. Der Versuch Gottes jedoch, sich mittels der Ohnmacht der Welt als Allmacht zu manifestieren, führt lediglich die Abhängigkeit der Allmacht von der Ohnmacht und damit ihr Scheitern als Allmacht vor Augen. Im zweiten Modell manifestiert sich Gott mittels der Ohnmacht der Welt. Insofern findet auch hier eine Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins statt: Gott manifestiert die Welt als ohnmächtig und dadurch sich als allmächtig. Das dritte Modell fasst die Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins neu, insofern es hier das Anderssein selbst ist, das Gott verwirklicht und zwar „selbständig verwirklicht“294. Weil die Welt auch hier Gott manifestiert oder verwirklicht, hat Gott an der Welt nicht seine Grenze, ihr Verhältnis wird vielmehr als Einheit gedacht. In diesem Sinn ist dritte Modell wie das zweite ‚monistisch‘. Diese Einheit ist jedoch eine, die allererst hergestellt 289
WAGNER, Theo-Logik [RuG], 75. WAGNER, Theo-Logik [RuG], 74. 291 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 83. 292 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 79; Hervorhebung MS. 293 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 82. 294 WAGNER, Theo-Logik [RuG], 84; Hervorhebung MS. 290
Fazit
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wird (vgl. Wagners Rede vom Zusammenschluss). Weil der Gottesgedanke hierbei die selbständige Norm darstellt, die von der Welt auf wiederum selbständige Weise realisiert wird, kann das Modell zugleich als ‚dualistisch‘ bezeichnet werden. Wagner nennt es daher „[d]as begriffslogisch-monodualistische Modell der Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins.“295 Dieses dritte Modell – jenseits von Dualismus und Pantheismus – identifiziert Wagner mit dem trinitarischen Gottesgedanken.296
Fazit Fazit
Wagner ist Offenbarungstheologe. Wie Barth denkt er von der Selbstoffenbarung Gottes her. Die berechtigte Intention des Offenbarungsgedankens sieht Wagner in der Überlegung, dass es sich bei der Gotteserkenntnis des Menschen tatsächlich um die Selbsterkenntnis Gottes handeln muss. Offenbarung heißt dann: Gott erkennt sich mittels eines anderen als der, der er ist. Der Offenbarungsgedanke impliziert daher das Gott-Mensch-Verhältnis. Weil Wagner die Meinung vertritt, dass Barth dieses Verhältnis in seiner Offenbarungstheologie in seiner ‚starken‘ Fassung nicht zulässt, sondern auf ein innergöttliches Verhältnis reduziert, kann er urteilen, dass die Kirchliche Dogmatik den Offenbarungsgedanken noch nicht als solchen entfaltet hat. Hätte sie es getan, dann wäre sie auf die Manifestationsdialektik gestoßen, die das Zentrum der Theo-Logie Wagners bildet. Die Theo-Logie fasst dabei den Gottesgedanken auf die gleiche Weise wie die Religionstheologie und die Wort-Gottes-Theologie: Gott ist unmittelbare297 Selbstbestimmung bzw. die alles bestimmende Wirklichkeit. Die These, die Wagner im Rückgriff auf Hegels Wesenslogik zu begründen sucht, lautet, dass dieser Gott sich nicht als derjenige, der er ist, offenbaren (oder, wie Wagner auch sagt: erweisen) kann. Mit dem Offenbarungsgedanken wird Gott in ein Verhältnis zu einem anderen gesetzt und die Annahme lautet, dass unter der Voraussetzung des Gedankens absoluter Selbstbestimmung dieses Verhältnis von Gott und ande295
WAGNER, Theo-Logik [RuG], 83. Zu den drei Modellen vgl. auch WAGNER, Gott [RG], 449 (ebenso DERS., WiR, 586). Hier hält Wagner fest, dass das trinitarische Modell die „Wahrheitsmomente“ sowohl des Dualismus als auch des Pantheismus in sich aufhebt: „Mit und gegen den Dualismus betont sie [die Trinitätslehre] das freie und selbständige Anderssein der Welt gegenüber Gott, aber sie hält mit und gegen den Pantheismus daran fest, daß das freie Anderssein der Welt nur in Wahrheit frei und selbständig sein kann, insofern es aus und durch Gott begriffen werden kann.“ 297 ‚Unmittelbare‘ Selbstbestimmung heißt nach Wagner „bloß auf sich selbst bezogene[]“ Freiheit (vgl. WAGNER, Verantwortung [CM], 124). Eine solche Freiheit versuche sich „auf exklusive Weise“ (ebd.) durchzusetzen, nehme also auf die Selbstbestimmung anderer Subjekte keine Rücksicht. 296
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Dritter Teil
rem als ein Verhältnis einseitiger Abhängigkeit bestimmt werden muss. Das Problem ist nun das folgende: der Offenbarungsgedanke fordert ein Verhältnis, der Gedanke absoluter Selbstbestimmung wiederum zwingt dazu, dieses Verhältnis als ein Verhältnis einseitiger Abhängigkeit zu denken. Im Vollzug der Offenbarung zeigt sich jedoch, dass sich dieses Verhältnis einseitiger Abhängigkeit nicht realisieren lässt; es erweist sich vielmehr, dass Gott auf das andere angewiesen ist, um sich zu offenbaren. Für Gott als alles bestimmende Wirklichkeit gibt es dann nur folgende Alternative: entweder er offenbart sich gar nicht,298 oder er akzeptiert die Symmetrie zwischen sich und dem Anderen, die in seiner Offenbarung zutage tritt. Die Offenbarung ist dann tatsächlich ein Akt der Selbsterkenntnis Gottes, indem freilich sowohl Gott als auch das Andere neu bestimmt werden.299 Bei der im ersten Kapitel dargestellten Manifestationsdialektik unmittelbarer Selbstbestimmung handelt es sich um das zentrale Argument in Wagners Theo-Logie. Sowohl in der Religionstheologie als auch in der Wort-GottesTheologie lässt sie sich Wagner zufolge nachweisen. Beide folgen der Logik unmittelbarer Selbstbestimmung, entwickeln sie aber von entgegengesetzten Standpunkten aus. Der Unterschied und die Übereinstimmung der beiden theologiegeschichtlichen Positionen werden dann besonders deutlich, wenn man sie mit der Interpretation der verschiedenen Gottesbeweise verknüpft, wie Wagner sie im Anschluss an Hegel unternommen hat. Von Bedeutung ist die Manifestationsdialektik aber vor allem darum, weil Wagner durch sie zu einem neuen, seines Erachtens eigentlich erst christlichen Gottesverständnis gelangt. Das neue Gottesverständnis beschreibt eine Struktur, die Wagner wahlweise als Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins, als vermittelte Selbstbestimmung, als Subjektivität oder schlicht als Freiheit bezeichnet. Gerade die erste Formel macht deutlich, dass Wagner Gott ebenfalls als einen sich offenbarenden Gott denkt. Die Pointe besteht nun darin, dass Gottes Selbstexplikation, seine Offenbarung, tatsächlich an der Stelle des Anders298
Wagner kann diese Alternative als den ‚Neid‘ Gottes bezeichnen: statt das Andere zum Zweck seiner Offenbarung zuzulassen, vernichtet er es, „dann aber wäre Gott als NurGott Nicht-Gott.“ (WAGNER, Einleitung [RG], 386). 299 In der „semantischen Neubestimmung“ dessen, was ‚Gott‘ und was ‚Mensch‘ heißt, erblickt auch Slenczka die Pointe des Christusgeschehens (vgl. SLENCZKA, Christologie, 190f., Zitat 190). Slenczka betont dabei allerdings die Kontinuität des christlichen Gottesbildes mit dem, was man üblicherweise unter Gott versteht (Slenczka selbst spricht vom ‚metaphysischen Gottesbegriff‘). Slenczka scheint die Neubestimmung eher so aufzufassen, dass der Christ über den altbekannten Gott neues erfährt: Das anonyme Schicksal ist der liebende Vater: „Die soteriologische Pointe der Neubestimmung der Identität Gottes durch das Lebensgeschick Jesu zielt darauf, dass alle Lebenserfahrung des Menschen als Umgang mit dem Gott, der sich in Christus als interessiert am Leben des Menschen erweist, gefasst wird“ (ebd., 226f.). Entsprechend betont Slenczka das Moment des Kontrafaktischen im Lebensvollzug des Christen (vgl. z.B. ebd., 230).
Fazit
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seins geschieht. Die Grundidee lautet: Gott lässt sich offenbaren, und zwar durch den Menschen. Und Gott kann sich in seinem Anderssein, an der Stelle des Menschen genau dann erfassen, wenn dieser nun auf selbständige Weise und an seiner Stelle ebenfalls die Struktur der Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins aufbaut. Dann ist Gott im Anderen bei sich. Wagners Christologie ist so zu verstehen, dass es in ihr genau um diesen Anderen geht. Jesus Christus ist der Andere, in dem Gott bei sei sich ist, in dem er sich als Freiheit zu erfassen vermag.300 Dass Jesus der Christus ist, meint daher nichts anderes, als dass Jesus der Mensch ist, der Gott auf eigenständige Weise in der Welt offenbart. Es ist nun die Eigenart der christlichen Religion, um diesen neuen Gott zu wissen, der sich mittels des Menschen offenbart. Sie erzählt von dem „Gott der Anerkennung“ und sie erzählt von dem Menschen, der diesem Gott entsprach, der seine Gottesliebe in seiner Nächstenliebe zum Ausdruck brachte. Gottes Sohn ist für sie gerade nicht, wer seine Freiheit und Macht demonstriert, sondern wer die Freiheit der Anderen auf radikale Weise anerkennt. Es sind die Anderen, die ihn als Gottessohn manifestieren, Jesus setzt sich nicht unmittelbar durch, sondern folgt der Logik vermittelter Selbstbestimmung und erweist sich gerade darin als göttlich.301 Es zeigt sich: Jesus Christus lässt sich nicht isoliert verstehen, sondern seine Umwelt, seine Mitmenschen, gehören konstitutiv zu ihm dazu. Dass ‚Jesus Christus‘ für Wagner ein komplexer Begriff ist, der das Individuum Jesus und seine gesellschaftliche Umwelt umfasst, spiegelt sich in Wagners Systemaufbau so wieder, dass er in seine Christologie sowohl die Jesusforschung als auch die Perspektive des Gemeindeglaubens integriert. Damit entspricht das Anderssein, um das es in der Christologie gehen soll, strukturell dem Gottesgedanken: hier (an der Stelle des Andersseins) lässt sich nun ebenfalls ein Selbstsein (Jesus) von einem Anderssein (Gemeinde) unterscheiden. Während es also bei der Frage nach dem historischen Jesus um die Selbständigkeit und Eigenbedeutung des Individuums Jesus geht, wird an der Stelle des Gemeindeglaubens sein Für-Bezug thematisch.302 Selbständigkeit und Für-Bezug sind nun aber auch die beiden Kategorien, die nach Wagner in einer gelungenen Theorie des Absoluten miteinander zu vermitteln sind. Das Geschehen, welches der Selbständigkeit und dem Dasein für andere gleichermaßen Rechnung trägt, bezeichnet Wagner als wechselseitige Anerkennung. Im Verhältnis von Jesus und seiner Umwelt identifiziert Wagner dieses Geschehen 300 Daher sagt Wagner, dass es in der Christologie um die Selbstthematisierung der Theologie geht. 301 Gott und Jesus vollziehen also die gleiche Bewegung: sie lassen sich durch ihr jeweiliges Anderssein realisieren. 302 Entsprechend ordnet Wagner die Kategorie der Selbstproduktion/Selbsterzeugung dem Individuum Jesus zu, die der Selbstthematisierung hingegen der Gemeinde: dadurch lässt sich auch das Verhältnis von Jesus und Gemeinde mit der Formel einer Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins beschreiben.
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Dritter Teil
wechselseitiger Anerkennung in Tod und Auferstehung Jesu Christi. Dabei wird im Tod Jesu manifest, dass er seine Umwelt anerkennt, sich durch sie bestimmen lässt und dadurch Gott entspricht; seine Auferstehung hingegen ist so zu verstehen, dass seine Umwelt, die ihn bisher ablehnte, ihn anerkennt, d.h. sich durch ihn bestimmen lässt und dadurch nun ihrerseits Gott entspricht. Dieses Geschehen wechselseitiger Anerkennung zwischen Jesus und seiner Umwelt spiegelt die trinitarische Struktur, spiegelt Gott in der Welt wider. Allerdings vergegenwärtigt das Christentum den neuen Gott, zu dem der Mensch konstitutiv dazu gehört, in der Form der Religion. Wagner holt dies so ein, dass er seine Christologie in einem ersten Teil (Kapitel II.2) aus der Perspektive der Gemeinde entfaltet, welche die Perspektive des religiösen Bewusstseins repräsentiert. Diese Perspektive zeigt sich insbesondere in der Auferstehung, die, wie gesagt, Ausdruck für die Anerkennung Jesu Christi durch seine Umwelt ist. Diese Anerkennung vollzieht sich im Modus der Religion so, dass die Gemeinde Jesus mit den Kategorien des traditionellen Gottesgedankens deutet (Jesus ist sich selbst wissende Selbstproduktion), und ihre Anerkennung (ihren Glauben) nicht als ihr, sondern als Jesu eigenes Werk auffasst.303 Die Gemeinde fasst ihren Sinneswandel daher auch nicht als einen aktiven Akt der Anerkennung auf, sondern eher als ein Geschehen, das über sie kommt, sie ergreift oder überwältigt. Da es aber stets die Gemeinde ist, die diese Aussage trifft, zeigt sich auch hier die Aporie des religiösen Bewusstseins: Jesus Christus ist zugleich Produzent und Erzeugnis des Gemeindeglaubens. Dieser erste Teil stellt für Wagner daher nur den Entdeckungszusammenhang seiner Christologie dar. Von ihm zu unterscheiden ist ein zweiter, begründender Teil (Kapitel II.3), in welchem er die christlichen Gehalte nun nicht länger aus Perspektive der Religion, sondern an sich selbst entfaltet. Die christlichen Gehalte an sich selbst zu entfalten, heißt für Wagner, sie im Sinne der Manifestationsdialektik der Wesenslogik (so der erste, negative Begründungsgang) bzw. im Sinne der Begriffslogik (so der zweite, positive Begründungsgang) zu rekonstruieren. Typisch für Wagners begriffslogische Fassung der Trinitätslehre ist das Bemühen, jeglichen Anschein eines Subordinatianismus zu vermeiden. Er bestimmt daher Vater, Sohn und Geist als gleich-gültig Selbständige, was er dadurch erreicht, dass alle drei an sich selbst die Totalität der Bestimmtheiten repräsentieren. Die Christologie hat ihren Ort am Übergang von der immanenten Trinität zum externen Anderssein. Dabei thematisiert sie einmal diesen Übergang selbst und fragt sodann, wie es zu denken sei, dass das externe Anderssein an seiner Stelle auf selbständige Weise die Struktur der Freiheit realisiert. Wagner nennt dies die 303
Der Fehler der Gemeinde besteht also darin, nicht sie selbst als das Subjekt der Manifestation Jesu Christi zu betrachten, sondern sowohl das Prädikat der Selbstproduktion als auch das der Selbstthematisierung Jesus zuzuschreiben.
Fazit
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beiden Grundprobleme der Christologie. Mit Rücksicht auf diese beiden Fragestellungen reformuliert Wagner dann auch die klassischen Lehrstücke der Christologie (Kapitel II.4). Hier orientiert er sich ebenfalls an dem Dreischritt Menschwerdung, Tod und Auferstehung und ordnet die Inkarnation dem Problem der Genese eines externen Andersseins zu, während es bei Tod und Auferstehung um die Realisierung Gottes an der Stelle eben dieses Andersseins geht. Während es also bei der Menschwerdung um den Begriff eines von Gott unterschiedenen Andersseins überhaupt geht, ist das Thema des Todes der Begriff eines Andersseins, dass die Realisierung Gottes auf selbständige Weise vollzieht. Die Auferstehung schließlich bezieht Wagner auf die Anerkennung dieses Begriffs durch das Anderssein. Anerkennen heißt: die Menschen erfasst den Begriff eines Menschen, der Gott realisiert, als ihren eigenen Begriff, als ihre eigene Bestimmung. „Während der Tod Jesu als des Christus den Begriff oder das Wissen der an der Stelle des Andersseins realisierten Subjektivitätsstruktur repräsentiert, stellt die Entäußerung und Anerkennung dieses Todes durch das allgemeine menschliche Anderssein die Realisierung Jesu als des Christus, d.h. die Realisierung der Subjektivitätsstruktur an der Stelle des allgemeinen menschlichen Andersseins und somit im Medium des individuellen und soziokulturellen Weltumgangs der Menschen dar.“304
Während in den letzten Worten des Zitats schon das Thema der Pneumatologie anklingt, sei hier nur noch einmal vermerkt, dass es das Problem der Religion ist, diesen letzten und entscheidenden Akt menschlicher Selbsterkenntnis nicht zu vollziehen, sondern stattdessen den Begriff des Andersseins, das Gott realisiert, zu einem Wesen zu vergegenständlichen, von dem sie alles erwartet. Hinzuweisen ist schließlich noch darauf, dass in Wagners späten Texten der positive Begründungszusammenhang kaum mehr eine Rolle spielt; der christliche Gottesgedanke findet seine Begründung hier ausschließlich über die Manifestationsdialektik. Wagners Theo-Logie stellt in gewisser Weise das Modell einer Versöhnung von Schleiermacher und Barth dar und damit auch das Modell einer Versöhnung von menschlicher und göttlicher Freiheit (oder von Besonderem und Allgemeinem). Der Mensch ist das Sein Gottes; es die Freiheit des Menschen, die Gott in der Welt manifestiert. Gottes Freiheit wiederum wird durch die Formulierung abgesichert, dass Gott sich durch den Menschen realisieren lässt. Nicht jedes menschliche Tun bringt Gott in die Welt, nicht jeder Vollzug menschlichen Lebens ist eine Menschwerdung Gottes. Sondern der Mensch ist nur dann das Sein Gottes, wenn er sich vom Gottesgedanken bestimmen lässt, d.h. wenn er sich in seinem Denken und Handeln an der Logik 304
WAGNER, Christologie-VL, 366; vgl. ebd., 367: „Der Tod Jesu als des Christus und seine Realisierung als Geist verhalten sich also wie Begriff der an der Stelle des Andersseins explizierten Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins und gegenständlichobjektive Realisierung dieses Begriffs.“
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Dritter Teil
wechselseitiger Anerkennung ausrichtet. Bevor im vierten und letzten Teil der Arbeit diese selbständige Realisierung Gottes durch den Menschen zum Thema wird, will der folgende Exkurs einen knappen Überblick über neuere theologische Entwürfe geben, die sich verstärkt um eine theologische Deutung der Rede vom Tod Gottes bemühen. Wie gesehen, kann auch Wagner seinen zentralen Gedanken eines Scheiterns unmittelbarer Selbstbestimmung mit der Rede vom Tod Gottes illustrieren.305 Damit gehört er zu jenen protestantischen Theologen, in deren Entwürfen dem Kreuz ein besonderer Stellenwert bei der Entfaltung des christlichen Gottesverständnisses zukommt.
305 Siehe in diesem Teil Kap. II.3a. Vgl. auch die Bemerkung bei WAGNER, Verantwortung [CM], 130: „In metaphorischer Sprechweise kann der Verlust des unmittelbar selbstbestimmenden Gottes als Tod Gottes interpretiert werden. Der Gott ist tot, dessen gedankliche Struktur der Logik direkter Selbstmacht und unmittelbarer Selbstbestimmung verpflichtet ist.“
Exkurs zur Rede vom Tod Gottes Trotz seiner Sperrigkeit übt der Gedanke des leidensfähigen und sterblichen Gottes eine starke Anziehungskraft auf die christliche Theologie aus.1 Dass es gerade die Theologen des 20. Jahrhunderts sind, die das dunkle Wort vom Tode Gottes ins Zentrum ihrer Entwürfe rücken, mag auch damit zu tun haben, dass nach den Erfahrungen von Weltkriegen und Massenmord die Annahme eines allmächtigen und allgütigen Gottes wirklichkeitsfremder denn je erschien. Gemeinsames Merkmal vieler Konzeptionen jener Zeit ist daher auch die Infragestellung des ‚theistischen‘ Gottesbildes.2 Allerdings wollen Theologen wie Jürgen Moltmann oder Eberhard Jüngel ihre Theologie kaum als bloße Reaktion auf die Gewalt- und Leidensgeschichte des 20. Jahrhunderts verstanden wissen. Ihr Ziel ist es vielmehr, einen genuin christlichen Gottesbegriff zu entwickeln und d.h. vor allem, das Verhältnis von Gott und Leid, von Allmacht und Ohnmacht neu zu bestimmen. Eine solche Neubestimmung ist motiviert durch die These, dass das Kreuz Jesu den Ausgangspunkt christlicher Rede von Gott bilden muss.3 Den Verfechtern eines leidenden Gottes geht es also nicht in erster Linie darum, durch eine Umformung 1
Vgl. ROHLS, Gott. So bemerkt Jürgen Moltmann, dass die Theologie lange Zeit nicht in der Lage gewesen sei, „Gott selbst mit dem Leiden und Sterben Jesu zu identifizieren.“ Grund dafür sei eine „geistige Sperre“ gewesen, verursacht durch den „philosophischen Gottesbegriff […]. Danach ist Gottes Sein unvergänglich, unveränderlich, unteilbar, leidensunfähig und unsterblich; das menschliche Sein hingegen vergänglich, veränderlich, teilbar, leidensfähig und sterblich“ (MOLTMANN, Gott, 214). Diese Asymmetrie sei für den Theismus konstitutiv: „Der Theismus denkt Gott auf Kosten des Menschen als ein übermächtiges, vollkommenes und unendliches Wesen“ (ebd., 236). Dorothee Sölle sieht im Leiden der Welt die Ursache für die „Absetzung des theistisch verstandenen Gottes“ (SÖLLE, Stellvertretung, 172). Zurecht habe die Moderne das theistische Gottesbild in Frage gestellt, das auf den „Schmerz, die Ungerechtigkeit und das Leiden der Unschuldigen“ keine Antwort zu geben wisse. Angeklagt sei „der Gott der Allmacht, der König, Vater und Herrscher der Welt“ (ebd.). Für Eberhard Jüngel ist es der Tod Jesu, der die christliche Theologie dazu zwingt, „das metaphysische Begreifen [Gottes]“ zu überwinden (JÜNGEL, Tod, 117). Denn dieses denke Gott „als actus purissimus bzw. actus simplicissimus“, mit der Folge, dass „Leiden, Sterben und in diesem Sinne Negation“ von Gott nicht ausgesagt werden könnten (ebd.). 3 Vgl. z.B. JÜNGEL, Gott, 15: „Für die christliche Verantwortung des Wortes ‚Gott‘ ist der Gekreuzigte geradezu so etwas wie die Realdefinition dessen, was mit dem Wort ‚Gott‘ gemeint ist. Christliche Theologie ist deshalb fundamental Theologie des Gekreuzigten.“ 2
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Exkurs
des klassischen Gottesbildes in einer Zeit der Gottesfinsternis der Theologie erneut Relevanz zu verschaffen; eher ist es ihr Anspruch, durch die Aufnahme der Rede vom Tod Gottes allererst das Eigentliche des christlichen Gottesgedankens freizulegen. Eine solche Theologie, die vom Kreuz Jesu her denkt und sich dadurch in einen Widerspruch zum theistischen Gottesgedanken bringt, kann sich auf Luthers theologia crucis berufen, die selbst wiederum als streng biblische Theologie auftritt.4 Dieser Exkurs befragt vor dem Hintergrund des eben vorgestellten Programms einer Revolutionierung des Gottesgedankens bei Wagner die Entwürfe Dorothee Sölles, Moltmanns und Jüngels nach dem möglichen Sinn einer christlichen Rede vom Tod Gottes. Beginnen möchte ich jedoch mit einigen Beobachtungen zur Kreuzestheologie Luthers. Interpretationsgrundlage sind die theologischen Thesen der Heidelberger Disputation.
I. Gericht und Gnade: Luthers Kreuzestheologie I. Gericht und Gnade: Luthers Kreuzestheologie
Mit seinen 28 Thesen will Luther explizit eine „theologica paradoxa“5 entfalten. Paradox ist diese Theologie, weil sie dem Menschen von allen möglichen Orten, an denen er Gott zu finden meint, den unwahrscheinlichsten nennt: die Leiden und das Kreuz sind der einzige Ort menschlicher Gotteserkenntnis. Dieser Satz ist ein Generalangriff auf die Würde des Menschen. Schließlich ist der Mensch das Geschöpf, welches Gottes unsichtbares Wesen, „seine Kraft, Gottheit, Weisheit, Gerechtigkeit, Güte usw.“6, in der Welt wahrzunehmen vermag. „Der Mensch – allein fähig zur intelligiblen Anschauung – ist die Mitte der Schöpfung, hier hat diese gleichsam ihr Auge eingesetzt bekommen, durch das sie das unsichtbare Wesen Gottes zu schauen vermag.“7 Der Mensch ist Gottes Ebenbild, ihm „als Geistwesen […] verwandt.“8 Die hier postulierte Nähe von Gott und Mensch wird von Luther radikal in Frage gestellt. Gott zeige dem Menschen vielmehr die kalte Schulter und verwerfe ihn als seinen Stellvertreter – und gerade das will Luther als einen Akt göttlicher Zuwendung verstanden wissen. Zunächst aber arbeitet er mit aller Schärfe die Kluft zwischen Gott und Mensch heraus. Gott ist gerecht – der Mensch vermag nicht einmal mit der Hilfe des göttlichen Gesetzes – immerhin „die allerheilsamste Lehre des Lebens“9 –, geschweige denn aus 4
Dass Luthers Kreuzestheologie als das Produkt einer bestimmten exegetischen Methode zu verstehen ist, hat Ulrich Barth gezeigt, vgl. BARTH, Dialektik, 97–123. 5 LUTHER, Disputation, 63; vgl. BORNKAMM, Thesen, 131. 6 LUTHER, Disputation, 53. 7 IWAND, Theologia, 385. 8 IWAND, Theologia, 387. 9 LUTHER, Disputation, 37 (Th. 1).
I. Gericht und Gnade: Luthers Kreuzestheologie
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eigener Vernunft zur Gerechtigkeit zu gelangen. Vielmehr muss geurteilt werden, dass jedes menschliche Werk, „wie schön sie auch immer seien und wie gut sie erscheinen“10, immer schon eine Todsünde ist. Gott ist frei – das freie Willensvermögen des Menschen hingegen „ist ein bloßer Name, und indem es tut, was in seinen Kräften steht, sündigt es tödlich.“11 Wie kam es zu diesem Bruch? Gottes „Herrlichkeit und Majestät“12 spiegelt sich in seinem Werk und das vollkommenste seiner Werke, die Krone der Schöpfung, wie man sagt, ist der Mensch. Der Mensch nun weiß um seine herausragende Stellung in der Welt, seine excellentia13 gegenüber den anderen Geschöpfen; geblendet von der eigenen Größe übersieht er jedoch, dass es sich dabei um eine eingeräumte Stellung handelt, dass seine Würde göttliche Gabe ist. Dankbarkeit schlägt um in Selbstverliebtheit; „Gottes Gaben, der gestirnte Himmel über ihm, den er sehen kann, und das moralische Gesetz in ihm, werden ihm zur Selbstbestätigung seines Wesens.“14 Luther hält fest: „‚alle Gabe Gottes ist gut‘ und ‚jedes Geschöpf ist sehr gut‘“15. Der Mensch nun feiert zwar diese Güte und seine Fähigkeit sie zu begreifen und zu gestalten, nicht aber ihren Urheber. So bläht er sich auf durch seine guten Werke,16 er „rechnet sich die Werke und die Weisheit zu, nicht aber Gott, und so missbraucht er die Gaben Gottes und verunreinigt sie.“17 Indem der Mensch seine Göttlichkeit nicht mehr als Gabe, als verdankte Göttlichkeit wahrnimmt, setzt er sie als seine Göttlichkeit absolut. Genau darin besteht für Luther der Hochmut des Menschen, und dieser Hochmut ist seine ganze Sünde.18 Der Sünder ergötzt sich an seiner Gottgleichheit. „Das aber ist seine ganze Verkehrtheit, nämlich sich selbst gefallen, sich selbst in seinen Werken genießen und sich als Götzenbild anbeten.“19 Fragt man den Sünder, wo Gott zu finden ist, dann verweist er auf sich und seine Werke. Gott ist unsichtbar, der Mensch aber kann ihn erkennen und in seinen Werken zur Anschauung bringen. Dem guten Schöpfergott entspricht der gute, schaffende Mensch. Eine Theologie, die dieses Verhältnis reflek10
LUTHER, Disputation, 37 (Th. 3). LUTHER, Disputation, 47 (Th. 13). 12 LUTHER, Disputation, 53 (Th. 20). 13 Vgl. IWAND, Theologia, 385. 14 BORNKAMM, Thesen, 135. Vgl. ALTHAUS, Luther, 35f.: „Die natürliche Theologie, die spekulative Metaphysik, die Gott aus den Werken der Schöpfung erkennen will, und die Werkheiligkeit des moralischen Menschen gehören zusammen. Beide sind Weisen der Selbsterhebung des Menschen zu Gott.“ 15 LUTHER, Disputation, 57 (Th. 24). 16 Vgl. LUTHER, Disputation, 55 (Th. 21). 17 LUTHER, Disputation, 57 (Th. 24). 18 „Ja, der Hochmut höre auf, und es wird nirgendwo mehr Sünde sein.“ (LUTHER, Disputation, 43 (Th. 8). 19 LUTHER, Disputation, 41f. (Th. 7). 11
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Exkurs
tiert, nennt Luther theologia gloriae. Ihr hält er entgegen: Der Mensch ist nicht Gott, sondern ein Nichts, der Mensch kann Gott nicht erkennen, er ist ihm vielmehr verborgen, nicht im Tun und Schaffen des Menschen ist Gott gegenwärtig, sondern in seinem Leiden und Sterben. Die selbstverständliche Voraussetzung der theologia gloriae lautet: Gott schafft. Dieses Schaffen ist positiv konnotiert; entsprechend erkennt man Gott in dem, was er positiv hervorbringt. Dieser positiven Schöpfungstheologie widerspricht die radikal christozentrische Kreuzestheologie: „im gekreuzigten Christus ist die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes“20. Luther bezieht das Kreuz Christi sogleich auf Gottes Urteil über den Sünder, indem er sagt, dass „durch das Kreuz [Christi] die Werke zerstört werden und [der alte]21 Adam gekreuzigt wird“22. Kreuzestheologie ist so zunächst eine Art negative Schöpfungstheologie: Gott wird in seinem Werk erkannt, jedoch nur dort, wo es vergeht. Allein die schwindende Schöpfung spiegelt Gottes Urteil über sie; in ihrem Leiden, nicht in ihrem Leben ist er gegenwärtig. Gemessen an den Vorstellungen positiver Schöpfungstheologie muss das, was die Kreuzestheologie vom Handeln Gottes sagt, als blasphemischer Irrsinn erscheinen. Denn Gottes Handeln ist demzufolge in dieser Welt ja „nicht einfach unkenntlich, sondern unter dem Gegensatz verborgen.“23 Mit Verweis auf besonders drastische Formulierungen Luthers formuliert Paul Althaus das kreuzestheologische Paradox so: „Gott kommt für die Welt – und zu ihr gehören auch die Christen! – als Teufel zu stehen, angesichts dessen, wie er mit den Seinen umgeht“24. Nicht aus dem Blick geraten darf dabei, dass der teuflische Gott das Gegenüber des sündhaften Menschen ist. Gottes teuflisches Antlitz ist der härteste Ausdruck für Gottes Widerspruch gegen die Sünde des Menschen. Die Kreuzestheologie ist so in erster Linie „widersprechende Theologie“25. Luther knüpft Menschsein und Sündersein so eng aneinander, dass Gottes Vernichtung der Sünde als eine Vernichtung des Menschen erscheinen muss. „Weil der Mensch von Hause aus Gott feind ist, darum kann er das Wirken Gottes an ihm nur als Leiden, als Anfechtung und Beraubung erfahren, eben nicht als Lebenserhöhung, sondern als Gericht und Tod.“26 Das Kreuz steht nun aber nicht nur für Gottes Gericht über den Menschen, die Pointe der Kreuzestheologie wird erst dort sichtbar, wo das Kreuz als Symbol göttlicher Treue und Barmherzigkeit verstanden wird. Genauer betrachtet besteht die 20
LUTHER, Disputation, 53 (Th. 20). Ergänzung im Original. 22 LUTHER, Disputation, 55 (Th. 21); vgl. These 24. 23 BARTH, Dialektik, 114. 24 ALTHAUS, Theologie, 38f. Vgl. besonders ebd., Anm. 10. 25 KORTHAUS, Kreuzestheologie, 366. Vgl. BARTH, Dialektik, 122: „Das Symbol des Kreuzes steht […] in erster Linie […] für die Grundform göttlichen Offenbarungshandelns in einer durch die Sünde bestimmten Welt.“ 26 IWAND, Theologia, 393. 21
I. Gericht und Gnade: Luthers Kreuzestheologie
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besondere Bedeutung der Kreuzestheologie darin, dass sie den göttlichen Zorn und das ihm entsprechende menschliche Leiden nicht aufhebt, sondern in ein neues Licht stellt. Es ist das Licht des Osterglaubens, der besagt, dass Gott den Gekreuzigten auferweckt hat. Vom Kreuz Christi her erscheint die Verwerfung des Menschen, erscheinen sein Leiden und sein Tod als die Kehrseite von Gottes Neuschöpfung des Menschen: „das ist es, was Christus Joh 3 sagt: ‚Ihr müsst von neuem geboren werden.‘ Wenn von neuem geboren werden, dann vorher sterben und mit dem Menschensohn erhöht werden; ‚sterben‘, sage ich, das heißt, den Tod als gegenwärtig fühlen.“27 Die Kreuzestheologie vermittelt insofern eine Heilsbotschaft, als sie besagt, dass Gott aus Sündern gerechte Menschen macht. Man könnte darin ja auch zwei separate Akte sehen: Gott verwirft seine alte Schöpfung und erschafft dann den gerechten, ihm entsprechenden Menschen. Verhielte es sich so, dann bestünde zwischen der alten und der neuen Schöpfung, zwischen dem Sünder und dem Gerechten keinerlei Kontinuität. Diese Kontinuität ist es nun aber gerade, welche die Kreuzestheologie behauptet. Sie behauptet damit die Treue Gottes gegenüber dem Sünder. Luther bestimmt das Verwerfungsurteil über den Sünder als die eine Seite des göttlichen Handelns, das er insgesamt auf den Begriff der schöpferischen Liebe Gottes bringt. Gottes fremdes Werk – das Gericht – und sein eigenes Werk – die Gerechtmachung – stehen zueinander in einem „Verhältnis der Heilsfinalität“28: „das heißt, er demütigt uns in uns, indem er uns zu Verzweifelnden macht, um uns in seiner Barmherzigkeit zu erhöhen, indem er uns zu Hoffenden macht.“29 Eine der zahlreichen paradoxen Formulierungen Luthers lautet, dass das völlige Verzweifeln an sich selbst gerade kein Anlass zur Verzweiflung ist, da nur derjenige, der weiß, dass er vor Gott in keiner Weise zu bestehen vermag, der für Gott sozusagen ein Nichts ist, darauf hoffen kann, möglicher Gegenstand der göttliche Liebe zu sein. Denn diese „findet das für sie Liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es.“30 Indem Gott den Menschen anklagt, indem er sein Sündenbewusstsein weckt, bringt er ihn in eine Haltung, in der er nichts mehr von sich und alles von Gott erwartet. Es ist dies die dem Hochmut entgegengesetzte Haltung der Demut und Gottesfurcht, die nach Luther „das ganze Verdienst ist“31. Die Neubewertung, die die Kreuzestheologie mit Blick auf das Gericht Gottes vornimmt, ist also so zu beschreiben, dass sie es als göttliches Heilshandeln interpretiert. Gottes Zorn und menschliche Demut werden so zu Hoffnungszeichen. „Hoffnung im Sinne der ‚theologia crucis‘ ist die Gewiß27
LUTHER, Disputation, 51 (Th. 24). BARTH, Dialektik, 116. 29 LUTHER, Disputation, 39 (Th. 4), vgl. auch die Thesen 16–18. 30 LUTHER, Disputation, 61 (Th. 28), vgl. ebd., 51 (Th. 18): „Es ist gewiss, dass ein Mensch von Grund auf an sich verzweifeln muss, damit er geeignet wird, die Gnade Gottes zu empfangen.“ 31 LUTHER, Disputation, 41 (Th. 4). 28
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Exkurs
heit der Heilsfinalität des gegenwärtig erfahrenen ‚opus alienum‘ auf das künftig erwartete ‚opus proprium‘ zu.“32 Haltlos ist die Hoffnung dort nicht, wo an die Auferweckung des Gekreuzigten geglaubt wird, wobei Luther den Glauben als Partizipation am Christusgeschehen versteht. Ist das Ziel der kreuzestheologischen Argumentation die Liebe Gottes, so erweist sich auch die theologia crucis als eine letztlich positive Schöpfungstheologie, wenngleich als eine Schöpfungstheologie höherer Ordnung. Denn Gott schafft nun auch dort, wo er verwirft, er liebt auch dann, wenn er zürnt. Gott verwirft nicht den Sünder und liebt den Gerechten, sondern er verwirft den Sünder, um ihn zum Gerechten zu machen. Gericht und Gnade, Verwerfung und Erhöhung werden nicht länger als Gegensätze verstanden, sondern das Gericht wird gewissermaßen in die Gnade integriert. Das heißt aber auch: keine Gnade ohne Gericht. „Gott verwirklicht seinen Willen nicht auf unmittelbare Weise, sondern er wirkt sein ‚opus proprium‘ immer nur im Durchgang durch sein ‚opus alienum‘.“33
II. Die Rede vom Tod Gottes in der Theologie des 20. Jahrhunderts II. Die Rede vom Tod Gottes im 20. Jahrhundert
1. Ersatz und Stellvertretung – Dorothee Sölle Es ist eine genuin neuzeitliche Erfahrung, die nach Dorothee Sölle mit der Rede vom Tod Gottes zum Ausdruck gebracht wird. Gemeint ist damit „jenes alles bestimmende Ereignis, das sich innerhalb der letzten zweihundert Jahre europäischer Geschichte begeben hat.“34 Man kann dieses alles bestimmende Ereignis als das Ende des Theismus bezeichnen. Es ist das Denken der Aufklärung, welches „die Selbstverständlichkeit Gottes für die ganze Welt zerstört“35. Hauptmerkmal des „naive[n] Theismus“ ist ein unmittelbares Gottesverhältnis. Von einer solchen unmittelbaren Gottesbeziehung gehen auch „[a]lle bisher bekannten Formen der christlichen Religion“ aus. Dass man 32
BARTH, Dialektik, 119. BARTH, Dialektik, 114. Vgl. auch DANZ, Theologie, 50f.: „Das Gottesverhältnis als wahres Sich-Verstehen wird von Gott selbst konstituiert. Es selbst kommt indes nur über den Umweg des Gerichts und der Anklage Gottes zustande. Das Gottesverhältnis des Glaubens entsteht durch die Negation des Menschen hindurch und fußt auf dem Vergebungs- und Verheißungswort Gottes, mit dem er den Menschen freispricht.“ Für Althaus ist das Ziel der Kreuzestheologie gerade Gottes Gottheit zu erweisen: „Eben darin, dass er in der Schwachheit mächtig, in der Niedrigkeit herrlich, im Tode lebendig und lebensschaffend ist, zeigt Gott sich als Gott.“ Seine Macht bestehe gerade darin, „aus dem Nichts, aus dem Gegenteil zu schaffen.“ (ALTHAUS, Theologie, 41). 34 SÖLLE, Stellvertretung, 9. 35 SÖLLE, Stellvertretung, 149. 33
II. Die Rede vom Tod Gottes im 20. Jahrhundert
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Gott in der Welt direkt begegnen kann, in einem Dornbusch etwa,36 in der Natur insgesamt,37 in „Wundern, Geschichtsfügungen und Offenbarungskontinuitäten“38, dieser Glaube ist dem neuzeitlichen Menschen verloren gegangen. Ein Dornbusch ist einfach ein Dornbusch; die Welt verweist auf nichts und ist aus sich selbst heraus verständlich. Unmöglich geworden ist das „kindliche Verhältnis zum Vater droben überm Sternenzelt“39, unmöglich geworden ist damit auch das, was man herkömmlicherweise unter Religion versteht. Grundbegriff der Neuzeit ist die Autonomie des Menschen; der Mensch übernimmt nun selbst die Verantwortung für sein Schicksal. Im Anschluss an die verwendete Familienmetaphorik könnte man sagen: der Mensch ist in der Neuzeit erwachsen geworden. Sölle bewertet diesen Emanzipationsprozess durchaus positiv.40 Wenn Sölle vom Tod Gottes spricht, dann meint sie damit also die spezifisch neuzeitliche Situation, in der Gott als „unmittelbare[s] Gegenüber“ verloren gegangen ist.41 Für ihre eigene Gegenwart stellt Sölle nun noch eine zweite Entwicklung fest, die sich gegenläufig zu der eben beschriebenen Emanzipationsbewegung verhält. Sie beobachtet einen „Rückgang in selbstverschuldete Unmündigkeit“42; die Gegenwart ist bestimmt durch die „Erfahrung der Nichtidentität“43. Der Mensch erfährt sich nicht als autonom, sondern als fremdbestimmt;44 er ist nicht unverwechselbare Person, sondern austauschbare Sache. Mit dem Begriff der Identität erfasst Sölle den Umstand, dass der Mensch – und das heißt immer: der konkrete einzelne Mensch – unersetzlich ist. Dieses Identitätskonzept, das nach Sölle Proprium abendländischer Tradition ist,45 scheint von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der der Mensch sich vorfindet, als bloße Floskel enttarnt zu werden. „Diese aus Verkaufsgegenstän36
SÖLLE, Stellvertretung, 159. Vgl. SÖLLE, Theologie, 57f. 38 SÖLLE, Stellvertretung, 160. 39 SÖLLE, Stellvertretung, 149. Vgl. DIES., Theologie, 58: „Es führt kein Weg zurück zum Kindervater, der Wolken, Luft und Winden Wege Lauf und Bahn gibt.“ Zur Kritik am Vater-Kind-Modell vgl. auch DIES., Stellvertretung, 132f. 40 Vgl. das Zitat Anm. 1063. 41 SÖLLE, Stellvertretung, 169. Vgl. den Hinweis ebd., 151f., dass „das, was Nietzsche den ‚Tod Gottes‘ genannt hat, […] in der Tat nur Tod seiner Unmittelbarkeit, Tod seiner ersten unvermittelten Gestalt, Auflösung einer bestimmten Gottesvorstellung, die das Bewusstsein vollzieht“, sei. Vgl. auch ebd., 11 und 161. Entsprechend kennzeichnet Sölle die Neuzeit als „nachtheistische[s] Zeitalter“ (ebd., 149) bzw. „nachtheistische[s] Stadium“ (ebd., 146). 42 SÖLLE, Stellvertretung, 7. 43 SÖLLE, Stellvertretung, 8. 44 SÖLLE beschreibt die Erfahrung der Nichtidentität als die „Erfahrung, daß der einzelne es nicht selber ist, der lebt, daß er vielmehr gelebt wird und sich diesem Gelebt-Werden überläßt.“ (SÖLLE, Stellvertretung, 8). 45 Vgl. SÖLLE, Stellvertretung, 32f. Vgl. auch ebd., 23ff. 37
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Exkurs
den und Serienartikeln gewordene, in jedem Teil ersetzbare Welt suggeriert auch dem einzelnen die Vorstellung, er sei ein ersetzbares Maschinenteilchen.“46 Die „völlig verdinglichte Welt“47 zwingt den Einzelnen zur Resignation: „Es ist nicht entscheidend, ob ich dies oder das tue.“48 Zwischen den beiden Erfahrungen, der Austauschbarkeit des Einzelnen und dem Tod Gottes, besteht für Sölle nun insofern ein Zusammenhang, als es gerade der Gottesgedanke war, der die Unersetzlichkeit des Einzelnen garantiert hat. In der Beziehung zu Gott gründete die Identität des Einzelnen. Die Krise des metaphysischen Gottesgedankens bedeutet so auch die Krise „einer Begründung des Personseins“49, die auf religiös-metaphysische Weise geschieht. Auf die Begründungskrise menschlicher Identität reagierte das neuzeitliche Denken zunächst so, dass es an die Stelle der Begründung durch Gott die Selbstbegründung50 des Einzelnen setzt. Das Tun des Menschen, seine Arbeit nimmt die Funktion ein, die bislang Gott zukam. „Der Mensch entdeckt sich selber als wesentlich Leistenden, und dieser Horizont des SichHerstellens, Sich-Leistens, Sich-Ausdrückens im Werk verschlingt den früheren metaphysischen. […] Der Mensch gewinnt seine Identität nicht mehr aus der Relation zu Gott allein, die einst Grund genug war für die Unersetzlichkeit des einzelnen qua Seele, er leistet sich vielmehr selber, er macht sich zu einem Unersetzlichen.“51
Die Selbständigkeit des Menschen, Errungenschaft der Aufklärung, wird mit der Idee einer Selbstschöpfung des Einzelnen absolut gesetzt. Damit verändert der Gedanke der Unersetzlichkeit seine Struktur: Handelte es sich zunächst um einen relationalen Begriff, bei dem der andere (also Gott) als Grund der Unersetzlichkeit fungierte,52 so meint er jetzt etwas, was der Mensch selbst aus sich heraus herstellen muss: „auf sich selber steht er da ganz allein.“53 Eine solche Einstellung nennt Sölle auch „heroisches Denken“54. Es folgt der Maxime: solange ich aktiv, solange ich da bin, bin ich unersetzlich. Die Alternative zur pausenlosen Aktivität und zur permanenten Präsenz ist der Ersatz. Das heroische Denken drängt den Menschen daher in den Perfektionismus:55 „Aus Angst davor, nicht vorhanden, unbrauchbar oder tot zu sein, macht er sich immer und allgegenwärtig, vollkommen und sozu46
SÖLLE, Stellvertretung, 41. SÖLLE, Stellvertretung, 44. 48 SÖLLE, Stellvertretung, 42. 49 SÖLLE, Stellvertretung, 24. 50 Vgl. die Formulierung „in der Arbeit vollzogene Selbstgründung“ (SÖLLE, Stellvertretung, 26). 51 SÖLLE, Stellvertretung, 26; Hervorhebung MS. 52 Vgl. SÖLLE, Stellvertretung, 34. 53 SÖLLE, Stellvertretung, 39. 54 SÖLLE, Stellvertretung, 38f.56. 55 Zum perfektionistischen Denken vgl. SÖLLE, Stellvertretung, 43f. und 52f. 47
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sagen schlaflos lebendig.“56 Man könnte vielleicht formulieren: Der Mensch reagiert auf den Ausfall Gottes so, dass er nun selbst wie Gott zu sein versucht. Der gottgleiche Mensch, Garant seiner eigenen Unersetzlichkeit, wird von Sölle jedoch als unmenschlicher Mensch beschrieben. Denn unersetzlich ist nur, wer niemals krank, müde oder schwach ist.57 Der göttliche Mensch ist das fehlerlose Exemplar. Auch zwischen dem Drang in den Perfektionismus und der oben genannten Erfahrung der Nichtidentität sieht Sölle einen Zusammenhang, den sie allerdings nicht weiter beschreibt. Wichtiger ist es ihr zu zeigen, dass das heroische Konzept der Unersetzlichkeit nicht hält, was es verspricht. „Eine heroisch verstandene Unersetzlichkeit kann vor der Wirklichkeit nicht bestehen.“58 Die Welt ist so verfasst, dass sie es dem Menschen unmöglich macht vermittels des eigenen Tuns zu einer unverwechselbaren Identität zu gelangen. Spontaneität erweist sich als Trugschluss, das Leben vollzieht sich vielmehr in der Übernahme vorgefertigter Rollenmuster; ähnlich wie schon Adorno kann Sölle die Gesellschaft als das Gefängnis des Individuums beschreiben.59 Das Prinzip der Nichtidentität beherrscht die Berufswelt und den Bereich des Privaten gleichermaßen.60 Angesichts dieser Situation kommt Sölle zu dem Schluss, „daß der Grund für die Unersetzlichkeit des Menschen, wenn man denn an ihr festzuhalten gewillt ist, nicht in seiner Leistung gesehen werden kann.“61 An dieser Stelle wird für Sölle nun der christliche Stellvertretungsgedanke relevant. Sie schlägt vor, in der Rede vom Tod Gottes nur eine mögliche Lesart für die gegenwärtige Erfahrung göttlicher Abwesenheit zu erblicken. Diese Lesart ersetzt Gott durch den Menschen. Eine andere Lesart vermag das Christentum zu eröffnen: Es versteht Gottes Abwesenheit „als eine Weise seines Seins-für-uns.“62 Dass Gott als abwesender anwesend ist, ermöglicht eben der Stellvertretungsgedanke: Der Mensch vertritt Gott. Dabei bejaht auch die Figur der Stellvertretung das Ende des Theismus, ja, der Verlust 56
SÖLLE, Stellvertretung, 43. Vgl. SÖLLE, Stellvertretung, 44. 58 SÖLLE, Stellvertretung, 54. 59 SÖLLE, Stellvertretung, 28: „Das vermeintlich spontane Leben des einzelnen entlarvt sich als ein kompliziert mit andern verflochtenes, im Wesentlichen vorgeformtes Rollenspiel. Dem ganz besonderen Anspruch des einzelnen steht die Gesellschaft, die für jede mögliche Position Attribute und Verhaltensweisen vorsieht, gegenüber. In der Auseinandersetzung mit dem ‚ganz besonderen‘ einzelnen erweist sich die Gesellschaft als stärker, da der einzelne sich nicht ohne Schaden ihren Ansprüchen entziehen kann, ja sie weist ihm bestimmte vorgeformte Rollen zu, ehe denn er überhaupt bemerkt, wie sehr er, der einmalig Unersetzbare, ihr Gefangener ist.“ 60 Vgl. SÖLLE, Stellvertretung, 42f. 61 SÖLLE, Stellvertretung, 44. 62 SÖLLE, Stellvertretung, 150. 57
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göttlicher Unmittelbarkeit ist geradezu die Voraussetzung für die Verkündigung des Evangeliums, sodass man sagen kann, dass Sölle das Christentum als die Religion der Neuzeit zu entfalten sucht: „Erst wenn die Selbstverständlichkeit Gottes dahin ist, leuchtet das Wunder Jesu von Nazareth auf: daß ein Mensch Gott für andere in Anspruch nimmt, indem er ihn vertritt.“63 Die christliche Botschaft ist zunächst einmal keine andere als die der Entzauberung der Welt und kommt damit in der neuzeitlichen Säkularisierung gewissermaßen zu sich selbst. Christliche Freiheit versteht Sölle als die Freiheit der „Söhne Gottes, die die Welt verantworten.“64 Insofern bestätigt Christi Gottessohnschaft das neuzeitliche Verständnis vom Menschen als „Herrn der Welt“65. Zugleich wird mit dem Gedanken, dass Christus Gott lediglich vertritt, auf den bleibenden Unterschied zwischen Gott und Mensch insistiert. Die Inkarnation ist nicht als ein „vollständiges Sich-AusgebenGottes in die Menschengestalt“66 zu verstehen. Negativ gelesen formuliert der Stellvertretungsgedanke also eine Art eschatologischen Vorbehalt. Sölle spricht in diesem Zusammenhang von der Vorläufigkeit Christi. „Im vorläufigen Christus ist das Reich Gottes [als der Ort, an dem die Identität jedes Menschen Wirklichkeit ist] zugleich da und noch nicht da.“67 Dass Gott noch nicht da ist, kann einmal als kritisches Urteil über diese Welt verstanden werden.68 Es kann aber auch ein Ausdruck bleibender Hoffnung sein: Gott ist noch nicht da.69 Die Rede von der Stellvertretung sichert so einerseits die Differenz von Gott und Mensch. Andererseits, und das ist ihr positives Moment, behauptet sie zugleich die Identität beider Größen, die im Akt der Identifikation von Gott und Christus konstituiert wird. Die Identität von Gott und Mensch in Christus ist der Grund, weshalb Sölle einen Zusammenhang zwischen dem Ende des Theismus und dem Christen63 SÖLLE, Stellvertretung, 149f. Eine vergleichbare Äußerung findet sich auch bei Wagner. Er bemerkt, dass mit der Formel vom Tode Gottes die „Grundlagenkrise“ der Theologie in der Neuzeit zum Ausdruck gebracht werde, die allerdings positiv verarbeitet werden könne (WAGNER, Moderne [CM], 264). Denn: „Es könnte ja sein, daß erst das Bewußtsein der Moderne, Gott sei tot, der christlichen Theologie die Augen öffnet für die Besonderheit ihres eigenen Anfangs“ (ebd., 264f.). 64 SÖLLE, Stellvertretung, 116. 65 SÖLLE, Stellvertretung, 118. 66 SÖLLE, Stellvertretung, 157. Vgl. ebd., 153. 67 SÖLLE, Stellvertretung, 125. 68 Die Konsequenz der Inkarnation kann nicht „die Auflösung Gottes in die Welt sein“ und zwar deshalb nicht, „weil der gegenwärtige Zustand der Welt nicht so ‚gottfarben‘ ist, wie er dann sein müsste.“ (SÖLLE, Stellvertretung, 168). 69 SÖLLE, Stellvertretung, 162: „[N]ur die Nichtidentität [von Gott und Christus] läßt Zukunft offen: wäre Christus mit Gott identisch, so hätten wir über ihn hinaus nichts mehr zu erwarten. Indem er aber nur an Gottes Statt handelt […], bleibt gerade in dieser Differenz offen, daß dieses hier und jetzt von Christus geleistete nicht alles ist. Stellvertretung als Vorläufigkeit ermöglicht Hoffnung.“
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tum behaupten kann. Dass Gott nur in Christus begegnet, impliziert durchaus eine Neubestimmung des Gottesgedankens: „Diese Art der Stellvertretung dessen, der einst unmittelbar und unvertretbar war, änderte gleichzeitig den, der vertreten wurde. […] Gott erscheint nun in der Vermittlung, der Stellvertretung. Christus spielt Gottes Rolle in der Welt – nichts anderes bedeutet Inkarnation. Bei dieser Art der Vermittlung ist es freilich aus mit der Herrschaft, der Macht und allen königlichen Attributen Gottes. Der Gott vertretende Christus ist so in die Welt gekommen, daß seine Vertretung nun zur einzig möglichen Gotteserfahrung wird, einer nicht mehr im geläufigen Sinne religiösen Erfahrung, die im Erlebnis des Heiligen, des fascinosum und des tremendum gipfelte.“70
Dass Gott nur noch im Menschen, und zwar im konkreten einzelnen Menschen begegnet, ist unvereinbar mit der Annahme göttlicher Allmacht. Vielmehr muss gesagt werden, dass Gott sich vom Menschen abhängig gemacht, dass „er sich uns ausgeliefert hat“71. Auch die positive Seite der Stellvertretung birgt ein kritisches Potential. In Christi Passion spiegelt sich Gottes Stellung zur Welt; das Kreuz zeigt an, dass Gott an dieser Welt leidet. Im Leiden Christi ist Gott auch in einer Welt, die auf seinen Ersatz drängt, weiter da. Sein Geschick offenbart diese Welt als eine Gott aus sich herausdrängende Welt. Zugleich zeigt Christus ein alternatives Konzept des göttlichen Menschen jenseits des perfektionistischen Denkens. An die Stelle des autarken Menschen tritt der Mensch, der seine Angewiesenheit auf andere akzeptiert und der Verantwortung für andere übernimmt.72 Damit übernimmt der Mensch die Rolle Gottes, die Unersetzlichkeit des anderen zu garantieren: indem er die Sache des anderen vertritt, wenn dieser es nicht selbst vermag, zeigt er ihm seine Unersetzlichkeit an.73 Göttliches Sein wird so nicht als abstrakte Allgegenwart, sondern als konkretes Dasein für andere bestimmt, oder, wie Sölle es auch nennen kann, als Liebe.74 Christus offenbart so „eine neue Art dazusein in der Welt“75. Im Zentrum steht weiterhin der Gedanke der Unersetzlichkeit des Einzelnen. Er schließt nun aber nicht länger Momente der Schwachheit und des Versagens von sich aus. Zugleich wird das Verhältnis zum anderen jetzt so aufgefasst, dass der andere nicht länger als Gefahr (ich oder der andere), sondern als Grund meiner Unersetzlichkeit in den Blick gerät. Während der Mensch also seinen Versuch, Gott zu ersetzen, mit dem 70
SÖLLE, Stellvertretung, 161; Hervorhebung MS. SÖLLE, Stellvertretung, 173; vgl. ebd., 164. 72 SÖLLE, Stellvertretung, 60f. 73 SÖLLE, Stellvertretung, 59: „Wo ich unersetzlich bin, muss ich vertreten werden; weil ich unersetzlich bin, muss ich vertreten werden.“ Anders als im perfektionistischen Denken garantiere nicht ich, sondern der andere für meine Unersetzlichkeit – und zwar gerade durch den Akt der Vertretung. 74 SÖLLE, Stellvertretung, 162. 75 SÖLLE, Stellvertretung, 151. 71
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Verlust seiner Menschlichkeit bezahlt, besteht das Ziel der Menschwerdung Gottes gerade darin, dem Menschen seine Menschlichkeit zu bewahren.76 2. Die Neudefinition der Gotteskindschaft – Jürgen Moltmann Auch bei Jürgen Moltmann steht die Rede vom Tod Gottes zunächst für die Überwindung des theistischen Gottesgedankens. Für diesen ist „das platonische Axiom der wesenhaften Apathie Gottes“77 konstitutiv. „Danach ist Gottes Sein unvergänglich, unveränderlich, unteilbar, leidensunfähig und unsterblich; das menschliche Sein hingegen vergänglich, veränderlich, teilbar, leidensfähig und sterblich.“78 Geht der theistische Gottesgedanke somit von der Opposition von Gott und Tod aus, so soll die christliche Rede vom Tod Gottes diese Opposition neu bestimmen, und zwar als eine Opposition in Gott. Im Hintergrund steht dabei eine Deutung des Kreuzestodes, die Hegel mit Verweis auf einen lutherischen Choral gegeben hat: „Gott selbst ist tot, heißt es in jenem lutherischen Liede; damit ist das Bewußtsein ausgedrückt, daß das Menschliche, Endliche, Gebrechliche, die Schwäche, das Negative, göttliches Moment selbst sind, daß es in Gott selbst ist.“79
Moltmann will die logischen Schwierigkeiten dieser Redeweise (von Gott wird ja offenbar Gegensätzliches ausgesagt: er ist unvergänglich und vergänglich, unsterblich und sterblich) dadurch beheben, dass er die Prädikate verschiedenen göttlichen Personen zuweist: Gott, der Vater, ist unsterblich, Gott, der Sohn, hingegen sterblich.80 Das Kreuzesgeschehen lässt sich nur unter Voraussetzung einer Differenz in Gott in seiner ganzen Härte begreiflich machen; entsprechend lautet Moltmanns These, dass „Kreuzestheologie Trinitätslehre und Trinitätslehre Kreuzestheologie sein muß, weil anders der menschliche gekreuzigte Gott nicht voll wahrgenommen werden kann.“81 Es stellt sich die Frage, welcher Gewinn eigentlich in dieser Interpretation des Todes Gottes liegt. Zunächst einmal scheint es Moltmann um eine theologische Neubewertung der Leidensphänomene zu gehen. Nach der Logik des theistischen Gottesgedankens bedeutet Gemeinschaft mit Gott nicht zu leiden und nicht zu sterben. Insofern der Mensch leidet oder stirbt, hat er gerade keine Gemeinschaft mit Gott, Leiden und Tod sind vielmehr Ausdruck der Trennung von Gott. Die Folge ist, dass der Mensch, der mit Gott zusammen sein will, sich selbst überwinden muss. Dem widerspricht nun die Kreuzes76
Vgl. auch die Kennzeichnung des Christentums als einen realen Humanismus in: SÖLLE, Gott, 93. 77 MOLTMANN, Gott, 215. 78 MOLTMANN, Gott, 214. 79 MOLTMANN, Gott, 241. 80 MOLTMANN, Gott, 231f. 81 MOLTMANN, Gott, 228.
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theologie, indem sie Leiden und Tod in das Konzept der Gottessohnschaft integriert. Der Tod Gottes zielt in diesem Sinne auf eine Aufwertung der negativen Seiten der Endlichkeit. Was hier geschieht, ist die Außerkraftsetzung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs: im Blick auf Christus ist Leiden nicht länger als Zeichen selbstverschuldeter Trennung von Gott, sondern als Element menschlicher Gotteskindschaft begreifbar. Gottesgemeinschaft erfordert damit nicht länger die Überwindung der eigenen Endlichkeit, sondern ist dem Menschen als solchem möglich. Darauf will Moltmann wohl hinaus, wenn er in der Auseinandersetzung mit Luthers Kreuzestheologie meint: „Wer Gott in der Niedrigkeit, Schwachheit und im Sterben Christi erkennt, erkennt ihn nicht in der vom gottsuchenden Menschen erträumten Hoheit und Gottheit, sondern in der von ihm selbst verlassenen, verworfenen und verachteten Menschlichkeit.“82
Moltmann bleibt an diesem Punkt jedoch nicht stehen. Stünde der Tod Jesu nur für die Überwindung des Gegensatzes von Gott und Endlichkeit, dann wäre er nach Moltmann noch nicht als Kreuzestod interpretiert: „Wird Gott in Jesus von Nazareth Mensch, so geht er nicht nur auf die Endlichkeit des Menschen ein, sondern im Tode am Kreuz auch auf die Situation der Gottverlassenheit des Menschen. Er stirbt in Jesus nicht den natürlichen Tod endlicher Wesen, sondern den gewaltsamen Verbrechertod am Kreuz, den Tod der vollendeten Gottverlassenheit.“83
Die paradox anmutende Behauptung lautet also: Im Tod Jesu ist Gott von Gott verlassen. Auch diese Spannung soll zunächst so gelöst werden, dass zwischen Vater und Sohn unterschieden wird,84 Das hat zur Folge, dass Gott nicht nur wie eben als derjenige erscheint, der Leid erfährt, sondern nun auch als der, der das Leid verursacht. Der Tod des Sohnes wird auf das Handeln des Vaters zurückgeführt. „Das Leiden im Leiden Jesu ist die Verlassenheit, die Verwerfung durch Gott seinen Vater.“85 Die Verwerfung ist üblicherweise Ausdruck des göttlichen Gerichtshandelns, sodass Moltmann sagen kann, dass Gott in Jesus das Gericht an sich selbst vollzieht. Oder aus der entgegengesetzten Perspektive formuliert: In Jesus erfährt Gott selbst das göttliche Gericht,86 ja, die Feindschaft Gottes.87 Auch hier ist wieder zu fragen, was der 82
MOLTMANN, Gott, 198. MOLTMANN, Gott, 265. 84 Wagner erblickt in solchen Unterscheidungen „eine trickreiche Spielerei“ und bemerkt hinsichtlich solcher trinitätstheologischer Erklärungsmuster: „Wird die Rede vom Tod Gottes bloß auf den Sohn bezogen, um so an der göttlichen Allmacht festhalten zu könne, so verkehrt sie sich in eine ebenso billige wie überflüssige Phrase“ (WAGNER, Verantwortung [CM], 131). 85 MOLTMANN, Gott, 265. 86 Vgl. MOLTMANN, Gott, 180. 87 MOLTMANN, Gott, 145: „Das Kreuz des Sohnes trennt Gott von Gott bis zur völligen Feindschaft und Differenz.“ Der nächste Satz lautet freilich: „Die Auferweckung des gottverlassenen Sohnes verbindet Gott mit Gott zur innigsten Gemeinschaft.“ 83
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Gewinn einer solchen Redeweise ist. Im Geschick Jesu geschieht eine Neubestimmung des göttlichen Gerichtshandelns. An Jesus offenbart es sich als ein Akt der Liebe – und zwar der Liebe Gottes zu den Gottlosen. Zentral für Moltmann ist dabei die „radikale Umkehrung des Sinnes von ‚dahingegeben‘“88, die er bei Paulus beobachtet. Das Verb, das eigentlich auf den göttlichen Zorn verweist (Röm 1,18ff), wird bei Paulus zum „Ausdruck der Liebe und Erwählung Gottes“89. Moltmann zieht für diese Interpretation v.a. Röm 8,32 heran („Gott hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern für uns dahingegeben; wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken“), wichtig sind in diesem Zusammenhang außerdem Gal 2,20; Gal 4,4-5, Röm 4,25; ferner Joh 3,16. Die soteriologische Pointe des Kreuzestodes lautet dementsprechend: „Gott starb, damit wir leben.“90 Indem sein Sohn die Gottverlassenheit erleidet, bestimmt Gott sich selbst zum „Gott und Vater der Gottlosen und Gottverlassenen.“91 Moltmann sagt nun aber nicht nur, dass Gott der Vater den Sohn in den Tod dahingibt, er sagt zugleich auch, dass der Vater den Tod seines Sohnes erleidet.92 Wie das Leid des Sohnes, so verankert er nun auch das Leid des Vaters in Gottes Liebe zum Menschen. Mit etwas Mut zum Pathos könnte man die dahinter stehende Frage so formulieren: Wie weit würde Gott den Menschen gehen lassen, ohne dass die Gemeinschaft zerbricht? Moltmanns Antwort lautet: bis in die Gottlosigkeit. Gott hält am Menschen auch dann fest, wenn er ihn verwirft; seine Liebe umfasst auch seinen Zorn. Er integriert so nicht allein die Endlichkeit, sondern auch die Erfahrung der Gottlosigkeit und des Gotteszorns in das Konzept der Gottessohnschaft. In diesem Sinne ist es m.E. zu verstehen, wenn Moltmann mit Blick auf Gott vom „aktive[n] Leiden“, vom „Leiden der Liebe“93 redet. Er definiert diese leidende Liebe als „die Annahme des anderen ohne Rücksicht auf das eigene Wohlergehen“; sie ist die „Freiheit zum Erleiden der Andersartigkeit des anderen.“94 Wenn Gott den Menschen auch denn festhält, wenn er ihn verwirft, dann widerspricht sich Gott, dann steht der Gott, der den Menschen dahingibt, gegen den, der auch den (im Sinne des richtenden Gottes) schon Toten noch festhält. Für Gott wird so die Freiheit seines Geschöpfes, die bis in den expliziten Widerspruch reicht, zur Zerreißprobe, deren Höhepunkt der Kreuzestod Jesu darstellt. Dass Gott der Vater leidet, bedeutet also, dass er seinen Sohn in den Tod, in die totale Trennung dahingibt, um jene, die er verworfen hat, in den 88
MOLTMANN, Gott, 229. MOLTMANN, Gott, 178. 90 MOLTMANN, Gott, 179. 91 Ebd. 92 MOLTMANN, Gott, 230: „Der Vater […], der ihn [den Sohn] verläßt und hingibt, erleidet den Tod des Sohnes im unendlichen Schmerz der Liebe.“ Vgl. auch ebd., 232. 93 MOLTMANN, Gott, 217. 94 MOLTMANN, Gott, 217. 89
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Status der Gotteskindschaft zu erheben. Das bedeutet insofern eine „Umkehr in Gott“95, als es ein Widerspruch gegen das Urteil der Verwerfung impliziert. Die Pointe der Rede vom Tod Gottes besteht bei Moltmann also darin, dass sie eine Neubestimmung des Konzepts der Gottessohnschaft (und damit auch das Konzepts göttlicher Vaterschaft) beschreiben will. Schlicht formuliert geht es darum, dass Verhältnis von Gott zu seinem Gegenüber als das einer bedingungslosen Liebe zu beschreiben.96 Unter Rückgriff auf die von Moltmann für Gott verwendete Raummetapher97 könnte man sagen: Ein Außerhalb Gottes ist nicht denkbar, wenn Gott sich in seinem Sohn auch an den Ort absoluter Gottesferne begibt. Egal, wohin der Mensch sich wendet, Gott ist immer schon da, so dass es wirklich nichts gibt, das ihn von der Liebe Gottes zu trennen vermag.98 „Nur wenn alles Unheil, die Gottverlassenheit, der absolute Tod, der unendliche Fluch und das Versinken im Nichts in Gott selbst ist, ist die Gemeinschaft mit diesem Gott das ewige Heil, die unendliche Freude, die unzerstörbare Erwählung und das göttliche Leben.“99 Dem Menschen ist es so aus der Hand genommen, für seine Gemeinschaft mit Gott etwas leisten zu müssen oder zu können, denn das Konzept der Gottessohnschaft wird einseitig durch Gott definiert, in Christi Geschick aber so weit gefasst, „daß jeder Gottlose und Gottverlassene seine [Christi] Gemeinschaft mit ihm erfahren kann.“100 Anders gesagt: An die Stelle der Gerechtigkeit aus Werken tritt die Gerechtigkeit allein um Christi willen. Die These, dass das Kreuzesgeschehen auf eine Definition der Gottessohnschaft zielt, ist nun noch einmal an Moltmanns Ausführungen zur Auferstehung Jesu zu prüfen. Die Auferstehung Jesu ist Moltmann zufolge zunächst ein Akt der Offenbarung. Was sich hier offenbart, ist die „Zukunft Gottes“, und zwar in dem Sinn, dass der auferweckte Jesus die Antizipation „des freien, neuen Menschen und der neuen Schöpfung“ in der alten Welt ist.101 Diesem neuen Menschen kommt der Titel des Christus zu, was nichts anderes heißt, als dass Gott sich zu ihm als seinem Sohn bekennt. Im Hintergrund steht dabei nach Moltmann die Vorstellung der jüdischen Apokalyptik, dass das Ende dieser Welt durch die Auferweckung der Toten eingeleitet wird. Die Vorstellung der Totenauferweckung ist hier ein „Hilfssymbol“102 für die Idee eines endzeitlichen Gerichts. Wie die Lebenden treten auch die Toten vor Gott, um das Urteil ewigen Lebens oder ewiger Verdammnis zu vernehmen. 95
MOLTMANN, Gott, 180. Zur Bedingungslosigkeit der Liebe vgl. auch MOLTMANN, Gott, 234f. 97 Vgl. MOLTMANN, Gott, 192. 98 Eine ganz andere Frage ist natürlich, ob das wirklich eine schöne Vorstellung ist. 99 MOLTMANN, Gott, 233. 100 MOLTMANN, Gott, 265. 101 MOLTMANN, Gott, 154f. 102 MOLTMANN, Gott, 161. 96
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Ist die Totenauferweckung so an den Gerichtsgedanken gekoppelt, dann ist sie keineswegs ein Symbol der Hoffnung. Das Christentum hält nun an dem Gedanken einer allgemeinen Auferweckung der Toten am Ende aller Tage fest, indem es aber der Überzeugung ist, „daß dieser Eine allen anderen voran auferweckt ist“, transformiert es den bisher zweideutigen Gedanken in „‚eine fröhliche Hoffnung‘“103. Wie das? Die Antwort wird wohl so lauten müssen: Jesu Auferweckung hebt die Trennung zwischen dem alten Äon (der Gegenwart) und dem neuen Äon (der Zukunft) auf. Mit ihr ragt die Zukunft, ragt die neue Schöpfung in die Gegenwart hinein. Vorausgesetzt ist dabei, dass die Auferweckung dieses Einzelnen wirklich Vorschein der künftigen allgemeinen Auferweckung ist. Wird das geglaubt, dann lautet die entscheidende Frage, „wer denn dieser eine war“104, der allen anderen voran auferweckt wurde. Das „Neue und Anstößige der christlichen Osterbotschaft“105 lautet nun, dass der von Gott Auferweckte der Gekreuzigte ist. Erst dass ein am Kreuz Gestorbener und von Gott Verworfener auferweckt wurde, macht die Auferweckung zu einem Ereignis, das allen ihre Zukunft anzeigt. Ohne das Kreuz liefe die Neuschöpfung unter Ausschluss der alten Welt ab. So ist es erst das Kreuz, das einen Zusammenhang zwischen der alten und der neuen Schöpfung herstellt. Moltmann kann daher sagen: „sein [Jesu] Kreuzestod ist die ‚Bedeutung‘ seiner Auferstehung für uns.“106 „Gott hat die Zukunft seiner befreienden Gerechtigkeit an diesem einen vorweggenommen und vorausgeschickt, um sie durch diesen einen den anderen zu vermitteln.“107 Sagt die Auferstehung, dass in Jesus die Zukunft begegnet und wie diese Zukunft ausschaut, so zeigt das Kreuz an, um wessen Zukunft es sich handelt: um die Zukunft des von Gott Verworfenen. Indem der Gottessohn sich ‚für uns‘ in die Gottlosigkeit begibt, bestimmt er die Gottessohnschaft so, dass die Erfahrungen des ‚alten Adams‘ in ihr aufgehoben sind.108 Indem der Auferweckte der Gekreuzigte ist, trägt der Erste der neuen Schöpfung die Merkmale der alten Schöpfung an sich – und stiftet so die Kontinuität im Umbruch vom alten zum neuen Äon. ‚Gottessohnschaft‘ schließt es so keineswegs aus, Momente tiefster Gottlosigkeit durchleiden zu müssen, wohl aber bedeutet es die Gewissheit, auch in solchen Momenten von der Liebe Gottes umfangen zu sein, die sich in der Auferstehung zum ewigen Leben schließlich auch manifestieren wird.
103
MOLTMANN, Gott, 163. MOLTMANN, Gott, 163. 105 MOLTMANN, Gott, 163. 106 MOLTMANN, Gott, 173. 107 MOLTMANN, Gott, 172. 108 Vgl. Moltmanns Bemerkung, Paulus male „die Gottessohnschaft Jesu nicht mit den Farben seiner Auferstehungsherrlichkeit, sondern mit den Farben seiner Passion und seines Kreuzestodes“ (MOLTMANN, Gott, 179). 104
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Auf ein Problem sei am Ende noch hingewiesen, und das ist die mehrdeutige Verwendung der Begriffe der Gottlosigkeit und Gottverlassenheit. Moltmann scheint sagen zu wollen, dass der Umstand, dass Gott den gottverlassenen Jesus auferweckt hat, auch bei allen anderen Gottlosen Hoffnung auf Auferweckung ermöglicht. Aber ist das legitim? Ist Jesus in gleicherweise gottlos wie alle anderen Menschen? Kann man sagen, dass Gott dadurch, dass er seinen Sohn dahingibt, zum Vater der Dahingegebenen wird? Wird er dadurch nicht nur zum Vater dieses einen Dahingegebenen? Daran ändert sich auch nichts durch die Formulierung, Gott habe ihn ‚für uns‘ dahingegeben. Moltmann formuliert nirgends analog, dass Gott zum Vater der Sünder wird, indem sein Sohn zum Sünder wird. Was also ist der Unterschied zwischen Sünde und Gottlosigkeit? Hier scheint sich hier doch eine erhebliche Schwäche dieser Konzeption aufzutun. 3. Der gezeichnete Gott – Eberhard Jüngel Jüngel wendet sich explizit gegen Sölle, wenn er meint, dass der wahre Ursprung der Rede vom Tod Gottes nicht der „Atheismus der Neuzeit“109 sei. Wo dies dennoch behauptet wird, da wird der Ausdruck ‚Gott‘ auf den metaphysischen Gottesgedanken bezogen; ‚Tod Gottes‘ ist dann eine Metapher für dessen Plausibilitätsverlust seit der Aufklärung. Demgegenüber macht Jüngel mit Hegel geltend, „daß die Rede vom Tode Gottes […] einen älteren Ursprung hat als die neue Zeit“110. Ihr wahrer Ursprung „ist das geschichtliche Ereignis des Todes Jesu von Nazareth“111. Zum Tod Gottes wird der Tod des Menschen Jesus dadurch, dass Gott sich mit diesem toten Menschen identifiziert hat. Dass Gott sich mit dem Gekreuzigten identifiziert, ist gewissermaßen der Urknall des christlichen Glaubens. Denn Jüngel fasst diesen Vorgang als einen Akt der Selbstdefinition Gottes auf.112 Die Frage lautet also, was es bedeutet, dass Gott sich an einem Toten als Gott definiert hat. Dabei legt Jüngel einen Akzent auf die existentielle Dimension dieser Fragestellung. Es geht ihm also nicht allein um das (vermeintlich) abstrakte Problem, was der Tod Jesu für das Sein Gottes bedeutet, sondern zugleich auch darum, was der Tod Jesu für den Tod selber, und d.h. für den Tod jedes Menschen bedeutet. 109 JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 111. Zur Auseinandersetzung mit Sölle vgl. ebd., 107, Anm. 3. 110 JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 110. 111 JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 116. 112 Vgl. JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 118: Nach Paulus sollen „wir im Gekreuzigten Gott selbst kennenlernen“ und zwar „als den, der […] sich an einem Toten als Gott definiert und so zugleich den Toten als Gottes Sohn […] definiert (Röm 1,4).“ Vgl. zur Selbstdefinition Gottes ebd., 119.121.122; vgl. JÜNGEL, Tod, 137; vgl. auch JÜNGEL, Gott, 498: „Das Kerygma vom Auferstandenen verkündigt den Gekreuzigten als Selbstdefinition Gottes.“
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„[D]ie einzigartige Bedeutung des Todes Jesu Christi“ besteht für den christlichen Glauben eben darin, dass durch diesen besonderen Tod „mit dem Tod selber etwas geschehen [ist], so daß eine neue Einstellung zum Tod und ein neues Todesverständnis möglich wurde.“113 Auf die allgemeine Bedeutung des besonderen Todes, also auf den Tod Jesu als Heilereignis für alle Menschen zielt die Kennzeichnung des Todes Jesu als Tod Gottes. Eröffnet der Tod Jesu als Tod Gottes dem Menschen ein neues Todesverständnis, dann stellt sich die Frage nach dem Todesverständnis, das der Glaubende als altes hinter sich lässt.114 Auf eine Formel gebracht, lautet es: Der Tod ist die Trennung von Gott. Gott hat mit den Toten nichts zu schaffen und umgekehrt gilt: „Die Toten loben den Herrn nicht (Ps 115,17)“115. Der Tod ist „das Gott Fremde“116 und „die tödliche Entfremdung von Gott und Mensch [ist] das eigentliche Elend des Todes.“117 Vorausgesetzt ist dabei, dass das Leben sich Gott verdankt118 und dass die biblische Überlieferung Leben als „ein Verhältnis haben“ definiert.119 Grundlegend für diesen biblischen Lebensbegriff ist das Gottesverhältnis, mit dem zugleich ein Selbstverhältnis und ein Verhältnis zum Nächsten gesetzt sind. „Der Tod ist demgemäß das Ende des Gottesverhältnisses“120 und damit auch der Abbruch aller anderen Verhältnisse, sodass Jüngel den Tod „als Eintritt von totaler Verhältnislosigkeit“121 definieren kann. 113
JÜNGEL, Tod, 76. Auf dieses alte, im Glauben überwundene Todesverständnis bezieht Jüngel Aussagen wie Gal 2,19 (dem Gesetz gestorben und mit Christus gekreuzigt) und Röm 6,4 (mit Christus begraben); vgl. JÜNGEL, Tod, 111. 115 Vgl. JÜNGEL, Tod, 98; vgl. auch ebd., 138.140. 116 JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 119. 117 JÜNGEL, Tod, 97f. 118 Jüngel verweist auf die alttestamentliche Überzeugung, dass Gott der „Ursprung alles Lebens“ sei: „Israels Gott ist ein Gott der Lebenden, nicht der Toten. Die Toten sind geschieden von seiner Hand (Ps. 88,6). Die Leichen sind unrein, aus dem Bereich Gottes entnommen (3. Mos. 21,1; 4. Mos. 19,16; 5. Mos. 21,23). Das Totenreich ist durch Gottesferne charakterisiert.“ (JÜNGEL, Tod, 92f.). Neben dieser Traditionslinie, die den Tod als Trennung von Gott beschreibt, findet sich im Alten Testament noch eine zweite, die davon ausgeht, dass Gott über den Tod herrscht (ebd.). 119 JÜNGEL, Tod, 99. Vgl. auch Jüngels Grundsatz, dass „Leben im theologischen Urteil immer Zusammenleben bedeutet“ (JÜNGEL, Evangelium, 3). An anderer Stelle fragt er nach dem, was im biblischen Sinne gut zu heißen verdient und bejaht zunächst die scholastische Auffassung, dass das Seiende als solches gut sei. Dies jedoch allein unter der Voraussetzung, „daß Sein ontologisch ursprünglich Zusammensein bedeutet.“ Und auch diese Bestimmung müsse im Lichte des biblischen Zeugnisses noch weiter konkretisiert werden. Ihm zufolge heiße Sein „Zusammensein mit Gott […]. Das also ist gut: mit Gott zusammensein.“ (JÜNGEL, Evangelium, 87f.). 120 JÜNGEL, Tod, 98. Vgl. ebd., 100: „Das Schlimmste […], was von den Toten zu sagen ist, ist dies, daß ihr Gottesverhältnis zu Ende ist.“ 121 JÜNGEL, Tod, 145. 114
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Der Tod ist so „Abbruch“122 aller Verhältnisse, die das Leben konstituieren. Jüngel weist daraufhin, dass der Tod auch nach alttestamentlichem Zeugnis nicht der Abbruch aller Verhältnisse sein müsste, es sich aber „de facto“ so verhalte. Schon das AT beschreibe die Wirklichkeit des Menschen so, dass ihm der Tod „ein Fluch“ ist.123 Entscheidend ist nun, dass es der Mensch selbst ist, der den Tod allererst zum Abbruch aller Verhältnisse macht.124 Nach biblischer Auffassung sei es die Art und Weise, wie der Mensch lebt, die den Tod zum Fluchtod mache. Dieser Modus, in dem der Mensch (gemäß dem Urteil des NT dann jeder Mensch immer schon) sein Leben vollzieht, bezeichnet Jüngel als Sünde und versteht darunter dementsprechend den Drang in die Verhältnislosigkeit. „Der Tod nun ist das Fazit dieses Dranges in die Verhältnislosigkeit.“125 Indem der Mensch sündigt, greift er das Leben an, und d.h. er greift die Verhältnisse an, die das Leben ausmachen. Wo der Mensch dies tut, da ist der Tod schon im Leben gegenwärtig, und zwar als die das Leben negierende Macht. Durch Phänomene wie „Schwachheit, Krankheit, Gefangenschaft, Feindesnot und so fort“126 entfremdet der Tod die Menschen bereits im Leben von Gott. Der Tod bedeutet so nicht nur das Ende des Lebens, sondern ist im Tun des Menschen bereits gegenwärtig, und zwar überall dort, wo Beziehungen gefährdet werden oder zerfallen. Im Anschluss an Paulus bindet Jüngel Sünde und Tod eng aneinander: Die Sünde ist nichts anderes als die Herrschaft des Todes schon im Leben, die den Menschen in die Verhältnislosigkeit drängt und so von Gott entfremdet. Entscheidend ist nur eben, dass die Macht des Todes im Leben keine Naturgewalt, sondern gerade „widernatürlich“ 127, nämlich eine „Konsequenz unseres Tuns“128. ist Als diese Macht aber ist der Tod aggressiv. „Er zerstört die Verhältnisse, er bricht die Beziehungen ab, in denen sich Leben allein vollziehen kann. Sein Wesensakt ist in diesem Sinne die radikale Negation.“129 In der Sprache des NT stehen sich Gott und der Tod daher als Feinde gegenüber und es ist ein Spezifikum der Tod-Gottes-Interpretation Jüngels, dass sie diese biblische Kampfesmetaphorik in ihr Zentrum rückt. Die Geschichte Jesu ist das Ereignis, in dem Gott sich auf den Tod in der Weise des
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Zum Tod als Abbruch (im Unterschied zum Tod als Ende) vgl. JÜNGEL, Tod, 96f. (AT), 115.120 (NT). 123 JÜNGEL, Tod, 94. 124 Vgl. JÜNGEL, Tod, 95ff.; zum NT vgl. ebd., 111–113. 125 JÜNGEL, Tod, 99 (im Original kursiv). 126 JÜNGEL, Tod, 100; vgl. JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 119. 127 JÜNGEL, Tod, 96. 128 JÜNGEL, Tod, 113. 129 JÜNGEL, Tod, 101. Vgl. JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 119f.
248
Exkurs
Kampfes einlässt.130 Dass Jesus sich „den Armen, Elenden und gesellschaftlich Verachteten“131 zuwendet und so neue Beziehung stiftet, deutet der Glaube als eine göttliche Gegenbewegung gegen den menschlichen Drang in die Verhältnislosigkeit, als einen Widerspruch Gottes gegen den Machtanspruch des Todes. Die Auferstehung wird entsprechend als Gottes Sieg über den Tod ausgelegt. Man wird an dieser Stelle fragen dürfen, was Jüngel eigentlich meint, wenn er sagt, dass Gott und der Tod miteinander ‚kämpfen‘, dass Gott den Tod ‚besiegt‘. Ist dieser Sprachstil dem Rückbezug auf die Bibel geschuldet und wenn ja, könnte man das Gesagte auch anders ausdrücken?132 Bleibt man im Bild des Kampfes, dann stellt sich die Frage, ob Gott den Kampf auch hätte verlieren können. Oder handelte es sich lediglich um ein Scheingefecht?133 Und falls ja, warum dann das Ganze?
Die Auferstehung Jesu als Zeichen des göttlichen Sieges über den Tod bedeutet nun nicht, dass der Tod Jesu rückgängig gemacht wurde. Der Auferweckte bleibt vielmehr der Gekreuzigte. Gottes Sieg über den Tod ist dann so zu verstehen, dass der Tod nicht länger von Gott trennt. Indem Gott sich mit einem Toten identifiziert, markiert der Tod nicht mehr den Eintritt in die totale Verhältnislosigkeit, sondern das christliche Versprechen lautet, dass der Mensch auch als endliches Wesen, als ein Wesen also, das sterben muss, am ewigen göttlichen Leben partizipiert.134 Es muss also weiterhin gestorben werden; der Mensch, der an Christus glaubt, kann seinem Tod nun aber freudig entgegensehen, weil er für ihn den Charakter des Fluchtodes verloren hat.135 Die überlieferte Meinung, dass Gott mit den Toten nichts zu tun habe, dass er sie ihrem selbstverschuldeten Schicksal überlasse, weicht dem Glauben, dass Gott in Christus den Fluchtod auf sich genommen hat, sodass es 130
JÜNGEL, Tod, 103: „Der Kampf, in dem es Gott mit dem Tod zu tun bekommt, in dem aber auch der Tod es mit Gott zu tun bekommt, ist die vom Glauben erzählte Geschichte Jesu Christi.“ 131 JÜNGEL, Tod, 141. 132 In Gott als Geheimnis der Welt wählt Jüngel eine abstraktere Sprache als in seiner Abhandlung über den Tod. Jedoch gilt auch hier, „daß Gott sich in der Weise des Kampfes auf das Nichts eingelassen hat.“ (JÜNGEL, Gott, 297). Zum Verhältnis von Nichts und Tod vgl. ebd., 286f. 133 Vgl. etwa Jüngels Hinweis, dass der Kampf zwischen Gott und dem Tod dem Menschen nur dann zum Heil dienen kann, „wenn Gott in der Gefahr, in die sich selber begibt, nicht umkommt.“ (JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 120, Anm. 35). 134 Vgl. Jüngels Verständnis von Erlösung als Teilhabe am göttlichen Leben: „Erlösung kann […] nichts anderes heißen, als daß dieses gelebte Leben erlöst wird, nicht aber daß aus diesem Leben erlöst wird. Erlösung wäre also Rettung des gelebten Lebens durch Gott, wäre Teilhabe des irdischen, begrenzten Lebens an Gottes Leben, Teilhabe befristeter Lebenszeit an Gottes Ewigkeit, Teilhabe schuldig gewordener Existenz an Gottes Ehre“ (JÜNGEL, Tod, 152f.). 135 So kann Paulus das Sterben als seinen Gewinn bezeichnen (Phil 1,20f.), vgl. JÜNGEL, Tod, 105f.111.113ff.
II. Die Rede vom Tod Gottes im 20. Jahrhundert
249
nun nicht mehr der Mensch, sondern Gott ist, der die Konsequenz des menschlichen Tuns erleidet. Dass Gott den Fluchtod des Sünders erleidet, dass er also stellvertretend für den Sünder leidet, ist Ausdruck seiner Liebe zum Sünder. Indem Gott sich mit dem Gekreuzigten identifiziert, definiert bzw. offenbart er sich also allererst als Liebe: „Gott ist der den Menschen Liebende und deshalb für den Menschen Leidende.“ 136 Dass Gott den Fluchtod erleidet, zeigt sich am eindrücklichsten in dem Umstand, dass er sich mit eben dem Menschen identifiziert, der am Kreuz seine Gottverlassenheit und also seine Trennung von Gott beklagt. Was aber heißt es nun, dass Gott den Tod des Sünders erleidet? Der Wesensakt des Todes ist die Negation. Was wird negiert? Unter der Herrschaft des Fluchtodes der Mensch. Der Tod des Menschen ist sein Eintritt in die totale Verhältnislosigkeit. Dass Gott den Tod auf sich nimmt, heißt dann, dass nicht der Mensch, sondern Gott negiert wird. Der Tod wird damit zum „Gottesphänomen“137, wie Jüngel es ausdrückt. Gemeint ist: indem er die Negation erduldet, „läßt Gott den Tod das Sein Gottes bestimmen“138. Es geschieht eine „Verwandlung“ des Todes139: Aus dem menschlichen Eintritt in die Verhältnislosigkeit, aus einem Ereignis also, das Gott unberührt lässt, wird ein Ereignis, welches das Sein Gottes bestimmt; dieses Ereignis muss – weil Gott es zulässt – als ein Akt göttlicher Selbstbestimmung verstanden werden.140 Inwiefern bedeutet der Tod eines Menschen eine Bestimmung des göttlichen Seins? Insofern, als der Tod eines Menschen dessen Leben zu einer individuellen Einheit macht, die Gott als solche als Moment seines Seins anerkennt. Der Tod eines Menschen bedeutet so nicht die endgültige Trennung dieses je besonderen Menschenlebens (in der Konsequenz seines selbstverschuldeten Abfalls) von Gott, sondern seine endgültige Aufnahme (trotz und mit seiner Schuld) in Gott, also die Akzeptanz dieses Lebens als eines Moments des göttlichen Lebens durch Gott. In diesem Sinn ist es wohl zu verstehen, wenn Jüngel schreibt, dass „Gott selbst an sich eine Verneinung erduldet, die in seinem Sein Raum schafft für anderes Sein“141. Die Pointe der 136
JÜNGEL, Tod, 143. JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 123. 138 JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 123. 139 JÜNGEL, Gott, 499. 140 Vgl. dazu auch JÜNGEL, Gott, 298: „Die Lokalisierung des Nichts im göttlichen Sein ist als Tat Gottes […] ein Akt des göttlichen Seins, ein Akt göttlicher Selbstbestimmung.“ Genauer ist es eine „Selbstbestimmung zugunsten anderer“ (ebd.). 141 JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 120. Vgl. ebd., 123: „Weil der Tod nicht sich selbst überlassen blieb, sondern, von Gott erduldet und erlitten, in das Leben, das Gott selber ist, aufgenommen worden ist, weil seine Negation nun als Einräumung im Sein Gottes uns einen Ort zu bereiten (Joh 14,3) bestimmt ist, deshalb wird der Tod zur Wohltat verwandelt, die das Sterben-Können wieder möglich macht.“ Vgl. auch die entsprechenden Ausführungen zum Tod Gottes in: JÜNGEL, Gott, 297f. 137
250
Exkurs
Rede vom Tod Gottes besteht dann darin, dass Gott sich (sein Sein) durch das Sein des Menschen bestimmen lässt. Der Tod Jesu als Selbstdefinition Gottes nötigt dann zu einer Neukonzeption des Gottesgedankens: „Gottes Sein ist […] nicht mehr als omnino simplex esse zu denken. Gottes ewiges Sein ist differenzierter und auch zeitlicher, als wir zu denken vermögen.“142 Differenzierter und zeitlicher darum, weil das einzelne Menschenleben Gott nicht länger äußerlich ist, sondern als „Moment der Geschichte Gottes mit allen Menschen“143 zum göttlichen Leben dazugehört. In diesem Kontext hat dann auch das christliche Todesverständnis seinen Ort. Es erblickt im Tod nicht länger den Abbruch aller Verhältnisse, sondern das Ende der Zeit, die jedem Menschen für seinen je eigenen Anteil an der Geschichte Gottes mit allen Menschen gegeben ist. Der Gedanke einer „Unendlichkeit menschlicher Lebenzeit“ verbietet sich für Jüngel daher. „Als ein Moment der Geschichte Gottes mit allen Menschen ist sie [die Lebenszeit eines Menschen] vielmehr endlich, hat sie einen Anfang und ein Ende.“144 Der Tod hat daher eine positive Bedeutung: Er macht allererst das Leben eines Menschen zu einem solchen bestimmten Moment der göttlichen Geschichte.145 Dass Gott sich an einem Toten als Gott definiert hat, dass er einen Toten als Sohn Gottes definiert hat, ist so der Grund zur Hoffnung für jedes endliche Menschenleben: „Alle werden so, wie sie waren, in Gott versammelt sein. In Gott, der selber das Leben ist.“146 So wie Gott dem gekreuzigten Jesus einen Platz in seinem ewigen Sein eingeräumt hat, so wird er es auch mit jedem anderen tun. Und so wie die Auferstehung Jesu die Wahrheit seines Lebens und seines Todes offenbart, so bedeutet auch die Auferstehung jedes anderen nichts anderes als die Offenbarung der Wahrheit seines gelebten Lebens. „Dann werden wir öffentlich sein, was wir anderen und uns selbst verborgen gewesen sind […] Auferstehung von den Toten heißt Versammlung, Verewigung und Offenbarung gelebten Lebens.“147 Weil die Auferstehung die Verewigung des gelebten Lebens ist, trägt Jesus als der Auferstandene „für immer die Wundmale [seiner Kreuzigung] an seinem Leibe.“148 Hat Gott sich mit diesem Menschen identifiziert, so heißt das, dass er die Schuld jedes Menschen auf sich genommen hat. Gott ist so der, der „um seiner Liebe willen unendlich leidet.“149 Dass Gott sich durch das Sein des Menschen bestimmen lässt, kommt dann darin zum Ausdruck, dass der Mensch an Jesus Christus die Spuren seiner Gottlosigkeit wiederfin142
JÜNGEL, Tod des lebendigen Gottes, 120. JÜNGEL, Tod, 149. 144 JÜNGEL, Tod, 150. 145 Zum Zusammenhang von Endlichkeit und Individualität vgl. JÜNGEL, Tod, 150f. 146 JÜNGEL, Tod, 152f. 147 JÜNGEL, Tod, 153. 148 JÜNGEL, Tod, 142; Hervorhebung MS. 149 JÜNGEL, Tod, 143; Hervorhebung MS. 143
II. Die Rede vom Tod Gottes im 20. Jahrhundert
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det.150 Die Schuld trennt den Menschen nicht länger von Gott, sondern ist gewissermaßen auf ewig in Gott eingeschrieben. Auch Jüngel geht es mithin um die Überwindung eines Gottesbildes, das unter der Voraussetzung des Apathieaxioms entworfen wird151. Vom christlichen Gott soll gelten, dass er die Folgen menschlichen Handelns auf sich nimmt; in seinem vernarbten Antlitz erkennt der Mensch zugleich seine Schuld und seinen Freispruch.
150
Vgl. JÜNGEL, Tod, 144. „Wenn im Zusammenhang des Todes Jesu von einem Opfer die Rede sein soll, dann vom Opfer göttlicher Jenseitigkeit, göttlicher Unberührtheit, göttlicher Absolutheit, kurz: vom Opfer schlechthinniger Gegensätzlichkeit Gottes gegenüber seinem sündigen Geschöpf.“ (JÜNGEL, Tod, 143). 151
Vierter Teil I. Pneumatologie I. Pneumatologie
1. Begründungs- und Realisierungszusammenhang Die Entscheidung, bereits am Ende des dritten Teils einen abschließenden Überblick über Wagners System zu bieten und damit die Pneumatologie von der Gotteslehre und der Christologie zu trennen, lässt sich mit dem Hinweis Wagners rechtfertigen, man habe strikt zwischen dem Begründungszusammenhang einerseits und dem Realisierungszusammenhang andererseits zu unterscheiden.1 Was hat es mit dieser Unterscheidung auf sich? Innerhalb des Begründungszusammenhangs (theo-logische Theologie; Theorie der Theologie)2 geht es darum, die christlichen Gehalte an sich selbst zu erfassen. Dafür muss von dem Umstand abstrahiert werden, dass es sich bei diesen Gehalten um Gehalte eines christlich-religiösen Bewusstseins (um Vorstellungen) handelt. Die Gehalte an sich selbst zu erfassen, meint dann, von dem je konkreten Bewusstsein zu abstrahieren, das diese Gehalte hat,3 um so ihre allgemeingültige Struktur zu Gesicht zu bekommen. Wie gesehen, bedeutet das etwa für die Christologie, die Aussagen des Gemeindeglaubens zugunsten einer rein begrifflichen Argumentation aufzuheben. Die Folge ist, dass die Christologie – wie der Begründungszusammenhang insgesamt – „einen rein gedanklichen und ahistorischen Sachverhalt zum Inhalt hat“4. Die Sätze, die auf der Ebene des Begründungszusammenhangs formuliert werden, könnte man daher auch als „ontologische oder metaphysische Aussagen“5 charakteri1
WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 478. Vgl. DERS., Einleitung [RG] 390; DERS., Recht [Lage], 132. 2 WAGNER, Erwägungen [WiTh], 409f.; vgl. DANZ, Sozialethik, 109. 3 Der Perspektive eines bestimmten Bewusstseins verpflichtet zu sein ist die Eigenart der Religionstheologie. 4 WAGNER, Erwägungen [WiTh], 478. Vgl. DERS., Sozialethik [WiTh], 383. „Der Theorie der Theologie geht es um eine Übersetzung der theologischen Gehalte in begrifflichstrukturelle Aussagen“ (DANZ, Sozialethik, 109; vgl. ebd.., 111). Vgl. zum Verhältnis von Begründungs- und Realisierungszusammenhang auch die klaren Ausführungen bei STÜBINGER, Ökonomie, 63f. und DERS., Christologie, 218ff. 5 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 461; Wagner selbst zieht die Redeweise von „kategorialen oder strukturellen Aussagen“ vor (ebd.). Im Hintergrund steht das Bemühen Wagners, am Anspruch der Theologie festzuhalten, eine „Universalwissenschaft“ zu sein (vgl. WAGNER, Erwägungen [WiTh], 408).
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Vierter Teil
sieren, wenn damit gemeint ist, dass sie auf die Struktur der Wirklichkeit selbst zielen und insofern von universaler Reichweite sind. Dass der Begründungszusammenhang eine allgemeingültige Struktur beschreibt, kann Wagner auch so formulieren, dass er der Entfaltung eines Begriffs dient. Der Begriff, um dessen Rechtfertigung es innerhalb des Begründungszusammenhangs geht, ist der des Geistes oder der Subjektivität.6 Für den Begriff des Geistes gilt, dass er seine Realität nirgendwo anders als im Dasein menschlicher Subjekte hat, und zwar solcher Subjekte, die ihren Selbst- und Weltumgang nun eigenständig nach dem Prinzip der Subjektivität gestalten. Dass seine selbständige Realisierung durch den Menschen ein Moment des Begriffs selbst ist, zeigt die Zugehörigkeit der Christologie zum Begründungszusammenhang. „Denn Jesus der Christus ist das menschliche Anderssein (gegenüber der trinitarischen Subjektivität Gottes), das an seiner Stelle die Subjektivität Gottes und damit die Struktur der Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins realisiert und ihr entspricht.“ 7 Explizieren Trinitätslehre und Christologie den Begriff des Geistes und artikuliert die christliche Religion das Wissen um diesen Begriff, indem sie Jesus als den Christus anerkennt, so ist von diesem Wissen des Begriffs seine Realisierung zu unterscheiden.8 Um diese Manifestation des Begriffs an der Stelle seines Andersseins – also an
6
1975 ‚definiert‘ Wagner Subjektivität folgendermaßen: „Die Struktur der Selbstexplikation im anderen, die sowohl für Individuen – endlich-singuläre (Mensch) und unendlichallgemeine (Gott, Christus) – als auch für Objektivationen des Allgemeinen – Institutionen wie Recht, Familie, Gesellschaft, Staat etc. – gilt, fasse ich begrifflich als Subjektivität.“ (WAGNER, Sozialethik [WiTh], 391). Vgl. in diesem Kontext außerdem WAGNER, Christologie [WiTh], 310 und DERS., Systemtheorie [CM]. In der Anthropologie-Vorlesung von 1990 heißt es vor dem Hintergrund einer nun ausgearbeiteten Trinitätslehre (WAGNER, Christologie-VL, 392): „Die Struktur des Geistes ist die (von Menschen) gewusste Selbstentsprechung von göttlicher Subjektivität [entfaltet durch die Trinitätslehre] und menschlichem Anderssein, das selber als Subjektivität realisiert ist [entfaltet durch die Christologie]“. ‚Subjektivität‘ wird dabei auch hier als ‚Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins‘ bestimmt (ebd., 390). 7 WAGNER, Christologie-VL, 392. Soll der Begriff des (göttlichen) Geistes die Struktur der Wirklichkeit selbst freilegen, geht Wagner also davon aus, „daß die Wirklichkeit insgesamt subjektförmig verfaßt ist“ (DIERKEN, Christologie, 196), so hält die Christologie zugleich fest, dass die Wirklichkeit ihre subjektförmige Verfassung (ihre Bestimmung) allererst und auf selbständige Weise zu realisieren hat, wobei es Wagner mit seinen christologischen Ausführungen v.a. darum zu tun ist, die „Denkbarkeit“ eines menschlichen Subjekts zu zeigen, welches auf eigenständige Weise die Struktur des Geistes realisiert (WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 475; vgl. ebd., 474: „Die Struktur der christologischen Subjektivität repräsentiert den gelungenen und insofern exemplarischen Fall des welthaft-menschlichen Daseins, das gemäß dem Prinzip vermittelter Selbstbestimmung verfaßt ist.“). 8 Zur Unterscheidung des Wissens um den Geist von seiner Realisierung vgl. auch WAGNER, Einleitung [RG], 391 (ebenso WAGNER, Erwägungen [WiTh], 449).
I. Pneumatologie
255
der Stelle der menschlichen Subjekte, die um den Begriff wissen9 –, geht es in der Pneumatologie,10 die Wagner daher einem gegenüber dem Begründungszusammenhang selbständigen Realisierungszusammenhang zuordnet. Während also der Begründungszusammenhang mit dem Begriff des Geistes eine Norm oder ein Ideal formuliert,11 reflektiert der Realisierungszusammenhang über eine Gestaltung der menschlichen Wirklichkeit, die dieser Norm entspricht. Das Ziel ist demnach, so könnte man vielleicht auch sagen, die Verwirklichung der – in sich differenzierten – Einheit von Denken und Sein.12 Will man wissen, wie genau man sich die Realisierung des Geistes nun vorzustellen habe, ist vorab noch einmal zu fragen, was im Begründungszusammenhang eigentlich begründet wird. So kurz wie möglich formuliert, lautet die Antwort: die Freiheit des menschlichen Individuums. Weil diese Freiheit durch ein anderes Subjekt – durch Gott – begründet wird, spricht Wagner von gegebener oder verdankter Freiheit. Weil die Freiheit, um deren Konstitution es geht, als Selbstbestimmung gefasst wird, weil Gott das Individuum als autonomes Subjekts anerkennt, kann die verdankte Freiheit auch als vermittelte Selbstbestimmung bezeichnet werden. Es schließt sich dann aber die Frage an, wessen Freiheit innerhalb des Begründungszusammenhangs konstituiert wird. Um welches Individuum geht es an dieser Stelle? Formulieren Theologie und Christologie ahistorische Sachverhalte, so kann auf dieser Ebene nicht von einem bestimmten, sondern nur vom Individuum überhaupt, vom Begriff des Individuums die Rede sein.13 Dem entspricht es, dass in der christlichen Religion das Individuum als solches zum Thema wird, und dass 9
Wagner kann auch von der „Selbstexplikation [des Geistes] an der Stelle des realen Andersseins“ sprechen (WAGNER, Einleitung [RG], 390; Hervorhebung MS). 10 „Der Begriff des Geistes hat seine Realität als und im menschlichen Selbstbewußtsein. Aber das menschliche Selbstbewußtsein – sein Selbst- und Weltumgang – ist die Realität des Geistes noch nicht. Den menschlichen Selbst- und Weltumgang als Realität des Geistes zu verwirklichen, darin besteht das Thema der Pneumatologie“ (WAGNER, Christologie-VL, 393). Ebenso WAGNER, Theo-Logik [RuG], 87. Entsprechend hält Wagner in seinen Ausführungen zur Sozialethik fest, „daß die Sozialethik als Theorie des Geistes auf die Realisierung von Subjektivität zielt, insofern mit Subjektivität auf den strukturellen Sachverhalt der Selbstexplikation im anderen abgehoben wird“ (WAGNER, Sozialethik [WiTh], 391; Hervorhebung MS). 11 Zur Normativität des Begründungszusammenhangs vgl. WAGNER, Einleitung [RG], 392; DERS., Rahmenbedingungen [WiTh], 477; DERS., Begründung [RuG], 245f. Siehe dazu auch unten Abschnitt 2c. 12 Den Begriff einer solchen realisierten Einheit stellt die Christologie dar; sie repräsentiert, so Wagner, „den erfüllten Begriff der Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit“ (WAGNER, Begründung [RuG], 244). 13 Zu Recht weist Dierken darauf hin, dass sich Wagners Rede vom exemplarischen Charakter des christologischen Selbstbewusstseins im Sinne einer Urbildchristologie interpretieren lässt (DIERKEN, Christologie, 196).
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Vierter Teil
für den Christen die Identifikation mit Christus die Negation oder Abstraktion von dem impliziert, was ihn von anderen menschlichen Individuen unterscheidet. Christi Freiheit als die eigene Freiheit zu wissen (oder: sich in Christus als frei anerkannt zu wissen bzw. sich Christi Freiheit zuzurechnen), heißt demnach, jene Bewegung zu vollziehen, die für das religiöse Bewusstsein charakteristisch und als Glaube i.S. eines Sich-Verlassens zu beschreiben ist. Die Freiheit des Christen gilt also zunächst bedingungslos, sie hängt nicht an den Kontexten, die ihn zu einem je besonderen Individuum machen, sondern er ist als menschliches Individuum frei.14 Nun verhält es sich aber eben so, dass sich die Identifikation eines konkreten einzelnen Menschen mit dem menschlichen Individuum überhaupt dem Akt einer Abstraktion verdankt. Der konkrete Mensch findet sich stets in Kontexten vor, die seinen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben zumindest fraglich erscheinen lassen; nicht zuletzt sieht er sich mit anderen Subjekten konfrontiert, die sich ebenfalls als autonom verstehen. Die entscheidende Frage ist also die, ob die Welt, in der sich der Einzelne de facto vorfindet, seinen Anspruch auf Selbstbestimmung verneint oder bestätigt, ob also „die Freiheit des Individuums äußeres Dasein“15 zu gewinnen vermag, oder ob sie eine bloß geglaubte, rein innerliche Freiheit bleibt. Wagners These ist es nun, dass es zum Begriff des Geistes gehört, im Weltumgang des Individuums Wirklichkeit zu werden; der Entfaltung dieser These dient seine Pneumatologie. Die Pneumatologie vollzieht demnach eine Rekontextualisierung des christologischen Subjekts, insofern erst sie das je besondere, in eine Welt eingebundene menschliche Subjekt in den Blick nimmt. Worum es ihr geht, ist die „Gestaltwerdung der Christologie im Weltumgang des individuellen Selbstbewusstseins.“16 Es ist entscheidend zu sehen, dass damit die Zielrichtung des gesamten Wagnerschen Gedankengangs formuliert ist. Wagners Theologie ist darauf angelegt, in eine Sozialethik zu münden; das Subjekt ihres letzten Akts ist der einzelne Mensch, dem es aufgegeben ist, die ihm zugesagte Freiheit in seiner Welt zu realisieren.17 Dass Wagners Theologie von vornherein so an-
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Diese Bedingungslosigkeit der christlichen Botschaft hebt Wagner immer wieder hervor; vgl. z.B. WAGNER, Christentum [RuG], 254: „die Zugehörigkeit zur christlichen Religion ist dadurch definiert, dass sie unabhängig von biologisch-geschlechtlichen, rassischen, nationalen und sozialen Zurechnungen ausgesprochen wird.“ Vgl. WAGNER, Friedensfähigkeit [RG] 522.530. Durch diese Universalität unterscheidet sich das Christentum von anderen Religionen (Vgl. WAGNER, Recht [Lage], 119). 15 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 390. 16 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 388; vgl. DERS., Begründung [RuG], 242. 17 Daher kann Wagner von der Pneumatologie auch als von einer „Wiederholung“ der Christologie reden; eine Wiederholung, deren Subjekt das konkrete Individuum ist: das Thema der Pneumatologie ist die „Selbsttranszendierung des singulären Selbstbewusstseins“, die „als Wiederholung der christologischen Selbstexplikation im anderen durch das
I. Pneumatologie
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gelegt ist, dass sie sich als Theo-Logie gewissermaßen notwendig auf eine „Theorie der gegenwärtigen Wirklichkeit“18 hin transzendiert – und zwar auf die Theorie einer Wirklichkeit, die als Wirklichkeit sich selbst bestimmender Individuen qualifiziert werden kann –, das zeigt sich auch daran, dass Wagner den Zusammenhang von Begründungs- und Realisierungszusammenhang anhand der Logik einer doppelten Negation beschreiben kann. Denn das Individuum, wie es im Begründungszusammenhang seinen Ort hat, stellt ja, wie gesehen, eine Negation oder Abstraktion dar. Die Christologie redet von der Möglichkeit freier Individualität „im Medium des Allgemeinen“.19 Demgegenüber beschreibt nun die Pneumatologie die „Negation der Negation (Abstraktion der Abstraktion)“20 – sie vollzieht die Bewegung zurück in die Sphäre der „erkennenden und handelnden und zugleich biologisch und soziokulturell bedingten Subjektivität“21. Daher kann Wagner sagen, „dass die christliche Theologie erst auf dem Boden des Geistes die Konkretion für den jeweils gegenwärtigen Weltumgang des Menschen“ gewinne.22 Genau diese Konkretion ist es aber, um die es Wagner geht und auf die auch seine hoch spekulativen Ausführungen innerhalb des Begründungszusammenhangs letztlich abzielen. Für Wagner ist es also von entscheidender Bedeutung, dass sich die vom Einzelnen gewusste Freiheit auch in seiner Wirklichkeit manifestiert. Immer wieder kann er davor warnen, „daß das Anerkanntsein des neuen Menschen nicht zum toten Besitz und die ihm gegebene Freiheit nicht zum präreflexiven Datum verkommen“23 darf. Die gegebene oder verdankte Freiheit als solche zu manifestieren meint nun, dass der Einzelne die Welt, in der er sich vorfindet, und d.h. für Wagner v.a. seine gesellschaftliche Umwelt – andere Subjekte, Institutionen –, anerkennt. Nur in Anerkennung des Anderen (des Allgemeinen) manifestiert sich die Freiheit des Einzelnen als gegebene (vermittelte) Freiheit. Diese Anerkennung bedeutet etwa, in den Institutionen einen „Ermöglichungsgrund der individuellen Freiheit“24 zu erblicken. Aufgabe theologischer Sozialethik ist es dann, danach zu fragen, ob die geindividuelle Selbstbewusstsein“ zu fassen sei (WAGNER, Sozialethik [WiTh], 388; Hervorhebung MS). 18 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 386. 19 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 386. 20 WAGNER, Begründung [RuG], 232; vgl. DERS., Sozialethik [WiTh], 385–388. 21 WAGNER, Begründung [RuG], 232. 22 WAGNER, Geist [WiTh], 44. 23 WAGNER, Geist [WiTh], 44. Wo der Glaube der Forderung nach seiner Realisierung nicht nachkommt, verwandelt er sich in ein „sektiererisches Bewußtsein“ (WAGNER, Begründung, [RuG], 231); vgl. auch DERS., Sozialethik [WiTh], 387: „Das singuläre Subjekt realisiert […] nur dort den Geist, wo es sich nicht in sich einhaust, sondern sich so in Wiederholung der christologischen Selbstüberschreitung transzendiert, daß es sich in Sachverhalten des Allgemeinen expliziert.“ 24 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 390.
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Vierter Teil
sellschaftlichen Institutionen in ihrer gegenwärtigen Verfassung als ein solcher Ermöglichungsgrund individueller Freiheit begriffen werden können. Kurz: die Sozialethik fragt, ob die Verhältnisse, in denen der Einzelne steht, Verhältnisse vermittelter Selbstbestimmung sind. Sie misst also das Weltverhältnis des Einzelnen an jenem paradigmatischen Fall eines Verhältnisses von Allgemeinheit und Besonderheit, wie es der Begründungszusammenhang entfaltet und mit der Struktur des Geistes auf den Begriff gebracht hat. Der letzte Satz deutet bereits an, worin für Wagner die Bedingung der Möglichkeit einer theologischen Sozialethik besteht. Er erblickt sie darin, dass sich religiöse Aussagen überhaupt auf andere Bereiche (etwa gesellschaftliche oder wirtschaftliche Fragestellungen) beziehen lassen. So hält Wagner z.B. mit Blick auf die Sphäre der Ökonomie fest, dass vorab zu klären sei, ob „in sachlicher Hinsicht eine prinzipielle Vermittelbarkeit von Religion und Ökonomie oder von theologischen und wirtschafts-wissenschaftlichen Aussagen erreicht werden kann.“25 Dass zunächst die Frage der Vergleichbarkeit geklärt werden muss, hat seinen Grund in jenem neuzeitlichen Vorgang, den Wagner als Säkularisierung bezeichnet. Denn hiermit war ja gemeint, dass die Bereiche der Wirtschaft, Politik usw. ihrer je eigenen Logik folgen. Diese „Autonomie der sozialen Teilsysteme“26 ist für Wagner unter modernen Bedingungen nicht zu hintergehen, sodass er es für ausgeschlossen hält, religiöse bzw. theologische Aussagen unmittelbar auf Problemstellungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu beziehen. Zur These von der Autonomie der Funktionssysteme gehört zudem eine bestimmte Sicht auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die in der Redeweise von einer „Depersonalisierung und Dehumanisierung des Sozialen“ zum Ausdruck kommt.27 Das damit gestellte Problem lässt sich so formulieren: Kann eine Wirklichkeit, für deren verschiedene Sphären das Prädikat der „Eigengesetzlichkeit“28 in Anspruch genommen wird, tatsächlich die Wirklichkeit sich selbst bestimmender Individuen sein? Oder schließt nicht vielmehr die Beobachtung einer Welt, die ihren eigenen Gesetzen folgt, die Autonomie des Einzelnen aus? Die Frage, die Wagner mit seiner Sozialethik stellt, lautet dann: Muss sich ein autonomes Individuum in einer solchen Welt fremd fühlen – insofern es seiner Freiheit kein äußeres Dasein zu geben vermag –, oder kann es in einer solchen Welt zuhause sein?29 Dabei erhebt die theologische Sozialethik den Anspruch, sagen zu können, wie eine Welt beschaffen sein müsste, in der ein autonomes Individuum zuhause sei kann. Die 25
WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 460. WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 458; Hervorhebung MS. 27 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 381; vgl. WAGNER, Systemtheorie [CM], 163. 28 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 458. 29 Diese Formulierung übernehme ich von F. Neuhouser; vgl. NEUHOUSER, Foundations, 23. 26
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Berechtigung dieses Anspruchs zeigt sich freilich erst dann, wenn die Theologie eine „eigenständige Ebene der Vergleichbarkeit“30 einrichtet. Seinen Begründungszusammenhang verortet Wagner nun auf einer solchen Ebene, denn er macht die grundlegenden Strukturen oder Kategorien sichtbar, welche die religiösen Aussagen konstituieren.31 Wird eine entsprechende Abstraktion auch für Aussagen aus anderen Bereichen (etwa der Wirtschaft) durchgeführt, dann wird deutlich, dass es sich auch bei ihnen stets um die Beschreibung eines Verhältnisses von Allgemeinheit und Besonderheit handelt, sodass Wagner eine Vergleichbarkeit mit der Theo-Logie konstatiert.32 Die Christologie ist also deshalb relevant für den Weltumgang des Individuums, weil sie auf einer strukturellen Ebene ein Verhältnis beschreibt, das vergleichbar ist mit den Verhältnissen, in denen sich das Individuum vorfindet. Insofern die Christologie ein versöhntes Verhältnis beschreibt, kann sie zugleich als Maßstab für die tatsächlichen Verhältnisse dienen. Wie bereits betont, drängt der Geist darauf, sich im Weltumgang des Menschen zu manifestieren. Dabei ist allerdings die Autonomie der Funktionssysteme – also das Faktum der Säkularisierung – zu berücksichtigen. Das hat zur Folge, dass das Individuum und die Funktionssysteme die Manifestation des Geistes auf eigenständige Weise vollziehen müssen. Wo das Individuum und seine Welt ihr Verhältnis gemäß dem Prinzip der Subjektivität gestalten, manifestieren sie den Begriff des Geistes an der Stelle seines Andersseins, ist der Geist im Anderen bei sich. „Die Selbstmanifestation des Geistes zielt 30
WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 461. Am Beispiel der Vermittelbarkeit von Religion und Wirtschaft hält Wagner fest, dass sich die Vergleichbarkeit auf „Religion/Theologie und Ökonomie übergreifende Strukturaussagen“ bezieht. „Nur wenn es gelingt, derartige kategoriale Zusammenhänge aufzudecken, kann sich die Theologie auf wirtschaftliche Probleme in begründeter Weise beziehen“ (WAGNER, Marktwirtschaft, 49; Hervorhebung MS). 31 In seiner Drehsen-Rezension spricht Wagner von einer „doppelten Aufgabenstellung“ der Theologie. Die Theologie habe „als Offenbarungstheologie, d.h. als theologische Auslegung der christlich-religiösen Gehalte immer zugleich die Funktion einer natürlichen Theologie wahrzunehmen“ (WAGNER, Praxis, 241). Aufgrund der „soziokulturellen Bedingtheit der Religionspraxis“ müsse die Theologie „ihre Aussagen so formulieren, daß ihre methodisch und kategorial geregelte Vermittel- und Übersetzbarkeit gewährleistet ist“ (ebd.). 32 Vgl. v.a. Wagners Skizze einer „Theorie der Gesellschaft“ (WAGNER, Sozialethik [WiTh], 380–383). Wagner kann hinsichtlich der Bezeichnung der Pole des Verhältnisses in seiner Terminologie schwanken; statt von Allgemeinheit und Besonderheit kann er auch von Selbst- und Anderssein reden. Vgl. etwa WAGNER, Synkretismus, 108: „Die Christologie zielt in ihrer strukturell-kategorial transformierten Gestalt nicht auf die Beziehung von Gott und Mensch, Vater und Sohn oder gar von göttlicher und menschlicher Natur, sondern auf ein Verhältnis von Selbst- und Anderssein, von Allgemeinheit und Besonderheit, das zugleich die Vergleichbarkeit mit Strukturen ermöglicht, die auch für die fremdperspektivischen Sichtweisen der sozialen Umwelt der Religion grundlegend sind“. Vgl. auch DERS., Begründung, [RuG], 242f.
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somit auf die Selbstkonstitution des Anderen, so daß dieses an seiner Stelle nicht nur dem Selbstaufbau des Geistes als seinem Begriff entspricht, sondern mehr noch: diesen Selbstaufbau selber realisiert.“33 Wagner kann in diesem Zusammenhang auch von einer Theorie autonomer Säkularisierung sprechen.34 Sie soll zwei Aspekten gleichermaßen Rechnung tragen. Einmal, dass es zum Begriff des Geistes gehört, sich an der Stelle des menschlichen Weltumgangs zu realisieren – sich also zu säkularisieren. Mit dieser Behauptung möchte Wagner die Intention eines geistesgeschichtlichen Verständnisses der Säkularisierung aufgreifen. Die Säkularisierung in diesem Sinn meint eine Umformung der christlichen Gehalte; wo sie den Weltumgang strukturieren, sind sie nicht mehr als christlich-religiöse Gehalte erkennbar. Entscheidend ist für Wagner freilich, dass die Umformung der Gehalte nicht als Reaktion auf die veränderten Bedingungen zu interpretieren ist, denen sich die christliche Religion in der Neuzeit ausgesetzt sieht, vielmehr kommt in der Umformung die funktionale Relevanz (das Sein für anderes) zum Ausdruck, das den christlichen Gehalten als solchen eingeschrieben ist. Wagner spricht daher von einer „Selbstübersetzung oder Eigentransformation des Glaubensgrundes, wodurch dieser seiner funktionalen Kompetenz und Indienstnahme für das allgemeine Bewusstsein und seinen soziokulturellen Weltumgang nachkommt.“35 Mit dem zweiten Aspekt der Theorie autonomer Säkularisierung will Wagner dem soziologischen Modell der Säkularisierung gerecht werden. Das heißt, die Säkularisierung der christlichen Gehalte kann sich nur unter Wahrung der „inneren Selbständigkeit der soziokulturellen Umwelt“36 des Christentums vollziehen. Was das konkret bedeutet, wurde bereits gesagt: Die Manifestation des christlichen Geistes an der Stelle des Individuums und seiner Welt – seine Säkularisierung – kann von diesen nur auf eigenständige – eben autonome – Weise vollzogen werden. Die Theorie autonomer Säkularisierung zeigt an, dass die Selbstübersetzung des Glaubensgrundes nicht als seine Selbstdurchsetzung missverstanden werden darf, sondern sich unter Anerkennung der Selbständigkeit des welthaften Andersseins vollzieht. Nur eine solche Anerkennung gewährleistet, dass die Manifestation des Grundes (des göttlichen Geistes) sich als Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins und durch das Anderssein vollzieht und nur eine solche Manifestation entspricht der Struktur des Geistes, sodass nur in einem solchen Fall von einer Selbstmanifestation des Geistes die Rede sein kann. Kann die theologische Sozialethik die Realisierung des christlichen Geistes auch nicht selbst herbeiführen, so formuliert sie doch die Zielbestimmung 33
WAGNER, Christologie-VL, 400; Hervorhebung MS. Vgl. WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 463; DERS., Begründung [RuG], 234ff.; DERS., Recht [Lage], 126. 35 WAGNER, Begründung [RuG], 238; Hervorhebung MS. 36 WAGNER, Synkretismus, 106. 34
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dieses Realisierungsprozesses. Zugleich nennt sie die beiden Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit dieses Ziel erreicht werden kann. Das Ziel ist, dass die Verhältnisse, in die das Individuum eingebunden ist, dem Begriff der Subjektivität entsprechen. Die erste Bedingung wurde bereits erwähnt und lautet, dass das Individuum die Sphäre des Allgemeinen anerkennt, was bedeutet, dass sich das Allgemeine an der Stelle des Besonderen zu explizieren vermag. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Prozess der Sozialisation. Die zweite Bedingung hält nun umgekehrt fest, dass sich das Besondere auch an der Stelle des Allgemeinen explizieren können muss. Während die erste Bedingung von den Sozialwissenschaften bereits hinreichend thematisiert wird,37 sieht Wagner die „kritische Funktion“ einer theologischen Sozialethik vor allem darin, auf „strukturelle[] Verfestigungen des gesellschaftlichen Allgemeinen“38 hinzuweisen und angesichts solcher kristallisierter Institutionen für „die Aufschließbarkeit, Prägbarkeit und Offenheit des gesellschaftlich Allgemeinen für die Belange der Individuen“39 zu argumentieren. „Damit steht die Sozialethik im Dienste der Freiheit des Individuums“40. Freilich bleibt stets zu beachten, dass die Sozialethik ihren Dienst an der Freiheit lediglich „bittweise“41 ausführen kann, denn „eine der Verhältnisweise der Freiheit verpflichtete Sozialethik [kann] nicht mehr leisten, als an freie und vernünftige Einsicht adressierte Argumente offen und öffentlich zu vertreten“42. Nimmt man die beiden Bedingungen zusammen, die für die Realisierung des Geistes erfüllt sein müssen, dann lautet die Maxime, mit der die Sozialethik an die Öffentlichkeit treten kann: „Handle so, dass nicht nur das Allgmeine [sic] als Besonderes, sondern ebenso das Besondere als Allgemeines entwickelt werden kann.“43 Wo sich Individuen und Institutionen an dieser Maxime orientieren, da gewinnt Christus im Weltumgang des Menschen Gestalt. 2. Entfaltung der Sozialethik Es sind vor allem drei Themenfelder, anhand derer Wagner seine allgemeinen sozialethischen Überlegungen näher ausführt. Zum einen geht es ihm um eine theologische Beurteilung des Rechts und des Verhältnisses von Recht und Moral, eine zweite Textgruppe kreist um den Problemkomplex ‚Frieden und Gewalt‘ und schließlich widmet sich Wagner in einer Reihe von Schriften 37
Vgl. vgl. auch den Hinweis bei WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 480f., „daß das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. sozialen Teilsystemen meistens einseitig und asymmetrisch […] beschrieben wird“. 38 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 390. 39 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 390. 40 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 390. 41 WAGNER, Christologie-VL, 380. 42 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 495. 43 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 390.
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ökonomischen Fragestellungen.44 Da Wagners Diagnose des Wirtschaftssystems einen Schwerpunkt des nächsten Kapitels bilden wird, beziehe ich mich bei der folgenden Konkretisierung der Sozialethik lediglich auf die ersten beiden Bereiche. Dabei gehe ich so vor, dass ich zunächst die Rolle des Individuums im Realisierungsprozess des Geistes in den Blick nehme. In diesem Zusammenhang ist Wagners Würdigung der Ethik Kants zu behandeln (a). Danach sollen institutionelle Aspekte des Realisierungsprozesses angesprochen werden; dabei wird es v.a. um Wagners ambivalente Haltung zum kantischen Rechtsbegriff und seine kritischen Bemerkungen zum staatlichen Gewaltmonopol gehen (b). Zuletzt wende ich mich mit dem Begriff des Friedens dem Ziel des Realisierungsprozesses zu. Ein Schwerpunkt dieses dritten Abschnitts wird die Frage nach dem Verhältnis von Normativität und Faktizität sein (c). a) Ethik Wagner kann urteilen, dass der Begriff von Freiheit, den Kant in seiner Moralphilosophie expliziert, dem christlichen Freiheitsverständnis entspricht. Diese These setzt bei der Beobachtung an, dass Kant Freiheit als Selbstbestimmung, diese aber wiederum als „Selbstgesetzgebung“45 fasse. Selbstbestimmung ist deshalb als Selbstgesetzgebung zu verstehen, weil der Einzelne seine Handlungsmaximen daraufhin befragen soll, ob sie ein allgemeines Gesetz, ob sie also „für alle vernünftigen Wesen verbindlich“ sein könnten. Das entscheidende Kriterium für die Bewertung einer Maxime ist demnach ihre Gesetzmäßigkeit im Sinne ihrer „Verallgemeinerungsfähigkeit“46. Wagner liest Kants Beschreibung der Freiheit als Selbstgesetzgebung so, dass Freiheit als ein Vorgang der Anerkennung sichtbar wird. Denn der Einzelne realisiert seine Freiheit nur dann, wenn er den Standpunkt der Allgemeinheit einnimmt. Indem das Individuum nicht seine besonderen Wünsche und Neigungen, sondern die Gesetzmäßigkeit der Maximen zum Bestimmungsgrund seiner Handlungen macht, bestimmen gewissermaßen alle anderen vernünftigen Subjekte seine Handlung mit, und zwar deshalb, weil das Individuum seine Maximen daraufhin befragt, ob sie die Zustimmung aller vernünftigen Subjekte finden könnten. Es ist dann nicht das Individuum als je besonderes, welches die Handlung bestimmt, sondern das Individuum, insofern es ein vernünftiges Subjekt ist. Für Wagner impliziert daher der Begriff der Selbstgesetzgebung eine Bewegung der „Selbstüberschreitung“ oder „Entäußerung“: „Nicht das Subjekt in seiner Besonderheit und Partikularität konstituiert sich als Subjekt der Gesetzgebung, sondern das Subjekt, das sich in Negation seiner Besonderheit mit der allgemeinen Vernunft zusammen44
Vgl. STÜBINGER, Anerkennungsverhältnisse, 171. WAGNER, Moral [Lage], 144. 46 WAGNER, Moral [Lage], 145. 45
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schließt.“47 Die Pointe dieser Lesart der Ethik Kants lässt sich dann so beschreiben: Handelt das Individuum im Sinne des kategorischen Imperativs, so handelt es nicht länger als dieses besondere Individuum, sondern das eigentliche Subjekt der Handlung ist die vernünftige Menschheit überhaupt. Anders gesagt: Das besondere Subjekt expliziert oder manifestiert an seiner Stelle das allgemeine Subjekt. Man kann den Satz auch umgekehrt formulieren, dann lautet er, dass sich das besondere Subjekt nicht an seiner Stelle, d.h. nicht als besonderes Subjekt manifestiert, sondern „an der Stelle seines Andersseins als an der Stelle der Allgemeinheit“48. Wagners Interpretation scheint allerdings eine Schwierigkeit zu enthalten, die er selbst nicht anspricht. Denn es verhält sich ja so, dass die Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins hier nur einseitig vollzogen wird. Offensichtlich geschieht die Realisierung des Allgemeinen auf Kosten des Besonderen;49 und was auf Seiten des Individuums als „Aufhebung von Egoismus und Selbstliebe“50 gedeutet werden mag, ließe sich mit gleicher Berechtigung auch als die ungebrochene Durchsetzung des Allgemeinen lesen. Wagner verwendet in seiner Rekonstruktion der kantischen Ethik das gleiche Vokabular, mit dem er auch die Struktur des religiösen Bewusstseins beschreibt, so dass die dort geäußerte Kritik auch hier gelten müsste. Diese Schwierigkeit lässt sich m.E. dann lösen, wenn man die Einseitigkeit der Bewegung dadurch erklärt, dass sie lediglich ein Moment realisierter Freiheit darstellt. So verstanden, konkretisiert Wagner mit seiner Interpretation des kategorischen Imperativs lediglich eine – nämlich die subjektive – Bedingung der Realisierung des Geistes. Wagners Bemerkung, dass die „von Kant begründete Ethik als Freiheit […] grundsätzlich mit dem christlichen Verständnis der Freiheit“51 übereinstimme, wäre dann durch den Hinweis zu ergänzen, dass die Ethik Kants dem subjektiven Aspekt dieses Freiheitsverständnisses entspricht. Dieser Lösungsvorschlag setzt voraus, dass die Realisierung des Geistes eine subjektive und eine objektive (oder eine individuelle und eine institutionelle) Seite umfasst. Dabei orientiert er sich an dem Begriff sozialer Freiheit, den Frederick Neuhouser in der Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie erarbeitet hat. Neuhouser weist darauf hin, dass sich an Hegels Freiheitsverständnis ein subjektives von einem objektiven Moment unterscheiden lassen: „social freedom has both an objective and a subjective component […]. The former he [Hegel] equates with ‚the laws and 47
WAGNER, Gesetz [RG], 493. Ähnlich WAGNER, Moral [Lage], 145. WAGNER, Gesetz [RG], 493. 49 WAGNER, Moral [Lage], 145: „Die Beurteilung der besonderen Maximen eines möglichen Handelns nach dem Kriterium der Verallgemeinerbarkeit ist also nur dann vollziehbar, wenn das handelnde Subjekt in Erhebung zur Allgemeinheit seine physisch-psychischsoziale Vorfindlichkeit transzendiert.“ 50 WAGNER, Gesetz [RG], 493. 51 WAGNER, Moral [Lage], 146. 48
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institutions‘ of the rational social order (§144, E §538); the latter is said to consist in the frame of mind, or ‚disposition‘ (Gesinnung), of individual social members.“52 Eine vergleichbare Differenzierung unternimmt nun auch Wagner, und zwar genau dort, wo er zwischen Ethik und Recht unterscheidet. Der Unterschied besteht darin, dass die Ethik die „praktische[] Realität der inneren Freiheit“ bezeichnet, während unter dem Recht die „praktische Realität der äußeren Freiheit“ zu verstehen ist.53 Die Ethik fragt demnach nur, ob der Einzelne der Struktur des Geistes entspricht, sie ist begrenzt „auf die persönliche Selbstverpflichtung der Individuen.“54 Diese Selbstverpflichtung besteht darin, dass der Einzelne die Allgemeinheit anerkennt, und zwar dadurch anerkennt, dass er die Verallgemeinerungsfähigkeit seiner Maximen zum Bestimmungsgrund seines Handelns macht.55 Die Struktur des Geistes beschreibt allerdings einen Vollzug wechselseitiger Anerkennung. Was die Ethik also nicht thematisiert, ist jene zweite Bedingung der Realisierung des Geistes, die Offenheit des Allgemeinen für die Belange der Individuen. Zu fragen ist daher, ob Wagner dort, wo er vom Recht als dem Dasein der äußeren Freiheit spricht, eben diese Bedingung einholt. b) Recht Ganz allgemein besteht die Funktion des Rechts für Wagner darin, alle denkbaren Verhältnisse im Sinne des Prinzips vermittelter Selbstbestimmung zu regeln. „Von den generalisierten Normen des Rechts hat zu gelten, daß sie der Regelung des Daseins der äußeren Freiheit dienen. Damit werden alle Subjekt-Subjekt-Verhältnisse […] und alle Subjekt-Objekt-Verhältnisse […] so geregelt, daß die besondere Freiheit einzelner Individuen oder sozialer Teilsysteme mit der allgemeinen Freiheit aller Individuen oder der Gesellschaft zusammen bestehen können [sic].“56
Das Recht ist demnach dafür zuständig, die Maxime, an der die theologische Sozialethik sich zu orientieren hat,57 in die Wirklichkeit zu übersetzen. Insofern es die Aufgabe des Rechts ist, alle Verhältnisse nach der Logik wechselseitiger Anerkennung zu gestalten, muss man in ihm die Instanz erblicken, die sicherstellt, dass auch die zweite Bedingung der Realisierung des Geistes, also die Offenheit der Institutionen für die Belange der Individuen, erfüllt wird. Seiner Aufgabe, die „objektive Gestaltwerdung der Freiheit“ durchzu52
NEUHOUSER, Foundations, 53. WAGNER, Moral [Lage], 147. Vgl. auch WAGNER, Ethik [RG], 550f. 54 WAGNER, Moral [Lage], 147. 55 Im Anschluss an die Terminologie Kants ließe sich statt von Anerkennung auch von Achtung sprechen. 56 WAGNER, Recht [Lage], 133. Einen ausführlicheren Überblick über die genannten Verhältnisse bietet WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 479–481. 57 S.o. S. 261. 53
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führen, kommt das Recht nämlich nur dann nach, wenn „rechtliche Normen die Selbstexplikation der besonderen Freiheit an der Stelle der allgemeinen Freiheit und die Selbstexplikation der allgemeinen Freiheit an der Stelle der besonderen Freiheit zum Ausdruck bringen.“58 Dabei wahrt das Recht die Autonomie der Individuen; ob der Einsatz des Einzelnen für das Allgemeine aus Anerkennung geschieht, ob der Geist, der in seinem Handeln sichtbar wird, auch sein Herz regiert, das ist auf der Ebene des Rechts unerheblich. Legalität und Moralität sind strikt zu unterscheiden, „weil anders das innere Dasein der Freiheit des Menschen einer äußeren Zwangskontrolle ausgesetzt wäre.“59 Wie schon die Ausführungen zur Ethik sind auch Wagners Aussagen zur Bedeutung des Rechts stark von Kant geprägt. Wagner geht davon aus, dass der von Kant formulierte Anspruch, die Freiheit des Einzelnen müsse mit der Freiheit aller anderen zusammen bestehen können, genau das meint, was die Theologie mit der Struktur des Geistes intendiert.60 Es ist allerdings die Frage, ob ‚zusammen bestehen‘ tatsächlich das gleiche aussagt wie ‚im anderen bei sich selbst sein‘. Wagner jedenfalls kann die Formulierung vom ‚zusammen bestehen‘ auch so lesen, dass die Freiheit des einen durch die Freiheit der anderen nicht entfaltet, sondern eingeschränkt wird. Kant lasse sich bei seiner Konstruktion des Rechtsbegriffs von der Logik von Wirkung und Gegenwirkung leiten: „Die Wirkung, die von einer frei handelnden Person ausgeht, findet ihre entsprechende Gegenwirkung durch das freie Handeln einer anderen Person, woraus die wechselseitige Einschränkung der Freiheit resultiert.“61 Wo der Einzelne diese Einschränkung nicht akzeptiert, zeigt sich die Freiheit der anderen als Gewalt oder Zwang. Als prominentes Beispiel für die „Zwangs- und Gewaltstruktur“ dieses Rechtsbegriffs führt Wagner das staatliche Gewaltmonopol an.62 In ihm komme zum Ausdruck, dass die Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit aller nur durch Zwang zusammen bestehen könne, ein Zwang, der sich dann äußert, wenn „eine Person zugleich die Besonderheit ihres Willens, bestimmte Interessen und Bedürfnisse, ins Spiel bringt“63. Wagner kann daher das staatliche Gewaltmonopol lediglich als „Verlegenheitslösung“ akzeptieren, „die der Anerkennung der menschlichen Individuen als feier [sic] Subjekte nicht voll Rechnung trägt.“64 Innerhalb 58 WAGNER, Recht [Lage], 133; Hervorhebung MS. Vgl. auch DERS., Ethik [RG], 551: „Das so bestimmte Recht bietet also die Gewähr dafür, daß die Vermittlung von besonderer und allgemeiner Freiheit auf objektiv geregelte, d.h. institutionalisierte Weise äußeres Dasein gewinnt.“ 59 WAGNER, Grundwerte, 86; Hervorhebung MS. Vgl. auch ebd., 82. 60 Vgl. WAGNER, Recht [Lage], 134. 61 WAGNER, Voraussetzung, 55. 62 WAGNER, Erwägungen [WiTh], 416ff.439ff., Zitat 440. 63 WAGNER, Voraussetzung, 57. 64 WAGNER, Erwägungen [WiTh],441.
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seiner Darstellung der hegelschen Rechtsphilosophie65 weist Wagner darauf hin, dass Kants Rechtskonzeption die Stufe des abstrakten Rechts repräsentiere und das Kant – anders als Hegel – Freiheit als unmittelbare Selbstbestimmung auffasse. Es erscheint zumindest schwierig, diese kritischen Einlassungen mit der zuerst beschriebenen Würdigung der Rechtsphilosophie Kants in Einklang zu bringen. Ohne hier wirklich zu einer befriedigenden Lösung zu gelangen, wird man doch sagen können, dass Wagner nur dort, wo er auf Hegels Begriff des Rechts Bezug nimmt, beiden Bedingungen der Realisierung des Geistes Rechnung trägt. Denn Hegel verstehe unter dem Recht das „das Dasein des freien Willens“66. Auf seiner höchsten Stufe – der Sittlichkeit – markiert die Sphäre des Allgemeinen nicht länger die Grenze individueller Freiheit, sondern die Stelle, an der diese ihre Realisierung findet. Erst mit der Beschreibung der Sittlichkeit macht Wagner die zweite Bedingung wirklich explizit: „Die Sittlichkeit besteht […] darin, daß der besondere Wille im anderen seiner selbst, nämlich in der Allgemeinheit von Institutionen das Dasein seiner Freiheit hat.“67 Nur wenn das Allgemeine „als aufgeschlossen für die Belange der Individuen gesetzt ist“68, wird man von den Individuen erwarten dürfen, dass sie sich auf das Allgemeine hin überschreiten. Der Einsatz für das Allgemeine bedeutet nur dann keine Selbstaufgabe, wenn es sich dabei um ein Allgemeines handelt, welches sich aktiv für die Ziele aller Individuen einsetzt, wenn also an der Stelle des Allgemeinen die Selbstexplikation des Besonderen stattfindet. Nur in diesem Fall werden die Individuen ihre Umwelt nicht als die Grenze ihrer Individualität, sondern – mit den Worten Axel Honneths – „als den Raum einer Expansion ihrer eigenen Persönlichkeit wahrnehmen können.“69 Und nur von einer solchen Umwelt wird man sagen können, dass sie die Umwelt freier Subjekte ist. c) „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“70 Orientierten sich Institutionen und Individuen am Prinzip vermittelter Selbstbestimmung, dann stimmten die Verhältnisse in der Welt mit dem im Begründungszusammenhang beschriebenen Verhältnis von Gott und Mensch überein, ein Zustand, den Wagner als die „Einheit von Gottes- und Weltfrieden“71 bezeichnet. Es ist jedoch für Wagner offensichtlich, dass diese Einheit 65
WAGNER, Voraussetzung, 56ff. WAGNER, Voraussetzung, 56. 67 WAGNER, Voraussetzung, 61. 68 WAGNER, Voraussetzung, 62. 69 HONNETH, Recht, 113. Vgl. ebd., 91: „Die Welt der Objektivität soll dem individuellen Freiheitsstreben in dem Sinn entgegenkommen, dass sie gewissermaßen von sich aus will, was das Subjekt reflexiv intendiert.“ 70 Vgl. WAGNER, „Mein Reich ist nicht von dieser Welt?“, in: RG, 605ff. 71 WAGNER, Erwägungen [WiTh], 450. 66
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momentan noch aussteht. Noch sind die beiden Bedingungen für eine Realisierung des Geistes in der Welt nicht erfüllt, oder, in der Sprache der Theologie, diese Welt wird weiterhin von der Sünde beherrscht. Den zwei Bedingungen entsprechend hat auch der Begriff der Sünde zwei Seiten, eine individuelle und eine institutionelle.72 ‚Sünde‘ meint dabei grundsätzlich, dass Individuen oder Institutionen dem jeweils anderen die Anerkennung verweigern und dem Prinzip unmittelbarer Selbstdurchsetzung folgen. Für Wagner ist nun aber folgende Einsicht von entscheidender Bedeutung: Dass Menschen einander faktisch die Anerkennung als freie Subjekte verweigern, kann die Geltung des Satzes, dass alle Menschen freie Subjekte sind, nicht in Frage stellen. Es ist das Ziel des theo-logischen Begründungszusammenhangs, die unbedingte Geltung dieses Satzes zu erweisen, der für Wagner „den einfachen und klaren Grundgedanken des Christentums“ zum Ausdruck bringt: „Der Mensch als solcher, nämlich unabhängig von Geschlechts-, Rassen-, Staats-, Klassen- und Religionszugehörigkeit ist als freies Subjekt anerkannt.“73 Von der Geltung dieses Satzes ist aber seine Realisierung zu unterscheiden, sodass der Indikativ – alle Menschen sind als frei anerkannt – auch als Imperativ zu formulieren ist: alle Menschen sollen als freie Subjekte anerkannt werden. Das Auftreten individueller oder institutioneller Sünde kann nun niemals den Indikativ in Frage stellen, sondern lediglich ein Hinweis auf seine ausstehende Realisierung durch den Menschen sein.74 In diesem Zusammenhang kann Wagner eine christliche Legitimation von Krieg scharf kritisieren. Die Aussage etwa, dass Kriege aufgrund der sündhaften Natur des Menschen unvermeidbar seien, muss aus christlicher Sicht als abstrakt beurteilt werden, weil sie vor dem genuin christlichen Gedanken der Menschwerdung Gottes haltmacht. Wer behauptet, dass der Mensch Sünder sei, der ver72 Vgl. WAGNER, Erwägungen [WiTh], 450. Gerade der zweite, institutionelle Aspekt der Sünde wird nach Wagner häufig übersehen. Damit aber würden Probleme bei der Realisierung des Geistes, die tatsächlich strukturelle Ursachen hätten, einseitig auf das Individuum zurückgeführt. Demgegenüber plädiert Wagner dafür, im Begriff der Sünde „dem Egoismus der Individuen die in Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung sichtbar werdende strukturelle Sünde zur Seite zu stellen, wie sie in ökonomischen, sozialen und politischen Systemen angelegt sein kann“ (WAGNER, Friedensfähigkeit [RG], 528). 73 WAGNER, Friedensfähigkeit [RG], 530. Vgl. DERS., Erwägungen [WiTh], 452. Dem entspricht es, dass im Begründungszusammenhang nicht das Scheitern dieser oder jener Gewaltkonstellation aufgezeigt, sondern – zumindest dem Anspruch nach – der Nachweis erbracht wird, das Gewalt ‚an sich‘ zum Scheitern verurteilt ist (vgl. DERS., Erwägungen [WiTh], 446). 74 WAGNER, Friedensfähigkeit [RG], 533f.: „[D]urch faktische Sünde und Gewalt wird nicht die Geltung, sondern einzig und allein die Realisierung der Freiheit aus Anerkennung verstellt, so daß die Erkenntnis der Freiheit aus Anerkennung auch dann wahr und gültig bleibt, wenn ihr das faktische Handeln und Verhalten der Menschen immer wieder entgegensteht und ihre Realisierung, nicht jedoch ihre Geltung und Wahrheit beeinträchtigt und in bestimmten Fällen verhindert wird.“
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weigert dem Menschen die Anerkennung als freies Subjekt, also die Anerkennung, durch die der Mensch nach christlicher Auffassung definiert ist. Damit aber blockiert er von vornherein die Realisierung dieser Bestimmung, die sich erst dann vollzieht, wenn sich der Mensch seinem eigenen Anerkanntsein gerade nicht verweigert, sondern es anerkennt – und zwar dadurch, dass er andere Menschen in ihrem freien Anderssein anerkennt. Das Christentum birgt so das Wissen um das versöhnte Verhältnis freier Subjekte und Wagner meint durch seine Begründungsbemühungen die Allgemeingültigkeit dieses Wissens nachgewiesen zu haben. „[A]ufgrund der trinitarisch-christologischen Struktur“ könne der Mensch daher wissen, „wie der individuelle und soziale Weltumgang als Frieden realisiert werden kann“75 und dass er dieser Aufgabe gewachsen ist. Eine christliche Sozialethik habe auf Grundlage dieses Wissens „ – und zwar ohne jede Abstriche und Kompromisse – das zu formulieren, was sein soll bzw. nicht sein soll.“76 Weil nun jeder Krieg dem Grundgedanken des Christentums widerspricht, insofern er „die Anerkennung der freien Individuen durch das Töten und Getötetwerden ersetzt“, stünden einer christlichen Sozialethik, die sich nicht selbst widersprechen will, „keine Argumente zur Verfügung, um irgendeine Art von Krieg oder Kriegsvorbereitung zu legitimieren.“77 Wagners Absage gegen jede Form von Gewalt basiert auf dem „normativen Grundsatz“78 des Christentums, der den Menschen als freies Subjekt bestimmt. Dieser Grundsatz stellt die Idee dar, von der die Realität zu unterscheiden ist. Ob die Realität der Idee entgegenstrebt, ob sich der Weltfrieden dem Gottesfrieden annähert, hängt am Menschen. In seiner Perspektive erscheint der normative Grundsatz als Zielbestimmung seines Handelns. Indem der Mensch sein Handeln an ihm ausrichtet, verwirklicht er seine eigene Idee (man könnte auch sagen: sein Wesen) und damit zugleich den göttlichen Geist. Die so verstandene Selbstverwirklichung des Menschen ist nichts anderes als die Realisierung der Menschwerdung Gottes. Allerdings hält Wagner die Spannung zwischen Idee und Realität, zwischen Sollen und Sein für nicht überwindbar. Die Realisierung der Menschwerdung Gottes hat man sich daher als „einen unabgeschlossenen und unbegrenzten Prozeß“79 vorzustellen. Kein innerweltliches Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem manifestiert den göttlichen Geist auf adäquate Weise, so dass in einem Vollsinn von dessen Selbsterfassung die Rede sein könnte. Das bedeutet für den Geist: „Er geht der Selbsterfassung seines Realisiertseins entgegen, ohne es innerhalb der Sphäre des menschlichen Selbst- und Weltumgangs erreichen zu kön75
WAGNER, Erwägungen [WiTh], 451. WAGNER, Friedensfähigkeit [RG], 532. 77 WAGNER, Friedensfähigkeit [RG], 533. 78 WAGNER, Friedensfähigkeit [RG], 535. 79 WAGNER, Friedensfähigkeit [RG], 538. 76
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nen.“80 Die christliche Religion beschreibt ein menschliches Anderssein, in dem sich Gott erfassen kann, und die Theo-Logie übersetzt die Vorstellungen der christlichen Religion in eine dem Inhalt entsprechende Form und rechtfertigt damit ihre Allgemeingültigkeit. Was Religion und Theo-Logie formulieren, ist das Ziel, dem sich der Mensch immer nur annähern, das er aber nie erreichen kann. So gilt zwar, dass das Reich Gottes „hier auf Erden“ und „nicht in einem abstrakten Jenseits“81 zu realisieren ist und dass es der Mensch ist, dem die Aufgabe der Realisierung obliegt. Zugleich gilt aber auch, dass Gottes Reich nicht von dieser Welt ist, sondern allein der Punkt, auf den sie zuläuft. Wagner kann daher auch sagen, dass die christliche Vorstellung von Freiheit „die Funktion einer regulativen Idee übernimmt“82, was eben impliziert, dass sie „ganz außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt“83. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen wird schließlich auch verständlich, warum Wagner die theologische Sozialethik als „Theorie der Ziele des sozialen Wandels“ entwirft.84 Man kann in diesen Ausführungen durchaus ein Plädoyer Wagners für den besonderen Dienst erblicken, den die Religion für das Individuum und seine Umwelt übernimmt.85 Die Religion ist der Ort, an dem die Wahrheit des Menschen zum Thema wird. Dabei liegt es jedoch nicht im Zuständigkeitsbereich der Religion, dieser Wahrheit auch zur Durchsetzung zu verhelfen. Vielmehr wird sie darauf hinweisen, dass der Mensch diese seine Wahrheit ergreifen und auf eigenständige Weise realisieren muss und sie wird zugleich darauf insistieren, dass diese Realisierung immer nur im Modus der Annäherung geschehen kann. Die damit betonte Selbständigkeit der Religion erinnert an die bleibende Unterschiedenheit des Begriffs des Geistes von all seinen weltlichen Manifestationsweisen. Zu einem Ort der Kritik wird Religion immer dann, wenn Individuen und Institutionen die Realisierung ihrer Bestimmung, Manifestationsweisen des Geistes zu sein, dadurch verweigern, dass sie am Prinzip unmittelbarer Selbstbestimmung festhalten.
80 81
WAGNER, Christologie-VL, 391. WAGNER, Reich [RG], 608. Vgl. zur Rede vom Reich Gottes bei Wagner auch ebd.,
620.
82
WAGNER, MM, 188. KANT, KrV, 565. 84 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 391; Hervorhebung MS; vgl. auch die Bemerkung ebd., 379, die Sozialethik thematisiere „die Ziele der Praxis der sozialen Evolution und Entwicklung“. 85 Hier zeigt sich erneut, dass man bei Wagner eine kritische Sicht auf die Religion von einer positiven Religionstheorie unterscheiden muss. Vgl. zu diesem Unterschied Teil 1, bes. das Fazit, und in diesem Teil Kap. III.1. 83
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3. Die Rechtfertigungslehre Ein Grundzug der Theologie Wagners ist, dass sie den Menschen in die Verantwortung nimmt. Das zeigt sich am deutlichsten an der Bedeutung, welche die Sozialethik für Wagners Systemaufbau hat. Dass die Sozialethik kein bloßes Anhängsel, sondern integraler Bestandteil seiner Theorie ist, sollte durch die vorangehenden Ausführungen deutlich geworden sein. Es zeigt sich aber auch in seiner Interpretation der Rechtfertigungslehre, der ich mich jetzt abschließend zuwenden möchte. Dass Wagner überhaupt ein Interesse an der Rechtfertigungslehre äußert, mag zunächst überraschen, insofern sie in seinen Augen auf besonders radikale Weise die Passivität des Menschen betont. Der Mensch kann zu seiner Rechtfertigung nichts beitragen, vielmehr wird er gerecht gesprochen. Dass er gerecht gesprochen wird, hat seinen Grund nicht in irgendeiner aufweisbaren Qualität des Menschen – er ist ganz und gar Sünder –, sondern besagt, dass ihm eine fremde, nämlich Christi Gerechtigkeit zugerechnet wird. Auch der Glaube, durch den der Sünder an der Gerechtigkeit Christi partizipiert, ist eine Gabe, sodass Gott als das einzige Subjekt des Rechtfertigungsgeschehens zu bezeichnen ist. „Die als seine Rechtfertigung vor Gott ausgesagte Anerkennung des Menschen wird von den Vätern der Reformation auf die allmächtige Allwirksamkeit Gottes so zurückgeführt, daß ihr aufseiten des Menschen allein die passive Hinnahme der ‚zugesprochenen‘ Rechtfertigung korrespondieren kann, was zusätzlich durch die Dauerdiskussionen auslösende Figur des ‚unfreien Willens‘ unterstrichen wird.“86 Dass der Mensch die Botschaft von der Rechtfertigung allein um Christi willen als erlösend empfindet, dass er sich dafür öffnet, Gerechtigkeit – oder wie Wagner sagt: Anerkennung – als Geschenk zu begreifen, setzt seine Einsicht in das Scheitern jedes Versuchs der Selbstrechtfertigung voraus; daher weist Wagner darauf hin, dass dem Evangelium die Predigt des Gesetzes vorangehen muss.87 Die Rechtfertigung impliziert ein bestimmtes Freiheitsverständnis, das negativ als Freiheit von der Sorge um sich selbst und positiv als Freiheit für den Dienst am anderen bestimmt werden kann. „Weil der Christ aufgrund der ihm zugesprochenen Gerechtigkeit davon befreit ist, seine Gerechtigkeit durch eigene Leistung und d.h. durch Werke des Gesetzes zu erlangen, ist er zugleich frei, die ihm gestellten Aufgaben in Familie, Gesellschaft und Staat wahrzunehmen.“88 Die Freiheit, die hier in den Blick kommt, ist eine, die geschenkt wird. Die Rechtfertigungslehre scheint damit zugleich ein anderes Modell der Genese von Freiheit auszuschließen. Während Freiheit sich im ersten Fall einem anderen verdankt, bringt sie sich in jenem zweiten Modell selbst hervor – „die so verstandene 86
WAGNER, Reflexionskultur, 33. WAGNER, Gerechtigkeit [RG], 510. 88 WAGNER, Gerechtigkeit [RG], 511; man beachte die Nennung der drei Sphären der Sittlichkeit. 87
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Freiheit ist aus, von und durch sich selbst“89. Mit den Gegensatzpaaren von aktiver und passiver Gerechtigkeit oder Gesetz und Evangelium werden so zwei einander sich ausschließende „Konstitutionsweisen von Freiheit“ 90 beschrieben; der Freiheit als Gabe steht die Freiheit als Selbstbestimmung gegenüber. Man könnte nun auf den Gedanken kommen, die geschenkte Freiheit mit dem christlichen Freiheitsverständnis in eins zu setzen und in dem Konzept der Selbstbestimmung die spezifisch neuzeitliche Vorstellung von Freiheit zu erblicken. Stimmte man dieser Einteilung zu, dann müsste man allerdings die Inkompatibilität von Christentum und Neuzeit behaupten. „Christentum und moderne Welt verhielten sich dann wie ausschließende Gegensätze, wie Tag und Nacht, wie positiv und negativ, Licht und Finsternis.“91 Es sollte klar sein, dass Wagner sich einem solchen Urteil nicht anschließen kann. Um hier zu einer befriedigenderen Lösung (sowohl für die Neuzeit als auch für das Christentum) zu gelangen, stellt er das Recht einer Disjunktion von verdankter und selbstbestimmter Freiheit in Frage. Bei Luther selbst sieht er diese Disjunktion tatsächlich gegeben,92 genau darum erweist sich die Rechtfertigungslehre in ihrer herkömmlichen Gestalt allerdings auch als korrekturbedürftig. Denn Luther könne nicht erklären, wie man sich den Übergang von jener falschen, selbstbestimmenden zur wahren, geschenkten Freiheit eigentlich genau vorzustellen habe. Eine Metapher wie ‚Neuschöpfung‘ sei hier irreführend, „weil es aller Veränderung zum Trotz derselbe Mensch ist, der von der falschen zur wahren Freiheit befreit werden soll.“93 Auf eine solche Kontinuität weise etwa auch die biblische Rede von der Wiedergeburt hin. Wagner schlägt nun vor, Selbstbestimmung und Freiheit als Gabe nicht als zwei einander ablösende Stadien, sondern als ein und denselben Zusammenhang zu betrachten. D.h. Wagner begreift die Freiheit des Menschen durchaus als eine ihm gegebene oder geschenkte Freiheit, die allerdings nur dann „Dasein“ gewinnt, wenn der Mensch sie selbständig realisiert. Diese Realisierung vollzieht sich „in der Hingabe und Entäußerung an die Belange anderer Menschen und durch die Arbeit in gesellschaftlichen Institutionen“94. In dieser Hingabe und Arbeit manifestiert sich ein Allgemeines, dass die Freiheit der Individuen anerkennt, und zwar in dem Sinn anerkennt, dass es für ihre Belange eintritt und es ihnen damit ermöglicht, im anderen bei sich selbst zu sein. Die Freiheit der Individuen gewinnt erst dann äußeres Dasein, wird erst dann wirklich, wenn sich auch ihre Umwelt als eine 89
WAGNER, Gerechtigkeit [RG], 512. WAGNER, Gerechtigkeit [RG], 512. 91 WAGNER, Gerechtigkeit [RG], 515. 92 WAGNER, Gerechtigkeit [RG], 512: „Freiheit aus Selbstbestimmung und Freiheit als Gabe und Geschenk verhalten sich offensichtlich wie Gesetz und Evangelium, Selbstrechtfertigung und passiv empfangene Gerechtigkeit.“ 93 WAGNER, Gerechtigkeit [RG], 513. 94 WAGNER, Gerechtigkeit [RG], 518. 90
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Vierter Teil
solche manifestiert, die Freiheit ermöglicht. Das Evangelium, wie Wagner es auffasst, spricht jedem einzelnen Menschen Freiheit zu. Diese Freiheit bleibt aber nur dann keine bloß zugesprochene, innere oder subjektive Freiheit, wenn sie auf eine Umwelt trifft, die diese Freiheit bejaht. Insofern nun die Menschen einander Umwelt sind, hängt die objektive Wirklichkeit der Freiheit des Einzelnen am Verhalten der anderen. Daher kann Wagner sagen, dass der Mensch nur dann frei ist, wenn „er sich auf andere Menschen, auf die Institutionen in Gesellschaft und Staat einläßt. Das Sich-Einlassen auf anderes ist die Konstitution wie der sich realisierende Vollzug der Freiheit in einem.“95 Die Aussage, dass die Freiheit des Individuums durch Gott konstituiert ist, gewinnt für Wagner nur dann Wirklichkeit, wenn sich der Mensch auf Institutionen hin überschreitet, die ihrer Struktur nach Freiheit ermöglichen. Die neue, christliche Freiheit fällt also nicht einfach vom Himmel, sondern es ist der Mensch selbst, der darüber entscheidet, ob er seine Freiheit im Geiste des Christentums oder zur unmittelbaren Selbstdurchsetzung nutzt,96 man könnte auch sagen: ob er sich realisiert oder verfehlt. Man wird mit Wagner also die Tatsache (den normativen Grundsatz), dass der Mensch frei ist, von der Frage, ob er diese Freiheit auch manifestiert, zu unterscheiden haben.97 Manifestieren wird er seine Freiheit nur dann, wenn er sich auf ein Allgemeines hin überschreitet, das individuelle Freiheit garantiert. Nur wenn der Mensch seine Freiheit so realisiert, dass sie „die Freiheit der anderen einschließt“, entspricht er sich selbst, vollzieht er die „Anerkennung seines Anerkanntseins.“98 Wagner affirmiert die Rechtfertigungslehre also in dem Sinn, dass die Gerechtigkeit des Menschen nichts ist, worüber der Mensch verfügen könnte; sie ist ihm gegeben und er kann sie nicht verlieren. 95
WAGNER, Gerechtigkeit [RG], 519. Statt die Sünde und die Gerechtigkeit des Menschen auf ein ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ zu verteilen, betont Wagner das lutherische ‚simul iustus et peccator‘, das er jedoch im Sinne einer Alternative interpretiert, die sich nur für den Gerechten stellt. Der Mensch ist also immer schon als frei anzusprechen, die Frage ist nur, wie er seine Freiheit gebraucht – es liegt im Bereich menschlicher Selbstbestimmung, ob er sich – seiner Bestimmung entsprechend – als Gerechter oder aber – sie verweigernd – als Sünder manifestiert. „Sein Dasein als Gerechter und Sünder hängt also davon ab, welchen Gebrauch er von seiner Freiheit aus Anerkennung macht, ob er sie in Anerkennung anderer betätigt [und damit als Freiheit aus Anerkennung manifestiert] oder die anderen als Mittel eigener Selbstbehauptung benutzt. Weil das Sein der Person nur in ihrem Tun und in ihren Unterlassungen erscheint und existent ist, oder weil die Person in ihrem realen Dasein nur das ist, was sie tut und unterläßt, entscheidet ihr Tun und Unterlassen über die Präsenz der christlichen Freiheit in der Realität des menschlichen Weltumganges mit“ (WAGNER, Geist [WiTh], 45f.). 97 WAGNER, Geist [WiTh], 45: „Die Person produziert zwar die Faktizität ihres freien Personseins nicht selbst, wohl aber realisiert sie sich als freie Person selbst, insofern sie die ihr zuteil gewordene Freiheit in ihrem Tun und Unterlassen gebraucht oder missbraucht.“ 98 WAGNER, Geist [WiTh], 45. 96
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Ob dieser göttliche Urteilsspruch allerdings Realität gewinnt, hängt einzig und allein am Menschen. Ohne sein Tun gelangt die Freiheit über den Status einer bloßen Zusage nicht hinaus. Für Wagner „gewinnt das Anerkanntsein des freien Menschen nur dann reale Gestalt, wenn der neue Mensch sein Anerkanntsein seinerseits anerkennt und damit zugleich den ihn anerkennenden Gott. Die Anerkennung des eigenen Anerkanntseins bringt aber der Mensch dort zur Darstellung, wo er seine ihm gegebene Freiheit in Anerkennung des Andersseins anderer Menschen vollzieht.“99 Wo nicht gesehen wird, dass die christliche Freiheit um ihrer Wirklichkeit willen der Realisierung durch den Menschen bedarf, da wird sie „auf ein leeres Versprechen“100 reduziert. Wagner sieht eine solche Überbetonung der passiven Seite der Rechtfertigung in seiner Gegenwart gegeben und spricht daher von einem „halbierten Protestantismus“101.
II. Pathologien der Gegenwart II. Pathologien der Gegenwart
1. Überblick Wagner zeichnet in seinen Texten ein ambivalentes Bild der Moderne. So ist es für ihn einerseits zutreffend, wenn der Prozess der Modernisierung mit der Vokabel des Fortschritts beschrieben wird. Gemeint sind dabei nicht nur die technischen Errungenschaften, die dem Menschen das Leben verlängern und erleichtern, gemeint ist auch der Zuwachs an individueller Freiheit, der durch die politischen Revolutionen der Neuzeit erkämpft wurde. So kann Wagner die Behauptung aufstellen, dass die modernen Rechts- und Verfassungsstaa-
99
WAGNER, Geist [WiTh], 44. WAGNER, Christentum [RuG], 268. 101 WAGNER, Christentum [RuG], 268; Hervorhebung MS. Wagner kann die Reformation (und insbesondere die ‚Zwei-Reiche-Lehre‘, vgl. WAGNER, Recht [Lage], 127f.) dafür kritisieren, dass sie sich „auf das innere Dasein der Freiheit“ beschränkt habe (WAGNER, Reflexionskultur, 34). Dieser Kritik entspricht strukturell jene an einem „Dualismus der Entzweiung“, der nach Wagner für das religiöse Bewusstsein kennzeichnend ist: versöhnt wisse sich bloß das Herz, vom wirklichen Weltumgang gelte hingegen, dass er unversöhnt bleibe (vgl. WAGNER, MM, 112f., Zitat 112; S. auch oben Teil 1, Kap. I.2b) Positiv bezieht sich Wagner hingegen auf Luthers „Konzept der Übersetzung der geistlichpersonalen vocatio (Berufung) in die besonderen sozialen Berufe“ (WAGNER, Zukunft [Lage], 64). Dieses Konzept, das der Neuprotestantismus aufgegriffen und weiterentwickelt habe, zeige, dass das protestantische Verständnis von Frömmigkeit dem Begriff vermittelter Selbstbestimmung entspreche; dies gelte allerdings nur dann, wenn „sie [die protestantische Frömmigkeit] das Verhältnis der Freiheit der Person zu der von ihr differenten Sozialität der Intimbeziehungen welchen Institutionalisierungsgrades auch immer […] reflektiert und mitzugestalten sich bemüht“ (ebd.). 100
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Vierter Teil
ten das christliche Prinzip vermittelter Selbstbestimmung verkörpern.102 Für Deutschland gilt etwa, dass die Grundrechte im Grundgesetz „weitgehend so formuliert [sind], daß sie auf die Verhältnisweise der Freiheit als vermittelter Selbstbestimmung und somit auf die Übereinstimmung von besonderer und allgemeiner Freiheit abheben.“103 Wagner interpretiert die Modernisierung also durchaus als ein Geschehen, in dem das Prinzip vermittelter Selbstbestimmung zu seiner Realisierung gelangt. Ganz im Gegensatz dazu stehen jedoch Passagen, in denen er die Moderne als eine Epoche der Gefährdung, ja Ausschaltung eben dieses Prinzips beschreibt. Das, was sich in der Moderne realisiere, sei nicht die Vernunft, sondern der technisch-instrumentelle Verstand. Wagner spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚halbierten Moderne‘, einem Zustand, dessen Zustandekommen er mithilfe von Adornos und Horkheimers ‚Dialektik der Aufklärung‘ erklärt.104 Vor diesem Hintergrund ist die Rede von der halbierten Moderne so zu verstehen, dass mit dem technischen Verstand lediglich ein bestimmter Aspekt der Rationalität zur Durchsetzung gelangt ist bzw. dass ein bestimmter Aspekt von Rationalität mit Rationalität überhaupt gleichgesetzt worden ist. In diesem Sinn beobachten Horkheimer und Adorno eine „Dissoziierung von Vernunft und Moral“ schon während der Aufklärung; die Vernunft wird auf ihre kognitive Funktion reduziert, mit der Folge, „daß von moralischer und ästhetischer Rationalität nicht mehr die Rede sein kann.“105 Auch Wagner erblickt nun die Schwierigkeit der „wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Kultur der Moderne“106 darin, dass sie die Folgeerscheinung einer „Totalisierung“ der Verstandestätigkeit ist.107 Es sei an dieser Stelle nur kurz angedeutet, dass es für Wagner gerade die Gehalte der christlichen Religion sind, die auf verschlüsselte Weise genau jene ethische oder normative Seite der Vernunft bewahrt haben, deren Realisierung in der Gegenwart noch aussteht bzw. immer wieder unterbrochen wird. Wagner ergänzt und illustriert seine nur knappen Ausführungen zur Herrschaft der Verstandeskultur durch die These, dass gegenläufig zu der moderne Gesellschaften kennzeichnenden funktionalen Differenzierung in der Gegenwart eine Tendenz zur Entdifferenzierung zu beobachten ist. Die Logik des Wirtschaftssystems greift, so Wagner, auf die anderen Funktionssysteme 102
Vgl. WAGNER, MM, 16–18 und ebd., 73.187. WAGNER, Recht [Lage], 134. 104 Siehe dazu Teil 2, Kapitel I. 105 HABERMAS, Theorie, 463f. 106 WAGNER, Moderne, 263. 107 WAGNER, Moderne, 264. Vgl. auch WAGNER, Askese, 640. „Zwar gehören zur modernen Aufklärung ebenso das verstandesmäßig-quantifizierende Erkennen wie die Vernunft und ihre Idee des Guten. Aber zur besagten Halbierung der Aufklärung kommt es deshalb, weil der technisch-quantifizierende Verstand die Vernunft und ihre Sollensprinzipien einseitig dominiert und zurückdrängt.“ 103
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über (ein Vorgang, den er im Anschluss an Habermas auch als Kolonialisierung bezeichnen kann) und stellt – trotz der behaupteten Trennung von sozialen und psychischen Systemen – auch die Autonomie der Individuen in Frage. Diese Dominanz des Wirtschaftssystems bezeichnet Wagner als Geldpantheismus. Der Begriff des Geldpantheismus zeigt an, dass Wagner in gewisser Hinsicht eine These affirmiert, die auch Adorno und Horkheimer vertreten, nämlich die These vom Ende des Individuums in der modernen Gesellschaft. Er pflichtet den Autoren der Dialektik der Aufklärung auch darin bei, dass die Ursache sowohl für den Siegeszug der Zweckrationalität als auch für die Allgegenwart der Geldlogik im „Prinzip von Selbsterhaltung und unmittelbarer Selbstbestimmung“ zu suchen ist.108 Interessanterweise finden sich bei Wagner nun auch Bemerkungen, die der Rede vom Untergang des Individuums zu widersprechen scheinen. Es sei keineswegs die Eigenart der Moderne, in ihrem Fortschreiten den Individuen ihre Individualität zu rauben, es sei im Gegenteil gerade angemessener, den „Modernisierungsprozess so [zu] beschreiben, daß sich zusammen mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ein sich steigerndes Individualitätsbewußtsein ausbildet.“109 Diese von Luhmann bestimmte Beobachtung verknüpft Wagner mit der Gegenwartsdiagnose von Panjotis Kondylis, der die Postmoderne auf den Begriff der Massendemokratie bringt, für die wiederum das Ideal individueller Selbstverwirklichung kennzeichnend sei.110 Im Zentrum dieser zweiten an Luhmann und Kondylis orientierten Lesart der Moderne steht die Rede von einer „an Selbstverwirklichungsansprüchen orientierte[n] Individualitätskultur“111, die Wagner sogleich an seine These von der Entstehung „einer zweiten Religionskultur außerhalb des kirchlichen Christentums“112 koppelt. Bei Wagner finden sich also zwei einander spannungsvoll gegenüberstehende Sichtweisen auf die Moderne. Während die eine mit Begriffen wie Identitätszwang und Gleichschaltung operiert, redet die andere von Pluralisierung, Differenzierung und Individualisierung. Wagner entwirft seine späte Religionstheorie nun so, dass er sie auf beide Sichtweisen gleichermaßen bezieht. Denn der Religion kommt die Aufgabe zu, „den von der dominanten Ökonomie und dem Geldmechanismus ausgehenden Entdifferenzierungstendenzen ebenso entgegenzuwirken wie den individuellen Enttäuschungen, die aus nicht realisierbaren, weil übersteigerten 108
WAGNER, Lage [Lage], 22. Mit Blick auf die Durchsetzung der Verstandeskultur bemerkt Wagner: „Das dem Zwang der Selbsterhaltung verpflichtete Subjekt hat die Vernunft instrumentalisiert und durch das Herrschaftswissen des technischen Verstandes ersetzt“ (ebd., 21). Gleiches gilt für die Wirtschaft: „Diesem Prinzip [der Selbsterhaltung] folgt auch das Tauschprinzip der kapitalistischen Industrieproduktion“ (ebd., 22). 109 WAGNER, Lage [Lage], 23; Hervorhebung MS. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 WAGNER, Lage [Lage], 25; Hervorhebung MS.
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Selbstverwirklichungsansprüchen resultieren können.“113 Während die weitere Ausführung dieser Religionstheorie Thema des nächsten Kapitels sein wird, soll es jetzt darum gehen, die beiden Aspekte näher zu betrachten, die nach Wagner der Gegenwart ihr ambivalentes Gepräge verleihen.114 2. Individualisierung a) Luhmann Neben Adorno ist es vor allem Niklas Luhmann, an dessen Überlegungen Wagner anknüpft, wenn er die Stellung des Individuums in der modernen Gesellschaft zu beschreiben sucht. Im Gegensatz zu Adorno geht Luhmann nicht davon aus, das die Verfassung der modernen Gesellschaft für die Individualität des Menschen zur Bedrohung wird. Luhmann ist in seiner Beschreibung nüchterner: Individualität verschwindet nicht, sie ändert sich bloß. Im Hintergrund steht die These, dass die Art der Individualität mit der Differenzierungsform einer Gesellschaft zusammenhängt. Individualität ist demnach nicht einmal ein spezifisch neuzeitliches Phänomen, wohl aber bildet sich mit der Umstellung auf eine funktionale Differenzierung der Gesellschaft ein völlig neues „Prinzip der Individualisierung“115 aus. Auch vormoderne Gesellschaften kannten den Wert des Einzelnen, er erlangte ihn 113
WAGNER, Marktwirtschaft, 54. Dass ich Wagners Bild der Moderne auf diese zwei Aspekte zuspitze, verdankt sich nicht zuletzt einer Unterscheidung, die Markus Schroer getroffen hat (vgl. Schroer, Individuum). Er unterscheidet eine negative Individualisierung, die er bei Weber, Adorno und Foucault ausmacht, von einer positiven Individualisierung, die er anhand der Schriften Durkheims, Parsons und Luhmanns rekonstruiert. Während im ersten Fall die Modernisierungsprozesse die Freiheit des Individuums bedrohen, beschreiben sie im zweiten Fall eine Befreiung des Individuums aus vorgegebenen Bindungen. Diese Entfesselung des Individuums kann nun selbst wiederum bedrohliche Züge annehmen, sodass Schroer dem gefährdeten Individuum der ersten Linie ein gefährliches Individuum gegenüberstellt. Katrin Mette geht in ihrer Auseinandersetzung mit Wagners Kulturkritik davon aus, dass es drei Merkmale sind, die Wagners Bild der Moderne vor allem prägen: erstens das „Prinzip der Konkurrenz“, zweitens die Dominanz der Geldlogik und drittens die „Selbstverzwecklichung institutionellen Handelns“. Während ich das Prinzip der Konkurrenz im ersten Teil dieser Arbeit dargestellt habe (s.o. S. 64ff.) und das institutionelle Handeln Thema des zweiten Teils war (s.o. S. 113ff.), ließe sich im Anschluss an die Terminologie von Schroer nun auch formulieren, dass der erste Teil das gefährliche, der zweite hingegen das gefährdete Individuum ins Zentrum stellt. Die beiden Aspekte der Moderne würden dann Motive aufgreifen, die auch in Wagners Darstellung der Religionstheologie bzw. der Wort-Gottes-Theologie zu finden sind. So lässt sich das Prinzip der Konkurrenz dem Pluralismus zuordnen, den Wagner im Anschluss an Kondylis als die eine Seite der Moderne geltend macht. Andererseits kann er Barths Theologie und die Dominanz des Wirtschaftssystems gleichermaßen unter das Label der Entdifferenzierung oder des Pantheismus fassen, welches die andere Seite der Moderne beschreibt. 115 LUHMANN, Individuum, 156. 114
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dadurch, dass die Gesellschaft ihn einem bestimmten Teilsystem zuwies. Wie bereits gesehen, gab die Schicht, zu der er gehörte, dem Menschen seine Identität.116 Es galt der Grundsatz, dass „man als Mitglied einer Gesellschaft Individuum war“117, was zur Folge hatte, dass dem Fremden keine Individualität zukam – er war ein niemand. Individualisierung vollzog sich also durch „soziale Inklusion“118; und genau dieses Prinzip ist es, das in funktional differenzierten Gesellschaften nicht mehr greifen kann. Die gesellschaftlichen Teilsysteme können nicht länger identitätsstiftend wirken, sie können den Einzelnen nicht länger ‚definieren‘, weil seine Zuordnung zu genau einem Teilsystem nicht weiter möglich ist. War man zuvor entweder Bauer oder Adeliger, so ist es heute nicht gleichermaßen möglich, ausschließlich eine politische oder juristische Existenz zu führen, sondern man partizipiert auch als Jurist am Wirtschafts- oder Gesundheitssystem (bzw. sollte an ihnen partizipieren können); das Individuum gliedert sich in eine Vielzahl von Existenzen auf und führt in diesem Sinn eine „Mischexistenz“119. Das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft ändert sich dergestalt, dass das Individuum nicht länger in der Gesellschaft vorkommt; in keinem Teilsystem ist es ‚als Ganzes‘ zuhause.120 Weil die Teilsysteme den Einzelnen stets nur unter funktionsrelevanten Aspekten in den Blick nehmen, ist das Individuum als solches aus der Gesellschaft ausgeschlossen.121 Der Einzelne kann daher, so Luhmann, „nur außerhalb der Gesellschaft leben, nur als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft sich reproduzieren, wobei für ihn die Gesellschaft eine dazu notwendige Umwelt ist. Das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden.“122 War es bislang die Gesellschaft, die den Menschen individualisierte, ihm eine eindeutige Identität gab, so fällt diese Aufgabe in der modernen Gesellschaft auf den Einzelnen selbst zurück. „Die Ich-Identität der Person wird damit konsequenterweise zunehmend das Ergebnis einer spezifischen Eigenleistung des Individuums.“123 Individualität wird, so könnte man auch sagen, zur An-
116 S.o. S. 72. „Die Identität der Person beruht in diesem Sinne auf ihrem ‚Stand‘ – also direkt auf dem Prinzip sozialer Differenzierung“ (Luhmann, zitiert nach KNEER/NASSEHI, Theorie, 158). 117 LUHMANN, Individuum, 159. 118 LUHMANN, Individuum, 156; Hervorhebung MS. 119 KNEER/NASSEHI, Theorie, 159; im Original kursiv. 120 War das Individuum bisher der Bekannte, so ist es nun gerade der für die Gesellschaft Fremde, vgl. LUHMANN, Individuum, 158f. 121 Vgl. SCHROER, Individuum, 246f. 122 LUHMANN, Individuum, 158. 123 KNEER/NASSEHI, Theorie, 160. Vgl. LUHMANN, Individuum, 247: Die „Aufgliederung der Gesellschaft nach Funktionsbereichen entspricht die Anforderung an das Individuum sich selbst zu individualisieren.“
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gelegenheit der Individuen.124 Entsprechend behandelt Luhmann nicht nur die sozialen, sondern auch die psychischen Systeme als autopoietische Systeme. Den ihrer je eigenen Logik folgenden sozialen Systemen steht das autonome Individuum gegenüber. Wird das menschliche Bewusstsein als psychisches System betrachtet, dann kann es nicht länger der Schöpfer seiner Welt sein (und in dem Sinn ist Luhmanns Theorie ‚antihumanistisch‘), umgekehrt impliziert die Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen aber auch, dass das Individuum nicht länger durch die Gesellschaft bestimmt ist, sondern ihr autonom gegenübersteht. Und in dem Sinn bedeutet die Versetzung in die Umwelt der Gesellschaft für die Individuen ein Zugewinn an Freiheit.125 Die für die Moderne signifikante Art der Individualität ist die der Autonomie.126 Vor diesem Hintergrund ist Wagners Aussage zu verstehen, dass erst mit dem Umbruch zur Moderne – und zwar im Zusammenhang mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft – eine „eigenständige[] Individualität“ entstanden ist.127 Dass Individualität nicht mehr gegeben, sondern dem Einzelnen zur Aufgabe wird, äußert sich laut Wagner im Anspruch des Einzelnen auf Selbstverwirklichung. Seine objektive Gestalt findet dieser Anspruch in einer Individualitätskultur „außerhalb der sozialen Funktionssysteme der Gesellschaft“128, die Wagner mit der Freizeit- und Urlaubskultur gleichsetzt. Ist die Individualitätskultur der Ort, an dem sich das Individuum selbst zum Thema macht, so scheint darin eine gewisse Nähe zur Religion zu bestehen. Denn es war ja die Einsicht der Religionstheologie gewesen, dass es in der Religion um die „Selbstthematisierung menschlicher Individualität“ geht.129 So kann Wagner denn an einer Stelle auch vermerken, dass die Religion Teil der Freizeitsphäre sei, „innerhalb deren sie den Interessen der Individuen als Individuen dient.“130 Für seine eigene Gegenwart beobachtet Wagner nun, dass „seit ca. 20 Jahren“131 außerhalb des kirchlichen Christentums eine, wie er es nennt, zweite Religionskultur entstanden ist. Dieses in Wag124
Vgl. LUHMANN, Individuum, 229. Vgl. SCHROER, Individuum, 234f. 126 Insofern ist Autonomie des Individuums hinsichtlich seiner Individualität auch nichts, was eingefordert werden könnte. Sie ist unter der Bedingung einer funktional differenzierten Gesellschaft schlicht gegeben: „Die Autonomie seiner Individualität kann dem Individuum weder konzediert noch zugestanden werden. Sie ist die Form seiner Existenz“ (LUHMANN, Individuum, 230). 127 WAGNER, Zweideutigkeit, 148; Hervorhebung MS. Vgl. WAGNER, Lage [Lage], 23. 128 WAGNER, Zweideutigkeit, 148. 129 WAGNER, MM, 38; aufgrund ihrer Fokussierung auf den Einzelnen gehört die Religion, wie sie die Religionstheologie interpretiert, für Wagner „zu den Wegbereitern der modernen Individualitätskultur“ (ebd., 170, vgl. auch 177). Vgl. dazu insgesamt den ersten Teil dieser Arbeit. 130 WAGNER, Marktwirtschaft, 53. 131 WAGNER, Lage [Lage], 24. 125
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ners Darstellung einigermaßen diffuse Gebilde umfasst „Neuaufbrüche spirituell-mystischer, okkult-esoterisch-theosophischer und meditativ-psychohygienischer Art“132; ihnen allen ist gemeinsam, dass sich in ihnen die Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche des singulären Subjekts äußern. Wagner registriert eine zunehmende Entfremdung, ein „Auseinanderdriften“ 133 des kirchlich verfassten Christentums und der relativ jungen Religionskultur der Individuen. Dass die christlichen Kirchen der Wiederkehr der Religion – die immerhin auch für Wagner überraschend ist – nur mit Ratlosigkeit begegnen,134 ja, dass sie das Wachstum außerkirchlicher Religionskulturen sogar begünstigt und damit dazu beigetragen haben, „daß die institutionalisierten Konfessionskirchen des Christentums zum ersten Mal seit der Spätantike wiederum mit der Anwesenheit pluraler Religionskulturen konfrontiert sind,“135 hat seinen Grund darin, dass sich innerhalb der Kirchen die WortGottes-Theologie als „Mainstream-Theologie“136 durchgesetzt hat. Das Problem der Wort-Gottes-Theologie besteht in seiner Konzentration auf das glaubende Subjekt, das vom religiösen Subjekt unterschieden wird.137 Wie gesehen, kennt zwar auch die Barthsche Theologie ein religiöses Subjekt, welches allerdings eine Art ideales Individuum, losgelöst von allen Weltbezügen darstellt. Als solches ist es gewissermaßen unempfindlich gegenüber den Problemen konkreter Individualität. Gerade letztere ist es jedoch, die sich in jener zweiten Religionskultur, also außerhalb der christlichen Kirchen, Ausdruck verschafft. Denn in der Religion thematisiert sich das Individuum, jedoch stets als das konkrete, in eine Welt eingebundene Individuum. Es ist, so Wagner, gerade die „spezifische Verfaßtheit des religiösen Bewußtseins, als Individuum zugleich auf seine soziokulturelle Umwelt bezogen zu sein“138. Die zweite Religionskultur ist für Wagner daher eine Art Seismograph für die Erfahrungen, die das dem Anspruch nach freie Individuum in dieser Welt macht. In ihr äußert sich die Sehnsucht nach einer autonomen Lebensführung, deren Verwirklichung angesichts der gegenwärtigen Struktur der soziokulturellen Umwelt nur schwer möglich scheint. Denn die sozialen Systeme folgen ihrer je eigenen Logik, die sie „ohne Rücksicht auf die Individualität der Individuen durchsetzen.“139 Aber auch die Urlaubs- und Freizeitkultur lässt den Aufbau eigenständiger Individualität nicht zu, weil sie längst von der 132 WAGNER, MM, 169. Die Beschreibung dieser neureligiösen Bewegungen variiert bei Wagner. 133 WAGNER, Synkretismus, 86. 134 WAGNER, Zweideutigkeit, 147. 135 WAGNER, MM, 67. 136 Ebd., 66. Vgl. WAGNER, Zweideutigkeit, 145. 137 Es gibt bei Wagner daher eine negative Lesart und eine positive Lesart des religiösen Bewusstseins. 138 WAGNER, MM, 169. 139 WAGNER, Zweideutigkeit, 149.
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Logik des Wirtschaftssystems erfasst worden ist. Die Ansprüche auf Selbstverwirklichung werden daher immer wieder enttäuscht, es entsteht ein „Erwartungsüberschuß“140, der, weil er die gesellschaftlichen Grenzen nicht zu überwinden vermag, sich an anderer Stelle Luft macht. Die zweite Religionskultur ist nun, so lautet Wagners These, das Resultat einer solchen „Verlagerung der individuellen Erwartungsüberschüsse.“ 141 In den religiösen Bewegungen der Gegenwart erklingt demnach die Stimme der Freiheit, einer Freiheit allerdings, die in dieser Welt keinen Ort hat, die sich angesichts der aktuellen Situation nicht zu verwirklichen weiß. Darum „enthalten die neureligiösen Aufbrüche auch ein Protestmoment gegen den durch ökonomische und rechtlich-politische Mechanismen geregelten und eingeengten soziokulturellen Weltumgang der Individuen“142. Wagner stimmt also mit Luhmann darin überein, dass sowohl die Individuen als auch ihre gesellschaftliche Umwelt als autonom zu betrachten sind. Wo die Trennung von psychischen und sozialen Systemen allerdings so gelesen wird, dass der Anspruch der Individuen auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung illusionär zu werden droht, und wo übersehen wird, dass „aufgrund der überdehnten Mechanismen der sozialen Systeme“143 immer auch eine Gefährdung individueller Freiheit besteht, dort ist für Wagner eine Kritik dieser Theorie erforderlich. b) Kondylis Das Bild, das Wagner von seiner eigenen Gegenwart entwirft, weist Einflüsse noch eines weiteren Autors auf: Panajotis Kondylis.144 Wichtig ist für Wagner dessen Unterscheidung zwischen einem vergangenen bürgerlichen und einem die heutige Gesellschaft dominierenden demokratischen Liberalismus. Während jener zwar auch die Gleichheit aller Menschen propagiert, zugleich aber bestimmte durch Herkunft und Besitz markierte Grenzen nicht hinterfragt, hebt dieser solche vermeintlich naturgegebenen Gruppen- oder Klassenbildungen auf. Der demokratische Liberalismus, dessen Gesellschaftsform Kondylis als Massendemokratie bezeichnet, kennt keine den Einzelnen umgreifende Ordnung mehr, die jedem seinen Platz zuweist, keine Ordnung, die Menschen trennt, aber auch keine, die sie verbindet. Die Folge ist die „Atomisierung der Gesellschaft“145. Die Massendemokratie – ein Wort, das die Gleichstellung aller ebenso widerspiegelt wie das Verblassen qualitativer Bestimmungen146 – hat nach Kondylis die Massenproduktion der westlichen 140
WAGNER, Zweideutigkeit, 148. WAGNER, Zweideutigkeit, 149. 142 WAGNER, Zweideutigkeit, 149. 143 WAGNER, Zweideutigkeit, 149. 144 Vgl. zum Folgenden: KONDYLIS, Niedergang, 3–19.167–226. 145 KONDYLIS, Niedergang, 192. 146 KONDYLIS, Niedergang, 225. 141
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Industrienationen zur Voraussetzung. Die Massenproduktion verlangt nach einer Steigerung der Absatzmöglichkeiten, sie fordert den Massenkonsum. Die Aufwertung des Einzelnen, seine Würde, ergibt sich dann daraus, potentieller Konsument zu sein. Das Leben in der Massendemokratie ist ein Leben im Überfluss; herrschten in der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund von Güterknappheit noch „Selbstdisziplinierungswerte“ vor, dreht sich nun alles um „Selbstentfaltungswerte“, die „individuelle Selbstverwirklichung“ ist das oberste Ziel des demokratischen Liberalismus.147 An die Stelle des asketischen Lebensstils, der für die bürgerliche Moderne signifikant ist, tritt der Hedonismus der massendemokratischen Postmoderne. Die Regeln, die die bürgerliche Welt normieren, werden durch einen „Wertpluralismus“148 ersetzt; ideelle werden wie materielle Güter zu Waren, die der Einzelne zum Zweck des Aufbaus einer individuellen Identität konsumiert. Die letzte und einzige Einheit der Massendemokratie ist der vereinzelte Genussmensch, die Konsummonade, die sich in freier Kombination ihre eigene Welt errichtet: „Indem sich der Einzelne mit allen möglichen Geräten ausstatten und sich allein versorgen, informieren, amüsieren und bewegen kann, wird er selbständiger und benötigt den Kontakt mit anderen immer weniger oder zumindest kann er ihn leichter entbehren. Er hat die Möglichkeit, sich eine vollständige kleine Welt in der eigenen Wohnung einzurichten und sich ansonsten auf jenes Minimum an menschlichen Bindungen zu beschränken, das beruflich und sozial notwendig erscheint. Die Reduktion der Gesellschaft auf Atome muß daher in dem Maße gedeihen, wie sich jedes dieser Atome mit Hilfe der von ihm jeweils bevorzugten Konsumgüter seine persönliche kleine Burg bauen kann und darf.“149
Kondylis führt die Unterscheidung von Moderne und Postmoderne letztlich auf zwei gegensätzliche Denkfiguren zurück. Für die bürgerliche Moderne ist eine synthetisch-harmonisierende Denkfigur leitend, ihr gegenüber steht die analytisch-kombinatorische Denkfigur der massendemokratischen Postmoderne. Was letzterer fehlt, ist die Idee eines Ganzen, es gibt allein „prinzipiell gleichwertige“ Elemente, die sich miteinander kombinieren lassen, ohne dass es einen „ontologischen Hintergrund“ gäbe, „der den Vorrang bestimmter Kombinationen vor anderen sicherstellen würde.“150 Wagner bindet Kondylis’ Konzept der Massendemokratie nun auf zweierlei Weise in seine Theorie ein. Einmal kommt für ihn in der oben beschriebenen zweiten Religionskultur auch der radikalisierte Individualismus der Massendemokratie zum Ausdruck. Auch religiöse Gehalte werden zu beliebig kombinierbaren Waren, die der Einzelne zum Zwecke seiner Selbstverwirklichung konsumiert, was erklärt, weshalb sich die Religionskultur keiner bestimmten Religion zuordnen lässt, sondern eine synkretistische Erscheinung 147
KONDYLIS, Niedergang, 209. KONDYLIS, Niedergang, 220. 149 KONDYLIS, Niedergang, 193. 150 KONDYLIS, Niedergang, 16. 148
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darstellt.151 Zweitens greift er die Unterscheidung der beiden Denkfiguren auf, um innerhalb des Pluralismus, der für die Neuzeit insgesamt konstitutiv ist, noch einmal eine Radikalisierung zu behaupten, die er als den Übergang von einem unizentrischen zu einem multizentrischen Pluralismus beschreibt.152 Als Beispiel für den unizentrischen Pluralismus führt Wagner die positionelle Theologie an. Auch diese stellt eine in sich plurale Größe dar, die verschiedenen Religionstheologien sind aber auf eine gemeinsame Mitte bezogen: alle beanspruchen, das christlich-religiöse Bewusstsein zum Gegenstand zu haben, nur deshalb können sie überhaupt zueinander in Konkurrenz treten. Ein solches Zentrum kann Wagner in der theologischen Situation seiner Zeit nicht mehr erkennen (wenngleich er der Wort-Gottes-Theologie eine gewisse Vorrangstellung einräumt).153 Dass sich die Theologie nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt, hat Folgen für den Umgang mit der christlichen Gehalten: ihnen fehlt nun jede „eigenwertige Selbständigkeit, die unabhängig von ihrer jeweiligen perspektivischen Bedeutsamkeit ein für allemal feststünde.“154 Die Folge ist eine im Prinzip gleichgültige Offenheit der christlichen Gehalte für unterschiedlichste Deutungen.155 Unter den Bedingungen des multizentrischen Pluralismus wird das Problem der Religionstheologie, die Selbständigkeit der Gehalte zu bewahren, noch einmal verschärft. Die Aufhebung des Unterschieds zwischen Glaube und Aberglaube scheint sich endgültig durchgesetzt zu haben: „Den ebenso entsubstantialisierten wie perspektivisch gedeuteten Vorstellungsgehalten kommt als funktionalen Konstrukten keine ontisch-ontologische Selbständigkeit zu, so daß die Grenze zum Fiktiven hin durchlässig wird.“156 3. „Die Hölle auf Erden“ – Wagners Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem Michael Murrmann-Kahl hat darauf hingewiesen, dass die Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem bei Wagner ein bleibendes Motiv „von den Anfängen bis zu den letzten Artikeln“ bildet.157 Diese Kontinuität spiegele die Bedeutung wider, die das Thema für Wagners Theologie überhaupt habe: „Man darf in dieser Intention der durchgängigen Kritik am dominanten Wirt151
Vgl. WAGNER, Synkretismus, 84–87; DERS., MM, 174f. Vgl. WAGNER, Pluralismus, 156ff. 153 Vgl. WAGNER, Pluralismus, 159. Vgl. auch DERS., GoG, 132–134. 154 WAGNER, Synkretismus, 92. 155 Zum Zusammenhang des multizentrischen (auch: multiperspektivischen) Pluralismus mit der von Wagner festgestellten momentanen „Karriere des Deutungsbegriffs“ vgl. WAGNER, MM, 175f. (Zitat 176); DERS., Pluralismus, 160f. 156 WAGNER, Synkretismus, 93. 157 MURRMANN-KAHL, Komplexität, 170. Vgl. zum folgenden Abschnitt auch WEBERBERG, Kulturbedeutung, 169–213. 152
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schaftssystem in allen personalen und sozialen Sachverhalten im Dienste vermittelter Freiheit den sozialethischen Motor der ganzen Freiheitsdiskussion Wagners erblicken, die auch noch die entlegensten christologischen Argumente Wagners mitbestimmt.“158 Den Ansatzpunkt für eine sozialethische Beurteilung des Wirtschaftssystems bietet die Tatsache, dass auch hier Verhältnisse thematisch werden, die daraufhin befragt werden können, welches Verständnis von Freiheit sie jeweils realisieren. Wagner kommt zu dem Urteil, dass die für das Wirtschaftssystem signifikanten Verhältnisse grundsätzlich asymmetrisch verfasst sind. Der Grund dafür besteht darin, dass diese Verhältnisse stets von dem besonderen Interesse der Unternehmen dominiert werden. Unternehmen verfolgen nach Wagner nur ein einziges Ziel: sie wollen ihren Gewinn steigern.159 Diese besondere Zielsetzung der Unternehmen wird dem allgemeinen oder gesamtgesellschaftlichen Zweck der Wirtschaft, der Bedürfnisbefriedigung, übergeordnet. Die Asymmetrie oder der Widerspruch zwischen besonderem und allgemeinem Interesse ist der kapitalistischen Produktionsweise notwendig eingeschrieben.160 Sie zeigt sich auch dann, wenn man das Verhältnis der Institutionen zu den Individuen in den Blick nimmt, das Wagner im Bereich der Wirtschaft als die Beziehung der Unternehmen zu den einzelnen Haushalten beschreibt.161 Die Haushalte konsumieren Waren, die sowohl einen Gebrauchswert als auch einen Tauschwert haben, die Lebens- und Tauschmittel zugleich sind. In der „Doppelschlächtigkeit der Ware“162 (Marx) sind die beiden Pole des Wirtschaftssystems, die unternehmerische Zielsetzung der Gewinnmaximierung und der gesellschaftliche Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung aufgehoben. Fragt man jedoch, zu welchem Zweck unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen Waren hergestellt werden, so zeigt sich auch hier die Dominanz der besonderen über die allgemeine Seite, und zwar dergestalt, „daß die Tauschmittelfunktion der Ware deren Funktion als Lebensmittel präformiert.“163 Anders gesagt, die Belange der Individuen (hier in ihrer Rolle als Konsumenten) sind für die Warenproduktion unerheblich, sie sind, so Wagner, einseitig abhängig von den Entscheidungen der Unternehmen.164 Ob diese Diagnose zutrifft, braucht
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MURRMANN-KAHL, Komplexität, 170. Vgl. WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 484. 160 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 494.Vgl. auch WAGNER, Geld [RG], 586. 161 Vgl. WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 488ff. 162 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 489. 163 Ebd. 164 Die Unternehmen nehmen die Belange der Individuen zwar zur Kenntnis, jedoch bloß „nach Wertsteigerungsgesichtspunkten“ (WAGNER, Marktwirtschaft, 60). Vgl. auch WAGNER, Askese [RG], 629. In diesem Zusammenhang kritisiert Wagner auch die Rede von der ‚Marktwirtschaft‘. Sie droht die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu verschleiern, deren letzter Zweck die Gewinnsteigerung ist; der Markt übernimmt, indem er 159
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Vierter Teil
hier nicht diskutiert zu werden. Denkt man aber z.B. an die gegenwärtige Smartphone-Industrie, so kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass das Werbegewitter, das auch kleinste Änderungen hinsichtlich des Gebrauchswerts eines Produkts scheinbar zwingend begleiten muss, seine Reduktion auf ein bloßes Tauschmittel übertönen soll. Zumindest in diesem Sektor scheint Wagners Einschätzung nach wie vor aktuell zu sein: „Durch die von den einzelnen Konsumenten kaum noch überschaubare Vielfalt der Waren gleicher Gebrauchswertbestimmung werden diese um so mehr auf ihre Tauschmittelfunktion reduziert: Die als Spezialisierung der Gebrauchswerte erscheinende Vielfalt der Waren verschleiert ihre Entspezifizierung als Tauschmittel, da die als Oberflächenphänomen auftretende Spezialisierung nur dazu dient, die immer gleiche und sich gleichbleibende Tauschmittelfunktion um so wirksamer durchzusetzen.“165 Weder die Wirtschafts- noch die Sozialwissenschaften166 interessieren sich nach Wagner für die Frage, warum es überhaupt möglich ist, dass Güter und Arbeit gegen Geld getauscht werden können. Sie fragen nicht, wieso Güter einen Tauschwert haben, setzen ihn vielmehr als eine quasi natürliche Eigenschaft der Güter voraus. Eine Antwort bietet die Marxsche Werttheorie, die darum für Wagner „in ihrer Grundintention nicht als überholt zu betrachten“ ist. „Denn wie sollte die Volkswirtschaftslehre etwas überholt haben, was sie schlicht übergeht?“167 Waren, so Wagner im Anschluss an Marx, verdanken ihren Wert gesellschaftlicher Arbeit. Dass Güter nur aufgrund menschlicher Arbeit tauschbar sind, ist in Vergessenheit geraten, es hat nunmehr den Anschein, dass der Tauschwert eine Eigenschaft der Dinge selbst ist. Als Ware teilen Güter und Arbeit die Eigenschaft, tauschbar zu sein. Das Problem im kapitalistischen Wirtschaftssystem besteht nun darin, dass die Dinge auf ihre Tauschbarkeit reduziert werden. Unerheblich, welche Eigenschaften die Dinge sonst noch haben mögen, sie werden allein unter dem Aspekt der Verwertbarkeit betrachtet. Für die Logik des Geldes sind die Dinge lediglich als Waren interessant. Diese Logik greift jedoch über das Wirtschaftssystem hinaus; die Folge ist ein „Weltzustand, innerhalb dessen der individuelle und soziale Weltumgang der Sachen und Personen zu einem Umgang mit geldbestimmten Warenkörpern wird, die qualitativ alle gleich und nur quantitativ entsprechend der in sie eingegangenen Arbeitsmenge unterscheidbar sind.“168 Das Geld, das eigentlich dem Austausch der Güter dienen soll, ist zum Selbst-
die Nachfrage nach bestimmten Gütern ermittelt, lediglich eine Dienstfunktion. Vgl. WAGNER, Marktwirtschaft, 60–62; DERS., Rahmenbedingungen [WiTh], 491ff. 165 WAGNER, Rahmenbedingungen [WiTh], 490. Vgl. auch Wagners Ausführungen zum „Schein des Neuen“ in: DERS., GoG, 88f. 166 Vgl. WAGNER, GoG, 18–35; DERS., Geld [RG], 558–564. 167 WAGNER, GoG, 46. 168 WAGNER, GoG, 59.
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zweck geworden; die Güter dienen nun dem Funktionieren des Geldes.169 Für das Funktionieren des Geldes sind die Eigenschaften der Dinge unwichtig, entscheidend ist allein, ob sie einen Tauschwert haben. Wird Geld zur „alles bestimmenden Wirklichkeit“170, dann verlieren die Dinge ihr eigenständiges Anderssein: „alles wird um der Durchsetzung und Verwertung des Geldes willen auf seine Tauschabstraktion reduziert, die jeder zum Mittel gewordene Inhalt mit jedem anderen Inhalt teilt.“171 Dass auch die Religion der Verwertungslogik zum Opfer fällt, zeigt sich für Wagner z.B. am gesellschaftlichen Umgang mit den christlichen Feiertagen. Diese dienten mittlerweile als „Konsumsteigerungsveranstaltungen“172 und würden in Supermärkten und Einkaufsstraßen schon weit vor ihrem eigentlichen Datum in Szene gesetzt, wobei christliche Symbole – so ließe sich im Sinne Wagners ergänzen –, die mit den Anlässen zwar verbunden sind, den Zweck der Gewinnoptimierung aber behindern könnten, nicht weiter rezipiert werden. Entscheidend ist: wenn alles, Sachen und Personen, die Natur und die kulturellen Erzeugnisse, gleichermaßen bloß noch Mittel der Gewinnsteigerung ist, dann fehlt dem rein quantitativen Wachstumsprinzip jedes Maß und jede Grenze. Die Folgen sind eine zunehmende Zerstörung der Umwelt und eine „dauernd wachsende Kluft zwischen Reichtum und Armut“173. Wagner geht zudem davon aus, dass die „Omnipräsenz des Geldes“174 auch das Denken des Menschen prägt; der durch das Geld bestimmte objektive Weltzustand zieht eine entsprechende Änderung auf subjektiver Seite nach sich. Auf dieser „Geldstufe des Bewußtseins“175 passiert es nun, dass Inhalte des menschlichen Geistes ebenfalls wie Waren betrachtet werden. Auch der Umgang mit menschlichen Gedanken geschieht dann unter dem leitenden Gesichtspunkt ihrer Verwertbarkeit. Wagner spricht in diesem Fall von „verabsolutierter Kommunikation“176. Dass sich die Kommunikation verabsolutiert hat, versteht Wagner wörtlich: Die Kommunikation der Gehalte geschieht losgelöst von der „Frage nach der Konstitution, d.h. nach der Begründung und Legitimation dieser Inhalte“177. Die Inhalte werden auf ihren Für169 Vgl. WAGNER, Geld [RG], 562f.580f. Mit ‚Funktionieren des Geldes‘ ist hier gemeint, dass es sich verwertet, also durch Kauf und Verkauf einen Mehrwert bildet. Zur Theorie der Mehrwertbildung bei Marx vgl. HEINRICH, Kritik, 83ff.; WAGNER, GoG, 54ff. 170 WAGNER, Geld [RG], 580. 171 Ebd. 172 WAGNER, Klauen, 194. 173 WAGNER, Askese [RG], 638. 174 WAGNER, Geld [RG], 562. 175 WAGNER, Geld [RG], 565. 176 WAGNER, Geld [RG], 565: „Die verabsolutierte Kommunikation besteht darin, daß alle möglichen Inhalte – Meinungen, Gefühle, Vorstellungen und Gedanken – auf die Perspektive ihrer Tauschbarkeit und Kommunikabilität reduziert werden.“ 177 WAGNER, GoG, 66.
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Bezug, auf ihr Sein für anderes reduziert, sie sollen den Vollzug der Kommunikation ermöglichen, wobei irrelevant ist, was genau da eigentlich kommuniziert wird. Wagners Diagnose, der Umgang mit kulturellen Inhalten sei geldgeprägt, will also sagen, dass der Austausch von Inhalten zum Selbstzweck geworden ist.178 Das Medium der Kommunikation, in Wagners Beispielen etwa das Fernsehen, dient nicht länger dem Transport von Nachrichten, sondern umgekehrt dienen die Inhalte der Aufrechterhaltung eines kommerziell erfolgreichen Sendebetriebs. Mit dem Eintritt in die Sphäre der Kommunikation werden die Inhalte vergleichgültigt; sie werden einseitig durch die Regeln des jeweiligen Kommunikationsmediums konstituiert. Insofern es nur darum geht, dass kommuniziert wird, erweisen sich die Inhalte, der bloße Stoff der Kommunikation, als austauschbar und beliebig. Die verabsolutierte Kommunikation verlangt von den Inhalten daher eine „Strukturveränderung“179: als bloßes Moment des Kommunikationsvorgangs müssen sie sich ihrer Eigenbedeutung entäußern, was immer dann bemerkbar wird, wenn die Eigenbedeutung der Inhalte die Kommunikation (etwa im Sinne einer unbequemen Nachricht) stören könnte: „Die mittels elektronischer Medien erfolgende Kommunikation von Inhalten richtet sich nicht nach deren Eigenverfaßtheit. Vielmehr können die an quantitativer Expansion orientierten Kommunikationsprozesse nur dadurch in ihrem reibungslosen Funktionieren gesteigert werden, wenn die Reibung, die aufgrund der Eigenbestimmtheit der Inhalte entstehen könnte, zum Verschwinden gebracht wird.“180 Die Logik verabsolutierter Kommunikation hat nach Wagner auch den zwischenmenschlichen Bereich erfasst. Auf der Geldstufe des Bewusstseins ist es im Prinzip unerheblich, wie man sich verhält; selbst das Schweigen wird als ein Fall von Kommunikation interpretiert. In solchen bereits vor jeder Äußerung feststehenden Akten der Subsumtion zeigt sich die Herrschaft des Allgemeinen über den Einzelnen, die der oben beschriebenen Tendenz zur Individualisierung diametral entgegensteht. Die Metaphorik, mit der Wagner die Gegenwart in seinen kapitalismuskritischen Texten beschreibt, befindet sich denn auch auf der Linie Weber-Adorno: die moderne Gesellschaft unter den Bedingungen der Kulturindustrie ähnele „einer geschlossenen Anstalt, in der die Individuen als entindividualisierte und atomisierte Einzelne leben.“181 Die atomisierte Gesellschaft, die für Wagner im Anschluss an Kondylis den Gipfelpunkt der Individualisierungsbewegung darstellt, erweist sich jetzt als konform mit der Logik der Warentauschs: auf ihrem höchsten Punkt kippt die
178 Sein Urteil über die Medienwelt lautet entsprechend: sie werde „schon seit langem von der Devise beherrscht, das Medium sei die Botschaft“ (WAGNER, Klauen, 193). 179 WAGNER, GoG, 68. 180 WAGNER, GoG, 75. 181 WAGNER, GoG, 77.
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Idee von der Gleichheit aller in einen Zustand völliger Gleichgültigkeit.182 Es ist, so kann Wagner auch formulieren, eine Gleichheit ohne Brüderlichkeit,183 die Gleichheit von Waren, nicht von Personen. Diesem Zustand lässt sich durch die Handlungen Einzelner nicht entgegenwirken, auch greifen Schuldzuweisungen gegenüber bestimmten Personen oder Berufsgruppen nicht, da es sich um ein strukturelles Problem des Wirtschaftssystems handelt. Man wird urteilen dürfen, dass Wagner in seiner Diagnose des kapitalistischen Wirtschaftssystems jenen Aspekt der christlichen Sündenlehre aufgreift, der als Verhängnis oder Schicksal bezeichnet werden kann: „die sowohl ökonomischen als auch soziokulturellen Folgeerscheinungen des totalisierten Geldmechanismus haben sich zu einem objektiven Weltzustand verdichtet, für den kein einzelner unmittelbar verantwortlich ist, dem aber auch kein einzelner durch individuelle Entscheidungsakte moralischer oder religiöser Art entkommen kann.“184 Die Ausschaltung aller qualitativen Unterschiede, welche mit der Expansion des Wirtschaftssystems einhergeht, deutet daraufhin, dass in der Gegenwart eine Struktur vorherrschend ist, die Wagner zufolge in der Theologie Karl Barths zum Programm erhoben worden ist. Begriffe wie ‚Entdifferenzierung‘, ‚Pantheismus‘ und ‚Spinozismus‘,185 mit denen Wagner die barthsche Theologie beschreibt, zieht er jetzt heran, um die Ausbreitung der Geldlogik in alle gesellschaftlichen Subsysteme und ihre Folgen zu schildern. Die Vergleichbarkeit der Geldlogik bzw. der Struktur verabsolutierter Kommunikation mit dem Gottesbild, das Wagner aus Barths Schriften rekonstruiert, zeigt sich auch daran, dass Wagner in beiden Fällen von ‚Gleichschaltung‘ reden kann. Zudem erinnert die Strukturveränderung, welche die Inhalte unter der Herrschaft verabsolutierter Kommunikation erleiden, dass nämlich „[a]n die Stelle ihrer besonderen Inhaltlichkeit […] die Form ihrer allgemeinen Mitteilbarkeit“186 tritt, an die Negation des Besonderen, die für das religiöse Bewusstsein konstitutiv ist. Schließlich geht auch in der Gegenwart ein Riß durch die Menschheit, eine Trennung, wie sie auch in allen theologischen Konzeptionen zu beobachten war. Denn der „geldgeprägte Pantheismus“ hat
182 WAGNER, Geld [RG], 566: „Aus der der verabsolutierten Kommunikation der Inhalte, die aufgrund der allgemeinen Tauschbarkeit wie die von ökonomischen Warenobjekten funktioniert, folgt die prinzipielle Vergleichgültigung und Nivellierung aller möglichen Inhalte des soziokulturellen Weltumgangs.“ Die Vergleichgültigung erfasst dabei nicht allein das, was kommuniziert wird, sondern auch diejenigen, die kommunizieren (vgl. WAGNER, GoG, 81). 183 WAGNER, Lage [Lage], 19. 184 WAGNER, Geld [RG], 585. 185 Zum ‚Geldspinozismus‘ vgl. WAGNER, Geld [RG], 562f. 186 WAGNER, Geld [RG], 567.
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Vierter Teil
eine „diabolisch-teuflische[]“ Kehrseite: „er entzweit die Menschen, er trennt die Zahlungsfähigen von den Zahlungsunfähigen.“187 Wagners Behauptung ist demnach, dass in der Gegenwart jenes Prinzip zur allgemeinen Durchsetzung gekommen ist (oder zumindest zur allgemeinen Durchsetzung zu kommen droht), das die Theologie stets beherrscht hat und immer noch beherrscht: das Prinzip unmittelbarer Selbstbestimmung. In Form der Geldlogik lenkt dieses Prinzip nicht nur die gesellschaftlichen Teilsysteme, sondern es schlägt als absolute Kommunikation auch auf das Denken der Individuen durch. Wagner, der das Prinzip unmittelbarer Selbstbestimmung mit dem christlichen Begriff der Sünde identifizieren kann, zeichnet daher ein äußerst dunkles Bild seiner eigenen Zeit: Wo das Geld das Absolute ist, da ist die Hölle auf Erden.188
III. Religion und Gottesgedanke III. Religion und Gottesgedanke
Wenn – grob gesprochen – das erste Kapitel einen Anspruch formulierte, so folgte mit dem zweiten Kapitel die Beschreibung einer sich diesem Anspruch verweigernden Wirklichkeit. Das erste Kapitel formuliert einen Anspruch, weil es festhält, dass die Freiheit nicht nur das Wesen, sondern auch die Aufgabe des Menschen ist. Die Freiheit, die das Wesen des Menschen ist, ist als verdankte oder geschenkte Freiheit bestimmt. Seinem Wesen entspricht der Mensch nur dann, wenn er selbst anderen Menschen Freiheit schenkt. Ein Mensch, der das tut, manifestiert den Geist in der Welt. Gegenbegriff zum Geist ist die Natur. In der Freiheit des Menschen liegt es nun auch begründet, dass er sich zum „Realisator des Geistes“189 aufschwingen oder aber weiter dem Prinzip der Natur folgen kann. Diese beiden Möglichkeiten stehen sich bei Wagner als gut und böse,190 als das richtige und das falsche Leben191 gegenüber. Das falsche Leben ist als das natürliche Leben dem Prinzip der direkten oder unmittelbaren Selbsterhaltung verpflichtet. Verbunden mit diesem Prinzip ist eine bestimmte Einstellung anderen gegenüber: Sie können die eigene Selbsterhaltung entweder gefährden oder aber ihr dienen. Ersteres führt tendenziell in den Kampf aller gegen alle, eine gleichsam kultivierte Form dieses Kampfes stellt das Konkurrenzverhältnis der positionellen Theologien dar.192 Ein Grundzug der Gegenwart, den Wagner im Anschluss an Kondylis beschreibt, ließe sich als passive Variante dieser Umgangsweise 187
WAGNER, Klauen, 195. Vgl. WAGNER, MM, 189. 189 WAGNER, Gotteslehre [WiTh], 348. 190 MURRMANN-KAHL, Komplexität, 170. 191 WAGNER, Leben [CM], 97f. 192 Vgl. zu diesem Zusammenhang z.B. WAGNER, Einleitung [RG], 362. 188
III. Religion und Gottesgedanke
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interpretieren: In der atomisierten Gesellschaft ist das Ziel nicht die Ausschaltung des Anderen, wohl aber ist sein Einfluss auf die eigene Lebensführung auf ein Mindestmaß reduziert. Auch diese moderne, Aggression durch Abschottung ersetzende Form des Individualismus, in der jeder für sich seine Ansprüche auf Selbstverwirklichung entwirft und verfolgt, weist die Merkmale des natürlichen Lebens – Wagner nennt z.B. „Egozentrik“, „In-sichverschlossen-Sein“, „Vereinzelung“193 – auf. Die zweite mögliche Einstellung dem anderen gegenüber, jene, die zu einer instrumentalisierenden Umgangsweise führt, zeigt sich Wagner zufolge in der Natur im Verhältnis der Gattung zum Individuum. Durch Fortpflanzung erhalten Lebewesen ihre Art, als Individuen aber sterben sie und sind so lediglich „Mittel zum Zweck“ der Selbsterhaltung ihrer Gattung. In dieser asymmetrischen Beziehung von Gattung und Individuum sieht Wagner „den Grundmißton des biologisch beschreibbaren Lebens“194. Die Allgegenwart der Geldlogik ist nach Wagner dann Ausdruck dafür, dass sich diese Asymmetrie bis in die Gegenwart fortsetzt.195 Wagner kann die beiden Umgangsweisen der Selbsterhaltung, den Kampf und die Verwertung, auch als zwei auf einander folgende Entwicklungsstufen darstellen.196 Entscheidend ist jedenfalls: Der Mensch hat seine Freiheit in der Neuzeit zwar entdeckt und in Anspruch genommen, er hat sich über die Natur erhoben. Diese Erhebung vollzieht sich aber immer noch nach der Logik der Selbsterhaltung, sodass die Emanzipation von der Natur als eine nur scheinbare zu bewerten ist. Dass Prinzip des Geistes, nach dem der Andere nicht bekämpft oder instrumentalisiert, sondern in seinem Anderssein anerkannt wird, wartet also weiter auf seine Realisierung, Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Es ist nun die Aufgabe der christlichen Religion, den Menschen bleibend mit seinem Wesen zu konfrontieren. In der Religion ist das Prinzip des Geistes in verschlüsselter Form aufbewahrt; indem sie so die Erinnerung an ein zweites Prinzip wachhält, verhindert sie, dass ein Gebrauch der Freiheit im Sinne des natürlichen Lebens dem Menschen als selbstverständlich und alternativlos erscheinen muss.197 Zugleich kritisiert Wagner die christliche Religi193
WAGNER, Leben [CM], 97. WAGNER, Leben [CM], 94; vgl. ebd., 98. 195 WAGNER, Geld [RG], 581: „[D]ie unmittelbare Selbsterhaltung als Erbstück der Naturgeschichte setzt sich im Medium des geldbestimmten Weltumgangs derart fort, daß Sachen und Personen unter der Ägide des Geldes als austauschbare Mittel fungieren, die nur solange gefragt sind, solange sie zur Verwertung taugen.“ 196 Zumindest lässt sich so seine Darstellung der neuzeitlichen Theologiegeschichte interpretieren. 197 Wagner kann immer wieder darauf hinweisen, dass das Wissen um eine solche Alternative entscheidend ist, um das Prinzip unmittelbarer Selbstbestimmung überhaupt als ‚falsch‘ identifizieren zu können. Vgl. z.B. WAGNER, Verantwortung [CM], 124: „Ohne eine haltbare Alternative zu der für böse erklärten Freiheit der unmittelbaren Selbstbe194
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on dafür, dass eine Übersetzung ihrer Vorstellungsgehalte in die Sphäre des allgemeinen Bewusstseins noch nicht stattgefunden hat. Die „defizitäre und negative Stellung der Sollensprinzipien [der Vernunft] gegenüber dem wirtschaftlich-technisch-wissenschaftlichen Fortschritt“ kann daher nicht zuletzt auch auf den Zustand eine „halbierten Protestantismus“ zurückgeführt werden.198 Im Folgenden wird es darum gehen, die Stellung, die Wagner der christlichen Religion in der modernen Welt zumisst, näher zu beschreiben (1.). Abschließend soll dann gefragt werden, welche Funktion dem Gottesgedanken in dem von Wagner entworfenen Szenario noch zukommen kann (2.) 1. Wagners späte Religionstheorie Wagner weiß sich mit seiner Religionstheorie insofern dem Neuprotestantismus verbunden, als er ebenfalls das „individuelle Subjekt“199 zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Von hier aus gelangt er in seinen späten Texten zu einem eigenständigen religionstheologischen Entwurf, der sich vor allem der kritischen Auseinandersetzung mit Luhmanns Religionssoziologie verdankt.200 Das ist darum interessant, weil Luhmanns systemtheoretische Betrachtung der Religion kaum sensibel für Wagners Ansatz beim religiösen Subjekt ist. Denn nach Luhmann, darauf weist auch Wagner hin, ist es dem Einzelnen gut möglich, ein ganzes Leben ohne die Bezugnahme auf Religion zu vollziehen. Luhmann betrachtet Religion vielmehr ausschließlich aus einer soziologischen Perspektive; Religion ist demnach ein soziales System neben stimmung läßt sich die direkte Selbstbehauptung der sich verselbständigenden besonderen Freiheit des Menschen gar nicht als böse identifizieren und kritisieren.“ Vgl. auch WAGNER, MM, 184. 198 WAGNER, Askese [RG], 640. 199 WAGNER, MM, 170. An dieser Stelle findet sich eine knappe Skizze der modernen Religion. Das ‚Moderne‘ an dieser Religion ist, dass sie sich die Annahmen der kantischen Erkenntnistheorie zu eigen macht. 200 Der wichtigste Text in diesem Zusammenhang, der auch die Grundlage der folgenden Ausführungen bildet, wurde erst nach Wagners Tod veröffentlicht: WAGNER, Kann die Religion der Moderne die Moderne der Religion ertragen? Religionssoziologische und theologisch-philosophische Erwägungen im Anschluß an Niklas Luhmann, (= WAGNER, Moderne. Zur Entstehungsgeschichte vgl. ebd., 13). Der Aufsatz besteht aus zwei Teilen. Der erste bringt Luhmanns Religionssoziologie zur Darstellung. Der Fokus liegt dabei auf Luhmanns (ebenfalls erst posthum veröffentlichten) Werk „Die Religion der Gesellschaft“. Dass es Wagner v.a. darum geht, die Schwierigkeiten des systemtheoretischen Ansatzes aufzuzeigen, lässt bereits die Überschrift dieses Hauptteils erkennen: „Aporien der Religion und der systemtheoretischen Religionssoziologie unter der Bedingung der modernen Gesellschaft“ (WAGNER, Moderne, 173ff.). Im zweiten Teil entfaltet Wagner dann unter Aufnahme der luhmannschen Terminologie seine eigene Konzeption: „Religion als reflexive Kommunikation der Differenz von Personalität und Sozialität in der Perspektive der Individuen“ (ebd., 189ff.). Vgl. zu Luhmanns Einfluss auf Wagners späte Religionstheorie auch knapp: BERGER, Krise, 123–127.
III. Religion und Gottesgedanke
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anderen, das eine bestimmte gesellschaftliche Funktion übernimmt. „Religion sei“, so fasst Wagner Luhmanns Position zusammen, „ebenso anthropologisch und individuell entbehrlich wie gesellschaftlich unentbehrlich.“ 201 Wagner stimmt mit Luhmann darin überein, dass soziale und psychische Systeme mit Sinn operieren.202 Die Aufgabe des Religionssystems ist es, Sinnvertrauen zu ermöglichen. Was ist damit gemeint? Systeme reduzieren Komplexität. Dass dies sinnhaft geschieht, bedeutet, dass die Systeme aus dem Bereich alles Möglichen Bestimmtes aktualisieren. Das, was nicht aktualisiert wird, verschwindet jedoch nicht einfach, sondern bleibt als eine Art Horizont weiterer Möglichkeiten erhalten. „Sinnhafte Selektionen sind insofern durch die Gleichzeitigkeit von Aktualität und Potentialität, Bestimmtheit und Unbestimmtheit […] gekennzeichnet.“203 Dadurch, dass alles Bestimmen seine eigene Unbestimmtheit generiert, erweist es sich als kontingent, denn das Unbestimmte erinnert daran, dass stets auch eine andere Selektion möglich wäre. Das sinnhafte Operieren kann zudem als paradox bezeichnet werden, weil es mit der Bestimmtheit zugleich Unbestimmtheit produziert. Hier greift nun die Religion, denn sie setzt an die Stelle dessen, was in Selektionsvorgängen unbestimmt bleibt, etwas Bestimmtes.204 Durch religiöse Chiffren wird also Unbestimmbares in Bestimmbares transformiert. „Religiöse Chiffren beanspruchen damit gleichsam Vollständigkeit […]. Sie schließen den Horizont und weisen die Frage, welche Möglichkeiten sie unbedacht gelassen haben könnten, ab.“205 Mit ihrer Leitunterscheidung von Immanenz und Transzendenz ist die Religion das System, welches die bei jeder Sinnoperation immer schon in Anspruch genommene Unterscheidung von Beobachtbarem und Unbeobachtbarem zum Thema macht. Religion redet gewissermaßen über das, was die anderen Systeme außer acht lassen müssen, und stellt dadurch Sinnvertrauen her. Wagner weist nun darauf hin, dass sich die Religion in dieser Theorie einem Problem verdankt, das im Zusammenhang mit sinnhaft operierenden Systemen auftritt: „Die system- und kommunikationstheoretisch entworfene Soziologie Luhmanns bedarf aufgrund ihrer immanenten Logik der Thematisierung der Funktion der Religion, um auf diese Weise ein nicht anders besetzbares Theorieabschlußproblem zu bearbeiten.“206 Die Gefahr, die Wagner hier benennen möchte, besteht darin, dass die Religion der Systemtheorie ein bloßes „Konstrukt“ darstellt, ohne Anhalt in der „gesellschaftlichen Realität der Religion“, welche nach Wagner zuerst in ihren 201
WAGNER, Moderne, 173. WAGNER, Moderne, 183. Zu den Grundannahmen der Theorie sozialer Systeme vgl. KNEER/NASSEHI, Theorie, 33–110. Zur Religionssoziologie vgl. PICKEL, Religionssoziologie, 122–131. 203 POLLACK, Säkularisierung, 62. 204 WAGNER, Moderne, 182. 205 POLLACK, Säkularisierung, 63. 206 WAGNER, Moderne, 174. 202
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Vierter Teil
„Selbstbeschreibungen“ fassbar wird.207 Der mangelnde Wirklichkeitsbezug äußert sich auch in dem Umstand, dass Luhmann die Funktion der Religion, Sinnvertrauen zu ermöglichen, ausschließlich auf die Kommunikation sozialer Systeme bezieht. Aufgrund der Trennung von psychischen und sozialen Systemen, von Bewusstsein und Kommunikation kommt der Mensch, und gemeint ist hier das konkrete singuläre Subjekt, in der Religion nicht vor.208 Wagner setzt mit seiner eigenen Religionstheorie genau an diesem Punkt an. Zwar übernimmt er den Jargon Luhmanns (z.B.: psychisches und soziales System, Sinn, Transzendenz und Immanenz, Bezugsproblem), nutzt ihn jedoch zur Beschreibung einer Theorie, die mit den Grundannahmen Luhmanns nicht länger vereinbar ist. Denn das Ansinnen, „die nicht systemisch integrierbare freie Selbstbestimmung der Individuen zum Vorurteil eines alteuropäischen Traditionsrelikts“ zu erklären,209 weist Wagner entschieden zurück. Ganz im Unterschied zu einer solchen Ausklammerung freier Individualität (auch) aus der Religionstheorie orientiert sich sein Ansatz an der Leitvorstellung eines ‚Im-anderen-bei-sich-selbst-Seins‘, die er nun ebenfalls auf das Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen anwendet. Wagner selbst nutzt die hegelsche Formel in den jetzt zu besprechenden Texten zwar nicht, dennoch scheint sie tauglich, um die Kontinuität aufzuzeigen, die zwischen den theologischen Schriften im engeren Sinn und seinen späten religionstheologischen Überlegungen besteht. Dass er sich gerade durch das Festhalten an dieser Formel in einen Gegensatz zu Luhmann bringt, wird dann sichtbar, wenn man sich seine Kritik an der Systemtheorie genauer anschaut. Denn Wagner hebt gleich zweimal hervor, dass die behauptete Trennung „zwischen der Autopoiesis psychischer und sozialer Systeme“ in seinen Augen „zu der am wenigsten plausiblen Grundannahme seiner [Luhmanns] soziologischen Systemtheorie gehört.“210 Demgegenüber will Wagner die beiden Größen zwar auch unterschieden wissen, aber eben nicht getrennt. Dies erreicht er dadurch, dass er eine Aufwertung des Bewusstseins vornimmt. Dafür unterscheidet an jedem Einzelbewusstsein eine allgemeine von einer besonderen oder individuellen Seite. Die allgemeinen Leistungen, zu denen jedes individuelle Bewusstsein imstande ist, ermöglichen nach Wagner allererst die Kommunikation sozialer Systeme. „Jede soziale Kommunikation beruht daher auf Bewußtseinsaktivitäten, sodaß die von Luhmann favorisierte strukturelle Trennung von Kommunikation und Bewußtsein als undurchführbar 207
Ebd. Vgl. DAHNELT, Funktion, 98. Auch Pollack erblickt hier eine Schwierigkeit bei Luhmann. „Sie besteht darin, dass seine soziologischen Bestimmungen auf einer beobachtungstheoretischen Ebene angesiedelt sind und kaum einen Bezug zu konkreten Erfahrungen, Wünschen, Bedürfnissen und Erwartungen der Menschen aufweisen“ (POLLACK, Säkularisierung, 71). 209 WAGNER, Lage [Lage], 18. 210 WAGNER, Moderne, 178.190. 208
III. Religion und Gottesgedanke
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erscheint.“211 Dass Kommunikation und Bewusstsein miteinander verwoben sind, macht Wagner auch für den Sinnbegriff geltend. Denn Sinn kann stets nur als bewusster Sinn kommuniziert werden und umgekehrt kann bewusster Sinn nur als kommunizierter Sinn anderen Subjekten zugänglich gemacht werden. Geht es in der Religion nun darum (und hier schließt Wagner wieder an Luhmann an), „die Bedingungen der Möglichkeit der Bildung von Sinn zu garantieren“212, so heißt das für Wagner nichts anderes, als dass sie die Instanz namhaft macht, die in der Lage ist, an beiden Arten der Sinnbildung beteiligt zu sein und daher die „Schnittstelle von Bewusstsein und Kommunikation“213 zu bilden. Wagner unterscheidet also erstens psychische und soziale Systeme oder Individuen und Institutionen. Er geht dann zweitens davon aus, dass sich auf Seiten der psychischen Systeme nochmals eine Differenz identifizieren lässt, nämlich diejenige von allgemeinen und je individuellen Bewusstseinstätigkeiten; und er behauptet drittens, dass diese Differenz die Bedingung der Möglichkeit von jener Unterscheidung ist. Die Religion ist dann viertens der soziale Ort, an dem die Struktur des Bewusstseins als eben diese Bedingung explizit gemacht, reflektiert und kommuniziert wird. Wagners Religionstheorie will den mangelnden Wirklichkeitsbezug der Systemtheorie dadurch ausgleichen, dass sie vom Bewusstsein, „das wir empirisch nur in Gestalt jeweils individueller Bewusstseine kennen“214, als Voraussetzung sozialer Kommunikation ausgeht. Als allgemeines Bewusstsein ist das Individuum den sozialen Systemen immanent,215 als je besonderes Bewusstsein hingegen vermag es die Ebene der Kommunikation immer auch zu transzendieren. Diese Doppelstruktur ist aber keine andere als die des religiösen Bewusstseins216 oder besser: wo diese Struktur sichtbar wird, da spricht Wagner von einem religiösen Bewusstsein. Noch genauer wird man sagen können, dass es gerade der Eintritt in das Religionssystem ist, der die 211 WAGNER, Moderne, 190. Man kann aus diesem Satz einen Vorrang des singulären Subjekts vor den Institutionen heraushören, den Wagner auch an anderer Stelle andeutet: „[W]enn davon auszugehen ist, daß die Institutionen des sozialen Weltumgangs nicht vom Himmel gefallen sind, sich vielmehr der theoretisch-praktischen Tätigkeit des interagierenden menschlichen Willens verdanken, dann ist der sozial-institutionelle Weltumgang nicht ohne den zwar hoch abstrakten, aber genetisch früheren Umgang des Menschen mit sich und seinen Fähigkeiten durchführbar“ (WAGNER, Christologie-VL, 397). 212 WAGNER, Moderne, 190. 213 WAGNER, Moderne, 191. 214 WAGNER, Moderne, 191. 215 WAGNER, Moderne, 191: „Die Kommunikation ist […] auf die Immanenz des an ihr beteiligten Bewusstseins angewiesen.“ 216 „[D]as religiöse Bewusstsein ist als Bewusstsein ebenso an Vollzügen sozialer Kommunikation immanent beteiligt, wie es als das Bewusstsein eines Individuums auch die Fähigkeit hat, sich von jeder sozialen Kommunikation zu unterscheiden, um sie zu transzendieren.“ (WAGNER, Moderne, 192; Hervorhebung MS).
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Vierter Teil
Doppelstruktur der Individuen zum Vorschein bringt. Inwiefern? Hier ist an den Vorgang der Säkularisierung und die damit einhergehende Privatisierung des religiösen Entscheidens zu erinnern.217 Während der Mensch an den anderen Systemen teilnehmen muss und dort lediglich als Rollenträger in Erscheinung tritt, steht es ihm frei, sich einer Religion zuzuwenden oder ihr fernzubleiben, „sodaß dieser Zugang dem Individuum als solchem zuzurechnen ist.“218 Während die eine Seite des Menschen – die Allgemeinheit des Bewusstseins, Wagner nennt sie auch die ‚Sozialität‘ – durch Berufs- und Komplementärrollen anschaulich wird, tritt seine andere Seite – die Individualität des Bewusstseins, Wagner spricht auch von ‚Personalität‘ – erst durch die Teilnahme am Religionssystem zutage.219 Der Zugang zum Religionssystem aktiviert, so formuliert es Wagner, die Individualität, und diese Aktivierung seiner ‚anderen Seite‘ kann der Mensch „zugleich als ein Transzendieren seiner sozialen Bezüglichkeiten wissen“220 – jener Bezüglichkeiten, die bis dahin vor allem sein Leben bestimmten. Zugleich partizipiert auch der religiöse Mensch (sofern er keine Weltflucht betreibt) weiterhin an den anderen Systemen. Das bedeutet: durch den Zugang zur Religion, durch die Aktivierung der Individualität wird auch die Differenz zwischen Sozialität und Personalität, zwischen dem Dasein als singulärem Subjekt und als Rollenträger überhaupt erst thematisch. Weil der Einzelne als ein durch die Welt und ihre Erwartungen Beanspruchter der Religion beitritt, „konstituiert sich das religiöse Bewusstsein als individuelles Bewusstsein der Differenz seiner Personalität und seiner Sozialität oder von Bewusstseinssinn und kommuniziertem Sinn“221. Damit ist Wagners ‚Definition‘ der Religion erreicht. Sie ist ebenfalls ein gesellschaftliches Funktionssystem bzw. ein sozialer Ort, allerdings keiner, an dem der Mensch lediglich als Rollenträger auftritt, sondern einer, „an dem die Differenz von Personalität und Sozialität ausdrücklich reflektiert und kommuniziert wird.“222 Die Religion bearbeitet das Verhältnis von sozia217
S.o.S. 70ff. Vgl. WAGNER, Moderne, 186f.192. WAGNER, Moderne, 192. 219 Zur Unterscheidung von Sozialität und Personalität vgl. auch WAGNER, MM, 175. Vgl. auch den Hinweis bei WAGNER, Bekehrung, 478, dass das „menschliche Ich die Einheit von Ich und gesellschaftlichen Umständen“ repräsentiere. 220 WAGNER, Moderne, 192. 221 Vgl. WAGNER, Moderne, 193. Vgl. auch WAGNER, Marktwirtschaft, 54: „Nur in seiner Doppelbeziehung, durch die es als selbstbezügliche Person zugleich auf seine soziale Umwelt bezogen ist, kann das individuelle Bewußtsein daher zum Subjekt derjenigen Religion werden, die nicht aus der Gesellschaft emigrieren will“ (Hervorhebung MS). 222 Die Religion ist somit Ausdruck des Problems, dass die Individuen als solche in den anderen Funktionssystemen nicht vorkommen können. „Obwohl die moderne Individualität zusammen mit der modernen Gesellschaft ausgebildet worden ist, besteht doch innerhalb der sozialen Funktionssysteme keine Möglichkeit, die selbständigen Bedürfnisse der Individuen eigens zu kultivieren. Der modernen Gesellschaft scheint also ein sozialer Ort zu fehlen, an dem die Belange der Individuen, also nicht nur ihre Merkmale als Rollenträ218
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ler Immanenz und personaler Transzendenz und sie tut dies aus der Perspektive und im Interesse der Individuen. Im Ausgang von dieser Grundbestimmung entfaltet Wagner dann die weiteren Merkmale seiner Religionstheorie. Zunächst bestimmt er die Begriffe der Immanenz und der Transzendenz näher. Unter Immanenz versteht er „einen gegebenen Zustand der Welt und/oder der Gesellschaft“223. Die Transzendenz hingegen steht dafür, dass ein gegebener Zustand auch anders sein könnte, als er faktisch ist; sie steht für Veränderbarkeit. Anders als die Immanenz kann die Transzendenz daher nicht eindeutig erfasst werden, sondern ist lediglich als „Vollzug des Transzendierens“224 beschreibbar. Man könnte auch sagen: die Immanenz benennt das, was gerade wirklich ist, die Transzendenz das, was möglich ist. An die Stelle des Möglichen setzt Wagner nun den Gottesgedanken. Gott – das Transzendente – ist damit ein Synonym für Veränderbarkeit. Genauer bestimmt Wagner Gott als „reflexive Transzendenz“225. Gemeint ist damit folgendes: Stünde Gott für bloße Transzendenz, dann wäre er allein Ausdruck dafür, dass alles immer auch anders sein könnte; das Kontingente für sich betrachtet vermag aber kaum Sinnvertrauen zu stiften, sondern steigert vielmehr „Unsicherheit ins Grenzenlose“226. Reflexive Transzendenz setzt nun an die Stelle abstrakter Veränderbarkeit genau eine konkrete Möglichkeit der Veränderung, nämlich die Möglichkeit der Selbstveränderung oder Selbstüberschreitung. Mit dem Begriff der reflexiven Transzendenz holt Wagner in seine Religionstheorie das ein, was er an anderer Stelle die Selbstanwendung der allgemeinen Negationsfähigkeit oder einfach als Menschwerdung Gottes bezeichnet hat. Wagner entfaltet demnach in seinem sog. Spätwerk keine allgemeine Religionstheorie, sondern eine Theorie der christlichen Religion, die zentrale Gedanken seiner Theo-Logie aufgreift.227 Dass das Transzendente sich selbst transzendiert, ist vor diesem Hintergrund so zu verstehen, dass der Inbegriff aller Möglichkeiten sich auf eine Möglichkeit begrenzt, und zwar auf die Möglichkeit der Selbstüberschreitung, die nun über einen gegebenen Zustand (die Immanenz) nicht länger als das Unberechenbare hereinbricht, sondern ihn selbst für den Vollzug der Veränderung in die Pflicht ger und Funktionselemente, thematisiert und reflektiert werden können.“ (WAGNER, Marktwirtschaft, 51f.). 223 WAGNER, Moderne, 195. 224 Ebd. 225 WAGNER, Moderne, 196. 226 WAGNER, Moderne, 196. 227 Vgl. z.B. folgende Bemerkung: „Der als Transzendieren der Transzendenz gefasste Gottesgedanke hebt somit auf nichts anderes ab als auf die Möglichkeit der Selbstüberschreitung, die in einer ausgebildeten Theorie des Absoluten als Gedanke der Selbstauslegung oder Selbstmanifestation des Gottesgedanken zu konkretisieren wäre“ (WAGNER, Moderne, 196). Genauer wird man sogar sagen müssen, dass Wagners Religionstheologie eine Theorie der protestantischen Religion ist, vgl. WAGNER, Marktwirtschaft, 51ff.
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Vierter Teil
nimmt. Man könnte auch sagen: Veränderung widerfährt der Immanenz nicht länger, sondern sie vollzieht sie. So wie Gottes Selbstdefinition als Geist impliziert, dass der Mensch zu seinem Realisator wird, ist es nach Wagner eine Folge der Selbstüberschreitung der Transzendenz, dass „das als göttlich qualifizierte Transzendieren nur noch in der Immanenz vollzogen werden kann.“228 In Anlehnung an Wagners üblichen Sprachgebrauch kann das erste Element seiner Religionstheorie – der Gottesgedanke – auf folgende Formel gebracht werden: Das Transzendieren der Transzendenz zielt auf die Anerkennung der Freiheit der Immanenz. Auch das zweite Element lässt sich unter Rückgriff auf die bekannte Terminologie formulieren: Die Immanenz anerkennt ihr Anerkanntsein, indem sie sich selbst überschreitet. Wagner nennt dieses zweite Element die „sich transzendierende Immanenz“229; gemeint ist damit das, was an anderer Stelle als Glaube oder Erhebung bereits behandelt worden ist, auf beide Begriffe greift Wagner nun auch hier zurück. Wie ist es genau zu verstehen, dass sich die Immanenz transzendiert oder (was dasselbe bedeutet) dass ein Individuum glaubt? Wagners Bemerkungen dazu sind (wie zumeist) knapp gehalten, ich interpretiere sie so: Sich selbst zu überschreiten bedeutet die Bereitschaft, die Perspektive jedes möglichen Andersseins in das eigene Selbstverständnis zu integrieren. Ein glaubender Mensch legt seine Identität nicht eigenmächtig fest und versteht sich nie nur aus den sozialen Bezügen, in denen er sich gerade vorfindet, sondern hält das Konzept seines Selbstseins grundsätzlich offen für und prägbar durch die Perspektiven möglichen Andersseins. D.h.: das religiöse Bewusstsein akzeptiert auf grundsätzliche Weise die Bedeutung jedes möglichen Andersseins und also des sozialen Andersseins insgesamt für die Realisierung seines Selbstseins. Das religiöse Bewusstsein ist so ein dauerhaft „sich bildendes Bewusstsein“230. Das Leben des religiösen Menschen ist nichts anderes als dieser prinzipiell unabschließbare Bildungsprozess. „Das religiöse ist daher ein dauerhaft sich bildendes und sich konstituierendes Bewusstsein, das zu seinem ‚identischen‘ und ‚wahren‘ Selbstsein permanent unterwegs ist, weil die Bildung seines Selbstseins auf die wechselnden Perspektiven möglichen Andersseins angewiesen bleiben.“231 Damit vollzieht sich die Selbstexplikation des Individuums immer auch an der Stelle seines sozialen Andersseins, mit der Folge, dass jedes Anderssein dem Individuum als wertvoll erscheinen muss. 228
WAGNER, Moderne, 196. Man beachte, dass der Gottesbegriff an dieser Stelle bereits nur noch als Prädikat für einen bestimmten Vollzug verwendet wird (explizit redet Wagner dann wenig später vom „Prädikat des Göttlichen“, vgl. ebd., 197) und dass Wagner diese Verwendungsweise als Folge der Selbstmanifestation Gottes eingeführt. 229 WAGNER, Moderne, 196. 230 WAGNER, Moderne, 197. 231 WAGNER, Moderne, 197.
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Auch Wagners späte Religionstheologie ist also ganz dem Konzept vermittelter Selbstbestimmung verpflichtet. Wenn Wagner das religiöse Bewusstsein jetzt als „Prototyp der sich transzendierenden Immanenz“232 bezeichnet, dann scheint er damit die ältere Idee einer exemplarischen Funktion der Christologie wiederaufzunehmen. Hier wie dort wird auf beispielhafte Weise die Ausbildung eines „sozialen Freiheitsbewusstseins“233 vollzogen. Sozial ist dieses Freiheitsbewusstsein, weil es personale oder individuelle Freiheit nicht ohne die Freiheit des sozialen Andersseins denkt, weil es also die Differenz von personalem Selbstsein und sozialem Anderssein für schlechterdings nicht hintergehbar hält. Die Freiheit des Anderen wird als Voraussetzung für die eigene Freiheit betrachtet – und umgekehrt. Das Verhältnis von Selbst- und Anderssein wird daher als ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung beschrieben. „Die Verhältnisweise der Freiheit als vermittelter Selbstbestimmung baut deshalb auf Anerkennungsverhältnissen auf, weil nur so dem Faktum entsprochen werden kann, dass die freie Selbstbestimmung jeden Selbstseins auf die freie Selbstbestimmung jeden Andersseins unhintergehbar angewiesen ist.“234 Die christliche Religion stellt ein Modell der Freiheit bereit, das dem Prinzip der Selbstüberschreitung unbedingte (göttliche) Geltung zuschreibt.235 Freiheit basiert auf Selbstüberschreitung, d.h. sie wird „nur dadurch wirklich, daß sie immer zugleich als Freiheit der anderen gelebt wird.“236 Ist dies festgehalten, kann abschließend die Funktion der Religion noch einmal genauer bestimmt werden. Mit der Religion steht erstens ein sozialer Ort zur Verfügung, der dem Menschen die Möglichkeit der Distanznahme von allen Rollenanforderungen und sozialen Beanspruchungen bietet. Als eine Art Freiraum innerhalb der Gesellschaft erinnert die Religion daran, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner sozialen Rollen. Zugleich ist daran zu erinnern, dass sich Wagner entschieden gegen die Trennung von psychischen und sozialen System ausspricht. Die Religion soll Distanznahme ermöglichen, ihr Ziel ist keineswegs die Flucht des Einzelnen aus der Gesellschaft. In diesem Sinn bezeichnet Wagner ihre Funktion auch als „immanen-
232
WAGNER, Moderne, 196. WAGNER, Marktwirtschaft, 54. Vgl. WAGNER, Moderne, 201f. 234 WAGNER, MM, 184. 235 Die christliche Religion zielt also durchaus darauf, dass dieses Prinzip zur allgemeinen Durchsetzung kommt: „Die christliche Religion entspricht ihrem eigenen Begriff und Selbstverständnis nur dann, wenn von jedem Selbstsein zwischen Himmel und Erde gilt, daß es sein Selbstsein allein auf dem Umweg über sein Anderssein, d.h. in Beziehung und Selbstunterscheidung zu demselben bestimmen und zu praktizieren vermag.“ (WAGNER, Synkretismus 111). Zu beachten ist allerdings, dass die Durchsetzung dieses Prinzips nicht erzwungen werden kann. 236 WAGNER, Leben [CM], 98. 233
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tes Transzendieren“237. Indem die Religion als ein Funktionssystem innerhalb der Gesellschaft angesiedelt ist, signalisiert sie, dass der Mensch immer beides ist: selbstzweckhaftes Subjekt und Rollenträger, dass er durch zwei Dimensionen konstituiert wird, die der Personalität, aber eben auch die der Sozialität. Damit bietet sie sich zweitens als ein Ort an, an dem über genau diese den Menschen zum Menschen machende Differenz von personalem Selbstsein und sozialem Anderssein reflektiert und kommuniziert wird. Diese Kommunikation vermag dann gewinnbringend zu sein, wenn sie über ein normatives Prinzip verfügt, anhand dessen Regeln für das Verhältnis von Selbst- und Anderssein formuliert werden können. Über ein solches „Prinzip der Differenz von Individuum und Gesellschaft“238 verfügt nun die christliche Religion und Wagner erhebt den Anspruch, die Vernünftigkeit und also Allgemeingültigkeit dieses Prinzips aufgezeigt zu haben. Es ist das Prinzip „vermittelter-indirekter Selbstbestimmung, die sich auf Umwege einläßt“239. Die Aufgabe der christlichen Religion in der Gegenwart ist es, ihr Konzept sozialer Freiheit in beide Richtungen geltend zu machen. Sowohl gegenüber einer Überbetonung des Aspekts der Personalität, die sich als übersteigerter Individualismus äußert, als auch und vor allem gegenüber einer Expansion der Sozialität, die sich in der Tatsache zeigt, dass „die sozialen Funktionssysteme das personale Selbstsein der Individuen immer wieder als bloßes Mittel verrechnen und verbrauchen.“240 Demgegenüber fordert die Religion, dass sich die Funktionssysteme für die Bedürfnisse und Wünsche der Individuen öffnen und sich durch sie bestimmen lassen. 2. Das Schicksal des Gottesgedankens Es zeichnet Wagners Denken aus, nie einseitig Partei zu ergreifen, sondern stets um die Vermittlung vermeintlich gegensätzlicher Positionen bemüht zu sein. Dabei sind es vor allem zwei Pole, zwischen denen sich sein Werk entfaltet: Religion (Gottesbewusstsein) und Theologie (Gottesgedanke).241 Dass Wagner Zeit seines Lebens um eine angemessene Interpretation der christlichen Religion bemüht war, bedarf keiner weiteren Begründung. Es ist immer 237
WAGNER, Moderne, 198; Hervorhebung MS. WAGNER, Zweideutigkeit, 150. 239 WAGNER, Marktwirtschaft, 55. Weil das christliche Bewusstsein zugleich weiß, dass dieses Prinzip aus dem Scheitern unmittelbarer Selbstbestimmung resultiert, kann Wagner es noch in einem anderen Sinn als ein „Differenzbewußtsein“ (WAGNER, Recht [Lage], 135) bezeichnen: Das christliche Bewusstsein weiß zwischen unmittelbarer und vermittelter Selbstbestimmung zu unterscheiden (ebd.). 240 WAGNER, Marktwirtschaft, 60. 241 Vgl. die Titel der „Trilogie“ (DIERKEN/POLKE, Wagner, 2) „Was ist Religion“, „Was ist Theologie“, „Religion und Gottesgedanke“. 238
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wieder bemerkt worden, dass Wagner sich in seinen späten Schriften verstärkt um die Ausarbeitung einer eigenen Religionstheorie bemüht hat. Richtig ist, dass in der Wiener Zeit ein neues Vokabular Wagners Texte prägt; die mit ihm formulierten Annahmen zur Eigenart der Religion bleiben aber bezogen auf Probleme, um die es Wagner immer schon ging (nach wie vor ist das bestimmende Thema die Realisierung des Geistes), sodass sich die späte Religionstheorie m.E. organisch in den Realisierungszusammenhang des Wagnerschen Systems fügt. Eine andere Frage ist freilich die nach dem Schicksal des Gottesgedankens. Scheitert Wagner als ein Theoretiker des Absoluten? Darauf deutet zumindest seine Forderung nach einer „Enttheologisierung“ der Religion hin. Diese in den Metamorphosen zum Ausdruck gebrachte Forderung scheint eine Abkehr von dem Projekt zu sein, für das Wagner bislang einstand, denn „[s]ie [die Ent-theologisierung] trägt der Einsicht Rechnung, daß keine stichhaltigen Argumente in Sicht sind, durch die die Geltung des Gottesbewusstseins und des an sich selbst ausgelegten Gottesgedankens begründet werden könnte.“242 Darum war es Wagner doch gegangen: um den Nachweis der Geltung des Gottesbewusstseins durch den Nachweis der Geltung des an sich selbst ausgelegten Gottesgedankens. Behauptet Wagner nun das Scheitern dieses Nachweises, wird man ihm allerdings umgehend die entscheidende Frage zu stellen haben: welcher Gottesgedanke scheitert? Denn Wagner ging es immer schon darum – etwa im Blick auf das Verhältnis von Geld und Gott –, „konkurrierende Gottesverständnisse“243 zu thematisieren und im Zentrum seiner Arbeit steht die Idee, dass sich die Struktur des christlichen Gottesgedankens aus dem Scheitern einer Konzeption ergibt, die Gott als das allmächtige Subjekt begreift (vgl. Teil 3, Kapitel I). Die Frage ist also, ob die Argumentation, mit der Wagner in seinen späten Texten244 das Scheitern des Gottesgedankens zu plausibilisieren versucht, eigentlich eine andere ist als diejenige, die er schon in früheren Texten vertreten hat. Ich gehe davon aus, dass Wagner auch in den Metamorphosen an einer Konzeption des Absoluten festhält und dass diese Konzeption das Scheitern eines anderen Gottesgedankens impliziert. Die „revolutionäre[] Umformung“, durch die der Gottesgedanke „allenfalls“ zu retten sei,245 ist m.E. dann keine andere als die immer wieder beschriebene Manifestationsdialektik. Die Konzeption des Absoluten, die am Ende dieser Umformung steht, nennt Wagner ein „prädikative[s] Verständnis[] des Göttlichen.“246 Im Folgenden ist daher einerseits zu zeigen, dass beim ‚späten‘ Wagner nicht das 242
WAGNER, MM, 165. WAGNER, GoG, 142. 244 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Kapitel 2–4 der Metamorphosen, daneben werden berücksichtigt: WAGNER, Opfer und DERS., Tod. 245 WAGNER, MM, 120. 246 Ebd. 243
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Absolute überhaupt, sondern eine bestimmte Vorstellung des Absoluten scheitert und dass dieses Scheitern anhand einer bereits bekannten Argumentation nachgewiesen wird. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die gescheiterte Version des Gottesgedankens in Wagners System weiterhin eine Funktion innehat, worauf seine Redeweise von der „negativen Theologie“247 hinweist (a). Andererseits ist zu fragen, was mit der Redeweise von Gott als Prädikat gemeint ist. Denn das aus dem Scheitern des Allmachtsgedankens ein prädikatives Verständnis des Göttlichen resultiert, scheint ein Gedanke zu sein, der sich so nur in den späten Texten findet (b). a) „Ent-theologisierung“ In der jetzt zu beschreibenden Transformation des Gottesgedankens lassen sich drei Episoden unterscheiden, die jeweils andere Verhältniskonstellationen von Selbst- und Anderssein beschreiben. Die erste beschreibt ein Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft oder Macht und Ohnmacht, die zweite eines von Gewalt und Gegengewalt, die dritte schließlich ein Verhältnis der Anerkennung. Die ersten beiden Verhältnisse zeigen sich als Umgangsweisen der Instrumentalisierung bzw. des Kampfes (s.o. S. 288f.). Eine ähnliche Einteilung lässt sich auch in Hegels Beschreibung des Herr-KnechtVerhältnisses ausmachen.248 Der Vorstellung der drei Verhältniskonstellationen ist die Frage voranzustellen, warum die Analyse des Gottesgedankens sich überhaupt immer nur als die Beschreibung eines Verhältnisses vollziehen kann. Dies liegt für Wagner daran, dass es stets Menschen sind, die von Gott reden. Vom Faktum des menschlichen Gottesbewusstseins darf bei der Explikation des Gottesgedankens nicht abstrahiert werden. Soll Gott durch das Verhältnis des Menschen zu ihm nicht bedingt sein, so ist dieses Verhältnis „aus der Eigenverfaßtheit des Gottesgedankens verständlich“249 zu machen. Vereinfacht ausgedrückt behauptet der Gottesgedanke immer zwei Dinge zugleich: den Unterschied von Gott und Mensch und (weil dieser Unterschied als solcher Gottes Unbedingtheit dementiert) die Einheit von Gott und Mensch. „Gott bzw. das Absolute“ ist daher „als Verhältniseinheit von Gott und Welt [bzw. Mensch] zu denken“250. 247
WAGNER, MM, 159 (im Original kursiv). Vgl. IKÄHEIMO, Anerkennung, 63ff. Zum Kampf vgl. ebd., 75, zur „instrumentellen Sorge“ von Herr und Knecht vgl. ebd., 86f. 249 WAGNER, MM, 149. 250 WAGNER, MM, 150. An die damit erreichte Bestimmung des Gottesgedankens schließen sich Überlegungen zur Auslegungsart des Absoluten an (die folgenden Zitate ebd., 150–152). Da ein Standpunkt außerhalb des Absoluten nicht möglich ist, kann seine Explikation nur als „Selbstauslegung“ geschehen. An dieser Stelle nun findet sich eine Aussage Wagners, die auf das Scheitern einer Theorie des Absoluten hinweisen könnte: 248
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i) Die erste Episode beschreibt nun die Verhältniseinheit von Gott und Welt als ein asymmetrisches Verhältnis, nämlich „als das Verhältnis von aktiver Selbständigkeit und passiver Abhängigkeit, das einzig und allein in der selbständigen Selbst- und Allmacht des Absoluten gründen soll.“251 Damit ist die Schöpfungsvorstellung formuliert, die nach Wagner philosophische und dogmatische Theologien gleichermaßen zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen. Das mit dieser Vorstellung verbundene Freiheitsverständnis bezeichnet Wagner als „Herrschaftsfreiheit“252 und er vertritt die Auffassung, dass die gesamte christliche Tradition – von „Paulus über Luther bis hin zu Karl Barth“253 – Freiheit als Herrschaft konzipiert hat. In diesem Modell dient Gott die „Welt als Mittel, die eigene Selbständigkeit zu offenbaren.“254 Genau diese Aufgabe, in ihrer Ohnmacht die Allmacht des Schöpfers zu manifestieren, kann die Welt jedoch nicht erfüllen. Wagner geht davon aus, dass die Ohnmacht für sich betrachtet nicht auf ein allmächtiges Subjekt verweist, die Möglichkeit einer solchen Verweisfunktion setze vielmehr die Kenntnis eines solchen Subjekts immer schon voraus.255 Zum Problem wird die Schöpfungsvorstellung also dann, wenn sich der Schöpfer als Schöpfer erweisen bzw. manifestieren soll. Denn um sich als Schöpfer zu erweisen, braucht er die Welt, in ihrer Abhängigkeit ist sie aber nicht geeignet, seine Freiheit zu manifestieren. Wagner meint nun, dass dann, wenn die „Angewie-
„Über diesen Selbstvollzug [des Absoluten] verfügt jedoch nicht einmal eine noch so hochkarätige Theorie des Absoluten. Eine Theorie des Absoluten kann sich nämlich immer nur an den Gedanken der Selbstauslegung des Absoluten halten.“ Die Differenz zwischen der Selbstauslegung und dem Gedanken der Selbstauslegung ist nicht zu überwinden. Wagners Analyse endet aber nicht mit dieser Einsicht, sondern fragt stattdessen, wie es möglich sein kann, dass sich der sich selbst auslegende Gott an der Stelle des Gedankens der Selbstauslegung manifestiert. Dafür ist zu berücksichtigen, dass die dem Absoluten „äußere Reflexion […] nicht irgendetwas, sondern den gemeinten Gedanken des Absoluten auszulegen“ hat (ebd., 151f.; vgl. ebd., 117f.). Dieses Argument verwendet Wagner auch in frühen Texten, wenn er sagt, dass sich das Denken des Gottesgedankens dem Gottesgedanken zu unterstellen habe (S.o. S. 165). Der Gedanke der Selbstauslegung manifestiert dann den Vollzug der Selbstauslegung, wenn er an seiner Stelle eben diesen Vollzug widerspiegelt, wenn also der Vollzug an der Stelle seines Andersseins (des Gedankens) expliziert wird. Von der Logik eines Im-Anderen-bei-sich-selbst-Seins nimmt Wagner auch in diesen späten Ausführungen nicht Abstand (Wagner, MM, 152): „Wie der nominal definierte Gedanke des Absoluten die Innerlichkeit repräsentiert, die als Einheit von Innerlichkeit und Äußerlichkeit zu denken ist, so ist die kraft äußerer Reflexion gesetzte Äußerlichkeit nicht als bloße Äußerlichkeit, vielmehr als eine die Einheit der Innerlichkeit und Äußerlichkeit manifestierende Äußerlichkeit auszulegen.“ 251 WAGNER, MM, 152. 252 WAGNER, MM, 181; Hervorhebung MS. 253 WAGNER, MM, 181. 254 WAGNER, Opfer [CM], 521. 255 Vgl. WAGNER, MM, 154.
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senheit“256 des Schöpfers auf sein Geschöpf zum Zweck seiner Selbstmanifestation ins Bewusstsein tritt, eine „Um- und Weiterbestimmung“257 beider Seiten, des allmächtigen Gottes und des abhängigen Geschöpfes, geschieht. Die Umbestimmung besteht darin, dass beide Seiten die Bestimmung der jeweils anderen auf sich ziehen, so dass der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf hinfällig wird. Weil beide Seiten des Verhältnisses nun identisch sind, kann tatsächlich von einer Selbstmanifestation geredet werden; das, was sich manifestiert, ist allerdings nicht das allmächtige Subjekt, da beide Seiten sowohl bedingend wie bedingt, aktiv und passiv, sind. Das Resultat der Selbstmanifestation des Schöpfergottes ist also die „Pattstellung“ 258 von Schöpfer und Geschöpf. ii) Im Zuge der göttlichen Selbstmanifestation offenbart sich die Welt als „Gegenmacht“259. Die zweite Episode beschreibt daher ein symmetrisches Verhältnis: die Verhältniskonstellation besteht jetzt in einem „Gegeneinander selbstbestimmter Subjekte“260. Halten nun beide Subjekte an dem bisherigen Konzept unmittelbarer Selbstbestimmung fest, indem sie ihre eigene Abhängigkeit ausblenden, so werden sie im Wirken des Gegenübers eine „Störung“261 dieses Identitätskonzepts wahrnehmen; sie werden daher jeweils versuchen, die Selbständigkeit ihres Gegenübers auszuschalten. Die Folge ist ein Verhältnis von Gewalt und Gegengewalt. Das Verhältnis wechselseitiger Gewalt basiert darauf, dass es zwei Subjekte gibt, die beide von ihrer Abhängigkeit abstrahieren, sich mithin als ausschließlich selbstbestimmend verstehen und ein Bestimmtwerden daher als Infragestellung ihrer Identität als freier Subjekte begreifen müssen. Ein Ausstieg aus dieser Situation ist nur dann möglich, wenn das Bestimmtwerden bzw. die Abhängigkeit als ein möglicher Zustand innerhalb des Verhältnisses akzeptiert wird. Eine solche Integration der Abhängigkeit in das Verhältnis kann auf zweierlei Weise geschehen. Entweder unterwirft sich das eine Subjekt um seiner Selbsterhaltung willen dem anderen; Selbstständigkeit und Abhängigkeit werden also je einem Subjekt zugeordnet. Die Folge ist die Wiederherstellung des Zustands der ersten Episode: Subjekt A gefährdet nicht länger die Selbständigkeit von Subjekt B, es begibt sich vielmehr in die Rolle des Instruments, mittels dessen Subjekt B seiner eigenen Selbständigkeit ansichtig werden kann. Da das erneuerte Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft aber letztlich auf einem symmetrischen Verhältnis beruht, wird es immer dann, wenn diese Symmetrie bewusst gemacht und eingefordert wird, in Verhältnisse der Ge256
WAGNER, MM, 155. Ebd. 258 WAGNER, MM, 156. 259 WAGNER, MM, 156. 260 WAGNER, MM, 182. 261 WAGNER, MM, 157. 257
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walt und Gegengewalt zurückfallen. Als einen solchen Kreislauf von Unterdrückung und Gewalt meint Wagner die Menschheitsgeschichte lesen zu können,262 in der Theologiegeschichte spiegelt er sich in der Folge Orthodoxie, Neuprotestantismus, Wort-Gottes-Theologie wider (s. Teil 2, Kap. I). Ein Ausstieg aus diesem Kreislauf kann nur dann erfolgen, wenn beide Subjekte Abhängigkeit in ihr Konzept von Selbständigkeit integrieren. Beide Subjekte akzeptieren, dass sie ihre Selbständigkeit nicht durch Bekämpfung, sondern allein durch Anerkennung der Selbständigkeit ihres Gegenübers realisieren können. iii) Wie die zweite geht auch die dritte Episode von der Symmetrie von Selbst- und Anderssein aus. Der Unterschied besteht darin, dass beide Subjekte diese Symmetrie nicht länger als Gefährdung, sondern als Voraussetzung ihrer Freiheit ansehen. Anders als in der ersten Episode ist es damit nicht länger die Abhängigkeit, sondern gerade die Selbständigkeit des anderen Subjekts, mittels derer ein Subjekt seine eigene Selbständigkeit realisiert. Nicht ein abhängiges, sondern ein freies Gegenüber ist nötig, um sich der eigenen Freiheit zu vergewissern. Oder anders: Freiheit lässt sich nur als soziale Freiheit realisieren.263 Dieses dritte Verhältnis folgt daher, so Wagner, „dem Kriterium der kopräsenten Korrespondenz von selbständigem Selbstsein und selbständigem Anderssein. Dieses Kriterium besagt: Jedes selbständige Selbstsein ist, um seine Selbständigkeit zu realisieren, auf ein selbständiges Anderssein angewiesen.“264 Das Dilemma des Gottesgedankens lässt sich folglich so beschreiben: Um sich als absolute Selbstbestimmung zu manifestieren, ist Gott auf die Welt angewiesen. Aber diese Angewiesenheit impliziert bereits, dass die Welt nicht als bloß abhängig oder passiv bestimmt werden kann. Kommt der Welt jedoch Selbständigkeit zu, dann kann Gott nicht länger das absolute Subjekt sein, da er an der Selbständigkeit der Welt seine Grenze findet. Es sollte deutlich sein, dass diese Aporie und die drei beschriebenen Episoden mit den Argumenten der frühen Texte übereinstimmen. Auch hier findet sich zunächst eine „Asymmetrie zwischen Aktivität und Passivität, Macht und Ohnmacht“, auch hier erwächst dem gewaltigen Gott sodann eine „Gegengewalt“ und schließlich findet sich die Lösung auch hier in einer affirmativen Lesart der entdeckten Symmetrie.265 In den frühen Texten findet sich im Anschluss an die rein begriffliche Analyse der Darstellung der Transformation des Gottesgedankens eine Rekonstruktion desselben Sachverhalts mit dem biblischen
262
Vgl. WAGNER, MM, 179ff. Wagner kann auch von inklusiver Freiheit sprechen: eine Freiheit, die die Freiheit des anderen einschließt. 264 WAGNER, MM, 158; Hervorhebung MS. 265 Vgl. WAGNER, Einleitung [RG], 382–384; vgl. insgesamt Teil 3, Kap I. 263
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Vierter Teil
Vorstellungsmaterial. Gleiches gilt für die Metamorphosen:266 Einerseits behauptet die Bibel Gottes Allmacht. Dieser Anspruch sieht sich allerdings mit der Wirklichkeit eines beständig murrenden Volkes konfrontiert: statt sich Gottes angeblich „nicht begrenzbare[r] Machtfülle“ zu beugen, sind die Menschen „dauerhaft damit beschäftigt, den Aufstand gegen Gott zu proben“267. Der Idee des absoluten Subjekts steht die Wirklichkeit zweier ebenbürtiger Subjekte gegenüber. Das Christentum akzeptiert mit seiner Vorstellung einer Menschwerdung Gottes eben diese Wirklichkeit. Gott anerkennt den Menschen als selbständiges Subjekt, vollzieht mit seiner Menschwerdung die „Aufhebung der Differenz zwischen Gott und Mensch“268 und gibt sich dadurch als absolutes Subjekt auf. Mit der Menschwerdung wird die „symmetrische Unterschiedslosigkeit“ von Gott und Mensch, wird ihre „PattStellung ausdrücklich akzeptiert“269. An dieser Stelle tun sich die zwei genannten Möglichkeiten auf (Episode 2 und 3), deren eine Wagner als Tod Gottes bezeichnet und deren andere man als Auferstehung bezeichnen könnte (was Wagner freilich gerade nicht tut). Der Tod Gottes meint einen „Subjektund Machtwechsel“270, dessen Möglichkeit in der Unterschiedslosigkeit von Gott und Mensch begründet ist. Der Mensch begreift sich als selbständiges Subjekt, interpretiert seine Selbständigkeit aber im Sinne der göttlichen Allmacht: er setzt sich an die Stelle Gottes. Für den Menschen gilt nun ebenfalls, dass er den mit dem Subjektwechsel erhobenen Anspruch in der Wirklichkeit wird erweisen müssen. Um zu zeigen, was er zu sein behauptet, wird der Mensch „die asymmetrische Differenz zwischen Selbständigkeit und Abhängigkeit, Macht und Ohnmacht, Herrschaft und Gehorsam erneut entstehen lassen.“271 Der Mensch, der Gott vernichtet hat, bleibt dennoch von ihm beherrscht. „Nur ein Austausch des Machtpersonals, aber nicht eine Suspendierung der Machtlogik wird mit der Ersetzung der göttlichen durch die menschliche Macht erreicht.“272 Die zweite Möglichkeit eröffnet sich dem Menschen nur dann, wenn er die Unterschiedslosigkeit zwischen sich und Gott beim Wort nimmt. Wie für Gott gilt dann auch für ihn, dass er zum Erweis seiner Selbständigkeit auf ein selbständiges Anderssein angewiesen ist. Seine Göttlichkeit (seine Freiheit) vermag der Mensch also nicht durch ein ohnmächtiges, sondern allein durch ein ihm ebenbürtiges selbständiges Anderssein zu erweisen. Nur dann, wenn diese Einsicht zur Durchsetzung gelangt, „wird das gescheitere göttliche Macht-Subjekt durch die neue Logik der reflexiven 266
Vgl. WAGNER, MM, 159ff. WAGNER, MM, 160. 268 WAGNER, MM, 162. 269 Ebd. 270 WAGNER, MM, 163. 271 Ebd. 272 WAGNER, MM, 164. 267
III. Religion und Gottesgedanke
305
Anerkennung substituiert.“273 Reflexiv ist die Anerkennung, weil der Mensch sein eigenes Anerkanntsein als freies Subjekt allein durch die Anerkennung anderer freier Subjekte realisieren kann. In diesem Zusammenhang, dort also, wo Wagner von der Ersetzung der Machtlogik durch die Logik wechselseitiger Anerkennung spricht, fällt auch der Begriff der „Ent-theologisierung“274. Der Begriff ist daher auf das Scheitern der Machtlogik zu beziehen. Versteht man unter Gott ein allmächtiges Subjekt, so ist dieser Begriff mit Wagner nicht zu retten. Das hat auch Folgen für die christliche Religion, insofern sie bislang einem solchen Gottesverständnis verpflichtet war. Wagner fordert daher die Umformung der Religion, die letztlich nichts anderes als die Realisierung der Menschwerdung Gottes bedeutet. Allerdings hält Wagner auch an der Theologie im engeren Sinn, also an der Rede vom absoluten Subjekt fest. Sie übernimmt jetzt jedoch die Funktion einer negativen Theologie. Die negative Theologie übt immer dann Kritik, wenn personale oder soziale Subjekte dazu tendieren, sich absolut zu setzen, wenn sie sich also in sich verschließen oder die Selbständigkeit anderer Subjekte gefährden.275 Sie tut dies aber nicht, indem sie auf den Unterschied von Schöpfer und Geschöpf hinweist. Ihr Argument lautet nicht, dass der Mensch sich nicht verabsolutieren dürfe, weil allein Gott die Ehre des absoluten Subjekts gebührt, sondern sie erinnert daran, dass die Realisierung absoluter Freiheit grundsätzlich zum Scheitern verurteilt ist und stets in Verhältnisse der Gewalt und Gegengewalt führen wird. In solch einem negativen Sinn bleibt die klassische Schöpfungstheologie relevant. b) Das prädikative Verständnis des Gottesgedankens Neben der Kritik an einem absoluten Subjekt findet sich in den Metamorphosen auch ein positiver Bezug auf den Begriff des Absoluten. Als „absolut“276 oder „göttlich“277 sollen Verhältnisse bezeichnet werden, die eine „Praxis wechselseitiger Anerkennung“278 zum Ausdruck bringen. Entscheidend ist an dieser Stelle die Betonung der Praxis: Gott ist kein Gegenstand oder Wesen, sondern ein Geschehen; es gibt ihn nur in Vollzügen gegenseitiger Anerkennung. Ist Gott der Geist der Anerkennung, dann ist er die „Logik einer Handlungspraxis“279. Verhältnisse zwischen Individuen und/ oder Institutionen, die sich einer erfolgreichen Umsetzung dieser Logik verdanken, bezeichnet
273
WAGNER, MM, 165. Ebd. 275 Vgl. WAGNER, MM, 166. 276 WAGNER, MM, 119. 277 WAGNER, MM, 120. 278 WAGNER, MM, 114. 279 WAGNER, MM, 116. 274
306
Vierter Teil
Wagner als „göttlich“280. Die christliche Religion weiß zwar um den Geist der Anerkennung, ja, in ihren Vorstellungen wird er sogar erstmals zur Sprache gebracht. Die Struktur der Vorstellung bringt es jedoch mit sich, dass der Geist nicht als eine Handlungspraxis, sondern als ein Wesen aufgefasst wird, als ein „Substanz-Geist“281, zu dem sich das religiöse Bewusstsein in das bekannte (und aporetische) einseitige Abhängigkeitsverhältnis setzt. Dadurch blockiert das Christentum als Religion die Realisierung des Geistes.282 Den Vollzugscharakter des Geistes, auf den er mit seiner Redeweise vom prädikativen Verständnis des Gottesgedankens hinaus will, arbeitet Wagner denn auch nicht anhand der christlichen Religion heraus, sondern dort, wo er Hegels frühe Kritik an Kants Moralphilosophie thematisiert.283 Auch bei Kant findet sich demnach ein asymmetrischer Dualismus, eine Herrschaft des Allgemeinen über das Individuelle. Gemeint ist die Dominanz des Sittengesetzes, mit der eine Unterdrückung der individuellen Bedürfnisse einhergeht. Die Pflicht und das Gewissen, „das harte Herz“ und „die schöne Seele“ sind entzweit.284 Der Konflikt zwischen Gewissen und Pflicht resultiert daraus, dass beide Positionen sich jeweils ohne Rücksicht auf ihr jeweiliges Anderssein zu realisieren suchen, und seine Lösung besteht in einem Akt der „Verzeihung“285, der so zu beschreiben ist, dass beide Seiten die bisherige Missachtung ihres Gegenübers eingestehen und sich fortan bemühen, „die eigene Position auf dem Umweg über die momentane Berücksichtigung der jeweils anderen Position“286 aufzubauen. An diesem Punkt führt Wagner den Begriff des absoluten Geistes ein, für den er nur noch eine prädikative Verwendungsweise zulassen will. „Die Rede vom absoluten Geist hebt auf die symmetrische Korrespondenz und Kopräsenz des Selbstseins und Andersseins ab, die ihr jeweils selbständiges, ob schon besonderes Eigensein als die erfüllte Einzelheit manifestieren, die als konkretisierte Selbstbeziehung den Zusammenschluß von Allgemeinheit und Besonderheit, von Selbst- und Fremdreferenz zum Ausdruck bringt. Der aufgrund der wechselseitigen Anerkennung realisierte Zusammenschluß manifestiert den absoluten Geist als Kon-Subjektivität der beteiligten Subjekte in ihrer Allgemeinheit und Besonderheit vereinigenden Einzelheit.“287
Bemerkenswert ist zunächst, dass Wagner hier das hegelsche Vokabular von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit aufgreift, mit dessen Hilfe er an anderer Stelle die Trinitätslehre rekonstruiert. Man wird sagen können, dass 280
WAGNER, MM, 120. WAGNER, MM, 111. 282 Siehe dazu auch in dieser Arbeit das Kapitel zur Struktur des religiösen Bewusstseins (S. 44ff.) und die Bemerkungen zum halbierten Protestantismus (S. 273). 283 Vgl. WAGNER, MM, 85–90. 284 WAGNER, MM, 87. 285 WAGNER, MM, 88. 286 WAGNER, MM, 88f. 287 WAGNER, MM, 89. 281
III. Religion und Gottesgedanke
307
sich in der Handlungspraxis der Anerkennung der trinitarische Gott manifestiert, wenn man berücksichtigt, dass mit der Trinitätslehre kein Wesen, sondern die Aufbauelemente einer Handlungslogik beschrieben werden. Sodann ist darauf hinzuweisen, dass durch die Praxis der Anerkennung ein Zusammenschluss realisiert wird. Dieses Festhalten an der Einheit gegenüber der bloßen Betonung der Differenz autonomer Systeme ist es m.E., was Wagner von Luhmann unterscheidet. Der Zusammenschluss findet so statt, dass sich beide Seiten eines Verhältnisses bei der Realisierung ihres Selbstseins immer auch um die Realisierung eines freien Andersseins bemühen werden, sodass für beide Seiten gilt, dass ihre Selbstexplikation zugleich auch an der Stelle ihres jeweiligen Andersseins geschieht. Wenn beide Seiten ihre Ziele nur so verfolgen, dass sie zugleich die Ziele des anderen verfolgen (oder sie zumindest bei der Wahl ihrer Ziele berücksichtigen), wenn also beide Seiten beim jeweils anderen bei sich selbst sein können, dann sind auf beiden Seiten des Verhältnisses sowohl das Selbst- als auch das Anderssein gegenwärtig, und das ist es m.E., was Wagner unter Kopräsenz bzw. Kon-Subjektivität versteht.288 Schließlich ist noch einmal zu betonen, dass der Geist, dass Gott nirgendwo anders ist als in einer solchen Praxis der Anerkennung. Mit dieser Einsicht richtet sich Wagner vor allem auch an das gegenwärtige Christentum. Es ist die Würde des Christentums, dass in seinem Zentrum der „Botschafter der Anerkennung“289 steht. Und es ist sein Fehler, sich seinem Stifter zu unterwerfen und gerade dadurch dessen Auferstehung zu verhindern. Mit seinen Schriften tritt Wagner dafür ein, dass auch das Christentum endlich zu einem Realisator seines eigenen Geistes wird. Im Sinne eines solchen Appells wird man auch die Worte lesen dürfen, mit denen Wagner einen späten Text zur Bedeutung des Todes Jesu enden lässt: „Der Botschafter Jesus von Nazareth wird nicht nur gewaltsam getötet, sondern sein Leichnam läßt sich auch nicht zu neuem Leben erwecken. Aber überall dort, wo seine Botschaft der Anerkennung anerkannt und folglich realisiert wird, bestimmt der göttliche Geist seiner Botschaft den menschlichen Selbst- und Weltumgang: Dann existiert Christus als der seiner Anerkennungsbotschaft entsprechende Geist des Christentums, der einzig und allein dann präsent ist, wenn der menschliche Selbst- und Weltumgang entsprechend der Logik freier Anerkennungsverhältnisse gestaltet wird.“290
288
Während Wagner den Begriff der Konsubjektivität an dieser Stelle zur Beschreibung innerweltlicher Verhältnisse heranzieht, kann er ihn in seiner Darstellung des hegelschen Begriffs der Religion auch auf das Verhältnis von Gott und Mensch beziehen, vgl. WAGNER, Aufbau [RuG], 168. 289 WAGNER, Tod, 337. 290 WAGNER, Tod, 340.
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Vierter Teil
Fazit Fazit
Wagner unterscheidet in seinem eigenen theologischen Entwurf zwischen einem Begründungs- und einen Realisierungszusammenhang. Das entspricht seiner Forderung, dass man die Differenz zwischen dem objektiven Gottesgedanken und dem subjektiven Gottesbewusstsein nicht einziehen dürfe. Mit dem Übergang zur Pneumatologie vollzieht sich daher ein Ortswechsel: aus der Sphäre des Allgemeinen hinab an den Ort des konkreten Subjekts. Dessen Gottesbewusstsein ist der Ort, an dem – so eine Formulierung Wagners – der Gottesgedanke seine Realität hat, der diese Realität aber noch nicht ist.291 Die Frage ist dann, wie das religiöse Subjekt zur Realität des Gottesgedankens wird. Zur Antwort gelangt man, wenn man einmal auf die Struktur des Gottesgedankens und sodann auf die Situation des religiösen Subjekts schaut. Die Struktur des Gottesgedankens ist als Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins oder als ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung zu beschreiben. Das religiöse Bewusstsein ist das Individuum, das (an der Stelle des Andersseins) um diese Struktur weiß. Als religiöses Bewusstsein tendiert das Individuum dazu, die gewusste Struktur zu vergegenständlichen; die Realisierung des Gottesgedankens findet jedoch erst dann statt, wenn das Individuum die Struktur anerkennt, womit gemeint ist, dass es sie an seiner Stelle vollzieht. Für diesen Vollzug ist nun die Situation des Individuums genauer zu betrachten. Wagner konzipiert sie nämlich so, dass sie in einer bestimmten Hinsicht der Struktur des Gottesgedankens von vornherein entspricht. In beiden Fällen, sowohl an der Stelle des Gottesgedankens als auch an der Stelle des Individuums, wird ein Verhältnis thematisch. So wie Gott nicht ohne sein Anderes beschrieben werden kann, lässt sich auch das menschliche Individuum nur zusammen mit der Gesellschaft darstellen; eine alternative, ‚atomistische‘ Sichtweise auf das Individuum hält Wagner für abstrakt. Darin folgt er Hegel, dessen gesellschaftstheoretischer Ansatz sich gegen solche Entwürfe richtet, die von einzelnen Subjekten ausgehen, die erst nachträglich in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Für Hegel ist die Gemeinschaft demgegenüber nichts, was die Individuen allererst bilden müssen, sondern gewissermaßen der Naturzustand, in dem sie sich immer schon vorfinden.292 Die These, dass der Gemeinschaftsbezug ein grundlegender Aspekt von Individualität selber ist, nimmt Wagner dadurch in seine Theorie auf, dass er an der Stelle des Individuums die Dimensionen der Personalität und der Sozialität unterscheidet. Stimmen die Struktur des Gottesgedankens und die Situation des Individuums darin überein, dass sie ein Verhältnis beschreiben, dann besteht die Anerkennung Gottes durch den Menschen darin, dass das Individuum das Verhältnis zu seinem anderen nun ebenfalls entspre291 292
S.o. S. 255, Anm. 10. Vgl. HONNETH, Kampf, 13ff. (Kapitel 1 und 2).
Fazit
309
chend der Struktur wechselseitiger Anerkennung gestaltet. Wagner kann in diesem Fall auch von einer Säkularisierung sprechen: die wechselseitige Anerkennung von Gott und Mensch, wie sie im Christusgeschehen zum Ausdruck kommt, findet ihre weltliche Entsprechung (findet ihre weltliche Anerkennung) in der wechselseitigen Anerkennung von Individuum und Institution. Dabei vollzieht sich die Säkularisierung auf autonome Weise und der Status der Autonomie ist sowohl dem Individuum als auch seinem Gegenüber zuzusprechen. Teilen nun das Individuum und seine gesellschaftliche Umwelt das Prädikat der Selbstbestimmung, dann ließe sich das zunächst so auffassen, dass die Freiheit des einen an derjenigen des anderen ihre Grenze hat. Die Selbstbestimmung des Individuums würde sich dann auf den Bereich des Privaten beschränken, während es sich etwa bei der Ausübung seines Berufs als fremdbestimmt erleben würde. Die Regeln der Institutionen wären nicht das Dasein, sondern die Grenze seiner Freiheit. Während die Freiheit des Einzelnen an seiner Haustür endete, bliebe umgekehrt den Institutionen der Zugriff auf die Motiv- und Absichtsebene versperrt. Einen solchen Dualismus von innerer und äußerer Freiheit, bei dem die Freiheit der einen Seite die der anderen in Frage stellt, lehnt Wagner im Anschluss an Hegel ab. Er übernimmt dessen Freiheitsverständnis, das Honneth aus der Sicht des Individuums folgendermaßen beschreibt: „Nicht nur die individuellen Absichten sollen dem Maßstab genügen, ihrerseits ohne jede Fremdeinwirkung zustande gekommen zu sein, sondern auch die äußere, soziale Realität soll so vorgestellt werden können, daß sie frei von aller Heteronomie und jedem Zwang ist.“293 Die Forderung ist also die, dass das Individuum im Anderen, in der „äußere[n] Wirklichkeit“294, bei sich sein kann, wobei nach Wagner dieselbe Forderung auch aus der entgegengesetzten Perspektive geltend zu machen ist. Was aber ist damit gemeint, dass Individuum und Institution im anderen jeweils bei sich sein können? Vielleicht kann man es so verstehen, dass der Andere nicht mehr als Fremder betrachtet, sondern in das eigene Selbstkonzept aufgenommen wird. Es wird anerkannt, dass man nicht ohne den Anderen man selbst sein kann. Nimmt man etwa die Perspektive des Individuums sein, dann äußert sich diese Anerkennung konkret so, dass das Individuum sich für die Belange der Anderen (der Allgemeinheit) öffnet, dass es sich, so eine andere Formulierung Wagners, durch sie prägen lässt. Es wird dann die Dimension der Sozialität, seine sozialen Rollen in den verschiedenen Institutionen, als einen Teil seiner selbst affirmieren. Ein solches Individuum, das sich offen zeigt für die Belange der Allgemeinheit, dass sich durch Interessen der Anderen prägen lässt und sie aktiv verfolgt, manifestiert das Allgemeine an der Stelle seines Andersseins. Die besondere Aufgabe der christlichen Sozialethik erblickt Wagner nun aber vor allem darin, auf die Wechselseitig293 294
HONNETH, Recht, 84. HONNETH, Recht, 84.
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Vierter Teil
keit der Anerkennung zu achten. An den Sozialwissenschaften kritisiert Wagner, dass sie auf einseitige Weise die eben beschriebene „Entfaltung des gesellschaftlich Allgemeinen im Besonderen“295 thematisieren, „die Person wird nur als Rollenträger betrachtet, der Rollenträger aber nicht als singuläre Person.“296 Demgegenüber klagt die Sozialethik ein, dass die Institutionen offen gehalten werden müssen für die Interessen der Individuen.297 Die institutionellen Handlungsregeln sind, so könnte man vielleicht sagen, immer wieder neu unter Berücksichtigung der je betroffenen Individuen auszuhandeln. Durch die Integration erweisen sie sich als „wandelbar und entwicklungsfähig“298 und in ihrer Wandelbarkeit manifestiert sich das Besondere an der Stelle des Allgemeinen. Wenn die Verhältnisse von Individuen und Institutionen sich als ein in sich differenziertes Ganzes, als eine Einheit von Selbst- und Anderssein gestalten, manifestieren sie Gott in der Welt. Aus dem dualistischen Grundzug, der Wagners Theorie innewohnt – Individuum und Institution, psychisches und soziales System, Personalität und Sozialität, innere und äußere Freiheit etc. – ergibt sich dann auch der doppelte Sündenbegriff, mit dem Wagner seine eigene Gegenwart interpretiert. Denn die Realisierung des eben beschriebenen Ideals wird dann aufgehalten, wenn eine der beiden Seiten die Anerkennung der jeweils anderen verweigert und am Prinzip unmittelbarer Selbstbestimmung festhält. In beiden Fällen findet die Selbstexplikation an der Stelle des Anderen auf einseitige Weise, in Form einer Selbstdurchsetzung statt; eine Illustration dieser beiden Möglichkeiten der Sünde ist durchaus anhand der Namen Schleiermacher und Barth möglich. Während bei Schleiermacher der Gottesgedanke zum bloßen Ausdrucksphänomen eines Individuums wird, degradiert Barth den Einzelnen zum anonymen Rollenträger. In beiden Theologien finden sich daher gegenwärtige Krisensymptome vorgezeichnet: übersteigerte Selbstverwirklichungsansprüche einerseits, die gleichschaltende Logik vor allem des kapitalistischen Wirtschaftssystems andererseits. Dabei betont Wagner den zweiten 295
WAGNER, Sozialethik [WiTh], 388. Ebd. 297 Mit Blick auf die sozialen Rollen, die ein Individuum in der Gesellschaft einnimmt, ließe sich diese Forderung nach Offenheit im Anschluss an Neuhousers Hegelinterpretation auch so formulieren, dass der Einzelne die Rollen als den Ort seiner Selbstverwirklichung begreifen können muss. Das impliziert, dass diese Rollen nicht starr gefasst werden, sondern einen Interpretationsspielraum für das je besondere Subjekt und seine Fähigkeiten bieten. So hält Neuhouser hinsichtlich der Institutionen der Sittlichkeit fest: „While social members define their identities in terms of social roles they do not themselves create, executing those roles within the world is less like a mechanical translation of norms into action than an interpretive performance in which individuals determine their actions in accord with their own ideas about how best to exemplify the roles they take as their own” (NEUHOUSER, Foundations, 108; Hervorhebung MS). 298 WAGNER, Sozialethik [WiTh], 389. 296
Fazit
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Aspekt – die Dominanz des Allgemeinen – zweifelsohne stärker; das entspricht der Zielrichtung seiner Sozialethik, sich vor allem für die Freiheit des Individuums einzusetzen. In dieses Bild fügt sich dann auch Wagners späte Religionstheorie. Denn diese ist in besonderer Weise der „Perspektive der Individuen“299 verpflichtet. Dabei ist für Wagner die Religion nicht nur der Ort, an dem das Individuum sich als solches artikulieren kann und an dem damit überhaupt erst der Unterschied zwischen Personalität und Sozialität explizit wird. Als christliche stellt die Religion auch Vorstellungsmaterial bereit, das von der Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem handelt. Eine Aktualisierung der christlichen Gehalte ist freilich gleichbedeutend mit einer Selbstaufhebung des Christentums als einer Religion im gewöhnlichen Sinn – und mit einer Enttheologisierung der christlichen Theologie, insofern diese bislang dem Gott der Religion verpflichtet war. Wie am Ende der ersten beiden Teile bietet es sich auch an dieser Stelle an, noch einmal kritisch auf Wagners Theologie zurückzuschauen. Wagner geht davon aus, dass sich der göttliche Geist dann in der Welt manifestiert, wenn der einzelne Mensch und seine soziale Umwelt nicht länger der Logik unmittelbarer Selbstbestimmung folgen, sondern stattdessen ihre Verhältnisse gemäß dem Prinzip wechselseitiger Anerkennung regeln. Die Frage muss nun aber lauten, wie eigentlich der Übergang von der unmittelbaren zur vermittelten Selbstbestimmung motiviert ist. Wie gesehen, wird ein solcher Wechsel der bestimmenden Logik für Wagner dann möglich, „wenn erkannt und anerkannt wird, daß die freie Selbstbestimmung jedes Selbstseins die ebenso freie Selbstbestimmung des jeweiligen Andersseins nicht aus-, sondern einschließt.“300 Kurz: bei Wagner resultiert die Umkehr aus „Einsicht“301. Ist es jedoch plausibel, dass der bloße Nachvollzug einer – noch dazu recht komplexen – Argumentation Menschen dazu motiviert, ihre Handlungslogik zu wechseln? Zu Recht weist Christian Henning auf den Einwand hin, „daß sich heute wohl kaum noch ein Mensch für die christliche Religion zurückgewinnen oder darin halten läßt, wenn man ihm die christlichen Grundgehalte nur vernunftmäßig zu plausibilisieren versteht. Rationale Plausibilität allein erzeugt noch gesellschaftliches Engagement, geschweige denn religiöse Grundgestimmtheit.“302 Zudem ziehen sich bei Wagner die christlichen Gehalte zu einer einzigen Argumentationsfigur zusammen, von der sich mit Kant sagen lässt, „daß die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie hätten kommen können“303. Es ist jedenfalls auffällig, dass Wagner sich etwa bezüglich der 299
WAGNER, Moderne, 189. WAGNER, MM, 182; Hervorhebung MS. 301 Ebd. Zum Begriff der Umkehr bei Wagner vgl. die Schlussbetrachtung. 302 HENNING, Nutzen, 197. 303 KANT, Religion, 204. 300
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Vierter Teil
Christologie die Mühe macht „den gesamten Lehrbegriff der der altprotestantischen Theologie von der Zweinaturen- bis hin zur Ständelehre […] zu reformulieren“304, um dann in jedem Lehrstück immer nur wieder Aufbauelemente der auch vernünftig einsehbaren Struktur wechselseitiger Anerkennung zu finden. Gleiches gilt für das Leben und die Botschaft Jesu; beide sind für Wagner nicht wirklich von Interesse,305 sondern dienen zur Illustration seiner (auch unabhängig davon entfaltbaren) Anerkennungslehre. Dass der Mensch den Übergang von der unmittelbaren zur vermittelten Selbstbestimmung selbst leisten kann und soll (wobei sich das genannte Motivationsproblem auftut) und dass er auch aus eigener Kraft wissen kann, „wodurch und wie“ sich freie Verhältnisse realisieren lassen306, zeigt schließlich, dass die erlösende Dimension des christlichen Glaubens in Wagners Theologie keinen Ort hat. Zwar kennt und betont Wagner die Figur des starken Anderen; Kategorien wie ‚das ganz Andere‘, ‚von außen Kommende‘, ‚schlechterdings Neue‘ oder ‚Unableitbare‘ scheinen aber mit seinem idealistischen Ansatz nicht vereinbar zu sein.307
304
DANZ, Selbstexplikation, 146. Vgl. DIERKEN, Christologie, 204. 306 WAGNER, MM, 115. 307 Anders ist dies etwa in der Theologie von Christian Danz. Danz bestimmt – mit Wagner durchaus vergleichbar – den Glauben als das Geschehen des Sich-VerständlichWerdens des Menschen, hält dabei aber fest: „Der Glaube als das Geschehen des SichVerständlich-Werdens des Menschen ist zwar unabdingbar an die menschliche Selbstauslegung gebunden, aber dass sich menschliches Sich-Verstehen einstellt, ist unableitbar“ (DANZ, Einführung, 142). 305
Schlussbetrachtung: Christliche als soziale Freiheit ‚Soziale Freiheit‘ ist ein Begriff, der verwendet wird, um die Eigenart des Hegelschen Freiheitsverständnisses zu charakterisieren.1 Hegel ist ebenfalls an der Autonomie des Einzelnen interessiert, zugleich betont er aber die konstitutive Rolle der Institutionen, wenn es um die Frage nach der Wirklichkeit individueller Freiheit geht.2 Folgt man Axel Honneth, dann gewinnt Hegels Ansatz gerade durch diesen Einschluss der gesellschaftlichen Umwelt des Individuums an Plausibilität gegenüber konkurrierenden Freiheitskonzeptionen: „Hegels Idee sozialer Freiheit besitzt ein höheres Maß an Übereinstimmung mit vortheoretischen Intuitionen und sozialen Erfahrungen, als es den anderen Freiheitsvorstellungen der Moderne je möglich gewesen ist. Für vergesellschaftete Subjekte muß es eine Art von Selbstverständlichkeit bilden, daß der Grad ihrer individuellen Freiheit davon abhängig ist, wie responsiv sich die sie umgebenden Handlungssphären gegenüber ihren Zielen und Absichten verhalten […].“3
Auch Wagner orientiert sich mit seinem Versuch, individuelle Autonomie theologisch zu begründen, an der Idee einer sozialen Freiheit. Vorbereitet wird dies zunächst durch die duale Struktur, die Wagners Theologie insgesamt prägt. So unterscheidet er am Ort des Individuums die Aspekte der Personalität und Sozialität; er übernimmt von Luhmann die Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen, entsprechend hat seine Sündenlehre eine individuelle und eine strukturelle Seite.4 Die duale Struktur findet sich in der Christologie – im Gegenüber von historischem Jesus und Kerygma der Gemeinde – und in der Pneumatologie – in der Unterscheidung von Ethik und Recht. Sie gliedert zudem den Aufbau seiner Theologie insgesamt: denn diese verarbeitet die Einsichten sowohl der Religionstheologie als auch der Wort1
Vgl. HONNETH, Recht, 81ff. im Anschluss an NEUHOUSER, Foundations. Wagner selbst redet von sozialer Freiheit explizit in: WAGNER, Moderne, 200f. 2 Vgl. etwa PIPPIN, Hegel, 59, der „das grundlegende Argument der Rechtsphilosophie [Hegels]“ so beschreibt, „dass ein freier Wille nur innerhalb von bzw. durch Teilhabe an besonderen sittlichen Institutionen wirklich frei sein kann“ (Hervorhebung MS). Diese hegelsche Idee von Freiheit wird in den letzten Jahren verstärkt rezipiert, vgl. RÖSSLER, Freiheit, 241f. 3 HONNETH, Recht, 113. 4 Außerdem kann Wagner einerseits von einem Kampf (aller gegen alle), andererseits von einer Instrumentalisierung reden. Im Hintergrund stehen hier wiederum die Bewegungen der Differenzierung bzw. der Entdifferenzierung.
314
Schlussbetrachtung
Gottes-Theologie. Schließlich findet sie sich auch dort, wo Wagner die Anforderungen an eine konsistente Theorie des Absoluten formuliert. Hier gehe es darum, die Selbständigkeit des Gottesgedankens und seinen Für-Bezug gleichermaßen zu wahren.5 Mit der Beschreibung solcher Differenzen erhebt Wagner den Anspruch, die Struktur der Wirklichkeit selbst freizulegen. In diesen Zusammenhang passt auch seine Behauptung, dass sich „[a]lles zwischen Himmel und Erde […] auf Verhältnisse zurückführen“ lasse.6 Wie der Exkurs gezeigt hat, finden sich vergleichbare Grundannahmen auch bei Jüngel, der darauf hinweist, dass Sein immer Zusammensein bedeute, oder bei Sölle, die sich mit den Kategorien der Verantwortung und der Angewiesenheit gegen das Prinzip der Autarkie wendet.7 Man könnte vielleicht sagen: Wagners Beschreibung der Wirklichkeit wird dadurch als eine theologische erkennbar, dass sie bei Verhältnissen ansetzt. Seine theologische Prämisse lautet, dass sich die Tiefenstruktur der Wirklichkeit durch Verhältnisse von Selbst- und Anderssein bzw. von Besonderem und Allgemeinem beschreiben lässt. Von einer Theorie sozialer Freiheit kann man bei Wagner nun deshalb sprechen, weil er die Annahme einer dualen Struktur der Wirklichkeit mit dem modernen Ideal der Selbstbestimmung verbindet. Beides zusammengenommen lässt sich sagen, dass Wagner im Begründungszusammenhang den Begriff einer freien Wirklichkeit entfaltet, während das Thema des Realisierungszusammenhangs dann die Verwirklichung eben dieser freien Wirklichkeit ist. Dabei ist die Rede vom Begriff einer freien Wirklichkeit normativ zu verstehen: In Wagners Beschreibung des christlichen Gottesgedankens zeigt sich die Wahrheit der Verhältnisse, die unsere Welt ausmachen. Diese Wahrheit bezeichnet Wagner als Geist oder Subjektivität. Der Geist ist dann in einem Verhältnis gegenwärtig, wenn von beiden Seiten des Verhältnisses gesagt werden kann, dass sie sich in der jeweils anderen Seite ihrer selbst bewusst sein können. Anders gesagt, der Begriff einer freien Wirklichkeit ist dort realisiert, wo sich eine vorhandene duale Struktur als ein Selbstverhältnis beschreiben lässt und in diesem Sinn als Einheit von Selbst- und Anderssein. Auch in diesem Punkt folgt Wagner Hegel, denn für diesen ist Freiheit immer „eine Sache des Selbstbezuges“8. Duale Strukturen werden für Wagner also allererst zu freien Verhältnissen, und zwar dadurch, dass sie in einem Akt der Anerkennung einen solchen Selbstbezug aufbauen. Das bedeutet, dass bereits dem Begriff einer freien Wirklichkeit eine Dynamik innewohnt. Was Wagner innerhalb des Begründungszusammenhangs beschreibt, ist ein Vollzug: es 5
Entsprechend unterscheidet Wagner Gottesgedanken und Gottesbewusstsein. WAGNER, Einleitung [WiTh], 11. 7 Vgl. auch ihre Bemerkung: „Am Anfang war […] die Relation! Unersetzlichkeit setzt In-Beziehung-Stehen voraus. Der Mensch kann nicht autark gedacht werden.“ (SÖLLE, Stellvertretung, 34). 8 PIPPIN, Verwirklichung, 76. 6
Schlussbetrachtung
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geht in paradigmatischer Weise um den Aufbau von Selbstbewusstsein. Wagner bezeichnet diesen Vollzug als Sich-Manifestieren oder Sich-Offenbaren. Ihren systematischen Ort hat die positive Durchführung des Offenbarungsgedankens in der Christologie. Man kann in ihr daher das Zentrum der Wagnerschen Freiheitstheorie erblicken. Dass sich in Christus Gott offenbart, bedeutet: Christus ist das Andere, in dem sich Gott seiner selbst bewusst sein kann. Bestimmt Wagner Gott ‚an sich‘ nun als Geist, d.h. als Einheit von Selbstund Anderssein, so ist Christus dann das Andere, in dem sich Gott seiner selbst bewusst sein kann, wenn Christus ebenfalls für ein Verhältnis steht, welches sich als Einheit von Selbst- und Anderssein begreifen lässt. Zu beachten ist, dass Wagners Christologie immer noch auf der Ebene des Begriffs angesiedelt ist. Christus ist, so ließe sich sagen, das Urbild9 einer Realität, die dem Begriff einer freien Wirklichkeit entspricht, die Christologie liefert gewissermaßen die Blaupause für den Aufbau eines Andersseins, in dem Gott bei sich sein kann. Wo sich die Realität an diesem Urbild orientiert, wo also duale Strukturen sich zu selbstbewussten Einheiten zusammenschließen, dort manifestiert sich der göttliche Geist. Oder anders: Nach Wagners Auffassung ist Gott in Verhältnissen sozialer Freiheit gegenwärtig. Beim Aufbau eines freien Verhältnisses spielt die Negation eine besondere Rolle. Erst mit ihr wird auch das spezifisch christliche an Wagners Theorie einer sozialen Freiheit vollends sichtbar. Die Negation steht am „Anfang der christlichen Theologie“10, denn deren Zentralgehalt11 – die Menschwerdung Gottes – bringt die Anerkennung eines Gott gegenüber selbständigen Andersseins und damit das Scheitern des Gedankens unmittelbarer Selbstbestimmung zum Ausdruck. Dass Gott sich nicht unmittelbar selbst bestimmt, formuliert Wagner auch so, dass seine Selbstrealisierung allein über den Umweg der Fremdrealisierung geschieht. Gott setzt ein selbständiges Anderes, mittels dessen er sich realisieren lässt. Der trinitarische Gottesgedanke steht so für die Anerkennung der Differenz von Gott und Mensch an der Stelle des Gottesgedankens und damit für die Offenheit oder Prägbarkeit Gottes, d.h. für die Einsicht, dass die Selbstrealisierung des Andersseins (des Menschen) auch die Selbstrealisierung Gottes ist.12 Steht die Trinität für die Differenz von Gott und Mensch an der Stelle des Gottesgedankens, so ermöglicht sie es dem Menschen, sich in Gott seiner selbst bewusst sein zu können, d.h. sie ermöglicht dem Menschen Freiheit. Die Inkarnation macht dann mit der Freiheit des Menschen ernst: Wagner begreift sie tatsächlich als ein Anderswerden, als die Negation Gottes: Gott macht sich zu dem selbständigen An9
Vgl. zum Begriff des Urbildes an dieser Stelle DIERKEN, Christologie, 196. WAGNER, Erwägungen [WiTh], 446. 11 Vgl. WAGNER, Verantwortung [CM], 130. 12 Diese Offenheit Gottes für den Menschen hatte sich eindrücklich auch bei Jüngel gezeigt, s.o. S. 249ff. 10
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Schlussbetrachtung
deren, auf das er um seiner Selbstrealisierung willen angewiesen ist. Man könnte auch sagen: Gott verliert sich, um sich zu gewinnen. Dass Gott ein selbständiges Anderssein setzt, lässt sich aus der Perspektive des Menschen so beschreiben, dass ihm seine Freiheit gegeben ist. Dies heißt zugleich: der Mensch ist sich als frei gegeben. Die Freiheit des Menschen wird von Wagner daher zugleich als „Gabe“ und als „Aufgabe“ qualifiziert.13 Damit ist sie einerseits – insofern sie das Wesen des Menschen ausmacht – unverlierbar, andererseits ist sie nur wirklich im Vollzug.14 Auf beides wird auch in aktuellen Darstellungen des christlichen Freiheitsverständnisses hingewiesen.15 Dass der Mensch seine Freiheit vollzieht (dass er sich realisiert), beschreibt Wagner nun abermals als eine Bewegung der Negation. Das Urbild für diese Negation des Menschen ist der Tod Jesu; ihm entspricht am Ort des konkreten Individuums dessen Erhebung zum allgemeinen Standpunkt, wie Wagner sie im Anschluss an Kants Moralphilosophie beschreibt. In beiden Bewegungen zeigt sich, dass ein einzelner Mensch von seiner unmittelbaren Selbstbestimmung absieht, und es stattdessen seiner gesellschaftlichen Umwelt ermöglicht, sich in seinen Taten wiederzufinden.16 Ein solcher Mensch ist nicht länger die Grenze des Allgemeinen, sondern ermöglicht ihm eine Freiheitserfahrung und entspricht dadurch Gott: „Der Mensch als frei anerkanntes Subjekt macht den Umweg, den Gott selbst gegangen ist.“17 Dass mit dieser Bewegung der Negation das eigentlich christliche an Wagners Freiheitstheorie getroffen ist, zeigt sich auch daran, dass er von ihr als ‚Buße‘ oder ‚Bekehrung‘ reden kann. Gemeint ist damit eine „Neukonstitution des Menschen“, eine „Umorientierung des ganzen Lebensvollzugs“18: der 13
WAGNER, Bekehrung, 472. Vgl. WAGNER, Bekehrung, 473: „zum Sich-Gegebensein der freien Selbsttätigkeit gehört notwendigerweise der aktive Vollzug derselben.“ 15 So betont Martin Laube das „Verdanktsein der Freiheit“ (LAUBE, Tendenzen, 259). „Der Mensch hat seine Freiheit nicht aus sich selbst. Er vermag sie weder zu erwirken noch zu begründen“ (DERS., Dialektik, 181). Dem korrespondiere die Rede von Gott als dem Grund der Freiheit. Mit ihr solle keineswegs eine Fremdbestimmung des Menschen zum Ausdruck gebracht werden. „Vielmehr spricht sich darin [in der Rede Gott als dem Grund der Freiheit] das Bewusstsein aus, im Gebrauch der Freiheit diese selbst immer schon voraussetzen zu müssen.“ (ebd., 182). Daneben arbeitet Laube in Abgrenzung gegen ein philosophisches Freiheitsverständnis den „Vollzugscharakter“ christlicher Freiheit heraus (LAUBE, Tendenzen, 257f., Zitat 257). 16 Wagner kann diese Bewegung – analog zur Inkarnation Gottes – auch als Selbstüberschreitung bezeichnen: Der Mensch folge dann nicht mehr der Logik unmittelbarer Selbstbestimmung, wenn er „vom Geschenk der freien Selbsttätigkeit in der Weise Gebrauch macht, daß er sich an die Belange der Mitmenschen und in Entäußerung an das Allgemeine selbst überschreitet.“ (WAGNER, Bekehrung, 474). 17 WAGNER, Buße, 482. 18 WAGNER, Bekehrung, 475. Vgl. auch ebd., 477: „Die Bekehrung umfasst nicht nur einzelne Dimensionen, sondern der Mensch in seiner Totalität ändert und erneuert sich. In 14
Schlussbetrachtung
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Mensch gibt das Konzept unmittelbarer Selbstbestimmung auf und folgt stattdessen der Logik, der sich seine Freiheit verdankt. Die Buße, so Wagner, gibt „eine Antwort auf die Frage […], wie der Mensch zum Christen werden kann.“19 Fehlinterpretiert wäre Wagners Buß- und Bekehrungsverständnis allerdings dann, wenn Buße und Bekehrung als lediglich einseitige Entäußerung des Individuums an das Allgemeine aufgefasst würden. Dann tendierten sie zur Selbstverleugnung. Vielmehr bezieht sich die durch sie ausgesagte Neukonstitution auf die duale Struktur insgesamt, umfasst also neben der bisher beschriebenen subjektiven auch eine objektive Seite. Daher fasst Wagner den Begriff der Bekehrung auch im Sinne einer „soziale[n] Umwandlung“, welcher „neben der Bekehrung des Individuums eine eigene Bedeutung“ innewohne.20 Urbild für die Neukonstitution des Sozialen ist die Veränderung der gesellschaftlichen Umwelt Jesu: Äußert sich in ihrer Ablehnung Jesu das Beharren auf der Logik unmittelbarer Selbstbestimmung, so verehrt sie als Gemeinde Jesu Leben und Geschick als Ausdruck wahrhaftig freien Menschseins. Die Gemeinde ist das gesellschaftliche Anderssein, in dem sich Jesus seiner selbst bewusst sein kann. Auf der Ebene des Realisierungszusammenhangs sind es dann für Wagner die Institutionen bzw. (unter der Annahme einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft) die sozialen Systeme, die das Allgemeine repräsentieren. ‚Negation‘ meint hier die Offenheit der Gesellschaft für die Belange des Einzelnen und es ist nach Wagner die Aufgabe des Rechts, der Freiheit auch äußeres Dasein zu geben. Typisch für Wagners christliche Interpretation sozialer Freiheit ist also die Annahme, dass die Negation – oder, wie Wagner auch sagen kann, die mortificatio – konstitutiv für den Aufbau einer freien Wirklichkeit ist. Das ‚Christliche‘ an dieser Negation kann man darin sehen, dass sie als Selbstnegation gefasst wird: sie will nicht, indem sie die Selbständigkeit des Anderen negiert, die eigene Freiheit zur Durchsetzung bringen, sondern sie will es im Gegenteil zunächst dem Anderen ermöglichen, seine Freiheit zu verwirklichen. Wo der Andere dann eine entsprechende Bewegung vollzieht, schließen sich Selbst- und Anderssein zu einer freien Wirklichkeit zusammen (vivificatio). Die Rede von der Selbstnegation sichert dabei auch die bleibende Selbständigkeit beider Seiten eines Verhältnisses. Beide können die Anerkennung des jeweils anderen jeder Zeit verweigern, woran Wagners doppelter Sünsie als totale Lebenswende ist daher die Neuorientierung im Verhältnis zum Mitmenschen, zur Gesellschaft und zur Welt überhaupt eingeschlossen.“ 19 WAGNER, Buße, 482. 20 WAGNER, Bekehrung, 478; Hervorhebungen MS. Vgl. auch die Bemerkung Wagners ebd., 479, dass der „Inhalt des christlichen Heilsverständnisses […] nicht nur die Veränderung des Individuums, sondern ebenso die der sozialen Verhältnisse impliziert.“ Wagner betont dabei „[d]ie prinzipielle Gleichrangigkeit von individueller und sozialer Bekehrung“ (ebd.).
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Schlussbetrachtung
denbegriff erinnert. Verbindet man die drei beschriebenen Negationen (Gott, Jesus/Individuum, Gemeinde/Institution) mit dem Dreischritt Menschwerdung, Tod und Auferstehung, dann wird man urteilen können, dass Wagner es unternimmt, eine Theorie individueller Autonomie zu entwerfen, die dem Gottesgedanken und der sozialen Umwelt des Individuums gleichermaßen Rechnung trägt und dabei zugleich um eine Rekonstruktion zentraler christlicher Vorstellungen bemüht ist. Dass man bei Wagner durchgängig eine kritische Bezugnahme auf christliche Ideen feststellen kann, zeigt sich schließlich auch bei der für ihn grundlegenden Unterscheidung zweier Freiheitsbegriffe. In der Sprache des (protestantischen) Christentums entspricht ihr die Differenz von Gesetz und Evangelium.21 Gesetz und Evangelium stellen für Wagner dann keineswegs zwei Aspekte des christlichen Gottesbildes dar, sondern das Evangelium hat gerade die Einsicht in das Scheitern des Gesetzes zur Voraussetzung. Die Welt, wie Wagner sie beschreibt, ist eine Welt unter der Herrschaft des Gesetzes; Individuen und Institutionen folgen gleichermaßen dem Prinzip unmittelbarer Selbstbestimmung. Zugleich ist für ihn in eben dieser Welt der christliche Geist gegenwärtig. Denn die Wahrheit unmittelbarer Selbstbestimmung ist das Prinzip vermittelter Selbstbestimmung.22 In diesem Sinn ist der christliche Geist die Wahrheit dieser Welt, er ist in ihr – wenngleich unter seinem Gegenteil verborgen – immer schon da; er resultiert, so formuliert es Wagner, „aus faktisch-realen Bedingungen“23. Es ist die „kognitive Einsicht“24, dass jeder Versuch, die eigene Freiheit unmittelbar zu realisieren, nicht gelingen kann, die den Weg zur Realisierung des christlichen Geistes eröffnet. In dieser Betonung des kognitiven Moments, der Rolle der Selbsterkenntnis, die auch im Begriff der Anerkennung noch mitschwingt, mag man die Schwachstelle in Wagners Theologie erblicken. Wagner selbst jedoch schöpft gerade aus ihr alle Hoffnung. Der Mensch kann wissen, was Versöhnung bedeutet; es liegt an ihm, sie auch zu verwirklichen.
21
Vgl. WAGNER, Moderne, 200. Vgl. Teil 3, Kap. I.1. 23 WAGNER, MM, 184. 24 WAGNER, Moderne, 200. Vgl. zum Begriff der Einsicht auch WAGNER, MM, 157f.182. 22
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Personenregister Adorno, Theodor W. 6, 119–124, 146– 151, 155f., 158, 274f. Angehrn, Emil 178 Axt-Piscalar, Christine 24–26, 155, 165
Hobbes, Thomas 75f. Holtmann, Stefan 144 Honneth, Axel 11, 29f., 309, 313 Horkheimer, Max 6, 120, 274f.
Barth, Karl 6f., 43, 116, 118, 124ff., 137, 144–146, 149f., 154–159, 182– 184, 212 Barth, Ulrich 32f., 90, 161, 230 Berger, Martin 159 Braun, Herbert 19
Jüngel, Eberhard 47f., 230, 314
Cramer, Wolfgang 12f., 15, 164
Laube, Martin 316 Luckmann, Thomas 74 Luhmann, Niklas 26, 71, 73, 275–280, 290–293, 307, 313 Luther, Martin 45–47, 107f., 179, 230– 234, 271, 273
Danz, Christian 16, 21f., 25–27, 29, 31f., 63, 72, 106, 185, 312 Dierken, Jörg 16, 20f., 25, 28, 32, 255 Drilo, Kazimir 22–24, 204f. Dux, Günter 13–15 Ebeling, Gerhard 47 Fichte, Johann Gottlieb 17, 22, 175f., 182f., 185, 200 Fischer, Hermann 161
Kant, Immanuel 84f., 262f., 265f., 306 Kondylis, Panajotis 275f., 280f., 288 Körtner, Ulrich H.J. 159, 161 Koselleck, Reinhart 75f.
Mette, Katrin 16–18, 73, 86, 90f., 102, 159, 175–177, 276 Moltmann, Jürgen 230, 240–245 Murrmann-Kahl, Michael 16, 21f., 26– 28, 32, 282 Neuhouser, Frederick 3, 263, 310
Gabriel, Markus 59 Gehlen, Arnold 113–117, 155, 183, 200 Gollwitzer, Helmut 19 Habermas, Jürgen 76 Halbig, Christoph 62f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1f., 22–25, 32, 49–54, 57, 60, 62, 139, 145, 154, 160, 166f., 171, 178, 197, 201, 206, 211ff., 263, 266, 300, 308, 313 Henning, Christian 311 Henrich, Dieter 22, 177, 206f., 211
Pannenberg, Wolfhart 18f., 25, 63, 144f., 150, 158, 164f., 201 Paulus 50, 242, 244f., 301 Polke, Christian 20f. Reisinger, Peter 22, 93, 166, 168, 176f. Rendtorff, Trutz 19, 70, 84, 155f. Ritschl, Albrecht 50, 106 Rohls, Jan 18–20 Rössler, Dietrich 64, 67, 159
332
Personenregister
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 5, 17, 43, 67, 78–80, 87f., 89ff., 98– 103, 105, 136–138, 159, 175, 178, 227, 310 Schroer, Markus 120, 276 Semler, Johann Salomo 5, 43, 67, 74, 79, 84–87 Slenczka, Notger 107f., 224
Sölle, Dorothee 19, 128, 229, 314 Stübinger, Ewald 29f. Tholuck, Friedrich August Gotttreu 151–154 Wenz, Gunter 80, 153
Sachregister Allmacht 177, 222, 229, 239, 241, 301, 304 Altes Testament 129f., 168 Anderssein – selbständiges A. 13, 23, 142, 167, 183, 203f., 206f., 303f., 315f. – das ganz Andere 53, 148, 179, 181f., 220, 312 – das starke Andere 27, 134–136, 144, 150, 157, 312 Anerkennung 29–30, 190–195, 207, 257, 260, 262, 265 – A. des Anerkanntseins 9, 208f., 257, 268, 272f., 296, 304f. – Botschafter der A. 190, 307 – wechselseitige A. 9, 28, 225–228, 297, 305, 308f., 311 Anschauung 52, 59f., 79, 88f., 105, 230 Apokalyptik 243 Aporie – A. des religiösen Bewusstseins/des Glaubens 5f., 8, 53, 57f., 63f., 68, 105f., 108, 163, 178ff., 195, 214f., 226 – A. absoluter Freiheit/endlicher Freiheit 18, 101 – A. des neuzeitlichen Freiheitsbegriffs 116 – A. der Religionstheologie 67, 99f., 103, 137 – A. unmittelbarer Selbstbestimmung 8, 21, 168ff., 178 – A. des Selbstbewusstseins/der menschlichen Selbsterklärung 5, 8, 17, 22, 92, 94, 103, 175ff., 208 – A. der Wort-Gottes-Theologie 182ff., 217 – A. des unmittelbaren Wissens 51 Äquivalent, funktionales 73
Aseität 108, 128f., 165, 176 Asymmetrie 28–30, 100, 137f., 161, 172, 174, 204, 222, 229, 261, 283, 289, 301, 303f., 306 Atheismus 102, 126, 245 Auferstehung 9, 189f., 193–195, 197f. Aufklärung 73, 81f., 111, 116, 234, 236, 274 – Dialektik der A. 6, 119–124, 156, 200, 274f. Autonomie – A. der Funktionssysteme 72, 258f. – A. des Individuums 1, 74f., 159, 265, 313 – doppelte A. 72 – radikale A. (Gottes) 116, 155f., 182, 207 Begriffslogik 32, 201f., 221, 223, 226 Begründungszusammenhang 9, 29, 30f., 164, 168, 186, 227, 253ff., 267, 314 Bekehrung siehe Buße Bürgertum 5, 75–78, 79, 82, 87 Buße 316f. Causa sui 18, 91, 176, 178, 187, 212 Christologie 8f., 25–29, 132–136, 157, 184–186, 204, 225, 253f., 259, 315 – Grundprobleme der Ch. 133, 204f., 227 – implizite/explizite Ch. 187–189 – System der Ch. 205–210 Denken/Nachdenken 62f. Dualismus 10, 13, 53, 56, 61, 87f., 99, 108, 115, 118, 140, 148, 150, 174, 188, 214, 216, 218, 223, 273, 309 – asymmetrischer D. siehe Asymmetrie
334
Sachregister
– korrelativer D. 222 – symmetrischer D. 11f., 213 Egoismus 263, 267 Einseitigkeit 137f., 164, 202, 219, 263, 298 – einseitige Abhängigkeit 46, 51, 100, 187f., 202, 217f., 224, 283 Entdeckungszusammenhang 10, 141, 159, 164, 215, 226 Ethik 30, 262ff., 313 – Sozialethik 10, 21, 29–31, 255ff., 268, 270, 309–311 Evangelien 189f. Evangelium 143, 210, 238, 272 Freiheit – absolute F. 8, 18, 89, 96, 101, 115f., 174, 305 – endliche F. 18, 89, 96–98, 101 – F. der Anderen 7, 192, 225, 265, 272, 297 – F. des Individuums/des Einzelnen 1, 3, 6, 9, 11, 15, 21, 84, 96, 98, 103f., 116, 121, 153f., 255–257, 261, 266, 272, 276, 297, 311 – formelle/reale F. 152 – Gottes F. 145, 156, 227 – inklusive F. 303 – positionelle F. 111, 116, 118 – soziale F. 11, 297, 303, 313ff. – titanische F. 200 Frieden 268 Geist 31, 57, 121, 123f., 149f., 197, 200f., 221, 254ff., 264f., 269, 288f., 314 – absoluter G. 58, 150, 205, 306 – christlicher G. 260, 272, 307, 318 – endlicher G. 24 – göttlicher G. 1, 10, 50, 123, 221, 260, 268, 296, 307, 311, 315 – heiliger G. 60, 203f., 226 – menschlicher G. 4, 17, 45, 49, 90, 99f., 105f., 285 Gefühl 61, 79, 88, 90–92, 96, 105, 150, 152, 159, 285 – (schlechthinniges) Abhängigkeitsgefühl 94–98, 100, 137
Geld 49, 275, 284, 289 – Geldlogik 275, 284, 287–289 – Geldstufe des Bewusstseins 285f. Geltung der Religion/des Gottesgedankens 14f., 103, 163, 267, 299 Gemeinde 9, 11, 59f., 186–190, 193– 196, 225, 317 Gesellschaft 3, 6, 10f., 31f., 86, 119– 121, 149, 156, 210, 225, 237, 257f., 261, 264, 271f., 280f., 286, 289, 308, 317 – funktional differenzierte G. 70ff., 83, 274–278, 294, 298 Gesetz 76f., 230f., 262 – Gesetz und Evangelium 270f., 318 – Grundgesetz siehe Recht – Sittengesetz 306 Gewalt 113ff., 148, 170f., 173, 267f., 300 – Gewaltmonopol 265 – G. und Gegengewalt 302f., 305 Gewissheit, sinnliche 50f. Glaube 47, 52–54, 104ff. – Glaubensinhalt 40, 42, 45–49, 51– 53, 66, 122 – Glaubensvollzug 40, 42, 45–47, 50, 56, 66 – Aporie des G. siehe Aporie – Grund des G. 56f., 260 – Aberglaube 82, 163f., 282 Gleichschaltung 7, 116, 135, 146, 149, 157–159, 275, 287, 310 Gott – G. als Gedanke 164–166, 300f. – G. als (funktionales) Konstrukt 15, 98–100, 181 – G. als Prädikat 25, 28, 296, 299, 305f. – Gotteserkenntnis 52, 82, 129, 178, 223, 230 – Realität Gottes 22, 43f., 164f., 204f., 221, 255 – Tod Gottes siehe Tod Gottesbeweis 9, 24, 211ff. – ontologischer G. 13, 22, 211, 215ff. – kosmologischer G. 54, 212ff.
Sachregister Herrschaft 30, 119–121, 135, 138, 142, 146, 158, 183, 191, 222, 239, 274, 286f., 300, 306, 318 – Herrschaftsfreiheit 301 – Königsherrschaft Christi 210 – Logik der H. 122–124 Hölle 152, 288 – Höllenfahrt 153 Idealismus 146, 149, 151, 158, 312 Identität 2, 68, 72, 112, 141, 171, 173, 198, 201, 224, 236–238, 281, 196, 302 – Identitätszwang 146, 149, 217, 275 – Nichtidentität 235 Immanenz/Transzendenz 290f. Inkarnation, siehe Menschwerdung Jesus Christus 8f., 11, 26f., 134–136, 138, 186ff., 198, 205ff., 225f., 241– 245, 250, 254, 317 – historischer J. 28, 59f., 186–188, 225, 313 – J. von Nazareth 194, 241, 307 Jungfrauengeburt 134 Kausalität 22, 168, 170, 176f. Kirche 61, 79f., 85, 210, 279 Kommunikation 79, 292f. – Idiomenkommunikation 138, 205, 210 – verabsolutierte K. 285–288 Kontingenz 89, 150, 152, 211–220, 291, 295 Kopernikanische Wende 65 Kopräsenz von Selbstsein und Anderssein/Kon-Subjektivität 32f., 303, 306f. Kulturindustrie 120, 286 Kreuz 191f., 197–199, 228 Krieg 268 Liebe 160, 191, 200, 239, 242 – L. Gottes 191, 233f., 242ff., 249 – Nächstenliebe 191, 209, 225 – Selbstliebe siehe Egoismus Logos 198, 134, 205f.
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Macht 33, 122, 171, 198f., 201, 207, 222, 247f. – Machtlogik 304f. Manifestationsdialektik 8, 22, 167, 181, 197, 224, 299 Massendemokratie 280f. Menschwerdung Gottes 28, 57f., 129, 133–136, 138f., 197ff., 206–209, 227, 238–240, 268, 295, 304f., 315 – Gottessohnschaft/Gotteskindschaft 238, 241–244 Metaphysik 88, 130, 224, 229, 231, 236, 253 Moderne 119, 121, 156, 185, 238, 273– 276, 278, 281, 286, 294 – halbierte M. 11, 274 – Postmoderne 275, 281 – Religion der M. 11, 73, 290 Monismus 10, 99, 150, 222 Monotheismus 132, 140, 142, 145, 167 Moral 71, 76f., 83f., 265, 274 Nation, absolute 112f. Nationalsozialismus 112, 117, 155 Natur 120–124, 148–150, 288f. Negation 5, 7, 11, 54, 68, 181, 206f., 214f., 249, 262, 287, 315ff. – absolute N. 2 – allgemeine Negationsfähigkeit 207, 295 – doppelte N. 2, 194, 203, 207, 257 – Selbstnegation 7, 53, 108, 133, 156, 207, 214, 317 Neuzeit 1, 6f., 40, 53, 69ff., 103, 115, 123f., 155, 175, 200, 234f., 238, 271, 273 Notwendigkeit, absolute 168, 178, 212, 214–219 Offenbarung 8, 10, 13, 43, 81f., 126, 145, 204, 223f., 243, 250, 315 – Selbstoffenbarung 6, 8, 13, 26, 159, 166f., 178, 198, 205 – O. und Selbsterkenntnis 8, 26, 173, 178, 223f. Pantheismus 13, 125, 139ff., 145, 176, 217, 276 – akosmistischer P. 217, 222
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Sachregister
– Begriffspantheismus 151 – Geldpantheismus 49, 275, 287f. – trinitarischer P. 158 Paradigmenwechsel 5, 42f. Pattstellung 181, 302, 304 Personalität 294, 298, 308, 310f., 313 Philosophie 12, 23, 62, 94f., 127, 146, 154, 210 – Rechtsphilosophie 263, 266, 313 Pietismus 40 Pluralismus/Pluralisierung 275, 281 – unizentrischer/multizentrischer P. 282 Pneumatologie 28f., 205, 227, 255–257, 308 Privat – Privatisierung des Entscheidens 73, 294 – Privatreligion siehe Religion – Sphäre des Privaten 64, 74, 76, 237, 309 Protestantismus 11, 69, 72f., 75, 142 – Altprotestantismus 35f., 53 – asketischer P. 70 – halbierter P. 11, 21, 273, 290 – Neuprotestantismus 69, 77, 144, 290, 303 Realisierungszusammenhang 10, 16, 26, 28, 31, 253f., 257, 299, 308, 314, 317 Recht 71, 264ff., 313, 317 – Grundrecht auf Religionsfreiheit 73 – Grundgesetz 274 Rechtfertigung/Rechtfertigungslehre 104, 200f., 270–273 Reformation 273 Reich Gottes 200, 238, 269 Religion – natürliche R. 78, 82–84, 87 – Privatreligion 43, 73, 85–87 – Vernunftreligion 73, 77, 80–84 – Religionskritik 13, 15, 99, 108f., 125, 130, 137 – Religionssystem 11, 72f., 291–295 – Religionstheorie siehe Theorie – Selbständigkeit der R. 66, 71, 87–89, 269 Revolution 69, 86, 119, 136, 273
– Revolutionierung des Gottesgedankens 174f., 191, 200, 299 Säkularisierung 70ff., 238, 258f., 294, 309 – autonome S. 260 Schöpfung 176, 230–234, 301, 305 – Neuschöpfung 243f., 271 Selbstbestimmung – unmittelbare S. 3, 7f., 10, 16, 20f., 31, 173, 178f., 190, 197, 199, 210, 217, 224, 228, 266, 269, 275, 288f., 302, 310f., 315–318 – vermittelte S. 2–4, 8–11, 20f., 26, 31, 203, 208, 224f., 254f., 258, 264, 266, 273f., 297f., 311f., 318 Selbstbewusstsein 18, 41, 99f., 102, 204, 206, 314f. – S. Gottes 185 – Aporie des S. siehe Aporie – (christlich-)religiöses S. 40, 60f., 65, 67f., 99, 156 – unmittelbares S. 90ff. Selbstexplikation an der Stelle des Andersseins/Subjektivität 2f., 10–12, 23, 27, 30–33, 41, 174, 190, 197, 202–205, 209f., 219f., 222–225, 254f., 259–261, 263, 308, 314 Selbstsetzen 17, 91–96, 176f., 183 – Selbstproduktion 188–190, 226 Selbstteilung/Selbstdifferenzierung 92f. – S. Gottes/des Absoluten 133, 169– 171, 173, 198, 202 Selbstthematisierung 26f., 185, 205, 209f., 215, 225f. Sozialität 273, 294, 298, 308–311, 313 Soziologie 12, 32f., 74f., 260 – Religionssoziologie 26, 70–72, 290– 292 Staat 75–77 – staatliches Gewaltmonopol 265 – Rechtsstaat 273f. Subjekttausch/Subjektwechsel 195, 200, 304 Subordinatianismus 23, 203, 226 Substanz 28, 80, 129f., 167, 203, 218, 306 – aktive/passive S. 170–174, 179–181, 198
Sachregister – notwendige S. 212 – Substantialität 168, 171 Sünde 16, 136, 152f., 180–182, 231– 234, 245, 247, 249, 267, 272, 288, 310 – Sündenlehre 287, 313 Systemtheorie 31, 291ff. – psychische und soziale Systeme 27, 275, 278, 280, 291–293, 297, 310, 313 – Wirtschaftssystem siehe Wirtschaft Theismus 145, 158, 229, 234, 237f., Theologie – Theo-Logie 8, 10, 22–25, 196, 223, 227, 257, 269 – darstellende Th. 36ff. – dialektische Th. 19, 115–118, 125, 128f., 144, 156 – Ent-Theologisierung 299, 305, 311 – Mainstream-Th. 142, 279 – negative Th. 305 – positionelle Th. 64ff., 117, 143, 156, 282 – Theologiegeschichte 1, 4f., 40f., 111, 124, 159, 210, 212, 303 – Theologenth. 39 – Wendeth. 142–144 Theorie – Theorie des Absoluten 19f., 23, 25, 29, 32, 136, 144, 164, 202, 215, 225, 314, 295, 300f. – Th. des Allgemeinen 146 – Th. der Theologie 253 – Th. der Wirklichkeit 30, 32, 113, 257 – Religionstheorie 11–17, 98, 102f., 108, 175, 269, 275f., 290ff., 311 Tod 135, 192, 246f. – T. Jesu 9, 191–195, 198f., 209, 226f., 307 – T. Gottes 20, 200, 228, 304, 316 – mortificatio 104, 180, 317 Trinität 201–205, 315
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– Trinitätslehre 13, 133, 145, 154f., 157f., 186, 188, 197, 201ff., 217, 223, 226, 240f., 254, 306f. – immanente T. 23, 198, 201, 204, 220, 226 – ökonomische T. 201 Umkehr der Blickrichtung 24, 196, 215 Umweg 11f., 14, 202, 297f., 306, 318 Vernunft 20f., 25, 48f., 76f., 82f., 86, 108, 120, 123f., 262, 274, 290, 311 Versöhnung 4, 58, 60f., 133, 135f., 138, 150, 227, 311, 318 – Versöhnungslehre 205 Verstand 48f., 52, 151f., 154 – Herrschaft der Verstandeskultur 274f. Vorstellung 9, 37, 55ff., 104f., 124, 160, 195f. – Gottesvorstellung und Gottesgedanke 14f., 100, 136, 155 Wechselwirkung 33, 168, 170, 172–174, 202 Wende, historisch-empirische 32 Wesenslogik 22, 32, 166–168, 174, 177, 201, 223, 226 Wirklichkeit 25, 30, 49, 62, 166f., 254, 257f. – Die alles bestimmende Wirklichkeit 63, 155, 164–166, 223f., 285 Wirtschaft 5, 10, 70, 259, 274f., 280, 282ff., 310 – Marktwirtschaft 283 Wissen – unmittelbares Wissen 48ff., 68, 98, 104, 160, 181 – vermitteltes Wissen 48ff., 62, 67f. – Wissen-Können 98, 114, 117, 188, 206 Zorn (Gottes) 233, 242