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German Pages 538 [539] Year 1987
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Band 22
Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils Untersuchungen zum Strafrechtsschutz des strafprozessualen Verfahrenszieles Von Thomas Vormbaum
Duncker & Humblot · Berlin
THOMAS VORMBAUM
Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils
MÜNSTERISCHE B E I T R Ä G E ZUR RECHTSWISSENSCHAFT Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Hans-Uwe Erichsen Dr. Helmut Kollhosser Dr. Jürgen Welp
Band 22
Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils Untersuchungen zum Strafrechtsschutz des strafprozessualen Verfahrenszieles
Von
Dr. Dr. Thomas Vormbaum
DUNCKER
& HUMBLOT
/
BERLIN
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster gedruckt m i t Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Vormbaum, Thomas: Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils : Unters, zum Strafrechtsschutz d. strafprozessualen Verfahrenszieles / von Thomas Vormbaum. — Berlin : Duncker & Humblot, 1987. (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft ; Bd. 22) ISBN 3-428-06197-7 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hermann Hagedorn GmbH & Co, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06197-7
Vorwort Die Abhandlung ist die gekürzte Fassung einer Arbeit, welche der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster im Wintersemester 1985/86 als Habilitationsschrift vorgelegen hat. Ein Kapitel über Reformdiskussionen und Gesetzgebung seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches war einerseits so umfangreich, daß es den Gedankenfluß der Gesamtdarstellung empfindlich unterbrach, andererseits war es noch ausbaufähig. Es soll daher in erweiterter Fassung separat veröffentlicht werden. Ferner sind Ausführungen zu Problemen des §159 StGB ausgesondert und als Aufsatz in „Goltdammer's Archiv" (Jg. 1986, S. 353 ff.) veröffentlicht worden. Kapitel 15 C gibt die zusammenfassenden Thesen jenes Aufsatzes wieder. Das Manuskript ist Anfang Juni 1985 abgeschlossen worden. Später erschienenes oder entdecktes Schrifttum ist vereinzelt noch in Fußnoten berücksichtigt worden. Herrn Prof. Jürgen Welp danke ich für Kritik und Verbesserungsvorschläge sowie für Ermunterung und hilfreiche Hinweise während des Habilitationsverfahrens. Vielen Münsteraner Kollegen, vor allem Herrn Prof. Friedrich Dencker (jetzt Hannover), gilt mein Dank für anregende und weiterführende Diskussionen, Frau Elke Kulinna für die Reinschrift des Manuskripts. Dank schulde ich auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Das Buch ist meiner Frau Marlies und unseren Kindern Sarah, Sangita und Moritz gewidmet. Thomas Vormbaum
Inhaltsübersicht Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 1. Kapitel:
Themenstellung; Gang der Darstellung; Forschungsstand
ERSTER TEIL
Materialien und Grundprobleme 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Kapitel: Annäherung und Bestandsaufnahme Kapitel: Historisches Material Kapitel : Rechtsvergleichendes Material Kapitel : Rechtstheoretisches Material Kapitel: Strafrecht und Prozeßrecht Kapitel : Strafrechtspflege als Schutzrichtung und als Rechtsgut Kapitel : Ziel des Strafverfahrens Kapitel: Weiteres Vorgehen
ZWEITER TEIL
Strafrechtlicher Schutz des ordungsgemäßen Strafurteils (I): Die Aussagetatbestände (§§ 153-163 StGB) 1. Abschnitt Materialsammlung und Rechtsgutdiskussion 10. Kapitel: 11. Kapitel:
Gesetzesmaterial Rechtsgutdiskussion 2. Abschnitt Probleme der vorsätzlichen Falschaussage im Strafprozeß
12. Kapitel: 13. Kapitel : 14. Kapitel : 15. Kapitel:
Problemübersicht Tatbestandsprobleme Strafbarkeits- und Strafausschluß Teilnahme 3. Abschnitt Zur fahrlässigen bekräftigten Falschaussage im Strafprozeß
16. Kapitel : Grundsatzfragen 17. Kapitel : Auslegungsprobleme
VIII
Inhaltsübersicht DRITTER TEIL Strafrechtlicher Schutz des ordnungsgemäßen Strafiirteils ( I I ) : Der Rechtsbeugungstatbestand (§ 336 StGB)
18. Kapitel: 19. Kapitel: 20. Kapitel:
Historisches Material: Gesetzgebung und Reform seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches Rechtsgutdiskussion Zur Rechstbeugung im Strafprozeß
VIERTER TEIL Strafrechtlicher Schutz des ordnungsgemäßen und richtigen Strafurteils: Die Strafvereitelungstatbestände (§§ 258 Abs. 1, 258 a StGB) 21. Kapitel: 22. Kapitel: 23. Kapitel:
Historisches Material: Gesetzgebung und Reform seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches Rechtsgutdiskussion Einzelprobleme
FÜNFTER TEIL Zum geschützten Rechtsgut des Falschverdächtigungstatbestandes (§ 164 StGB) 24. Kapitel: 25. Kapitel:
Historisches Material: Gesetzgebung und Reform seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches Rechtsgutdiskussion
SECHSTER TEIL 26. Kapitel:
Rückblick und Ausblick
Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis Sachverzeichnis
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
XVIII
1. Kapitel: Themenstellung; Gang der Darstellung; Forschungsstand A. Themenstellung
1 1
B. Gang der Darstellung
1
C. Forschungsstand
3
ERSTER TEIL
Materialien und Grundprobleme 2. Kapitel: Annäherung und Bestandsaufnahme A. Annäherung
5 5
B. Bestandsaufnahme
7
C. Zusammenfassung
10
3. Kapitel: Historisches Material
12
A. Bis zum Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches
12
B. Nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches
31
4. Kapitel: Rechtsvergleichendes Material
47
A. Strafgesetzbücher ohne „Rechtspflegedelikte"
47
B. Strafgesetzbücher mit „Rechtspflegedelikten"
56
5. Kapitel: Rechtstheoretisches Material
62
A. Sichtung des empirischen Materials
62
B. Zur Rechtsgutproblematik I. Rechtsguterfordernis als Postulat II. Bedeutung III. Rechtsgutverletzung und Normverletzung IV. Ermittlung 1. Norm und Stoff 2. Anforderungen 3. Methode 4. Theoretische und exegetische Sicht 5. Bezug zum Straftatsystem 6. Exkurs: Systematik
64 65 65 68 69 69 70 71 71 72 72
C. Folgerungen
75
Inhaltsverzeichnis 6. Kapitel: Strafrecht und Prozeßrecht
76
A. Problemstellung
76
B. Berührungen I. Überschneidungen II. Einflußnahmen III. Materielles Strafrecht im Strafprozeßrecht IV. Prozeßrecht im materiellen Strafrecht
76 76 77 79 80
C. Schutzmechanismen I. Allgemeines II. Sanktionen 1. Problemstellung 2. Historische Beispiele a) Lügen- und Ungehorsamsstrafen b) Falsche Entschuldigung von Verfahrensbeteiligten c) Ergebnis
81 81 82 82 83 83 87 91
D. Prozeßrecht und Rechtsgutbestimmung
93
7. Kapitel: Strafrechtspflege als Schutzrichtung und als Rechtsgut A. Problemstellungen I. Ausgangsüberlegung II. Rechtsprechungsschutz und Schutz der Gewaltentrennung III. Streitige und freiwillige Gerichtsbarkeit
97 97 97 98 99
B. Konturierung I. Rechtspflegeschutz und Schutz der Verwaltung II. Rechtspflegeschutz und Individualschutz III. Rechtspflegeschutz und Schutz der Strafzwecke
103 103 106 107
C. Rechtspflege als Schutzrichtung
108
D. Rechtspflege als Rechtsgut I. Annäherung II. Durchführung der Differenzierung 1. Verfahrensgefüge 2. Verfahrensziel 3. Verfahrensfunktionen III. Konsequenzen
112 112 113 113 114 115 116
E. Strafprozessuales Verfahrensziel als Rechtsgut
117
F. Ausblick
118
8. Kapitel: Ziel des Strafverfahrens
119
A. Konkretisierung der Aufgabenstellung und Meinungsstand I. Konkretisierung II. Meinungsstand III. Ansatz und Fortführung
119 119 119 120
B. Zielsetzung durch das materielle Strafrecht I. Gerechte Entscheidung II. Richtige Entscheidung
121 121 122
Inhaltsverzeichnis III. Bedingungen der richtigen Entscheidung IV. Ergebnis
XI 122 124
C. Zielsetzung durch das Strafprozeßrecht I. Vorgehen II. BegrifFsanalyse („Erlaß einer Entscheidung") III. Normative Konkretisierung (Erlaß einer „ordnungsgemäßen Entscheidung")
124 124 125
D. Konfrontation I. Lösungsansatz II. Prioritätsprüfiing 1. Funktionale Verknüpfung 2. Normanalyse
126 126 127 127 129
E. Die ordnungsgemäße Entscheidung
132
9. Kapitel: Weiteres Vorgehen
126
136
A. Fragestellungen
136
B. Stoffauswahl
136
C. Methode
137
ZWEITER TEIL
Strafrechtlicher Schutz des ordnungsgemäßen Strafurteils (I): Die Aussagetatbestände (§§ 153-163 StGB) 1. Abschnitt Materialsammlung und Rechtsgutdiskussion 10. Kapitel: Gesetzesmaterial
139
11. Kapitel: Rechtsgutdiskussion
141
A. Methode und Abfolge
141
B. Das durch § 153 StGB geschützte Rechtsgut I. Die „Eidestheorien" II. Individualgüterschutz III. Rechtspflegeschutz 1. Problemformulierung 2. § 153 StGB als Blankett 3. Das Gemeinsame der „anderen Stellen" a) Konsularbeamte b) Notare c) Disziplinarbehörden d) Prüfungsstellen und Patentabteilungen des Patentamtes e) Zwischenergebnis 0 Parlamentarische Untersuchungsausschüsse g) Ergebnis IV. Mitberücksichtigung von Individualinteressen 1. Problemstellung
143 143 146 149 149 153 155 155 156 156 158 160 162 165 166 166
nhaltsverzeichnis
I
2. Gesetzeswortlaut 3. Sachstruktur V. Schutz des Verfahrenszieles VI. Zusammenfassung
167 173 175 178
C. Das durch § 154 StGB geschützte Rechtsgut I. Problemstellung II. Die Eidesproblematik III. Die Tauglichkeit der Bekräftigung IV. Die falsche Bekräftigung als bekräftigte Falschaussage 1. Problemstellung 2. Das begriffliche Verhältnis des § 154 StGB zu § 153 StGB 3. Der Qualifikationsgrund a) Erfolgsunrecht aa) Änderung des Aussageinhalts bb) Intensivierung der Rechtsgutbeeinträchtigung α) Indizielle Tauglichkeit der Beeidigung als allgemeiner Erfahrungssatz (196) — ß) Fehlende indizielle Tauglichkeit der Nichtbeeidigung als allgemeiner Erfahrungssatz (198) — γ) Freie Β eweisWürdigung und Intensität der Rechtsgutbeeinträchtigung (200); αα) „Conviction raisonnée" (200); ßß) „Concviction intime" (203) cc) Zusätzliches Rechtsgut b) Handlungsunrecht aa) Verletzung religiöser Pflichten bb) Formverletzung cc) Fälschung dd) Verbürgung ee) Gesteigerte Wahrheitspflicht ff) Hinweis auf erhöhte Strafbarkeit V. Zusammenfassung VI. Konsequenzen und Vorschläge 1. Konsequenzen einer abweichenden Ansicht 2. Überlegungen zur lex ferenda VII. Schlußbemerkung
178 178 179 182 187 187 187 194 194 194 195
204 206 206 207 208 209 212 212 214 215 215 218 221
D. Die falsche Versicherung an Eides Statt (§ 156 StGB) I. Tatbestandsvergleich II. Individualgüterschutz III. Religionsschutz IV. Verhältnis zu §§ 153, 154 StGB V. Rechtspflegeschutz
222 222 223 224 225 228
E. Die Verleitungstatbestände (§160 StGB)
237
F. Der Fahrlässige Falscheid (§ 163)
238
2. Abschnitt Probleme der vorsätzlichen Falschaussage im Strafprozeß 12. Kapitel: Problemübersicht
240
Inhaltsverzeichnis 13. Kapitel: Tatbestandsprobleme
XIII 241
A. Täterkreis: Die Dolmetscherproblematik I. Dolmetscher als „Sachverständiger"? II. Übersetzung als „Aussage"? III. Konzequenz
241 242 246 248
B. Aussage I. Gegenständliche Begrenzung (Aussagegegenstand) II. Zeitliche Begrenzung III. Funktionelle Begrenzung („als Zeuge oder Sachverständiger") IV. Institutionelle Begrenzung („vor Gericht")
248 248 250 251 251
C. Zum FalschheitsbegrifF I. Ansatz II. Durchführung 1. Zur Objektiven und Subjektiven Theorie 2. Zeugen 3. Sachverständige III. Schlußbemerkung
253 253 255 255 256 260 261
D. Erheblichkeit I. Meinungsstand II. Eigene Ableitung 1. Eingrenzung 2. Rechtsgutbezug 3. Staatsauffassung und Menschenwürde 4. Kriminalpolitische Bedeutung
262 262 263 263 264 265 266
E. Verfahrensfehler
267
F. Zur Falschaussage durch Verschweigen
270
14. Kapitel: Strafbarkeits- und Strafausschluß A. Reichweite des § 35 StGB
272 272
B. Zum Aussagenotstand
274
C. „Tätige Reue" (§ 158 StGB) I. Funktionen des § 158 StGB II. Einzelprobleme 1. Personenkreis 2. Berichtigung 3. Rechtzeitigkeit der Berichtigung
277 277 278 278 279 279
15. Kapitel: Teilnahme
282
A. Akzessorietät I. Problem II. Pflichtbindung des Aussagenden
282 282 282
B. Teilnahmeformen I. Beihilfe durch Unterlassen 1. Problemstellung 2. Schutz der Aussageperson 3. Stellung als Verfahrensbeteiligter
285 285 285 286 288
I n h a l t s v e r z e i c h n i s 4. Ingerenz a) Ableugnen b) Beweisanträge c) Vor- und außerprozessuales Verhalten II. Teilnahme durch aktives Tun
289 289 290 292 293
C. Thesen zur besonderen Problematik des § 159 StGB
294
D. Die besondere Problematik des § 160 StGB I. Die drei Verleitungstatbestände II. Verhältnis zu § 153 StGB III. Die Tathandlung IV. Reichweite des § 160 StGB V. Irrtumsfälle VI. Versuch VII. Teilnahme
295 295 296 298 298 299 301 302
3. Abschnitt Zur fahrlässigen bekräftigten Falschaussage im Strafprozeß 16. Kapitel: Grundsatzfragen
303
A. Konsequenzen aus der bisherigen Untersuchung
303
B. Möglichkeit und Strafwürdigkeit
304
17. Kapitel: Auslegungsprobleme
307
A. Vorbereitungspflicht
307
B. Sorgfaltspflichtwidrige Aussage
309
DRITTER TEIL
Strafrechtlicher Schutz des ordnungsgemäßen Strafurteils (II): Der Rechtsbeugungstatbestand (§ 336 StGB) 18. Kapitel: Historisches Material: Gesetzgebung und Reform seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches 312 A. Reichstrafgesetzbuch
312
B. Vorentwurf (1909) und Gegenentwurf (1911)
312
C. Kommissionsentwürfe von 1913 und 1919
314
D. Reformarbeiten der Weimarer Zeit
315
E. Gesetzesprojekte der NS-Zeit
316
F. Reformarbeiten und Gesetzgebung nach 1945
317
19. Kapitel: Rechtsgutdiskussion
321
A. Problemebenen
321
B. Individualgüterschutz
321
Inhaltsverzeichnis C. Überindividuelles Rechtsgut I. Möglichkeiten II. Die Ambivalenz richterlicher Tätigkeit 1. Der Richter als „Herr des Rechts" 2. Der Richter als Verfahrensbeteiligter und „Diener des Rechts" . . . 3. Der vorrangige Gesichtspunkt a) Die Einbeziehung des Schiedsrichters b) Die Beschränkung auf parteirelevante Handlungen c) Allgemeine Bedenken gegen das Schutzgut „Rechtsbewährung" d) Ergebnis III. Rechtspflegeschutz IV. Verfahrensziel-Schutz 20. Kapitel: Zur Rechtsbeugung im Strafprozeß A. Täterkreis I. Rechtssache und Richtertätigkeit II. Richtertätigkeit und Parteistellung III. Staatsanwalt als Täter der Rechtsbeugung 1. Sachstruktur a) Ambivalenz der Stellung des Staatsanwaltes b) Überwiegen des Parteilelements 2. Normstruktur 3. Resümee und Ausblick
X 326 326 327 327 328 328 329 330 331 332 332 334 335 335 335 336 339 339 339 340 343 343
B. Die Tathandlung: Rechtsanwendung I. Die Verhaltenserwartung II. Das anzuwendende Recht 1. Räumlicher Anwendungsbereich 2. Inhalt 3. Vorkonstitutionelle Handlungen a) Die herrschende Auffassung b) Kritik der herrschenden Auffassung c) Rückwirkungsverbot aa) Kontinuität bb) Richterprivileg und Rückwirkungsverbot 4. Konsequenzen III. „Anwendung" des Rechts
344 344 344 344 346 349 349 350 352 352 353 356 358
C. Der Tatvorwurf: Die Beugung des Rechts I. Ansatz II. Durchführung 1. Sachverhaltsfeststellung 2. Subsumtion 3. Ermessensentscheidungen, insb. Strafzumessung III. Taterfolg
359 359 359 360 360 365 365
D. Rechtsbeugungsvorsatz I. Zur Vorsatzform II. Vorsatzinhalt 1. Recht 2. Taterfolg
366 366 368 368 370
I n h a l t s v e r z e i c h n i s E. Das richterliche Haftungsprivileg
370
F. Zusammenfassung und Rückblick I. Zusammenfassung II. Rückblick
373 373 373
VIERTER TEIL
Strafrechtlicher Schutz des ordnungsgemäßen und richtigen Strafurteils: Die Strafvereitelungstatbestände (§§ 258 Abs. 1, 258 a StGB) 21. Kapitel : Historisches Material: Gesetzgebung und Reform seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches A. Reichsstrafgesetzbuch
375 375
B. Vorentwurf und Gegenentwurf
376
C. Entwürfe von 1913 und 1919
379
D. Reformarbeiten der Weimarer Zeit
381
E. Gesetze und Projekte der NS-Zeit
382
F. Gesetzgebung und Reform nach 1945
384
22. Kapitel: Rechtsgutdiskussion
386
A. „Geltung der Vortat-Normen und der Vortat-Rechtsgüter"
386
B. „Strafrechtspflege" versus „Strafzwecke"
388
C. Schutz des Verfahrenszieles
391
D. Beschränkung auf den Schutz der richtigen Entscheidung
392
23. Kapitel: Einzelprobleme
394
A. Ausgangspunkt und Übersicht
394
B. StrafVereitelung auf Zeit I. Meinungsstand II. Voraussetzungen III. Diskussion 1. Wortlaut und Entstehungsgeschichte 2. Sinn und Zweck der Regelung, insbesondere ihr Rechtsgutbezug . a) Praktische Auswirkungen b) Rechtsgutbezug
394 394 395 397 403 404 405 410
C. StrafVereitelung durch Verfahrensbeteiligte I. Ausgangspunkt und Übersicht II. StrafVereitelung durch StrafVerteidigung 1. Grundlagen 2. Analyse a) Funktionsbereich der Verteidigung b) Anderweitige Strafbarkeit oder Rechtsgutverletzung c) Organstellung d) Andere Kategorien
413 413 414 414 417 417 421 422 424
Inhaltsverzeichnis e) Stufenanalyse aa) Verfälschung bb) Eigene Aktivität cc) Unmittelbares Eingreifen dd) Kausalität 3. Schlußbemerkung III. Strafvereitelung im Amt (§ 258 a StGB)
XII 424 425 425 426 429 433 435
FÜNFTER TEIL
Zum geschützten Rechtsgut des Falschverdächtigungstatbestandes (§ 164 StGB) 24. Kapitel: Historisches Material: Gesetzgebung und Reform seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches 440 A. Das Reichsstrafgesetzbuch
440
B. Vorentwurf und Gegenentwurf
441
C. Entwürfe von 1913 und 1919
443
D. Reformarbeiten der Weimarer Zeit
444
E. Gesetze und Projekte der NS-Zeit
444
F. Gesetzgebung und Reformdiskussion nach 1945
447
25. Kapitel: Rechtsgutdiskussion
449
A. Die Lehre von der „doppelten Schutzrichtung" des § 164 StGB und ihre Kritik I. Problematik II. Kritik
449 449 450
B. Individualgüterschutz versus Schutz der Allgemeinheit
451
C. Schutz des Verfahrenszieles
459
D. Zusammenfassung
461
SECHSTER TEIL 26. Kapitel : Rückblick und Ausblick
462
A. Resümee
462
B. Ausblick: Der Kreis der Rechtspflegeschutz-Tatbestände
463
Quellenveizeichnis
470
Literaturverzeichnis
476
Sachverzeichnis
510
Abkürzungsverzeichnis Α. a. Α. AaO abw. AE a. E. a. F. AG ALR Ani. Anm. AO ArchCrR N F ARSP AT
Auflage am Anfang; anderer Ansicht A m angegebenen Ort abweichend; abwegig Alternativ-Entwurf (s. QVerz. 2.38) am Ende alte Fassung Amtsgericht Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Anlage Anmerkung Abgabenordnung Archiv des Criminalrechts. Neue Folge Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Allgemeiner Teil
BayObLGSt.
BVwVfG
Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen. Neue Folge s. QVerz. 1.3.1 Bayerische Verwaltungsblätter Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern Band, Bände Bundesdisziplinarordnung Berichterstatter Bundesgesetzblatt Bundesgesetzblatt (Norddeutscher Bund) Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (Amtliche Sammlung) Bundesministerium der Justiz Bundesnotarordnung Bundesrat Bundesrechtsanwaltsordnung Besonderer Teil; Bundestag Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Amtliche Sammlung) Bundesverwaltungsverfahrensgesetz
Conceptions CrimGB CrimO
s. LitVerz. b. Trappe, Paul Criminalgesetzbuch Criminalordnung
BayStGB BayVBl. BayZ Bd., Bde. BDO BE BGBl. BGBl. NDB. BGH BGHSt. BMJ BNotO BR BRAO BT BVfG BVfGE
Abkürzungsverzeichnis
XI
Denkschrift NS DJ DJZ DR DRiZ DStR DVO
s. QVerz. 2.21 Deutsche Justiz Deutsche Juristenzeitung Deutsches Recht Deutsche Richterzeitung Deutsches Strafrecht Durchführungsverordnung
E 1913 E 1919 E 1919 Denkschrift E 1922 E 1925 E 1927 E 1936 E 1938 E 1939 E 1959 E 1960 E 1962 EEG 1929 EGStGB 1974 Entw. A K Entwürfe DStGB EGStGB N D B EStPO 1908
s. QVerz. 2.9.1 s. QVerz. 2.9.2 s. QVerz. 2.9.3 s. QVerz. 2.11 s. QVerz. 2.12 s. QVerz. 2.13E 1930 s. QVerz. 2.15 s. QVerz. 2.24 s. QVerz. 2.25 s. QVerz. 2.26 s. QVerz. 2.35 s. QVerz. 2.36 s. QVerz. 2.37 s. QVerz. 2.14 s. QVerz. 2.42 s. LitVerz. b. Arbeitskreis Strafprozeßreform s. QVerz. 2.9 s. QVerz. 1.7 s. QVerz. 2.4
FGG
Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Fußnote (bei Verweisungen auf andere Werke) Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburstag. Herausgegeben von Horst Ehmke, Carlo Schmid, Hans Scharoun. Frankfurt/M. 1969. Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag am 7. Dezember 1978. Hrsg. von Arthur Kaufmann, Günter Bemmann, Detlef Krauß, Klaus Volk. München 1979. Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag am 29. April 1977. Hrsg. von Hans-Heinrich Jescheck und Hans Lüttger. Berlin, New York 1977. Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Paul Bockelmann, Arthur Kaufmann, Ulrich Klug. Frankfurt a. M. 1969. Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag am 22. Juli 1973. Hrsg. von Karl Lackner, Heinz Leferenz, Eberhard Schmidt, Jürgen Welp und Ernst Amadeus Wolff Berlin, New York 1973. Festschrift für Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag am 28. Juli 1983. Hrsg. von Arno Buschmann, Franz-Ludwig Knemeyer, Gerhard Otte und Werner Schubert. Bielefeld 1983.
FN. Fschr. Arndt Fschr. Bockelmann
Fschr. Dreher
Fschr. Engisch
Fschr. Gallas
Fschr. Gmür
XX Fschr. Heinitz
Fschr. Hentig
Fschr. Honig
Fschr. Klug Fschr. Lange
Fschr. Laun
Fschr. Lent
Fschr. Maurach
Fschr. Mayer
Fschr. OLG Celle Fschr. Peters (1)
Fschr. Peters (2)
Fschr. Rittler Fschr. Rosenberg
Fschr. Rosenfeld Fschr. Eb. Schmidt
Abkürzungsverzeichnis Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag am 1. Januar 1972. Hrsg. von Hans Lüttger in Verbindung mit Hermann Blei und Peter Hanau. Berlin 1972. Kriminologische Wegzeichen. Festschrift für Hans v. Hentig zum 80. Geburtstag am 9. Juni 1967. In Gemeinschaft mit Günther Blau u. a. bearbeitet von Herbert Schäfer. (Kriminologische Schriftenreihe. Bd 29). Hamburg 1967. Festschrift für Richard M. Honig zum 80. Geburtstag am 3. Januar 1970. (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien. Bd 77). Göttingen 1970. Festschrift für Ulrich Klug zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Günter Kohlmann. 2 Bde. Köln 1983. Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Günter Warda, Heribert Waider, Reinhard v. Hippel, Dieter Μ eurer. Berlin 1976. Gegenwartsprobleme des internationalen Rechtes und der Rechtsphilosophie. Festschrift für Rudolf Laun zu seinem siebzigsten Geburtstag. Hrsg. von Dimitri S. Constantopoulos und Hans Wehberg. Hamburg 1953. Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag am 6. 1. 1957. Hrsg. von Leo Rosenberg und Karl Heinz Schwab. München und Berlin 1957. Festschrift für Reinhart Maurach zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Friedrich-Christian Schroeder und Heinz Zipf. Karlsruhe 1972. Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft. Festschrift für Hellmuth Mayer zum 70. Geburtstag am 1. Mai 1965. Hrsg. von Friedrich Geerds und Wolfgang Naucke in Gemeinschaft mit Günter Bemmann u. a. Berlin 1965. Göttinger Festschrift für das Oberlandesgericht Celle (Göttinger rechts wissenschaftliche Studien. Bd 40). Göttingen 1961. Einheit und Vielfalt des Strafrechts. Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Jürgen Baumann und Fritz Tiedemann. Tübingen 1974. Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren. Festschrift für Karl Peters aus Anlaß seines 80. Geburtstages. Hrsg. von Klaus Wasserburg und Wilhelm Haddenhorst. Heidelberg 1984. Festschrift für Theodor Rittler zu seinem 80. Geburtstag. Hrsg. von Siegfried Hohenleitner, Ludwig Lindner u. a. Aalen 1957. Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Hans Ulrich Wehler. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Bd 11). Göttingen 1974. Festschrift für Ernst Heinrich Rosenfeld zu seinem 80. Geburtstag am 14. August 1949. Berlin 1949. Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Paul Bockelmann und Wilhelm Gallas. Göttingen 1961. N D . Aalen 1971.
Abkürzungsverzeichnis
XXI
Fschr. Schmidt-Leichner Festschrift für Erich Schmidt-Leichner zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Rainer Hamm und Walter Natzke. München 1977. Lebendiges Strafrecht. Festgabe zum 65. Geburtstag von Hans Fschr. Schultz Schultz. Hrsg. von Hans Walder und Stefan Trechsel. (SchwZStrR Bd 94). Bern 1977. Fschr. Welzel Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag am 25. März 1974. Hrsg. von Günter Stratenwerth, Armin Kaufmann, Gerd Geilen u. a. Berlin, New York 1974. Fschr. Würtenberger Kultur, Kriminalität, Strafrecht. Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag am 7. 10. 1977. Hrsg. von Rüdiger Herren, Diethelm Kienapfel, Heinz Müller-Dietz. Berlin 1977. Fußn. Fußnote (bei Querverweisungen) GA GE GG GS Gschr. Radbruch
GVG GWB
Goltdammers Archiv für Strafrecht s. QVerz. 2.8 Grundgesetz Der Gerichtssaal Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 21. 11. 1878-23. 11. 1949. Hrsg. von Arthur Kaufmann. Mit einem Geleitwort von Gustav Heinemann. Göttingen 1968. Gedächtnisschrift für Horst Schröder. Hrsg. von Walter Stree, Theodor Lenckner, Peter Cramer, Albin Eser. München 1978. Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz)
HESt h. M. HRR Hs.
Höchstrichterliche Entscheidungen in Strafsachen herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung Halbsatz
i. e. S. i. S. d. i. w. S.
im engeren Sinne im Sinne des (der) im weiteren Sinne
JA JGG JK JR Jura JuS JW JZ
Juristische Arbeitsblätter Jugendgerichtsgesetz Jura-Kartei Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung
KG KK KMR KO KonsG KostO
Kammergericht Karlsruher Kommentar (s. LitVerz.) s. LitVerz. Konkursordnung Konsulargesetz Kostenordnung
Lev. LG
Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft Landgericht
Gschr. Schröder
XXII
Abkürzungsverzeichnis
LK
Leipziger Kommentar (s. LitVerz.)
Μ /D/Η MDR MschrKrim m. w. N.
Maunz/ Dürig/ Herzog (s. LitVerz.) Monatsschrift für Deutsches Recht Monatsschrift für Kriminologie mit weiteren Nachweisen
NArchCrR ND. N. F. NJW NStZ
Neues Archiv des Criminalrechts Neudruck Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Strafrecht
Ob L G OGHSt
Öst.EStGB 1964 Öst.VE
(Bayerisches) Oberstes Landesgericht Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht s. QVerz. 3.7.2 s. QVerz. 3.7.1
PatG Prot. DStGB Prot. GrStrK. Prot. SA Prot. StrPrR Pr. StGB PVjS
Patentgesetz s. QVerz. 2.22 s. QVerz. 2.33 s. QVerz. 2.39 s. QVerz. 2.3 Preußisches Strafgesetzbuch Politische Vierteljahresschrift
Rb. Recht RegE RG RGBl. RG-Rspr.St RGSt RJA RJM Rnr ROW RPflG Rspr. RStGB RVB1. RVO
Randbemerkung Das Recht. Rundschau für den deutschen Juristenstand Regierungsentwurf Reichsgericht Reichsgesetzblatt Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (Amtliche Sammlung) Reichsjustizamt Reichsjustizministerium Randnummer Recht in Ost und West Rechtspflegergesetz Rechtsprechung Reichsstrafgesetzbuch Reichsverwaltungsblatt Reichsversicherungsordnung
s.; S. Schw.VE SchwZStrR SGG SJZ
siehe; Seite s. QVerz. 3.8.1 Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Sozialgerichtsgesetz Süddeutsche Juristenzeitung
OLG OLGSt
Abkürzungsverzeichnis SK Sp. Sten.Ber.BT
XXIII
StGB StPO StrÄG StrRG StVRG StVRGErgG StrVt Stw.
Systematischer Kommentar s. LitVerz.) Spalte Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Bundestages Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Strafrechtsänderungsgesetz Strafrechtsreformgesetz Strafverfahrensreformgesetz s. QVerz. 2.44 Strafverteidiger (Zeitschrift) Stichwort
u.
und; unten
VD VE Verh.DJT Verh.Ständ.Aussch. VZ
s. QVerz. 2.5 s. QVerz. 2.6 Verhandlungen des Deutschen Juristentages s. QVerz. 1.10.3 s. QVerz. 2.34
wistra WRV WP. W.v.Str.
Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer und Strafrecht Weimarer Reichsverfassung Wahlperiode Wetboek van Strafrecht
ZBJV ZDtStrV ZNR ZPO ZRP ZStW ZZP
Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zeitschrift für deutsches Strafverfahren Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozeß
Sten.Ber.RT
1. Kapitel Themenstellung; Gang der Darstellung; Forschungsstand A. Themenstellung Der Titel der Untersuchung ist plakativ; er bedarf der Präzisierung und Begrenzung. Der Untertitel enthält das wichtigste Begrenzungselement; er bedarf der Erläuterung. Die Untersuchung will Strukturelemente der sogenannten Rechtspflegeschutz-Tatbestände sichtbar machen, durch Analyse ausgewählter Straftatbestände gedankliche Zusammenhänge aufdecken und abschließend Bausteine zu einer Architektonik des strafrechtlichen Rechtspflegeschutzes liefern 1 . Die Grenzlinie der Untersuchung ist allerdings gegenüber derjenigen des Gesamtkomplexes „Strafrechtlicher Schutz der Rechtspflege" in mehrfacher Hinsicht zurückgenommen: (1) Zum Untersuchungsstoff zählen nur sog. Rechtspflegedelikte der reinen Strafrechtspflegedelikte).
(einschließlich
(2) Im Mittelpunkt steht der strafrechtliche Schutz der Strafrechtapflege. (3) Behandelt ist nur der Schutz des strafprozessualen Verfahrenszieles. B. Gang der Darstellung Daß diese Eingrenzung von Untersuchungsstoff und Untersuchungsbereich der Struktur des Untersuchungsgegenstandes adäquat ist, muß begründet werden. Einige der zur Eingrenzung verwendeten Begriffe bedürfen ihrerseits erst der Explikation. Dem nachfolgenden Ersten Teil fallt daher eine mehrfache Aufgabe zu. Er soll Strukturelemente des Untersuchungsgegenstandes herausstellen und gleichzeitig die Themenstellung als eine den aufgezeigten Strukturen angepaßte legitimieren. Ferner soll er einiges für den Themenbereich grundlegendes Material beschaffen. Dazu ist zunächst der gegenwärtige Meinungsstand über Umfang und Struktur des strafrechtlichen Rechtspflegeschutzes aufzuarbeiten. Es wird sich zeigen, daß einerseits keine Einigkeit über die normative oder begriffliche Bedeutung von „Rechtspflegedelikten" besteht2. Es wird sich 1 Zur Begrenztheit von Systematisierung und systematischer Auslegung im Strafrecht s. z. B. Bockelmann, Strafrecht BT/1, S. 1; Μaurach / Zipf, AT/1, S. 114; Eser, Sch/Schr, § 1 Rnr 41. 2 2. Kapitel.
1
Vormbaum
2
. Kapitel
ferner zeigen, daß die bisher vorliegenden Äußerungen dem Verlangen nach einer auf angemessener Abstraktionshöhe liegenden Rechtsgutbeschreibung nicht gerecht werden. Daraus rechtfertigt sich ein eigener Versuch, zu einer Gliederung des Komplexes „Rechtspflege" und zur Gewinnung ableitungsfahiger Begriffe zu gelangen3. Zuvor jedoch wird in einer knappen rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Umschau das Diskussionsmaterial angereichert 4 , ferner die Problematik einer Rechtsgutformulierung skizziert 5 und die Besonderheit der zu betrachtenden Regelungsmaterie erörtert werden 6 . Das Ergebnis der sodann angestellten Überlegungen zur Strukturierung des Komplexes „Rechtspflege" wird eine Dreiteilung der Schutzrichtung „Rechtspflegeschutz" sein: Schutz des Verfahrensgefüges, Schutz des Verfahrenszieles, Schutz der Verfahrensfunktionen 7. Der weitere Fortgang der Untersuchung beschränkt sich, wie angekündigt, auf die Behandlung des Schutzgutes „Verfahrensziel". Dieses muß für den Strafprozeß inhaltlich bestimmt werden; aus dem Ergebnis dieser Überlegungen werden die thematischen und methodologischen Folgerungen für das weitere Vorgehen gezogen werden 8 . Die weiteren Teile der Untersuchung befassen sich mit der eigentlichen Dogmatik von Strafvorschriften. Der Stoff dieser Einzeluntersuchungen wird folgenden Straftatbeständen des Strafgesetzbuches entnommen werden 9 : — §§153-163 (sog. Aussagedelikte), — §§258, 258 a (Strafvereitelung), — §336 (Rechtsbeugung), — §164 (Falsche Verdächtigung). Eine umfassende systematische Kommentierung der Tatbestände verbietet sich schon wegen der Begrenztheit des Raumes; es liegt aber auch nicht in der Absicht der Untersuchung, die Reihe der einschlägigen Kommentierungen zu verlängern. Im Vordergrund soll vielmehr jeweils eine auf der Grundlage der Erkenntnisse des ersten Teils durchzuführende Rechtsgutanalyse stehen. Aufmerksamkeit wird auch den Entstehungs - und Entwicklungsgeschichten der gesetzlichen Vorschriften gewidmet werden. Die Behandlung dogmatischer Einzelfragen, die absichtsgemäß auf strafprozeßbezogene Probleme beschränkt sein wird, konzentriert sich einmal auf Komplexe, für deren Durchdringung die zuvor gewonnenen Materialien und methodologischen Grundlagen besonders
3 4 5 6 7 8 9
7. Kapitel. 3. und 4. Kapitel. 5. Kapitel. 6. Kapitel. 7. Kapitel. 8. und 9. Kapitel. Zur Legitimierung dieser Auswahl s. 9. Kapitel.
Themenstellung; Gang der Darstellung; Forschungsstand
3
tragfähig erscheinen sowie auf Probleme, welche in der dogmatischen Diskussion besonders umstritten sind. Trotz dieser fragmentarischen Behandlung der Materie mögen Umrisse einer „Architektonik" (Maurach) dieses strafrechtlichen Normbereiches deutlich werden. C. Forschungsstand Eine umfassende Untersuchung zum Themenbereich „Strafrechtlicher Rechtspflegeschutz" fehlt. Sie ist hier ebenfalls nicht beabsichtigt. Was den Forschungsstand bei den Einzelkomplexen angeht, so sind vor allem zum Komplex „Aussagedelikte" bedeutsame Aufsätze und Monographien erschienen. Unter Vernachlässigung noch älterer Untersuchungen 10 sei Schröders Untersuchung „Unwahrer und un wahrhaftiger Eid" aus dem Jahre 1939 erwähnt, welche vor allem durch ihre sorgfältige Analyse der Falschheitsproblematik bis heute bedeutsam geblieben ist, freilich durch die Bezugnahme auf den damaligen Gesetzeszustand manches an Relevanz für die heutige Betrachtung einbüßt; ähnliches gilt für die rechtstatsächliche Untersuchung von Peters über „Zeugenlüge und Prozeßausgang" (1939), deren statistische und argumentative Substanz vor allem im Prinzipiellen verwertbar ist 1 1 . Seither hat die gesetzliche Regelung dieses Deliktsbereiches durchgreifende Änderungen erfahren 12 . Die Schrift von Herrmann, „Die Reform der Aussagetatbestände"13, kann freilich Aktualität beanspruchen; auch wird, was Argumentation und Ergebnis angeht, in zahlreichen Problembereichen auf sie Bezug genommen werden können. Jedoch besitzt sie einen anderen Problemzuschnitt als unsere diesbezüglichen Erörterungen. Vor allem ist sie in erster Linie der rechtspolitischen Diskussion zugewandt; die strafrechtsdogmatische Durchdringung steht im Dienste dieses Interesses. Die Aufsatzliteratur zu Einzelfragen wartet noch auf Auswertung in einem größeren Rahmen. Monographien zum Problemfeld Strafvereitelung fehlen. Freilich ist auch hier die Aufsatzliteratur zu den betreffenden — seit 1975 äußerlich von der Begünstigung emanzipierten — Straftatbeständen 14 reichhaltig, sie betrifft aber fast ausschließlich Einzelprobleme 15 . 10 Hingewiesen sei insoweit wenigstens auf v. Liszts Schriften „Meineid und falsches Zeugnis (Wien 1876) und „Die falsche Aussage vor Gericht oder öffentlicher Behörde nach deutschem und österreichischem Recht" (Graz 1877). 11 s. aber seither auch Peters, Fehlerquellen Bd 1, S. 396 ff. 12 Zu ihnen ausführlich die im Vorwort angekündigte Monographie des Verf. 13 Erschienen 1973; Besprechungen von Η. J. Hirsch, ZStW 1976,766 ff. und Otto, GA 1975, 155 ff. 14
§258 Abs. 1, § 258 a StGB. Vor allem die Probleme der Strafvereitelung auf Zeit und der Strafvereitelung durch Strafverteidigung, denen auch unsere Untersuchung Raum gegeben wird (vgl. 24. Kapitel). 15
1*
4
. Kapitel
Zur Rechtsbeugung liegt aus neuerer Zeit neben zahlreichen Aufsätzen 16 die Monographie von Seebode vor 1 7 . Sie nimmt zu allen wesentlichen dogmatischen Problemen des Tatbestandes Stellung, beschränkt sich jedoch auf dessen punktuelle Behandlung, verzichtet also auf eine Einordnung in die prozessuale und materiellrechtliche Gesamtproblematik. Ihre dogmatische Solidität erleichtert das Vorhaben, auch von diesem Tatbestand nur (nach den genannten Maßstäben ausgewählte) Schwerpunktprobleme zu erörtern. Ähnliches gilt für den Tatbestand der Falschverdächtigung, welcher, wie sich zeigen wird, in der Randzone des Untersuchungsbereiches liegt. Ihm hat in jüngerer Zeit Langer eine rechtsgutorientierte Untersuchung gewidmet 18 . Durch sie und die ihr gewidmeten kritischen Ausführungen von H.J.Hirsch 19 sind die wesentlichen Argumente zur Rechtsgutproblematik dieses Tatbestandes ausgetauscht. Es bleibt daher nur die Aufgabe, die Argumente an den Maßstäben der im Ersten Teil entwickelten Konzeption zu messen20.
16
Die zahlreichen einschlägigen Aufsätze von Spendel sind neuerdings in einem Sammelband vereinigt worden {Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, Berlin, New York 1984; dazu Küper, JZ 1984, 470). 17 Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung (Neuwied, Berlin 1969); vgl. ferner Schmidt-Speicher, Hauptprobleme der Rechtsbeugung (Berlin 1982). 18 Langer, Die falsche Verdächtigung (Berlin 1973). 19 H. J. Hirsch, ZStW 1977, 330 ff., und Falsche Verdächtigung, in: Gschr. Schröder S. 307 ff. 20 26. Kapitel.
Erster Teil
Materialien und Grundprobleme 2. Kapitel Annäherung und Bestandsaufnahme A. Annäherung „Rechtspflege" und „Strafrechtspflege" als Gegenstände des materiellen Strafrechts anzusprechen, bedeutet zunächst, einen Teil der Tatbestände im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches unter einem begrifflichen Gesichtspunkt, und zwar unter demjenigen einer gemeinsamen Schutzrichtung, zusammenzufassen. So einleuchtend diese Aufgabenstellung erscheinen mag, so diffizil ist bereits der erste Zugriff auf das Material. Daß das Strafgesetzbuch selber bei der Kategorisierung keine unmittelbare Hilfestellung leistet, macht ein Blick in seine systematische Übersicht deutlich, in der die Begriffe „Rechtspflege", „Strafrechtspflege", „Rechtsprechung" und „Strafrechtsprechung" nicht auftauchen. Blickt man hingegen in die neuere Rechtsgeschichte und in die Strafgesetzgebung anderer Länder, so stößt man durchaus auf Bemühungen um eine Strukturierung dieses Bereiches, welche sich in Abschnittsüberschriften wie „Schädigung der Rechtspflege", „Gefahrdung der Rechtspflege", „Straftaten gegen die Rechtspflege", „Straftaten gegen die rechtsprechende Gewalt" o.ä. niederschlagen. Auch die Dogmatik des geltenden deutschen Strafrechts geht trotz Fehlens einer Legaldefinition und trotz Fehlens eines gesetzessystematischen Hinweises davon aus, daß die Bildung einer derartigen Deliktsgruppe zumindest einen Gesichtspunkt für sinnvolle Gliederung der gesetzlichen Straftatbestände, aber wohl auch für die sachliche Analyse des Gesamtkomplexes und seiner Tatbestände liefert. Die methodologische Schwierigkeit, der sich der Versuch der strafrechtsdogmatischen Erfassung eines solchen Komplexes gegenübersieht, ist aus anderen rechtsdogmatischen Problembereichen 1 und aus der inzwischen zu hoher Dichte gelangten Rechtsgut-Diskussion2 vertraut; sie ist gekennzeichnet durch die Spannung zwischen zwei Möglichkeiten rechtswissenschaftlichen Erkenntnisge1 Vgl. z. B. die methodologischen Bemerkungen in der Einleitung der Abhandlung von Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht (1970), S. 1 ff. 2 Vgl. Hassemer, Verbrechen S. 19 ff. (Über systemimmanente und systemtranszendente Rechtsgutskonzepte).
6
2. Kapitel
winns. Ausgegangen werden kann einmal vom vorhandenen Gesetzesmaterial, vor allem also vom gesetzlichen Tatbestandskanon. Durch Aufdeckung von Tatbestandsstrukturen, durch Parallelisierung, Differenzierung, Abstraktion und andere Operationen kann versucht werden, ein System des strafrechtlichen Schutzes der „(Straf-)Rechtspflege" induktiv zu gewinnen. Die andere Möglichkeit des Vorgehens besteht darin, eine von der Sachstruktur der Regelungsmaterie ausgehende und von ihr abgezogene Begriffsbildung und Systematisierung zu entwickeln und daran die strafrechtlichen Normen zu messen, zu gruppieren, zu strukturieren und zu interpretieren. Beide Vorgehensweisen bergen Vor- und Nachteile. Zwar scheint prima facie das zuletzt erwähnte (deduktive) Vorgehen weniger Sensibilität gegenüber dem aus rechtsstaatlichen Gründen (vor allem wegen des Grundsatzes nullum crimen sine lege) unabdingbaren fragmentarischen Charakter des Besonderen Teils des Strafrechts zu gewährleisten. Bei näherem Hinsehen jedoch ist — exakte Argumentation vorausgesetzt — der diesbezügliche Unterschied zwischen beiden Methoden gering. Ob die durch Analyse des Gesetzesmaterials gefundenen „Fragmente" zu einem System ergänzt werden oder ob aus einem vorweg entwickelten gedanklichen System jene Teile herausgebrochen werden, die vom geltenden Recht nicht abgedeckt sind, macht zumindest begrifflich keinen Unterschied. Hinzu kommt, daß beide Methoden nicht beziehungslos nebeneinander stehen, denn einerseits können rechtsphilosophische, rechtstheoretische oder kriminalpolitische Überlegungen zum Fragenkreis „Rechtspflegedelikte" nicht losgelöst vom geltenden Rechtszustand und damit von den in ihn eingegangenen historischen Erfahrungen stattfinden; andererseits kann sich auch die Analyse des Gesetzesmaterials nicht in schierer gesetzespositivistischer Betrachtung erschöpfen, sie muß auch auf sachlogische Strukturen der geregelten Materie ein Auge haben, besonders dann, wenn — wie vorliegend — der Regelungsgegenstand selber normativ geprägt ist 3 . Das Bild vom Hin- und Herwandern des Blickes, welches Engisch zur Charakterisierung des Subsumtionsvorganges geprägt hat 4 , läßt sich somit auch auf den Methodendualismus in der Gesetzesanalyse übertragen. Die Entscheidung zwischen beiden Vorgehensweisen wird nicht zuletzt von Zweckmäßigkeitserwägungen abhängen. Zu diesen gehört auch die Rücksichtnahme auf den Erkenntnisstand über das betreffende Problem. Ist dieser noch niedrig, so empfiehlt es sich, das Gesetzesmaterial des geltenden Rechts zu sichten, vor allem festzustellen, für welche der vorhandenen Straftatbestände überhaupt eine Zuordnung zum proponierten Problembereich vertreten wird. Bleibt die Struktur des Untersuchungsgegenstandes auch nach einer solchen
3
Zur Besonderheit des normativ geprägten Regelungsgegenstandes s. noch 6. Kap. Engisch, Gesetzesanwendung S. 14 f. Nachweise zu ähnlichen Äußerungen bei Hassemer, Tatbestand und Typus S. 105 f.; weiterführend Hassemer aaO S. 107 (Strafrechtliche Auslegung als spiralenförmig zu verbildlichender Vorgang). 4
Annäherung und Bestandsaufnahme
7
Materialsammlung diffus, weil die vertretenen Auffassungen sich gegenseitig ausschließen, unstimmig sind oder zu kurz greifen, so kann die Sammlung durch Heranziehung von historischem oder ausländischem Rechtsmaterial (durch „diachrone" und „synchrone" Rechtsvergleichung) erweitert und verdichtet werden. Dieses Material wird erste Erkenntnisse über Möglichkeiten und Grenzen legislatorischer und rechtswissenschaftlicher Strukturierung des Untersuchungsgegenstandes liefern, die dann mit außer(straf)rechtlichen Überlegungen konfrontiert, gegebenenfalls durch sie ergänzt und vervollständigt werden können. Im 1. Kapitel ist bereits erwähnt worden, daß eine umfassende Analyse der Rechtspflegedelikte — ungeachtet ihrer nicht seltenen punktuellen Erwähnung in der Diskussion der Rechtsgutproblematik 5 — bislang fehlt. Überdies bestehen — wie sich zeigen wird — kontroverse Auffassungen darüber, wie weit der Kreis der Rechtspflegedelikte zu fassen sei6. Daher empfiehlt sich auch vorliegend die Anwendung des gerade skizzierten Verfahrens. Zunächst soll also registriert werden, welche der im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches aufgestellten Straftatbestände zum Schutze zumindest auch der Rechtspflege bezeichnet werden. Weiter ist festzustellen, bei welchen dieser Tatbestände der rechtspflegeschützende Charakter unumstritten, bei welchem er kontrovers ist. Schließlich werden Systematisierungs- und Gruppierungsversuche kurz darzustellen sein. B. Bestandsaufnahme Für folgende Straftatbestände des Strafgesetzbuchs wird im strafrechtlichen Schrifttum die Rubrizierung als „Rechtspflegedelikt" vorgeschlagen: — § 120 (Gefangenenbefreiung), — § 121 (Gefangenenmeuterei), — § 138 (Nichtanzeige geplanter Straftaten), — § 145 a (Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht), — § 145 c (Verstoß gegen das Berufsverbot), — § 145 d (Vortäuschen einer Straftat), - § § 153-163 (Aussagedelikte)7, — § 164 (Falsche Verdächtigung), — § 257 (Begünstigung), — § 258 (Strafvereitelung), — § 258 a (Strafvereitelung im Amt), 5
Zur Exemplifikation allgemeiner Rechtsgutsprobleme an den Rechtspflegedelikten s. zunächst nur Philipsborn, Klassifikation S. 129 f.; Amelung, Rechtsgüterschutz S. 191,195; Rudolphi, Aspekte aaO S. 163; Hassemer, Verbrechen S. 71 f. 6 s. sogleich sub Β. 7 Auf Besonderheiten der einzelnen Tatbestände dieser Deliktsgruppe wird noch eingegangen werden; für die hier durchgeführte Bestandsaufnahme genügt ihre pauschale Erwähnung.
8 — — — — — —
2. Kapitel § 336 § 343 § 344 § 345 § 353 § 356
(Rechtsbeugung), (Aussageerpressung), (Verfolgung Unschuldiger), (Vollstreckung gegen Unschuldige), d (Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen), (Parteiverrat).
Unbezweifelt ist die Zuordnung zum Komplex „Schutz der Rechtspflege" nur bei wenigen dieser Tatbestände. Hält man die im Schrifttum vertretenen Auffassungen nebeneinander, so zeigt sich eine sowohl uneingeschränkte wie auch ausschließliche Bejahung der Rechtspflegeschutz-Eigenschaft nur bei den Aussagedelikten8; jedoch ist auch diese Deliktgruppe, wie schon der Wortlaut gerade ihrer Basis-Tatbestände ergibt — jedenfalls nicht auf den Schutz der Recht sprechung beschränkt 9. Für die anderen Tatbestände wird entweder die Eigenschaft als Rechtspflegedelikt gänzlich verneint 10 , oder es wird ihnen eine — alternative oder kumulative — Doppelfunktion zugeschrieben 11. Mitgeschützt, alternativ geschützt oder ausschließlich geschützt sollen sein: Einzelpersonen (bei §§164, 343, 344, 345) 12 , die Staatssicherheit (bei §353 d Ziff. 1 u. 2) 1 3 , die Rechtsordnung als Ganzes 14 , die Präventivorgane 15 , das (im einzelnen streitige) Rechtsgut der Amtsdelikte 16 sowie „die durch nichtangezeigte Straftaten bedrohten Rechtsgüter" (§138) 17 . 8
s. z. B. DreherI Tröndle, StGB, Vor § 153 Rnr 1; Lackner, StGB. Vor § 153 Anm. 1 („namentlich die staatliche Rechtspflege"); Willms, L K (9. Α.), Vor § 153 Rnr 6; Bockelmann, BT/3, S. 1 ff.; Blei, BT, S. 337; Eser, StK III, S. 194 (Fall 17); Schmidhäuser, BT, S. 214 (23/7); Wessels, BT/1, S. 144; Geerds, Rechtspflegedelikte aaO S. 11 („Prototyp der Rechtspflegedelikte"). 9 Dazu noch Kap. 11; s. zunächst Lenckner, Sch/Schr, Vor § 153 Rnr 2 („Gewinnung der richtigen Entscheidungsgrundlage in gerichtlichen und gewissen sonstigen Verfahren; zu eng daher die Beschränkung auf die Rechtspflege"). 10 So die überwiegende Auffassung zu §§ 120, 121 StGB; s. ferner Fußn. 18, 19. 11 So von der h.M. die Falsche Verdächtigung (§ 164 StGB) (s. die folgende Fußn.). 12 Zu § 164: BGHSt 9, 242; Dreher j Tröndle , StGB, § 164 Rnr 1; Eser, StK III, Fall 16 Rnr A 3; Lenckner, Sch/Schr, § 164 Rnrn 1, 2 m.w.N.; Schmidhäuser, BT, S. 59 (6/6); Bockelmann, BT/3, S. 38 a.A. Rudolphi, SK, § 164, Rnr 1; Maurach/Sehr oeder, BT/2, S. 315. Zu §§ 343 - 345: Cramer, Sch/Schr, § 343, Rnr 3; §344 Rnr 2; § 345, Rnr 2; Dreherj Tröndle, StGB, § 344, Rnr 1; Schmidhäuser, BT, S. 225 f. (23/46, 47, 50). 13 Eser, StK III, Fall 18 Rnr A 2; Lenckner, Sch/Schr, § 353 d, Rnr 3; a.A. Dreherl Tröndle, StGB, § 353 d Rnr 1; Schmidhäuser, BT, S. 227 (23/56); Samson, SK, § 353 d, Rnr 1,4. 14 Schröder, M D R 1952, 70; Stree, Sch/Schr, §257 Rnr 1 (für die — sachliche — Begünstigung); ähnlich Maurach/Schroeder, BT/2, S. 193 (für die Rechtsbeugung). 15 BayObLGSt 1978,109; Stree, Sch/Schr,§ 145 d Rnr 1; Rudolphi, SK,§ 145 d Rnr 1 b (für § 145 d StGB). 16 Eser, StK III, Fall 16, Rnr A 9; Maurach / Schroeder, BT/2, S. 192. 17 Cramer, Sch/Schr, § 138 Rnr 1; Rudolphi, SK, § 138 Rnr 2; Lackner, StGB, § 138 Anm 1; Schmidhäuser, BT, S. 182 (16/11).
9
Annäherung und Bestandsaufnahme
Fragt man, welche Delikte als wenigstens auch rechtspflegeschützend angesehen werden, so zeigt sich für die meisten der oben aufgelisteten Straftatbestände ein bejahender Konsens. Eine singuläre Position nimmt Bockelmann mit seiner Einbeziehung der §§ 120, 121 in den Kreis der Rechtspflegedelikte ein, andererseits besitzt Schroeder mit seiner Ausklammerung nicht nur des § 164, sondern auch der §§ 145 d, 258, 258 a aus diesem Kreis eine Sonderstellung 18. Schroeder schlägt diese Tatbestände zusammen mit zahlreichen anderen Tatbeständen einer eigenen Deliktsgruppe „Straftaten gegen das Strafrecht" zu und unterscheidet dort folgende Untergruppen: Kriminogene Verhaltensweisen (§§111, 129, 129 a, 130 a, 131,140, 323, 357), Straftaten gegen die Verhinderung von Straftaten (§§ 138, 139, 145 d, 164), Straftaten gegen die Bestrafung von Straftaten (§§257, 258, 258 a), Straftaten gegen die Strafvollstreckung (§§ 145 a, 145 c, 258 Abs. 2, 323 b) 1 9 .
An Gliederungsgesichtspunkten innerhalb der als Rechtspflegedelikte anerkannten Delikte finden sich neben der Einteilung in Aussagedelikte und sonstige Rechtspflegedelikte 20 vor allem die Gesichtspunkte: Allgemeine Rechtspflegedelikte und Strafrechtspflegedelikte 21 sowie Allgemeine Rechtspflegedelikte und Rechtspflegedelikte im A m t 2 2 . Häufig werden auch Versuche unternommen, die farblose Charakterisierung „Rechtspflegeschutz" für einzelne Tatbestände zu konkretisieren. So finden sich Schutzbeschreibungen wie: „Die rechtspflegerische Tätigkeit im gerichtlichen Verfahren" und — noch konkreter — „Die gerichtliche Tatsachenermittlung" (beides für die Aussagedelikte) 23; „Die Rechtspflege in ihrem Anspruch auf Durchsetzung der gesetzmäßigen Strafen und Maßregeln", bzw. „Die Staatliche Rechtspflege . . ., die ihre Aufgabe, den Staatlichen Strafanspruch und die Maßnahmen i.S. des §11 I Nr. 8 so bald wie möglich zu verwirklichen, ungehindert erfüllen können (soll)" (beides für die Strafvereitelung) 24; „Die Funktionsfähigkeit der inländischen staatlichen Rechtspflege" (für die falsche Verdächtigung) 25 ; „Das Vertrauen in die Integrität der Rechtspflege" 26 , „Das Vertrauen der Öffentlichkeit in das ordnungsgemäße Verhalten der Personen, in deren Hand die Ausübung von Rechtspflegeaufgaben gelegt ist" 2 7 . 18
Bockelmann, BT/3, S. 61 f.; Maurach/Schroeder, BT/2, Für die Strafvereitelung ähnlicher Auffassung Amelung, JR seine Überlegungen neuerdings in einer Vortragsmonographie Straftaten gegen das Strafrecht. Berlin, New York 1985. Dazu 467-469. 19
20 21 22 23 24 25 26 27
S. 289 ff. 1978,229. Schroeder hat zusammengefaßt: Die Vormbaum, GA 1986,
So z. B. §§ 431 fT. E 1960; §§ 431 ff., 444 ff. E 1962. s. z. B. Geerds, Rechtspflegedelikte aaO S. 17. So z. B. Blei, BT, S. 337 ff., 362 ff. Herrmann, Aussagetatbestände S. 131, 132. Otto, Grundkurs BT S. 432; Stree, Sch/Schr, § 258 Rnr 1. Otto aaO S. 428; Lenckner, Sch/Schr, § 164 Rnr 1. Otto aaO S. 461. Cramer, Sch/Schr, § 356 Rnr 1.
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2. Kapitel
Von Interesse und für unsere späteren Überlegungen bedeutsam ist ferner der Hinweis von Eser, die Aussagedelikte als rechtspflegeschützende Delikte seien Staatsschutzdelikte i.w.S. 28, bei denen jedoch weniger der Insitutionsschutz als der Funktionsschutz (nämlich der Schutz der den Rechtspflegeorganen obliegenden Aufgabe unverfälschter Tatsachenfeststellung) im Vordergrund stehe 29 . Eine erwähnenswerte Dichotomie hat schließlich Rudolphi in die Diskussion eingebracht mit seiner Unterscheidung zwischen dem „Schutz der staatlichen Rechtspflege..soweit sie den ... Prozeßordnungen gemäß verfährt" und dem „Schutz der staatlichen Rechtspflege, so wie sie sich in ihrer täglichen Praxis darstellt" 30 . C. Zusammenfassung Überblickt man das dem Komplex „Rechtspflegedelikte" zugeschriebene Normenensemble und die zu ihm angebotene Terminologie und Begrifflichkeit, so ergibt sich zunächst: 1. Das Strafgesetzbuch kennt den Begriff „Rechtspflegedelikt" oder einen äquivalenten Begriff nicht; es erwähnt die Rechtspflege in keiner Zwischenüberschrift und — soweit ersichtlich — in keinem Straftatbestand. 2. Konsens besteht andererseits darüber, daß es „Rechtspflegedelikte" gebe. Jedoch ist bei allen insoweit erörterten Tatbeständen die Zugehörigkeit zum Kreis dieser Delikte umstritten. Alternativ und kumulativ werden anderweitige öffentliche bzw. Gemeinschaftswerte sowie Individualwerte als Schutzgüter vorgeschlagen. 3. Bemühungen, ein für alle jeweils vorgeschlagenen Tatbestände gemeinsames Schutzobjekt, Rechtsgut oder sonstiges Substrat aus dem Gesetz zu gewinnen, finden nur vom jeweiligen Blickpunkt einzelner Tatbestände bzw. Tatbestandskomplexe aus statt, reichen daher auch nicht weit genug, um zu einer weiterführenden Begriffsbildung zu gelangen, zumal die Einzelelemente so heterogen sind, daß sie eher als Steinchen eines Mosaiks denn als funktionale Elemente einer Begriffsbildung eingesetzt werden könnten. Abstraktere Weiterführungen dringen allenfalls zu Aspektstrukturen („Rechtspflege als Institution", „Rechtspflege als Funktion" u.ä.) vor.
28
Eser, StK I I I S. 150. Eser, StK I I I S. 194; Gegenüberstellung der Rechtspflege als Institution und als Funktion auch bei Rudolphi, SK, Vor § 153 Rnr 5; vgl. ferner Otto, Grundkurs BT, S. 435: „Unwahre Aussagen gefährden diese (sc. die Rechtspflege) als Institution zwar nicht unmittelbar, jedoch mittelbar dadurch, daß sie das Vertrauen des Bürgers in eine bestimmte Funktionsweise der Rechtspflege, aufgrund dessen der Einzelne sein Verhältnis zu den anderen in bestimmter Weise einrichtet, untergraben" (Hervorh. von mir — Τ. V.). Zur Rechtspflege als Funktion und zur Rechtsgutqualität dieser Funktion s. Rudolphi, Aspekte aaO S. 163. 30 Rudolphi, GA 1969, 129 ff. 29
Annäherung und Bestandsaufnahme
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Die einhellige Auffassung, daß es „Rechtspflege(schutz)delikte" gebe, steht also in Kontrast einmal zu dem Umstand, daß das Gesetz diesen Terminus nicht kennt, zum anderen zu dem Umstand, daß die Reichweite und Zusammensetzung des betreffenden Tatbestandsensembles kontrovers ist. Ob dieser doppelte Kontrast Ausdruck eines wissenschaftlichen Rückstandes ist, oder ob er in der Natur der Sache liegt, wird eher entschieden werden können, wenn der Erfahrungsschatz der Gesetzgebungs- und Reformarbeiten seit den Aufklärungskodifikationen sowie die Lösungsversuche ausländischer Gesetzgebungen als Material herangezogen und gesichtet worden sind. Dies wird in den beiden folgenden Kapiteln geschehen.
3. Kapitel Historisches Material Nach dem zuletzt Ausgeführten ist das Interesse gegenüber dem historischen Stoff einmal geleitet durch die Frage, in welcher Weise die betrachteten Gesetze die im vorigen Kapitel aufgeführten Straftatbestände 1 in die „Legalordnung" 2 einbetten und wie sie sie gruppieren und ausgestalten; zum anderen interessiert, welche dieser Tatbestände jeweils fehlen und welche anderen, mit ihnen verwandten Tatbestände andernteils aufgenommen sind. Es werden daher jeweils folgende Fragen zu stellen sein: (1) Welche der im 2. Kapitel erwähnten Tatbestände und welche weiteren, ihnen verwandten Tatbestände enthält das Gesetz? (2) Sind die Tatbestände in einer eigenen Gruppe unter der Bezeichnung „Rechtspflegedelikte" oder unter einer ähnlichen Bezeichnung zusammengefaßt? Ist nur ein Teil von ihnen — möglicherweise unter einem anderen Gesichtspunkt3 — zusammengefaßt? (3) Falls sich eine Zusammenfassung als „Rechtspflegedelikte" o. ä. findet: Wie ist die Deliktsgruppe in die Legalordnung des Gesetzes eingefügt? (4) Falls eine solche Zusammenfassung nicht erfolgt: Welchen Deliktsgruppen bzw. welchen Teilen der Legalordnung sind die hier interessierenden Tatbestände zugeteilt? A.Bis zum Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs Wir betrachten zunächst die deutschen Partikularstrafgesetzbücher von den Naturrechtskodifikationen bis zum Reichsstrafgesetzbuch. Die preußische 1
Nicht weiterverfolgt werden die Tatbestände der „Gefangenenbefreiung' 4 und „Gefangenenmeuterei", welche nur von Bockelmann als Rechtspflegeschutz-Tatbestände aufgefaßt werden. Die Tatbestände waren in allen betrachteten Gesetzen vorhanden (s. z. B. §§160 ff. A L R I I 20). 2 Von „Legalordnung" kann nach Oehler, Legalordnung S. 1, gesprochen werden, „sobald der Gesetzgeber strafrechtliche Normen nicht nur sporadisch gibt oder in verschiedenen Gesetzen vereinzelt aufnimmt, sondern kodifikatorisch in einem Zusammenhang erläßt . . . Die L. im strafrechtlichen Sinne bedeutet . . . die äußerliche Reihenfolge der verschiedenen Verbrechensgruppen in einem Gesetz". Der Begriff umfaßt also zwei Aspekte: die Auswahl der in das Gesetz aufgenommenen Tatbestände (den Tatbestandskanon) und die Anordnung der Tatbestände im Gesetz. 3 In Betracht kommt — so ist vorauszusehen — vor allem der Gesichtspunkt der Amtsträgereigenschaft des Täters.
Historisches Material
13
E n t w i c k l u n g steht wegen ihrer Bedeutung für die spätere gesamtdeutsche Rechtslage i m Vordergrund. D e m Strafrechtstitel des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 4 liegt die Gliederung i n „Staatsverbrechen" u n d „Privatverbrechen" zugrunde 5 . Eine besondere Gruppe v o n Vorschriften zum Schutz der Rechtspflege — die unter den Staatsverbrechen ihren Platz hätte finden müssen — kennt das Landrecht nicht. Jedoch findet sich i m Abschnitt „ V o n den Verbrechen der Diener des Staates" 6 ein eigener Unterabschnitt über die „Strafe pflichtwidriger Justizbedienten", welcher i n der dem A L R eigenen Ausführlichkeit nicht weniger als 43 Paragraphen u m f a ß t 7 . A u f der Abstraktionsebene heutiger Strafgesetzgebung u n d i n einer ihr angenäherten Terminologie könnte man die Bestimmungen zu folgenden Tatbeständen zusammenfassen: — — — — — — — — — — — —
Passive und aktive Richterbestechung (§§366-370) (Vorsätzliche und fahrlässige) Dienstpflichtverletzung (§§371 -372) 8 Justizgebühren-Überhebung (Sportel-Exzeß) (§§373-376) Unterschlagung bzw. Untreue im Amt (Depositalverehung) (§§377-380) Unterlassene Verfahrenseröffnung gegen Festgenommene (§§381-384) (Straf-)Verfolgung Unschuldiger (§385) Vollstreckung gegen Unschuldige (§§386-392) Vollstreckungsvereitelung im Amt (§§393, 394)9 Strafvereitelung im Amt (§§395-398) Aktenverfälschung (§§399-401)10 Unerlaubte Rechtsberatung (§§402, 403) 11 Beteiligung an der Zession einer streitbefangenen Forderung (§§404-407). 4
Zweyter Theil, Zwanzigster Titel. Diese Einteilung schlägt sich zwar nicht in entsprechenden Überschriften nieder, ergibt sich aber aus Stellung, Inhalt und Überschrift des 2. und 9. Abschnitts des Titels; vgl. Oehler, Legalordnung S. 117. 6 8. Abschnitt = §§323 - 508 A L R I I 20. 7 §§366-408 A L R I I 20. 8 §371 aaO: „Justizbediente, die sich aus Animosität, Privatleidenschaften oder anderen Nebenabsichten zu pflichtwidrigen Handlungen in ihrem Amte hinreißen lassen, sollen cassirt und außerdem mit zwey- bis fünfjährigem Festungsarreste bestraft werden." §372 aaO: „Diejenigen hingegen, die aus grober Fahrlässigkeit oder Unwissenheit ihren Pflichten zuwider handeln und dadurch dem Staate oder den Parteyen erheblichen Schaden zufügen, sollen ihres Amtes verlustig und zu allen fernem Justizbedienungen unfähig erklärt werden." 9 §393 aaO: „Hat der Richter eigenmächtig eine gelindere Strafe statt der erkannten härtern vollzogen, so soll nach dem Verhältniß des geschehenen Nachlasses und des dazu gehabten Bewegungsgrundes eine willkürliche Geld- oder Gefangnißstrafe eintreten." 10 Eine für die Zeit des schriftlichen Inquisitionsprozesses besonders wichtige Vorschrift ! 11 §402 aaO betraf „Justizbediente, welche in streitigen Sachen, die zu ihrer Entscheidung gelangen können, zum Schaden einer oder der anderen Parthey Rath ertheilen". Die Vorschrift erweiterte in zeitlicher Hinsicht den Anwendungsbereich des §403, welcher das Verbot der Mitwirkung befangener Justizpersonen aufstellte. 5
14
. Kapitel
Im 15. Abschnitt („Von Beschädigung des Vermögens durch strafbaren Eigennutzen und Betrug"), der dem Komplex „Privatverbrechen" zugeordnet ist, finden sich weitere einschlägige Straftatbestände. Die Lozierung in diesem Abschnitt folgt aus dem z.B. auch von der „Josephina" 12 verwendeten weitgefaßten Betrugsbegriff („falsum"). Dieser umfaßt „jede vorsätzliche Veranlassung eines Irrtums, wodurch jemand an seinem Rechte gekränkt werden soll" 1 3 , verlangt also insbesondere keinen Vermögensschaden und keine Bereicherungsabsicht 14. Neben dem „gemeinen Betrug", der grundsätzlich der Ziviljustiz überlassen bleibt 1 5 , kennt das Landrecht drei Gruppen des qualifizierten, d.h. „unter erschwerenden Umständen verübten" 16 Betruges: „Untreue" (§§1329 ff.), „Verfälschungen" (§§1377 ff.), „Betrug mit Verletzung anderer Pflichten" (§§1404ff.) und „Betrug des Publici" (§§1441 ff.). Die dritte Gruppe umfaßt die Untergruppen: 1. „Meineid und Lügen vor Gericht" (§§1404-1430) sowie „Falsche Anschuldigung und Anklage" (§§1431-1434); 2. „Doppelte Taufe" 17 ; 3. „Unterschiebung fremder Geburt" 1 8 ; 4. „Mißbrauch fremden Namens und Wappens" 19 . Mit der Einordnung des Meineides als qualifizierter Betrug und damit als Privatverbrechen wird dessen Verständnis als Religionsverbrechen abgelehnt, aber auch der Meinung, der Meineid verletze die „publica fides", eine Absage erteilt 20 . Die nicht weniger als 27 einschlägigen Paragraphen lassen sich zu folgenden Tatbestandskomplexen zusammenfassen: — Falscher Eid der Partei oder des Zeugen (§§1404-1406) — Eidliche Bekräftigung einer Unwahrheit (§ 1407)21 — Eidlich bekräftigtes unwahres Ableugnen (§ 1409)22 12
Zu diesem Gesetz s. dieses Kapitel b. Fußn. 25 ff.; vgl. zum weitgefaßten Betrugsbegriff noch 11. Kap. sub Β b. Fußn. 31 ff. 13 §1256 A L R I I 20. 14 Vgl. Herrmann, Aussagetatbestände S. 35; s. ferner Naucke, Betrug S. 62 ff. (zur Betrugsdogmatik an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert), S. 65 ff. (zum 15. Abschnitt A L R I I 20), S. 69 ff. (zur weiteren Ausbildung des Betrugsbegriffes im preußischen Strafrecht). Kritisch zu diesem Abschnitt des A L R Oehler, Legalordnung S. 124. 15 § 1325 A L R I I 20: „Wegen der Folgen des gemeinen Betrugs, der in Contracten oder sonst im Handel und Wandel verübt worden, hat es bey den Vorschriften der bürgerlichen Gesetze sein Bewenden." 16 §1328 A L R I I 20. 17 §1435 A L R I I 20. 18 §§1436-1439 A L R I I 20. 19 §§1440 a, b A L R I I 20. 20 Freilich war aufgrund der Nachbarschaft zum „Betrug durch Verfälschungen" (§§1377 ff.: Urkundenfälschung, Falschspiel, Goldmacherei, Wahrsagerei, Grenzverrükkung) und zum „Betrug des Publici" (§§1441 ff. Verfälschung von Waren, Maß und Gewicht; Bankrott) eine Nähe zu dieser Auffassung gewahrt. Auch spätere Gesetze (insb. das RStGB und die Reformentwürfe des 20. Jahrhunderts) behielten diese Plazierung bei. Zur Publica-fides-Lehre s. noch 11. Kap. sub Β b. Fußn. 9 ff. 21 „ . . . (wer) durch einen von dem Gegentheil zugeschobenen oder von dem Richter auferlegten Eid eine Unwahrheit wissentlich bekräftigt." (Vgl. §153 RStGB a.F.).
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— Fahrlässiger Falscheid 23 — Qualifizierter Meineid durch Verursachung der Bestrafung eines Unschuldigen (§1412) — Verabredung eines falschen Zeugnisses (§1413) — Aktive und passive Zeugenbestechung (§§1414-1419) — Falsche uneidliche Wahrheitsversicherung (§§1423, 1424) 24 Neben des Aussagedelikten umfaßte die Untergruppe folgende Tatbestände: — Falsche Denunziation wegen eines Verbrechens (§1431) — Qualifikation für den Fall der Bestrafung des Denunzierten (§1432) — Weitere Qualifikation für die Fälle der Hinrichtung oder des haftbedingten Todes des Denunzierten (§1433) U n t e r den allgemeinen Vorschriften i m 1. Abschnitt des Strafrechtstitels (§§ 7 ff. A L R I I 20: „ V o n Verbrechen u n d Strafen überhaupt") finden sich schließlich noch bei den Teilnahmevorschriften Bestimmungen über — Nichtanzeige drohender Verbrechen — Teilnahme an den Vorteilen eines Verbrechens — Gewerbsmäßige Verheimlichung eines Verbrechers oder seines Gewinnes. Das wenige Jahre zuvor (1787) i n K r a f t getretene, ebenfalls v o n naturrechtlichen Gedanken inspirierte Strafgesetzbuch Josephs II. für Österreich (Josephina) 2 5 unterscheidet vier G r u p p e n v o n Delikten: Gegen Landesfürst u n d S t a a t 2 6 , gegen das menschliche Leben u n d die körperliche Sicherheit 2 7 , gegen Ehre u n d F r e i h e i t 2 8 , gegen Vermögen u n d R e c h t e 2 9 . I n der zuerst genannten Gruppe (5. Kapitel des Gesetzes) finden w i r neben den eigentlichen Staatsschutzdelikten u n d der M ü n z - u n d Wertpapierfälschung den „ M i ß b r a u c h des obrigkeitlichen A m t e s " (§§58 ff.). Das Gesetz, welches i n seiner K ü r z e 3 0 schärfsten K o n t r a s t z u m preußischen Landrecht erzeugt, faßt hier i n je einem Paragraphen die Straftaten der Beamten u n d Richter zusammen. Der a u f Richter bezügliche Tatbestand lautet: 22 „ . . . (wer) die ihm beywohnende Wissenschaft von einer Sache oder Begebenheit, zu deren Abgabe er solchergestalt — vgl. §1407; T.V. — gerichtlich aufgefordert worden, eidlich ableugnet." 23 Nur für diesen Fall war Strafmilderung und (bei Widerruf binnen acht Tagen) Straffreiheit vorgesehen. 24 Für die falsche uneidliche Aussage vor Gericht verwies §1422 auf die Prozeßordnung. Die §§1425 ff. behandelten den (als Bagatelldelikt angesehenen) falschen Privateid. 25 Zur Entstehungsgeschichte Berner, Strafgesetzgebung S. 18 ff.; kritisch Oehler, Legalordnung S. 105 ff. 26 Drittes Kapitel (§§40 ff.). 27 Viertes Kapitel (§§89 ff.). 28 Fünftes Kapitel (§§126 ff.). 29 Sechstes Kapitel (§§148 ff.). 30 Gesamtumfang (einschließlich des die Polizeistraftaten [„politische Verbrechen"] enthaltenden zweiten Teiles) 266 Paragraphen; ohne den zweiten Teil 184 Paragraphen.
16
. Kapitel
„Auch ist dieses Verbrechens schuldig ein Richter, der durch Geschenke, oder sonst durch Leidenschaft und Nebenabsichten sich verleiten läßt, die ordentliche Gerechtigkeitspflege zu verändern, Recht zu versagen oder ein offenbar ungerechtes Urteil zu schöpfen 31 ." Ferner enthält dieses K a p i t e l die Tatbestände — Hilfe zur Entweichung der Verbrecher (§§76-79) — Verhehlung der Verbrecher ( = Strafvereitelung) (§§81-85). I m fünften
Kapitel
finden sich Vorschriften über
— Falsche Anschuldigung (§§127-129) (hier Verleumdung genannt)
32
.
Das sechste Kapitel enthält neben Vorschriften über Diebstahl, Raub, Brandlegung u n d Bigamie (!) auch solche über den „Trug (stellionatus, falsum)" . Der Begriff des „Truges" entspricht ungefähr dem weiten Betrugsbegriff des preußischen L a n d r e c h t s 3 3 ; seine Regelung umfaßt jedoch statt der dortigen 63 Paragraphen ganze acht, darunter je einen für den Tatbestand der Urkundenfälschung sowie für — Falsches Zeugnis vor Gericht (§151, Fall 1) — Bereden eines anderen zur Ablegung eines falschen Zeugnisses (§151, Fall 2) — Partei verrat (§154). Abgesehen v o n den — zu einem einzigen Tatbestand konglomerierten — Richter-Amtsdelikten faßt also die Josephina alle uns interessierenden Delikte als Privatdelikte auf; bei den Aussagedelikten n i m m t sie durch Gleichstellung der eidlichen u n d der uneidlichen Falschaussage Abschied v o n der Religionsdelikts-These 3 4 . Da die Josephina zwar in der Gestaltung der Tatbestände Gedankengut der Aufklärung zur Geltung brachte, ihre Strafen jedoch — abgesehen von der Abschaffung der Todesstrafe in nichtstandrechtlichen Verfahren — von außergewöhnlicher Härte waren (Schiffsziehen, lOOjähriges Gefängnis, Anschmieden, Brandmarken), wurde, schon bald nach ihrem Inkrafttreten, unter Leopold II. mit den Arbeiten an einem neuen Strafgesetz-
31
§59 der Josephina. §61 bedroht die aktive Bestechung mit Strafe. So noch der heutige österreichische Sprachgebrauch; vgl. u. 4. Kap. sub Β. 33 § 149: „ I m allgemeinen macht sich des Trugs schuldig jeder, der durch was immer für Ränke und List fremdes Eigenthum an sich zu ziehen oder jemanden aus böser Absicht an Vermögen, Ehre, Freyheit oder seinen Rechten zu schaden sucht, ohne Rücksicht auf die Mittel, deren sich der Betrüger bedient, und ohne darauf zu sehen, ob er seine Absicht wirklich erreicht habe." — Zum Begriff des Truges im Rahmen der Gesetzessystematik der Josephina s. Würtenberger , Rechtsgüterordnung S. 178. 34 Herrmann, Aussagetatbestände S. 35; Peters, Zeugenmeineid S. 21; Würtenberger, Rechtsgüterordnung S. 178 f.; v. Liszt, Meineid S. 128 ff. §151: „ . . . diejenigen, welche in eigener oder fremden Sache falsches Zeugniß vor Gericht ablegen, oder jemanden zur Ablegung eines falschen Zeugnisses bereden; die Beredung mag zu eigenem oder eines Dritten Vortheil gereichen, die Zeugenschaft mag mit Eid oder ohne selben geschehen, der gesuchte Endzweck mag erreicht sein oder nicht." 32
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buch begonnen. Es trat 1803 unter der Regierung Franz II. in Kraft 3 5 . Es enthält materiellstrafrechtliche und prozeßrechtliche Vorschriften. Wegen der in den prozessualen Bereich hinein verlängerten Trennung von Verbrechen und schweren Polizei-Übertretungen ergibt sich eine Einteilung in vier Abschnitte. I m Abschnitt über Verbrechen sind an die Stelle der sieben K a p i t e l der Josephina 28 Hauptstücke getreten. U n t e r den den einzelnen Verbrechen gewidmeten 23 H a u p t s t ü c k e n 3 6 findet sich keines über Rechtspflegedelikte. D e n Hauptstücken über Staatsverbrechen, die den A n f a n g bilden (7.-9. H a u p t stück), folgt die Rückkehr eines Landesverwiesenen (10. Hauptstück) u n d der Mißbrauch der Amtsgewalt , welcher i n §85 eine ähnliche Generalnorm wie §58 der Josephina e n t h ä l t 3 7 . Eigens exemplifiziert werden — Amtspflichtverletzung durch Richter (§86 lit. a) — Parteiverrat durch Advokaten (§88 lit. d) 3 8 . Als weitere Hauptstücke über Straftaten gegen öffentliche Interessen folgen Wertpapier- u n d Münzfälschung, Religionsstörung und Sexualstraftaten 3 9 : Aus den nachfolgenden Hauptstücken, deren Straftaten ersichtlich als gegen Einzelpersonen gerichtet angesehen werden, interessieren hier die folgenden Tatbestände: Im 24. Hauptstück („Von dem Betrüge") — — — —
„Bewerben" um ein falsches gerichtliches Zeugnis Anbieten oder Ablegen eines falschen gerichtlichen Zeugnisses Erbieten zu falschem Eid in eigener Sache Schwören eines falschen Eides in eigener Sache (§178 lit. a).
Im 26. Hauptstück („Von der Verleumdung") enthält §183 unter der Bezeichnung „Verleumdung" der Sache nach den Tatbestand der — Falschen Verdächtigung 40 . Besondere Aufmerksamkeit verdient das 27. Hauptstück, enthält es doch unter der Überschrift „Von dem Verbrechern geleisteten Vorschübe" (§§190-200) einen ersten Ansatz, zu einer Zusammenfassung von Rechtspflegedelikten. Seine Tatbestände sind: 35
Zur Entstehung Berner, Strafgesetzgebung S. 45 ff.; Lammasch/ Rit tier , Grundriß S. 14; Herbst, Handbuch Bd 1, S. 9. 36 Das 1.-4. Hauptstück sowie das 28. Hauptstück („Von Erlöschung der Verbrechen und Strafen", §§201-210) sind als „Allgemeiner Teil" aufzufassen. 37 „Wer von dem Amte, in dem er verpflichtet ist, von der ihm anvertrauten Gewalt, um jemandem Schaden zuzufügen, was immer für einen Mißbrauch macht, begeht durch einen solchen Mißbrauch ein Verbrechen . . . " 38 „ . . . ein Advokat oder anderer beeideter Sachwalter, der zum Schaden seiner Partei dem Gegenteile in Verfassung der Rechtsschriften oder sonst mit Rat und Tat behilflich ist." 39 12.-15. Hauptstück. 40 „Wer jemanden wegen eines erdichteten Verbrechens bei der Obrigkeit angibt, oder auf solche Art beschuldigt, daß seine Beschuldigung zum Anlasse obrigkeitlicher Untersuchung oder doch zur Nachforschung gegen den Beschuldigten dienen könnte, macht sich des Verbrechens der Verleumdung schuldig." 2
Vormbaum
. Kapitel
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Nichtverhinderung von Verbrechen (§ 191) Nichtanzeige geschehener Verbrechen (§193) (Persönliche) Begünstigung (§193) Gefangenenbefreiung (§196) Behinderung der Wiederergreifung entwichener Gefangener (§ 196) 41 . A u s dem Abschnitt über Schwere Polizei-Übertretungen sind erwähnenswert:
— (Tätige) Beleidigung im Amt („worunter insbesondere Verhaftnehmungen in andern als durch die Gesetze bestimmten Fällen einbegriffen werden . . .") (§86) — Falsche Beschuldigung wegen eines Verbrechens („wenn . . . die Beschuldigung . . . nicht so weit gegangen ist, um die nach dem § 188 des ersten Teiles zum Verbrechen der Verleumdung erforderlichen Eigenschaften zu erreichen") 42 (§ 234) — Falsche Beschuldigung wegen einer schweren Polizeiübertretung (§236). Die Reform des Jahres 1852, welche v o r allem Strafrecht u n d Strafprozeßrecht a u f zwei Gesetzbücher aufteilte 4 2 , ließ die Legalordnung des Strafgesetzbuches v o n 1803 i m wesentlichen unverändert. W i e das österreichische Strafrecht seit 1803 teilt auch das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813, sehr z u m Schaden seiner Ü b e r s i c h t l i c h k e i t 4 3 , den Besonderen Teil i n zwei nach Verbrechen u n d Vergehen hermetisch getrennte Bücher ein; erst innerhalb dieser beiden Bücher findet eine Gliederung nach dem Schutzcharakter statt, u. zw. jeweils zunächst nach Privatdelikten u n d Staatsdelikten. U n t e r den Privatverbrechen einschlägigen Tatbestände:
finden w i r i m K a p i t e l über den B e t r u g 4 4 folgende
— Meineid in Zivilsachen (Art. 269) 45 — Gebrochene Versicherung an Eides Statt (Art. 271) 46 41 §199 enthält ferner den Tatbestand der „Hilfe zur Entweichung aus dem Kriegsdienst". 42 Wenn z. B. die Beschuldigung nicht geeignet ist, zum Anlasse obrigkeitlicher Untersuchung oder doch zur Nachforschung gegen den Beschuldigten zu dienen. 42a Dazu Berner, Strafgesetzgebung S. 173 ff.; Herbst, Handbuch S. 11 ff; Stooß, Österreichisches Strafrecht (2. A.) S. 46 f. 43 Kritik an der Legalordnung des BayStGB 1813 bei Oehler, Legalordnung S. 134 ff.; Biener, Strafgesetzgebung S. 91; Maurach, Systematik aaO S. 231. Ausführliche Darstellung bei Würtenberger, Rechtsgüterordnung S. 217 ff. 44 Art. 256: „Wer, um einen Anderen in Schaden zu bringen oder sich selbst einen unerlaubten Vorteil zu verschaffen, wissentlich und vorsätzlich falsche Tatsachen für wahr ausgibt oder darstellt, wahre Tatsachen unerlaubter Weise vorenthält oder unterdrückt, oder auch von fremdem Betrüge, sich selbst zum Vorteil oder einem Dritten zum Nachteile, wissentlich Gebrauch macht, wird wegen vollendeten Betrugs bestraft, wenn hieraus entweder ein wirklicher Schaden entstanden oder wenn die betrügliche Handlung in den Art. . . . bemerkten beschwerenden Eigenschaften begangen worden ist." Zu den zitierten Artikeln gehört auch Art. 269 (s. die folgende Fußn.). 45 Art. 269: „Wer als Zeuge oder Kunstsachverständiger in fremder Sache oder als Partei in eigener Sache, oder als Bevollmächtigter für den Vollmachtgeber, als Vormund
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Verleumdung (Calumnie) (Art. 284) 47 Schwere Verleumdung (Art. 287) Falsche Verdächtigung (Art. 288) Falsche uneidliche Zeugenaussage zu Lasten eines Angeschuldigten (Art. 289) Schwören eines falschen Eides in einer Untersuchungssache als Denunciant, Zeuge oder Sachverständiger (Qualifikation bei Vorliegen der Absicht, „einen Unschuldigen zur Strafe zu bringen") (Art. 291) — Fälschung von Beweisurkunden in einer Untersuchungssache (Art. 293) — Unterdrückung von Beweisurkunden in einer Untersuchungssache zum Nachteil des Angeschuldigten (Art. 294) — — — — —
Unter den — ebenfalls den Privatverbrechen zugerechneten — Untreuetatbeständen findet sich der — Parteiverrat (Art. 296).
Aus dem Abschnitt über „Öffentliche folgende Tatbestände Erwähnung: — — — — —
oder Staatsverbrechen"
verdienen
Gefangenenbefreiung (Art. 328)^ Gefangenenentweichung (Art. 330) Rückkehr eines Landesverwiesenen (Art. 331) Verfolgung Unschuldiger (Art. 359 Abs. 1) Vollstreckung gegen Unschuldige (Art. 360)
Unter den Privatvergehen
interessieren uns folgende Tatbestände:
— Verleumdung (soweit nicht als Verbrechen erfaßt (Art. 393) — Parteiverrat durch Erteilung nachteiliger Ratschläge oder durch Prozeßverzögerung aus Gewinnsucht (Art. 400).
Der Abschnitt „Staatsvergehen " enthält u. a. folgende Tatbestände: — — — — — —
Gefangenenbefreiung (Art. 418) 49 Unerlaubte Selbsthilfe (Art. 420) 50 Verzögerung des ersten Gehörs eines Verhafteten (Art. 451) Aussagenerpressung (Art. 453) Gefangenenmißhandlung (Art. 454) Eigenmächtige oder widerrechtliche Entlassung aus der Untersuchungshaft (Art. 455).
für einen Minderjährigen, einen gerichtlich behauptenden (assertorischen) Eid wissentlich falsch geschworen, der Eid sei übrigens von welcher Art er wolle; ingleichen wer den Meineidigen zur Abschwörung des falschen Eides beauftragt, gedungen oder sonst bestellt hat . . ." 46
Keine Untersuchung sollte eingeleitet werden beim Würdigungseid im Zivilprozeß sowie beim bloßen Privateid (Art. 272). 47 Art. 284: „Wer einem Andern wissentlich und fälschlich eine Handlung andichtet, welche in diesem Gesetzbuche für ein Verbrechen oder Vergehen erklärt ist, wird der Verleumdung (Calumnie) schuldig." Art. 288 enthält sodann die spezielle „gerichtliche Verleumdung durch falsche Denunciation". 48 Auch die Verhinderung der Gefangennahme eines Angeschuldigten (Art. 327). 49 Vor allem Befreiung aus dem Arbeitshaus. 50 Qualifikation gem. Art. 421 bei Gewalttätigkeit. *
. Kapitel
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Schließlich enthält auch dieses Gesetzbuch i n seinem Allgemeinen Teil einige nach heutiger Auffassung als selbständige Tatbestände anzusehende Teilnahmebestimmungen: — Nichtverhinderung und Nichtanzeige drohender Verbrechen („Dritter Grad der Gehilfen") (Art. 78) — Strafvereitelung („Begünstigung") (Art. 84ff.). Beide Hauptgliederungpunkte des Gesetzbuches — Verbrechen/Vergehen u n d Privatdelikte / Staatsdelikte—waren, wie gezeigt, bereits der vorangegangenen Gesetzgebung bekannt. Die bayerische K o d i f i k a t i o n spitzte sie jedoch unter dem Einfluß ihres Hauptschöpfers Feuerbach stark z u 5 1 u n d gab ihr daneben eine neue Wendung, indem sie die tatbestandlich erfaßten Verhaltensweisen als Rechtsverletzungen auffaßte 5 2 . Die bayerische Regelung übernahm das Großherzogtum Oldenburg im darauffolgenden Jahre (1814) nahezu wörtlich, bis es 1858 mit wenigen Modifikationen das preußische Strafgesetzbuch von 18:51 rezipierte 53 . Angesichts praktischer Schwierigkeiten mit der geringen Biegsamkeit des Gesetzbuches von 1851 54 setzten schon bald Arbeiten zu einer neuen bayerischen Strafgesetzgebung ein 5 5 , an denen sich auch Feuerbach beteiligte 56 . Sie führten erst 1861 mit dem Erlaß eines Bayerischen Strafgesetzbuches zum Erfolg 57 . Dessen Systematik bildet vor allem im Besonderen Teil in mancher Hinsicht den Gegenpol des Werkes von 1813: Der Besondere Teil ist — w o h l nicht ohne Einfluß des inzwischen ergangenen preußischen Strafgesetzbuchs v o n 1851 5 8 — i n 24 Hauptstücke aufgeteilt. I m 4. Hauptstück — — — — — —
(„Widerstand gegen die Obrigkeit") finden sich:
Gefangenenbefreiung (Art. 142) Gewaltsames Entweichen von Gefangenen (Art. 143) Entweichenlassen von Gefangenen durch Aufsichtspersonen (Art. 144) Rückkehr eines (durch richterliches Urteil) Landesverwiesenen (Art. 146) Bruch der (richterlich angeordneten) Polizeiaufsicht (Art. 147) Mißbilligung richterlicher Urteile (Art. 150) 59 .
51 Die legislatorische Trennung von Verbrechen und Vergehen widersprach allerdings Feuerbachs Intentionen; vgl. Schubert, Feuerbachs Entwurfs. 165 ff. 52 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz S. 16 ff.; Sina, Dogmengeschichte S. 9 ff. 53 Berner, Strafgesetzgebung S. 320 ff. 54 Berner S. 324. 55 Gönner hatte in einem 1822 ausgearbeiteten Entwurf die Zweiteilung Privatverbrechen / Staatsverbrechen durch Einschiebung einer dritten Gruppe „Angriffe auf das gemeinsame Wesen oder das Publikum" abgemildert; vgl. Berner, S. 325. 56 Zur Systematik des Bes. Teils in Feuerbachs Entwurf von 1824, in der sowohl die Trennung von Verbrechen und Vergehen wie auch die Gruppierung in Privatverbrechen und Staatsverbrechen getilgt und an ihre Stelle eine Aufteilung in 12 Gruppen getreten ist, s. Schubert, Feuerbachs Entwurf S. 168. 57 58
Zur Entstehungsgeschichte Berner, Strafgesetzgebung S. 324 ff. Dazu u. b. Fußn. 110 ff.
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Das 9. Hauptstück regelt „Strafbare Handlungen in Bezug auf Eid, Handgelöbnis und unbeschworenes Zeugnis" 60 . Seine Tatbestände sind — Meineid (d. h. Bekräftigung einer wissentlich unwahren Aussage vor einer öffentlichen Behörde durch Eid) (Art. 192) 61 · 6 2 — Falsches Handgelöbnis (Art. 197) — Fälschung und Unterdrückung von Beweismitteln in einer Strafsache (Art. 198) — Falsche Anzeige bei öffentlichen Behörden (Art. 199) — Falsche unbeschworene Aussage als Zeuge, Aussageperson oder Sachverständiger (Art. 200). Im 18. Hauptstück faßt das Gesetz das eigennützige Ansichbringen von geraubten, gestohlenen oder unterschlagenen Sachen sowie die eigennützige Begünstigung der betreffenden Täter unter dem Begriff Hehlerei zusammen 63 . Im abschließenden (24.) Hauptstück, welches überwiegend die Amtsdelikte 64 behandelt, differenziert das Gesetz zwischen Verwaltungsbeamten, Strafverfolgungsbeamten und Richtern nur dort, wo an eine spezifische Tätigkeit der betreffenden Personengruppen angeknüpft wird. Hierher gehören: — Richterbestechlichkeit zwecks Verübung einer Pflichtverletzung zu Gunsten oder zum Nachteil eines Beteiligten (Art. 367) — Rechtsbedeutung (Art. 377) — Mißbrauch der Strafgewalt (Art. 378) 65 — Verfolgung Unschuldiger (Art. 379) — Aussagenerpressung (Art. 380) — Vollstreckung gegen Unschuldige (Art. 381) — Strafvereitelung im Amt (Art. 382) — Strafvollstreckungsvereitelung im Amt (Art. 382) 59 Art. 150: „Wer öffentlich vor einer Menschenmenge oder mittels eines Preßerzeugnisses eine Maßregel vorschlägt, durch welche die Mißbilligung eines richterlichen Urteils kundgetan werden soll . . . " 60 Es schließt sich an die Hauptstücke über Wertzeichen- und Urkundenfälschung an. 61 Qualifikation bei Herbeiführung einer schweren Bestrafung des Angeklagten (Abs. 2). 62 Art. 195 stellt einen Katalog von Fällen auf, in denen Strafverfolgung wegen Meineides nicht stattfindet: (1) bei Manifestationseid, (2) bei Eidesunfahigkeit, (3) bei UnStatthaftigkeit der Vereidigung, (4) bei Eidesabnahme durch eine Behörde, die in der Sache „ihrer Gattung nach" nicht zuständig war, (5) bei fehlender Belehrung des Zeugen über das Zeugnisverweigerungsrecht, (6) bei Gefahr eigener Strafverfolgung. Gem. Art. 196 Straflosigkeit bei freiwilliger Rücknahme der Falschaussage vor Urteilsfällung. 63 Art. 308 ff. 64 Überschrift dieses Hauptstückes: „Verletzung besonderer Berufspflichten" (Art. 364 ff.). 65 Beinhaltet widerrechtliche Verhaftung sowie widerrechtliche Verzögerung der Entlassung.
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— Gefangenenmißhandlung (Art. 384) — Parteiverrat (Art. 389).
Auch dieses Gesetzbuch regelt Nichtverhinderung und Nichtanzeige von Straftaten sowie Begünstigung im Allgemeinen Teil bei den Teilnahmevorschriften 6 6 . Das Criminalgesetzbuch für das Königreich Sachsen von 1838 67 umfaßt im Besonderen Teil 17 Kapitel. Ihre Reihenfolge wurde von den Schöpfern des Gesetzbuches als „ziemlich gleichgültig" angesehen, „sobald nur der Richter bei Anwendung des Gesetzbuches aus der Stellung eines Verbrechens in diesem oder jenem Capitel nicht Folgerungen ziehe, welche der Gesetzgeber an selbige nicht habe knüpfen w o l l e n " 6 8 , 6 9 . Freilich sollte „die Stellung, welche ein Verbrechen im Criminalgesetzbuch angewiesen erhalten hat, nicht ganz unberücksichtigt (gelassen werden). Allein besondere Folgen (würden) sich in der Regel aus diesem Umstände nicht ableiten (lassen)" 70 . Immerhin läßt die Plazierung der Eidesdelikte 71 im Kapitel „Von Verletzung der Ehrerbietung gegen die Religion" 72 Rückschlüsse auf die Auffassungen des sächsischen Gesetzgebers ebenso zu wie die Einordnung der „Falschen Denunciation" 73 im Kapitel „Von Verletzungen der Ehre" 7 4 . Die Gefangenenbefreiung 75 findet sich im Kapitel „Von Auflehnung gegen die öffentlichen Behörden und von Friedensstörungen" 76 . Art. 155 ( „Widerrechtliches Gefangenhalten' ) enthält neben dem üblichen Tatbestand der Freiheitsberaubung den Tatbestand der durch Irrefiihrung der Justiz verursachten Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft 77 . Im 17. Kapitel 7 8 , welches vor allem die Amtsdelikte regelt, sind generell „Staatsdie66
Art. 58 ff. Zur Entstehungsgeschichte Berner, Strafgesetzgebung S. 92 ff.; Mittermaier , Strafgesetzgebung Bd 1, S. 32 ff. 68 Weiß, CrirnGB S. 327 (Vor Art. 81) unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien. 69 So sollte beispielsweise aus der Einordnung des Raubes im Diebstahls-Kapitel (wie bei den Beratungen gefordert) oder im Kapitel über Verletzungen der persönlichen Freiheit (wie im CrimGB geschehen) keine Folgerung hinsichtlich der Voraussetzungen seiner Vollendung gezogen werden können (Weiß aaO). 70 Weiß aaO. 71 Art. 183-188 (Meineid und Leichtsinniger Eid). 72 Achtes Capitel (Art. 183 ff.); das Kapitel regelt daneben Gotteslästerung, Störung gottesdienstlicher Handlungen und öffentliche Herabsetzung der Religion. — Zu der zugrundeliegenden Auffassung Peters, Zeugenmeineid S. 16 f.; Herrmann, Aussagetatbestände S. 35 f. 73 Art. 197. 74 Neuntes Capitel (Art. 194 ff.). 75 Art. 109. 76 Drittes Capitel (Art. 105 ff.). 77 „Wer, ohne ein Recht dazu zu haben, . . . (die) Verhaftung oder Einhaltung (eines Menschen) in einem öffentlichen Gefangnisse durch wissentlich unwahre Angaben oder sonst auf rechtswidrige Weise veranlaßt . . . " 67
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ner und andere in Pflicht stehende öffentliche Beamte, welche die ihnen nach den erhaltenen Instructionen oder sonst obliegenden Amtspflichten verletzen oder vernachlässigen", mit Strafe bedroht 79 . Daneben enthält das Kapitel Vorschriften gegen Bestechung und gegen Mißbrauch der Amtsgewalt zu Nötigungshandlungen und widerrechtlicher Begünstigung 80 . Ferner ist hier auch die „ Wahrheitswidrige Aussage" 80 — da nicht unter die Religionsdelikte passend — loziert 81 . Begünstigung und Unterlassene Verbrechensanzeige 8 2 sind auch in diesem Gesetzbuch bei den Teilnahmebestimmungen des Allgemeinen Teils geregelt 83. Eine nach 1848 begonnene gründliche Umarbeitung des sächsischen Crirninalgesetzbuches84 führte zum Strafgesetzbuch von 1855. Dieses brachte bei den hier interessierenden Tatbeständen nur eine einzige erwähnenswerte Änderung. Sie bestand darin, daß der Tatbestand der Wahrheitswidrigen Aussage dem Abschnitt über die Religionsdelikte zugeschlagen war 8 5 . Anders als die zuletzt betrachteten Gesetzbücher knüpft der Besondere Teil des Criminalgesetzbuchs für das Herzogtum Braunschweig von 1840 wieder — wenn auch in modifizierter, weniger doktrinärer Form — an die Tradition des französischen Code pénal und des Bayerischen Gesetzbuches von 1813 an 8 6 . Die einzelnen Straftatbestände sind auf die drei Gruppen „Öffentliche Verbrechen", „Privatverbrechen", „Amtsverbrechen" aufgeteilt 87 . Bei den Amtsverbrechen 78
„Von Pflichtverletzungen in besonderen Verhältnissen" (Art. 311 ff.). Art. 311. 80 Art. 313 ff., 320. 803 Art. 325: „Wer in einer ihn nicht selbst betreffenden Angelegenheit von einer öffentlichen Behörde zur Angabe der ihm davon beiwohnenden Kenntnis aufgefordert wird und bei der hierüber erstatteten Aussage entweder wissentlich unwahre Tatsachen für wahr ausgibt oder wahre Tatsachen verschweigt . . . " 81 Und mit einer ungewöhnlich milden Strafdrohung — Gefängnis bis zu sechs Wochen — bewehrt. Überdies sind gem. Art. 326 alle Delikte dieses Abschnittes Antragsdelikte. 82 Art. 38, 39. 83 Die meisten thüringischen Staaten übernahmen gemeinsam eine überarbeitete Fassung des sächsischen CrimGB v. 1838 (sog. Thüringisches Strafgesetzbuch). Dazu — auch zu den Abweichungen in den einzelnen thüringischen Staaten — Berner, Strafgesetzgebung S. 208 ff. 84 Ausführlich Berner aaO S. 304 ff. 85 Art. 229. 86 Zur Entstehungsgeschichte Berner, Strafgesetzgebung S. 135 ff.; Mittermaier, Strafgesetzgebung Bd 1, S. 85 ff. — Zum code pénal s. noch 4. Kap. sub Α. 87 In den Motiven (S. 156 f.) ist zur Systematik des Gesetzbuches ausgeführt: „Diese Einteilung ist nach dem Objekte gemacht, welches das Verbrechen angreift. Denn die öffentlichen Verbrechen sind diejenigen, welche die Staatseinrichtungen selbst und unmittelbar angreifen; die Privatverbrechen diejenigen, welche die Rechte der Einzelnen gefährden; die Amtsverbrechen endlich diejenigen, welche zugleich die Staatseinrichtungen und die Privatrechte zum Gegenstand haben, denn der seine Pflicht verletzende Staatsbeamte stört die öffentliche Ordnung, die er gerade erhalten soll, und verletzt 79
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unterscheidet das Gesetz „Verletzung allgemeiner Dienstpflichten" u n d „Verletzung besonderer Amtspflichten". F ü r Justiz- u n d Polizeibeamte stellt es i m Rahmen der zuletzt genannten Gruppe folgende Straftatbestände auf: — — — — — — —
Rechtswidrige Einleitung der Untersuchung (§271) Rechtswidrige Verlängerung der Haft (§§272-274) Mißhandlung der Angeschuldigten und Zeugen (§§275, 276) Verschuldete Entweichung eines Gefangenen (§277) Unterlassung der Untersuchung (§278) Rechtsbeugung (§§279, 280) Pflichtwidrige Nichtverhinderung von Verbrechen (§281).
Weitere hier interessierende Tatbestände finden sich i m Abschnitt über öffentliche Verbrechen. Das zu diesem Abschnitt gehörende K a p i t e l über „Verbrechen wider öffentliche Treue u n d G l a u b e n " enthält neben M ü n z - , U r k u n d e n - u n d weiteren Fälschungsdelikten die Tatbestände — — — — — —
Meineid (§135) Falsche Versicherung an Eides Statt und Anerbieten zum Meineid (§136) Leichtsinniger Eid (§137) Eidesbruch (§138) Urkundenfälschung zum Nachteil eines Angeklagten (§143) Falsche Anklage (§144).
Schließlich finden sich auch i n diesem Gesetzbuch die Vorschriften über Begünstigung 8 8 u n d Nichtanzeige 8 9 bei den Teilnahmevorschriften des Allgemeinen Teils geregelt 9 0 . D e m Criminalgesetzbuch des benachbarten Königreichs Hannover , i m selben Jahr i n K r a f t getreten wie das braunschweigische Gesetzbuch 9 1 , fehlt zwar die systematische Zusammenfassung der Tatbestände des Besonderen Teils zu drei zugleich Privatrechte des Staates oder Einzelner . . . Über die Stellung der einzelnen Verbrechen in diesen Titeln mag hier nur bemerkt werden, daß sie im allgemeinen nach der Wichtigkeit und Größe der Rechte classifiziert werden, gegen die sie gerichtet sind . . . Hierin liegt eine natürliche, durch die innere Beschaffenheit der Verbrechen selbst gegebene Ordnung, die für die Gesetzgebung bei Abstufung der Strafen von großem Nutzen ist." 88 §47 Abs. 1 : „Wer ohne vorhergehende ausdrückliche oder stillschweigende Übereinkunft dem Verbrecher erst nach begangener Tat in Beziehung auf dieselbe wissentlich Vorschub leistet, namentlich denselben wissentlich aufnimmt, verbirgt, zur Flucht oder zur Unterdrückung der Spuren oder Beweismittel des Verbrechens behilflich ist, oder die Gegenstände des Verbrechens wissentlich annimmt, verheimlicht, an sich bringt oder absetzen hilft . . ." 89 §48 („Strafbare Mitwissenschaft") erfaßte die Fallgruppen: — Nichtanzeige (gewisser) drohender Verbrechen (§48 Abs. 1) — Unterlassene Mitteilung über die Unschuld eines Beschuldigten oder Verurteilten (§48 Abs. 2). 90 1. Buch, Titel 5 („Von den Mitschuldigen") (§§41 ff.). 91 Zur Entstehungsgeschichte Berner, Strafgesetzgebung S. 157 ff.; Mittermaier, Strafgesetzgebung Bd 1, S. 93 ff.
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Deliktsgruppen, jedoch liegt i h m ein ähnliches Arrangement sowie weitgehend derselbe K a n o n u n d Zuschnitt der Strafbestände zugrunde. I m württembergischen Strafgesetzbuch v o n 1839 9 2 ist der Besondere Teil aufgeteilt i n die Titel „ V o n Staatsverbrechen u n d Staats vergehen", „ V o n Privatverbrechen u n d Privatvergehen" u n d „ V o n Vergehungen wider die Pflicht des öffentlichen Dienstes". Aus dem zuerst genannten T i t e l interessiert hier vor allem das K a p i t e l „ V o n Handlungen wider öffentliche Treue u n d G l a u b e n " ( A r t . 206-234). Hier finden sich nach der Fälschung v o n Münzen, Creditpapieren u n d anderen öffentlichen U r k u n d e n sowie der Fälschung öffentlicher Siegel u n d Stempel u n d der Grenzverfälschung die Regelungen über — Meineid (Art. 227-232) 93 , — Verletzung des eidlichen Angelöbnisses (Art. 233)^, — Bruch des eidlichen Versprechens 95. Der Titel über Privatverbrechen u n d Privatvergehen enthält i m K a p i t e l über „ A n g r i f f e auf die Ehre" den Tatbestand der — Falschen Verdächtigung (Art. 288) 96 als einen qualifizierten F a l l der Verleumdung. Aus dem dritten T i t e l interessieren hier folgende Tatbestände 9 7 — Mißbrauch der Amtsgewalt zur Bedrückung oder Mißhandlung Anderer (Art. 413) — Unterlassene Untersuchung von Verbrechen und Vergehen (Art. 428) 98 92 Zur Entstehungsgeschichte Berner, Strafgesetzgebung S. 107 f., insb. S. 112 ff.; Mittermaier, Strafgesetzgebung Bd 1, S. 47 ff. 93 Art. 227 Abs. 1: „Wer vor einer öffentlichen Behörde wissentlich ein falsches eidliches Zeugnis ablegt, oder vor Gericht in einer Civilsache einen freiwilligen oder notwendigen Eid wissentlich falsch geschworen hat, soll wegen Meineides mit Arbeitshaus nicht unter einem Jahre bestraft werden." Art. 227 Abs. 2 erweitert die Strafbarkeit auf „Aussagen, welche in Beziehung auf einen schon geleisteten Eid geschehen . . . " Art. 228, 229 enthalten Qualifikationen für die Verurteilung von Unschuldigen bzw. weniger Schuldigen infolge des Meineides. Von besonderem dogmatischen Interesse ist Art. 230: „Das Verbrechen ist mit der Eidesleistung vollendet, wenn diese der falschen Aussage nachgefolgt ist. Wäre sie derselben vorausgegangen, so soll der Meineid erst mit dem Abschlüsse der Verhandlung, worin die Aussage geschehen, als vollendet angesehen werden. Wer demnach, ehe die Verhandlung geschlossen ist, seine falsche Aussage zurücknimmt, bleibt von Strafe frei." 94 Entspricht der falschen eidesstattlichen Versicherung. 95 Entspricht §162 RStGB (vgl. 11. Kap. b. Fußn. 18). 96 „Geschah die Verläumdung bei der Obrigkeit in der Absicht, gegen einen Unschuldigen eine Untersuchung zu veranlassen, so tritt, je nach der Größe des angeschuldigten Verbrechens oder Vergehens, Arbeitshaus bis zu drei Jahren ein." 97 Art. 399 Ziff. 1 zählt zu den öffentlichen Dienern ausdrücklich die Justiz- und Verwaltungsbeamten.
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Rechtswidrige Einleitung der Untersuchung und Verhängung der Haft (Art. 429-431) Rechtswidrige Verlängerung der Haft (Art. 432, 433) Mißhandlung der Angeschuldigten und Zeugen (Art. 434, 435) Befreiung von Gefangenen (Art. 436) Beugung des Rechts (Art. 437-440).
I m Allgemeinen Teil sind bei den Teilnahmevorschriften die Tatbestände — Begünstigung (Art. 89-92) — Unterlassene Verhinderung von Verbrechen oder Vergehen (Art. 93) — Unterlassene Anzeige von Verbrechen oder Vergehen (Art. 94) aufgestellt. Anders als die zuletzt erwähnten Strafgesetzbücher enthält das Strafgesetzbuch für das Großherzogtum Baden v o n 1 8 4 5 " keine äußerliche Durchstrukturierung des Besonderen Teils, sondern lediglich eine Abfolge v o n 41 Titeln; diese freilich beginnen ersichtlich m i t den Delikten gegen Einzelpersonen u n d enden m i t den Amtsdelikten u n d der Amtserschleichung. A u c h sonst zeigen sich — bei Austausch der Reihenfolge v o n Privatdelikten u n d Gemeinschaftsdelikten — Übereinstimmungen m i t der württembergischen K o d i f i k a t i o n . So sind die Tatbestände — Falsche Beschuldigung (§284) 100 — Veranstaltung, um Verdacht zu erregen (§28 5) 1 0 1 m i t der Verleumdung u n d der Ehrenkränkung i n einem Titel zusammengefaßt. Zwischen den T i t e l n über Fälschung, Betrug, Personenstandsfälschung einerseits, dem Titel über Münzfälschung andererseits ist der T i t e l über Aussagedel i k t e 1 0 2 eingeordnet. Er enthält die Tatbestände — — — —
Meineid (§484) Falscher Offenbarungseid (§485) Falsches Zeugnis oder Gutachten (§486 1. Hs.) Eidliche Bekräftigung eines falschen Zeugnisses oder Gutachtens (§486 2. H s . ) 1 0 3 , 1 0 4 98
Dieser Tatbestand und die folgenden Tatbestände sind in einem eigenen Kapitel „Von Verletzung besonderer Dienstpflichten der Justizbeamten" zusammengefaßt. 99 Zur Entstehungsgeschichte Berner , Strafgesetzgebung S. 197 ff.; Mittermaier, Strafgesetzgebung Bd 1, S. 63. 100 „Wer einen anderen, um eine Untersuchung oder Bestrafung gegen denselben zu veranlassen, bei der Obrigkeit wissentlich falsch einer That beschuldigt, die mit peinlicher oder bürgerlicher Strafe bedroht ist, wird mit Gefangniß oder Arbeitshaus bis zu zwei Jahren bestraft." 101 „Von der gleichen Strafe wird Derjenige getroffen, welcher außer dem Falle des vorhergehenden § 284 einen Anderen durch arglistige, auf Täuschung gerichtete Veranstaltungen eines verübten Verbrechens oder Vergehens verdächtig macht, in der Absicht, eine Untersuchung oder Bestrafung gegen denselben zu veranlassen." 102 34. Titel: „Von dem Meineid, dem Eides- oder Handgelübdebruch, und von falschen Zeugnissen und Gutachten." 103
§§487 ff. betreffen vor allem Qualifikationsfalle und Straffreiheitsfalle.
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— Bruch des Handgelübdes (§502) — Bruch des eidlichen Versprechens (§ 504). Der Titel „ V o n den besonderen Verbrechen öffentlicher D i e n e r " 1 0 5 enthält i m H i n b l i c k auf Richter u n d Justizbeamte folgende Tatbestände: — — — — — —
Mißbrauch der richterlichen Gewalt (§681) 106 Ungesetzliche Haft (§§682, 683) Aussagenerpressung (§684 Ziff. 1) Vollstreckung gegen Unschuldige (§ 684 Ziff. 2) Rechtsbeugung zugunsten des Angeschuldigten (§684 Ziff. 3) Vorsätzlich verursachte Entweichung von Gefangenen (§685).
A u c h das badische Gesetzbuch führt die Tatbestände über — Begünstigung (§142) und — unterlassene Verhinderung von Verbrechen (§146) i m Allgemeinen Teil auf. V o r b i l d des badischen Strafgesetzbuches ist das Strafgesetzbuch für das Großherzogtum Hessen von 1841 gewesen 1 0 7 , welches unter maßgeblicher Beteiligung v o n Mittermaier 108, der auch an der badischen K o d i f i k a t i o n m i t w i r k t e 1 0 9 , entstand. Beide Gesetzbücher stimmen i n den wesentlichen Punkten weitgehend überein, so auch i n A u f b a u u n d Formulierung der hier interessierenden Tatbestände. Besondere Bedeutung für die weitere E n t w i c k l u n g des deutschen Strafrechts k o m m t bekanntlich der preußischen Strafgesetzgebung des 19. Jahrhunderts, vor allem dem Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 zu. Es ist das Ergebnis 104 Auch das hessische StGB enthält (in §§493, 494) besondere Bestimmungen über Beginn und Ende der Tathandlung: §494: „Das Verbrechen des Meineids . . . und des falschen Zeugnisses oder Gutachtens . . . gilt von dem Augenblick an für verübt und strafbar, da das Protokoll über die Ableistung des falschen, zugeschobenen oder vom Richter auferlegten Eides, oder über das mit Verletzung der Eidespflicht abgelegte falsche Zeugniß oder abgegebene Gutachten von dem Schwörenden unterschrieben oder bestätigt worden ist. Wurde das falsche Zeugniß oder falsche Gutachten mit Verletzung der Eidespflicht bei der Verhandlung eines Gerichtshofes in der Sitzung abgegeben, so gilt das Verbrechen mit dem Schlüsse der Verhandlungen für verübt und strafbar, oder schon vorher, wenn der Zeuge oder Sachverständige die in der Sitzung gemachte Aussage auf geschehene Aufforderung nochmals bestätigt." 105
49. Titel (§§657 ff.). „Richter, welche aus Bosheit, Rachsucht oder Eigennutz oder sonst in rechtswidriger Absicht, gegen Jemanden eine Untersuchung einleiten, oder eine Haussuchung oder die Eröffnung oder Wegnahme von Briefen oder anderen Papieren anordnen oder vornehmen . . 106
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Zu dessen Entstehungsgeschichte Berner, Strafgesetzgebung S. 172 ff.; Mittermaier, Strafgesetzgebung Bd 1, S. 99 ff. 108 Berner aaO S. 174 f. 109 Berner aaO S. 200.
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jahrzehntelanger Reformarbeiten, i n deren Rahmen nicht weniger als 17 Entwürfe produziert w u r d e n 1 1 0 . Die Wandlungen der allgemein- u n d kriminalpolitischen Auffassungen spiegeln sich i m Nacheinander dieser Entwürfe ebenso wieder wie die E n t w i c k l u n g der Strafrechtsdogmatik. Eine intensive Analyse dieser Entwicklung kann hier nicht — auch nicht im Hinblick auf die uns interessierenden Komplexe — geleistet werden 111 . Es muß genügen, die Verschiebungen in der Gliederung der Straftatbestände grob zu skizzieren und anschließend die endgültige Gesetzesfassung näher zu betrachten. Allen Entwürfen ist gemeinsam, daß sie sich nicht um eine systematische Durchstrukturierung des Besonderen Teils bemühen, sondern — in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der partikulären Strafgesetzbücher — die Tatbestandskomplexe locker aneinander reihen und allenfalls in der Aufeinanderfolge dieser Komplexe einen roten Faden erkennen lassen. Die Anzahl dieser Komplexe wächst zunächst von zwölf (im Entwurf 1828) bis auf 29 (im Entwurf 1843) und geht dann leicht zurück bis zu den 25 Titeln der Endfassung 112 . Jene Komplexe, i n denen w i r bislang die uns interessierenden Tatbestände überwiegend aufgefunden haben, finden sich i n den meisten der preußischen Entwürfe; ihr Standort jedoch wechselt. So sind i n den ersten Entwürfen die Eidesdelikte m i t den M ü n z d e l i k t e n zu einer Gruppe der Verbrechen gegen öffentliche Treue u n d Glauben zusammengefaßt 1 1 3 ; ab 1833 erhalten sie einen eigenen Abschnitt zugewiesen, dessen Nachbarschaft abwechselnd die Fälschungs-, die M ü n z - , die Religions-, die Ehrverletzungsdelikte sowie die Falsche A n s c h u l d i g u n g 1 1 4 bilden. Die letztere ist i n stetem Wechsel entweder i n den Abschnitt über Ehrverletzungen inkorporiert oder m i t der Verleumdung u n d / oder Beleidigung unter einer Doppelüberschrift versammelt oder auch — wie vor allem i n der endgültigen Gesetzesfassung — äußerlich völlig emanzi-
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Üblicherweise wird als erste Station der Reformarbeiten angesehen der Entwurf von 1827, an den sich die Entwürfe 1828,1830,1833,1836,1843,1845,1847,1848,1849,1851 anschließen. Dieser zeitliche Rahmen liegt der Zusammenstellung der Legalordnungen der preußischen Entwürfe bei Oehler, Legalordnung S. 214 ff., zugrunde, ebenso den Darstellungen von Goltdammer, Mat. Bd 1, S. 314 ff., Würtenberger, Rechtsgüterordnung S. 236 ff., Berner, Strafgesetzgebung S. 218 ff. Auch die im Erscheinen begriffene Quellensammlung von Schubert / Regge, von der zur Bearbeitungszeit die Bde 1 und 2 erschienen sind, be ginnt mit dem Entwurf von 1827. Bei Bänke, Einheitsstrafrecht Bd 2, S. 14ff., werden auch Entwürfe von 1800, 1801, 1804, 1805, 1806, 1819 aufgeführt (vgl. auch Hälschner, PrStrR Bd 1, S. 231 ff.). Allerdings handelt es sich bei diesen Entwürfen um Versuche zur Umarbeitung des Strafrechtstitels des Landrechts. Eine eingehende Untersuchung müßte auch den von Preußen der Deutschen Nationalversammlung vorgelegten Entwurf eines deutschen Einheitsstrafrechts berücksichtigen, da auch er in die preußische Entwicklung eingebettet ist; dazu eingehend Bänke aaO. 111 Darstellung speziell der Entwicklung der Rechtsbeugungsvorschriften b. SchmidtSpeicher, Rechtsbeugung S. 47 ff. 112 s. die Vgl. Zusammenstellung b. Oehler aaO. 113 Goltdammer , Mat. Bd 2, S. 225. 114 s. Oehler aaO. 115 Entfällt.
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p i e r t 1 1 6 ' 1 1 7 . M i t unterschiedlich formulierten Überschriften finden sich i m Anschluß an die Staatsschutzdelikte (die stets den Besonderen Teil eröffnen) die Abschnitte über den Widerstand gegen die Staatsgewalt u n d über die Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung. Hier finden sich die Tatbestände — Gefangenenbefreiung — Gefangenenmeuterei (§95 Pr. StGB) — Falsche Entschuldigung von Zeugen, von Geschworenen und von zum Erscheinen verpflichteten Sachverständigen (§109 Pr. StGB). Schließlich bilden auch die — so oder ähnlich bezeichneten — Amtsdelikte stets eine eigene Gruppe. I m Gesetzbuch v o n 1851 gehören zu ihnen u.a. die Tatbestände — (Aktive und passive) Strafrichterbestechung (§312 Pr. StGB) 118 und Geschworenenbestechung (§313) — Rechtsbeugung (§ 314) 119 — Aussagenerpressung (§ 319) — Verfolgung Unschuldiger (§320 Abs. I ) 1 2 0 — Vollstreckung gegen Unschuldige (§320 Abs. 2) — Strafvereitelung im Amt (§321) 121 — Strafvollstreckungsvereitelung im Amt (§321) 121 — Entweichenlassen von Gefangenen (§322) — Parteiverrat (§329) Eine beachtenswerte E n t w i c k l u n g bahnt sich bei den Teilnahmebestimmungen an. Während — m i t einer Ausnahme — alle preußischen Entwürfe die damals übliche E i n o r d n u n g der „ B e g ü n s t i g u n g " 1 2 2 unter die Teilnahmevor-
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Neunter Titel des Besonderen Teils im Pr. StGB. § 133 Pr. StGB: „Wer bei einer öffentlichen Behörde eine Anzeige macht, durch welche er jemand wider besseres Wissen der Verübung einer gesetzlich strafbaren Handlung oder der Verletzung der Amtspflicht beschuldigt . . . " 118 Abs. 1 : „Hat sich ein Richter in einem Strafverfahren, welches ein Verbrechen oder ein Vergehen betrifft, zu Gunsten oder zum Nachteile des Angeschuldigten bestechen lassen . . ." — Abs. 2 erfaßt die aktive Bestechung. 119 Bezogen auf alle Beamten. 120 „Ein Beamter, welcher vorsätzlich zum Nachteil einer Person, deren Unschuld ihm bekannt ist, die Eröffnung oder Fortsetzung einer strafgerichtlichen Untersuchung beantragt oder beschließt, soll mit Zuchthaus bestraft werden" (Gem. Abs. 3 ist auch fahrlässige Begehung strafbar). 121 „Ein Beamter, welcher vermöge seines Amtes bei Ausübung der Strafgewalt oder bei Vollstreckung der Strafe mitzuwirken hat, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft, wenn er in der Absicht, jemanden der gesetzlichen Strafe rechtswidrig zu entziehen, die Verfolgung einer strafbaren Handlung unterläßt, eine Handlung oder Unterlassung begeht, welche geeignet ist, eine Freisprechung oder eine dem Gesetz nicht entsprechende Bestrafung zu bewirken oder die Vollstreckung der ausgesprochenen Strafe nicht betreibt, oder eine gelindere als die erkannte Strafe zur Vollstreckung bringt . . . " 122 Der Entwurf von 1845 enthielt einen eigenen Abschnitt über „Hehlerei". (Zum Sprachgebrauch vgl. das Folgende. Näher Dersch, Begünstigung S. 143 ff.). 117
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Schriften vorschlagen, ist im Strafgesetzbuch von 1851 ein Teil dieses Bereiches aus dem Allgemeinen Teil herausgelöst und den Tatbeständen des Besonderen Teils zugeschlagen, freilich nur zum geringen Teil, denn der in §237 Pr.StGB aufgestellte Tatbestand der „Hehlerei" umfaßt nicht nur die Hehlerei im heute geltenden Rechtssinne, sondern daneben auch die eigennützige Begünstigung des Täters „eines Diebstahls, einer Unterschlagung oder eines ähnlichen Verbrechens oder Vergehens" 123 . Alle übrigen Formen sachlicher und persönlicher Begünstigung sind nach wie vor bei den Teilnahmevorschriften eingeordnet 1 2 4 . Freilich sind sie nicht in diese Vorschriften eingewoben, sondern bloß wegen der Sachnähe als ausformulierte Straftatbestände in jenen Abschnitt eingestellt 125 . Bereits während der Beratungen im Vereinigten Ständischen Ausschuß 126 wird die Verlegung der gesamten Begünstigungsregelung in den Besonderen Teil gefordert 127 , auf Anraten der Regierung jedoch abgelehnt, weil „noch immer eine innere Verbindung mit der Lehre von der Teilnahme am Verbrechen vorhanden sei, mithin hier der passende Ort dafür s e i " 1 2 8 , 1 2 9 . Auch die öffentliche Aufforderung zu Straftaten und die Nichtanzeige (gewisser schwerer) drohender Straftaten sind in diesem Kontext geregelt 130 . Der Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund will es bezüglich der im Teilnahmeabschnitt geregelten Tatbestände bei den Bestimmungen des preußischen Strafgesetzbuches belassen131. Jedoch setzt sich schließlich die Auffassung durch, daß es nur folgerichtig sei, die betreffenden Normen, wenn sie nach einhelliger Auffassung nicht als Elemente der Teilnahmedogmatik aufzufassen seien, insb. die Begünstigung nicht als „auxilium post factum" zu verstehen sei 1 3 2 , im Besonderen Teil zu plazieren 133 . Die persönliche 123 Qualifikation gem. §238 Pr. StGB, falls es sich bei der Vortat um Raub, räuberische Erpressung oder schweren Diebstahl handelte. 124 §37 Pr. StGB. 125 Vgl. Hälschner, PrStrR Bd 3, S. 556. 126 Verh.Ständ. Aussch. Bd 2, S. 370 f. 127 „ . . . daß die Lehre von der Begünstigung ganz von der Teilnahme am Verbrechen getrennt, und, weil sie nur die Mittel zur Verfolgung der Strafzwecke verletze, unter die Vergehen gegen die öffentliche Sicherheit in den speziellen Teil verwiesen werde." 128 Goltdammer, Mat. Bd 1, S. 339. 129 Ferner war beantragt worden, daß die persönliche Begünstigung „als ein Vergehen gegen die Kriminal-Rechtspflege nur als Polizei-Übertretung qualifiziert und gerügt werde". (Verh.Ständ.Aussch. aaO; Goltdammer aaO). 130 §§36 u. 39 Pr. StGB. 131 §§31, 32 EStGB NDB. 132 Zur Entwicklung der Dogmatik zusammenfassend Hälschner, PrStrR Bd 3, S. 555 ff.; Dersch, Begünstigung passim (dazu Rez. Holzhauer, ZNR 1981, 218 f.). 133 s. z. B. Binding, Entwurf S. 106: „Wann wird endlich die Zeit kommen, wo die Wahrheit, daß die Begünstigung eine Teilnahme an einem Verbrechen nicht enthalte, und eine subsequente Teilnahme ein Unding sei, in den Gesetzen volle Anerkennung findet? Wann wird der § über Begünstigung die Stelle finden, die ihm gebührt: unter den
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und die sachliche Begünstigung werden daher mit der Hehlerei zu einem eigenen Abschnitt zusammengefaßt 134; die Nichtanzeige (bestimmter) drohender Straftaten wird — unmittelbar hinter der Falschen Entschuldigung von Zeugen, Geschworenen und Sachverständigen — in den Abschnitt „Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche Ordnung" eingefügt, die (erfolgreiche) öffentliche Aufforderung zu Straftaten in den Abschnitt „Widerstand gegen die Staatsgewalt" 135 , wo bereits Gefangenenbefreiung und Gefangenenmeuterei eingeordnet sind 1 3 6 . Diese Zuordnungen bleiben dann auch im Reichsstrafgesetzbuch 137 und darüber hinaus bis heute bestehen 138 . Die Eidesdelikte bleiben im norddeutschen wie im Reichsstrafgesetzbuch in einem eigenen Abschnitt zusammengefaßt. Ihr Tatbestandskanon wird in den Reichstagsberatungen durch die Aufnahme der Verleitung zum Falscheid erweitert 139 . Auch die einschlägigen Amtsdelikte 1 4 0 sowie die Falsche Anschuldigung bleiben in der Fassung bestehen, die ihnen das preußische Strafgesetzbuch gegeben hat. B. Nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches Bekanntlich hat die Grundkonzeption des Besonderen Teils des Reichsstrafgesetzbuches bis heute keine gravierenden Änderungen erfahren. Für die Folgezeit ist daher der Inhalt von Änderungsvorschlägen, vor allem von zahlreichen Reformprojekten, von Interesse 141 . Der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, von einer vom Reichsjustizamt eingesetzten Kommission ausgearbeitet 142 und 1909 veröffentlicht 143 , behandelt in einem eigenen Buch des Besonderen Teils die „Verbrechen und Verbrechen gegen die Justizgewalt des Staates, etwa neben der Befreiung Gefangener? Sollte der norddeutsche Entwurf diese Translokation nicht ein für allemal vornehmen?" 134 Einundzwanzigster Abschnitt (§§257-262): „Begünstigung und Hehlerei". 135 §111 StGB NDB. 136 §§120-122 StGB NDB. 137 Unter denselben Paragraphenzahlen. 138 Zum Wegfall der „Verletzung der Dingpflicht" s. u. 6. Kap. sub C I I 2 b. 139 Näher Stooß, Meineid aaO S. 309; Herrmann, Aussagetatbestände S. 39 f. 140 §§334, 335, 336, 343, 344, 345, 346, 347, 356 StGB NDB. 141 Da weiter hinten noch für einige Einzelbereiche auf die Geschichte der Reformarbeiten einzugehen sein wird, sollen Hinweise auf die allgemeine Entwicklung — soweit zum Verständnis erforderlich — bereits hier in die Schilderung einbezogen werden. Zur Reformdiskussion bei den Aussagetatbeständen vgl. die im Vorwort angekündigte Monographie des Verf. 142 Mitglieder der Kommission: Lucas, v. Tischendorf, Schulz, Ditzen, Meyer; später Joel, Kleine, Oehlschläger. — Zur Arbeit Joels s. Godau-Schüttke , Joel S. 21 ff.; dazu Vormbaum, GA 1983, 94 f. 143 Zum Vorentwurf allgemein: R. v. Hippel, Strafrecht Bd 1, S. 359 ff.; v. Liszt/ Schmidt, Lehrbuch (25. Α.), S. 87 ff.; Eb. Schmidt, Einführung S. 395 f.
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Vergehen gegen Einrichtungen des Staates" 144 und dort in einem eigenen Abschnitt 1 4 5 die „Verbrechen und Vergehen in Beziehung auf die Rechtspflege". Mit dieser leicht gekünstelt wirkenden Formulierung sollte — so die amtliche Begründung — zum Ausdruck gebracht werden, daß in dem Abschnitt „nicht nur diejenigen Delikte" zusammengefaßt sind, „die sich unmittelbar gegen die Rechtspflege richten, sondern auch solche, die zu ihr in Beziehung stehen" 146 . Der Abschnitt enthält folgende Tatbestände: — — — — — — —
Aussagedelikte (§§165-170) 147 , Falsche Beschuldigung (§171), Strafvereitelung (§172), Unwahre Entschuldigung von Zeugen und Sachverständigen (§173), Unterlassene Verbrechensanzeige (§174), Parteiverrat (§175), Gebührenüberhebung (§176).
Alle einschlägigen Delikte von Amtsträgern sind im Abschnitt über „Verbrechen und Vergehen im Amte" zusammengefaßt 148: — — — — — — — —
(Aktive und passive) Richterbestechung (§198), Rechtsbeugung (§200), Aussagenerpressung (§201 Ziff. 1), Verfolgung Unschuldiger (§201 Ziff. 2 Fall 1), Strafvereitelung im Amt (§201 Ziff. 2 Fall 2), Vollstreckung gegen Unschuldige (§202), Vollstreckungsvereitelung (§202), Verleitung Untergebener zu Straftaten (§208).
Der Vorentwurf erfuhr im allgemeinen günstige Beurteilung. Er wurde als geeignete erste Grundlage für die weitere Reformarbeit bezeichnet 149 . Kritik (neben Zustimmung) erntete freilich die systematische Anordnung des Besonderen Teils sowie der Tatbestandskanon des Abschnittes über „die Delikte in Beziehung auf die Rechtspflege". Binding bezeichnete das zweite Buch des Besonderen Teils als ein systematisches Monstrum. Gänzlich unbefriedigend seien die Fälschungsdelikte geregelt, zu denen Meineid und Falsche Versicherung an Eides Statt zu zählen seien. „Hundertfaltig" hätten diese Delikte „mit der Rechtspflege nichts zu t u n " 1 5 0 . Die Beweisverbrechen verlangten vielmehr 144 §§148 ff. VE. — Die anderen Bücher des Besonderen Teils: „Verbrechen und Vergehen gegen den Staat" (1. Buch), „Verbrechen und Vergehen gegen die Person" (3. Buch), „Verbrechen und Vergehen gegen das Vermögen" (4. Buch). 145 §§165 ff. VE. 146 VE Begr. Bd 2, S. 528. 147 Näheres dazu in der im Vorwort angekündigten Monographie des Verf. 148 §§196 ff. VE. 149 s. u. a. v. Hippel, Strafrecht Bd 1, S. 362; v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch (25. Α.), S. 88; Eb. Schmidt, Einführung S. 396. 150 Binding, GS 77 (1911), 9.
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„kategorisch ihr eigenes Buch, worin die strafbaren Beweismittel- und Beweiszeichenfalschungen alle zu verzeichnen wären" 1 5 1 . Auch die Verfasser des 1911 erschienenen Gegenentwurfs" 152, die Strafrechtslehrer Goldschmidt , Kahl , v. Lilienthal und v. Liszt , gingen davon aus, daß der Vorentwurf „einen wesentlichen und wertvollen Fortschritt über das geltende Recht hinaus" bedeute und somit eine geeignete Grundlage für das weitere Vorgehen abgebe 153 . Sie betrachteten es als ihre Aufgabe, „das Gute, das der Vorentwurf gebracht hat, beizubehalten und weiterzubilden, zugleich aber die Lücken auszufüllen, die er gelassen hat, und die Fehler und Schwächen zu beseitigen, die ihm unzweifelhaft anhaften". Vor allem gaben sie die Gliederung des Besonderen Teils auf, welche die Verfasser des Vorentwurfes, geleitet vom Wunsch nach systematischer Durchgliederung des Stoffes 154 , vorgenommen hatten. Da sie die Durchführung einer solchen systematischen Gliederung für nicht möglich hielten, „ohne dem innersten Wesen wichtiger Deliktsgruppen Gewalt anzutun" 1 5 5 , gaben sie einer lockeren Unterteilung in vierundzwanzig Abschnitte den Vorzug. Eine reichgegliederte Systematik mit Ober- und Unterabschnitten möge — so führten sie aus — für ein Lehrbuch des Strafrechts nicht zu entbehren sein, für den Gesetzgeber trete jedoch die Bedeutung einer solchen Systematik hinter der übersichtlichen und klaren Reihenfolge der einzelnen Abschnitte zurück 1 5 6 . Dieser Umorientierung fiel u.a. die vom Vorentwurf vorgeschlagene Zusammenfassung der „Verbrechen und Vergehen in Beziehung auf die Rechtspflege" zum Opfer. Der Gegenentwurf verteilt die betreffenden Tatbestände auf die Abschnitte 8 („Störung des Rechtsfriedens und der öffentlichen Ordnung" 1 5 7 ), 9 („Gefahrdung der Rechtspflege" 158 ) und 10 („Meineid und falsche Aussage" 159 ), soweit sie nicht ersatzlos 160 oder mit Rücksicht auf Neufassungen von Vorschriften des Allgemeinen Teils 161 wegfallen. Durch die Aufeinanderfolge dieser drei Abschnitte bleibt einerseits der 151
Ibd. Zum Gegenentwurf: v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch (25. Α.), S. 88; Eb. Schmidt , Einführung S. 396. 153 VE, Vorwort S. III. 154 Kritisch GE Begr. S. 161. 155 Ibd. 156 Ibd. 157 Der Abschnitt enthält neben zahlreichen hier nicht relevanten Tatbeständen die Unterlassene Verbrechensanzeige (§185 GE). 158 Der Abschnitt enthält die Strafvereitelung (§193 GE), die Fahrerflucht (§194), die unwahre Entschuldigung von Zeugen und Sachverständigen (§195), den Parteiverrat (§196), die Gebührenüberhebung (§197) und die Falsche Anschuldigung (§198). 159 §§199-201 GE. 160 z β a n e Fahrlässigkeitstatbestände bei den Aussagedelikten. Wie im VE war der sog. Eidesbruch (§162 RStGB) gestrichen. 152
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Wie die Tatbestände der Versuchten Verleitung zum Meineid (§159 RStGB, §167 VE) und der Verleitung zum Falscheid (§160 RStGB, §170 VE). 3
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Zusammenhang der i n ihnen normierten Delikte gewahrt, andererseits aber w i r d die Nähe der Aussagedelikte zu den i m 11. u n d 12. Abschnitt geregelten Geldfalschungs- u n d Urkundendelikten herausgestellt, „ d a nach einer i n der Wissenschaft vielfach vertretenen Auffassung bei allen drei G r u p p e n die Richtung gegen ein bestimmtes Rechtsgut i n den H i n t e r g r u n d t r i t t , alle drei vielmehr durch Irreführung menschlicher Überzeugung die Sicherheit des rechtlichen Verkehrs überhaupt g e f ä h r d e n " 1 6 2 . Hier hat sich Binding nicht nur m i t seiner K r i t i k an der Systematik des Vorentwurfs durchgesetzt; auch seine dogmatische Auffassung v o n der Schutzrichtung der „Beweisfalschungsdelikte" hat Berücksichtigung g e f u n d e n 1 6 3 . Der v o n den drei Abschnitten umfaßte Bereich ist sehr weit. Einigermaßen homogen ist nur der Abschnitt über die Aussagetatbestände gestaltet 1 6 4 . Der Abschnitt „Gefahrdung der Rechtspflege" enthält folgende Tatbestände: — — — — — —
Strafvereitelung (§193) Unwahre Entschuldigung von Zeugen und Sachverständigen (§195) Parteiverrat (§196) Gebührenüberhebung (§197) Falsche Beschuldigung (§198) Unfallflucht („Flucht des Führers eines Kraftfahrzeuges") (§194).
Die Unterlassene Verbrechensanzeige ist i n den Abschnitten über die „ S t ö r u n g des Rechtsfriedens u n d der öffentlichen O r d n u n g " hinübergewechselt (§185 G E ) . Dieser Abschnitt seinerseits ist insgesamt ein Sammelbecken der verschiedenartigsten Tatbestände 1 6 5 . 1911 trat auf Veranlassung des Reichsjustizamtes eine zweite, größere Kommission 166 zusammen, um auf der Grundlage des Vorentwurfes und der zu ihm eingegangenen Kritik, deren Ergebnisse amtlicherseits zusammengestellt worden waren 1 6 7 , einen neuen Entwurf auszuarbeiten 168 .1913 lag der „Entwurf der Strafrechtskommission" vor; seine Veröffent-
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GE Begründung S. 207. s. o. Fußn. 150 f. — Kritisch zur Auffassung Bindings Philipsborn, Klassifikation S. 127 ff. 164 Wie Fußn. 147. 165 Er normierte zahlreiche der im 7. Abschnitt des RStGB enthaltenen Straftatbestände gegen die öffentliche Ordnung, ferner Religionsdelikte, Vollrausch, Übertretung des Wirtshausverbotes, Landstreicherei und Tierquälerei, aber auch Tatbestände mit Nähe zur Strafrechtspflege, nämlich: Aufforderung zu strafbaren Handlungen (§178 GE, vgl. §131 RStGB und §111 StGB heutiger Fassung), Aufforderung zur Aufbringung von Geldstrafen (§179 GE), Sicherbieten zum Verbrechen und Verabredung zum Verbrechen (§§180,181 GE; vgl. §49 a RStGB seit 1876 sowie §30 Abs. 2 StGB heutiger Fassung) und Anleitung von Kindern zu Straftaten (§182 GE). 166 Mitglieder der aus Wissenschaftlern und Praktikern zusammengesetzten Kommission: Duffner, Ebermayer, v. Freilitsch, v. Frank, Friedmann, v. Hippel, Kahl, Lindenberg, Lucas, Meyer, Niemeyer, Pfersdorf/, v. Rupp, Rüster, Schulz, v. Tischendorf, Moeli, Klein; später Corman, Joel, (s. bereits Fußn. 142), Kleine. 167 Zur „Zusammenstellung" s. v. Hippel, Strafrecht Bd 1, S. 362, Anm. 9. 163
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lichung wurde aber ebenso wie der Fortgang der Reformarbeiten, durch den Kriegsausbruch verhindert 169 . Erst im Frühjahr 1918, als „sich die kriegerischen Ereignisse ihrem Ende zuzuneigen schienen" 170 , wurde die Reformarbeit vom Reichsjustizamt wieder aufgenommen 171 . Eine vierköpfige Kommission 172 überarbeitete den Entwurf von 1913 vor allem im Hinblick auf die durch den Weltkrieg bedingten Änderungen der Verhältnisse und Anschauungen. Das Ergebnis, der Entwurf von 1919 ( E1919), wurde zusammen mit dem Entwurf von 1913 (E 1913) und einer Denkschrift veröffentlicht. Bereits i m E 1913 ist die systematische Durchgliederung des Vorentwurfes wieder aufgegeben, der neue E n t w u r f stellt — dem Reichsstrafgesetzbuch u n d dem Gegenentwurf folgend — eine Vielzahl v o n Abschnitten, insgesamt 28, nebeneinander. Allerdings faßt er noch — wie der V o r e n t w u r f — Aussagedelikte u n d andere Rechtspflegedelikte i n einer Deliktsgruppe „Gefahrdung der Rechtspflege" 1 7 3 z u s a m m e n 1 7 4 . Der E1919 verteilt die Rechtspflegedelikte des Vorentwurfs u n d des E 1913 auf die drei Abschnitte „ M e i n e i d " (11. A b s c h n i t t ) 1 7 5 , „Schädigung der Rechtspflege" (12. A b s c h n i t t ) 1 7 6 , „Vorbereitung von Straftaten. Begünstigung. Strafvereitelung" (13. A b s c h n i t t ) 1 7 7 . Der 12. Abschnitt umfaßt — Unterlassene Verbrechensanzeige (§226) — Falsche Anzeige (§227) — Unwahre Entschuldigung von Geschworenen, Schöffen, Zeugen und Sachverständigen (§228) — Parteiverrat (§229) — Gebührenüberhebung (§230)
168 Zur Arbeit dieser Großen Strafrechtskommission s. v. Hippel aaO S. 363 ff.; v. Liszt/ Schmidt, Lehrbuch (25. A.) S. 88 ff.; Eb. Schmidt, Einführung S. 397 ff.; E1922 Begründung S. 48; E 1925 Begründung S. 2 f. 169 Allerdings hatte das Kommissionsmitglied Ebermayer regelmäßig in der DJZ über die Beschlüsse der Kommission berichtet. Die Berichte erschienen 1914 auch in Buchform (s. Lit. Vera.). 170 E 1925 Begründung S. 3. 171 s. die in Fußn. 168 gegebenen Hinweise. 172 Joel, Ebermayer, Corman, Bumke. — Zu Bumkes Arbeit in der Kommission s. Kolbe, Bumke S. 8 ff. 173 12. Abschnitt des Besonderen Teils (§§226-238). 174 Zu den im Vorentwurf aufgestellten Straftatbeständen trat nur die „Vereitelung einer Anstaltsunterbringung" hinzu (vgl. Fußn. 178). Die Taten von Amtsträgern verblieben im Abschnitt über Amtsdelikte. 175 §§220-225 E 1919. 176 §§226-230 E 1919. 177 §§231-236 E 1919.
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Der 13. Abschnitt umfaßt — — — — —
Aufforderung und Erbieten zu Verbrechen (§231) Komplott und Bande (§232) Begünstigung (§234) Strafvereitelung (§235) Vereitelung einer Anstaltsverwahrung (§236) 178 .
Es ist also einerseits der nach damaliger Auffassung bestehenden „Eigenart und Bedeutung" 179 der „Eidesdelikte" durch separate Gruppierung Rechnung getragen, andererseits wird versucht, die anderen „Rechtspflegedelikte" des Vorentwurfs unter den Gesichtspunkten des Institutionenschutzes und des Schutzes materiellrechtlicher Belange aufzuteilen. Die Gemeinsamkeit der im 13. Abschnitt zusammengefaßten Tatbestände wurde darin erblickt, daß alle die „Förderung anderer Straftaten zum Gegenstand haben" 1 8 0 . Auch dieser Entwurf beläßt — wie das geltende Recht, der Vorentwurf und auch der E 1913 — die Delikte von Amtsträgern im Abschnitt über Amtsdelikte. Ihr Kanon bleibt unverändert 181 . Ausgangspunkt der in der Weimarer Zeit fortgeführten Arbeit an der Strafrechtsreform war der 1922 vom Reichsjustizminister Gustav Radbruch persönlich 182 ausgearbeitete und der Reichsregierung vorgelegte StGB-Entwurf. Vor allem wegen seiner Neuerungsvorschläge auf dem Gebiet des Allgemeinen Teils wie Abschaffung der Todesstrafe, Ersetzung der Zuchthausstrafe durch die Strafe des „strengen Gefängnisses" und Beseitigung der sog. „Ehrenstrafen" 183 , gilt dieser Entwurf, der erst dreißig Jahre später veröffentlicht wurde, als Markstein auf dem Weg zu einer zukunftsträchtigen Strafrechtsreform, als „Höhepunkt der strafgesetzlichen Reformarbeit" 184 .
In der Gliederung des Besonderen Teils, insbesondere auch in der Gliederung der Rechtspflegedelikte schließt sich der E 1922 allerdings weitgehend seinen Vorgängern an. Wie im E 1919 gehen die drei einschlägigen Abschnitte (Abschnitte 11 bis 13) 185 jenen über Urkundenfälschung und Falschmünzerei voraus. Lediglich die Überschrift des 11. Abschnitts — „Meineid und falsche Aussage" — ist dem geplanten neuen Rechtszustand im Bereich der Aussagetat-
178 § 236 Abs. 1 : „Wer wissentlich die nach §§... angeordnete Verwahrung eines anderen in einer Anstalt ganz oder teilweise vereitelt..." — Abs. 3 enthielt als Angehörigenprivileg eine Strafmilderungsmöglichkeit. 179 E 1919 Denkschrift S. 173. 180 E ί 9 ί 9 Denkschrift S. 178. 181
E 1919, 7. Abschnitt des Besonderen Teils („Verletzung der Amtspflicht"), §§169 -
183. 182
s. den Hinweis von Eb. Schmidt, Einleitung Entwurf S. VI, FN. 2; Radbruch, Weg
S. 115. 183 184 185
Eb. Schmidt aaO. Liepmann, (zit. b. Eb. Schmidt, Einleitung Entwurf S. VII). §§176 ff. E 1922.
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bestände a n g e p a ß t 1 8 6 . I m übrigen besteht die auffalligste äußerliche Ä n d e r u n g darin, daß dieser Abschnitt u m zwei Straftatbestände — Fälschung von Beweismitteln 187 und — Unterdrückung von Beweismitteln 188 erweitert i s t 1 8 9 . Die Einbeziehung dieser neuen Tatbestände, die den Tatbeständen der Urkundenfälschung u n d der Urkundenunterdrückung parallel formuliert s i n d 1 9 0 , wurde damit b e g r ü n d e t 1 9 1 , daß die Wahrheitsfindung nicht nur durch falsche Aussagen, sondern auch durch falsche Beweismittel anderer A r t gefährdet w e r d e 1 9 2 . I n der Z u o r d n u n g dieser Tatbestände z u m Abschnitt über Aussagedelikte dürfte sich abermals die Auffassung v o n deren Charakter als „Fälschungsdelikten" niedergeschlagen h a b e n 1 9 3 . Der nachfolgende Abschnitt „Schädigung der Rechtspflege" ist auf nur noch zwei Tatbestände — Falsche Anschuldigung (§ 179) und — Parteiverrat (§180) g e s c h r u m p f t 1 9 4 . Der Tatbestand der „Unterlassenen Verbrechensanzeige" ist i n den folgenden (13.) Abschnitt übergewechselt; die Tatbestände der „ U n w a h r e n Entschuldigung v o n Geschworenen" etc. u n d der „Gebührenüberhebung" fehlen, weil die betreffenden Verhaltensweisen „ n i c h t mehr als kriminelles 186
Wie Fußn. 147. §176 E 1922: „Wer, abgesehen von den Fällen der Urkundenfälschung und der Fälschung öffentlicher Beglaubigungszeichen, ein Beweismittel in der Absicht fälscht oder verfälscht, daß davon in einem Rechtsverfahren vor einer Behörde Gebrauch gemacht werde, oder wer von einem falschen oder verfälschten Beweismittel in einem Rechtsverfahren vor einer Behörde Gebrauch macht, wird mit Gefängnis bestraft." 188 §177 E 1922: „Wer, abgesehen von den Fällen der Urkundenunterdrückung, ein Beweismittel, das zur Verwendung in einem Rech tsverfahren vor einer Behörde bestimmt ist und über das er nicht allein verfügen darf, in der Absicht vernichtet, beschädigt, beseitigt oder unterdrückt, zu verhindern, daß davon in dem Verfahren Gebrauch gemacht wird, wird mit Gefängnis bestraft." 189 Vgl. zu diesen Tatbeständen Schilling, Schutz S. 151 ff., insb. FN. 123 ff. — Für das Verständnis dieser Tatbestände ist wichtig, daß sie eine Lücke zu schließen hatten, die der Entwurf durch eine enggefaßte Legaldefinition der Urkunde (§11 Nr. 9 E1922 ) hatte; vgl. E 1922 Begründung S. 63. 190 Vgl. §§186, 188 E 1922. 191 In der Begründung zu E 1925, welcher die Regelung ebenfalls enthielt. 192 E 1925 Begründung S. 89. 193 Eine Rolle könnte aber auch gespielt haben, daß die Regelung der „Tätigen Reue" (§ 178 E 1922) für die neuen Tatbestände und für die Aussagedelikte gemeinsam Geltung besaß. 194 Die „Unterlassene Verbrechensanzeige", im E 1919 noch diesem Abschnitt zugeordnet, wurde vom E1922 in den folgenden Abschnitt („Vorbereitung von Straftaten. Begünstigung. Strafvereitelung") eingruppiert, die „Unwahre Entschuldigung von Zeugen usw." war entfallen, ebenso die „Gebührenüberhebung durch Rechtsanwälte", deren Ahndung den Betrugsbestimmungen sowie dem anwaltlichen Standesrecht überlassen wurde. 187
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Unrecht betrachtet" wurden 1 9 5 . Der 13.Abschnitt bleibt (mit der erwähnten Ausnahme) unverändert 196 . Bei den einschlägigen Taten von Amtsträgern, die auch dieser Entwurf im Abschnitt über die „Verletzung der Amtspflicht" beläßt 197 , ergeben sich außer redaktionell motivierten Umstellungen keine Änderungen 198 . Wegen der aktuellen politischen Schwierigkeiten — Ruhrbesetzung, Inflation — wurde die Beratung des Radbruchschen Entwurfs im Reichskabinett zurückgestellt 199 . Erst am 12. November 1924 — Radbruch war inzwischen aus dem Amt geschieden200 — wurde der Entwurf vom Kabinett verabschiedet und am 17. November dem Reichsrat vorgelegt. Diese Reichsratsvorlage wurde 1925 veröffentlicht ( E1925). Sie hielt — unter Berücksichtigung österreichischer Reformarbeiten — an der Gesamtkonzeption des Entwurfs von 1922 im wesentlichen fest, zog freilich wichtige Reformvorschläge Radbruchs wieder zurück 2 0 1 . Im Bereich der hier interessierenden Tatbestände nahm der Entwurf von 1925 keine erwähnenswerten Änderungen vor 2 0 2 , 2 0 3 . Der Entwurf gelangte im Mai 1927 an den Reichstag (Reichstagsvorlage, E 1927). Auch in der nunmehrigen Fassung war die Grundkonzeption der betrachteten Tatbestände unverändert. Die drei einschlägigen Abschnitte sind beibehalten 204 . Eine Umgruppierung von Straftatbeständen erfolgt nur insofern, als die seit E 1922 vorgesehenen Tatbestände der Fälschung bzw. Unterdrückung von Beweismitteln nicht mehr in den Abschnitt „Meineid und falsche Aussage", sondern in den Abschnitt „Schädigung der Rechtspflege" eingeführt sind 2 0 5 . Der Reichstag überwies die Vorlage dem 21. Ausschuß. Dessen Beratungen wurden im Juli 1930, nach insgesamt 143 Sitzungen, während der 2. Lesung durch die Reichstagsauf195
So E 1925 Begründung S. 91. Die Tatbestände der Strafvereitelung und der Vereitelung einer Anstaltsverwahrung waren zu einem Tatbestand zusammengefaßt. 197 §§121 ff. E 1922 (7. Abschnitt des Besonderen Teils). 198 Aussagenerpressung, Strafvereitelung im Amt und Verfolgung Unschuldiger waren in einem Paragraphen (§131 E 1922) mit der Bezeichnung „Verbrechen bei der Strafverfolgung" zusammengefaßt. 199 Sojedenfalls die offizielle Begründung der Verzögerung in E1925 Begründung S. 3 und E1927 Begründung S. 3. Radbruch, Weg S. 115 f., deutet auch sachliche Widerstände im Kabinett an. 200 Zur Arbeit Radbruchs als Justizminister und zu seinen beiden Amtsperioden (Oktober 1921 — November 1922 und August 1923 — November 1923) s. Radbruch aaO S. 105 ff.; Kuhn, Justizminister S. 63. 201 Insbesondere die Abschaffung der Todes- und der Zuchthausstrafe; vgl. i.e. Eb. Schmidt, Einführung S. 406; v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch S. 92. 202 Zu den Unterschieden zwischen E 1922 und E 1925 s. allgemein Radbruch, ZStW 1924, 417 ff. 203 Auch die allgemeine Strafmilderung der §§ 72,73 E1922 war beibehalten ( •= §§ 72,73 E 1925). 204 11. Abschnitt (§§ 184 -191): Meineid und falsche Aussage —12. Abschnitt (§§192 bis 195): Schädigung der Rechtspflege — 13. Abschnitt (§§196-202): Vorbereitung strafbarer Handlungen. Begünstigung. Strafvereitelung. 205 §§193, 194 E 1927. 196
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lösung unterbrochen 206 . Nach der Neukonstituierung des Reichstages brachte der Ausschußvorsitzende Kahl die Entwurfsfassung nach den Ausschußbeschlüssen 1. Lesung erneut im Reichstag ein 2 0 7 . Die politischen Wirren der Folgezeit führten jedoch zum Erliegen rechtsstaatlicher Bemühungen um die Strafrechtsreform.
Auch der von Kahl eingebrachte Entwurf ( E1930) behält die Aufteilung der rechtspflegebezogenen Delikte auf drei Abschnitte 208 und die separate Behandlung der Amtsträgerdelikte bei. Während zwei der Abschnitte gegenüber den vorangegangenen Entwurfsfassungen keine wesentlichen Änderungen erfahren 2 0 9 , enthält der Abschnitt über die Aussagedelikte „neue Gedanken" 210 , welche mit gleichzeitig geplanten Änderungen der strafprozessualen Eidesvorschriften korrespondierten. Auf sie wird später noch näher einzugehen sein 211 . Bemühungen des NS-Regimes um die Ausarbeitung eines nationalsozialistischen Strafgesetzbuches setzten bereits 1933 mit einer Denkschrift des preußischen Justizministeriums („Nationalsozialistisches Strafrecht") ein. In ihr wurde eine Gliederung des Besonderen Teils in zwei Hauptgruppen — „Schutz der Volksgemeinschaft" und „Schutz der Volksgenossen" — vorgeschlagen 212. Die erste Gruppe ist in vier Abschnitten den Schutzobjekten „Staatsordnung", „Rasse und Volkstum", „Familie" und „Volksgut" gewidmet. Der Abschnitt „Schutz der Staatsordnung" enthält als einen von drei Unterabschnitten 213 den „Schutz der inneren Staatsordnung". Hier erfaßt eines von fünf Kapiteln 2 1 4 die „Angriffe auf die Rechtspflege". Das Kapitel enthält folgende Titel: — — — — — —
Meineid Begünstigung Unterlassung der Verbrechensanzeige Falsche Anschuldigung und falsche Selbstbezichtigung Zweikampf Verbotene Mitteilung über Gerichtsverhandlungen.
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Eb. Schmidt, Einführung S. 407. Ibd. — Die Beschlüsse, welche der Ausschuß bereits in zweiter Lesung gefaßt hatte, sind zusammengefaßt bei Kohlrausch, Entwurfs. 143 ff.; diese Beschlüsse betrafen auch die Aussagedelikte; dazu noch weiter unten. 208 11. - 13. Abschnitt (§§183 a ff., 192 ff., 196 ff. E 1930). 209 Die Änderungen betrafen nur Formulierungen, nicht jedoch den Aufbau und den Tatbestandskanon der beiden Abschnitte. 210 Herrmann, Aussagetatbestände S. 43. 211 Wie Fußn. 147. 212 Preuß. Denkschrift S. 13 ff. 213 Weitere Unterabschnitte: „Schutz der Machtstellung des Staates nach außen", „Verletzung von Amtspflichten". 214 Weitere Kapitel: „Angriffe auf Staat, staatliche Einrichtungen und höchste Staatsorgane", „Angriffe auf die Wehrmacht", „Angriffe auf die Staatsgewalt", „Angriffe auf die Münzhoheit". 207
40
. Kapitel
In der vom Reichsjustizministerium eingesetzten215 Strafrechtskommission, die im November 1933 ihre Arbeit aufnahm, fand eine ausgiebige Diskussion über die dem Besonderen Teil zugrunde zu legende Systematik statt 2 1 6 . Zustimmung fand die im Referat von Freisler vertretene These, daß Inhalt und Einteilung eines deutschen allgemeinen Strafrechts in erster Linie den „Anspruch der Totalität des deutschen Weltbildes und Lebenswillens" wiederspiegeln müßte 2 1 7 . Daraus folgte nicht nur, daß die liberalem Gedankengut entstammende Gruppierung der Rechtsgüter in solche des Staates und des einzelnen (bzw. des Staates, der Gesellschaft und des einzelnen 218 ) zu verwerfen und durch eine einheitliche, vom Volk als dem Gesamtorganismus ausgehende Gliederung zu ersetzen sei 2 1 9 , sondern auch, daß dem inneren Aufbau des Gesetzes eine organische Durchgliederung zu verleihen sei. Die praktische Legislationsarbeit erwies freilich dieses Vorhaben als nur bedingt durchführbar. Zuordnungsprobleme blieben auch dieser Kommission nicht erspart. Es zeigte sich, „was immer bei der systematischen Einreihung von Paragraphen eintreten kann", daß nämlich zahlreiche Delikte „verschiedenartige Rechtsgüter in Mitleidenschaft ziehen" und daß es „für die Systematik kein anderes Mittel (gibt), als den Unwert der verschiedenen Verletzungen, die mit dem Delikt verbunden sind, abzuwägen, und abzuschätzen, was natürlicherweise im Vordergrund steht" 2 2 0 . Immerhin weist die Gliederung des schließlich im Februar 1936 vorgelegten Entwurfs trotz gewisser Beweglichkeit noch das Bemühen um die Erreichung des gesteckten Zieles aus. Zu berücksichtigen ist vor allem, daß mit Hilfe der in §1 des Entwurfs ausdrücklich zugelassenen Analogie, welche bereits seit September 1935 im geltenden Recht ihren Platz hatte 2 2 2 , etwaige Systemlücken geschlossen werden konnten. Der Besondere Teil
215
Allgemein zu dieser Kommission Eb. Schmidt, Einführung S. 450 f. Prot. DStGB, 38. Sitzung v. 6. Juni 1934, S. 1-26. 217 AaO S. 2. 218 Diese Einteilung wurde — wie bereits erwähnt — erstmals 1820 von Gönner gefordert (s. in diesem Kapitel Fußn. 55). Freisler (aaO) bezeichnet Hälschner als den Urheber des Dreiteilungsgedankens. Vgl. zum Problem Philipsborn, Klassifikation S. 102 ff. 219 Von Gleispach wurde vorgeschlagen, die Einzelperson überhaupt als Rechtsgutträger zu eliminieren. Nicht einmal die Tötungstatbestände — so führte er aus — seien zu ihrem Schutze aufgestellt; diese dienten vielmehr dazu, die Vernichtung eines Gliedes der Volksgemeinschaft zu verhindern (aaO S. 9 f.). Diese Auffassung stieß nicht nur auf den Widerspruch Gürtners (aaO S. 11), sondern auch auf denjenigen Freislers (aaO S. 9, 13), der — wie Gürtner — der Auffassung war, „das Natürliche, das vorhanden (sei, müsse) auch natürlich behandelt werden . . .". 220 So Mezger im Zusammenhang der Beratungen über den Parteiverrat, in: Prot. DStGB, 38. Sitzung v. 6. Juni 1936, S. 28 2 2 1 . 221 Diese Fußnote fallt in die Kategorie der Fußnotenfußnote. Als selbstreferentielle Fußnote repräsentiert sie ferner einen Fußnotentypus, welcher der bei P. Rieß, Vorstudien zu einer Theorie der Fußnote (Berlin Jahreswechsel 1983/84), S. 13 ff., entwickelten Fußnotentypologie noch eingefügt werden müßte. 216
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des E1936 ist gegliedert i n die f ü n f Gruppen: „Schutz des Volkes", „Schutz der V o l k s k r a f t " , „Schutz der V o l k s o r d n u n g " , „Schutz der Persönlichkeit", „Schutz des redlichen Wirtschaftslebens" 2 2 3 . D i e dritte G r u p p e — „ S c h u t z der Volksordn u n g " — enthält die Teile: „ A n g r i f f e auf die V o l k s f ü h r u n g " 2 2 4 , „ A n g r i f f e auf die öffentliche O r d n u n g " , „ A n g r i f f e auf die Rechtsordnung". Der zuletzt genannte Teil besteht aus den Abschnitten „ A n g r i f f e a u f Rechtspflege und V e r w a l t u n g " 2 2 5 , „EidesVerletzung" 2 2 6 , „ U r k u n d e n f ä l s c h u n g " 2 2 7 , „Geldfäls c h u n g " 2 2 8 ; der Abschnitt „ A n g r i f f e a u f Rechtspflege u n d Verwaltung" enthält 31 Tatbestände (§§354-384). U n t e r denjenigen v o n ihnen, welche m a n als Rechtspflegedelikte bezeichnen könnte, sind, wenn auch nunmehr z.T. neu formuliert, die folgenden aus dem herkömmlichen Tatbestandskanon v o n Gesetzen u n d Reformprojekten übernommen worden: — — — — — — —
Fälschung von Beweismitteln (§357) Unterdrückung von Beweismitteln (§358) Nichtanzeige geplanter Verbrechen (§359) Begünstigung (§361) Vereitelung der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung (§362) Falsche Verdächtigung (§365) Parteiverrat (§367)
— Verbotswidrige Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen und Ermittlungen (§375). N e u eingefügt sind folgende Tatbestände: — Verächtlichmachung der Rechtspflege (§354) 229, 2 3 0 — Unlautere Einwirkung auf die Rechtspflege (§355) 231 — Nichtmitwirkung bei der Aufklärung von Verbrechen (§ 360) 232
222
Aufgrund Ges. v. 28. Juni 1935. Die fünfte Gruppe erhielt in der letzten Entwurfsfassung die Überschrift „Strafbarer Eigennutz" (§§442 ff. E Juni 1939). 224 Dieser Teil entfiel in der letzten Entwurfsfassung; statt dessen erhielt der Titel „Hochverrat" einen Tatbestand „Verrat am Führer" (§91 E Juni 1939). 225 §§354-384 E Febr. 1936. 226 §§385-392 E Febr. 1936. 227 §§393-404 E Febr. 1936. 228 §§405-412 E Febr. 1936. 229 „Wer öffentlich die deutsche Rechtspflege verhöhnt oder böswillig verächtlich macht, wird mit Gefängnis bestraft." 230 Zur Diskussion dieser Problematik s. Prot. DStGB, 38. Sitzung v. 6. Juni 1934, S. 26 ff. 231 „Wer während eines schwebenden gerichtlichen oder parteigerichtlichen Verfahrens Mitglieder des Gerichts, Vertreter der Anklagebehörde, Zeugen, Sachverständige, eine Partei, andere an dem Verfahren Beteiligte oder deren Vertreter einzuschüchtern sucht, wird mit Gefängnis bestraft. Ebenso wird bestraft, wer während eines schwebenden Strafverfahrens, Dienststrafverfahrens oder einer sonstigen behördlichen oder parteiamtlichen Untersuchung die Schuldfrage in unlauterer Weise öffentlich erörtert . . . " 223
42 — — — —
. Kapitel Vereitelung der Verfallerklärung und Einziehung (§ 363) Vortäuschung einer strafbaren Handlung (§366) Berufsausübung trotz strafgerichtlichen Verbots (§373) Verletzung polizeilicher Auflagen (§374).
Die geplanten §§354,355 beruhten a u f einer Anregung v o n Reichsjustizminister Gürtner , welcher dabei die englische Rechtstradition der Sanktionierung des contempt of court vor Augen hatte, insbesondere die Rechtspflege i n gleicher Weise gegen Außeneinwirkungen schützen wollte wie die E x e k u t i v e 2 3 3 . I n der K o m m i s s i o n entwickelte sich dieser K o m p l e x dann allerdings zu einem Instrument der U n t e r d r ü c k u n g der Presse, o b w o h l m a n einräumte, „ d a ß heute die Verhältnisse i n der Presse anders geworden sind u n d daß man jetzt andere M i t t e l hat, u m entgegentreten zu k ö n n e n " 2 3 4 . Die Tatbestände über rechtspflegebezogene Delikte v o n Amtsträgern waren abermals i m Abschnitt über die „Verletzung der A m t s p f l i c h t " belassen. I h r Bestand blieb unverändert. Der Entwurf wurde noch mehrfach von Unterkommissionen überarbeitet. Seine Gesamtkonzeption erfuhr jedoch nur noch unwesentliche Veränderungen. Auch die hier interessierenden Vorschriften blieben unverändert. Im Juni 1938 wurde der Entwurf dem Reichskabinett vorgelegt 236 . 1939 lag er unterschriftsreif vor, wurde jedoch niemals in Kraft gesetzt. Gründe dafür sind, soweit ersichtlich, nicht Öffentlich vorgetragen worden. Die Vermutung von Eberhard Schmidt, daß „der Gedanke einer Selbstbindung durch umfassende Kodifikationen den politischen Machthabern als abwegig erscheinen (mußte)" 2 3 7 , erscheint zwar plausibel, wird aber möglicherweise den komplizierten Strukturen des NS-Herrschaftsapparates nicht gerecht.
232 „Wer es trotz öffentlicher Aufforderung der Staatsanwaltschaft unterläßt, dieser binnen angemessener Frist die zur Aufklärung einer Straftat gewünschte Mitteilung zu machen, obwohl er dazu in der Lage ist . . ." Ebenso wird bestraft, wer von einer unaufgeklärten, mit dem Tode bedrohten Straftat glaubhafte Kenntnis hat und es unterläßt, der zuständigen Behörde binnen angemessener Frist die zur Aufklärung geeigneten Mitteilungen zu machen, obwohl er dazu in der Lage ist." 233 AaO (Fußn. 230) S. 30. — Das umfangreiche Material, welches der Kommission vom Reichsjustizministerium zur Verfügung gestellt wurde, enthält auch ein von Ger. Ass. Dr. Arndt zusammengestelltes „Merkblatt" von 75 S. Umfang über „Contempt of court im englischen Recht"; s. Bundesarchiv, R 22/989 (Reichsjustizministerium. Material der Strafrechtskommission. Sonderband 4045). 234 Mezger aaO (Fußn. 230) S. 30. — Nur kopfschüttelnd kann man, angesichts der damaligen Situation der Presse, die weitere Äußerung Mezgers registrieren, derartige Mittel könnten aber „erst hinterher eingesetzt werden, weshalb eine Abschreckung durch Strafdrohung erforderlich sei" (aaO). 235 Entfällt. 236 Eb. Schmidt, Einführung S. 450. — Dieser Entwurfsfassung war auch eine Begründung beigefügt, die allerdings für unser Thema keine zusätzlichen Erkenntnisse bringt. 237 Eb. Schmidt aaO.
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Die Legalordnung des Strafgesetzbuches blieb somit auch während der Zeit der NSHerrschaft unverändert. Nur innerhalb einzelner Bereiche des Besonderen Teils wurden durch Spezialgesetze Änderungen vorgenommen 238 . D a die Gesetzgebung der ersten Nachkriegsjahre — abgesehen von der Ausscheidung des Tatbestandes der „Verletzung der D i n g p f l i c h t " aus dem Strafgesetzbuch 2 3 9 — zwar i n Details, nicht jedoch i m Ensemble der „Rechtspflegedelikte" Änderungen brachte, gilt unser nächster Blick bereits den Beratungen der Großen Strafrechtskommission. Sie n a h m i m Jahre 1957 die Beratungen über die Systematik des Besonderen Teils eines neuen Strafgesetzbuches auf. Z u dieser Thematik lagen ihr Gutachten v o n Maurach u n d Schneidewin vor. Maurach schlug vor, den Besonderen Teil des zu schaffenden Strafgesetzbuches als Rechtsgüterordnung zu konzipieren, als oberstes Einteilungsprinzip Straftaten gegen Einzelpersonen und Straftaten gegen die Gesamtheit zu wählen und die zuerst genannten an den Anfang zu stellen. Die zweite Gruppe sollte die Straftaten gegen überstaatliche Gemeinschaftswerte und Straftaten gegen den Staat umfassen 240 . Die Staatsschutztatbestände sollten vier Gruppen — Straftaten gegen den Bestand des Staates, gegen die Staatsgewalt , gegen die Rechtspflege und gegen die Reinheit der Amtsßhrung — umfassen 241 . Zu den Rechtspflegedelikten sollten gehören: — Aussagedelikte („Falsche Beweisaussage") — Irreführung der Rechtspflegeorgane: §145 a StGB (Vortäuschung einer Straftat), §§164,165 StGB (Falsche Verdächtigung eines Anderen), §§138,139 StGB (Nichtanzeige von Verbrechen) — Begünstigung: Sachliche und persönliche Begünstigung (§§257, 258 a.F. StGB), Verkehrsunfallflucht (§142 a.F. StGB), Gefährdung einer Entziehungskur (§ 330 b a.F. StGB) 2 4 2 . Nicht einbezogen werden sollten die Gefangenenbefreiungsdelikte , die — wenn auch als Grenzfall — den „Straftaten gegen die Staatsgewalt" zugeordnet werden sollten 243 , sowie sämtliche einschlägigen Amtsdelikte (Rechtsbeugung, Aussageerpressung, Verfolgung Unschuldiger, Vollstreckung gegen Unschuldige, Persönliche Begünstigung im Amt, Entweichenlassen von Gefangenen), welche einen eigenen Titel „Vereitelung ordnungsgemäßer Strafverfahren" innerhalb der „Straftaten gegen die Reinheit der Amtsführung" bilden sollten 244 . Auch Schneidewin empfahl die hergebrachte Einteilung nach „Materien, die sich ihrerseits je nach dem geschützten Rechtsgut voneinander abheben", als das auch für ein 238 Zur tiefgreifendsten Änderung — der Umgestaltung des Abschnittes über die Aussagedelikte — s. ausführlich die im Vorwort angekündigte Monographie des Verf. Im übrigen erwähnenswert ist vor allem die Einführung des § 145 d in das Strafgesetzbuch im Mai 1943. Sie stützte sich auf §366 E 1936. 239 Näher 6. Kap. sub C I I 2 b. 240 Maurach , Systematik aaO S. 238 f. 241 S. 243. 242 S. 246. 243 S. 245. 244 S. 246.
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. Kapitel
neues Gesetz „allein Mögliche" 2 4 5 . . . Jedoch plädierte er für einen Verzicht auf weitgehende Obereinteilungen, da diese leicht zu „Künsteleien und Unzulänglichkeiten" führen könnten 2 4 6 . Wichtig sei jedoch die innere Homogenität der Abschnitte; es dürfe nichts in ihnen stehen, was nicht von dem in der Überschrift gekennzeichneten Stoff umfaßt werde, andererseits müsse alles, was das Gesetz zu diesem Stoff bringe, dort auch vereinigt werden. In Zweifelsfallen müsse „mit Bedacht die bestmögliche Stelle gewählt" werden 247 . Auch Schneidewin schlug die Einrichtung eines eigenen Abschnittes „Angriffe auf die Rechtspflege" v o r 2 4 8 . Dieser sollte in der Nachbarschaft der Urkundendelikte angesiedelt werden. Umfassen sollte er die Aussagedelikte 1* 9, die Falsche Anschuldigung 250, die Vortäuschung einer Straftat 251, die Persönliche Begünstigung (Strafvereitelung) 252, sowie — wenn auch als Grenzfall — das Unterlassen einer Verbrechensanzeige 253. Nicht einbezogen werden sollten Gefangenenbefreiung und -meuterei, welche Schneidewin dem Abschnitt „Auflehnung gegen die Staatsgewalt" zugeordnet sehen wollte 2 5 4 . Der Partei verrat sollte dem Abschnitt über Amts- und Berufspflichtverletzungen inkorporiert werden. Diesem Abschnitt sollten auch die „Amtsverbrechen gegen die Rechtspflege" 255 zugeordnet werden. I n der Vorberatung der Großen Strafrechtskommission wurde nach längerer Diskussion einhellig beschlossen, den Besonderen Teil nach Angriffsobjekten zu gliedern u n d die betreffenden Titel zu Abschnitten zusammenzufassen 2 5 6 . Allerdings überwog die Auffassung, daß eine derartige Zusammenfassung nur der besseren Übersichtlichkeit dienen, nicht jedoch die Rechtsanwendung auf bestimmte Rechtsgutauffassungen festlegen s o l l t e 2 5 7 , zumal eine restlos aufgehende Systematisierung als nicht erreichbar angesehen w u r d e 2 5 8 . Bereits i n diesem Stadium der Beratungen wurden jene Abschnitte gutgeheißen, welche später m i t einigen sprachlichen M o d i f i k a t i o n e n auch den Besonderen Teil des E 1960 bzw. E 1962 ausmachten: Straftaten gegen die Person, die Sittenordnung , das Vermögen, die öffentliche Ordnung, den Staat u n d die Völkergemeinschaft 259. D e m Abschnitt „Straftaten gegen den Staat" sollte u.a. der Titel „Straftaten gegen die Rechtspflege" angehören. 245
Schneidewin, Systematik aaO S. 174. AaO. 247 S. 174. 248 S. 195. 249 S. 196. 250 S. 197. 251 Ibd. 252 Ibd. 253 Ibd. 254 S. 198. 255 §§336, 343, 346 a.F. StGB (aaO S. 190). 256 Prot. GrStrK., Bd 5, S. 148 f. (58. Sitzung v. 1. 11. 1957). 257 So die Äußerungen mehrerer Kommissionsmitglieder. 258 So insb. Welzel in seinem Referat (aaO S. 137 ff.), ferner z. B. Bockelmann (aaO S. 144), Dünnebier (aaO S. 146), Dreher (aaO S. 146). 259 Prot. GrStrK. Bd 5, S. 260 (Anhang A Nr. 16). 246
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N a c h Abschluß der Detailberatungen z u m Besonderen Teil wurde die Problematik v o n der K o m m i s s i o n nochmals aufgegriffen 2 6 0 . A u c h bei dieser Beratung wurde betont, daß es „ k e i n zwingendes System des Besonderen Teils (gebe), daß kein A u f b a u ohne eine mehr oder weniger gewaltsame Einordnung einzelner Tatbestände a u s k o m m ( e ) " 2 6 1 . Angeregt wurde, die Rechtspflegedelikte nicht dem Abschnitt über Staatsschutzdelikte, sondern jenem über Delikte gegen die öffentliche Ordnung einzuverleiben 262 . Da jedoch Rechtspflegedelikte und „Straftaten gegen den öffentlichen Dienst" benachbart bleiben sollten 263 , letztere aber eher den Staatsschutzdelikten als den Delikten gegen die öffentliche Ordnung zuzuordnen waren, verwarf man diese Anregung, wählte aber gleichzeitig eine „weichere" Überschrift für die Staatsschutzdelikte; sie sollte nunmehr lauten „Straftaten gegen den Staat und seine Ordnung 264. In der Endfassung lautete die Überschrift „Straftaten gegen den Staat und seine Einrichtungen" 265. Der Titel über „Gefährdung der Rechtspflege" enthielt die Zwischenüberschriften „Falsche A u s s a g e " 2 6 6 u n d „ A n d e r e Straftaten gegen die Rechtspflege". Z u den letzteren sollten g e h ö r e n 2 6 7 — — — — — — — — — — —
Falsche Verdächtigung Vortäuschen einer Straftat Strafvereitelung Strafvereitelung im Amt Unterlassene Verbrechensanzeige Fälschung und Unterdrückung von Beweismitteln Störung der Strafrechtspflege 268 Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen Aussagenerpressung Rechtsbeugung Verfolgung Unschuldiger 260
Prot. GrStrK. Bd 10, S. 37 ff. (114. Sitzung v. 24. 10. 1958). Schwalm aaO S. 370. 262 Vorschläge von Baldus, Lange, Schafheutie aaO S. 373 f. 263 d e n Rechtspflegedelikten auch die „amtsträgertypischen" Rechtspflegedelikte zugeordnet werden sollten (dazu sogleich). 264 AaO S. 376. 265 Überschrift zu §§431 ff. E 1960 und zu §§361 ff. E 1962. 266 Hierzu eingehend die im Vorwort angekündigte Monographie des Verf. 267 Prot. GrStrK., Bd 10, S. 491 (Anhang Nr. 17, Umdruck J 102). 268 §452 E 1960: „Wer während eines Strafverfahrens dessen künftigen Ausgang oder den Wert eines Beweismittels vor dem Urteil des ersten Rechtszuges öffentlich in Druckschriften, in Film- oder Funkdarstellungen oder in einer Versammlung in einer Weise erörtert, die der amtlichen Entscheidung in diesem Verfahren vorgreift . . . " §452 E 1962 ergänzt die Vorschrift durch Einbeziehung von Mitteilungen, „über das Ergebnis nichtamtlicher Ermittlungen, die sich auf die Sache beziehen", wenn die Mitteilung „geeignet ist, die Unbefangenheit der Mitglieder des Gerichts, der Zeugen oder der Sachverständigen oder sonst die Findung der Wahrheit oder einer gerechten Entscheidung zu beeinträchtigen". 261
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. Kapitel
— Vollstreckung gegen Unschuldige — Parteiverrat.
Dieses Tatbestandsensemble findet sich auch in den Endfassungen (E 1960 und E 1962) wieder 269 . Gefangenenmeuterei und Gefangenenbefreiung sind dem Titel „Auflehnung gegen die Staatsgewalt" zugeordnet 270 , Richterbestechlichkeit und Richterbestechung dem Titel „Straftaten gegen den öffentlichen Dienst", Hehlerei und Sachliche Begünstigung einem eigenen Titel des Abschnitts über Vermögensdelikte. Im übrigen sind alle Tatbestände, welche oben im 2. Kapitel als mögliche Rechtspflegeschutztatbestände aufgeführt sind, in der erwähnten Untergruppe zusammengefaßt. Hinzugekommen sind die Unterdrückung von Beweismitteln sowie Störung der Strafrechtspflege . Bekanntlich führten die Bemühungen um die Strafrechtsreform nur im Bereich des Allgemeinen Teils zu einer umfassenden Neukomposition des Strafgesetzbuches. Der Besondere Teil erfuhr nur in Teilbereichen völlige Neubearbeitungen. Von ihnen ist hier nur die seit langem einhellig geforderte Trennung der Strafvereitelung von der sachlichen Begünstigung und die entsprechende Neustrukturierung des 21. Abschnitts erwähnenswert. Die Verfasser des Alternativentwurfs haben bislang nur Vorschläge zu einzelnen Komplexen des Besonderen Teils vorgelegt; von ihnen tangiert aber keiner unseren Untersuchungsbereich.
269 Ausnahme: Statt der Fälschung und Unterdrückung von Beweismitteln findet sich in §451 E 1960 nur noch die Unterdrückung von Beweismitteln; im E 1962 ist die Vorschrift gänzlich entfallen. 270 §§423, 425 E 1960; §§423, 425 E 1962.
4. Kapitel Rechtsvergleichendes Material 1 Für den kurzen rechtsvergleichenden Überblick, der die Materialsammlung fortführen soll, wählen wir die Strafgesetzbücher der am nächsten benachbarten europäischen Staaten aus. Die Willkürlichkeit dieser Auswahl 2 wird durch den Vorteil ausgeglichen, daß die herangezogenen Gesetzbücher etwa je zur Hälfte eine zusammenfassende Regelung der — so oder ähnlich bezeichneten — Rechtspflegedelikte enthalten und nicht enthalten. Dieser Gesichtspunkt bestimmt auch die Gliederung. A. Strafgesetzbücher ohne „Rechtspflegedelikte" Der französische Code penai von 1810 3 ist zwar seit seinem Erlaß durch zahlreiche Gesetze und Verordnungen geändert worden; sein systematischer Aufbau ist jedoch dabei erhalten geblieben4. Dem Besonderen Teil 5 liegt die Unterscheidung der Verbrechen und Vergehen „gegen die öffentliche Ordnung" (Art. 70ff. c.p.) von denen „gegen Privatpersonen" 6 (Art. 295 ff. c.p.) 7 zugrunde. Gleich das erste Kapitel des ersten Titels enthält unter den Staatsschutzdelikten einige rechtspflegebezogene Tatbestände. Der 4. Abschnitt dieses Kapitels („Übergriffe der Verwaltungs- und Justizbehörden" — Art. 127ff.) stellt u.a. unter Strafe — Übergriffe von Richtern und Strafverfolgungsbeamten in die gesetzgebende Gewalt (Art. 127 Ziff. 1)
1 Weiteres Material zu den Aussagedelikten bei Herrmann, Aussagetatbestände S. 48 ff., Stooß, Meineid aaO S. 312 ff. 2 Solche Willkürlichkeit dürfte jeder Auswahl anhaften. Herrmann aaO bezieht z. B. das brasilianische StGB in seine Darstellung ein, übergeht jedoch das niederländische StGB. 3 Übersetzungen nach der Edition von GötzI Göhler (s. QVerz.). 4 Zur Legalordnung der französischen Strafgesetzgebung seit 1791 Oehler, Legalordnung S. 127 ff. 5 Art. 70 ff. c. p.; die Polizeiübertretungen sind in einem eigenen (dem 4.) Buch zusammengefaßt. 6 „Crimes et délits contre la chose publique" (Erster Titel); „Crimes et délits contre les particuliers" (Zweiter Titel). 7 Kritisch zu dieser Legalordnung Oehler, Legalordnung S. 132 ff.
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. Kapitel
— Übergriffe von Richtern und Strafverfolgungsbeamten in Befugnisse der Verwaltungsbehörden (Art. 127 Ziff. 2 ) 8 , 9 — Übergriffe von Verwaltungsbeamten in die richterliche Gewalt (Art. 131).
Zu den Amtsverbrechen, welche zusammen mit den Fälschungsdelikten den Abschnitt „Verbrechen und Vergehen gegen den öffentlichen Frieden" ausmachen, findet sich im Unterabschnitt „Mißbrauch der Amtsgewalt" 10 u.a. der Tatbestand der — Rechtsverweigerung 11 (Art. 185).
Im Abschnitt über „Widerstand, Ungehorsam und andere Verfehlungen gegen die Staatsgewalt" finden sich die Tatbestände — (Nichtöffentliche) Beleidigung von (höheren Beamten und) Richtern und Geschworenen 12 ' 1 3 (Art. 222) — Öffentliche Urteilsschmähung (Art. 226) — Unzulässige öffentliche Einflußnahme auf ein Strafverfahren (§227) — Unwahre Entschuldigung von Zeugen und Geschworenen (Art. 236) — Entweichenlassen von Häftlingen (und Kriegsgefangenen) (Art. 237-244) — Entweichen von Häftlingen (Art. 245)
8 Ziff. 1: „ . . . indem sie Vorschriften erlassen, die der Gesetzgebung vorbehaltene Bestimmungen enthalten, indem sie die Ausführung eines oder mehrerer Gesetze aufhalten oder verzögern oder indem sie darüber beraten, ob die Gesetze veröffentlicht oder ausgeführt werden sollen." Ziff. 2: „ . . . indem sie Vorschriften über ... Sachgebiete (,die den Verwaltungsbehörden zugewiesen sind,) erlassen, indem sie die Ausführung von Verfügungen der Verwaltungsbehörden verbieten oder indem sie in der Vollstreckung ihrer Urteile oder Verfügungen fortfahren, nachdem sie die Vorladung von Verwaltungsbeamten wegen deren Amtstätigkeit gestattet oder angeordnet haben, obwohl die Nichtigkeit ihrer Urteile oder Anordnungen ausgesprochen oder die Erhebung eines Zuständigkeitsstreites bekanntgemacht war." 9 Art . 128 bedroht Richter mit Strafe, die entgegen dem förmlichen Antrag einer Verwaltungsbehörde vor der Entscheidung einer höheren Stelle ein Urteil in einer bei ihnen anhängigen Sache erlassen. Auch der Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Anträge auf ein solches Urteil stellt, macht sich strafbar. — Nach Art. 129 macht sich der Richter (und der antragstellende Staatsanwalt) strafbar, der ohne Ermächtigung der Regierung Verfügungen oder Befehle gegen deren Beamte erläßt, die der Begehung von Verbrechen oder Vergehen in Ausübung ihres Amtes beschuldigt werden. 10 Art. 184 ff. c. p. 11 „Jeder Richter oder jedes Gericht, jeder Verwaltungsbeamte und jede Verwaltungsbehörde, die unter irgendeinem Vorwand, selbst dem des Schweigens oder der Unklarheit des Gesetzes, den Parteien nach Antragstellung die ihnen zustehende Entscheidung verweigern und die nach Anweisung oder Befehl der vorgesetzten Behörde bei ihrer Weigerung verharren . . . " — Vgl. hierzu auch Art. 4 Code civil (1804): „Unter dem Vorwand des Schweigens, der Dunkelheit oder der Unzulänglichkeit des Gesetzes darf der Richter einen Urteilsspruch nicht ablehnen." 12 U. zw. nur „bei der Ausübung ihres Amtes oder bei Gelegenheit dieser Tätigkeit". 13 Qualifikationen nach Art. 223,224 bei Verwendung von Gesten, Drohungen und bei „Zusendung irgendwelcher Gegenstände (envoi d'objets quelconques)".
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— Schmuggel von Kassibern und anderen Gegenständen von Häftlingen oder an Häftlinge (Art. 248) I m T i t e l über „Verbrechen u n d Vergehen gegen Privatpersonen" finden sich Falschaussage 1 4 , Verleumdung, Beleidigung u n d Geheimnisverrat i n einem gemeinsamen Abschnitt. Sie bilden den siebenten Abschnitt i m K a p i t e l „Verbrechen u n d Vergehen gegen die Person": — Falsche Aussage in einer Verbrechenssache zuungunsten oder zugunsten des Angeklagten (Art. 361 ) 1 5 — Falsche Aussage in einer Vergehenssache zuungunsten oder zugunsten des Beschuldigten (Art. 362 Abs. I ) 1 6 — Falsche Aussage in einer Übertretungssache zuungunsten oder zugunsten des Beschuldigten (Art. 362 Abs. 3) 1 7 — Falsche Aussage in einer Zivilsache oder vor einem Verwaltungsgericht (Art. 363) 17 — Bestimmen eines anderen zur Abgabe einer falschen Aussage, Erklärung oder Bescheinigung im Prozeß (Art. 365) — Falsches Schwören eines zugeschobenen oder zurückgeschobenen Eides (Art. 366) — (Vorsätzliche) falsche Übersetzung des Dolmetschers in einer Verbrechens-, Vergehens- oder Zivilsache (Art. 367) 18 — Verleumderische Anzeige (Art. 373). W i e die meisten Strafgesetzbücher des frühen u n d mittleren 19. Jahrhunderts enthält auch der Code pénal i m Allgemeinen Teil mehrere Vorschriften, welche nach heutigem Verständnis als spezielle Straftatbestände aufzufassen sind: — Strafvereitelung (Art. 61 Abs. 2) — Nichtanzeige drohender Verbrechen und solcher Verbrechen, die in ihrer Wirkung noch beschränkt werden können (Art. 62 Abs. I ) 1 9 — Nichtverhinderung von Verbrechen und von Vergehen gegen die körperliche Unversehrtheit einer Person (Art. 63 Abs. I ) 2 0 — Nichtanzeige der Unschuld einer in Untersuchungs- oder Strafhaft befindlichen Person (Art. 63 Abs. 3). Das Belgische Strafgesetzbuch von 1867 21 welches den bis dahin auch i n Belgien geltenden französischen Code pénal ablöste 2 2 , faßt i m 2. Buch die
14 Zu den Aussagedelikten Herrmann, Aussagetatbestände S. 52 ff.; Stoll, Aussagedelikte aaO, insb. S. 145; Stooß, Meineid aaO S. 327 ff. 15 Qualifikation bei Verurteilung des Angeklagten zu einer schweren Strafe (Art. 361 Abs. 2) sowie bei Vorteilsannahme (Art. 364 Abs. 1). 16 Qualifikation bei Verurteilung des Beschuldigten zu schwerer Strafe (Art. 362 Abs. 2) sowie bei Vorteilsannahme (Art. 364 Abs. 2). 17 Qualifikation bei Vorteilsannahme (Art. 364 Abs. 3). 18 Gem. Art. 367 Abs. 2 wird „die Beeinflussung des Dolmetschers . . . wie die Beeinflussung eines Zeugen nach den Bestimmungen des Art. 365 bestraft". 19 Angehörigenprivileg nach Abs. 2. 20 In Abs. 2 schließt sich der Tatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung an. 21 Übersetzung von Grützner/ Kieckebusch (s. QVerz.).
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Verbrechen u n d Vergehen 2 3 zu neun Teilen zusammen, v o n denen die ersten sechs als Delikte gegen Staat u n d Gesellschaft aufgefaßt werden k ö n n e n 2 4 ; der siebente Teil enthält Delikte gegen „ F a m i l i e n o r d n u n g u n d öffentliche S i t t l i c h k e i t " 2 5 ; den Abschluß bilden die Deliktsgruppen „gegen die P e r s o n " 2 6 u n d „gegen das E i g e n t u m " 2 7 . I m dritten Teil ( „ V o n den Verbrechen u n d Vergehen gegen den öffentlichen Glauben") finden sich neben den Fälschungsdelikten u n d der A m t s - u n d Titelanmaßung die Aussagedelikte: — Falsches Zeugnis in einer Verbrechenssache zum Nachteil oder zugunsten des Angeklagten (Art. 215) (Qualifikation für den Fall der Verurteilung des Angeklagten zu einer schweren Strafe; Privilegierung bei „einfachen Auskünften") 2 8 — . . . in einer Besserungssache (Art. 218) — . . . in einer Polizeisache (Art. 219) — . . . in Zivilsachen (Art. 220) — Falsche Erklärung eines Dolmetschers oder Sachverständigen zum Nachteil oder zugunsten des Angeklagten oder (in Zivilsachen:) einer Partei (Art. 221) — Verleitung von Zeugen, Sachverständigen oder Dolmetschern zur Falschaussage (Art. 223) — Bestechlichkeit von Zeugen, Sachverständigen oder Dolmetschern (Art. 224) — Falsches Schwören eines zugeschobenen oder zurückgeschobenen Eides (Art. 226). I m vierten Teil, der die Amtsdelikte enthält, finden sich Vorschriften zum Schutz der Gewaltenteilung, die bereits bei der Betrachtung des französischen Code pénal begegnet s i n d 2 9 . I m K a p i t e l über Amtsunterschlagung findet sich ein besonderer Tatbestand der — Unterschlagung oder Zerstörung strafrechtlicher Schriftstücke oder Verfahrensunterlagen (Art. 242) Das K a p i t e l über die Bestechung öffentlicher Bediensteter enthält die Spezialtatbestände
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s. Marchai, Einleitung aaO S. 1 f. Die Übertretungen sind — ähnlich wie die contraventions des französischen Code pénal — in einem eigenen Teil zusammengefaßt (Teil X). 24 Verbrechen und Vergehen gegen den Staat (Teil I), gegen die durch die Verfassung gewährleisteten Rechte (Teil II), gegen den öffentlichen Glauben (Teil III), gegen die öffentliche Ordnung durch öffentliche Bedienstete in Ausübung ihrer Tätigkeit (bzw. durch Geistliche in Ausübung ihres Amtes) (Teil IV), gegen die öffentliche Ordnung durch Privatpersonen (Teil V), gegen die öffentliche Sicherheit (Teil VI). 25 Art. 348 ff. 26 Art. 392 ff. 27 Art. 461 ff. 28 Art. 216, 217. 29 s. o. b. Fußn. 8 ff. (Art. 127 ff. frz. c. p. = Art. 237 ff. belg. StGB [2. Kap. des 4. Teils]). 23
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— Richterbestechlichkeit — Geschworenenbestechlichkeit 30 Spuren des französischen Gesetzbuches haben sich auch i m K a p i t e l „ V o m A m t s m i ß b r a u c h " erhalten, der nach französischem V o r b i l d den Tatbestand der — Rechtsverweigerung (§258) enthält. I m sechsten Teil ( „ V o n den Verbrechen u n d Vergehen gegen die öffentliche Sicherheit") normiert das 3. K a p i t e l die das Entweichen v o n Gefangenen betreffenden Tatbestände 3 1 . Das folgende K a p i t e l enthält die Tatbestände — Strafvereitelung (Art. 339) 32 — Strafvollstreckungsvereitelung (Art. 339) 32 . — Verbergen der Leiche eines Getöteten (Art. 340) 33 . Der achte Teil enthält i m K a p i t e l „ V o n der Verletzung der Ehre u n d der Wertschätzung der Person" die — Falsche Verdächtigung („Schriftliche verleumderische Anzeige bei einer Behörde") (Art. 445) 34 . A u c h das Dänische Strafgesetzbuch von 193035 enthält unter den 18 K a p i t e l n des Besonderen Teils 3 6 keines über Rechtspflegedelikte. Einschlägige Tatbestände finden sich zunächst i m K a p i t e l über „Straftaten gegen die öffentliche Gewalt"37: — Richternötigung (§119 Abs. 2) 3 8 — Entweichen von Gefangenen (§123) — Gefangenenbefreiung (§124)
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Weitere Tatbestände, die alle öffentlichen Bediensteten — also auch Richter und Staatsanwälte — betreffen, werden hier nicht näher angeführt. 31 Art. 332 ff. 32 Nur die Begehungsweisen „Verbergen" und „Verbergenlassen" der verfolgten oder verurteilten Person. 33 Bei beiden erwähnten Tatbeständen Angehörigen- bzw. Beteiligtenprivileg (Art. 341). 34 Zu erwähnen ist ferner der bei den „Eigentums"-Delikten im Kapitel über „Betrügereien" eingeordnete Tatbestand der „Unterdrückung von Beweisurkunden" (Art. 495): „Wer nach ihrer Vorlage in einem Rechtsstreit eine Beweisurkunde, ein Schriftstück oder eine Denkschrift, gleichgültig auf welche Weise, böswillig oder betrügerischerweise beiseite schafft . . . " 35 Benutzt wurde die auf der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Juli 1963 beruhende Übersetzung von Marcus (s. QVerz.). Zu den nachfolgend behandelten Tatbeständen vgl. Marcus, Strafrecht Dänemarks aaO S. 141 ff. 36 12.-29. Kapitel. 37 14. Kapitel (§§ 119 ff.). 38 Parallel zu der in Abs. 1 geregelten Beamtennötigung formuliert. 4*
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— Strafvereitelung (§ 125) 39 . — Nichtverhinderung und Nichtanzeige drohender schwerer Verbrechen (§ 141) 40 .
Im Kapitel über Amtsdelikte (16. Kapitel: „Straftaten in öffentlichem Amt oder Auftrag") finden sich u. a. folgende Tatbestände: Rechtsbeugung (§146) 41 Aussagenerpressung (§147) 42 Rechtswidrige Zwangsmaßnahmen42 (Vorsätzliche oder grobfahrlässige) Nichteinhaltung von Verfahrensvorschriften (§148) 43 — Entweichenlassen von Gefangenen durch Aufseher (§149). — — — —
Das wiederum sich anschließende Kapitel über „Falsche Erklärung und Falsche Anschuldigung" 44 enthält folgende Tatbestände: — Falsche Erklärung vor Gericht oder einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen Behörde (§158 Abs. I ) 4 5 — Grobfahrlässige Falschaussage (soweit sie bei vorsätzlicher Begehung strafbar wäre)
(§160) — Falsche eidesstattliche Versicherung (§162)^ — Falsche Verdächtigung (§164) — Vortäuschen einer Straftat (§165).
39 In den Begehungsformen des Verbergens, der Fluchthilfe und des Ausgebens für einen anderen (Abs. 1 Ziff. 1). Gleichgestellt ist gem. Ziff. 2 die Vernichtung, Veränderung und Unterdrückung von Beweisgegenständen und die Verwischung von Tatspuren (Abs. 1 Ziff. 2). — Straffreiheit bei Beteiligung an der Vortat und bei Handeln zugunsten eines Angehörigen. 40 Vor allem (enumerativ aufgeführte) Staatsschutzverbrechen. 41 „Wer im Besitz richterlicher Gewalt oder einer amtlichen Befugnis ist, in Rechtsverhältnissen, die den einzelnen betreffen, Entscheidungen zu treffen, und bei der Entscheidung oder Behandlung der Sache eine Ungerechtigkeit begeht . . . " 42 „Wer bei der Handhabung der staatlichen Strafgewalt mitzuwirken hat und dabei ungesetzliche Mittel anwendet, um ein Geständnis oder eine Erklärung zu erlangen oder eine gesetzwidrige Festnahme, Verhaftung, Durchsuchung oder Beschlagnahme vornimmt . . ." 43 „ . . . es unterläßt, bei der Behandlung des Falles oder einzelner Rechtshandlungen oder bei der Festnahme, Verhaftung, Durchsuchung, Beschlagnahme oder ähnlichen Maßnahmen das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zu beobachten . . . " 44 §§158-165 (17. Kapitel). 45 Strafmilderungsmöglichkeit, falls die bekundeten Umstände für den aufzuklärenden Sachverhalt ohne Bedeutung gewesen sind (§158 Abs. 2). Straflosigkeit für den Beschuldigten in Strafsachen sowie in den Fällen, in denen kraft Gesetzes eine Erklärung nicht verlangt werden darf (§159 Abs. 1); Strafmilderungsmöglichkeit, wenn Zeugnisverweigerungsberechtigter ausgesagt hat (§159 Abs. 2 Fall 1); Strafaufhebungsmöglichkeit, falls diese Aussage nicht beeidet ist. 46 §163 stellt falsche schriftliche Versicherungen und schriftliche Versicherung trotz Unkenntnis des versicherten Umstandes, soweit sie „zum Gebrauch in öffentlichen Rechtsverhältnissen" abgegeben werden, unter Strafe.
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Alle hier interessierenden Straftatbestände sind also in nur drei Kapiteln enthalten und zwar in solchen, die dem Schutz öffentlicher Interessen gewidmet sind. Der Besondere Teil des Tschechoslowakischen Strafgesetzbuches von 1961* 1, welcher in zwölf Hauptstücke eingeteilt ist, wird eröffnet durch die Staatsschutzdelikte (1. Hauptstück) 48 und die „Straftaten gegen die Wirtschaftsdisziplin" 49 (2. Hauptstück). Das dritte Hauptstück („Straftaten gegen die Ordnung in öffentlichen Angelegenheiten") enthält Abschnitte über Delikte gegen die Tätigkeit von Amtsträgern 50 , über Delikte der Amtsträger selber 51 , Bestechung 52 , Formen strafbarer Mitwirkung 5 3 sowie sonstige Störungen der Tätigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Organe 54 . In den genannten Kapiteln finden sich die einschlägigen Straftatbestände; zu berücksichtigen ist, daß bei den gegen Amtsträger gerichteten Delikten ebensowenig wie bei den Amtsdelikten zwischen Verwaltungsbeamten, Strafverfolgungsbeamten und Richtern unterschieden wird, sondern fast durchweg von „öffentlichen Funktionären" geredet wird 5 5 , so daß die im Gesetzbuch enthaltenen Vorschriften über Nötigung von Amtsträgern (§§153 ff.), Amtsmißbrauch (§§158 f.), Bestechung (§§ 160 ff.) auch auf Justizangehörige Anwendung finden. Als „Formen strafbarer Mitwirkung" normiert das Gesetz — — — — — —
Öffentliche Aufreizung zu Straftaten (§164) Öffentliches Gutheißen einer Straftat (§165 Abs. 1) Belohnen oder Entschädigen eines Straftäters (§165 Abs. 2) Strafvereitelung (§166) 56 Nichtverhinderung einer Straftat 57 (§167) Nichtanzeige einer Straftat (§168) 58 .
Von „anderen Störungen" stellt das Gesetz u. a. unter Strafe — (Vorsätzliche oder fahrlässige) Vereitelung und Gefahrdung der Tätigkeit . . . eines Gerichts (§§169, 170) — Strafvollstreckungsvereitelung (einschl. Entweichen von Gefangenen) (§171) — Gefangenenmeuterei (§172) 47 48 49 50 51 52 53 54 ss 56 57 58
Benutzt wurde die von Schmied besorgte Übersetzung (s. QVerz.). §§91 ff. tsch. StGB. §§125 ff. §§153 ff. §§158 ff. §§160 ff. §§164 ff. §§169 ff. Ausnahme z. B. in §153, wo „Gerichte" gesondert aufgeführt werden. Mit (eingeschränktem) Angehörigenprivileg (§166 Abs. 2). Nur bei bestimmten, enumerativ aufgeführten Straftaten. Wie Fußn. 54.
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— Falsche Anschuldigung (§174) — Falsche Aussage (§175) 59 . A u c h dieses Gesetz regelt somit die einschlägigen Tatbestände i n enger Nachbarschaft u n d bringt den Zusammenhang dieser Delikte durch den gemeinsamen Bezug zu „öffentlichen Angelegenheiten" z u m Ausdruck. A u c h das zuletzt 1976 überarbeitete 6 0 Niederländische Strafgesetzbuch (Wetboek van Strafrecht) von 1881 61 besitzt zwar keinen eigenen Abschnitt über Rechtspflegedelikte; jedoch findet sich die große Mehrzahl der einschlägigen Tatbestände i m 8. Titel des Besonderen Teils 6 2 , der die „Verbrechen gegen die Staatsgewalt" e n t h ä l t 6 3 . Der Meineid ist i m folgenden 9. T i t e l 6 4 geregelt, welchem sich drei Titel über Fälschungsdelikte anschließen 6 5 . Schließlich verdient auch hier der T i t e l über Amtsverbrechen 6 6 unsere A u f m e r k s a m k e i t 6 7 . Der 8. Titel enthält u. a. folgende Tatbestände: — Richterbestechung (Qualifikation, wenn die Verurteilung in einer Strafsache angestrebt wird [Art. 178]) — Störung einer Gerichtssitzung (Art. 185) 68 — Vortäuschen einer Straftat (Art. 188) 69
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Bestraft wird nach §175, „wer als Zeuge, Sachverständiger oder Dolmetscher vor einem Gericht, vor einem Prokurator oder einem Untersuchungsorgan, das eine Untersuchung nach der Strafprozeßordnung vornimmt, oder vor einem staatlichen Notar, der Entscheidungen trifft, a) die Unwahrheit über einen Umstand, der wesentliche Bedeutung für die Entscheidung hat, aussagt, oder b) einen solchen Umstand verschweigt". Qualifikation gem. §175 Abs. 2, wenn der Täter durch die Tat „einen erheblichen Schaden oder eine andere wichtige Folge herbeiführt". 60 Zur Entwicklung des niederländischen Strafrechts s. die Darstellung von Schaffmeist er, Entwicklung aaO. 61 Soweit nicht anders angegeben, wurde die Übersetzung von Schaffmeister (s. QVerz.) benutzt. Holländische Angaben nach der Textausgabe von de Wit (s. QVerz.). 62 Art. 177 ff. 63 „Misdrijven tegen het openbaar gezag". 64 Art. 207, 207 a W.v.Str. („Meineed"). 65 10. Titel: Fälschung von Münzen, Geldscheinen und Banknoten („Valschheid in muntspecien of munt- en bankbiljetten"); 11. Titel: Fälschung von Siegeln und Zeichen („Valschheid in tegels en merken"); 12. Titel: Fälschung von Schriftstücken („Valschheid in geschriften"). 66 28. Titel, §§355-380 („Ambtsmisdrijven"). 67 Der 30. Titel (Begünstigung / Beginstiging) enthält —entgegen seiner nach deutschem Sprachgebrauch auf ein mögliches Rechtspflegedelikt hinweisenden Überschrift — Vorschriften über Hehlerei und über das Verbreiten strafbarer Schriften und Abbildungen. 68 „Wer bei einer Gerichtssitzung . . . Unruhe erregt und sich nicht entfernt, nachdem dies von der zuständigen Behörde oder auf deren Veranlassung angeordnet worden i s t . . . "
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— Strafvereitelung durch persönliche Begünstigung (Art. 189 Abs. 1 Ziff. 1) oder durch Beweismittelfälschung (Art. 189 Abs. 1 Ziff. 2) 7 0 — Verhinderung, Behinderung oder Vereitelung einer gerichtlichen Leichenschau (Art. 190) — Gefangenenbefreiung (Art. 191) — Nichterfüllung der Pflicht von Zeugen, Sachverständigen oder Dolmetschern (Art. 192) 71 . — Nichterfüllung der Pflicht zur Vorlegung von Urkunden (Art. 193) 72 .
Der Titel über Meineid (9. Titel) regelt — Falsche Aussage unter Eid (Qualifikation bei Aussage in einer Strafsache zum Nachteil des Beschuldigten) (Art. 207) 73 — Falsche Aussage unter Eid vor einem internationalen Gericht (Art. 208).
Unter den Amtsverbrechen (28. Titel) sind auf die Rechtspflege zugeschnitten — Richterbestechlichkeit (Qualifikation bei Zusammenhang mit einem Strafurteil) (Art. 364) 74 — (Vorsätzliche oder fahrlässige) Nichtaufklärung des Verdachts einer widerrechtlichen Freiheitsentziehung durch Strafverfolgungsbeamte (Art. 368 Ziff. I ) 7 5 .
69 Art. 261 im 16. Titel („Beleidigung") regelt den „Angriff auf die Ehre eines anderen durch Vorwerfen einer bestimmten Tat". Ein dem deutschen §164 StGB entsprechender Tatbestand fehlt. 70 Art. 189 Abs. 2 enthält ein Selbstbegünstigungs- und Angehörigenprivileg (Straflosigkeit). 71 „Wer gesetzlich als Zeuge, als Sachverständiger oder als Dolmetscher vorgeladen wird und vorsätzlich einer gesetzlichen Verpflichtung, die er in dieser Eigenschaft zu erfüllen hat, nicht nachkommt, wird bestraft: (1) in Strafsachen mit Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten; (2) in anderen Sachen mit Gefängnisstrafe bis zu vier Monaten." 72 „Wer vorsätzlich einer gesetzlichen Anordnung zur Vorlegung einer Urkunde nicht nachkommt, von der behauptet wird, daß sie falsch oder verfälscht sei, oder die zur Vergleichung mit einer anderen dienen soll, deren Unechtheit oder Verfälschung behauptet oder deren Echtheit in Abrede gestellt oder nicht anerkannt wird, wird bestraft (1) . . .; (2) . . . (wie Art. 192)." 73 „(1) Wer in den Fällen, in denen eine gesetzliche Vorschrift eine Aussage unter Eid verlangt oder daran Rechtsfolgen knüpft, mündlich oder schriftlich, persönlich oder durch einen dazu besonders Bevollmächtigten vorsätzlich eine falsche Aussage unter Eid macht, wird mit Gefängnisstrafe bis zu sechs Jahren bestraft." (2) Wenn die falsche Aussage in einer Strafsache zum Nachteil des Beschuldigten gemacht wurde, wird der Schuldige mit Gefängnisstrafe bis zu neun Jahren bestraft. (3) · . ·" 74 Abs. 2: „Wird das Geschenk oder Versprechen in dem Bewußtsein angenommen, daß es gegeben wird, um eine Verurteilung in einer Strafsache zu erreichen, wird der Richter mit Gefängnisstrafe bis zu 12 Jahren bestraft." 15 Abs. 1: „ M i t Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren wird bestraft, (1) wer als mit der Ermittlung von Strafsachen beauftragter Beamter vorsätzlich der
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— Nichtmeldung des Verdachts einer widerrechtlichen Freiheitsberaubung durch Beamte (Art. 368 Ziff. 3) 7 6 . Z u erwähnen sind schließlich noch folgende i m 5. Titel („Verbrechen gegen die öffentliche O r d n u n g " ) geregelten Tatbestände: — Nichtanzeige drohender Verbrechen (Art. 135, 136 Abs. 1) — Nichtanzeige begangener Verbrechen, deren Folgen noch abwendbar sind (Art. 136 Abs. 2). B. Strafgesetzbücher mit „Rechtspflegedelikten 44 I n dem a m 1. Januar 1975 i n K r a f t getretenen österreichischen Strafgesetzbuch 11,18 ist der Abschnitt „Strafbare Handlungen gegen die Rechtspflege" 7 9 flankiert v o n Staatsschutzdelikten 8 0 u n d „Strafbaren Handlungen gegen den öffentlichen F r i e d e n " 8 1 einerseits, Amtsdelikten andererseits 8 2 . Er umfaßt 14 Paragraphen m i t folgenden Tatbeständen: — Falsche Beweisaussage83 als Zeuge, Auskunftsperson 84 oder Sachverständiger vor Gericht (§288 Abs. 1) — Falsche eidliche Beweisaussage vor Gericht (§288 Abs. 2 S. 1 Fall 1) — Falsches Schwören eines sonstigen Eides vor Gericht (§288 Abs. 2 S. 1 Fall 2) 8 5 Aufforderung, einen widerrechtlichen Freiheitsentzug aufzuklären, nicht nachkommt oder der vorgesetzten Behörde davon vorsätzlich nicht unverzüglich Kenntnis gibt; (2) wer als Beamter, nachdem er in Ausübung seines Amts Kenntnis davon erhalten hat, daß jemandem auf unrechtmäßige Weise die Freiheit entzogen ist, es vorsätzlich unterläßt, unverzüglich einen mit der Ermittlung von Straftaten beauftragten Beamten davon Kenntnis zu geben." Abs. 2 stellt fahrlässiges Verhalten unter Strafe. 76 Art. 365 regelt die Nötigung im Amt, erfaßt also Aussagenerpressung durch Strafverfolgungsbeamte. 77 Zur Vorgeschichte vgl. öst.EStGB 1964, S. 1 ff. 78 Die Darstellung von Herrmann, Aussagetatbestände (1973) S. 48 ff., basiert noch auf der Rechtslage vor dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches; zu dieser s. o. 3. Kap. sub Α. 79 §§288-301 öst.StGB 1975 (21. Abschnitt des BT). 80 14.-19. Abschnitt. 81 20. Abschnitt. 82 22. Abschnitt. 83 „Wer vor Gericht als Zeuge oder, soweit er nicht zugleich Partei ist, als Auskunftsperson bei seiner förmlichen Vernehmung zur Sache falsch aussagt oder als Sachverständiger einen falschen Befund oder ein falsches Zeugnis erstattet, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen." 84 Zu den Auskunftspersonen gehören vor allem Personen, die „nach den Vorschriften des Außerstreitrechts, des Exekutionsrechts und des Konkurs- und Vergleichsrechts zur Klärung fraglicher Umstände vernommen werden" (Leukauf / Steininger, StGB, §288 Rnr. 5). 85 §288 Abs. 3 dehnt die Strafbarkeit auf falsche Beweisaussagen vor Untersuchungsausschüssen und Disziplinarbehörden aus. §289 stellt die falsche Beweisaussage als Zeuge oder Sachverständiger vor einer Verwaltungsbehörde unter Strafe.
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Herbeiführung einer gutgläubig abgelegten unrichtigen Beweisaussage (§ 392) Beweismittelfälschung (§293) 86 Beweismittelunterdrückung (§295) Verleumdung ( = Falsche Verdächtigung) (§297) Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung (§298) Begünstigung ( = Strafvereitelung/Strafvollstreckungsvereitelung) (§299) Gefangenenbefreiung (§300) Verbotene Veröffentlichung (§301) 87 Z u erwähnen ist ferner der i m 20. Abschnitt plazierte Tatbestand der
— Nichtverhinderung und Nichtanzeige drohender Straftaten (§286). Österreichischer Rechtstradition entsprechend 8 8 steht an der Spitze der Amtsdelikte ein allgemeiner Tatbestand „ M i ß b r a u c h der A m t s g e w a l t " (§302 Abs. 1): Ein Beamter, der mit dem Vorsatz, dadurch einen anderen an seinen Rechten zu schädigen, seine Befugnis, im Namen des Bundes (usw.)... oder einer anderen Person des öffentlichen Rechts als deren Organ in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte vorzunehmen, wissentlich mißbraucht, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen. D a gem. §74 öst.StGB 1975 zu den Beamten auch Richter gehören 8 9 , lassen sich diesem Straftatbestand alle i m 2. K a p i t e l erwähnten Straftaten v o n Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden zuordnen. Z u erwähnen ist schließlich die i n §306 unter Strafe gestellte — Geschenkannahme durch Sachverständige. Das italienische Strafgesetzbuch v o m 19. Oktober 1930, m i t seinen 734 A r t i k e l n das umfangreichste der hier betrachteten ausländischen Gesetze, enthält einen 40 A r t i k e l umfassenden Titel „Verbrechen gegen die Rechtspflege" 9 0 . Er n i m m t nach den Titeln über die Verbrechen „gegen den Bestand des Staates" 9 1 u n d „gegen die öffentliche V e r w a l t u n g " 9 2 die dritte Stelle unter den insgesamt 13 T i t e l n des Besonderen Teils ein, dessen nachfolgende 86 Mit den drei Einzeltatbeständen: Herstellung eines falschen Beweismittels (§ 293 Abs. 1 Fall 1), Verfälschen eines echten Beweismittels (§293 Abs. 1 Fall 2); Gebrauchmachen von einem falschen oder verfälschten Beweismittel (§293 Abs. 2). 87 Entsprechend §353 d des deutschen StGB, jedoch ohne die in Ziff. 3 erfaßte Konstellation. 88 Vgl. ös t. E StGB 1964, Erl. BT S. 305 („bewährtes österreichisches Herkommen"); s. bereits die einschlägige Bestimmung der „Josephina" von 1787 (o. 3. Kap. sub A). 89 Dies scheint unbestritten zu sein, obwohl auch §74 öst.StGB insoweit der Auslegung bedarf; vgl. Leukauf / Steininger, §74 Rnr 9. 90 „Dei delitti contro l'amministrazione della giustizia" (Art. 361-400 c. p.). — Übersetzungen —soweit nicht anders angegeben — nach der Edition von Riz (s. QVerz.). 91 „Dei delitti contro la personalità dello Stato" (Art. 241 ff.). 92 „Dei delitti contro la pubblica amministrazione" (Art. 314 ff.).
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Titel Verbrechen gegen gesellschaftliche, familiäre u n d Individualrechtsgüter behandeln. Der Titel über die Rechtspflegedelikte ist unterteilt i n drei Kapitel. Das dritte dieser K a p i t e l („Eigenmächtiger Schutz privater R e c h t e " ) 9 3 , welches neben der Eigenmächtigen Rechtsausübung durch Gewalt gegen Sachen ( A r t . 392) bzw. gegen Personen ( A r t . 393) Bestimmungen über die Strafbarkeit des Zweikampfs enthält ( A r t . 394-401), soll hier nicht näher betrachtet werden. Das erste Kapitel („Verbrechen gegen die Tätigkeit der J u s t i z " ) 9 4 enthält die Straftatbestände: — Nichtanzeige von Straftaten durch Beamte oder mit einem öffentlichen Amt Betraute (Art. 361-363) — Nichtanzeige von schweren 95 Straftaten (Art. 364) — Nichtmeldung von Anzeichen einer Straftat 96 durch einen Arzt (Art. 365) 97 — Unwahre Entschuldigungen von Sachverständigen, Dolmetschern, Zeugen und anderen zur Ausübung einer Funktion vor Gericht geladenen Personen (Art. 366 Abs. 1 u. 3) — Verweigerung der Personalienangabe, des Eides oder der gesetzlich auferlegten Tätigkeit (durch die vorgenanten Personen) (Art. 366 Abs. 2) — Vortäuschen einer Straftat (Art. 367) — Falsche Verdächtigung (Art. 368) — Falsche Selbstbezichtigung (Art. 369) 98 — Meineid der Partei im Zivilprozeß (Art. 371 ) " — Falsche Zeugenaussage (Art. 372) 100 — Falsches Gutachten und unrichtige Übersetzung (Art. 373) 101 93
„Deila tutela arbitraria delle private ragioni" (Art. 392 ff.). „Dei delitti contro l'attivita giudiziaria" (Art. 361 ff.). 95 Erfaßt sind Verbrechen gegen den Bestand des Staates, welche mit lebenslangem Zuchthaus bedroht sind. 96 Nur Offizialdelikte. 97 Keine Strafbarkeit, wenn die von dem Arzt betreute Person durch die Anzeige der Gefahr der Strafverfolgung ausgesetzt würde (Art. 364 Abs. 2). 98 Gem. Art. 370 Strafmilderung, falls die in Art. 367-369 genannten Taten Übertretungen zum Gegenstand haben. 99 Riz aaO übersetzt „chiunque . . . giura il falso" mit „wer . . . falsch schwört". Näher liegen dürfte die (dem §153 RStGB entsprechende) wörtliche Übersetzung „Wer . . . die Unwahrheit beschwört". Dies würde bedeuten, daß nur der falsche Parteieid i.e.S., nicht aber die beeidete unwahre Parteiaussage erfaßt wäre. Hierfür spricht auch das Fehlen einer dem Tatbestand der falschen Zeugenaussage entsprechenden (s. nächste Fußn.) Beschreibung der Tatmodalitäten. 100 Bemerkenswert die konkrete Umschreibung der Tatalternativen: „Wer als Zeuge vor einer Justizbehörde unwahre Tatsachen behauptet, wahre ableugnet oder ganz oder teilweise das, was er über die befragten Tatsachen weiß, verschweigt..." — Strafdrohung (wie beim Parteimeineid !) Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren. Strafschärfung, wenn die Falschaussage die Verurteilung zu bestimmten schweren Strafen ausgelöst hat (Art. 375). 94
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Die Falschangaben nach Art. 372, 373 sind strafbar, wenn sie vor einer „Justizbehörde" (d. h., auch vor der Staatsanwaltschaft) erstattet werden. „Damit geht das
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— „Prozeßbetrug" (Beweismittelfalschung) (Art.374, 375) 102 — Versuchte Anstiftung zur Falschaussage, zum falschen Gutachten oder falscher Übersetzung (Art. 377) — Persönliche Begünstigung (Art. 378) — Sachliche Begünstigung (Art. 379) — Untreue des Rechtsbeistandes oder Privatsachverständigen (Art. 380) 103 — Parteiverrat (Art. 381) 1 0 4 — Vortäuschung von (einflußreichen) Beziehungen durch den Rechtsbeistand (Art. 382). Das zweite Kapitel („Verbrechen gegen die Verbindlichkeit v o n gerichtlichen Entscheidungen") 1 0 5 enthält folgende Straftatbestände: — — — — — — —
Entweichen von Gefangenen (Art. 385) Gefangenenbefreiung (Art. 386) Fahrlässiges Entweichenlassen von Gefangenen (Art. 387) Vollstreckungsvereitelung (b. zivilrechtlichen Entscheidungen) (Art. 388) 106 Nichtbefolgung von Nebenstrafen (Art. 389) Strafvollstreckungsvereitelung (Art. 390) Vereitelung der Vollstreckung freiheitsentziehender Maßregeln (Art. 391).
Wie i m österreichischen findet sich auch i m italienischen Strafgesetzbuch eine General-Strafnorm gegen Amtsträger (einschl. Richter), welche „unter Mißbrauch der mit (ihrem) Amt verbundenen Befugnisse in der Absicht, einem anderen einen Nachteil zuzufügen oder einen Vorteil zu verschaffen, irgendeine Tat 1 0 7 begeh(en), deren Strafbarkeit vom Gesetz nicht ausdrücklich bestimmt i s t " 1 0 8 . Diese i m Titel über „Verbrechen gegen die öffentliche Verwaltung" eingruppierte Vorschrift erfaßt ebenfalls alle nach deutschem Strafrecht strafbaren H a n d lungen der Mitglieder v o n Strafverfolgungsorganen, soweit sie i n Benachteiligungs- oder Bevorteiligungsabsicht begangen werden. I m Schweizerischen Strafgesetzbuch v o m 21. Dezember 1937 (in K r a f t seit dem 1. Januar 1942) schließt sich innerhalb der 19 Titel des Besonderen Teils der italienische Strafrecht über das deutsche Strafgesetzbuch und die Strafgesetze der meisten anderen Länder hinaus" (Herrmann, Aussagetatbestände S. 57). 102 „Wer . . . mit Hilfe von Kunstgriffen den Zustand von Örtlichkeiten, Sachen oder Personen abändert, um den Richter bei einem Augenschein oder einem richterlichen Experiment oder den Sachverständigen bei der Erstellung eines Gutachtens zu täuschen . . . " 103 Handeln „unter Verletzung der Berufspflichten zum Nachteil der von ihm vor einer Justizbehörde verteidigten, beratenen oder vertretenen Partei". 104 In der bei Riz wiedergegebenen (nichtamtlichen) Überschrift als „sonstige Untreuehandlungen des Rechtsbeistandes oder Privatsachverständigen" bezeichnet. 105 „Dei delitti contro l'autorita delle decisioni giudiziarie" (Art. 385 ff.). 106 Vergleichbar §288 StGB, jedoch erheblich weiter greifend. 107
„Qualsiasi fatto". Art. 323 c. p. Unter den Verbrechen gegen die öffentliche Verwaltung verdient ferner Erwähnung Art. 343: Beleidigung eines Richters während einer Verhandlung. 108
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17. Titel („Verbrechen u n d Vergehen gegen die Rechtspflege") 1 0 9 an die Titel über den Schutz des Staates u n d der Landesverteidigung (13. Titel), des Volkswillens (14. Titel), der öffentlichen Gewalt (15. Titel) u n d der Beziehungen z u m Ausland (16. Titel) an. I h m folgt der Titel über „Strafbare Handlungen gegen die A m t s - u n d Berufspflicht" (18.Titel). Der 17. Titel enthält folgende Tatbestände: — Falsche Anschuldigung (Art. 303) — Irreführung der Rechtspflege (Falsche Anzeige und Falsche Selbstbeschuldigung) (Art. 304) 110 — Begünstigung (Straf- und Maßregel Vereitelung) (Art. 305) 111 — Falsche Beweisaussage der Partei nach Belehrung (Art. 301 Abs. 1); Qualifikation bei Bekräftigung der Aussage mit Eid oder Handgelübde (Art. 306 Abs. 2) — Falsches Zeugnis. Falsches Gutachten. Falsche Übersetzung (Art. 307 Abs. 1); Qualifikation bei Bekräftigung mit Eid oder Handgelübde (Art. 307 Abs. 2); Privilegierung bei Unerheblichkeit der falschen Äußerung (Art. 307 Abs. 3 ) 1 1 2 ' 1 1 3 — Gefangenenbefreiung (Art. 310) — Gefangenenmeuterei (Art. 311). Ebenso wie das österreichische u n d das italienische Strafrecht kennt auch das schweizerische Strafgesetzbuch einen allgemeinen Tatbestand des A m t s m i ß brauchs, welcher die Handlungen v o n Richtern u n d Angehörigen der Strafverfolgungsorgane m i t erfaßt ( A r t . 110 Ziff. 4). Er bedroht m i t Strafe „Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtspflicht mißbrauchen, um sich oder einem anderen einen unrechtmäßigen Vorteil zu verschaffen oder einem anderen einen Nachteil zuzufügen". V o n Tatbeständen, die i n anderen T i t e l n eingeordnet sind, verdienen hier Erwähnung — Art. 294: Übertretung eines (strafrichterlichen) Berufsverbots — Art. 295: Übertretung eines (richterlichen) Wirtshaus- und Alkoholverbots. Das Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik v o m 12. Januar 1968 behandelt i m 8. K a p i t e l des Besonderen Teils die „Straftaten gegen die staatliche O r d n u n g " . Dieses K a p i t e l enthält als 3. Abschnitt (§§225-255) die
109 110 111
Art. 303-311 schw.StGB. Vgl. die ähnliche Differenzierung in Art. 367, 369 des italienischen codice penale. Nur gewisse Maßregeln (im Sprachgebrauch des schw.StGB: Maßnahmen) sind
erfaßt. 112 Strafmilderungs- und aufhebungsmöglichkeit bei freiwilliger rechtzeitiger Berichtigung der falschen Anschuldigung, Anzeige oder Aussage (Art. 308 Abs. 1) sowie bei Falschaussage zur Abwendung der Gefahr der Strafverfolgung von sich oder einem Angehörigen (Art. 308 Abs. 2). 113 Gem. Art. 309 entsprechende Anwendung der Art. 306-308 auf das Verwaltungsgerichtsverfahren, das Schiedsgerichtsverfahren und das Verfahren vor Behörden und Beamten der Verwaltung, „denen das Recht der Zeugenanhörung zusteht".
Rechtsvergleichendes Material
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„Straftaten gegen die Rechtspflege". Der Abschnitt enthält neben dem Gewahrsamsbruch (§239), der Urkundenfälschung (§240) und der Falschbeurkundung (§242) folgende Tatbestände: — Unterlassen der Anzeige einer schweren 114 Straftat (§225) — Erfolglose Aufforderung und erfolgloses Sicherbieten zu einer schweren 114 Straftat (§227) — Falsche Anschuldigung (§228) — Vortäuschung einer Straftat (§229) — Vorsätzliche falsche oder unvollständige Aussage oder falsche Übersetzung (§ 230 Abs. 1 F. 1 u. 2) 1 1 5 — Verleitung zu unbewußter Falschaussage (§230 Abs. 1 Fall 3) 1 1 5 — Falsche Versicherung zum Zwecke des Beweises ( § 2 3 1 ) 1 1 6 , 1 1 7 — (Sachliche und persönliche) Begünstigung (§233) — Hehlerei (§234) — Gefangenenbefreiung (§235) — Gefangenenmeuterei (§236) — Entweichung aus gerichtlich angeordnetem Freiheitsentzug (§237) — Verletzung einer (gerichtlichen) Aufenthaltsbeschränkung oder eines (gerichtlichen) Tätigkeitsverbots (§238) — Nötigung zu einer Aussage (§243) — Rechtsbeugung (§244) 118 .
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Vgl. §225 Abs. 1 Ziff. 1-6 StGB DDR. §230 Abs. 1: „Wer vorsätzlich vor Gericht als Zeuge, Sachverständiger oder Prozeßpartei falsche oder unvollständige Aussagen macht oder als Dolmetscher falsch übersetzt oder wer einen anderen zu einer unbewußt falschen Aussage verleitet. . ." — Abs. 2 erweitert den Tatbestand auf Taten vor Notar, Seekammer und Patentamt. 116 „Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr gegenüber einer zur Abnahme einer besonderen Versicherung der Wahrheit gesetzlich befugten Stelle wissentlich falsche Angaben macht und ihre Richtigkeit in der dazu vorgeschriebenen Form versichert..." 117 Von Strafe nach §§230, 231 kann abgesehen werden bei rechtzeitiger Berichtigung der Falschaussage, sowie dann, wenn eine richtige Aussage den Täter oder einen nahen Angehörigen der Möglichkeit der Strafverfolgung ausgesetzt hätte (§232). 118 „Wer wissentlich bei der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens oder eines Ermittlungsverfahrens als Richter, Staatsanwalt oder Mitarbeiter eines Untersuchungsorgans gesetzwidrig zugunsten oder zuungunsten eines Beteiligten entscheidet . . . " 115
5. Kapitel Rechtstheoretisches Material A. Sichtung des empirischen Materials Die vorangegangene Umschau unter den historischen und ausländischen Rechtsordnungen hat sich um Unbefangenheit gegenüber dem Material bemüht. Völlig unstrukturiert konnte die Rezeption freilich schon deshalb nicht erfolgen, weil die betrachteten Gesetzeswerke selber ihren Stoff nicht als chaotische, sondern als geordnete Vielfalt darbieten. Verbleibt man zunächst noch in dieser Haltung und versucht, dem empirischen Material induktiv einige Erkenntnisse abzuziehen, so läßt sich zunächst feststellen, daß nicht nur die deutschen Partikular-Strafgesetzbücher, sondern alle betrachteten Kodifikationen des 19. Jahrhunderts eines eigenen Abschnittes über „Rechtspflegedelikte" bzw. Tatbestände zum Schutze der Rechtspflege oder Rechtsprechung entbehren. Dies kann — jedenfalls soweit der institutionelle Aspekt von „Rechtspflege" 1 angesprochen ist — nicht weiter erstaunen; hat sich doch die institutionelle Trennung von Justiz und Verwaltung überhaupt erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts endgültig durchgesetzt, und auch dies — jedenfalls in Deutschland — keinesfalls in Form eines raschen Durchbruches, sondern als Ergebnis eines langen Ringens („Er-rungenschaft"). Eine von den politischen Machthabern nur widerwillig akzeptierte Institution wie die unabhängige Rechtsprechung hatte begreiflicherweise nur geringe Aussicht, ihre strafrechtliche Dignität noch in herausgehobener Form bescheinigt zu bekommen 2 . Tatbestände gar zum Schutz der Gewaltentrennung wie im französischen und belgischen Strafrecht wird man im herkömmlichen deutschen Strafrecht vergebens suchen3. Erst im 20. Jahrhundert setzt sich in Deutschland der Gedanke des strafrechtlichen Rechtspflegeschutzes in ausformulierter Weise durch, wie nahezu sämtliche Reformentwürfe seit 1909 belegen4. Daß sich ein entsprechender Abschnitt im geltenden deutschen Strafgesetzbuch bis heute nicht findet, liegt an dem eher äußerlichen Umstand, daß es im Bereich des Besonderen Teils zwar zu zahlreichen Einzelreformen, niemals jedoch — wie im Allgemeinen Teil — zu einer gänzlichen Neustrukturierung gekommen ist. 1 2 3 4
Zur institutionellen Seite von Rechtspflege s. noch 7. Kap. sub D. In der Sache freilich sind die entsprechenden Tatbestände regelmäßig anzutreffen. Zum geltenden Strafrecht s. noch 7. Kap. sub A II. s. die Belege im 3. Kap. sub Β.
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Sieht man allerdings von der formell-redaktionellen Seite ab, so zeigen die Tatbestandsensembles der herangezogenen Kodifikationen — jedenfalls im Kernbereich — eine gewisse Kontinuität. Daher lassen sich unabhängig davon, ob ein ausdrücklich firmierender Abschnitt über Rechtspflegeschutz existiert, Sach- und Problemebenen aufzeigen. Einige von ihnen seien hervorgehoben. Rechtspflege, insbesondere Gerichtsbarkeit, verhandelt und entscheidet über gesellschaftliche Konflikte; sie versagt Rechtspositionen oder teilt sie zu; sie erlegt Sanktionen auf oder befreit von ihnen. Straftatbestände, welche sich auf den Bereich der Rechtspflege beziehen, werden daher häufig so interpretiert werden können, daß sie die von der Rechtspflege betroffenen Rechte von Verfahrensbeteiligten schützen, zu denen auch der Staat selber — wenn er, wie im Strafverfahren, Verfahrensbeteiligter ist — gehören kann. Es wird daher zu fragen sein, ob und wie eine sachgerechte Grenzziehung zwischen Tatbeständen, welche die Rechtspflege ohne Rücksicht auf ihre sachlichen Auswirkungen schützen, und solchen, welche eben diese Auswirkungen auf die Betroffenen im Auge haben, gefunden werden kann. Andererseits ist rechtsprechende Tätigkeit staatliche Tätigkeit und derjenigen der Exekutive in mancher Hinsicht ähnlich, dies um so mehr, als unter der Geltung des Rechtsstaatsprinzips auch die Exekutive in ihrem Handeln weitgehend an Rechtsvorschriften gebunden ist. Demgemäß finden sich Straftatbestände, welche gewisse Verhaltensweisen von bzw. gegenüber Rechtsprechungsorganen gleichzeitig mit entsprechenden Verhaltensweisen von bzw. gegenüber Verwaltungsbehörden poenalisieren. Teilweise ergibt die Gleichsetzung sich sogar aus Regeln des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches wie den Ziffern 2 a und 7 des § 11 Abs. 1 StGB. Auch hier wird zu diskutieren sein, wie weit eine Separierung der Problembereiche „Schutz der staatlichen Administration" und „Schutz der staatlichen Rechtspflege" sachlich sinnvoll und methodologisch durchführbar ist 5 . Tatbestandsbezogen wird diese Unterscheidung vor allem im Verhältnis zu den Amtsdelikten und den Delikten gegen die öffentliche Ordnung zu erbringen sein. Zur Abrundung dieser ersten vordergründigen Analyse ist in sachlicher Hinsicht auf die — heute positivrechtlich nicht mehr aktuelle — Affinität des Rechtspflegeschutzes zu den Teilnahmeregeln hinzuweisen, die sich äußerlich darin dokumentiert, daß Vorschriften wie die über Begünstigung, Strafvereitelung, Versuchte Anstiftung und Aufforderung zur Begehung von Straftaten sich in der Vergangenheit als mobil zwischen Allgemeinem und Besonderem Teil des 5
Daß es nicht ausschließlich auf die bloße Tatbestandsfassung ankommen kann, zeigen jene ausländischen Regelungen, in denen Sachverhalte, denen das deutsche Strafrecht nur einen einzigen Tatbestand widmet, in seine jeweiligen Bezugsbereiche „öffentliche Verwaltung" und „Justiz" aufgespalten sind (so in Italien und Österreich der Meineid), aber auch umgekehrt Materien mehrerer Tatbestände des deutschen Strafrechts in einem einzigen Tatbestand vereinigt sind (so gerade in den genannten beiden Ländern der Tatbestand der „Amtspflichtverletzung").
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Strafgesetzbuches erwiesen haben 6 . Die Aussagetatbestände schließlich sind lange Zeit auch als Religionsschutz-Tatbestände aufgefaßt worden. Was die Tatbestands-Adressaten angeht, so lassen sich drei Tatbestandsgruppen unterscheiden. Einige der relevanten Straftatbestände — so Falsche Verdächtigung und Strafvereitelung — können von jedermann begangen werden, andere hingegen nur von staatlichen Justizfunktionären (Richtern, Staatsanwälten) — so die Amtsdelikte; wieder andere sind nur durch sonstige Verfahrensbeteiligte (Zeugen, Sachverständige, Rechtsanwälte) begehbar — so vor allem die Aussagedelikte und der Parteiverrat. Um zu einer genaueren Analyse dessen zu gelangen, was „Rechtspflege delikt" bedeuten kann, wie dieser Deliktstypus von anderen abzugrenzen und wie er zu strukturieren, ggf. zu differenzieren ist 7 , müssen wir uns in Kürze des notwendigen rechtstheoretischen Materials versichern; vor allem ist ein Blick auf den bislang unbefragt verwendeten Begriff „Rechtsgut" und seine methodologische Bedeutung zu werfen. B. Zur Rechtsgutproblematik Aus Raumgründen sowie aus Gründen thematischer Konzentration können wir uns allerdings nicht der Aufgabe stellen, die Diskussion um Erfordernis und Definition des Rechtsgutes in ihrer historischen Entwicklung und ihrem sehr differenzierten Streitstand aufzuarbeiten und zu rekonstruieren 8. Verfehlt wäre es auch, wollten wir uns en passant an diesen Diskussionen beteiligen. Die Zielsetzung ist bescheidener. Sie ist orientiert am pragmatischen Wunsch nach Gewinnung einer Grundlage für die Diskussion des abgesteckten Problembereiches. Daher interessieren auch weniger die begrifflichen und sachlichen Gehalte der Rechtsgutproblematik — um so weniger, als der „Rechtsgut"-Charakter von „Rechtspflege" prinzipiell unbestritten ist — , sondern mehr die methodologischen Konsequenzen, welche das Rechtsguterfordernis für das weitere Vorgehen nach sich zieht. Daß wir uns damit anschicken, ein Gebäude auf ungesichertem Fundament zu errichten, kann nur den irritieren, der „von den . . . Strafrechtlern . . . erwartet, daß sie vor dem Eintritt in die Behandlung detaillierter Probleme die Entscheidungsgrundlagen abgeklärt haben" 9 . Eine solche Forderung wäre, wie die Rechtsprechungs- und For6 Durchlässigkeit zeigt sich auch — wie allgemein bekannt — zwischen Strafrecht und Ordnungswidrigkeiten-Recht sowie zwischen Strafrecht und Strafprozeß (s. z. B. den Strafvereitelungs-Tatbestand in §214 der preuß.CrimO); dazu noch grundsätzlich 6. Kap. sub C. 7 Dazu das 7. Kap., insb. sub Β. 8 Ausführlich zur Geschichte der Rechtsgut-Diskussion Amelung, Rechtsgüterschutz, durch dessen Untersuchungen die bis dahin führende Darstellung von Sina, Dogmengeschichte, in manchen Punkten korrigiert worden ist. 9 So in ähnlichem Zusammenhang Lüderssen, JuS 1983, 910.
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schungspraxis täglich erweist, unrealistisch. Rechtswissenschaft gleicht der ständigen Neu-, Erweiterungs- und Umbauarbeit an einem Schiff, welches sich bereits auf hoher — und nicht unbedingt ruhiger — See befindet. I. Rechtsguterfordernis als Postulat
Daß Aufgabe des Strafrechts der Schutz von Rechtsgütern sei, entspricht — auch wenn sich der Vorschlag der „ Alternativ-Professoren", diese Aufgabenstellung gesetzlich zu verankern, nicht durchgesetzt hat 1 0 — der heute ganz überwiegenden Auffassung 11 . Auf ihr basieren auch die nachfolgenden Untersuchungen, ohne allerdings behaupten zu können, daß diese Auffassung bereits für das gesamte Strafrecht bestätigt und durchführbar sei. Die hier gestellte Aufgabe besteht nur darin, das Postulat des Rechtsgüterschutzes an einer strafrechtlichen Tatbestandsgruppe sich bewähren zu lassen. Bedenken gegen das Rechtsgutpostulat, welche an anderen, nicht in den Untersuchungsbereich fallenden Tatbeständen exemplifiziert worden sind 1 2 , müssen unbehandelt bleiben. Rechtsgutbestimmung ist als Aufgabe zu verstehen, welche für einen Teil der bestehenden Straftatbestände noch nicht erfüllt sein mag. Sie ist daher eine zugleich kritische wie dogmatische Aufgabe. II. Bedeutung
Auszugehen ist von dem weitgehend anerkannten Satz, daß Strafrecht nur sozialschädliches Verhalten erfassen d ü r f e 1 3 , 1 4 . Er läßt sich heute aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art.20 GG) ableiten 15 . Da der Begriff 10 s. § 2 Abs. 1 AE AT: „Strafen und Maßregeln dienen dem Schutz der Rechtsgüter und der Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft." 11 s. z. B. Rudolphi, SK, Vor § 1 Rnr 2 m. Nachw.; Lenckner, Sch / Sehr, Vor § 13 Rnr 9 f.; Heimann-Trosien, L K , Einl. Rnr 45 ff.; Baumann, Lb S. 9 ff.; Jescheck, AT, S. 5 ff.; Maurach/ Zipf AT/1, S. 251 ff.; Blei, AT, S. 89 ff.; Wessels, AT, S. 2; sehr prägnant bereits 1926 Aschrott, Besonderer Teil aaO S. 214: „Strafe ist Rechtsgüterschutz durch Rechtsgüterverletzung". — Einschränkend Welzel, Lb S. 4. — Kritisch Jakobs, AT, S. 27f., der abweichend von allen herkömmlichen Definitionsversuchen „die Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen" als „das vom Strafrecht zu schützende Gut" definiert. 12 Erwähnt werden in diesem Zusammenhang vor allem Amtsdelikte, Tierquälerei, Inzest und Betäubungsmittel-Konsum; s. z. B. Rudolphi, SK, Vor §1 Rnr 11; Amelung, Rechtsgüterschutz S. 345 ff. 13 Amelung, Rechtsgüterschutz S. 316 ff,; Rudolphi, SK, Vor §1 Rnr 1; Ders., Aspekte aaO S. 159 ff. (jeweils m. Nachw.). 14 Ob und wie weit Strafrecht von Verfassungs wegen eingesetzt werden muß, ist bekanntlich umstritten; vgl. nur Rudolphi, SK, Vor §1 Rnr 1; BVfGE 39, 1 ff. 15 Rudolphi, SK, Vor §1 Rnr 1; Ders., Aspekte aaO S. 159 ff.; Amelung, Rechtsgüterschutz S. 318 ff., 330; Herrmann, Aussagetatbestände S. 105 ff. — Das GG liefert darüber hinaus auch die wesentlichen Anhaltspunkte für die Strafwürdigkeit des poenalisierten Verhaltens (vgl. Herrmann aaO).
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Vormbaum
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der Sozialschädlichkeit noch kein Kriterium für praktische Strafgesetzgebung abzugeben vermag 16 , wird bereits seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts versucht, gewisse Interessen, Werte, Zustände o.ä. herauszuarbeiten, welche als schutzwürdig (und -bedürftig) anzusehen sind. Für diese hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nach einer Wortschöpfung von Birnbaum 17 die Bezeichnung „Gut", später „Rechtsgut" eingebürgert, ohne daß bislang über Struktur und Gehalt des mit dieser Bezeichnung Gemeinten eine endgültige Klärung erreicht worden wäre. Im jüngeren Schrifttum ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die Einhaltung der beschränkten strafrechtlichen Zielsetzung — die für das menschliche Zusammenleben in der Gesellschaft unerläßlichen Bedingungen zu sichern 18 — nicht allein dadurch überprüft werden kann, daß mehr oder weniger statische Gegebenheiten oder von ihnen abgezogene Vergeistigungen 19 formuliert werden, welche strafrechtlichen Schutz verdienen, sondern auch dadurch, daß die Funktionsbedingungen für menschliches Zusammenleben in einem demokratisch und rechtsstaatlich organisierten Gemeinwesen geklärt werden 20 . Der Vorteil eines solchen funktionsanalytischen Vorgehens besteht darin, daß überprüfbare, sachbezogene Kriterien für die Sozialschädlichkeit des poenalisierten Verhaltens und damit für die Überprüfbarkeit der Verfassungsmäßigkeit der Strafdrohung gewonnen werden. Auch kann mit der Einführung des Funktionskriteriums ein zweiter Aspekt des Rechtsgutbegriffes — seine Bedeutung für die teleologische Auslegung des betreffenden Straftatbestandes — einbezogen werden. Sieht man nämlich im Rechtsgut eine werthafte, vom Gesetzgeber durch strafrechtliche Normsetzung geschützte Funktionseinheit 21 , oder sieht man doch wenigstens in dieser Funktion ein wesentliches Element seiner gesellschaftlichen Unentbehrlichkeit 22 , so ist ein gleichermaßen werthaf16
Herrmann aaO S. 93; Amelung, Rechtsgüterschutz S. 393. Birnbaum, ArchCrR NF. 1834,149 ff. — Zur Geschichte s. die Hinweise in Fußn. 8. 18 Amelung, Rechtsgüterschutz S. 263 u. ö. 19 Vgl. Jescheck, AT, S. 208: „Rechtsgüter sind ideelle Werte der Sozialordnung.. ." (Hervorh. im Original); Schmidhäuser , AT, S. 37 f. (2/30, 31) („Rechtsgut i s t . . . ein ideell gesehenes Gut [. . . Achtungsanspruch])". 20 Amelung aaO; Schall, Hausfriedensbruch S. 68 ff.; Calliess, Theorie S. 122 ff.; Loos, Bestechungsdelikte aaO S. 890 ff.; Rudolphi, Aspekte aaO S. 163; Otto, Rechtsgutbegriff aaO S. 8. 21 So Rudolphi, Aspekte aaO S. 163; Ders., SK, Vor § 1, Rnr 8; Otto, Rechtsgutbegriff aaO S. 8. — Die wohl extreme Gegenposition markiert M. Marx, Rechtsgut S. 62, der Rechtsgüter definiert als „diejenigen Gegenstände, die der Mensch zu seiner freien Selbstverwirklichung braucht". 17
22 So wohl Amelung, Rechtsgüterschutz S. 367 ff.; s. S. 373: „Die Suche nach der sozialen Funktion einer Norm zwingt stets aufs neue dazu, eine Art von Ortsbestimmung im sozialen System vorzunehmen. Dieses System ändert sich im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung, und damit ändern sich auch die Organisationsprobleme." — Der von Amelung begründete „synthetische" Standpunkt ist prägnant formuliert b. Frisch, Vorsatz und Risiko S. 47 f.: „Der Einsatz von Strafe dient dazu, jene Güter und Funktionen
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tes wie faßbares 23 Kriterium gewonnen, welches sowohl einen Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung wie auch für die Auslegungsarbeit abzugeben vermag. Beide Vorgänge sind danach sachlich und methodologisch verknüpft 24 . Rechtsgutbestimmung erfüllt demnach zwei wichtige Aufgaben. Indem sie die Möglichkeit schafft, Strafgesetzgebung darauf zu überprüfen, ob sie bei der Normsetzung das Erfordernis der Sozialschädlichkeit des poenalisierten Verhaltens beachtet hat, hilft sie, Strafrecht „auf das Unerläßliche zurückzudrängen" 25 . Hierin kann man die rechtsstaatliche Komponente des Rechtsgutgedankens erblicken. Indem weiter durch die Festlegung des Straftatbestandes auf den Schutz eines bestimmten Rechtsgutes andere Schutzrichtungen ausgeschlossen werden, erhält die rechtswissenschaftliche Arbeit eine Auslegungsleitlinie an die Hand. Dies bringt auslegungstechnische Vorteile wie z.B. die Feststellbarkeit der Einwilligungsfahigkeit des betreffenden Rechtsgutes je nach zuvor ermitteltem Rechtsgutträger; daneben gewinnt der Tatbestand festere Konturen und wird der Beliebigkeit teleologisch-kriminalpolitischer Auslegungsbemühungen entzogen. Indem so ein Teil der nach dem Wortlaut möglichen Auslegungen ausgeschlossen wird 2 6 , trägt das Rechtsguterfordernis zum fragmentarischen Charakter des Strafrechts bei. Es setzt — neben der Wortlautgrenze — eine weitere wichtige Auslegungsgrenzmarke. Hierin kann man die liberale Komponente der Rechtsgutlehre erblicken. Indem das Rechtsguterfordernis teleologische Auslegung begrenzt, gleichzeitig aber innerhalb dieser Grenze statuiert, ist es freilich ambivalent. Deshalb ist auch für Rechtsguterwägungen die Wortlautgrenze unübersteigbar. Der Stellenwert des Rechtsgutgedankens muß daher jeweils sorgfältig ermittelt werden. Einerseits wäre eine Tatbestandsauslegung, welche die Schutzfunktion des Tatbestandes unberücksichtigt läßt, ein positivistisch reduziertes und gerade deshalb exegetischer Beliebigkeit ausgeliefertes Hantieren mit Begriffen und semantischen Kunstfertigkeiten; andererseits würde unbegrenztes Einfließen der Rechtsgutbestimmung in die Tatbestandsauslegung die — verfassungsrechtlich ebenso werthafte — Schutzfunktion des Gesetzlichkeitspostulats (Art. 103 Abs.2 GG) überspielen 27. (Hervorh. v. mir — T.V.), jene Bedingungen der Entfaltung zu schützen, ohne die ein gedeihliches Zusammenleben nicht denkbar ist." 23 Zum „Sein- und Wertaspekt" des Rechtsgutbegriffs Sina, Dogmengeschichte S. 93 f. 24 Rudolphi, Aspekte aaO S. 164; zu den methodologischen Konsequenzen s. noch u. sub IV. 25 Stree, Ingerenzprobleme aaO S. 395; vgl. auch Kaiser, Kriminalisierung aaO — Das (durch Auslegung des Straftatbestandes) ermittelte und dem Gesetzgeber zugeschriebene Rechtsgut steht also bereits vor der verfassungsrechtlichen Überprüfung als solches fest, nicht aber wird es erst nach positivem Abschluß dieser Prüfung zum Rechtsgut; so mit Recht Amelung, Rechtsgüterschutz S. 303 (gegen Jäger, Rechtsgüterschutz S. 33 ff.) unter Hinweis auf die der Auslegung zugrundezulegende Normsetzungs-Autonomie des S trafgesetzgebers. 26 Dies ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil — worauf Amelung, Rechtsgüterschutz S. 377 hinweist — nahezu alle Straftatbestände „multifunktional" verstanden werden könnten. 5*
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. Kapitel III. Rechtsgutverletzung und Nonnverletzung
W i r d als Grundvoraussetzung für die Setzung eines Straftatbestandes eine Rechtsgutbeeinträchtigung gefordert, so ist gleichzeitig anderen Konzeptionen eine Absage erteilt, insbesondere solchen, die — sei es generell 2 8 , sei es für einen Teil der Tatbestände 2 9 — den Basisbegriff „Rechtsgutbeeinträchtigung" durch den des Normverstoßes oder der Pflichtverletzung ersetzen oder i h n i n den „Schutz der elementaren sozialethischen Gesinnungs-(Handlungs-)Werte" einschließen w o l l e n 3 0 . Auch insoweit soll es hier freilich beim Hypothesencharakter des Rechtsguterfordernisses bleiben; es sei lediglich versucht, die Rechtsgüterschutz-Konzeption für unseren Untersuchungsbereich zu realisieren, während sie für den weiteren Bereich des Strafrechts weniger als Behauptung denn als Postulat verstanden werden soll. Dieses Postulat müßte durch rechtswissenschaftliche Analyse und Begriffsbildung verifiziert, durch gesetzgeberische Schritte notfalls realisiert werden. Die Reform des Sexualstrafrechts ist ein alles in allem gelungenes Beispiel für ein solches „behutsames" Vorgehen auf dem Wege der Durchsetzung des Rechtsgüterschutz-Gedankens. Auch abweichende Konzeptionen können durch aus als (dialektisch verstandene) Zwischenschritte auf diesem Wege aufgefaßt werden 31 . Ohnehin geht i n den einzelnen Straftatbeständen der — zumeist i n der Er folgsbeschreibung materialisierte — Rechtsgutgedanke eine enge Verbindung m i t Pflichtverletzungs-Elementen ein. V o m Standpunkt unserer rechtsstaatlichen Grundannahme her ist gegen solche zusätzlichen Elemente schon deshalb kein E i n w a n d zu erheben, weil sie die Tatbestandserfüllung v o n zusätzlichen Bedingungen abhängig machen, sich somit straflimitierend a u s w i r k e n 3 2 . Daraus 27 Vgl. z. B. Schünemann, Unterlassungsdelikte S. 367 (Entscheidung BGHSt 5,128 zur Rückkehrpflicht nach §142 StGB a.F. als „ein abschreckendes Beispiel für eine absolute Auslegung vom Rechtsgut her"). 28 So wohl Jakobs aaO (o. Fußn. 11). — Zu den Bemühungen der NS-Rechtswissenschaft, das Verbrechen generell als „Pflichtverletzung" zu definieren, s. Marxen, Kampf S. 177 ff.; Amelung, Rechtsgüterschutz S. 228 ff. 29 So vor allem Roxin (LK, §25 Rnr 35 und Täterschaft S. 412 ff.) für die sog. „verhaltensgebundenen Delikte ohne Rechtsgüterverletzung"; Rudolphi, SK, Vor §1 Rnr 11. 30
So Welzel, Lb S. 4. Roxin selber (LK, §25 Rnr 35) weist daraufhin, daß die Zahl der verhaltensgebundenen Delikte ohne Rechtsgüterverletzung abnehmende Tendenz aufweise. 32 Eine weitere Frage ist, ob eine spezifische Pflichtenstellung des Täters bereits die Definition des geschützten Rechtsgutes selber oder die aus ihm abzuleitenden Folgerungen beeinflußt. Auf diese gerade für den Problemkreis „Rechtspflegedelikte" bedeutsame Besonderheit wird noch einzugehen sein. Bereits hier kann aber festgehalten werden, daß in derartigen Fällen der Gesichtspunkt der Pflichtverletzung nicht aus der materiellstrafrechtlichen „Norm" i.S. Bindings folgt, sondern aus der ihr vorgelagerten Sachstruktur, welche freilich in diesen Fällen anderweitig — nämlich prozeßrechtlich — normativ affiziert ist, wir werden insoweit nicht von „Pflicht", sondern von „Verhaltenserwartung" reden. Vgl. noch 8. Kap. a.E. sowie Kap. 13 ff. 31
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folgt weiter, daß Tatbestände, welche in einem Spezialitätsverhältnis zueinander stehen, sich möglicherweise im Hinblick auf die Beeinträchtigung des geschützten Rechtsgutes nicht unterscheiden; ist nämlich dem Gesetzgeber gestattet, den Strafrahmen auch von anderen Faktoren als nur vom Ausmaß der Bedeutung oder der Beeinträchtigung des geschützten Rechtsgutes abhängig zu machen, so kann es ihm auch nicht verwehrt sein, den gesamten Regelungsbereich abgestuft auf mehrere Straftatbestände aufzuteilen. Freilich unterwirft er sich damit auch gesteigerter rechtswissenschaftlicher Kontrolle. Führt er zusätzliche Merkmale ein und verknüpft diese mit einer schärferen Strafdrohung, so müssen diese Merkmale entweder eine Erweiterung oder Intensivierung der Rechtsgutbeeinträchtigung oder einen erhöhten Handlungsunwert beschreiben. Zwar wird man dem Gesetzgeber hier wie auch sonst bloß eine Plausibilisierung seiner Poenalisierungsentscheidung abverlangen 33 ; doch ist die Problemstruktur in solchen Tatbeständen regelmäßig so kohärent, daß sie eine Rationalitätskontrolle ermöglicht. Hält das Qualifikationsmerkmal der Kontrolle nicht stand, so fehlt ihm als solchem — d. h. in seinem Nebeneinander zum generellen Tatbestand — die Legitimation. Wir werden auf ein solches Problem bei der Untersuchung des Qualifikationsbereiches des MeineidTatbestandes stoßen 34 . IV. Ermittlung
1. Norm und Stoff Was immer man unter Rechtsgütern verstehen mag, jedenfalls sind sie Phänomene des gesellschaftlichen Lebens, von der Struktur des gesellschaftlichen Systems bestimmt, welche freilich ihrerseits bereits durch die Rechtsordnung geprägt ist 3 5 . Auch für die Rechtsgutbestimmung gilt daher, daß der Sinngehalt rechtlicher Regelungen „durch ... im weitesten Sinne soziale Gesetzlichkeiten und Entwicklungsstrukturen vorgegeben ist" 3 6 . Strafrechtliche Relevanz allerdings erhalten Rechtsgüter erst dadurch, daß sie vom Strafgesetzgeber aufgegriffen und normativ adoptiert werden. Von seinem Ermessen und seinen Wertvorstellungen hängt es also weitgehend ab, „welche der zahlreichen vorgegebenen Differenzierungen er zur Grundlage seiner Regelung machen 33 Vgl. dazu zuletzt Killias/Rehbinder, ZBJV 119 (1983), 294 f.; ferner Hassemer, Verbrechen S. 200 ff. 34 s. u. 11. Kap. sub C. 35 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz S. 368. Vom Rechtsgut zu unterscheiden ist das Tatobjekt, d. h. „jener Gegenstand . . ., an dem sich die verbrecherische Handlung tatbestandsmäßig vollzieht". Neben dem Rechtsgut besitzt es „überall dort eigenständige Funktionen, wo es auf den Tatbestand des Besonderen Teils und seine Merkmale ankommt" (Amelung, Rechtsgüterschutz S. 199 f. m. Nachw. in FN. 108; vgl. auch Hassemer, Verbrechen S. 17 f.; Jescheck, AT, S. 208; Schmidhäuser, AT, S. 37 f.). 36 Roxin, Täterschaft S. 20; dort auch weitere Hinweise auf die Problematik von Sein und Wert und ihre Relevanz für die Strafrechtswissenschaft; vgl. Ders., Kriminalpolitik S. 12 f.
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. Kapitel
w i l l " 3 7 . Freilich darf er sich dabei nicht gänzlich von der Struktur der geregelten Materie ablösen. Tut er es, so ist damit nicht nur einer Forderung rechtspolitischer Klugheit zuwidergehandelt, sondern es besteht auch der Verdacht, daß das Gebot, Strafrecht auf die Sanktionierung sozialschädlichen Verhaltens zu begrenzen, nicht beachtet worden ist. Aufgabe rechtswissenschaftlicher Arbeit ist es, das Gesetz nach Möglichkeit so auszulegen, daß derartige Ergebnisse vermieden werden 38 . Rechtsgutermittlung ist nach alledem ein Wechselspiel zwischen Strafrechtsnorm und Rechtsstoff, welches freilich für die rechtswissenschaftliche Betrachtung seinen Ausgangspunkt bei der Norm zu nehmen hat. Daraus ergeben sich Folgerungen für die Methode der Rechtsgutermittlung 39 . 2. Anforderungen Das jeweilige Rechtsgut muß handhabbar („operabel") sein. Es darf sich also weder zu einer Allgemeinheit verflüchtigen, welche beliebige Ableitungen ermöglicht, noch darf es widersprüchlich oder sachlich zu komplex sein. Freilich muß nach der jeweils relevanten Bezugsebene unterschieden werden. So wird man im Rahmen der Feststellung der verfassungsrechtlichen Legitimierung andere Maßstäbe anzulegen haben als bei der Ermittlung des als Auslegungsleitlinie heranzuziehenden Begriffes. Insoweit fallen der verfassungsrechtliche Aspekt und der interpretatorische Aspekt des Rechtsgutes zwar nicht wieder auseinander, an ihren Konkretionsgrad sind jedoch unterschiedliche Anforderungen gestellt. Aus Gründen sprachlicher Zweckmäßigkeit sei das bei der Legitimationsprüfung ermittelte Ergebnis hinfort auch als Schutzrichtung bezeichnet. Gerade der Untersuchungsbereich „Rechtspflegeschutz" bedarf — wie sich zeigen wird 4 0 — in dieser Hinsicht einer Differenzierung. Für die Feststellung der Schutzrichtung eines Straftatbestandes genügt es, eine begriffliche Festlegung zu treffen, die abgeleitete Aussagen über die erfaßte soziale Situation oder Funktion und deren Schutzwürdigkeit zu treffen ermöglicht. Für die Feststellung des Rechtsgutes im engeren auslegungstechnischen Sinne reicht diese Feststellung dann noch nicht hin, wenn der Begriff zu komplex, vor allem aus disparaten Elementen zusammengesetzt ist, oder wenn er sich strafrechtsdogmatischen Auslegungsbemühen durch zu hohen Allgemeinheitsgrad entzieht.
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Roxin, Täterschaft S. 20. Dies ist der legitime Ansatzpunkt selbständiger rechtswissenschaftlicher Tätigkeit; vgl. dazu Radbruch, Rechtsphilosophie S. 211: „So ist die juristische Auslegung nicht Nachdenken eines Vorgedachten, sondern Zuendedenken eines Gedachten." Zum Stellenwert der interpretatorischen Tätigkeit bei der Rechtsgutermittlung s. auch Amelung, Rechtsgüterschutz S. 394 f. 39 s. sogleich sub IV 3. 40 s. 7. Kap. sub C, D. 38
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3. Methode Der Vorgang der Rechtsgutermittlung muß sich — wie dargetan — in wechselseitigem Berücksichtigen von Rechtsnorm und Regelungsmaterie vollziehen. Freilich unterwirft sich der Gesetzgeber eher selten als häufig der Mühe, geplante Strafrechtsnormen einer genauen Prüfung ihrer Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit oder gar ihrer Formulierbarkeit zu einem Rechtsgut zu unterziehen 41 . Er folgt im allgemeinen politisch artikulierten Bedürfnissen, welche—jedenfalls aus rechtsguttheoretischer Sicht — eher vage als begrifflich scharf den Schutzzweck der Norm bezeichnen. Selbst dann aber, wenn sich der Gesetzgeber um eine gleichermaßen begrifflich präzise wie kriminalpolitisch zweckmäßige Tatbestandsformulierung bemüht, expliziert er allenfalls andeutungsweise das geschützte Rechtsgut; Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es daher, das Rechtsgut zu (re)konstruieren. Hier setzt der im 2. Kapitel bereits angedeutete Mechanismus ein: Aus dem Tatbestand wird das geschützte Rechtsgut verallgemeinert, zuformuliert, gegebenenfalls auf seine verfassungsrechtliche Tolerabilität überprüft, um sodann — eventuell weiter konkretisiert — als Leitlinie für die Auslegung des Straftatbestandes zu dienen. Freilich ist zu beachten, daß dann, wenn die gewonnene Rechtsgutformulierung zum Tatbestand „zurückkehrt", sie nun ihrerseits durch die strafrechtsdogmatischen Bedingungen gebrochen und beengt wird; insbesondere setzt die Wortlautgrenze — wie ausgeführt — rechtsgutgeleiteten Auslegungsbemühungen ihr Ende 42 . In der weiteren Untersuchung wird demnach der (bislang erst grob abgesteckte) Untersuchungsbereich durch Analyse von Straftatbeständen rechtsguttheoretisch zu strukturieren sein, Tatbestände werden — soweit problematisch — auf ihre verfassungsrechtliche Legitimation zu überprüfen sein, die gewonnenen Ergebnisse als Auslegungsleitlinie an ausgewählten Einzelproblemen sich zu bewähren haben. 4. Theoretische und exegetische Sicht Die prinzipiell vordogmatische Ermittlung des geschützten Rechtsgutes und die dogmatische Exegese des Tatbestandes sind nach dem bisher Gesagten nicht zwei präzise voneinander trennbare rechtswissenschaftliche Vorgänge; sie durchdringen sich gegenseitig. Idealtypisch mag man sie zwei unterschiedlichen Arbeitsbereichen zuordnen; der praktische Vorgang jedoch ist eher der Betrachtung desselben Gegenstandes aus zwei unterschiedlichen Perspektiven vergleichbar. Wir bleiben uns dieser Nähe auch dann bewußt, wenn wir — nach 41 Die Reformarbeiten vor allem der Sechzigerjahre bieten immerhin in manchen Bereichen Beispiele für ein solches Bemühen. 42 Aber auch die leitenden Prinzipien der Strafrechtsdogmatik, welche das Strafrecht überhaupt erst rationaler Argumentation zugänglich machen und damit letztlich ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit erfüllen, können zu „Strafbarkeitslücken" führen; vgl. Welp, Vorangegangenes Tun S. 290.
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endgültiger Klärung der weiteren Vorfragen — bei der Analyse einzelner Tatbestände Rechtsgutdiskussion und Tatbestandsauslegung in je eigenen Abschnitten prüfen. Dieses Vorgehen empfiehlt sich, weil zum einen die Aufmerksamkeit mehr der Rechtsgutdiskussion als der Tatbestandsauslegung gewidmet sein soll, zum anderen aber auch, weil sachlicher Gewinn in Form verbesserter Tiefenschärfe aus der doppelperspektivischen Betrachtung erhofft werden darf. Manches „doppelrelevante" Einzelproblem wird freilich mehr oder weniger dezisionistisch dem einen oder dem anderen der beiden Arbeitsbereiche zugeordnet werden müssen. 5. Bezug zum Straftatsystem Wie das Fehlen einer Rechtsgutbeeinträchtigung im Einzelfall sich strafrechtsdogmatisch niederschlägt — ob als Außerkraftsetzung der Indizwirkung des gesetzlichen Tatbestandes43 oder als einschränkende Auslegung der einschlägigen Tatbestandsmerkmale 44 — ist streitig 45 . Bedenkt man auch hier, daß die Rechtsgutermittlung Tatbestandsfassung (Normstruktur) und Sachstruktur zu berücksichtigen hat, so liegt es u. E. näher, im Rahmen der Rechtsgutermittlung dem einschlägigen Tatbestandsmerkmal eine entsprechende Interpretation zu geben. Allgemein betrachtet besteht ein Zusammenhang zwischen Rechtsgut und Straftatsystem insoweit, als der Erfolgsunwert des jeweiligen Straftatbestandes auf die Verletzung oder Gefahrdung eben des jeweils geschützten Rechtsgutes bzw. des es repräsentierenden Schutzobjektes bezogen ist. Auch dort, wo die Gefährdung des Rechtsgutes ausschließlich auf der vordogmatischen, rechtsguttheoretischen Ebene reflektiert ist, nicht aber im Straftatbestand Ausdruck gefunden hat (Abstraktes Gefahrdungsdelikt 46 bzw. — als Tatbestandstypus — Schlichtes Tätigkeitsdelikt), kann ebensowenig auf den Rechtsgutnachweis für den betreffenden Tatbestand verzichtet werden wie andererseits der Erfolgsunwert der Handlung geleugnet werden kann 4 7 . 6. Exkurs : Systematik Nur begrenzte Bedeutung kann bei der Rechtsgutermittlung die sog. systematische Auslegung gewinnen. Der Versuch, der geltenden Strafrechtskodifikation in klassifikatorischer Absicht4® eine Rechtsgütersystematik abzuziehen, stößt 43
So z. B. Sax, JZ 1976, 9 ff., 80 ff., 85. So z. B. Lenckner, Sch/Schr, Vor §13, Rnr 47 m. Nachw. 45 Weitere Nachweise b. Ebert/Kühl, Jura 1981, 227. 46 Zur materiellen Unterscheidung von abstrakten und konkreten Gefahrdungsdelikten s. Horn, Gefährdungsdelikte, insb. S. 20 ff.; Arzt/ Weber, L H 2, S. 13 ff. 47 So zu Recht Lenckner, Sch / Sehr, Vor § 13 Rnr 57; Rudolphi, Handlungsunwert aaO S. 56. 44
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an enge Grenzen. Ein solches Unterfangen liegt auch nicht etwa den bekannten Untersuchungen von Würtenberger 49 und Oehler 50 zugrunde. Ihnen geht es vielmehr darum, der gesetzlichen Anordnung der Rechtsgüter eine „Wertordnung" 51 bzw. ein „Wertsystem" 52 zu entnehmen. Damit ist aber die Notwendigkeit oder auch nur Möglichkeit einer logisch-systematischen Klassifikation noch nicht behauptet. Abgesehen davon, daß der Besondere Teil der geltenden deutschen Strafrechtskodifikation einen entsprechenden Anspruch evidentermaßen nicht erhebt, ist auch von der Sache her ein solches Unterfangen nicht erfolgversprechend. Vordergründig erhebt sich bereits die Schwierigkeit, daß der Gesichtspunkt der Anordnung unterschiedlich gewählt werden könnte. Möglich wäre z. B. die idealtypische Verallgemeinerung der betroffenen Rechtsgüter nach ihrer Struktur, aber auch nach ihrer Bedeutung; denkbar ist auch die Systematisierung nach der Art der Intensität des Angriffs oder (rein formal) nach der Höhe der Strafdrohung. Welcher dieser Gesichtspunkte der „regierende" zu sein hat, kann nur schwer für alle Delikte einheitlich festgelegt werden 53 . Diese Vielzahl relevanter Bezugsebenen macht deutlich, daß ein konsensfähiges System von Rechtsgütern auch in Zukunft nicht zu erwarten ist. Dies hängt auch zusammen mit der historisch-politischen Dimension der Rechtsgut-Problematik. Rechtsgüter sind in einem doppelten Sinne „historisch". Sie sind wandelbar in der Vergangenheit, wie der bereits angesprochene Umstand zeigt, daß die deutschen Strafrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts keinen ausgewiesenen Abschnitt über Rechtspflegeschutz-Delikte enthalten. Sie sind aber auch wandelbar in der engeren Gegenwart, und zwar nicht nur im Hinblick auf den allgemein- und rechtspolitischen Fortschritt, sondern auch im Hinblick auf (freilich damit zusammenhängenden) exegetischen Erkenntnisgewinn. So ist möglicherweise erst unsere Zeit, die als erste ernsthaft zu Maßnahmen gegen die Zerstörung der natürlichen Umwelt gezwungen ist, in der Lage, den gerade unter Rechtsgutaspekten vieldiskutierten Straftatbestand der Tierquälerei einem einsehbar und konsensfähig formulierten Rechtsgut zuzuordnen. Schwierig ist eine Systematisierung aber auch deshalb, weil gesellschaftliche Vorgänge, mit denen das Strafrecht es zu tun hat, sich zwar nicht theoretischer 48
Zum Begriff der systematischen Klassifikation s. Radbruch, Handlungsbegriff S. 9; Philipsborn, Klassifikation S. 18 ff. 49 Würtenberger, Rechtsgüterordnung (1933, ND. mit Vorwort 1973). 50 Oehler, Legalordnung (1950). 51 Oehler S. 3. 52 Würtenberger S. 5. 53 Maurach, BT (4. A.) S. 6 ff., 9; Ders., Systematik aaO S. 231 ff.; Schneidewin, Systematik aaO S. 174. — In diesem Zusammenhang ist auch an die Möglichkeit des Funktionswandels von Normen zu erinnern (vgl. o. Fußn. 22) sowie an die aus der Autonomie des Strafgesetzgebers folgende Möglichkeit, Rechtsgüter von unterschiedlicher Abstraktionshöhe zu formulieren. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, daß der Gesetzgeber den praktischen Sachzusammenhang als ausschlaggebend für die Lozierung eines Tatbestandes ansehen kann; vgl. zum letzten Cramer, Sch/Schr, Vor §331 Rnr 1.
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Erfassung, wohl aber einer Systematisierung weitgehend entziehen. Hinzu tritt ein Zug der Strafgesetzgebung, den man als „interventionistisch" bezeichnen könnte. Strafrecht sucht die besonders gefährdeten oder besonders wichtigen Brennpunkte des gesellschaftlichen Lebens vor „dysfunktionalen" Einwirkungen 54 zu schützen. Sein Eingreifen ist daher bereits von seiner Aufgabenstellung her punktuell und damit — was systematische Durchdringung angeht — fragmentarisch. Hiermit hängt ein weiterer Gesichtspunkt eng zusammen. Rechtsgutbestimmung bedeutet, in ein vielgestaltiges, unübersichtliches und von zahlreichen wechselseitigen Abhängigkeiten geprägtes gesellschaftliches Geflecht Topoi zu plazieren, die den einzelnen Straftatbeständen Legitimation und gleichzeitig „Richtung" geben sollen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn ein Teil der sozialen Totalität, in welche hinein diese Topoi plaziert sind, ausgeblendet wird. Gerade hierin besteht die rechtsstaatliche und die liberale Komponente des Rechtsgutserfordernisses. Diesem kommt also nicht nur — wie jedem Begriff— die Aufgabe der Abstraktion, d.h. der Extrapolation gemeinsamer essentieller Elemente einer gewissen Vielzahl von Einzelfallen zu (Begriffe als „geronnene Erfahrung"), sondern auch die Aufgabe der wertenden, d.h. bewußten, aufgrund bestimmter Wertmaßstäbe vorzunehmenden Eliminierung der Relevanz eines Teils der sozialen Bezüge der tatbestandlich geregelten Materie 55 . Die Gewinnung der Maßstäbe erfolgt — wie gezeigt — durch ein Zusammenspiel juristisch-methodischer Exegese und Sachstruktur-Analyse. M i t diesem Verwiesensein auf die juristische Methode wird auf den Vorgang der Rechtsgutbestimmung aber auch ein Merkmal juristischer Meinungsbildung, nämlich ihre häufig geringe Stringenz, übertragen. Abstrakt ausgedrückt: Für die erwähnte Eliminierungsaufgabe sind regelmäßig oder doch häufig mehrere funktional-äquivalente Lösungen möglich 5 5 3 ; konkreter und trivialer ausgedrückt: Welche Elemente unberücksichtigt bleiben sollen, darüber können auch nach Anwendung juristischer Methode noch unterschiedliche Auffassungen herrschen. Stringente Sequenzen nach der Art „Rechtsgeschäft — Schuld Verhältnis — Schuldverhältnis aus Vertrag — . . . aus zweiseitigem Vertrag — . . . aus zweiseitig
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Zum Begriffs. Amelung, Rechtsgüterschutz S. 361. Wenn Strafrecht — wie Naucke als Position von Hellmuth Mayer formuliert — „eine Erscheinung (ist), die einer unbegrenzten Kriminalpolitik hat abgerungen werden müssen", und wenn gerade in der Begrenzung der Kriminalpolitik (und nicht in dem Beitrag des Gesetzes zur Verbrechensverhütung) „die Vernunft, die Rationalität des Strafgesetzes (liegt)" {Naucke, H. Mayers Konzept aaO S. 22), so liefert nach dem Gesagten das Rechtsguterfordernis gerade mit seiner klassifikationsfeindlichen Seite einen wesentlichen Beitrag zu dieser Rationalität. Dieser Beitrag wird abgeschwächt, wenn — wie es gelegentlich geschieht — allzu leichthändig eine (alternativ aufgefaßte) „mehrfache Schutzfunktion" von Straftatbeständen bejaht wird. Vgl. noch 11. Kap. sub Β IV und 26. Kap. 55a Zum Begriff der „funktionalen Aequivalenz" s. Luhmann, Funktion und Kausalität aaO S. 9 ff., insb. S. 18; ferner Amelung aaO S. 359 m. Nachw. 55
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verpflichtendem Vertrag — ... aus gegenseitigem Vertrag" sind in der Jurisprudenz bekanntlich rare Erscheinungen. Damit aber nimmt — was nicht überraschen kann — auch die Rechtsgutermittlung an den natürlichen Unzulänglichkeiten juristischer Methode teil. Nach alledem verdient die Entscheidung des Gesetzgebers von 1867/1870, den Besonderen Teil des Strafgesetzbuches nicht systematisch zu durchgliedern, sondern aus lockeren Gruppierungen von Straftatbeständen zu komponieren, Zustimmung, wenngleich von unserem Rechtsgut-Postulat her eine etwas stärkere Betonung des Rechtsgutgedankens dem Gesetz zuträglich wäre. C. Folgerungen Aus den kursorischen Erörterungen dieses Kapitels können folgende Erkenntnisse und Konsequenzen für das weitere Vorgehen gezogen werden: — Da Gegenstand der Untersuchung der strafrechtliche Schutz der Strafrechtspflege ist, die Untersuchung sich andererseits im geltenden Strafrecht zu orientieren hat, müssen einerseits die Strukturen und Funktionen eines Rechtsgutes „(Straf-) Rechtspflege" begrifflich erfaßt, daneben aber auch Struktur und Reichweite der auf die Strafrechtspflege bezogenen Strafrechtsnormen analysiert werden. — Zu diesem Zwecke ist, ausgehend vom Tatbestandsensemble des geltenden Strafrechts, zu versuchen, „Rechtspflege" als mögliches Rechtsgut nach außen gegen andere in Betracht kommende Rechtsgüter abzugrenzen. — Ferner ist zu fragen, ob das innerhalb dieser Grenze Vorfindliche den beschriebenen Anforderungen an ein Rechtsgut 56 gerecht wird. Dies — so wird gezeigt werden — ist im Hinblick auf die Ableitungsfähigkeit nicht der Fall. „Rechtspflege" kann zwar als Kennzeichnung einer Schutzrichtung im oben dargelegten Sinne 57 , nicht aber als Rechtsgut im engeren auslegungstechnischen Sinne verstanden werden. Immerhin werden wir Kriterien zu benennen haben, nach denen ein Straftatbestand als „Rechtspflegedelikt" bezeichnet werden kann.— Sodann muß — abermals unter Berücksichtigung sowohl der materiellstrafrechtlichen Normen wie der Struktur und Funktionen des Regelungsgegenstandes — versucht werden, materiellstrafrechtlich operable Rechtsgüter für diesen Bereich zu formulieren 58 . Zuvor allerdings ist noch einer besonderen Problematik des Untersuchungsgegenstandes, nämlich seiner normativen Stoffbestimmtheit, eine kurze Betrachtung zu widmen.
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s. o. sub Β IV. s. ο. sub Β IV 2. s. u. 7. Kap. sub D.
6. Kapitel Strafrecht und Prozeßrecht Α. Problemstellung Aussagen über den strafrechtlichen Schutz der Rechtspflege sind nicht nur in ihrem Sachbezug, sondern auch in der Methode besonderen Anforderungen ausgesetzt. Die Besonderheit ergibt sich aus der eigenen normativen Stoffbestimmtheit des Regelungsbereiches „Rechtspflege". Die hier angesprochene Ebene im Verhältnis zwischen den beiden Normkreisen stellt nur eine unter zahlreichen dar, welche sich vielfältig aufschichten und überkreuzen. Daher sei zunächst in aller Kürze das Umfeld durch Rekapitulation der wichtigsten Arten des Aufeinandertreffens aufgehellt; sodann seien jene Problembereiche vertieft, welche für unsere Untersuchung relevant sind. B. Berührungen Berührungspunkte, Überschneidungen und Verschlingungen zwischen materiellem Strafrecht und Strafprozeßrecht sind zahlreich und kaum vollständig benennbar. Nur an die wichtigsten sei erinnert. I. Überschneidungen
Daß eine präzise Trennung zwischen den Bereichen „Prozeßrecht" und „Materielles Strafrecht" nicht gänzlich durchführbar ist, zeigen jene Materien, welche den Versuchen exakter Zuordnung Schwierigkeiten bereiten, wie ζ. B. die Regeln über Verjährung 1 und andere Verfolgungshindernisse 2. Daß diese Schwierigkeiten nicht nur klassifikatorischer Art sind, sondern auch aus funktionalen Verknüpfungen resultieren können, macht die mitunter auftauchende Problematik „doppelrelevanter Tatsachen" deutlich 3 . Verschiedentlich ist davor gewarnt worden, die Zuordnung einer Problematik zu einem der beiden Bereiche zum Kriterium für die Lösung von Sachproblemen zu erheben 4. 1 Von der Beantwortung dieser Frage hat bekanntlich BVfGE 25, 286 ff. die Zulässigkeit der nachträglichen Verlängerung von Verjährungsfristen abhängig gemacht. 2 Vgl. K. Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafprozeß (1978). 3 Ζ. Β. in der Frage der Zulässigkeit des Freibeweises; dazu näher 11. Kap. sub D V m. Nachw. 4 Lüderssen, ZStW 85 (1973), 315; Naucke, NJW 1968, 2323 (z. Problem „Senkung der Promillegrenze und Rückwirkungsverbot"). Für Naucke folgt die Warnung aus seinem
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An diesen Bedenken ist richtig, daß — jedenfalls in den insoweit gerade relevanten Randbereichen — die herkömmliche Einordnung, insb. die gesetzliche Standortwahl, sich häufig weniger einer bewußten legislatorischen Sachentscheidung als bloßer Traditions Verlängerung verdankt 5 . Die genannten Schwierigkeiten und die prinzipiell berechtigten Bedenken gegen die Dogmatisierung der Trennung beider Bereiche hindern jedoch nicht, die Bereiche begrifflich zu unterscheiden. Die z. T. weit ausholenden Untersuchungen über die Wesensunterschiede von materiellem Recht und Prozeßrecht, unter denen Goldschmids Monumental werk nach wie vor herausragt 6, brauchen hier nicht aufbereitet zu werden. Daß die Problematik nicht ohne Praxisrelevanz ist, zeigt sich in jenen prozessualen Problemlagen, die im Einzelfall nicht ohne die Beantwortung der Zuordnungsfrage auflösbar sind 7 . Sie liegen indes abseits unserer Thematik und bedürfen daher hier keiner vertieften Erörterung. Näher zu betrachten sein wird freilich noch in diesem Kapitel, wie die Lösung bestimmter Probleme sowohl mit prozeßrechtlichen wie auch mit materiellrechtlichen Mechanismen betrieben werden kann und wie beide aufeinander abgestimmt werden können 8 . Die Zuordnung solcher Mechanismen zu ihrem jeweiligen Bereich bereitet in der Regel aber keine Schwierigkeiten. II. Einflußnahmen
Neben den klassifikatorischen Überlagerungen und funktionalen Verschlingungen verdienen jene Beziehungen Erwähnung, in denen die innere Ausgestaltung des einen Rechtsgebietes durch die Existenz und Nachbarschaft des anderen beeinflußt ist. Die bekannteste Formulierung für die Einflußnahme des Prozeßrechts auf das materielle Strafrecht ist die von Peters eingeführte von der „strafrechtsgestaltenden Kraft des Strafprozesses" 9. Lüderssen 10 hat sie an der Bemühen um eine praxisbezogene Strafrechtswissenschaft; vgl. z. B. Naucke, ZStW 85 (1973), 399 ff., insb. 425; ders., Grundlinien passim, insb. S. 39 ff. 5 Allerdings kann die Zuordnung über legislatorische Kompetenzen entscheiden. Die Zuordnung der Verjährungsmaterie zum materiellen Strafrecht machte diese Materie bereits 1870/71 zu Bundes- bzw. Reichsrecht. Ähnliche Bedeutung gewinnt die Zuordnung u. U. im schweizerischen Recht; vgl. dazu Schultz, Rechtseinheit aaO S. 429 ff., 431. 6 Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925). 7 s. die Beispiele b. H. Kaufmann, Strafanspruch S. 1 ff., 173 ff. 8 s. z. B. u. sub III. 9 Peters, Kraft (1963); ders., Strafprozeß S. 11. 10 Lüderssen, ZStW 85 (1973), 288 ff.; L. vertieft die Problematik durch Verknüpfung des fragmentarischen Charakters des Strafrechts und der selektiven Funktion des Erfolgsunwertes mit der Funktionsfähigkeit des Strafprozesses. Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden. L. und Peters haben aber auch deutlich gemacht, daß gewisse materiellrechtliche Elemente — vor allem im Schuldbereich — nicht paßgerecht für das Prozeßrecht formuliert bzw. konstruiert sind; vgl. Peters, Kraft S. 39; Lüderssen aaO, weitere Beispiele b. Reinh. v. Hippel, JR 1978, 398. — M i t einer weiteren Fragestellung — dem Verhältnis des Straftatsystems zum Strafprozeß — befaßt sich die Untersuchung von Marxen, Straftatsystem und Strafprozeß (Berlin 1984).
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„strafrechtsgestaltenden Kraft des Beweisrechts" exemplifiziert. Historische und aktuelle Beispiele in beiden Richtungen lassen sich in großer Zahl anführen. Erwähnt sei nur die Anknüpfung mehrerer prozeßrechtlicher Regelungen an die materiellrechtliche Einteilung der Deliktscharaktere (§12 StGB) 1 1 , ferner das fragwürdige gesetzgeberische Unternehmen, mit §129 a StGB einen Straftatbestand zu schaffen, der in erster Linie als Anknüpfungsmöglichkeit für strafprozessuale Restriktionen der Beschuldigtenstellung zu dienen bestimmt ist. Aus unserem engeren Untersuchungsbereich interessiert die Bezugnahme der §§ 138 a Abs. 1 Nr. 3 und 60 Nr. 2 StPO auf §258 StGB sowie der häufig erwähnte 12 Zusammenhang zwischen der Einschränkung der Vereidigungsfälle im Strafverfahren 13 und der Einführung des Tatbestandes der falschen uneidlichen Aussage im Jahre 1943, welche ihrerseits die Möglichkeit eröffnete, die Fälle des Absehens von Vereidigung abermals auszudehnen14. Ein interessantes historisches Beispiel bieten ferner die von Blasius 15 näher untersuchten Versuche des preußischen Gesetzgebungsministeriums, durch Herabsetzung der Strafdrohungen für Eigentumsdelikte im Strafgesetzbuch-Entwurf von 1843 den Zuständigkeitsbereich der rheinischen Schwurgerichte zu beschneiden.
Die Beispiele illustrieren, daß die Einflußnahmen des einen Rechtsgebietes auf die innere Gestalt des jeweils anderen nicht nur als durch die Sachlogik (nämlich durch die evidente Nachbarschaft und funktionale Zuordnung der beiden Bereiche) bedingte Reflexe auftauchen, sondern auch auf bewußten, aus pragmatischen und / oder politischen Erwägungen eingesetzten Zielbestimmungen beruhen können 16 . Daß gewisse Probleme gesetzestechnisch durch materiell rechtliche wie durch prozeßrechtliche Regelungen lösbar sind, ist Zeichen einer Permeabilität zwischen beiden Bereichen. An der Zuordnung der betreffenden Normen zum jeweiligen Rechtsgebiet ändert diese Einsicht aber nichts 17 . 11 Z. B. Vorschriften über Zuständigkeit (§74 Abs. 1 S. 1 GVG), Verfahrenseinstellung (§§153, 153 a StPO), Strafbefehl (§407 StPO). 12 s. nur Peters, Strafprozeß S. 12; zuletzt Grünwald, Verfahrensrolle aaO S. 504 f.; vgl. auch Strafe, StrVt 1984, 42 ff. 13 Wie überhaupt in gerichtlichen Verfahren, aber auch in anderen Bereichen (vgl. i.e. 11. Kap. sub Β III). 14 Insgesamt war dieser Vorgang freilich auf der prozeßrechtlichen Seite weitaus wechselvoller. Von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der materiellstrafrechtlichen und der prozeßrechtlichen Problematik kann vom historischen Ablauf her nicht ohne weiteres die Rede sein; wohl aber besteht im Ergebnis ein sachlicher und systematischer Zusammenhang; vgl. näher die im Vorwort angekündigte Monographie des Verf. zur Reformgeschichte der Aussagetatbestände. 15 Blasius, Geschworenengerichte aaO S. 148 ff., insb. S. 154 ff. 16 Die von Peters, Strafprozeß S. 10, für diese Erscheinung gewählte Bezeichnung, Strafprozeßrecht sei ein dem Strafrecht „parallellaufendes Recht", erscheint mir nicht glücklich, denn es handelt sich bei den aaO angeführten Beispielen um innerprozeßrechtliche Konsequenzen aus dem materiellen Strafrecht. 17 Daher ist diese Frage auch nicht zu verwechseln mit der oben referierten Problematik, ob Sachfragen aus der Zuordnung der Materie zu einem der Rechtsgebiete gelöst werden dürfen.
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Wichtiger und häufiger als die bisher angesprochenen Überschneidungen und gegenseitigen Einwirkungen sind jene Vorgänge, welche sich bei der Aktualisierung von Normen beider Rechtsgebiete ergeben. In diesem Zusammenhang werden die Normen des jeweils einen Bereiches zum Gegenstand des anderen. Materielles Strafrecht wird zum Maßstab strafprozessualer Verhandlung und strafprozeßrechtlicher Beurteilung (dazu III), strafprozessuale Vorgänge können Gegenstand materiellstrafrechtlicher Regelung und Bewertung sein (dazu IV). III. Materielles Strafrecht im Strafprozeßrecht
Materielles Strafrecht wird im Strafprozeß aktualisiert 18 ; Strafprozeßrecht dient der Verwirklichung des materiellen Strafrechts. Diese Fundamentalaussage mag noch zu relativieren sein; als notwendige Bedingung formuliert ist sie unbezweifelbar richtig: Nur im Wege des Strafverfahrens kann materielles Strafrecht Anwendung finden. Da wir uns dieser Problematik im 8. Kapitel widmen werden, sei sie hier zunächst übergangen. Materiellrechtliche Fragen tauchen im Strafprozeß aber nicht nur deshalb auf, weil der Strafprozeß die notwendige zeitlich-räumliche Bedingung und die notwendige Aktualisierungsform des materiellen Strafrechts abgibt. Prozeßhandlungen können ihrerseits materiellstrafrechtliche Relevanz besitzen. Durch Aussagen von Beweispersonen können allgemeine Straftatbestände erfüllt werden, beispielsweise diejenigen der §§203 Abs. 1 und 2,185,186 StGB; Richter und Staatsanwälte sind im Bereich der Zwangsmaßnahmen Täter und/oder Teilnehmer von Freiheitsberaubungen, Körperverletzungen, Hausfriedensbrüchen, Sachbeschädigungen, Verletzungen des Brief- und Fernmeldegeheimnisses; Prozeßhandlungen von Strafverteidigern sollen die Tatbestände der §§129, 129a StGB erfüllen können. Strafprozessuale Normen kommen bei diesen Handlungen der Richter, Staatsanwälte und Verteidiger als Rechtfertigungsnormen in Betracht. Ob und wieweit umgekehrt die Strafrechtsrelevanz von Prozeßhandlungen sich auf die prozeßrechtliche Beurteilung auswirken soll, ist streitig 19 , braucht aber hier zunächst nicht weiter verfolgt zu werden. Keine Besonderheit stellen schließlich jene Fälle dar, in denen der Prozeß nur die funktionelle oder sogar nur akzidentelle Kulisse für Straftaten abgibt: der zivilprozessuale Kläger begeht einen Prozeßbetrug, der Justizwachtmeister 18 Daß es sich im Strafprozeß „verwirkliche", trifft zwar als notwendige Bedingung zu, die Wirkungen materieller Strafrechtsnormen erschöpfen sich aber nicht in der bloßen Individualisierung von Rechtsfolgen. — Rechtspolitisch ergibt sich allerdings aus dem Charakter des Strafprozesses als eines „notwendigen" Prozesses die Forderung, daß „Strafprozeß die prinzipielle Durchsetzbarkeit des Strafrechts zum Gegenstand haben (müsse), wenn er seine rechtsfriedenssichernde Funktion erfüllen soll(e)" und daß „ein auf Rechtsgüterschutz reduziertes, auf seine Notwendigkeit überprüftes Strafrecht... in der überwiegenden Zahl der Fälle auch angewandt werden (muß)" (Rieß, NStZ 1981, 5). 19 Grundlegend W. Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950); kritisch z. B. Lüderssen, Verbrechensprophylaxe aaO S. 247 f.; Dencker, Verwertungsverbote S. 23 ff.
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ohrfeigt ohne triftigen Anlaß einen Zuhörer usw. Diese Fälle sind für uns schon deshalb ohne Bedeutung, weil ihre Strafrechtsrelevanz als solche für den betreffenden Prozeß ohne Bedeutung ist, und umgekehrt die besonderen Umstände der Tatbegehung für die materiellstrafrechtliche Subsumtion von sekundärer Bedeutung sind. IV. Prozeßrecht im materiellen Strafrecht
Der letzte Problembereich schließlich ist der für uns vor allem bedeutsame: Schutz des Strafverfahrens durch materiellstrafrechtliche Normen. Prozeßrecht (bzw. sein Substrat, der Prozeß) begegnet uns hier nicht — wie meistens — in einer das materielle Strafrecht ergänzenden oder „verwirklichenden" Funktion, sondern gerade umgekehrt als „Destinatär" des materiellstrafrechtlichen Schutzes, bzw. — im Gegenlicht — als „Opfer" der Straftat 20 in einem noch näher zu bestimmenden21 Sinne. Materielles Recht wird nicht vom Prozeßrecht geformt, es normiert vielmehr seinerseits Verhältnisse des Prozesses, weshalb es freilich — dies ist die Dialektik jeder Normsetzung 22 — eben diesem Regelungsgegenstandes „adäquat" sein muß. Da nun Rechtspflegeschutz-Tatbestände, wenn sie im Einzelfall auf den Strafprozeß anzuwenden sind, eine auch der Verwirklichung des materiellen Strafrechts dienende Struktur 23 zum Gegenstand haben, ist im strafrechtlich geschützten Rechtsgut 24 letztlich das Strafrecht selber — wenn auch durch die Eigenheiten des Prozeßrechts und der Prozeßsituation vielfach gebrochen — „aufgehoben". Hier besteht eine doppelte Strafrechtsrelevanz, deren Einfluß auf unsere Thematik vor allem dort festzustellen ist, wo strafrechtliche und strafprozeßrechtliche Wertungen aufeinandertreffen. Es handelt sich nicht mehr um die oben berührten Zuordnungsfragen oder um wechselseitige Beeinflussungen beider Rechtsbereiche, sondern um die Möglichkeit wirklicher Kollisionen und Konkurrenzen zwischen den beiderseitigen Normen. Zwei Problemen aus diesem Fragenkreis sei näher nachgegangen: 1. Ist Gegenstand der materiellstrafrechtlichen Regelung eine Materie, die selber — und zwar in anderer als materiellstrafrechtlicher Art — normativ geprägt und strukturiert ist, andererseits freilich — was den Strafprozeß angeht — sogar dem materiellen Strafrecht in gewisser Weise funktional zugeordnet ist, so ist fraglich, wie weit inhaltlich bei der (prinzipiell aus der Perspektive des materiellen Strafrechts vorzunehmenden 25) Formulierung des geschützten 20 Hierin unterscheidet diese Konstellation sich somit von der zuletzt erwähnten, in der der Prozeß nur die Kulisse bzw. den Anlaß für das Strafrecht abgibt. 21 s. u. 7. Kap. sub C, D. 22 s. o. 5. Kap. sub IV. 23 Näher dazu das 8. Kap. 24 Wie immer dies zu formulieren sein wird; s. noch 7. Kap. 25 s. o. 5. Kap. sub IV.
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Rechtsgutes der normative Charakter des Regelungsgegenstandes zu berücksichtigen ist. Die Frage stellt sich vor allem dann, wenn die Interpretation des Wortsinns der materiellen Regelung zu einem Ergebnis führt, welches zwar äußerlich sich dem Regelungsobjekt anpassen läßt, jedoch mit der eigenen normativen Tendenz der Materie nicht harmoniert. Da im Bereich des materiellen Rechts der Wortsinn die Auslegungsgrenze markiert, sind nicht so sehr jene Konstellationen von Interesse, in denen die eigene (prozessuale) Normativität des Regelungsobjekts ein weiterreichendes Schutzinteresse möglich erscheinen läßt — hier setzt der fragmentarische Charakter des Strafrechts die Priorität. Bedeutsam sind vielmehr die umgekehrt gelagerten Fälle. Die Frage lautet daher: Wie weit engt das (Straf-)Prozeßrecht den Interpretationsspielraum für die Rechtsgutbestimmung innerhalb der Wortlautgrenze des Straftatbestandes ein? 2. Bevor dieser Frage nachgegangen wird (sub D), sei eine Besonderheit vorab erörtert: Strafprozeßrecht besitzt, wie jedes Prozeßrecht, eigene Präventionsund Sanktionsmechanismen, die u.a. der Erreichung des Verfahrenszieles 26 dienen; das Nebeneinander prozessualer und materiellstrafrechtlicher Reaktionsmöglichkeiten wirft die Frage auf, wie weit die Auslegung der einschlägigen Straftatbestände auf die Möglichkeiten prozessualer Reaktionen Rücksicht zu nehmen hat, prozeßrechtliche und materiellstrafrechtliche Schutzmechanismen aufeinander abgestimmt sind, wie weit insbesondere die jeweiligen Sanktionen miteinander konkurrieren. (Dazu C).
C. Schutzmechanismen I. Allgemeines
Rechtlich geregelte Verfahren sind störanfällig. Verfahrensgesetzgebung wird zwar bemüht sein, das den Prozeß regulierende Normenensemble so zu gestalten, daß die Störanfälligkeit minimiert wird. Jedoch besitzt die Wirksamkeit derartiger immanenter Schutzmechanismen spezifische Grenzen. Ein Verfahren, dessen Struktur keinerlei Störungsmöglichkeiten ausgesetzt wäre, wäre weder praktikabel, noch entspräche es rechtsstaatlichen Anforderungen. Letztlich würde es sich sogar als „Verfahren" überhaupt desavourieren, wenn dieser Begriff mehr als nur zweckrationales Finalverhalten staatlicher Entscheidungsträger erfassen soll. Eine scharfe Scheidung der Normen, welche dem gleichsam strukturellen Kernbereich des Strafverfahrens angehören, von solchen, die zum Schutze des Verfahrens zusätzlich angefügt sind, ist nicht immer möglich. So lassen die Regelungen über Rechtsmittel und über Wiederaufnahme des Verfahrens sich als „Schutzmechanismen" begreifen, welche der Fehlsamkeit menschlichen 26
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Zu diesem Begriff s. 7. Kap. sub D I I 2 sowie 8. Kap. passim.
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Richtens Rechnung tragen; sie können aber auch (und zwar aus dem nämlichen Grund menschlicher Unvollkommenheit) bereits zum Wesenskern des Verfahrensrechts gezählt werden. Vergleichbares gilt für die strafprozessualen Grundrechtseingriffe. Eine begriffliche Festlegung ist für unsere Problemstellung bedeutungslos. Relevant hingegen sind Fragen nach dem Verhältnis zwischen prozeßrechtlichen Schutzmechanismen und materiellstrafrechtlicher Sanktionierung von Verfahrenshandlungen. Vor allem ist hier zu klären, ob und wie weit Strafrecht bei seiner Setzung und Anwendung prozessuale Schutzmechanismen zu berücksichtigen hat, diesen also eine Priorität einzuräumen ist, strafrechtliche Sanktionen mithin nur subsidiär — als ultima ratio — einzusetzen sind. Da sich dieses Problem vor allem für das Verhältnis der strafrechtlichen zu den prozessualen Sanktionen stellt, sei es nachfolgend an diesem exemplifiziert; die gestellte Frage nach der Subsidiarität — dies sei vorausgeschickt — wird zu verneinen sein. II. Sanktionen
1. Problemstellung Indem prozessuale Sanktionen an bestimmte Verhaltensweisen von Verfahrensbeteiligten nachteilige Folgen knüpfen, sind sie dem strafrechtlichen Schutzmechanismus strukturell verwandt 27 . Eine scharfe Grenze zwischen prozessualen Sanktionen und anderen prozessualen Schutzmechanismen ist nicht immer deutlich zu ziehen. Die Aufhebung des Urteils in der Revisionsinstanz trifft den Richter der Tatsacheninstanz regelmäßig ebenso als Sanktion, wie den Anklage-Sachbearbeiter die Ablehnung des Eröffnungsbeschlusses i.d.R. nicht gleichgültig lassen wird 2 8 . Immerhin lassen sich Sanktionen in dem hier gemeinten Sinne einigermaßen randscharf mit dem Regierungsentwurf zum EGStGB 1975 als zwei Gruppen von „Rechtsnachteilen" verstehen, nämlich ,,a) repressive Rechtsfolgen für einen vorausgegangenen Ordnungsverstoß; b) Zwangs- und Beugemaßnahmen"29. Zu ihnen gehören im Bereich des Strafpro27
Dazu, daß er weiter reicht, s. u. 8. Kap. Freilich sind in beiden Fallgruppen auch Vorentscheidungen möglich, welche in der Erkenntnis der Möglichkeit späterer Nichtbestätigung ergehen („Versuchsballons"; oder auch: Erhebung von erfolglosen Anklagen als interner Nachweis „schneidigen" Vorgehens u. ä.). 29 So die Begründung des Regierungsentwurfs zum EGStGB 1974 (BT-Drucksache VI/3250, S. 185, Ziff. 12); s. auch Maurach ! Zipf, A T / 1 , S. 6; in der zusammenfassenden Formulierung des Bundesverfassungsgerichts: Sanktionen im hier verstandenen Sinne „zielen auf Repression und Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten ab" ( BVfGE 20, 331). — Die prozessualen Sanktionen „reichen von der Ablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit, den sitzungspolizeilichen Ordnungsmaßnahmen des Gerichts gegen verhandlungsbeteiligte Parteien, Angeklagte, Zeugen und Sachverständige wegen Ungehorsams oder Ungebühr . . ., über die Entfernung des Angeklagten bis zum Ausschluß des Strafverteidigers" (/. Müller, StrVt 1981, 91 f.). 28
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zesses z. B. die Maßnahmen bzw. Rechtsfolgen nach §§51, 70 Abs. 1 u. 2, 77, 95 Abs. 2, 124 Abs. 1 StPO, §§177, 178 GVG. Die Rechtsgeschichte zeigt, daß die Unterwerfung von bestimmten Verhaltensweisen unter prozessuale oder materiellstrafrechtliche Sanktionen nicht nach festen sachlichen Kriterien geschieht, daß vielmehr Verschiebungen in beiden Richtungen vorkommen. Da eine umfassende Darstellung der strukturellen Zusammenhänge zwischen prozeßrechtlichen und strafrechtlichen Problemlösungsmechanismen die Grenze des gesteckten materiellstrafrechtlichen Untersuchungsbereiches überschreiten würde, seien Umfang und Grenzen der sachlichen und regelungstechnischen Durchlässigkeit beider Sanktionssysteme wenigstens an zwei zeitlich aufeinanderfolgenden historischen Beispielen demonstriert. 2. Historische Beispiele a) Lügen- und Ungehorsamsstrafen Wie Wandlungen des Prozeßrechts sich auf das materielle Strafrecht auswirken können, zeigen die nach der Aufhebung der Folter zwischen 1740 und dem beginnenden 19. Jahrhundert eingeführten Lügen- und Ungehorsamsstrafen. Da „die Beseitigung der Folter... aus dem Gefüge des Inquisitionsprozesses nur das Gewaltmittel heraus(brach), das im Hinblick auf die Bedeutung des Geständnisses bisher allenthalben für gänzlich unentbehrlich gehalten worden war, Sinn und Struktur des Inquisitionsprozesses aber ... dadurch nicht berührt (wurden)" 30 , mußten zwangsläufig Friktionen im Prozeßgefüge auftreten. Nur zögernd bekannte man sich zu der Einsicht, daß nach der Herauslösung eines einzelnen Elements aus einem historisch und rechtstechnisch eng verwobenen Problemgeflecht der verbleibende Normenbestand seinen funktionsgerechten Zusammenhalt verlieren mußte 31 . Prozeßrechtssystematisch gesehen32 war die Folter das Komplement der gesetzlichen Beweistheorie gewesen, insbesondere jenes Grundsatzes, wonach das Geständnis als „regina probationum" anzusehen war 3 3 . Blieb die gesetzliche Beweistheorie trotz Abschaffung der Folter erhalten, so mußte nach Surrogaten gesucht werden 34 , mit denen sie wieder komplementiert werden konnte. Eines dieser Surrogate waren besondere Formen des Verfahrensabschlusses — Verdachtsstrafen oder Instanzentbin30
Eb. Schmidt, Einführung S. 270. Nöllner, ZDtStrV 1 (1840), 41 f. 32 Von den anthropologischen, soziologischen und historischen Erklärungsmöglichkeiten sei hier abgesehen; vgl. nur Nöllner aaO S. 50. 33 Eb. Schmidt, Einführung S. 270. 34 Der erste wissenschaftliche Versuch in dieser Richtung scheint von Quistrop (Anweisungen für Richter beim Verfahren in Strafsachen wider solche, welche die Wahrheit nicht gestehen wollen, in Ländern, wo die Folter abgeschafft ist, 1789) unternommen worden zu sein; vgl. Hohbach, NArchCrR 12 (1830), 449 ff., 450, Fußn. 1. 31
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dung (absolutio ab instantia) 35 — , manches konnte durch Beweis Vermutungen (wie die praesumtio doli) 3 6 aufgefangen werden; ein weiteres Mittel schließlich — und nur dieses soll hier interessieren — waren die sog. Lügen- oder Ungehorsamsstrafen. Sie wurden gegen den Beschuldigten verhängt, wenn er hartnäckig leugnete, die Wahrheit bewußt verschwieg oder jede Antwort verweigerte 37. A m preußischen Recht sei dies exemplifiziert 38 . Die Criminalordnung von 1805 39 untersagte in §285 dem Inquirenten, bei dem Bemühen, „den Verdächtigen zum Geständnisse zu bringen", „gewaltsame Mittel, von welcher Art sie auch sein mögen", anzuwenden. §§286, 288 CrimO verboten Straflosigkeitsversprechungen sowie „Drohungen, tätliche Behandlung, Stoßen, Schlagen oder Zufügen irgendeines körperlichen Leidens" als Mittel, „den Beschuldigten zum Bekenntniß der Wahrheit zu nöthigen". Auch „wegen hartnäckig verweigerter Antwort oder Angabe der Mitschuldigen oder Herbeischaffung der entwendeten Sachen sowie wegen wirklicher Lügen" sollte — so die ausdrückliche Anordnung des §289 CrimO — niemand mehr „vom Richter eigenmächtig gezüchtigt oder sonst thätlich gemißhandelt werden". Zuwiderhandlungen durch den inquirierenden Richter wurden mit Strafe bedroht (§290 CrimO). Dann allerdings folgte unvermittelt das Surrogat für die verbotenen Maßnahmen. Dem Richter wurde aufgegeben, seinem Collegium oder dem vorgesetzten Landes-Collegium Anzeige zu machen, falls „der halsstarrige und verschlagene Verbrecher durch freche Lügen und Erdichtungen oder durch verstocktes Leugnen oder gänzliches Schweigen" sich „der verdienten Strafe entziehen" wollte. Vorsorglich sollte dem Collegium auch zugleich über den körperlichen Zustand des Angeschuldigten pflichtgemäß berichtet werden (§292). Das Collegium war dann befugt, durch ein (nicht recursibles) Dekret „eine Züchtigung gegen einen solchen Angeschuldigten zu verfügen" (§293). Die Züchtigung mußte „nach Beschaffenheit des körperlichen Zustandes in der durch das Dekret bestimmten Anzahl von Peitschen- und Ruthenhieben bestehen". Auch konnte ersatzweise „Entziehung der besseren Kost, einsames Gefangniß oder eine ähnliche der Gesundheit des Angeschuldigten unschädliche Maßregel" verhängt werden (§296). An die Stelle der unmittelbaren Einwirkung auf den Körper des Beschuldigten zwecks Erzwingung des Geständnisses war somit die Verhängung einer (repressiven) Sanktion getreten. Konstruktive Voraussetzung für die Legitimation dieses Vorgehens war die Postulierung einer Aussage- und einer Wahrheitspflicht des Angeschuldigten 40 35
Rüping, Grundriß S. 66. Dazu Waider, JuS 1972, 305 ff.; Rüping, Grundriß S. 39. 37 Rüping, Grundriß S. 15; Eb. Schmidt, Einführung S. 271; Mauß, Lügenstrafen. 38 Glaser, Grundlagen aaO S. 7 ff., stellt die Regelungen der österreichischen (1803), bayerischen (1813) und preußischen Prozeßgesetze nebeneinander. Zum folgenden vgl. die Darstellungen bei Glaser und Mauß aaO. 39 s. QVerz. 36
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— i m Zeitalter der Folter hatten diese K o n s t r u k t i o n e n den unmittelbaren Z u g r i f f auf den K ö r p e r des Inquisiten gerechtfertigt 4 1 . Freilich ging diese K o n s t r u k t i o n nicht glatt auf; die Behauptung, eine „Wahrheitspflicht" werde verletzt, war widersprüchlich, da sie das doch erst zu gewinnende Ergebnis der Beweisaufnahme — das Geständnis — inhaltlich v o r w e g n a h m 4 2 ; selbst wenn man eine Unterscheidung zwischen (strafbarem) Lügen u n d bloßem (straflosen) Leugnen t r a f 4 3 , war damit nicht viel gewonnen, denn „ d i e Unterscheidung zwischen Läugnen u n d Lügen (beruht)" — wie Mittermaier zu bedenken gab — „ a u f keinen festen G r ü n d e n . . . u n d W i l l k ü r der Richter (bekömmt) ein gefährliches F e l d " 4 4 . I m übrigen kollidierte die gesamte A r g u m e n t a t i o n m i t dem Grundsatz der Unschuldsvermutung, denn deren Außerkraft Setzung war die Voraussetzung für die inhaltliche Berechtigung der verhängten S a n k t i o n 4 5 . 40 Mitunter — vor allem gegen Ende der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts — wurde nur eine Aussage-, nicht aber eine Wahrheitspflicht des Beschuldigten behauptet; s. z. B. Nöllner, ZDtStrV 1 (1840), 60, 65, dessen Ausführungen freilich die praktischen Schwierigkeiten der Durchführung dieser Trennung deutlich werden lassen; dagegen auch Zachariae, Handbuch Bd 1 S. 259, FN. 4: „Wen man zwingen kann, ,zur Rede zu stehen, den kann man auch so in die Enge treiben, daß er endlich doch sagen muß, was man von ihm verlangt." 41 Köster, Unschuldsvermutung S. 107, spricht von einem „Gesetzgebungstrick" zur Schließung der durch die Abschaffung der Folter entstandenen Lücke. Nach Eb. Schmidt, Einführung S. 271, waren die Ungehorsamsstrafen „im Grunde genommen . . . nur ein Geständniszwang ohne Einsatz des eigentlichen Folterwerkzeugs". 42 Vgl. Köster aaO S. 107. 43 s. die Nachweise b. Nöllner, ZDtStrV 1 (1840), 42; Mittermaier, Strafverfahren Bd 1 S. 282, FN. 19. 44 Mittermaier, Strafverfahren Bd 1, S. 282 f., unter Aufgabe seiner eigenen Auffassung in: Handbuch Bd 2, S. 167; Nöllner aaO S. 42 konstatiert ebenfalls, daß es nicht gelungen sei, „diese Unterscheidung mit practischem Erfolge nachweisen zu können". Mittermaier regte an, „bei dem unartig und widerrechtlich sich betragenden Inkulpanten . . . wie gegen den listig sich verstellenden, wenn die Gewißheit der Verstellung da ist", die Gefängnisstrafe zu verschärfen, bei dem „beharrlich die Antwort verweigernden . . . die Untersuchung, soweit es ohne die Vernehmung geschehen kann, (fortzusetzen) und die Verhandlungen nach eingeholter Vertheidigung zum Rechtsspruche (vorzulegen), wo dann die Richter mit genauer Erwägung der Umstände über den Angeschuldigten nach den vorliegenden Beweisen und Indizien entscheiden, und das beharrliche, durch nichts gerechtfertigte Schweigen als einen neuen, oft nicht unwichtigen Verdachtsgrund ansehen werden" (aaO S. 283). 45 Nöllner aaO S. 45: „Die Verhaftung stellt sich schon als eine sehr empfindliche Maßregel für den Beschuldigten dar; vereinigen sich mit dieser noch Ungehorsamsstrafen, so wird dieser empfindliche Zustand aufs höchste gesteigert, obwohl über Schuld oder Unschuld in der Hauptsache erst entschieden werden soll." — Es zeigt sich freilich, daß ein Institut wie die Unschuldsvermutung je nach seinem Umfeld einen anderen Stellenwert gewinnen kann, denn die Frage, von wann an die Vermutung als widerlegt angesehen werden darf, wird anders zu beantworten sein je nachdem ob der Grundsatz der freien Beweiswürdigung oder ob gesetzliche Beweisregeln gelten. — Über wechselseitige Abhängigkeiten prozeßrechtlicher Institute (am Beispiel der Beweissysteme) vgl. Peters, Übergänge aaO.
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Paradoxerweise galt übrigens — wenn auch unausgedrückt — gerade für die Feststellung der „Halsstarrigkeit" u n d „Verschlagenheit", der „Frechen Lüge u n d Erdichtung" u n d des „Verstockten Leugnens" eben jener Grundsatz, dessen Fehlen die Lügen- u n d Ungehorsamsstrafen erforderlich erscheinen ließ — der Grundsatz der freien richterlichen Beweis Würdigung. V o n hier aus mag man rückschließen, daß es sich bei jenen Strafen nicht u m „echte" Kriminalstrafen gehandelt h a b e 4 6 ; jedoch war der Rechtscharakter der Ungehorsamsstrafen i m damaligen Schrifttum durchaus u m s t r i t t e n 4 7 . Interessant ist jedenfalls i m Rahmen unserer Fragestellung, daß ein bestimmtes Defizit des strafprozessualen, insb. strafprozeßrechtlichen Systems nicht mehr m i t immanent prozessualen M i t t e l n angegangen, sondern auf die Sanktionsebene verlagert wurde. Trotz der geschilderten F r i k t i o n e n ist also der engere Bereich des Strafverfahrens auf diese Weise „entlastet" 4 *. Eine andere Frage ist die der sachlichen Bewertung der Sanktionsnorm und des ihr zugrundeliegenden Verständnisses von der Rolle des Beschuldigten. Mit heutigen Vorstellungen sind sie sicherlich nicht zu vereinbaren. Berücksichtigt werden muß aber, daß die damaligen Denkstrukturen noch durch die gesetzliche Beweistheorie geprägt waren 49 , welche für sich gesehen gerade nach Abschaffung der Folter Behutsamkeit bei der Verurteilung sicherten. Die Situation eines Untersuchungsrichters, der das Verdikt 46 Auch die fehlende Anfechtbarkeit spricht für diese Deutung (Andere Strafprozeßordnungen — so die württembergische von 1843 in Art. 374 — kannten allerdings Rechtsbehelfe gegen die Verhängung von Ungehorsamsstrafen; s. QVerz.). In Preußen war ferner — unabhängig von der Verhängung der Ungehorsamsstrafe — gem. § 51 A L R I I 20 im Falle des Lügens vor Gericht generell Strafverschärfung möglich, was ebenfalls gegen den kriminalrechtlichen Charakter der Sanktion angeführt werden könnte. Freilich konnte im Augenblick der Verurteilung (in der Hauptsache) die Unschuldsvermutung legitimerweise als widerlegt angesehen werden. 47 Die Zuordnung hing nicht zuletzt davon ab, wie weit man die der Ungehorsamsstrafe korrespondierende „Gehorsamspflicht" zog: Wahrheitspflicht oder nur Äußerungspflicht? Dies hing wiederum davon ab, ob man am Erfordernis des Geständnisses festhielt, oder — wie z. B. die württembergische StPO von 1843 in Art. 148 Abs. 1 — das Lügen nur als Strafschärfungsgrund ansah; im letzteren Falle war die — evtl. schon vor der Hauptstrafe zu verhängende — Ungehorsamsstrafe eher als sitzungspolizeiliche Maßnahme anzusehen (vgl. auch Art. 142, 143 aaO; ferner Nöllner, ZDtStrV 1840, 70, 76). Die Vorschriften über Ungehorsamsstrafen waren übrigens in fast allen deutschen Partikularrechten im Verfahrensgesetz, nicht im Strafgesetzbuch, enthalten; s. die Nachweise b. Mauß, Lügenstrafen S. 8 ff.; Hohbach, NArchCrR 12 (1830), 596 ff. 48 Man bedenke, daß die dem Inquirenten mitgegebenen Verhaltensanordnungen der Criminalordnung dem heutigen §136 a StPO sehr nahe kommen. 49 Die badische Gesetzgebungskommission (zit. b. Nöllner, ZDtStrV 1840, 46, FN. 9, und S. 53) drückte dies 1835 so aus: „ M i t Abschaffung der Tortur . . . (war) der Richter, dem es verboten war, auf Anzeigen ( = Indizien — T.V.) zu verurteilen . . . genöthigt, seine offenbarste Überzeugung gefangen zu geben"... „Die Gerichte fanden sich in neuerer Zeit in die gefahrliche Alternative gestellt, entweder die gesetzlichen Regeln der Beweisführung zu verletzen, oder durch allzu häufige Freisprechungen bei vollkommener Überzeugung von der Schuld des Inquisiten, die Gesellschaft zu gefährden, das Strafgesetz dem Hohne verstockter Verbrecher Preis zu geben und die allgemeine Achtung des Gesetzes zu schwächen."
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über einen nach der kriminalistischen Erkenntnislage evident schuldigen Täter nur deshalb nicht fallen konnte, weil es am Geständnis fehlte, war kaum beneidenswert 50. Hier konnte nur die Ersetzung der formellen Beweistheorie durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung, flankiert von einem Fortschritt des kriminalistischen Wissens, Abhilfe schaffen. Dies geschah — über mehrere Zwischenstufen — in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bedurfte es nicht mehr des Geständnisses (oder eines anderen formellen Beweismittels), so konnte auch auf die Rechtfigur einer Wahrheitspflicht des Beschuldigten und damit auf eine Sanktionierung dieser Pflicht verzichtet werden. Solange jedoch ein solcher Verzicht nicht angängig schien, war das Lösungsmodell „Lügenstrafen" nicht nur zweckrational, sondern es kann sogar objektiv als eine Zwischenstufe des strafprozessualen Fortschritts angesehen werden.
Es zeigt sich somit, daß die rechtspolitischen und juristischen Vorverständnisse im Bereich des Prozeßrechts Einfluß auf die Ausgestaltung der Funktionsaufteilung zwischen (wie immer einzuordnenden) Strafsanktionen und immanenten strafprozessualen Schutzmechanismen ausübten. Deutlich wird aber auch, daß gegen eine Forderung, Strafrecht im Verhältnis zu prozeßrechtlichen Schutzmechanismen 51 nur als ultima ratio einzusetzen, Einwände erhoben werden können. Dies mag im bisher betrachteten Beispiel ohnehin (wenn auch nur als historische Rarität) einleuchten, weil angesichts der Brutalität des Instrumentes „Folter" die Strafdrohung sich als humaneres Mittel darstellt; auch ist ja die Folter nicht ohne weiteres als prozessualer „Schutzmechanismus" anzusehen, und schließlich war die Rechtsnatur der Ungehorsamsstrafen streitig. Daß der Subsidiaritäts-Grundsatz aber auch in einem Zusammenhang anzweifelbar ist, der weniger spektakulär ist und überdies prozessuale und materielle Sanktionen konfrontiert, mag das weitere Beispiel zeigen. Ebenso wie das vorangegangene ist es daneben noch instruktiv für gesetzestechnische und sachliche Wandelbarkeit der jeweiligen Sanktionen. Es handelt sich um den Straftatbestand der falschen Entschuldigung von Zeugen und Schöffen („Verletzung der Dingpflicht") im Nebeneinander mit den prozessualen Maßnahmen gegen das unentschuldigte Ausbleiben von Verfahrensbeteiligten. b) Falsche Entschuldigung von Verfahrensbeteiligten Ursprünglich bedrohte § 138 RStGB 5 2 denjenigen mit Strafe, der, „als Zeuge, Geschworener oder Schöffe berufen, eine unwahre Tatsache als Entschuldigung vorschützt"; die Vorschrift galt auch für Sachverständige, „welche zum Erscheinen gesetzlich verpflichtet sind". Bereits in ihrer ursprünglichen Fassung drohte daneben die Strafprozeßordnung 53 ordnungsgemäß geladenen Zeugen und Sachverständigen 54 für den Fall 50
Dazu ausführlich Küper, Richteridee, insb. S. 132 ff. Es geht also hier nur um diese Relation. Der generelle Grundsatz, Strafrecht solle ultima ratio staatlichen Rechtsgüterschutzes sein, bleibt davon unberührt. 52 Zur Rechtslage vor Inkrafttreten des RStGB s. o. die Angaben im 4. Kap. 53 Entsprechend im Zivilprozeß §345 ZPO 1877. 51
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des unentschuldigten Nichterscheinens die Auferlegung der durch das Ausbleiben verursachten Kosten sowie eine „Geldstrafe bis zu dreihundert M a r k , für den F a l l der Nichteintreibbarkeit die Strafe der H a f t bis zu 6 W o c h e n " an. Überdies war die zwangsweise Vorführung des Zeugen zulässig. Die Bestrafung durfte einmal wiederholt werden. Sie war unabhängig v o n derjenigen aus §138 R S t G B zulässig 5 5 . Ähnliche Sanktionen waren gegen Zeugen u n d Sachverständige zulässig, wenn Zeugnis, Gutachten oder Eidesleistung verweigert wurden. Die Rechtsnatur dieser „Geldstrafe" war dem Gesetz selber nicht zu entnehmen. Im Schrifttum war sie umstritten. Allerdings wurde nur vereinzelt — immerhin auch von Franz v. Liszt — die Auffassung vertreten, Ordnungsstrafe und Kriminalstrafe seien wesensgleich56. Gegen diese Auffassung wurde vor allem die Regelung des § 138 Abs. 3 RStGB angeführt, die einerseits durch die Bezugnahme auf prozessuale „Ordnungsstrafen" deutlich die unterschiedliche Rechtsnatur jener Vorschriften und ihrer eigenen Strafdrohung zum Ausdruck brachte 57 , andererseits nur bei Bejahung eben dieses Unterschiedes dem Verdacht eines Verstoßes gegen den Grundsatz „ne bis in idem" entgehen konnte 58 . Im übrigen war streitig, ob und wie weit — vor allem im Interesse des Sanktionierten — die Vorschriften des materiellen Strafrechts entsprechend anwendbar sein sollten. Praktisch relevant war vor allem die Frage nach der Anwendbarkeit der Strafmündigkeitsvorschrift des Strafgesetzbuches 59, der für die Verfolgung von Straftaten geltenden Verjährungsvorschriften 60, des Grundsatzes „ne bis in idem" im Hinblick auf dieselbe ordnungswidrige Handlung 61 , der Vorschrift über das Mindestmaß der Geldstrafe 62 sowie derjenigen über die Ersatzfreiheitsstrafe 63. I m Bereich des materiellen Strafrechts stellten der V o r e n t w u r f v o n 1911 u n d der Gegenentwurf v o n 1913 den Tatbestand der unwahren Entschuldigung i n den Zusammenhang der Rechtspflegedelikte 6 4 ; ebenso verfuhren die Entwürfe v o n 1913 6 5 u n d 1919 6 6 . N i c h t mehr erfaßt waren allerdings Schöffen u n d 54
Entsprechend für Geschworene und Schöffen §§56, 96 GVG 1877. §138 Abs. 3 RStGB. 56 v. Liszt , Lehrbuch (17. A.) S. 250; abgeschwächt in der 18. Aufl. (S. 255); weitere Nachweise pro und contra bei Krakenberger , Ordnungsstrafe S. 94 f. 57 Allerdings bezog sich § 138 Abs. 3, da vor dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze entstanden, zunächst auf landesrechtliche Vorschriften; zu Recht wies aber Krakenberger darauf hin, daß angesichts der Rechtsentwicklung der nachfolgenden Jahre von einer Ausweitung der Bezugnahme auf die Reichsjustizgesetze ausgegangen werden konnte (Krakenberger, Ordnungsstrafe S. 94). 58 Krakenberger aaO S. 104 — Die salvatorische Klausel des § 138 Abs. 3 RStGB hielt freilich nur die Möglichkeit der Verhängung von Ordnungsstrafen als solcher offen; über die Frage, ob Kriminalstrafe und Ordnungsstrafe für dasselbe Verhalten gleichzeitig verhängt werden dürften, verhielt die Vorschrift sich nicht (s. Olshausen, StGB [11. Α.], §138 Anm. 7). 59 Damals §55 RStGB; vgl. heute §19 StGB. Gegen die Anwendung Renner, Recht 1917, 378 f. 60 Ablehnend Renner aaO S. 379; Krakenberger, Ordnungsstrafe S. 102. 61 Ablehnend Krakenberger aaO S. 104. 62 Ablehnend Renner aaO. 63 Ablehnend Krakenberger aaO S. 100 m.w.N. pro und contra. 64 §173 VE; §195 GE. 55
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Geschworene 67. Die salvatorische Klausel zugunsten prozessualer Ordnungsstrafen wurde fallengelassen 68. Im Prozeßrecht wurde 1924 im Zuge der Neubekanntmachung der StPO die in §50 StPO a.F. vorgesehene „Geldstrafe" in „Ordnungsstrafe in Geld" umbenannt 69 . Dieser Neubekanntmachung war im selben Jahr die Verordnung über Vermögensstrafen und Bußen 70 vorausgegangen, welche vor allem rechtliche Konsequenzen der Währungszerrüttung normierte. Für unsere Betrachtung ist sie von Interesse, wegen ihrer in Art. I I gewählten Formulierung „Geldstrafen, die nicht bei Verbrechen, Vergehen oder Übertretungen angedroht sind oder werden, insbesondere Zwangsstrafen und Ordnungsstrafen". Damit war bereits der — bis dahin streitige — außerkriminalrechtliche Charakter der Strafdrohung des § 50 StPO a.F. auch vom Gesetzgeber angedeutet; durch die Neubekanntmachung wurde er dann auch sprachlich zum Ausdruck gebracht. Im materiellen Strafrecht sahen die Entwürfe der folgenden Jahre den Tatbestand nicht mehr vor. In den Begründungen zu den Entwürfen von 1925 und 1927 wurde ausdrücklich erklärt, das betreffende Verhalten werde „nicht mehr als kriminelles Unrecht betrachtet", denn sofern es nicht zugleich den Tatbestand einer anderen Straftat erfülle, böten die Ordnungs- und Disziplinargewalt, zum Teil auch der Zivilrechtsweg, genügende Abhilfe 7 1 . Auch der Entwurf 1. Lesung des Reichstagsausschusses von 1930 erfaßte den Tatbestand nicht mehr; jedoch sah der (in Abstimmung mit ihm ausgearbeitete) Einführungsgesetz-Entwurf von 1929 eine entsprechende Erweiterung des Anwendungsbereiches der prozessualen Sanktionsvorschrift vor, gleichzeitig eröffnete er die Möglichkeit der Verhängung von „Ordnungshaft" bis zu drei Monaten als primärer Sanktion 72 . Zur Begründung wurde ausgeführt 73 , nach dem geplanten 65
§235 E 1913. §228 E 1919. 67 VE Begr. S. 572: „Zeugen, oft auch Sachverständige, sind nicht ersetzbar, während dies bei Geschworenen und Schöffen regelmäßig der Fall ist. Durch das Ausbleiben der letzteren wird also eine wirkliche Gefahr für die Ausübung der Rechtspflege nur selten entstehen können." 66
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VE Begr. aaO: „(Gestrichen ist) der dritte Absatz des § 138 StGB, dessen Inhalt bei der jetzigen Lage der Gesetzgebung sich von selbst versteht. . ." 69 Durch Neubekanntmachung der StPO v. 28. 3. 1924, RGBl. I, S. 299. — §50 StPO 1877 wurde zu §51. 70 Vom 6. 2. 1924, RGBl. I, S. 44. 71 E 1925 Begr. S. 91; E 1927 Begr. S. 97. 72 Art. 67 Ziff. 20 EEG 1929: „Ein ordnungsgemäß geladener Zeuge, der falsche Angaben zu seiner Entschuldigung vorschützt, um nicht erscheinen zu müssen, oder der nicht erscheint, ist in die durch sein Verhalten verursachten Kosten und zu einer Ordnungsstrafe in Geld oder Ordnungshaft bis zu drei Monaten zu verurteilen. An die Stelle einer Ordnungsstrafe in Geld, die nicht beigetrieben werden kann, tritt Ordnungshaft bis zu sechs Wochen. Auch ist die zwangsweise Vorführung des Zeugen zulässig. Im Fall wiederholter falscher Entschuldigung oder wiederholten Ausbleibens kann die Ordnungsstrafe noch einmal verhängt werden."
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Wegfall der materiellstrafrechtlichen Strafdrohung sei eine entsprechende Erweiterung des Anwendungsbereiches der Ordnungsstrafdrohung auf unwahre Entschuldigungen erforderlich geworden. Außerdem sei die Androhung von Ordnungsstrafe in Geld, wie sie die Strafprozeßordnung bislang ausschließlich vorgesehen habe, „für diesen bisher als kriminelles Vergehen gewerteten Tatbestand nicht ausreichend", sie habe sich im übrigen auch für manche Fälle des unentschuldigten Ausbleibens als ungenügend erwiesen. Daher solle die „Strafe der Ordnungshaft neben der Ordnungsstrafe in Geld" für alle Fälle des unerlaubten Fernbleibens verhängt werden können 74 . Trotz mehrerer Änderungen in anderen Details kam es nicht zu einer Verwirklichung der beabsichtigten prozeßrechtlichen Änderungen. Der Text des § 51 Abs. 1 StPO n.F. enthält daher bis heute weder die primäre Androhung von Ordnungshaft 75 noch die Erwähnung der falschen Entschuldigung. Dennoch wurde durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4.8.1953 76 § 138 StGB a.F. endgültig gestrichen 77. Nachdem durch Art. 5 EGStGB 1974 ausdrücklich untersagt worden ist, „Rechtsnachteile, die nicht bei Straftaten angedroht werden, ... als Freiheitsstrafe, Haftstrafe, Ordnungsstrafe oder Geldstrafe" zu bezeichnen, ist durch Art. 21 Nr. 5 desselben Gesetzes der Text von §51 Abs.l StPO dahin geändert worden, daß nunmehr statt von „Ordnungsstrafe in Geld" von „Ordnungsgeld" und statt von „Strafe der Haft" von „Ordnungshaft" die Rede ist. Beide werden, wie §51 Abs. 2 StPO nunmehr ergibt, unter der Bezeichnung „Ordnungsmittel" zusammengefaßt. Sachlich hat sich indessen dadurch im Bereich des §51 StPO keine Änderung ergeben. Obwohl somit §51 den Fall der unwahren Entschuldigung von Zeugen und Sachverständigen bis heute nicht erwähnt, dürfte das Fehlen einer „genügenden Entschuldigung", wie sie §51 Abs. 2 für die Aufhebung des Ordnungsmittels fordert, auch nach geltendem Recht nicht nur dann anzunehmen sein, wenn der Zeuge unentschuldigt ausbleibt, sondern auch dann, wenn er eine unwahre Entschuldigung vorbringt, um von der Erscheinenspflicht befreit zu werden 78 . Auch in diesen Fällen sind daher die Maßnahmen des §51 Abs.l StPO — Kostenauferlegung, Ordnungsgeld (ersatzweise Ordnungshaft), u.U. zwangsweise Vorführung — gegen den nicht erschienenen Zeugen oder Sachverständigen zulässig79.
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EEG 1929 Begr. S. 42. Ibd. Für den Angeklagten vgl. dagegen §230 Abs. 2 Fall 2 StPO (U-Haft). BGBl. I, S. 735. Art. 1 Nr. 17 d. 3. StrÄG. Freilich nur dann, wenn er mit seinem Vorhaben Erfolg gehabt hat. Sax, K M R (6. Α.), § 51 StPO, Anm. 7 Abs. 3; Paulus, K M R (7. Α.), §51 StPO Rnr 11.
Strafrecht und Prozeßrecht
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Die eingangs erwähnten Detailprobleme sind inzwischen zum großen Teil durch Art. 6 bis 9 EGStGB 1974 geregelt. Art. 6 trifft Bestimmungen über das Höchst- und Mindestmaß von Ordnungsmitteln, Art. 8 über die Ersatzhaft, Art. 9 über die Verjährung. Hingegen bildet im Rahmen des § 51 StPO die Strafmündigkeitsgrenze des § 19 StGB nach h.M. auch die Altersgrenze für die Verhängung von Ordnungsgeld und Ordnungshaft, da das Ausbleiben eines Schuldunfähigen stets als entschuldigt anzusehen sein soll 8 0 .
Unzweifelhaft ist das Vorbringen einer unwahren Entschuldigung nicht (materiellstrafrechtlich) strafbar 81 , denn da die Äußerung des Zeugen über die Gründe seines Nichterscheinens nicht Teil seiner Zeugenaussage ist, fällt sie nicht unter die Tatbestände der §§153, 154 StGB 8 2 , andererseits ist der materiellstrafrechtlich sanktionierte Bereich der Wahrheitspflicht 83 nach Streichung des §138 StGB a.F. auf die Zeugenaussage bzw. die Erstattung des Sachverständigengutachtens beschränkt. Die skizzierte Entwicklung bietet somit nicht nur ein Beispiel für einen begrifflichen Klärungsprozeß über die Rechtsnatur prozessualer Sanktionen sowie für eine begrüßenswerte, durch Gewinnung einer sachgerechten Interpretation der />röz