Der russische Adel im Exil: Selbstverständnis und Erinnerungsbilder nach der Revolution von 1917 [1 ed.] 9783737008709, 9783847108702


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Der russische Adel im Exil: Selbstverständnis und Erinnerungsbilder nach der Revolution von 1917 [1 ed.]
 9783737008709, 9783847108702

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Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas / Cultural and Social History of Eastern Europe

Band 9

Herausgegeben von Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner, Claudia Kraft, Julia Obertreis, Stefan Rohdewald und Frithjof Benjamin Schenk

Julia Hildt

Der russische Adel im Exil Selbstverständnis und Erinnerungsbilder nach der Revolution von 1917

Mit 6 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2365-8061 ISBN 978-3-7370-0870-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Mariamna Davidoff: Auf dem Lande. Erinnerungen einer russischen Gutsherrin, Bergisch Gladbach 1986. Das Bild zeigt die Autorin mit ihrem Mann Lev im Jahr 1906.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Adelsforschung . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Emigrationsforschung . . . . . . . . . . . 2.3 Gedächtnis- und Erinnerungsforschung . 2.4 Generationenforschung . . . . . . . . . . 3 Quellen und Quellenkritik . . . . . . . . . . 3.1 Quellenauswahl . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Besonderheiten autobiographischer Texte 3.3 Motivation und Adressaten der Autoren . 3.4 Die Struktur der Autobiographien . . . .

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9 9 13 13 18 23 27 31 32 35 36 43

II.

Der »Erfahrungsraum« des Adels im Zarenreich . . . . . . . . . 1 Russland von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1905 2 Entwicklungen von 1905/06 bis zum Ersten Weltkrieg . . . . . 3 Der Erste Weltkrieg und die Veränderungen im monarchischen Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Das Revolutionsjahr 1917 und der russische Bürgerkrieg 1918–1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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47 47 52

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54

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57

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63

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III. Adelige Erinnerung und Identität im Exil . . . . . . . . . . . 1 Adeliges Leben im Exil zwischen Heimkehrhoffnungen und Assimilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 »Adeligkeit« in den Erinnerungstexten . . . . . . . . . . . . 2.1 Das adelige Dienstideal . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die adelige Familie und der adelige Name . . . . . . . . 2.3 Die adelige »Persönlichkeit« . . . . . . . . . . . . . . .

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6

Inhalt

IV.

Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung 1 Die adelige »glückliche Kindheit« . . . . . . . . . 2 Das Adelsnest – dvorjanskoe gnezdo . . . . . . . . 3 Von treuen Bauern zum gefährlichen Mob . . . . . 4 Die Dienerschaft – prisluga . . . . . . . . . . . . . 5 Car’-mucˇenik – der Märtyrerzar Nikolaj II. . . . . 6 Das revolutionäre Jahr 1917 . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Februarrevolution . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Oktoberrevolution . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

91 91 104 110 123 126 135 136 148

V.

Weibliche und männliche Selbstentwürfe im Exil . . . . . . . . . . 1 Von »grandes dames« zu »femmes d’action« – ein Selbstentwurf der adeligen Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Erste Weltkrieg – die erste Emanzipation . . . . . . . . . 1.2 Das Selbstbild der Frauen im Spiegel der Revolutionen 1917 – eine »survival story« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der Weg ins Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Das neue Leben im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Selbstbilder der adeligen Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Patriot im gesellschaftlich-politischen Bereich . . . . . . 2.2 Bewahrer der russischen Kultur und Geistlichkeit . . . . . . 2.3 »Kämpfer für die gerechte Sache« . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 »Der Widerstandskämpfer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

VI. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

VII. Biographische Angaben zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . .

217

VIII. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

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158 158 167 174 179 185 185 187 189 196

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Jahre 2016 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen wurde. Die Arbeit wurde von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit einem Promotionsstipendium finanziell und ideell großzügig unterstützt. Für die ausdauernde inhaltliche Unterstützung möchte ich meinen herzlichsten Dank an meinen Doktorvater Prof. Dr. Dittmar Dahlmann (em.) aussprechen. Seine entscheidende Förderung und sein Vertrauen bereits während meines Studiums der Osteuropäischen Geschichte haben einen großen Anteil am Gelingen meiner Promotion und an der Veröffentlichung dieses Buches. Mein Dank gilt darüber hinaus Prof. Dr. Martin Aust, der als Zweitgutachter zur Verfügung stand. Prof. Dr. Anke Hilbrenner hatte stets Zeit für meine Fragen und gemeinsame Diskussionen; Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk, Dr. Diana Ordubadi und Natasja Ahlers gaben mir wertvolle Ratschläge bei der Durchsicht des Manuskripts. Die kritischen Fragen im Oberseminar von Prof. Dr. Dahlmann waren eine wichtige Inspirationsquelle für die Bearbeitung der Fragestellung. Die Mitarbeiter der Abteilung für Osteuropäische Geschichte haben mich stets nach besten Kräften unterstützt. Ihnen allen danke ich für die jahrelange gute Zusammenarbeit. Nicht zuletzt gilt meine tiefe Dankbarkeit meiner Familie. Mein Mann Nico Hülshoff war mir als erster Leser stets ein verlässlicher Diskussionspartner und Ideengeber. Die Geduld meiner Kinder Sophie und Philipp sowie die Unterstützung seitens meiner Eltern Albert und Ludmila Hildt trugen ebenfalls maßgeblich zum Gelingen dieses Buches bei. Ihnen allen ist dieses Werk gewidmet. Julia Hildt Ottawa/Kanada, 2018

I.

Einleitung

1

Fragestellung

Den russischen Adel konnte es nach der Russischen Revolution 1917 nur solange geben, wie Adelige und Nicht-Adelige an seine weitere Existenz glaubten – und es kommunizierten.1 Die Grundlage der vorliegenden Arbeit bildet die Annahme, dass die Kommunikation des Adels innerhalb seines Standes wie auch nach außen eine entscheidende Rolle spielte: sie diente nicht nur der Selbstdarstellung, sondern vor allem auch der Selbstvergewisserung im Exil. Der Grundidee dieser These folgend, wird die schriftliche Kommunikation des Adels in Form von autobiographischen Texten als Mittel der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung am Beispiel des russischen Adels nach der Oktoberrevolution 1917 erörtert. Vor allem im Russland der 1990er Jahre gab es zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass der russische Adel über seine schriftlichen Zeugnisse eine – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – wahre Wiedergeburt erlebt hatte. Eine wichtige Rolle hat dabei gespielt, dass die bereits vor Jahrzehnten erschienenen Autobiographien wieder aufgelegt wurden und auch noch nicht veröffentlichte Memoiren und Biographien zum ersten Mal den Lesern zur Verfügung standen. Die Autobiographien haben sich dabei offensichtlich als ein wichtiges Mittel der Kommunikation zwischen ihren damaligen Verfassern und der jeweiligen interessierten Öffentlichkeit – ob in der Zwischenkriegszeit oder heute – erwiesen.2 Die Autoren hatten erfolgreich mit ihren Erinnerungen gegen das 1 Die französische Adelsforscherin Monique de Saint Martin bezeichnet den Adel in ihrer Studie als ein »Phänomen des Glaubens«, vgl. dies.: Der Adel. Soziologie eines Standes, Konstanz 2003, S. 11. 2 Zur Verbreitung der Memoirenliteratur auch außerhalb der Emigrantenkreise vgl. Dittmar Dahlmann: Krieg, Bürgerkrieg, Gewalt. Die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges und des Bürgerkriegs in der russischen Emigration und in der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit, in: Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hg.): Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, S. 91–100.

10

Einleitung

Vergessenwerden angeschrieben. Sie traten durch die Veröffentlichung der Texte in Kommunikation gleichermaßen nach innen, also familienintern, und nach außen, mit allen anderen Lesern. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass die Autoren seinerzeit einen kommunikativen Brückenschlag über die sowjetische Ära hinweg begonnen hatten, der heute durch das Interesse des postsowjetischen Russlands an den adeligen Verfassern seinen Abschluss gefunden hat. Es ist doch bemerkenswert, dass der Adel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein insgesamt positives Leitbild zu bieten scheint und damit nach einer Phase erzwungener Vergessenheit eine Vitalität aufweist, die auch in anderen europäischen Ländern beobachtet werden kann.3 Dadurch bleibt der russische Adel auch heute lebhaft in Erinnerung und hat sich damit erfolgreich gegen das bewusste Vergessen und den Versuch der sowjetischen Geschichtsschreibung gewehrt, aus dem offiziellen Gedächtnis der Menschen getilgt zu werden. Diese Gefahr war durchaus real, denn der russische Adel war im Zuge der Oktoberrevolution 1917, anders als der deutsche Adel 1918/19, nicht nur seiner politischen Macht enthoben, sondern durch Flucht und Vertreibung auch seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Macht beraubt worden, von den Gefahren der physischen Vernichtung durch die Verfolgung des Sowjetsystems ganz zu schweigen. Die Besonderheit des russischen Adels – etwa im Vergleich zum deutschen Adel – besteht also darin, dass der eingangs festgehaltene wichtige Prozess der Kommunikation für die Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung nach 1917 in der Emigration stattgefunden hat und diese Kommunikation für den russischen Adel im wahrsten Sinne des Wortes existentiell gewesen ist. Die Erlebnisse des russischen Adels während der Revolution, vor allem die Flucht und Vertreibung aus Russland sowie das spätere Leben im Exil, stellen dabei spezifische Rahmenbedingungen dar, die nicht ohne Einfluss auf jene Botschaften und Bilder waren, die in den Autobiographien der russischen Adeligen ihren Niederschlag gefunden haben. Diesen Narrativen und ihrer Wechselwirkung mit dem biographischen Hintergrund ihrer Autoren, vor allem den Brüchen im Zuge der revolutionären Umwälzungen, gilt das besondere Interesse dieser Studie. Dabei geht es nicht um einen Abgleich dieser Narrative mit den historischen Fakten. Vielmehr sollen der Prozess der Selbstvergewisserung der russischen Adeligen und seine Selbst-Definition als Adel im Exil anhand dieser Narrative aufgezeigt, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den emigrierten Adeligen herausgearbeitet und so ein Teilbild der rus3 Vgl. Eckart Conze: Totgesagte leben länger. Adel in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Mark Hengerer/Elmar L. Kuhn (Hg.): Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Ostfildern 2006, S. 107–122, hier S. 107.

Fragestellung

11

sischen adeligen Identität nach 1917 anhand ausgewählter autobiographischer Texte nachgezeichnet werden.4 In der Situation der Entwurzelung und Fremde fand ein schwieriger Prozess der Umwandlung von Gewohnheiten, Werten und Identitäten verschiedener Gruppen statt, auch des Adels. Besondere Aufmerksamkeit soll daher im Folgenden der »Adeligkeit« als zentrale Referenz der Identitätsbildung gewidmet werden, sowie der Strategie des russischen Adels, sein Überleben im »kollektiven Gedächtnis« zu sichern. Dazu sollen folgende Fragen beantwortet werden: Wie hat der russische Adel sein Rollenverständnis als einstige Elite des russischen Zarenreiches in seine neue Identität als Vertriebener in der Emigration überführt? Wie definierte der russische Adel seine »Adeligkeit« in der Emigration nach dem Verlust jeglicher politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlichen Macht sowie dem Verlust der Heimat und wie hat er diese Veränderungen in seinen Erinnerungen kommuniziert? Der Fokus liegt auf der Frage, welche Elemente aus den Erinnerungen ausgewählt wurden und auf welche Weise diese in die autobiographischen Texte einflossen und transformiert wurden. Grundlage für die Beantwortung dieser Fragen bildet eine Auswahl an autobiographischen Texten, die von den Mitgliedern des russischen Adels nach 1917 verfasst worden waren und in der Regel in mehreren Ländern und Sprachen auflagenstark veröffentlicht wurden. Auf die Kriterien der Auswahl aus der schier unüberschaubaren Fülle an Autobiographien wird später näher eingegangen werden. Der Konstruktcharakter des autobiographischen Erinnerns wird dabei ausdrücklich akzeptiert. Denn bei den autobiographischen Texten des russischen emigrierten Adels handelt es sich nicht um spontane Erinnerung. Sie sind das Ergebnis komplexer Erinnerungsprozesse einzelner Individuen, die über Jahre hinweg und oft in großer Distanz zu den historischen Ereignissen abliefen. Darüber hinaus sind sie das Ergebnis komplexer sozial-psychologischer Prozesse nach einem radikalen Umbruch im eigenen Lebensentwurf und stellen den Versuch dar, auf narrative Weise vom Getriebenen wieder zum Gestalter des eigenen Lebens zu werden. Die Autobiographie ist dem Wortsinn nach eine retrospektive Darstellung des eigenen Lebenslaufes. Als solche sind die autobiographischen Texte selbst historische Fakten, die Bestandteil der Zeit sind, in der sie entstehen.5 Somit enthalten sie nicht nur Einsichten in subjektive Wahrnehmungen der Menschen, sondern auch Informationen über Prozesse der Identitätsbildung und geben 4 Die nachfolgenden Zitate, die im Originaltext auf Russisch sind, wurden von der Autorin ins Deutsche übersetzt. 5 Vgl. Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, S. 441–476.

12

Einleitung

Einblicke in Erinnerungsvorgänge, Verarbeitungsmuster und Bewältigungsstrategien einer Gruppe.6 Sie sind also Quellen für die Untersuchung von Erinnerungs- und Identitätsbildungsprozessen.7 Außerdem werden auch die Wirkung von Geschichtsbildern und ihre Bedeutung für eine Gruppe oder Gemeinschaft sichtbar. Somit offenbaren Autobiographien das komplexe und dynamische Verhältnis von Identität und Erinnerung.8 Auf die besondere Funktion des autobiographischen Schreibens als Möglichkeit zur Sinnproduktion und Identitätsstiftung in Krisenzeiten verwies bereits Peter Sloterdijk in seiner Untersuchung zu den Autobiographien der 1920er Jahre.9 Für den Adel spielt dieser Aspekt darüber hinaus noch eine zusätzliche und herausragende Rolle: »Erinnerung ist das entscheidende Moment, das Adel konstituiert. Memoria ist gleichsam der Sinn der Gruppenbildung.«10 Dieser Vorgang wurde auch von den deutschen Adelsforschern Eckart Conze und Monika Wienfort festgestellt: »Im Spiegel adeliger Selbstzeugnisse erscheint ›Adeligkeit‹ als Konstruktion spezifischer Lebensentwürfe und Wertvorstellungen.«11 Dies gilt insbesondere für den russischen Adel unter den Rahmenbedingungen der Emigration. Denn nach dem Verlust der materiellen Basis ihres gesellschaftlichen Standes hatten zahlreiche Adelige das starke Bedürfnis, ihre Erfahrungen und Selbstbilder niederzuschreiben.12 Wenn der Adel kein sozialer Stand mehr sein konnte, dann wenigstens eine »Denkform«.13 Das Bedürfnis nach individueller wie kollektiver Orientierung, Sinnkontinuität und historischer Selbstvergewisserung war evident und die autobiographischen Texte er6 Anregende Thesen finden sich bei Wencke Meteling: Der deutsche Zusammenbruch 1918 in den Selbstzeugnissen adeliger preußischer Offiziere, in: Eckart Conze/Monika Wienfort (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2004, S. 289–321. 7 Vgl. Lucian Hölscher : Geschichte als Erinnerungskultur, in: Kristin Platt/Mihran Dabag (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerung und kollektive Identitäten, Opladen 1995, S. 146–168, hier S. 156. 8 Allgemein zur Erinnerung und Identität Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990; Klaus GroßeKracht: Gedächtnis und Geschichte: Maurice Halbwachs – Pierre Nora, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47, 1996, S. 21–31. 9 Vgl. Peter Sloterdijk: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre, München/Wien 1978, S. 11. 10 Otto Gerhard Oexle: Memoria als Kultur, in: ders. (Hg.): Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 9–78, hier S. 38. 11 Eckart Conze/Monika Wienfort: Einleitung. Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Adel und Moderne, S. 1-16, hier S. 12. 12 Anregend dazu Jürgen Straub: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt/M. 2008. 13 Vgl. anregend dazu bei Walter Demel: Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2005, S. 9ff.

Forschungsstand

13

füllten dabei eine wichtige Funktion. Jan Assmann betont, dass jede soziale Gruppe dazu tendiert, Formen von Erinnerungskultur zu entwickeln. Der Vergangenheitsbezug stiftet dabei kollektive Identitätsangebote, denn wer sich erinnert, will wissen, wer er ist.14 Dabei spielt der Aspekt der Kommunikation eine zentrale Rolle. Denn Bestandteil der Erinnerung wird das, was die Mitglieder der Gruppe kommunizieren.15 Die Autobiographien werden demnach als ein Vorgang sozialer Kommunikation verstanden, ohne die – um auf die eingangs beschriebene These zurückzukommen – der Adel in der Emigration nicht so sichtbar hätte bleiben können.

2

Forschungsstand

2.1

Adelsforschung

Die internationale Adelsforschung zum Adel in der Moderne zeichnet sich durch innovative Tagungen und Forschungsprojekte in den letzten zehn Jahren aus.16 Auch die russische Adelsforschung kann davon profitieren, vor allem, wenn es 14 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, S. 39, auch S. 15–48. Vgl. auch ders.: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./ Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 9–19. 15 Zu diesem Zusammenhang vgl. Harald Welzer : Das kommunikative Gedächtnis: eine Theorie der Erinnerung, München 2002. 16 Vgl. für Deutschland ausgewählte Tagungen und Ausstellungen, so z. B. zum Adel in Oberschwaben, s. den Tagungsband von Mark Hengerer/Elmar L. Kuhn/Peter Blickle (Hg.): Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2 Bde, Ostfildern 2006; eine Ausstellung zum Adel in Bayern, s. den Ausstellungskatalog von Wolfgang Jahn/ Margott Hamm/Evamaria Brockhoff (Hg.): Adel in Bayern. Ritter, Grafen, Industriebarone, Darmstadt 2008; Tagungsbericht »Adel in Hessen (15. bis 20. Jahrhundert) – Teil I: Adel, Herrschaft und politischer Wandel«, 28. 02. 2008–01. 03. 2008, Marburg, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-2165, abgerufen am 18. 01. 2018; Tagungsbericht »Adel in Hessen (15. bis 20. Jahrhundert) – Teil II: Lebensführung und Selbstverständnis des Adels im gesellschaftlichen Wandel«, 20. 11. 2008–22. 11. 2008, Kaufungen, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-2555, abgerufen am 18. 01. 2018; Tagungsbericht »Adelsgeschichte(n): Regionen, Fälle, Herausforderungen«, 11. 07. 2013–13. 07. 2013, Hannover/Celle, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/confer encereport/id/tagungsberichte-5126, abgerufen am 18. 01. 2018; Tagungsbericht »Adelige über sich selbst. Selbstzeugnisse in nordwestdeutschen und niederländischen Adelsarchiven«, 06. 06. 2013–07. 06. 2013, Münster, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/conferencereport/ id/tagungsberichte-5018, abgerufen am 18. 01. 2018; Tagungsbericht »Adel in Mecklenburg«, 04. 05. 2012–05. 05. 2012, Schwerin, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/conferencereport/id/ta gungsberichte-4345, abgerufen am 18. 01. 2018; Tagungsbericht »Projektionsflächen von Adligkeit. 1. Marburger Kolloquium zur Adelsgeschichte des 20. Jahrhunderts«, 02. 11. 2011–04. 11. 2011, Marburg, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungs berichte-4032, abgerufen am 18. 01. 2018.

14

Einleitung

um die Erinnerungskultur geht. Im Folgenden soll die Adelsforschung, insbesondere über die letzte Phase des Zarenreiches und die Zeit der Emigration, dargestellt werden. Zur Frage, welche Entwicklung der russische Adel nach 1861 durchlief, lassen sich für die 1980er und 1990er Jahre zwei grundsätzliche Interpretationsansätze ausmachen. Der erste tendiert eher dazu, den Niedergang des russischen Adels heraus zu arbeiten (Roberta Manning, Leopold Haimson, Robert Edelman).17 Der zweite Ansatz hält dagegen, indem er von einer langwierigen Differenzierung und teilweise erfolgreichen Anpassung an die neuen Bedingungen in der Wirtschaft und Gesellschaft nach den Reformen von 1861 ausgeht (Seymour Becker, Andreas Grenzer, Ekaterina Kabytova).18 Darüber hinaus legen die regionalen Perspektiven nahe, dass sowohl die These vom stetigen Untergang als auch vom übergreifenden »Obenbleiben« des russischen Adels nicht greifen.19 Vielmehr spielen regionale Unterschiede hinsichtlich der politischen Spaltung und wirtschaftlichen Stellung innerhalb des Adels eine große Rolle bei der Bewertung. Seit Ende der 1990er Jahre weht in der west- und osteuropäischen Adelsforschung ein frischer Wind. Das wissenschaftliche wie auch das gesellschaftliche Interesse in Russland fokussiert sich seitdem auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Hier spielen neue Konzepte und »Umwertungen der Geschichte« in der postsowjetischen Historiographie eine Rolle. Der Adel scheint im postsowjetischen Russland wieder zu den ruhmreichen und erinnerungswürdigen Elementen zu gehören.20 Dabei ist zwischen wissenschaftlich fundierten Arbeiten und öffentlichkeitswirksamer Publizistik im Zuge des »Romanovskij bum« (Romanov-Boom) zu unterscheiden, welcher an dieser Stelle nicht behandelt werden soll. Die Geschichtswissenschaft stellt zwar immer noch

17 Vgl. Roberta T. Manning: The Crisis of the Old Order in Russia. Gentry and Government, Princeton/NY 1982; Leopold H. Haimson: The Parties and the State: The Evolution of Political Attitudes in the Structure of Russian History, New York 1970; Robert S. Edelman: Gentry Politics on the Eve of Russian Revolution: The Nationalist Party 1907–1917, New Brunswick/N.Y. 1980. 18 Vgl. Seymour Becker : Nobility and Privilege in Late Imperial Russia, DeKalb 1985; Andreas Grenzer : Adel und Landbesitz im ausgehenden Zarenreich. Der russische Landadel zwischen Selbstbehauptung und Anpassung nach Aufhebung der Leibeigenschaft, Stuttgart 1995; E.P. Kabytova: Krizis russkogo dvorjanstva, Samara 1997. 19 Vgl. Z.M. Kobozeva: Dvorjanstvo Central’no-Promysˇlennogo rajona v nacˇale XX veka, Samara 1995; O.Ju. Soboleva: Regional’nye legal’nye obsˇcˇestvennye organizacii na rubezˇe XIX– XX vekov (1890–1917). Po materialam Kostromskoj i Jaroslavskoj gubernii, Ivanovo 1993. Zum Begriff »Oben-Bleiben« vgl. Rudolf Braun: Konzeptionelle Bemerkungen zum ObenBleiben. Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Europäischer Adel 1750– 1950, Göttingen 1990, S. 87–95. 20 Als Beispiel vgl. Valerij I. Fedorcˇenko: Dvorjanskie rody, proslavivsˇie otecˇestvo. E˙nciklopedija dvorjanskich rodov, Krasnojarsk 2003.

Forschungsstand

15

die traditionelle Frage nach dem Verhältnis von Macht und Gesellschaft.21 Aber im Rahmen der neuen Sozial- und Kulturgeschichte in Russland und in Westeuropa wird die Phase der letzten Jahrzehnte des Zarenreiches mit neuen Methoden und interdisziplinären Ansätzen beleuchtet. Vergleichende Studien, die auch den russischen Adel einschließen, bilden noch eine Ausnahme – wie das Werk von Dominic Lieven, welcher den Adel in England, Deutschland und Russland am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts analysierte.22 Wobei vergleichende Adelsgeschichte interessante Forschungsergebnisse erzielen kann, wie die Studien von Tatjana Tönsmeyer zum Adel in England und Böhmen exemplarisch aufzeigt.23 Der Lebensstil des Adels des 19. Jahrhunderts erfährt weiterhin eine starke Aufmerksamkeit. Die nach wie vor lesenswerte Untersuchung von Jurij Lotman »Besedy o russkoj kul’ture« (dt.: »Russlands Adel«) leitete die lange vernachlässigte Erforschung der Adelskultur ein.24 Es folgten einige russischsprachige Veröffentlichungen über die Lebensweise und Traditionen des russischen Adels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.25 Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Kulturgeschichte des russischen Adels leisten auch die Studien von Priscilla Roosevelt, Tat’jana P. Kazˇdan und Mary W. Cavender, welche die »Adelsnester« und das kulturelle und soziale Leben im Gutshaus (usad’ba) untersuchen.26 Einzelne Aspekte wie die Adels21 Vgl. A.F. Kiselev (Hg.): Vlast’ i obsˇcˇestvennye organizacii v pervoj treti XX stoletija. Sbornik statej, Moskau 1994; V.V. Zˇuravlev (Hg.): Vlast’ i oppozicija. Rossijskij politicˇeskij process XX stoletija, Moskau 1995; B.V. Anan’icˇ (Hg.): Vlast’ i reformy. Ot samoderzˇavnoj k sovetskoj Rossii, St. Petersburg 1996. Vgl. auch zum Verhältnis Macht und Landadel: Ekaterina P. Barinova: Vlast’ i pomestnoe dvorjanstvo Rossii v nacˇale XX veka, Samara 2002. 22 Vgl. zum russischen Adel Dominic Lieven: Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815–1914, Frankfurt/M. 1995, u. a. S. 51f., 70ff., 111f., 153ff., 229–240, 286ff. Vgl. auch Manfred Hildermeier : Der russische Adel von 1700 bis 1917, in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750–1950, S. 166–216. 23 Vgl. Tatjana Tönsmeyer : Adelige Moderne. Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848–1918, Köln 2002. Vgl. auch dies./Lubosˇ Velek (Hg.): Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern zwischen Absolutismus und Demokratie, München 2011. 24 Vgl. Jurij M. Lotman: Besedy o russkoj kul’ture. Byt i tradicii russkogo dvorjanstva (XVII – nacˇalo XIX veka), St. Petersburg 1994, dt.: Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus II., Köln u. a. 1997. 25 Vgl. Natal’ja I. Jakovkina: Russkoe dvorjanstvo pervoj poloviny XIX veka. Byt i tradicii, St. Petersburg 2002; Elena Lavrent’eva: Povsednevnaja zˇizn’ dvorjanstva pusˇkinskoj pory. E˙tiket, Moskau 2005. Über den adeligen Alltag, Erziehung und Identität im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es Ansätze im eher publizistischen Buch von O.S. Murav’eva: Kak vospityvali russkogo dvorjanina, Moskau 1995. Den Aspekt der Gesellschaftsriten betrachtet O.Ju. Zacharova: Svetskie ceremonialy v Rossii XVIII – nacˇala XX v., Moskau 2001. 26 Vgl. Priscilla Roosevelt: Life on the Russian Country Estate. A Social and Cultural History, New Haven/London 1995; Tat’jana P. Kazˇdan: Chudozˇestvennyj mir russkoj usad’by, Moskau 1997; Mary W. Cavender : Nests of the Gentry. Family, Estate, and Local Loyalties in Pro-

16

Einleitung

familie und ihre Normen und Traditionen wurden durch die Monographie von Jessica Tovrov »The Russian Noble Family« bearbeitet.27 Andrew Wachtel legt den Schwerpunkt auf die Konstruktion von Adelsidentitäten in Autobiographien des 19. Jahrhunderts.28 Untersuchungen über die Lebenswelt und Mentalität des russischen Adels, z. B. das soziokulturelle und mentalitätsgeschichtliche Porträt des russischen Adels Anfang des 20. Jahrhunderts von Ekaterina Barinova zeigen ein großes analytisches Potenzial.29 Erwähnenswert ist die Benutzung von sogenannten Ego-Dokumenten (z. B. Briefe, Bitten und Anfragen von Adeligen an die lokalen und staatlichen Verwaltungsstrukturen etc.), welche die Selbstwahrnehmung der Adeligen während der Kriegszeiten, der Revolution von 1905 und ihr Bild von den Bauern wiedergeben.30 Barinova untersucht das Verhältnis des Adels zur Regierung und allgemein zu politischen Entwicklungen und zeigt auf, wie sich die Spaltung innerhalb des Standes in Konservative und Liberale vollzog. Die Spaltung betraf nicht nur die politische Haltung der Adeligen, sondern auch die wirtschaftliche Lage sowie ihre Mentalität. Barinova untersucht deshalb die Einflüsse der Umbruchszeit 1905–1907 auf die Veränderungen und Kontinuitäten im elitären Selbstverständnis des Adels.31 Als eine Vorstudie zu der Arbeit von E. Barinova ist die Untersuchung von Elena Mokrjak zu werten. Im Mittelpunkt steht der hauptstädtische landbesitzende Adel und seine soziale Psychologie, die mit Hilfe von Ego-Dokumenten aus den Jahren 1850 bis 1904 herausgearbeitet wird. Dabei stellte sie einige markante Veränderungen innerhalb dieser Zeit fest. Zum einen war ein Prestigeverlust des Staatsdienstes und ein erhöhtes Interesse an den eigenen Landgütern und Unternehmen zu verzeichnen, außerdem eine starke Betonung der Exklusivität der eigenen Gruppe, aber auch Unsicherheit und Angst vor der Zukunft des Adelsstandes.32

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vincial Russia, Newark 2007. Siehe auch Ljudmila V. Ivanova (Hg.): Dvorjanskaja i kupecˇeskaja sel’skaja usad’ba v Rossii XVI–XX vv.: Istoricˇeskie ocˇerki, Moskau 2001. Vgl. Jessica Tovrov : The Russian Noble Family. Structure and Change, New York/London 1987. Vgl. zur Adelsfamilie und Staatspolitik an der Wende zum 20. Jahrhundert: Valentina A. Veremenko: Dvorjanskaja sem’ja i gosudarstvennaja politika Rossii (vtoraja polovina XIX – nacˇalo XX v.), St. Petersburg 2007. Vgl. Andrew B. Wachtel: The Battle for Childhood. Creation of a Russian Myth, Stanford 1990. Vgl. Ekaterina P. Barinova: Rossijskoe dvorjanstvo v nacˇale XX veka. Sociokul’turnyj portret, Samara 2006, v. a. das dritte Kapitel »Social’naja psichologija dvorjanstva v nacˇale XX veka«. Vgl. ebd., S. 150f. Vgl. folgende Artikel: Ekaterina P. Barinova: Mentalitet russkogo pomestnogo dvorjanstva, in: Vestnik Samarskogo gosudarstvennogo universiteta 1, 2001, S. 57–61; dies.: Social’naja psichologija pomestnogo dvorjanstva v gody pervoj russkoj revoljucii, in: Samarskij zemskij sbornik 5, 2001, S. 48–53. Vgl. Elena I. Mokrjak: Dnevniki i memuary kak istocˇnik dlja izucˇenija social’noj psichologii

Forschungsstand

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Das Thema des Adels im Kontext der Modernisierung betrachtet auch Konstantin Kurkov, allerdings mit einem ökonomischen und soziokulturellen Schwerpunkt auf den Jahren 1900 bis 1914. Der Autor plädiert für eine »Umwertung der Geschichte« auch in Bezug auf die Erforschung des russischen Adels. Die adelige Mentalität und Kultur sowie der Beitrag des Adels zum Unternehmertum in Russland müssten eine grundlegende Neubewertung erfahren.33 Diese Forderung wurde bereits 1994 in einem Artikel des russischen Historikers Viktor Buganov geäußert, welcher von einer Erneuerung des öffentlichen Interesses für den russischen Adel und gar von einer Wiedergeburt des Adels als Folge des Zusammenbruchs der totalitären Strukturen und Vorstellungen ausgeht.34 Ferner gibt es neue Forschungsansätze zum russischen Adel in der Periode ˇ ujkina, nach der Revolution. Besonders anregend sind die Werke von Sof ’ja C insbesondere die Monographie »Adelsgedächtnis. ›Ehemalige‹ in der sowjetiˇ ujkina nutzt geschen Stadt (Leningrad, 1920er und 1930er Jahre)«.35 Sof ’ja C konnt die westeuropäischen Forschungsergebnisse zum »sozialen, kulturellen und symbolischen Kapital«36 bzw. zur »Adeligkeit in entadelten Gesellschaften«37 und wendet diese auf den russischen Adel an. Sie untersuchte die Lebenswege und Identitätsveränderungen von Adeligen zwischen Anpassung und innerer Opposition in der sowjetischen Gesellschaft in den 1920er und 1930er Jahren. Dabei stützte sie sich explizit nicht auf Archivquellen, sondern auf publizierte und nichtpublizierte autobiographische Texte sowie selbst geführte Interviews mit Adeligen, die um das Jahr 1910 geboren wurden.38 Sie stellt somit eine Gruppe von Adeligen mit einem gemeinsamen örtlichen und zeitlichen Kontext zusammen, auch auf die Gefahr hin, dass die Repräsentativität nicht immer deutlich wird. ˇ ujkina besteht in ihren internationalen Ein besonderes Verdienst von Sof ’ja C

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dvorjanstva Rossii vtoroj poloviny XIX – nacˇala XX veka, Diss. Moskau 1977; dies.: Obzor dnevnikov i memuarov russkich pomesˇcˇikov, zˇivsˇcˇich vo vtoroj polovine XIX – nacˇale XX veka, in: Vestnik Moskovskogo universiteta, Istorija 3, 1976, S. 81–90. Vgl. Konstantin N. Kurkov : Rossijskoe dvorjanstvo v kontekste modernizacii v nacˇale XX veka, Moskau 2006, S. 3. Vgl. V.I. Buganov : Rossijskoe dvorjanstvo, in: Voprosy istorii 1, 1994, S. 29–41, hier S. 29f. ˇ ujkina: Dvorjanskaja pamjat’. ›Byvsˇie‹ v sovetskom gorode (Leningrad, 1920– Vgl. Sof ’ja C 30-e gody), St. Petersburg 2006. Vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheit, Göttingen 1983, S. 183–198; ders.: La noblesse: capital social et capital symbolique, in: Monique de Saint Martin/Didier Lancien (Hg.): Anciennes et nouvelles aristocraties, de 1880 / nos jours, Paris 2007, S. 386–397. Vgl. zu Frankreich: Heinz-Gerhard Haupt: Der Adel in der entadelten Gesellschaft: Frankreich seit 1830, in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750–1950, S. 286–305. ˇ ujkina: Biograficˇeskoe interv’ju i sociologija Vgl. zum methodischen Vorgehen bei Sof ’ja C pamjati, in: Ab Imperio 1, 2004, S. 291–308.

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Einleitung

Forschungsprojekten. Besonders erwähnenswert ist die Zusammenarbeit mit der französischen Soziologin Monique de Saint Martin. Die Ergebnisse der gemeinsamen Forschungsarbeit nutzen sowohl der Adels- als auch der Emigrationsforschung.39 Monique de Saint Martin hat mit kultursoziologischen Studien zum französischen Adel im 19. und 20. Jahrhundert und ihrer Weiterentwicklung des Konzepts des »symbolischen« bzw. »kulturellen Kapitals« nach Pierre Bourdieu einen wesentlichen Diskussionsbeitrag zum Thema »Adel in der Moderne« über die französischen Grenzen hinweg geleistet.40 Um den Adel als »Ehemalige« (byvsˇie ljudi) geht es auch in der Untersuchung von Douglas Smith. In seiner Studie »Former People. The Last Days of the Russian Aristocracy« schaut er auf die Vorgänge in Russland zwischen 1900 bis zum Zweiten Weltkrieg anhand der Vertreter zweier bedeutender aristokratischer Familien, Sˇeremet’ev und Golicyn.41 Gerade die Veranschaulichung anhand beschriebener Einzelschicksale macht das Buch sehr lesenswert, verzichtet aber auf eine theoretische Auseinandersetzung und kritische Behandlung der Memoirenliteratur.

2.2

Emigrationsforschung

Die Forschung zur russischen Emigration im 20. Jahrhundert ist nach einer Zeit der Vernachlässigung bis in die 1980er Jahre hinein mittlerweile recht ausdifferenziert. In Westeuropa sind drei Forschungsphasen zu unterscheiden. Die Arbeiten von Hans von Rimscha aus den 1920er Jahren sind noch ganz aus der Augenzeugenschaft heraus geschrieben worden.42 Dies gilt auch für die im Jahre 39 Erste Ergebnisse bei Sofia Tchouikina/Monique de Saint Martin: La noblesse russe / l’8preuve de la R8volution d’Octobre. Repr8sentations et reconversions, in: VingtiHme siHcle. Revue d’histoire 99, 2008, S. 104–128. 40 Vgl. de Saint Martin, Der Adel. Soziologie eines Standes; dies.: Vers une sociologie des aristocrates d8class8s, in: Cahiers d’histoire 45, 4/2002, S. 785–801; dies./Lancien (Hg.), Anciennes et nouvelles aristocraties; Monique de Saint Martin: Die Konstruktion der adeligen Identität, in: Berliner Journal für Soziologie, 1991, S. 527–539. Aus dem französischen Forschungsraum kommen weitere anregende Studien, z. B. von Pric Mension-Rigau und Cyril Grange. Vgl. Pric Mension-Rigau: Aristocrates et grands bourgeois. Pducation, tradition, valeurs, Paris 2004; ders.: SinguliHre noblesse: L’h8ritage nobiliaire dans la France contemporaine, Paris 2007; ders.: La vie des chateaux. Mise en valeur et exploitation des chateaux priv8s dans la France contemporaine. Strat8gies d’adaptation et de reconversion, Paris 1999; Cyril Grange: Gens du bottin mondain; y Þtre, c’est en Þtre, Paris 1996. Vgl. auch die neueste Forschung für West- und Mitteleuropa: Yme Kuiper/Jaap Dronkers/Nikolaj Bijleveld (Hg.): Aristocracy in Europe During the Twentieth Century : Reconversions, Loyalties and Memories, Louvain/Paris 2015. 41 Vgl. Douglas Smith: Former People. The Final Days of the Russian Aristocracy, London 2012, dt.: Der letzte Tanz. Der Untergang der russischen Aristokratie, Frankfurt/M. 2014. 42 Vgl. Hans von Rimscha: Der Russische Bürgerkrieg und die russische Emigration 1917–

Forschungsstand

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1933 erschienene Studie von Chaplin Huntington »The Homesick Million. Russia-out-of-Russia«, die einen Überblick des russischen Lebens außerhalb des Heimatlandes bot.43 Die zweite Phase in den 1960er bis 1980er Jahren markieren vereinzelte Studien zur russischen Emigration, die dennoch grundlegend sind. Hier sind das umfassende Werk von Hans-Erich Volkmann »Die russische Emigration in Deutschland«, von Robert C. Williams »Culture in Exile. Russian Emigr8s in Germany« und von Robert H. Johnston »Paris and the Russian Exiles« besonders zu erwähnen.44 Des Weiteren liegen Forschungsergebnisse zu politischen Gruppierungen und einigen prominenten Politikern vor.45 Außerdem wurden bereits in dieser Phase zahlreiche Publikationen zum kulturellen Leben in der Emigration – auch von Emigranten selbst – herausgebracht.46 Die dritte Phase begann in den 1990er Jahren mit der Studie von Marc Raeff »Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration 1919–1939«, die einen wichtigen Impuls für weitere Forschung gab. Mit dem von ihm geprägten Begriff des »Russia Abroad« und seiner These von der eigenen russischen Gesellschaft im Exil beeinflusste er die weitere Erforschung des Themas nachhaltig.47 Einen neuen Forschungsschub erzielten die Arbeiten von Karl Schlögel, die das Forschungsinteresse für die »Gesellschaft im Wartestand« wiederbelebt haben.48 In diesem Rahmen erschienen mehrere Sammelbände und Monographien über die russische Emigration in Deutschland von 1918 bis zum Zweiten Weltkrieg.49 Einer der Mitarbeiter Schlögels, Johannes Baur, gibt in seiner Dis-

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1921, Diss. Jena 1924; ders.: Russland jenseits der Grenzen 1921–1926. Ein Beitrag zur russischen Nachkriegsgeschichte, Jena 1927. Vgl. Chaplin Huntington: The Homesick Million. Russia-Out-of-Russia, Boston/Mass. 1933. Vgl. Hans-Erich Volkmann: Die russische Emigration in Deutschland 1919–1929, Würzburg 1966; Robert C. Williams: Culture in Exile. Russian Emigr8s in Germany 1881–1941, Ithaca u. a. 1972; Robert H. Johnston: New Mecca, New Babylon. Paris and the Russian Exiles 1920– 1945, Montreal 1988. Vgl. William G. Rosenberg: Liberals in the Russian Revolution. The Constitutional Democratic Party, 1917–1921, Princeton/N.J. 1974; Leopold H. Haimson (Hg.): The Making of Three Russian Revolutionaries: Voices from the Menshevik Past, Cambridge u. a. 1987. Vgl. L. Flejshman/R. Hughes/O. Raevskaja-Hughes (Hg.): Russkij Berlin 1921–1923, Paris 1983; Michaela Böhmig: Das russische Theater in Berlin 1919–1931, München 1990; Fritz Mierau (Hg.): Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film, 1918–1933, Leipzig 1991. Vgl. Marc Raeff: Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration 1919–1939, Oxford/New York 1990. Vgl. Karl Schlögel (Hg.): Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917–1941, München 1994. Vgl. z. B. Karl Schlögel (Hg.): Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918–1941, Berlin 1998; ders. (Hg.): Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995; Bettina Dodenhoeft: »Laßt mich nach Rußland heim«. Russische Emigranten in Deutschland von 1918 bis 1945, Frankfurt/M. u.a. 1993.

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sertation über die russische Kolonie in München einen Ausschnitt des politischen Lebens der Emigranten auf lokaler Ebene wieder.50 In der Sowjetunion erfolgte erst zu Zeiten von »Perestrojka und Glastnost« unter Michail Gorbacˇev ein Herantasten an die »weißen Flecken« der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung, die den Prozess der »Pluralisierung der Erinnerung« (Frithjof B. Schenk) anstieß.51 Unter den wiederentdeckten Themen befanden sich auch das »andere Russland« und die Emigrationswellen nach den Russischen Revolutionen 1917.52 Seit den 1990er Jahren beschäftigt sich die Exilforschung in West- und Osteuropa mit verschiedenen Ländern53 und Gruppen, z. B. mit emigrierten Militärs54 oder Politikern.55 Erste Forschungsergebnisse gibt es zum Zusammenhang der »Weißen Emigration« mit Faschismus und Nationalsozialismus.56 Die Themen der Kunst, Literatur und Musik der russischen Exilanten erfahren weiterhin eine starke Aufmerksamkeit.57 Eine besondere Erwähnung verdienen die Er50 Vgl. Johannes Baur : Die russische Kolonie in München 1900–1945. Deutsch-russische Beziehungen im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 1998. 51 Zu den Hauptphasen der Perestrojka und ihren Auswirkungen vgl. Manfred Hildermeier : Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München 1998, S. 1019ff.; Frithjof Benjamin Schenk: Aleksandr Nevskij: Heiliger – Fürst – Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000), Köln 2004, S. 436. 52 Vgl. Karl Schlögel: Das »andere Rußland«. Zur Wiederentdeckung der Emigrationsgeschichte in der Sowjetunion, in: Dietrich Geyer (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte, Sonderheft »Geschichte und Gesellschaft«, Göttingen 1992, S. 238–256. 53 Vgl. James E. Hassell: Russian Refugees in France and the United States Between the World Wars, Philadelphia 1991; Elena Chinyaeva: Russians Outside Russia. The Pmigr8 Community in Czechoslovakia 1918–1938, München 2001; Catherine Andreyev/Ivan Savicky´ : Russia Abroad. Prague and the Russian Diaspora, 1918–1938, New Haven/London 2004; E.I. Pivovar (Hg.): Russkaja e˙migracija v Turcii, jugo-vostocˇnoj i central’noj Evrope 20-ch godov, Grazˇdanskie bezˇency, armija, ucˇebnye zavedenija, Moskau 1994; Catherine Gousseff: Immigr8s russes en France, 1900–1950. Contribution / l’histoire politique et sociale des r8fugi8s, Paris 1996. Zu Großbritannien gibt es insgesamt wenig Forschungsliteratur, eine Ausnahme bildet die Studie von E.B. Kudrjakova: Russkaja e˙migracija v Velikobritanii v period mezˇdu dvumja vojnami (1917–1940gg.), Moskau 1995. 54 Vgl. I.I. Basik (Hg.): Russkaja voennaja e˙migracija 20-ch–40-ch godov. Dokumenty i materialy, Moskau 1998. 55 Vgl. stellvertretend S.A. Aleksandrov : Lider rossijskich kadetov P.N. Miljukov v e˙migracii, Moskau 1996. 56 Vgl. John J. Stephan: The Russian Fascists: Tragedy and Farce in Exile, 1925–1945, London 1978; Michael Kellogg: The Russian Roots of Nazism. White Pmigr8s and the Making of National Socialism, 1917–1945, Cambridge 2005; A.V. Okorokov : Fasˇizm i russkaja e˙migracija (1920–1945 g), Moskau 2002. 57 Vgl. Amory Burchard: Klubs der russischen Dichter in Berlin 1920–1941. Institutionen des literarischen Lebens im Exil, München 2001; Ol’ga A. Kaznina: Russkaja literaturnaja e˙migracija v Anglii 1920–1930-e gg., Moskau 1999; M.V. Kakurina: Rossijskaja e˙migracija v kul’turnoj zˇizni Germanii v 1920–1933gg. (zˇivopis’ i teatr), Moskau 2004; Jirzˇi Klapka: ˇ echoslovakii (1917–1938), Prag/Brno 1993; Irina A. Russkaja literaturnja e˙migracija v C ˇ echoslovakii, JugoDmitrieva: Russkaja literaturnaja diaspora v slavjanskich stranach (C

Forschungsstand

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gebnisse von Claudia Weiss mit ihrer Untersuchung der russischen Emigrantenpresse in Frankreich der 1920er Jahre. Bezeichnenderweise lautet der Titel »Rußland zwischen den Zeilen«, denn Weiss legt überzeugend dar, dass für die Idee der »Zarubezˇnaja Rossija« – »Russland jenseits der Grenzen« – der Faktor der Kommunikation entscheidend gewesen war. Ein Teil der kollektiven Identität der russischen Exilanten verlief durch die »Kommunikation, die durch die Presse ermöglicht wurde und die Konstituierung der Emigranten als Exilgemeinschaft vorantrieb«.58 Die historische Exilforschung hat erst begonnen, sich mit den Auswirkungen der Exilerfahrung auf den Lebensverlauf von Einzelnen zu beschäftigen.59 Eine Ausnahme bildet die Monographie von Marion Mienert »Großfürstin Marija Pavlovna: ein Leben in Zarenreich und Emigration. Vom Wandel aristokratischer Lebensformen im 20. Jahrhundert«. Sie wählte einen biographischen Ansatz mit dem Ziel, die Wechselwirkungen zwischen individueller Biographie und historischen Ereignissen sowie die Veränderungen der aristokratischen Lebensformen im 20. Jahrhundert aufzuzeigen.60 Einen Beitrag leistet auch die Untersuchung von Kerstin Gebauer aus dem Jahre 2004 zu den Autobiographien von russischen Frauen um 1917. Hier widmet sie ein Kapitel der Selbstwahrnehmung und historischen Reflexion von Ekaterina Sejn-Vitgensˇtejn in ihren Tagebüchern, welche im Exil erschienen.61 Des Weiteren untersuchte Dittmar Dahlmann das Selbstbild des russischen Adels anhand von rund 60 Autobiographien von meist hochadeligen Emigranten. Dabei befragte er die Selbstzeugnisse auf Einstellungen der Autoren zu

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slavii, Bolgarii) v 20–30 gody XX veka, Rjazan’ 2005; Dmitrij Ja. Severjuchin: Russkaja chudozˇestvennaja e˙migracija, 1917–1939, St. Petersburg 2003; John Glad: Russia Abroad. Writers, History, Politics, Washington/DC 1999. Claudia Weiss: Das Rußland zwischen den Zeilen. Die russische Emigrantenpresse in Frankreich der 1920er Jahre und ihre Bedeutung für die Genese der »Zarubezˇnaja Rossija«, Hamburg 2000, hier S. 146; dies.: Zarubezˇnaja Rossija – eine Heimat zwischen den Welten, ˇ ubar’jan: Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die in: Horst Möller/Aleksandr C Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, Bd. 4, München 2010, S. 156–161. Die Verarbeitung der Emigrationserfahrungen findet sich eher in der Literaturwissenschaft, z. B. in den Studien zum Leben von Vladimir Nabokov, vgl. Ph. Sicker : Practicing Nostalgia. Time and Memory in Nabokov’s Early Russian Fiction, in: Studies in Twentieth Century Literature 11, 1987, S. 253–270. Vgl. Marion Mienert: Großfürstin Marija Pavlovna: ein Leben in Zarenreich und Emigration. Vom Wandel aristokratischer Lebensformen im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2005. Vgl. Kerstin Gebauer : Mensch sein, Frau sein. Autobiographische Selbstentwürfe russischer Frauen aus der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs um 1917, Frankfurt/M. 2004, v. a. Kapitel III: Im Sog gesellschaftlicher Ereignisse – Katherina Sayn-Wittgensteins Selbstwahrnehmung und historische Reflexion. »Dnevnik 1914–1918«, S. 85–106. Vgl. Prinzessin Katherina Sayn-Wittgenstein: Als unsere Welt unterging. Tagebuch der Prinzessin Katherina Sayn-Wittgenstein aus den Tagen der russischen Revolution, Frankfurt/M. 1988.

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Themen wie Kindheit, Familie, Erziehung und Politik. Er stellte die auch im Exil ungebrochene Bedeutung der adeligen traditionellen Werte, die durch Erziehung, Ehrenkodex, familiäre Traditionen und Achtung vor der Vergangenheit bestimmt waren, fest.62 Hilfreich für die vorliegende Studie sind auch Forschungen aus anderen Ländern. So beschäftigt sich die Monographie von Marilyn Yalom mit den französischen Emigrantinnen nach der Revolution von 1789 und mit ihren spezifischen Emigrationserfahrungen. Yalom analysiert anhand von autobiographischen Texten zumeist adeliger Frauen, wie sich deren Leben im Exil verändert hat und weist dabei der Exilerfahrung eine emanzipatorische Bedeutung zu.63 Karine Rance zeigt in ihren Studien zu den Erinnerungstexten des französischen Adel nach der Französischen Revolution auf, dass die negative Selbsteinschätzung der Adeligen im deutschen Exil dazu diente, sie als »Propheten« des Untergangs und gerade dadurch als kompetente Elite für die Zukunft zu stilisieren.64 Weitere Anregungen bieten auch Studien zum deutschen Adel nach 1918/ 1919 bzw. nach 1945.65 Insbesondere Marcus Funck und Stephan Malinowski beschäftigen sich in zahlreichen Publikationen mit dem deutschen Adel als »Masters of Memory«.66 Sie weisen die bewusste strategische Nutzung der Erinnerungstexte seitens der adeligen Autoren nach. Diese haben durch das 62 Vgl. Dittmar Dahlmann: »Als eine Welt unterging.« Das Ende des Zarenreiches in den Lebenserinnerungen der russischen Aristokratie, in: Joachim Hösler/Wolfgang Kessler (Hg.): Finis mundi – Endzeiten und Weltenden im östlichen Europa, Stuttgart 1998, S. 61–78. 63 Vgl. Marilyn Yalom: Blood Sisters. The French Revolution in Women’s Memory, New York 1993, S. 210ff. 64 Vgl. Karine Rance: Les m8moires de nobles 8migr8s en Allemagne: Coblence, ou pr8dire un 8chec advenu, in: Daniel Schönpflug/Jürgen Voss (Hg.): R8volutionnaires et 8migr8s. Transfer und Migration zwischen Frankreich und Deutschland 1789–1806, Stuttgart 2002, S. 221–233; vgl. auch dies.: L’identit8 collective des nobles franÅais 8migr8s en Allemagne, in: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik 9, 1998, S. 24–37; dies.: M8moires de nobles franÅais 8migr8s en Allemagne pendant la R8volution franÅaise: La vision r8trospective d’une exp8rience, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 46, 2/1999, S. 245–262. 65 Vgl. Eckart Conze: Deutscher Adel im 20. Jahrhundert. Forschungsperspektiven eines zeithistorischen Feldes, in: Günther Schulz/Markus A. Denzel (Hg.): Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 2004, S. 17–34, hier S. 18f.; vgl. auch ders.: Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert, Stuttgart/München 2000; neuere Forschung in Eckart Conze u. a. (Hg.): Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept, 1890–1945, Köln u. a. 2013. 66 Vgl. Marcus Funck/Stephan Malinowski: Masters of Memory : The Strategic Use of Autobiographical Memory by the German Nobility, in: Alon Confino/Peter Fritzsche (Hg.): The Work of Memory. New Directions in the Study of German Society and Culture, Urbana u. a. 2002, S. 86–103; dies.: Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 7, 1999, S. 236–270.

Forschungsstand

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Schreiben und Veröffentlichen von autobiographischen Texten den Lebensverlauf nicht nur geordnet und mit einem Sinn versehen, sondern die Erinnerungen bewusst sortiert und bewertet. Es wurden Wissen, Ereignisse und Akteure zu einer logischen Kette in einem zeitlichen Ablauf verknüpft.67 Die Autobiographien dienten somit als Ordnungsmuster für die eigene, aber auch für spätere Generationen.

2.3

Gedächtnis- und Erinnerungsforschung

Die Literatur zu den Begriffen »Erinnerung, Gedächtnis und soziale Identität« ist mittlerweile so vielfältig, dass an dieser Stelle keine erschöpfende Übersicht gegeben werden kann.68 Dennoch sollen einige grundlegende Forschungsergebnisse erörtert werden. Die Arbeiten des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877–1945) bleiben nach wie vor aktuell und gehören zu den Grundlagen der neueren Forschungen.69 Halbwachs stellte entgegen der Individualpsychologie seiner Zeit die These auf, dass sich jedes individuelle Gedächtnis innerhalb von sozialen Rahmenbedingungen (»cadres sociaux«) herausbilde: »Aber unsere Erinnerungen bleiben kollektiv und werden uns von anderen Menschen ins Gedächtnis zurückgerufen – selbst dann, wenn es sich um Ereignisse handelt, die allein wir durchlebt und um Gegenstände, die allein wir gesehen haben«.70 Diese Rahmenbedingungen – so Halbwachs – steuerten die Wahrnehmungen und Erinnerungen des Einzelnen. Erinnerung bleibe dabei zwar ein individueller Vorgang, gleichzeitig geschehe dieser Prozess jedoch in Kommunikation und 67 Anregend zu Elementen der »Lügen, Verfälschungen, Auslassungen, Ehrlichkeit und Wahrheit« in autobiographischen Texten vgl. Pierre Bourdieu: Die Illusion der Biographie. Über die Herstellung von Lebensgeschichten, in: Neue Rundschau 102, 3/1991, S. 109–115. 68 An dieser Stelle seien einige zentrale Veröffentlichungen genannt: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne und Funktion der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/M. 1991; Aleida Assmann/Harald Welzer (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001; Welzer, Das kommunikative Gedächtnis; Clemens Wischermann (Hg.): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung, Stuttgart 2002; Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, in: Ansgar Nünning/ Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart 2003, S. 156–185; eine gute Zusammenfassung bietet Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar 2005, 2. Aufl. 2011; Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54, 2003, S. 548–613. 69 Vgl. die Hauptwerke von Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, 2. Aufl., Frankfurt/ M. 1985 (frz.: La m8moire collective, Paris 1950); ders.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1985 (frz.: Les cadres sociaux de la m8moire, Paris 1925). 70 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 2.

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Einleitung

Interaktion mit anderen Menschen und führe so zur Herausbildung eines »kollektiven Gedächtnisses« (»m8moire collective«). Dazu gehörten sowohl das Reflektieren der Vergangenheit im privaten familiären Umfeld, als auch die offizielle nationale Geschichtsschreibung sowie die gemeinschaftlichen Bräuche, Feste und Sitten. Seine Sichtweise erlaubt es, nach kollektiven Erinnerungen, d. h. Erinnerungsgemeinschaften bzw. bei Halbwachs dem »Familiengedächtnis«, verschiedener sozialer Gruppen zu fragen.71 Das individuelle Gedächtnis ist nach Halbwachs als ein sozial hervorgebrachtes und sich stets den aktuellen Begebenheiten anpassendes Gedächtnis zu begreifen. Außerdem sei es ein »Ausblickspunkt« auf das kollektive Gedächtnis, »dieser Ausblickspunkt wechselt je nach der Stelle, die wir darin einnehmen, und diese Stelle selbst wechselt den Beziehungen zufolge, die ich mit anderen Milieus unterhalte.«72 Die individuellen Erinnerungen würden also nicht nur durch spätere Erlebnisse und Erfahrungen überformt, sondern auch durch Veränderungen der sozialen Konstellationen beeinflusst. Von Harald Welzer ist die Theorie des kommunikativen Gedächtnisses aus diesen Überlegungen heraus entwickelt worden.73 Ein wichtiges Ergebnis seiner Forschungen ist, dass Vergangenheit nicht einfach als Erinnerung vorhanden ist, sondern erst artikuliert werden muss, um Erinnerung zu werden. Auch Ulrike Jureit verwies auf die Bedeutung der kommunikativen Vorgänge für die Erinnerungsprozesse einer bestimmten Gruppe. Erinnerung verfestige sich demnach erst im Laufe der Sozialisation durch interaktive und kommunikative Prozesse: »Unser Gedächtnis ist sozial gerahmt; es ist verwoben in die verschiedenen Gruppen und Milieus, denen wir angehören.«74 Anders gesprochen: Man erinnert, was man kommuniziert. Es gäbe demnach kein Gedächtnis »außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wieder zu finden.«75 Den sozialen Rahmen des Gedächtnisses bildeten also die verschiedenen Gruppen und Milieus, denen die einzelnen Mitglieder angehören. Auch das 71 Vgl. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 203ff., 297ff. 72 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 31. 73 Vgl. Harald Welzer : Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002. 74 Ulrike Jureit: Generationen als Erinnerungsgemeinschaften. Das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« als Generationsobjekt, in: dies./Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 244–265, hier S. 246. Zum Begriff der Erinnerungsgruppe im Fall des sächsischen Adels vgl. Silke Marburg/ Josef Matzerath: Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.): Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918, Köln u. a. 2001, S. 5–15; vgl. auch Einleitung in Joseph Matzerath: Adelsprobe an der Moderne: Sächsischer Adel 1763 bis 1866. Entkonkretisierung einer traditionellen Sozialformation, Stuttgart 2006, S. 13–25. 75 Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 121.

Forschungsstand

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Verfassen und Veröffentlichen eines autobiographischen Textes ist demnach als Kommunikation des Autors mit seinen Lesern zu verstehen. Daraus ließe sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Lebenserinnerungen eines Individuums und Repräsentanten einer bestimmten Gedächtnisgemeinschaft Hinweise auf kollektive Verarbeitungs- und Deutungsmuster dieser Gruppe geben können. Die Ideen von Halbwachs haben des Weiteren der Ägyptologe Jan Assmann mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, aufgegriffen und in dem Konzept des »kulturellen Gedächtnisses« weiterentwickelt. Das »kulturelle Gedächtnis« ist Jan Assmann zufolge »alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.«76 Jede Gesellschaft greife in ihrer jeweiligen Epoche auf einen Bestand an »Wiedergebrauchstexten, -bildern und -riten« zurück, über die sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt. Dieses kollektiv geteilte Wissen stütze das Bewusstsein einer Gruppe und ihrer Mitglieder über ihre Eigenart. Die Suche nach dieser Eigenart, anders ausgedrückt nach der Identität, gelte für Einzelne wie für Gruppen.77 Wer sich erinnere, wolle wissen, wer er sei: »Erinnerung vermittelt Zugehörigkeit, man erinnert sich, um dazugehören zu können, und diese Erinnerung hat verpflichtenden Charakter. Wir können sie daher die normative Erinnerung nennen. Die normative Erinnerung vermittelt dem Einzelnen Identität und Zugehörigkeit.«78 Nach Jan Assmann tendiert jede soziale Gruppe dazu, Formen von Erinnerungskultur zu entwickeln. Durch Vergangenheitsbezug stifte die Gruppe kollektive Identitätsangebote: »Das Kollektivgedächtnis haftet an seinen Trägern und ist nicht beliebig übertragbar. Wer an ihm teilhat, bezeugt damit seine Gruppenzugehörigkeit.«79 Die Vergegenwärtigung von Vergangenheit sei gruppenbezogen, daher hänge die Einprägung von Ereignissen sowie ihre Speicherung auch von den sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen ab. Die jeweilige Situation des Vergegenwärtigens wie auch die des Vergegenwärtigenden – zum Beispiel eines Adeligen im Exil in Frankreich im Jahre 1925 – ist von Bedeutung. Ändert sich dieser Rahmen, z. B. durch einen Umzug in die USA im Jahre 1929, verändern sich die Erinnerungen und erfahren eine Neuinter76 Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, S. 9. 77 Jureit, Generationen als Erinnerungsgemeinschaften, S. 247; vgl. auch John R. Gillis: Memory and Identity. The History of a Relationship, in: ders. (Hg.): Commemorations. The Politics of National Identity, Princeton 1994, S. 3–24. 78 Jan Assmann: Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit, in: Kristin Platt/Mihran Dabag/Susanne Heil (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, S. 51–75, hier S. 52. 79 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, S. 39.

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pretation.80 Vergangenes wird dabei durch neue Erkenntnisse und veränderte Lebensumstände ständig umgeformt und an aktuelle Lebenssituationen und Selbstbilder angepasst. Erinnerung wäre demnach das Ergebnis einer aktiven gegenwartsbezogenen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Vergangenheit, bzw. eine gemeinsame Art der Welt- und Vergangenheitsbewältigung einer sozialen Gruppe, die sich innerhalb eines Bezugsrahmens herausbildet.81 Mit diesen Annahmen wird in der Forschung »Erinnerung« nicht mehr als die Rekonstruktion der Vergangenheit verstanden, sondern vielmehr als das Ergebnis eines umgeformten Abbildes von ihr. Die damit als überholt geltende Vorstellung, dass das Gehirn alles Erfahrene speichert und verfügbar hält, ist zugunsten einer konstruktivistischen Auffassung abgelöst worden: »Es gibt keine Geschichte, ohne dass sie durch Erfahrungen und Erwartungen der handelnden oder leidenden Menschen konstruiert worden wäre.«82 Das gilt insbesondere für Krisenzeiten, zum Beispiel eine Revolution oder einen Krieg. Peter Sloterdijk bemerkte in seiner Untersuchung zu den Autobiographien der 1920er Jahre, dass es bestimmte Krisen seien, die den Einzelnen dazu zwingen, »in den Spiegel zu blicken und sein verletztes Bewusstsein unter einem reflexiven Licht zu betrachten«.83 Denn in Krisenzeiten kann die eigene Identität durch verschiedene Faktoren bedroht sein. Mehrere Krisen erlebten auch die emigrierten Vertreter des russischen Adels und das Wiederfinden oder Neuerfinden der eigenen Identität war bei ihnen von womöglich größter Bedeutung. Denn im Russischen Reich gab es festgelegte Rollen und ein traditionelles System von Werten, die Orientierung boten. Die adelige Identität war zwar bereits in der letzten Phase des Zarenreiches Gegenstand von persönlicher Reflexion und auch öffentlicher Diskussion, welche die »verfügbaren« Identitäten viel stärker wähl- und veränderbar gemacht hatte – ein Adeliger konnte gleichzeitig ein Politiker, Künstler oder Unternehmer gewesen sein. Dennoch durchlebten einzelne Individuen in der Regel keine grundlegenden Identitätskrisen oder radikale Veränderungen des Selbstbildes. Dies änderte sich im Exil, wobei die komplexen Prozesse der Identitätsbildung auch ein Nebeneinander und gelegentlich ein Gegeneinander beinhalten. Das 80 Ebd.; sowie Gabriele Rosenthal: Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität. Methodologische Implikationen für die Analyse biographischer Texte, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 125–138, hier S. 132f. 81 Vgl. Clemens Wischermann: Einleitung: Geschichte als Erinnerung, in: ders. (Hg.): Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, S. 9–17, hier S. 15; vgl. auch Große-Kracht, Gedächtnis und Geschichte, S. 21–31. 82 Reinhart Koselleck: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik vergangener Zeiten, Frankfurt/M. 1989, S. 349–375, hier S. 351. 83 Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, S. 11.

Forschungsstand

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Leben in der Fremde brachte oftmals eine »Patchwork-Identität« mit den möglichen Kategorien »Mann/Frau, Adeliger, Russe, Emigrant« etc. hervor.84 Dabei wurden auch Kriterien der Abgrenzung zu anderen Gruppen ausgemacht, ein Kriterium konnte die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation sein.

2.4

Generationenforschung

Ausgehend von der These der vorhandenen adeligen Identitäten wird zur Bestimmung der zu untersuchenden Gruppe auf den Generationsbegriff zurückgegriffen.85 Neben Familiengenerationen gibt es auch soziale und historische Generationen, die eine bestimmte Zeiterfahrung widerspiegeln. Die Generationenforschung geht insbesondere auf die Forschungen von Karl Mannheim, u. a. auf seinen Aufsatz »Das Problem von Generationen« aus dem Jahre 1928 zurück, in welchem er die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges in die Form einer soziologischen Theorie brachte.86 Die Nutzung des Generationsbegriffs für die Erforschung des Adels hat den Vorteil, dass der Adel sich durch eine starke genealogische Verbundenheit sowie einen starken Bezug zur »Familie« und zur Genealogie auszeichnet. In dieser Studie wird dieser Begriff als die Zugehörigkeit zu einer Gruppe als Generationsgemeinschaft oder »Kohorte«, also die (relative) Einheit einer altersspezifischen Gruppe, verstanden.87 In der Forschung wird außerdem auf den Umstand verwiesen, dass der Generationsbegriff gleichzeitig ein Identitäts- und ein Erfahrungsbegriff ist. Die Zugehörigkeit zu einer Generation bedeutet somit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Erinnerungsgemeinschaft, welche dem 84 Vgl. Anregungen dazu bei Wolfgang Kraus: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, Pfaffenweiler 1996. Vgl. auch Paul John Eakin: Living Autobiographically : How We Create Identity in Narrative, Ithaca/N.Y. 2008. 85 Als Einführung in die Forschungsdebatte vgl. Ulrike Jureit: Generationenforschung, Göttingen 2006; Andreas Schulz/Gundula Grebner : Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts, in: dies. (Hg.): Generationswechsel und historischer Wandel, München 2003, S. 1–23; Andreas Schulz: Individuum und Generation – Identitätsbildung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52, 2001, S. 406–414; Michael Corsten: Biographie, Lebenslauf und das »Problem der Generationen«, in: Bios 14, 2001, S. 32–59; Ute Daniel: Generationengeschichte, in: dies.: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/M. 2001, S. 330–345; Jürgen Reulecke/Elisabeth Müller-Luckner (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; Günter Burkart/Jürgen Wolf (Hg.): Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen, Opladen 2002; Martin Kohli/ Marc Szydlik (Hg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000. 86 Vgl. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen (1928), in: Kurt H. Wolff (Hg.): Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Neuwied/Berlin 1964, S. 509–565. 87 Zum Kohortenkonzept vgl. Mannheim, Das Problem der Generationen, S. 516f.

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Verlangen des Einzelnen nach Orientierung und Einbindung in ein soziales Gefüge sowie nach zeitlicher Verortung entgegenkommt.88 Eine Generation definiert sich selbst auch dadurch, dass sie sich von vorhergehenden und nachfolgenden Generationen unterscheidet und zwar aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen. Eine Rolle spielt das soziale Milieu, aber auch der Zeitrahmen der Erlebnisse. Den Wechsel der Generationen gibt die Forschungsliteratur mit etwas vierzig Jahren an, dann verschiebe sich das »Erinnerungsprofil« merklich.89 Auf den Erlebnis- und Erfahrungsaspekt des Generationenbegriffs verwies schon Wilhelm Dilthey im Jahr 1875 in seinem Artikel »Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat«. Er bestimmte den Begriff der Generationen als »[…] Kreis von Individuen, welche durch Abhängigkeit von denselben großen Tatsachen und Veränderungen, wie sie in dem Zeitalter ihrer Empfänglichkeit auftraten, trotz der Verschiedenheit hinzutretender Faktoren zu einem homogenen Ganzen verbunden sind.«90 Dies beinhaltet die Annahme, dass die Sozialisationsbedingungen eine vergleichbare Wirkung haben und diese sich als Erfahrung deuten lassen.91 Dabei wird der Begriff der Erfahrung nach Reinhart Koselleck definiert als »[…] gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können. Sowohl rationale Verarbeitung wie unbewusste Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsent sein müssen, schließen sich in der Erfahrung zusammen.«92 Insoweit lässt sich eine Generation als Erfahrungsgemeinschaft begreifen. Diese Eigenschaften des Generationsbegriffs werden für die Erforschung des Adels in der Emigration genutzt. Denn die Gruppe des Adels im Exil lässt sich als 88 Vgl. Jureit, Generationen als Erinnerungsgemeinschaften, S. 250f. 89 Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis, in: Martin Huber u. a. (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 15–28, hier S. 20. 90 Wilhelm Dilthey : Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Stuttgart 1964, S. 31–73, hier S. 37. 91 Zum Begriff »Erfahrung«: Margu8rite Bos/Bettina Vincenz/Tanja Wirz (Hg.): Erfahrung: Alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte, Zürich 2004; Karin Hartewig: »Wer sich in Gefahr begibt, kommt [nicht] darin um«, sondern macht eine Erfahrung! Erfahrungsgeschichte als Beitrag zu einer historischen Sozialwissenschaft der Interpretation, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 110– 124. 92 Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 354. Vgl. auch ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2003; ders.: Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 130– 143.

Forschungsstand

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eine herausgehobene Generation identifizieren, die Wende- oder Entscheidungspunkte der Geschichte miterlebt hat: »Es gibt offenbar Generationen, die einen Knotenpunkt in der geschichtlichen Entwicklung erleben. Sie sind dann mit neuen Fragen konfrontiert, die mit der Veränderung des Rhythmus der historischen Zeit zusammenhängen.«93 In der einschlägigen Forschungsliteratur wird betont, dass ein historischer Generationenbegriff weniger zur Analyse von gleichförmigen ruhigen Phasen der Geschichte taugt. Es sind vielmehr die großen, die ganze Gesellschaft erfassenden geschichtlichen Ereignisse wie Kriege, Revolutionen oder Naturkatastrophen, die ihre Mitglieder zu Stellungnahmen zwingen.94 In diesem Zusammenhang ist es auch von Interesse, dass das moderne Generationsverständnis aus den Umbrüchen der Französischen Revolution entstanden ist. Die russische Revolution von 1917 ist ein solches Großereignis und stellt eine einschneidende Zäsur dar, denn sie markierte einen alle Lebensbereiche verändernden Systemwechsel in Russland. Die Herausbildung einer Generation lässt sich nach Ulrike Jureit als ein Kommunikationsprozess beschreiben, der sich im privaten und öffentlichen Raum entwickelt.95 Dabei ist als Vorbedingung eines »Generationszusammenhangs« wichtig, dass nicht das Alter der Einzelnen an sich, sondern die kollektive Verarbeitung historischer Erfahrungen ins Zentrum des Interesses rückt. Es sollte also nur eine relative Altersgleichheit bestehen. Das gemeinsam geteilte Schicksal des Erlebens und Reagierens bewirkt eine Abgrenzung zu anderen Generationen und führt zur Bildung einer eigenen »Generationseinheit«. Generationen weisen daher eine gewisse innere Homogenität auf: »gleichartige Lebensgefühle und Lebenshaltungen verbinden benachbarte Geburtsjahrgänge zu einer Generation. […] Aus den diversen Selbstdeutungen einer Generation gilt es, die sie einigenden Deutungsbedürfnisse herauszulesen.«96 Vor diesem Hintergrund der jahrgangsmäßig bzw. lebensgeschichtlich gemeinsamen oder gleichzeitigen Erfahrungen lassen sich ähnliche Einstellungen, Lebensstile und Verhaltensweisen individuell, aber auch kollektiv interpretie-

93 Heinz D. Kittsteiner: Die Generationen der »Heroischen Moderne«. Zur kollektiven Verständigung über eine Grundaufgabe, in: Jureit/Wildt (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, S. 200–219, hier S. 202. 94 Vgl. Hans Jaeger : Generationen in der Geschichte. Überlegungen zu einer umstrittenen Konzeption, in: Geschichte und Gesellschaft 3, 1977, S. 429–452; Schulz, Individuum und Generation, S. 406–414. 95 Vgl. Jureit, Generationenforschung, S. 87. 96 Heinz Bude: Deutsche Karrieren. Lebenskonstuktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt/M. 1987, S. 36f.

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ren.97 Zusätzlich zu den prägenden Erfahrungen, die eine Generation formen, sind der Austausch und die Verständigung über das Erfahrene entscheidend.98 Diese Vorbedingungen bedeuten im Fall des russischen Adels, dass die gemeinsame Sozialisation im Zarenreich sowie die gemeinsamen Grenzerfahrungen noch keine ausreichenden Faktoren für die Bildung einer Generation darstellen. Vielmehr sind die Selbstdeutungen der Akteure und ihre Äußerungen über gemeinsame einschneidende Erfahrungen ausschlaggebend, um die Zugehörigkeit zu einer Generation zu begründen. Für den russischen Adel in der Emigration lässt sich damit die These aufstellen, dass sich die einzelnen Protagonisten mittels der schriftlichen Kommunikation über ihre Erfahrungen, also mittels autobiographischer Texte, ihre Identität als Teil einer Generation erschrieben. Die Autobiographien werden dadurch zu »Generationenerzählungen«, da sie die historischen Erfahrungen verarbeiten und diese nach außen schriftlich kommunizieren. Wenngleich die Generationenforschung zu Recht zögert, einen solchen Ansatz pauschal auf jede Art von Generation zu übertragen und dabei vor allem auf »mangelnde Repräsentativität«, eine lediglich »angenommene Homogenität« und auf die »unspezifische Koppelung generationeller Selbstthematisierungen an historische Bezugsereignisse«99 verweist, kann diese Kritik jedoch für den Adel allgemein und den russischen im Besonderen abgeschwächt werden. Zunächst hatte der Adel basierend auf seiner starken genealogischen Verbundenheit zur Familie (der vergangenen wie auch der zukünftigen Familie) und ihrer Tradition ohnehin einen starken Bezug zum Generationsbegriff. Hinzu kam, dass durch die vergleichbaren Sozialisationsbedingungen der ausgewählten Adeligen, das Erleben der Russischen Revolution 1917 und des Bürgerkrieges sowie die Zeit des nachfolgenden Exils eine gemeinsame Basis an Erinnerungen und Erfahrungen entstanden war. Desweiteren ist die Selbstverortung zu einer bestimmten Generation bei allen Autoren der untersuchten Autobiographien anzutreffen und mit der notwendigen Quellenkritik berücksichtigt worden.

97 Vgl. z. B. zur »Generation DDR« bei Annegret Schüle u. a. (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2005. 98 Vgl. Ulrike Jureit/Michael Wildt: Generationen, in: dies. (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, S. 7–26, hier S. 9: »[Der Generationsbegriff] verspricht, eine spezifische Ausprägung des Denkens, Fühlens und Handelns zu erklären, indem die unterstellte dauerhafte und gleichartige Wirkung von Sozialisationsbedingungen als Erfahrung gedeutet wird – und das nicht nur individuell, sondern auch kollektiv.« 99 Jureit, Generationenforschung, S. 46, 47 und 48.

Quellen und Quellenkritik

3

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Quellen und Quellenkritik

Die in der Emigration geschriebenen und veröffentlichten autobiographischen Texte100 gehören als Selbstzeugnisse101 zur Quellengruppe der Ego-Dokumente.102 Autobiographische Texte nehmen eine Zwitterstellung zwischen Faktenbericht und literarischem Kunstwerk ein: »nonfiction narrative accounts are world-creating in the same sense as are works of literature.«103 Für die Interpretation müssen diese Quellen also zunächst als Texte gelesen werden. Auf die theoretischen Überlegungen hinsichtlich der Trennung von Memoiren und Autobiographien104 wird allerdings verzichtet, da diese Unterscheidung in der Geschichtswissenschaft – anders als in den Literaturwissenschaften – eher künstlich wirkt.105 Außerdem lassen sich die Begriffe nicht ohne weiteres auf

100 Vgl. A.G. Tartakovskij/T. Emmons/O.V. Budnickij (Hg.): Rossija i rossijskaja e˙migracija v vospominanijach i dnevnikach. Annotirovannyj ukazatel’ knig, zˇurnal’nych i gazetnych publikacij, izdannych za rubezˇom v 1917–1991gg., 4 Bde, Moskau 2004. 101 Nach der Definition von Benigna von Krusenstjern sind Selbstzeugnisse eine Unterkategorie der Ego-Dokumente, die immer autobiographischer Natur sind. Zu ihnen gehören Autobiographien, Memoiren, Tagebücher, Briefe etc. Vgl. Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2, 1994, S. 462–471. Zentral für die Kategorisierung eines Textes als »Selbstzeugnis« ist die »Selbstthematisierung«. Das heißt »die Person des Verfassers oder der Verfasserin tritt in ihrem Text selbst handelnd oder leidend in Erscheinung oder nimmt darin explizit auf sich selbst Bezug«, vgl. ebd., S. 463. 102 Dazu gehören auch Personalakten, Nachrufe, Verhörprotokolle, Gerichtsakten, Photographien, Urkunden, vgl. Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherungen an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung ›Ego-Dokumente‹, in: ders. (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11–30, hier S. 28. Zur Erforschung politischer Memoiren vgl. Franz Bosbach/Magnus Brechtken (Hg.): Politische Memoiren in deutscher und britischer Perspektive – Political Memoirs in Anglo-German Context, München 2005. 103 Barbara Heldt: Terrible Perfection: Women and Russian Literature, Bloomington 1992, S. 8. 104 Zum Genre der Autobiographien und Memoiren: Paul John Eakin: Fictions in Autobiography. Studies in the Art of Self-Invention, Princeton 1985; Dagmar Günther : »And now for something completely different«. Prolegomina zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 272, 2001, S. 25–61; Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988; Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt. 1970; James Olney : Autobiography and the Cultural Moment. A Thematic, Historical and Bibliographical Introduction, in: ders. (Hg.): Autobiography. Essays Theoretical and Critical, Princeton 1980, S. 3–27; Martina Wagner-Engelhaaf: Autobiographie, Stuttgart/Weimar 2000. 105 Das Plädoyer, »Memoiren« in die Kategorie der Autobiographien einzugliedern, findet sich bei Paul John Eakin: How Our Lives Become Stories: Making Selves, Ithaca/N.Y. 1999, S. 43, 56. Vgl. auch bei Magnus Brechtken: Einleitung, in: ders./Bosbach (Hg.), Politische Memoiren in deutscher und britischer Perspektive, S. 9–42, hier S. 18.

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Russland übertragen.106 »Avtobiografija« bedeutet im Russischen nicht »Autobiographie«, sondern »Lebenslauf«. Autobiographische Erinnerungen werden dagegen als »vospominanija« (Erinnerungen), als »memuary« (Memoiren) oder manchmal als »zapiski« (Aufzeichnungen) bezeichnet.107 Autobiographische Texte werden auch in den neueren Studien wieder verstärkt zur Informationsgewinnung gebraucht, oftmals fehlt aber eine theoretische Auseinandersetzung trotz der korrekten Einordnung in den historischen Kontext.108 Die frühere Skepsis – dem subjektiven Aspekt der Autobiographien begegneten die Historiker um 1900 mit Misstrauen109 – ist einem neuen Forschungsinteresse und in zahlreichen Fällen einer neuen Herangehensweise gewichen, wie das z. B. an den Arbeiten von Marcus Funck und Stephan Malinowski zum deutschen Adel zu beobachten ist. Sie nahmen eine systematische Auswertung von Autobiographien deutscher Adeliger vor. Diese dienten ihnen als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, das heißt, sie befragten diese Quellen nach den Formen adliger Erziehung, nach dem spezifischen Wertekanon und den Symbolen.110

3.1

Quellenauswahl

Die untersuchten Autobiographien wurden von Adeligen verfasst, die zwischen 1860 und 1890 geboren wurden. Diese Eingrenzung wurde vorgenommen, um 106 Zur Geschichte der russischen Autobiographie: Toby Clyman/Judith Vowles: Introduction, in: dies. (Hg.): Russia Through Women’s Eyes. Autobiographies from Tsarist Russia, Chelsea/Michigan 1996, S. 1–46. Ulrich Schmid: Ichentwürfe: die russische Autobiographie zwischen Avvakum und Gercen, Zürich/Freiburg i.Br. 2000; Beth Holmgren (Hg.): The Russian Memoir. History and Literature, Evanston/Illinois 2003; Alois Schmücker : Anfänge und erste Entwicklung der Autobiographie in Russland (1760–1830), in: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zur Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 415–458. 107 Vgl. Einleitung zu Marianne Liljeström/Arja Rosenholm/Irina Savkina (Hg.): Models of Self. Russian Women’s Autobiographical Texts, Helsinki 2000, S. 5–14, hier S. 6f. 108 Vgl. als Beispiel Smith, Former People. 109 Vgl. Rudolf Dekker : Introduction, in: ders. (Hg.): Egodocuments and History. Autobiographical Writing in its Social Context since the Middle Ages, Hilversum 2002, S. 7–20. 110 Vgl. Funck/Malinowski, Geschichte von oben, S. 236–270; dies.: »Charakter ist alles!« Erziehungsziele und Erziehungspraktiken in deutschen Adelsfamilien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 6, 2000, S. 71–92; dies., Masters of Memory : The Strategic Use of Autobiographical Memory, in: Confino/Fritzsche (Hg.), The Work of Memory, S. 86–103. Aus den Forschungsprojekten sind zwei Monographien hervorgegangen: Marcus Funck: Feudales Kriegertum und militärische Professionalität. Der Adel im preußisch-deutschen Offizierskorps 1860–1935, Berlin 2004; Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003.

Quellen und Quellenkritik

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eine Vergleichbarkeit der Texte zu ermöglichen: Einerseits durch die relativ gut vergleichbare Sozialisation im Zarenreich und andererseits durch die Erfahrungen der Revolutions- und Exilzeit. Die ausführlichen biographischen Angaben zu den Autoren sind im Kapitel VII dargelegt. Von Bedeutung ist aber auch die eigene empfundene Zugehörigkeit zu einer Generation. Die meisten Autoren äußerten sich dazu, wie sie sich von den Generationen davor und danach unterscheiden. Eine mögliche Grenze zur Generation der Väter war die Abschaffung der Leibeigenschaft, wie es Lidija L. Vasil’cˇikova beschrieb: »Als ich jung war, lag die Bauernbefreiung erst kurze Zeit zurück. Meine Generation wuchs gewissermaßen am Scheideweg zweier Epochen heran: Die Beziehungen, die – ob positiv oder negativ – seit Jahrhunderten bestanden hatten, waren plötzlich zu Ende; ein neues Verhältnis hatte sich noch nicht herausgebildet.«111

Die Abgrenzung zur Generation der Kinder markierte meist das revolutionäre Jahr 1917. Sergej E. Trubeckoj schrieb dazu, dass zwischen seiner Generation und der seiner Kinder ein anderer und weit tieferer Graben als die Bauernbefreiung lag – »die bolschewistische Revolution«.112 Die Autoren sahen sich als Mitglieder einer herausgehobenen Generation, die einen Wende- bzw. Entscheidungspunkt der Geschichte miterlebt hatte. Für den russischen Adel hatte in der Moderne kein anderes Ereignis so starke Auswirkungen wie die Februarund die Oktoberrevolution von 1917. Sie markierten in allen autobiographischen Texten die entscheidende Zäsur, die die subjektive Periodisierung im eigenen Lebensentwurf vorgab. Irina Skarjatina betonte die gemeinsame Sozialisation im Zarenreich sowie die gemeinsamen Erfahrungen der Revolutionen und des Exils: »When we grew up, we all realized that great changes were about to happen, but in the years of our childhood we only knew this sensation of strength and security. And then came the Revolution and everything that we had been taught to look upon as immutable, unchangeable, was suddenly destroyed. Empire, Tzar, estates, homes, heirlooms – all were swept away, and those of us that were not killed were left povertystricken and helpless amid the ruins of the civilization that was Imperial Russia. Scattered all over the world, we did our best to adapt ourselves to a new life, but no one who has not been through what we have been through will ever realize what it meant to mould our lives differently, to forget the old and conform ourselves to the new.«113

Sergej Trubeckoj schreibt bezüglich der Abgrenzung zur Generation der Kinder, dass diese in einem anderen Umfeld aufwüchsen und die Heimat der Eltern nur 111 Lydia Wassiltschikow : Verschwundenes Russland. Die Memoiren der Fürstin Lydia Wassiltschikow, 1886–1919, 1. Aufl., Wien u. a. 1980, S. 92. 112 Kn. Sergej Evgen’evicˇ Trubeckoj: Minuvsˇee, 1. Aufl., Paris 1989, S. 7f. 113 Irina Skariätina: A World Can End, 1. Aufl., New York 1931, S. VI f.

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Einleitung

noch aus Erzählungen kannten. Lediglich die eigene Generation verstehe alle Nuancen der zeitgenössischen »Atmosphäre«, so zum Beispiel den »hierarchischen« Respekt vor den eigenen Eltern.114 Auch die Kultiviertheit der eigenen Generation wurde höher eingeschätzt als die der jüngeren: »Das kulturelle Niveau [kul’turnyj uroven’] der Familien unserer Generation war ohne Zweifel wesentlich höher als das der gegenwärtigen.«115 Hier klingen Aspekte des klassischen Generationskonfliktes zwischen Eltern und ihren Kindern an, die sich mit der Abgrenzung der emigrierten Adeligen als Exil-Generation überlagern. In diesem Zusammenhang verwies Boris A. Vasil’cˇikov auf die Schwierigkeit, die »gute alte Zeit« an die Nachkommen lebhaft zu vermitteln, denn das Leben nach »Gutsherren-Art« (pomesˇcˇicˇij byt) wäre durch die Revolutionen und das Einführen eines neuen gesellschaftlichen Systems unwiederbringlich zerstört worden.116 Diese hier in Beispielen skizzierte Selbstverortung der Adeligen als Generation dient zugleich als Maßstab für die Auswahl der herangezogenen Autobiographien, deren Autoren nach 1860 geboren wurden, ihre Jugend und gesellschaftliche Sozialisation in den vorrevolutionären Jahren des Zarenreiches verbracht und die Oktoberrevolution dann bereits als Erwachsene erlebt hatten. Um eine gemeinsame Basis für die Textanalyse zu schaffen, wurde aus der heterogenen Gruppe der »Zeugen des Epochenumbruchs des Jahres 1917« anhand von drei Hauptkriterien eine Auswahl von Vertretern jener adeligen ExilGeneration zusammengestellt. Als Kriterien werden die spezifische adelige Sozialisation im Zarenreich, die bereits erwähnten einschneidenden historischen Wegmarken wie etwa die Revolution von 1905, der Erste Weltkrieg und die Russischen Revolutionen 1917 sowie die Kommunikation im Exil bestimmt. Das letzte Kriterium ist insoweit entscheidend, da erst durch das Schreiben und Veröffentlichen von autobiographischen Texten der Einzelne zu einem Teil der Gruppe wird und zum anderen – als Augen- und Zeitzeuge – auch zu ihrem Repräsentanten. Generell gilt, dass vor allem jene Texte ausgewählt wurden, welche die eigene Entwicklung vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse darstellen. Vor allem Aussagen über die speziell adelige Wahrnehmung und Deutung sind von besonderem Interesse.

114 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 8f. 115 Ebd., S. 40. 116 Knjaz’ Boris Vasil’cˇikov: Vospominanija, 1. Aufl., Moskau 2003, S. 57.

Quellen und Quellenkritik

3.2

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Besonderheiten autobiographischer Texte

Zunächst ist festzustellen, dass die Autobiographien in zeitlicher Distanz zu den jeweiligen Hauptereignissen verfasst worden sind, teilweise erst Jahrzehnte nach Beginn der Russischen Revolution und der Flucht ins Ausland. Nur ein Teil der Autoren führte während ihrer Flucht und der Wirren von Revolution und Bürgerkrieg Tagebuch, auf dessen Eintragungen sie später zurückgreifen konnten. Hinzu kommt die räumliche Distanz, denn alle Autoren befanden sich beim Verfassen ihrer Memoiren bereits in der Emigration. Das bedeutet, dass die Begebenheiten des eigenen Lebens in der Fremde, im Zustand der Entwurzelung niedergeschrieben wurden. Mit Blick auf die räumliche, aber insbesondere auch die zeitliche Distanz zwischen historischem Ereignis und Schreiben des Textes ist zu beachten, dass der Mensch in der Regel die für ihn wichtigen Ereignisse im Laufe seines Lebens immer wieder in Erinnerung ruft, reflektiert und dann aufgrund aktueller Erfahrungen gegebenenfalls neu deutet.117 Beim Arbeiten mit Erinnerungstexten ist daher davon auszugehen, dass das Erlebte durch neu gewonnene Erkenntnisse und veränderte Lebensumstände bereits umgeformt und an die jeweils veränderte Lebenssituation sowie möglicherweise gewandelte Selbstbilder angepasst worden ist.118 Eine weitere Besonderheit autobiographischer Texte liegt darin, dass der Autor im Rückblick auf die eigene Lebensgeschichte dazu neigt, Diskontinuitäten zugunsten einer kontinuierlichen Erzählung zu verdecken oder zu glätten: »In the pilgrimage from lived experience to recorded experience, many facts disappear or become blurred. Some are lost in the unconscious, while others are consciously censored; many are transformed into fantasied scenarios that take on a remembered reality indistinguishable from factual reality. There is a tendency for all autobiographical storytellers, and especially for survivors, to intensify their experiences and to construct a more artful, more cohesive, and more meaningful narrative out of disparate events.«119

Der Quellenwert erzählter Erinnerungen liegt somit weniger in der Aufdeckung von Verzerrungen in der Darstellung der Ereignisse. Sie eignen sich nur bedingt zur Informationsgewinnung über das Vergangene oder zur Rekonstruktion der tatsächlichen Geschehnisse. Sie dienen vielmehr als Quellen für die Untersuchung von Erinnerungs- und Identitätsbildungsprozessen, fragen also nach der 117 Vgl. Ulrike Jureit: Erfahrungsaufschichtung: Die diskursive Lagerung autobiographischer Erinnerung, in: Magnus Brechtken (Hg.): Life Writing and Political Memoir – Lebenszeugnisse und Politische Memoiren, Göttingen 2012, S. 225–242. 118 Zur Gegenwartsperspektive der Erinnerungen vgl. Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt/ M./New York 1995, S. 70–98. 119 Yalom, Blood Sisters, S. 6.

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Einleitung

Absicht, dem »Warum«, und der Komposition des jeweiligen Textes, sprich dem »Wie«.120 Autobiographien werden hier als soziale Selbstbeschreibungen verstanden, die Bestandteil derjenigen Zeit sind, in welcher sie geschrieben wurden. Über die Einsichten in subjektive Wahrnehmungen der Menschen hinausgehend, enthalten autobiographische Quellen Informationen über Prozesse der Identitätsbildung und geben damit Einblicke in Erinnerungsvorgänge, Verarbeitungsmuster und Bewältigungsstrategien. In der autobiographischen Reflexion setzt sich der Autor mit seiner Lebensgeschichte im Verhältnis zur Vergangenheit auseinander und bringt dadurch erst Vergangenheit hervor.121 Schließlich wird auch die Wirkung von Geschichtsbildern und ihre Bedeutung für eine Gruppe oder Gemeinschaft sichtbar. Diese Beobachtung trifft auch für die Texte des emigrierten russischen Adels zu. Nach dem Zusammenbruch des gesellschaftlichen Kontextes, der ihn als soziale Gruppe getragen hatte, setzten auch bei diesen Autoren die bereits beschriebenen Selbstvergewisserungs- und Reflexionsprozesse ein. Dabei entstanden die Autobiographien jedoch aus unterschiedlichen Motivationen heraus, die nachfolgend genauer dargestellt werden sollen.

3.3

Motivation und Adressaten der Autoren

Die äußeren und die inneren Rahmenbedingungen für das Schreiben von Memoiren sind bei der Analyse der Texte zu berücksichtigen. Zu den äußeren Bedingungen zählt das zeitweise enorme öffentliche Interesse am Schicksal der russischen Emigranten. Die Erzählungen über Verlust und Schicksalsschläge, die glückliche, aber unwiederbringlich verlorene Zeit der Kindheit, die »gute alte Zeit«, diese Themen fanden Anklang bei der Leserschaft in den verschiedenen Ländern. Das vorhandene Interesse lässt sich einerseits an den mehrfachen Auflagen und Übersetzungen ablesen. Dies war für die bekannten Mitglieder der Aristokratie wie die Großfürsten der Fall: Als ein besonders prägnantes Beispiel 120 Die Identitätsbildung wird als ein Prozess verstanden, bei dem eine Person ihre Biographie als kontinuierliche Entwicklung im Einklang mit den sie umgebenden Wertsystemen bringt und dabei ein positives Verhältnis zu sich selbst entwickelt. Vgl. Jürgen Straub: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Aleida Assmann/ Heidrun Friese (Hg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität, Frankfurt/M. 1998, S. 73–104. Nach Straub ist die Definition der personalen »Identität« durch zentrale Begriffe der »Einheit«, »Kohärenz« und »Kontinuität« zu fassen. Für die »kollektive Identität« seien v. a. direkte Kommunikation und Interaktion von Bedeutung, vgl. ebd., S. 100. Zur kollektiven Identität grundlegend Lutz Niethammer : Kollektive Identität. Heimliche Quelle einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek/Hamburg 2000. 121 Vgl. Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion, S. 441–476.

Quellen und Quellenkritik

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können die zwei Erinnerungsbücher von Großfürst Aleksandr Michajlovicˇ Romanov, einem Cousin Nikolajs II., genannt werden.122 Aber auch die eher unbekannteren Autoren wie Vera Golicyna erlebten mehrere Auflagen in einem Jahr.123 Der Herausgeber der Autobiographie von Vera Golicyna, Raymond de Vogü8, der mit ihr verwandt war, wollte seinen Worten nach die französischen Leser mit dem vorrevolutionären Russland bekannt machen, da die Ehrlichkeit dieser Zeitzeugin überzeugend war : »Ce r8cit offre un tel caractHre de sinc8rit8 que de bon juges ont engag8 la princesse V8ra Galitzine / le publier.«124 Die inneren Rahmenbedingungen korrespondieren mit den äußeren, denn wo ein Interesse der Leserschaft besteht, dort ist die Motivation höher, sich als Autor zu betätigen. Dabei können die Motive vielfältiger Natur sein und hängen unter anderem davon ab, in welcher Zeit und zu welchem Zeitpunkt, das heißt, unter welchen Lebensumständen der Entschluss zum Schreiben fiel. Die Rekonstruktion der Schreibanlässe erlaubt es in Einzelfällen, den Text an die Situation zu koppeln, in der er entstand. Gerade der Entschluss zur Autobiographie wirkt als Schnittstelle zwischen Individuum und historisch-sozialem Kontext und lässt damit auch Rückschlüsse auf die Motivation des Autors zu. Da Autobiographien als ein Mittel zur Kommunikation verstanden werden, lassen sich hinsichtlich der Adressaten zwei wesentliche Gruppen unterscheiden: Zum einen finden wir jene Autoren, die sich an die eigene Familie, vor allem die junge Generation wendeten und ihre Autobiographie damit in die Tradition adeliger Familiengeschichte stellten. Diese Gruppe hatte ein »intergenerationelles Vermächtnis« hinterlassen. Wenngleich ihre Werke später einem breiteren Publikum zugänglich gemacht worden sind, so waren diese von den Autoren zumindest noch nicht mit dieser Intention angelegt worden. Die Erinnerungen waren für diese Autoren für die familieninterne Kommunikation von großer Bedeutung – als Auftrag zum Nichtvergessen adeliger Normen bei den Nachkommen, welche die Kontinuität des Familiengedächtnisses sicherstellen mussten. Die Veröffentlichung erfolgte erst später aus dem Kreis der Familie selbst, so etwa bei Aleksandr N. Naumov durch seine Ehefrau und Tochter, bei Boris A. Vasil’cˇikov durch seinen Neffen, bei Ilarion S. Vasil’cˇikov durch seinen Sohn, bei Aleksandr Davydov durch seine Tochter Olga Davydoff Dax (die auch die Erinnerungen samt Zeichnungen von Marianna Davydova veröffentlicht hat), wie auch bei Lidija L. Vasil’cˇikova durch ihre Tochter. 122 Vgl. Alexander von Russland [1866–1933]: Einst war ich ein Großfürst, Leipzig 1932 (30 Aufl. allein in Deutschland); Band 2: Kronzeuge des Jahrhunderts, Leipzig 1933 (15 Aufl. in Deutschland). 123 Vgl. Princesse V8ra Galitzine: R8miniscences d’une Pmigr8e (1865–1920), 4. Aufl., Paris 1925 [1. Aufl. ebenfalls 1925]; das Buch lässt sich antiquarisch in der 8. Aufl. von 1925 finden. 124 Galitzine, R8miniscences, S. 1.

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Die Motivation der Nachfahren erklärte Olga Davydoff Dax prägnant in ihrem Vorwort zur ersten russischen Ausgabe der Erinnerungen ihres Vaters. Sie wollte zuerst die Erinnerungen auf Russisch in Paris herausgeben, um sie für alle interessierten russischen Exilanten zugänglich zu machen.125 Im Vorwort zu den Erinnerungen ihrer Großtante Marianna Davydova schrieb sie, dass Marianna ihre Zeichnungen und Aquarelle nebst Text in den 1920er Jahren angefertigt habe (vermutlich zwischen 1924 und 1932), um den Nachkommen ein möglichst genaues Bild vom Leben in Russland zu bieten und um zu zeigen, wie »die wohlhabenden Landadeligen, die Diener und Bauern tatsächlich gelebt haben.«126 Die zweite Gruppe besteht aus Autoren, die ihre Texte bereits bewusst für ein – zumindest potenziell – breiteres Publikum im Gastland geschrieben haben, selbst wenn sich bei Beginn der Arbeiten noch kein Verlag zur Veröffentlichung bereit erklärt hatte. Ganz gleich jedoch, unter welchen Bedingungen und für welches Publikum die Autoren ihre Autobiographien verfasst haben, zwei wesentliche Merkmale sind allen gemeinsam: Erstens, die Selbstverortung des Memoirenschreibers als Zeitzeuge, der als solcher für sich das Recht ableitet, objektiv – um nicht zu sagen »wahrheitsgetreu« – über die Geschehnisse in Russland berichten zu können.127 Und zweitens, die Motivation, die eigenen Erfahrungen und das eigene Wissen um die Geschehnisse weiterzugeben und damit auch eine »historiographische Beeinflussungsstrategie« (wenn auch unbewusst) zu verfolgen.128 Beide Aspekte waren offensichtlich eine starke Quelle der Motivation, die von der überwiegenden Anzahl der Autoren auch als solche benannt werden. Damit verbunden war häufig auch ihre Absicht, die (eigene) »Wahrheit« nach außen zu tragen, um bestimmte Ereignisse dem Vergessen zu entreißen oder schlicht, um das eigene Verhalten zu rechtfertigen. So möchte Nadezˇda D. Vonljarljarskaja eigentlich eine objektive Geschichte des vorrevolutionären Russlands schreiben, wenn auch aus einem subjektiven Blickwinkel: 125 Vgl. Aleksandr Davydov : Vospominanija, 1881–1955, 1. Aufl., Paris 1982, S. 8. 126 Olga Davidoff Dax: Vorwort, in: Mariamna Davidoff: Auf dem Lande. Erinnerungen einer russischen Gutsherrin, Bergisch Gladbach 1986, S. 7–9, hier S. 9 [zuerst erschienen als Mariamna Davydoff: On the Estate. Memoirs of Russia before the Revolution, London 1986]. 127 Anke Stephan weist darauf hin, dass im 19. und 20. Jahrhundert die russischen Autorinnen und Autoren sich in erster Linie als Chronistinnen und Chronisten der Zeit begriffen. Die Gliederung der eigenen Lebensabschnitte entlang politischer Ereignisse ist daher ein wichtiges Strukturmerkmal. Vgl. Anke Stephan: Erinnertes Leben: Autobiographien, Memoiren und Oral-History-Interviews als historische Quellen. Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas, S. 9, in: https://epub.ub.uni-muenchen. de/627/, abgerufen am 18. 01. 2018. 128 Vgl. Brechtken, Einleitung, in: ders./Bosbach (Hg.), Politische Memoiren in deutscher und britischer Perspektive, S. 26.

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»I sometimes fear that this narrative will read as if it were a story about me instead of being a story about pre-War Russia; […] at the advanced age of fifty-four I may perhaps be allowed to paint a dispassionate picture of myself, when young, without accused of inordinate vanity.«129

Neben den erwähnten Schreibanlässen gab es auch noch die Gruppe derer, die aus finanziellen Gründen mit dem Schreiben begannen, sei es aus der Not heraus oder weil ein attraktives Verlagsangebot vorlag. Eine weitere Schreibmotivation leitete sich aus dem Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten oder der Sorge um den eigenen Seelenfrieden ab.130 Ein Beispiel dafür ist die Autobiographie von Aleksandr N. Naumov. Aus dem Vorwort der Ehefrau lässt sich entnehmen, dass es der letzte Wille ihres Mannes war, dass die Memoiren nach seinem Tod veröffentlicht werden sollten. Ihr Mann wollte durch das Schreiben dem erzwungenen »Nichtstun« im Exil entkommen und dem Leben im Exil einen Sinn geben: »Sein ganzes Leben widmete A.N. [Aleksandr Naumov, J.H.] dem Dienst für das Vaterland, aber als dieser aktive Dienst geendet hatte und die Emigrationsjahre kamen, verlagerte er sein seelisches Bedürfnis und die innere Disziplin auf seine Aufzeichnungen und die Arbeit an seinen Memoiren.«131

Zu den Protagonisten jener Gruppe, die es als Zeitzeugen drängte, sich entweder direkt an die nächste Generation russischer Emigranten oder aber ganz allgemein an die Öffentlichkeit zu wenden, zählten unter anderem Adelige wie Varvara A. Dolgorukova,132 Sergej P. Obolenskij,133 Sergej E. Trubeckoj,134 Boris A. Vasil’cˇikov135 oder Marija N. Basˇmakova.136 Hier wurde das Mittel der Autobiographie gewählt, um – neben dem familiären – mit dem weiteren Umfeld in Kommunikation zu treten. Varvara A. Dolgorukova lieferte selbst eine eindeutige Motivation für die 129 Nadine Wonlar-Larsky : The Russia That I Loved, 1. Aufl., London 1937, S. 72. 130 Vgl. zu Schreibmotivationen den anregenden Artikel von Volker Depkat: Doing Identity : Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation, in: Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk (Hg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2015, S. 40–58. 131 Anna Naumova: Predislovie, in: Aleksandr N. Naumov : Iz ucelevsˇich vospominanij, 1868– 1917, 2 Bde, 1. Aufl., New York 1954, Bd. 1, S. I–II, hier S. I. 132 Vgl. Varvara Dolgorouki: Au Temps des Troxka 1885–1919, Paris 1978 [1. Aufl. Mailand 1976]. 133 Vgl. Prince Serge Obolensky : One Man in His Time. The Memoirs of Serge Obolensky, 1. Aufl., New York 1958. 134 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee. 135 Vgl. Vasil’cˇikov, Vospominanija. 136 Vgl. Marie de Baschmakoff: M8moires. 80 ans d’Ppreuves et d’Observations, 1. Aufl., Paris 1958.

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Memoiren: Sie beschrieb sich selbst als eine der wenigen noch lebenden Zeitzeugen der Vorkriegs- und Vorrevolutionszeit, weshalb sie über das Erlebte nicht schweigen dürfe: »Je suis un des rares t8moins encore en vie de l’avant-guerre de 14 et des temps pr8r8volutionnaires, et ne peux donc passer sous silence ce que j’ai vu et entendu de ces tristes et p8nibles 8v8nements.«137

Außerdem gibt es in ihrer Autobiographie drei wiederkehrende Botschaften, die immer wieder aufgegriffen und an die nächste adelige Generation und an die Leser allgemein gerichtet wurden: Da ist zunächst die Darstellung des eigenen Lebenswandels als Beispiel an Genügsamkeit, Bescheidenheit und Fleiß. Ferner die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Zar und Volk, insbesondere die Darstellung des »guten« Zaren auf der einen sowie die des »einfachen«, aber von falschen Ideen korrumpierten Landvolkes auf der anderen Seite. Und schließlich die Schuld derer, die den Zaren schwächten und damit den Bol’sˇeviki den Boden bereiteten. Dagegen schrieb der Herausgeber, Claude Pasteur, in seinem Vorwort, das vorliegende Buch gehöre nicht zu der Serie der »autobiographies / sensation« und auch nicht zu den nachrevolutionären Memoiren, sondern sei ˇ echovschen Manier.138 Er das ganz persönliche Zeugnis einer Kindheit in einer C stellte die Autorin als eine der letzten »grandes dames de la Russie imp8riale« vor. Gleichsam sollte diese Autobiographie dem Leser das Leben um die Jahrhundertwende in Erinnerung rufen.139 Sergej P. Obolenskij verwies explizit auf seine russische Herkunft, die es ihm gestatte, mit einigen Missverständnissen über das alte Russland aufzuräumen: »I wrote this book because I believed that there was a story to tell, and one which may in some small way explain an ex-Russian’s point of view towards the world. I have wanted in this volume to clear up some misconceptions about the old Russia that I knew. I have tried to show it as it truly was […].«140

Der Drang zur »Wahrheit« und die erklärte Absicht, die Dinge ins rechte Licht rücken zu wollen, waren insbesondere bei Sergej E. Trubeckoj, Boris A. Vasil’cˇikov und Ilarion S. Vasil’cˇikov141 bemerkbar. Sergej Trubeckoj lag insbesondere die Rehabilitierung des russischen Adels am Herzen, denn dieser würde trotz seiner zahlreichen Verdienste für Russland in den letzten Jahrzehnten des Zarenreiches diffamiert und in den Schmutz gezogen.142 137 138 139 140 141

Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 125. Caude Pasteur : Pr8face, in: Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 11f. Ebd. Obolensky, One Man in His Time, S. 324. Ilarion Sergeevicˇ Vasil’cˇikov : To, cˇto mne vspomnilos’…: vospominanija knjazja Ilariona Sergeevicˇa Vasil’cˇikova, 1. Aufl., Moskau 2002. 142 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 103.

Quellen und Quellenkritik

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Bei Boris A. Vasil’cˇikov kam der Wunsch hinzu, eine Korrektur zu den Verzerrungen und »weißen Flecken« in der öffentlichen Meinung und der Literatur zu liefern. Dabei ist auffällig, dass die nicht näher benannte »öffentliche Meinung und Literatur« mit solchen Attributen wie »fälschliche, einseitige und tendenziöse« Berichterstattung belegt wurde.143 Vasil’cˇikov betonte, dass er keine herausragenden Ereignisse der russischen Geschichte und die Urteile darüber »wiederholen«, sondern vor allem die Rolle des Adels, dem er ein ganzes Kapitel widmete, beleuchten wollte. Zugleich verstand er seine Ausführungen als intergenerationelles Vermächtnis im Sinne einer »Belehrung der Nachkommen«.144 Der jungen Generation, vornehmlich der russischen Jugend im Exil, galt die besondere Aufmerksamkeit dieser Autoren. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, versuchten viele Autoren durch ihre Memoiren kommunikative Brücken zur nächsten Generation zu schlagen, die sich nicht nur durch ihre Jugend, sondern vor allem auch wegen des NichtErlebens des vorrevolutionären Russlands und der Revolution in ihrem Erfahrungshorizont sehr deutlich von der Generation der emigrierten Adeligen unterschied. Dieser Unterschied wurde umso deutlicher, je länger das Exil andauerte und je stärker sich das Sowjetrussland bzw. die Sowjetunion auch international etablierte. Spätestens nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde auch den »Nostalgikern« deutlich, dass eine Rückkehr zu den vorrevolutionären Zeiten endgültig zur Illusion geworden war. Diesen Generationswechsel – um nicht zu sagen Generationskonflikt der russischen Emigranten – vor Augen, beklagte etwa Marija N. Basˇmakova, dass die alte Generation, die noch in Russland vor 1917 gelebt hatte, aussterbe, während die in Frankreich geborene Generation, »la jeunesse«, sich an die neue Heimat anpasse und infolge dessen »ihren russischen Charakter« verliere.145 Sie bezog sich dabei auf den Generationswechsel innerhalb der russischen Emigranten in Paris, der jedoch ohne weiteres auch auf Exilgruppen in anderen Ländern übertragen werden kann. Als ihre Biographie im Jahre 1958 erschien, war sie bereits 88 Jahre alt und gehörte damit zu jenen Autoren, die sich erst am Ende ihres Lebens zum Schreiben entschlossen hatten. Bei diesen Autoren war dann die Motivation, der »Jugend« ihre Erfahrungen weiterzugeben und damit ein »intergenerationelles Vermächtnis« zu hinterlassen, besonders stark ausgeprägt. Dass es tatsächlich diese Wirkung haben konnte, zeigte sich bei der Familie Davydov am Beispiel der Tochter des Autors Aleksandr Davydov. Olga Davydoff

143 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 108f. 144 Ebd., S. 57. 145 Baschmakoff, M8moires, S. 310: »La jeunesse s’adapte immanquablement aux pays oF elle est n8e et reÅoit son 8ducation. Elle perd son caractHre russe.«

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Dax veröffentlichte postum die Autobiographie ihres Vaters und verfasste ein Vor- und Nachwort: »Die Erinnerungen meines Vaters…[sic] Wie sehr wünsche ich mir, dass sie bei anderen ebenso Interesse wecken, wie sie mich interessieren und begeistern. Wie kann ich diesen Durst beschreiben, den ich fühle, diese Notwendigkeit, sich der Vergangenheit zu widmen, um meine Wurzeln und längst vergangenen Zeiten zu suchen.146

Ganz anders stand es dabei um die Motivation jener Autoren, die bereits kurz nach der Emigration aus Russland mit dem Schreiben begannen, wie etwa Marija S. Barjatinskaja, Irina V. Skarjatina und Nadezˇda D. Vonljarljarskaja. In diesen Fällen wurde die Autorentätigkeit zum Teil aus wirtschaftlichen Gründen heraus aufgenommen. Marija Barjatinskaja sprach angesichts fehlender Arbeitsmöglichkeiten ganz offen von einer »Notwendigkeit« und versuchte, sich als Kennerin der russischen Gesellschaft in England zu etablieren: »[N]ach mehreren vergeblichen Versuchen, eine adäquate Arbeit zu finden, fing ich an, über das Schreiben als eine Möglichkeit des Verdienstes nachzudenken. Der erste von mir verfasste Artikel wurde von der ›Westminster Gazette‹ angenommen. Es war eine Analyse des bäuerlichen Lebens in Russland vor und nach der Revolution.«147

Irina Skarjatina betonte, dass es ihre ungewöhnliche Biographie war, die sie zum Schreiben bewog, in der Einleitung schlug sie eine Brücke zu ihren (amerikanischen) Lesern: »Though by birth I am a Russian, with no foreign blood in my veins except a few drops inherited from a Tartar ancestor, by marriage I am now an American and have lived in this country for nearly eight years. My life in Russia and my life in America are so different that I have the uncanny sensation of having lived twice: first in Russia, where I died and was buried, and am now lying in our peaceful country cemetery – and now here in America, where I was born again and where I am now living my second life with the unusual faculty of being able to remember everything that happened during my first life in Russia.«148

Damit gelang es ihr, aus ihrer Vergangenheit Kapital zu schlagen und sich in den USA als Schriftstellerin, Journalistin und eben ganz bewusst als »Adelige« (»Formerly Countess«) zu etablieren.149 Diese Autobiographien waren bewusst 146 O. D.[avydoff] D.[ax]: Posleslovie, in: Davydov, Vospominanija, S. 251–278, hier S. 251. 147 Marija Barjatinskaja: Moja russkaja zˇizn’. Vospominanija velikosvetskoj damy 1870–1918, Moskau 2006, S. 362 [1. Aufl.: Princess Anatole Marie Bariatinsky : My Russian Life, London 1923. Diese Ausgabe konnte nicht eingesehen werden]. 148 Skariätina, A World Can End, S. v. 149 Vgl. weitere Publikationen in 1. Aufl.: Irina Skariätina: A World Begins, New York 1932; dies.: First to Go Back. An Aristocrat in Soviet Russia, New York 1933; dies.: Little Era in Old Russia, Indianapolis 1934; dies.: Tamara: A Novel of Imperial Russia, Indianapolis 1942; dies./Victor F. Blakeslee: New Worlds for Old, Indianapolis 1945. Sie arbeitete außerdem als Kriegskorrespondendin für »Collier’s Weekly« während des Zweiten Weltkrieges.

Quellen und Quellenkritik

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für eine nicht-russische Leserschaft verfasst worden und sie sollten vor allem dem Publikum gefallen. Nadezˇda D. Vonljarljarskaja schrieb auch im Vorwort von ihrer Hoffnung, das Interesse der englischen Leser zu gewinnen: »What I have tried to do is to draw a faithful picture of life in Russia, as lived in the circle to which I belonged. It is this, a story of the Russia that I knew and loved, and the atmosphere of its homes, which I hope may be of some interest to English readers.«150

Die Herausgeberin der Autobiographie, Elsie MacSwinney, betonte, dass die Autorin, aus einer bekannten Petersburger Familie stammend, sich durch besondere Kenntnisse und Einsichten des vorrevolutionären Russlands auszeichne – »from life at Court to the life of the peasants«. Das mache das Buch zu einem wertvollen Beitrag zur Geschichtsschreibung »of an Empire now, forever, lost«.151 Außerdem biete es ein lebendiges Bild der Revolution und ihrer Gefahren, welche die Autorin mit unglaublichem Mut meistern musste. In ihrer Intention unterscheiden sich diese Autobiographien von der oben skizzierten Gruppe der intergenerationellen »Brückenbauer«, wenngleich auch sie bemüht waren, mit gängigen Vorurteilen aufzuräumen und ihre Authentizität als Zeitzeugen immer wieder zu betonen.

3.4

Die Struktur der Autobiographien

Autobiographien sind das Produkt einer bereits verarbeiteten und häufig auch bereits umgedeuteten Erinnerung, bei denen Diskontinuitäten rückblickend häufig überdeckt bzw. geglättet wurden. Ein Sachverhalt, der übrigens von keinem der Autoren thematisiert wurde. Die Untersuchung der Texte ergab keinen Rückschluss darauf, ob die Autoren sich dessen nicht bewusst waren oder ob sie bewusst Veränderungen hinsichtlich der vergangenen Erfahrungen vornahmen. Es ist anzunehmen, dass in der Praxis des Schreibens die Autoren gezwungen waren, sei es mit Blick auf die oben beschriebene Motivation oder unter Berücksichtigung der Adressaten, Schwerpunkte zu setzen und den beschriebenen Lebenszeitraum zu periodisieren (vgl. dazu Kapitel VII). Generell ist festzuhalten, dass in der autobiographischen Rekapitulation das Ungewöhnliche und das Nicht-Alltägliche besser erinnert und erzählt werden kann als der unauffällige Alltag.152 Die vorliegenden autobiographischen Texte sind chronologisch 150 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. X (Introduction). 151 Beide Zitate ebd., o.S. 152 Vgl. zahlreiche Beispiele im Sammelband von Arianne Baggermann/Rudolf Dekker/Michael Mascuch (Hg.): Controlling Time and Shaping the Self. Developments in Autobiographical Writing Since the Sixteenth Century, Leiden/Boston 2011.

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Einleitung

aufgebaut, der Rückgriff auf Vor- oder Rückblenden ist die Ausnahme. Allerdings werden einzelne Zeitabschnitte zu bedeutungsvollen Einheiten zusammengefügt wie etwa Kindheit und Jugend, Heirat und Eintritt in die Gesellschaft, Kriegserlebnisse und eigene Arbeit, Revolution und Flucht, usw. Dabei wurden bewusst Zäsuren gesetzt und Kontinuitäten ermittelt oder, wenn nötig, geschaffen. Es ist daher von Interesse, welche Erlebnisse und Erfahrungen für die autobiographische Erzählung ausgewählt und in welcher Reihenfolge bzw. Wertigkeit sie präsentiert wurden. Der Aufbau der vorliegenden Texte beginnt in der Regel mit drei Einstiegsthemen, den bereits erwähnten Einheiten »Kindheit«, »Jugend« sowie den Ausführungen zur Geschichte der adeligen Vorfahren bzw. der Familie als solcher. Jeder Adeliger kannte seine Ahnen in der Regel auswendig und bezog sich auf ihre Geschichte. Deshalb skizzierten die Memoiren üblicherweise die Genealogie im unterschiedlichen Umfang. Während die Geschichte der Vorfahren naturgemäß in jenen Texten ausführlich ausfällt, deren Autoren sich an die eigene Familie wenden, kommt den Themen »Kindheit« und »Jugend« durchweg in allen Texten eine besondere Rolle zu. In ihnen findet der Leser den atmosphärischen Rahmen für die Schilderung der vorrevolutionären Zeit, die sogenannte »gute, alte Zeit«. Die Beschreibung des Familienlebens, im Winter in den Stadtpalais und im Sommer auf dem Landsitz, vor allem die Idylle des Landlebens sowie der Rhythmus des gesellschaftlichen Lebens mit seinen religiösen Feiern und festlichen Empfängen bildeten den Rahmen, in denen die Autoren beschützt aufwuchsen. Die Zeit der eigenen Kindheit wurde als die Zeit des Friedens geschildert. Häufig zeichneten die Autoren ein Idyll, in der die Zarenfamilie in allen Teilen der Gesellschaft hohes Ansehen genoss und verantwortungsvolle Gutsherren ihre schützende Hand über eine fleißige und tief gläubige Bauernschaft hielten. Dieses Ideal des vorrevolutionären Russlands wurde so oder so ähnlich in allen Autobiographien vermittelt. Die Narrative wie »die goldene Kindheit« oder »der gute Zar und das Volk« werden näher zu untersuchen sein, da sie offensichtlich bereits ein wichtiges Element gemeinsamer, generationsbildender Erinnerung darstellen. Das Gegenstück zu dieser heilen Welt begann sich dann bei einigen Autoren bereits ab 1905 abzuzeichnen, nachdem Russland im Krieg gegen Japan eine schwere Niederlage hatte einstecken müssen und sich der Unmut der Bevölkerung erstmals in einer Revolution entlud.153 Gleichwohl stellte das Jahr 1905 noch keine allgemeine Zäsur dar und die Autoren behandeln die Ereignisse 153 Eine gute Darstellung über die Revolution 1905/06 bietet Abraham Ascher : The Revolution of 1905, 2 Bde, Stanford 1988, 1992. Vgl. als kurze Einführung mit neueren Forschungsergebnissen: ders.: The Revolution of 1905. A Short History, Stanford 2004.

Quellen und Quellenkritik

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1905/06 nur, wenn sie davon unmittelbar betroffen waren. Ein weiteres Merkmal ist, dass die Autoren der internationalen Politik insgesamt nur wenig Beachtung schenkten, wohingegen die einzelnen Episoden oder Personen der russischen Politik und Gesellschaft durchaus breiten Raum einnehmen konnten (z. B. Rasputin oder Kerenskij). Die großen historischen Zäsuren wurden in den untersuchten Autobiographien etwas unterschiedlich gewichtet, aber in allen Texten werden folgende »Lebenseinschnitte« benannt: das Jahr 1905/06, der Beginn des Ersten Weltkrieges, das revolutionäre Jahr 1917 und der sich anschließende Bürgerkrieg, in dessen Folge die Entscheidung zur Flucht und Emigration getroffen wurde. Die Gewichtung der einzelnen Themen lässt sich auch an der Ausführlichkeit und den Details der jeweiligen Kapitel ablesen, dennoch wurden sie von allen Autoren aufgegriffen und schriftlich verarbeitet. In diesem Teil der Autobiographien bildeten die Autoren einen negativen Gegenpol zu den positiven Kapiteln ihrer Kindheit und Jugend. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Adeligen eigene Erfahrungen mit Erniedrigung, Raub und Brandschatzung während der Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges gemacht hatten. Das beeinflusste die Erinnerungen der Autoren, z. B. wurde das »Volk« in den Texten zum »Mob« und die adelige Welt von der »Gewalt der Straße« hinweggefegt.154 Den Abschluss der untersuchten Autobiographien bildet dann oftmals die Emigration selbst, zumeist eine Beschreibung der einzelnen Stationen bis zur Ankunft in ihrem (ersten) Gastland. Einige Autoren wechselten mehrfach nicht nur den Wohnort, sondern das Land, bis eines für sie zur neuen Heimat werden sollte. Auffallend ist, dass alle Autoren bemüht waren, dem Leben im Exil trotz aller Brüche und Neuanfänge Kontinuität zuzuerkennen. Dieser Abriss zur Struktur der autobiographischen Texte gibt zugleich den Fahrplan für die einzelnen Schritte ihrer Untersuchung vor. Den hier bereits erwähnten Narrativen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, denn anhand dieser Narrative sollen jene Elemente erschriebener Erinnerung herausgearbeitet werden, die für die emigrierten Adeligen generationsbildend gewirkt haben und damit die Grundlage für die Identität des russischen Adels im Exil nach 1917 bildeten.

154 Vgl. Jörg Baberowski: Einleitung. Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt, in: ders./Gabriele Metzler (Hg.): Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt/ M./New York 2012, S. 7–27, S. 7; Dittmar Dahlmann/Julia Hildt: Das »Volk« wird zum »Mob«. Das Jahr 1917 in den Erinnerungen russischer Adeliger im Exil, in: Brechtken (Hg.), Life Writing and Political Memoir, S. 203–224.

II.

Der »Erfahrungsraum« des Adels im Zarenreich

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Russland von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1905

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war keineswegs eine ruhige Epoche, sondern bereits eine Zeit tiefgreifender Umwälzungen.155 Die Niederlage Russlands im Krimkrieg (1853–1856) hatte den Reformbedarf in allen Bereichen des Landes schonungslos aufgedeckt. Zar Alexander II. initiierte daher in den 1860er und 1870er Jahren eine ganze Reihe umfangreicher Reformen. Kernstück dieser Reformen war die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861, von der über 40 Millionen Bauern profitierten. Zugleich wurden den Gouvernements und Kreisen (1864) sowie den Städten (1870) mehr Rechte zugesprochen und damit deren Selbstverwaltung gestärkt. Vor allem die Aufhebung der Leibeigenschaft war nur gegen erheblichen Widerstand des Landadels möglich gewesen. Dieser wusste, dass er sein Land ohne die Arbeitskraft der Leibeigenen vielerorts nicht mehr rentabel bewirtschaften konnte: »Land has always been their economic mainstay, and the ability to rely on free labour had been the main factor in keeping many landed estates economically viable, whilst distinguishing less wealthy nobles from their peasant neighbours.«156 In der Folge mussten die meisten der verhältnismäßig gut ausgebildeten, zum Teil studierten, aber mittellos gewordenen Landadeligen Berufe ergreifen, die vormals eher dem städtischen Bürgertum157 zugerechnet worden waren. Dabei kam den Betroffenen zugute, dass der Zugang zu Bildung und Infor155 Vgl. Roger Munting: Economic Change and the Russian Gentry, 1881–1914, in: Linda Edmondson/Peter Waldron (Hg.): Economy and Society in Russia and the Soviet Union, 1860–1930, London u. a. 1992, S. 24–43. 156 Matthew Rendle: Defenders of the Motherland. The Tsarist Elite in Revolutionary Russia, New York 2010, S. 5. 157 Die Problematik des Begriffs »Bürgertum« für russische Verhältnisse greift z. B. Manfred Hildermeier auf, vgl. ders.: Bürgerliche Eliten im ausgehenden Zarenreich?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48, 1/2000, S. 1–4.

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Der »Erfahrungsraum« des Adels im Zarenreich

mationen innerhalb der sozialen Netzwerke des Adels in der Regel auch das Finden einer neuen Anstellung erleichterte. Dieser Mechanismus half den Adeligen, vor allem den verarmten und zum Ergreifen bürgerlicher Berufe gezwungenen, sich trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten ihr Standesbewusstsein zu erhalten und sich auch weiterhin von anderen sozialen Gruppen abzugrenzen.158 Daher schuf die wirtschaftliche Umbruchphase der Reformen Alexanders II. neue Formen adeligen Daseins, die mittellos gewordene Adelige »auffingen«. Dass ein Großteil von ihnen im Staatsdienst sein neues Auskommen fand, lag dabei durchaus in der Tradition des Russischen Reiches. Nicht zuletzt war es aber auch die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Adels, die den Betroffenen half, »oben zu bleiben«.159 Der Adel, nicht nur der Landadel, blieb auch in den folgenden Jahren unter erheblichem wirtschaftlichen Druck. Die Industrialisierung, die in Russland ab etwa 1881 einsetzte und ihren Ausgang in dem als militärisch notwendig erachteten Eisenbahnbau nahm, bot dem Adel Chancen und Risiken gleichermaßen. Diejenigen, welche die Chancen ergriffen, bzw. – weil ihre Ländereien geologisch begünstigt waren (Rohstoffvorkommen) – ergreifen konnten, bildeten schon bald eine neue Gruppe innerhalb des russischen Adels, nämlich die der Unternehmer bzw. Industriellen. Ihr Reichtum gründete sich auf Eisen, Kohle und Stahl, später auch auf Öl, und ihre wirtschaftlichen Interessen unterschieden sich schon sehr bald grundlegend von denen der agrarisch orientierten Großgrundbesitzer, aus deren Reihen sie teils selbst hervorgegangen waren. Diejenigen Adeligen, deren Reichtum lediglich auf Grundbesitz basierte, hatten das Nachsehen, denn mit dem auf Industriekapital gegründeten Reichtum der adeligen Unternehmer und ihrer bürgerlichen Pendants sank ihre gesellschaftliche Bedeutung, die zunehmend in Finanzkapital und nicht mehr, wie früher, in der Größe des Grundbesitzes gemessen wurde. Der Bedarf an Kapital und Investitionen für die großen Bauprojekte wie etwa die Transsibirische Eisenbahn machte eine Öffnung der Märkte notwendig, von der zwar die Unternehmer, nicht aber die Großgrundbesitzer profitierten. Die mit der Industrialisierung einhergehende Zentralisierung des Staates, sein Finanzbedarf und die damit notwendig gewordene zunehmende Steuerlast 158 Eine gute Einführung zur Entwicklung des Adelsstandes in Russland bietet Manfred Hildermeier : Der russische Adel von 1700 bis 1917, in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750– 1950, S. 166–216. Vgl. auch den Artikel »Dvorjanstvo« in N.A. Ivanova/V.P. Zˇeltova: Soslovno-klassovaja struktura Rossii v konce XIX – nacˇale XX veka, Moskau 2004, S. 13–47. Zur Bezeichnung »Stand« (soslovie) vgl. Christoph Schmidt: Über die Bezeichnung der Stände (sostojanie – soslovie) in Rußland seit dem 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 38, 1990, S. 199–211; ders.: Ständerecht und Standeswechsel in Rußland 1851–1897, Wiesbaden 1993, v. a. S. 21f., 70f. 159 Zum Konzept des »Oben-Bleibens« vgl. Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum ObenBleiben, in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750–1950, S. 87–95.

Russland von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1905

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nahmen seit den 1890er Jahren auch den Adel verstärkt in die Pflicht. Das trug dazu bei, dass der Wunsch nach mehr politischer Partizipation geweckt wurde. So fand eine zunehmende Politisierung des russischen Adels statt, wie sie zuvor nur im Vorfeld der Bauernbefreiung des Jahres 1861 und in den unmittelbaren Jahren danach zu beobachten gewesen war.160 Da offizielle politische Vereinigungen nicht zugelassen waren, gründete der liberale Flügel des in den Zemstva161 und den Stadtdumen aktiven Adels seit Anfang der 1890er Jahre zunächst informelle Gesprächskreise, dann auch illegale Gruppierungen wie den Verband der Zemstvo-Konstitutionalisten (Sojuz Zemcev-Konstitucionalistov) und den Befreiungsbund (Sojuz Osvobozˇdenija).162 Die Adeligen, die sich in diesen politischen Zirkeln zusammenfanden, forderten Mitspracherechte, denn angesichts der rasanten wirtschaftlichen und technischen Entwicklung des Russischen Reiches befürchteten sie, dass ihre überwiegend agrarisch begründeten Interessen unter die Räder geraten könnten. Sie forderten daher eine Konstitutionalisierung des politischen Systems; eine Forderung, die auch von den Unternehmern geteilt wurde, die sich im Gegensatz zu den Großgrundbesitzern aber eher eine Beschleunigung der Modernisierungsbemühungen für das Land erhofften.163 Gerade letzteres Beispiel ist ein Beleg dafür, wie sehr sich die Interessen des Adels und damit auch der Adel selbst während dieser Jahre diversifiziert hatten. Die hier skizzierten gesellschaftlichen Umbrüche innerhalb des russischen Adels im Zuge der Industrialisierung, so drastisch sie insbesondere für die Großgrundbesitzer und den nach der Abschaffung der Leibeigenschaft noch bestehenden Landadel gewesen sein mögen, dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Adel als solches seine Vormachtstellung im Staate trotz oder vielleicht auch sogar wegen der Diversifizierung während dieser Zeit keineswegs eingebüßt hatte. Denn es waren vor allem die fortschrittlich denkenden Großgrundbesitzer, die in Maschinen investierten, ihre Betriebe modernisierten und sich damit in Teilen auch als treibende Kraft im Industrialisierungsprozess etablierten. Teile des Adels waren also nicht nur Opfer, sondern eben auch Motor dieser Entwicklung.164 160 Vgl. Terence Emmons: The Russian Landed Gentry and the Peasant Emancipation of 1861, Cambridge 1968; Friedrich Diestelmeier : Soziale Angst. Konservative Reaktionen auf liberale Reformpolitik in Rußland unter Alexander II. (1855–1866), Frankfurt/M. u. a. 1985. 161 Die Zemstvo-Organisationen waren gewählte Organe der lokalen Selbstverwaltung, die für das Gesundheits- und Bildungswesen sowie für den Straßenbau zuständig waren. 162 Vgl. dazu Dittmar Dahlmann: Die Provinz wählt. Rußlands Konstitutionell-Demokratische Partei und die Dumawahlen 1906–1912, Köln u. a. 1996, S. 65ff. mit der weiterführenden Literatur. 163 Vgl. Konstantin N. Kurkov: Adaptacija rossijskogo dvorjanstva k uslovijam modernizacionnogo processa nacˇala XX veka, Moskau 2005. 164 Vgl. Ivanova/Veltova, Soslovno-klassovaja struktura Rossii, S. 41; vgl. auch Manfred Hil-

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Der »Erfahrungsraum« des Adels im Zarenreich

Darüber hinaus handelte es sich bei den geschilderten Veränderungen um Prozesse, die sich zum einen über mehrere Jahrzehnte erstreckten und daher evolutionären Charakter hatten. Zum anderen betrafen diese Veränderungen allein aufgrund der schieren Größe des Russischen Reiches nicht alle Regionen gleichermaßen, so dass sich auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen des Landes Großgrundbesitzer fanden, deren Landgüter nach wie vor rentabel und gewinnbringend arbeiteten. Interessant ist dabei auch, so viel sei hier schon vorweggenommen, dass sich alle Autoren der hier untersuchten Autobiographien zu den produktiven, unternehmerischen Kräften des Landes zählten, die einen Großteil ihrer Zeit für die Bewirtschaftung ihrer Güter und das Geschäftliche aufwendeten. Für die Zeit zwischen 1860 und 1905 bleibt damit festzuhalten, dass sich der russische Adel zwar enormen ökonomischen Zwängen ausgesetzt sah, die insbesondere vom Landadel eine wirtschaftliche Diversifizierung erforderten und ihren Niederschlag auch in der politischen Ausrichtung fanden, die Vormachtstellung des Adels in Russland insgesamt allerdings keineswegs in Frage gestellt wurde: »Hereditary nobles continued to dominate the positions of power.«165 So blieb der russische Adel der vorrevolutionären Zeit nicht nur der herrschende Teil der Gesellschaft, auch seine Rolle als Elite in den Bereichen Politik, Wirtschaft und vor allem Kultur blieb zum großen Teil erhalten.166 Diese Außensicht stimmte aber keineswegs mit der Selbstwahrnehmung überein, wie Ekaterina Barinova in ihrer Studie konstatiert. Durch die Auswertung von autobiographischen Texten und anderen Quellen konnte sie feststellen, dass vornehmlich negative Einschätzungen der Lage innerhalb des Adels überwogen, was auf Unzufriedenheit mit der politischen und sozialen Situation schließen lässt. Die Wahrnehmung der Bauern veränderte sich ebenfalls in eine negative Richtung: Es dominierten Unverständnis, Verärgerung und Angst vor der Zukunft.167 Die eigene Welt- und Gesellschaftsanschauung galt dem (kon-

dermeier : Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, 2. Aufl., München 2013, v. a. das Unterkapitel »Adel: Niedergang oder erfolgreiche Anpassung?«, S. 1158f.; zur Diskussion um die Proto-Industrialisierung in Russland mit konkreten Beispielen vgl. Klaus Gestwa: Proto-Industrialisierung in Russland: Wirtschaft, Herrschaft und Kultur in Ivanovo und Pavlovo 1741–1932, Göttingen 1999, S. 349ff., 391f. 165 Rendle, Defenders, S. 5. 166 Entgegen dem Titel »Abschied von Macht und Würden« zeigen die Ergebnisse von Lieven, dass der Adel in den untersuchten Ländern durchaus erfolgreich in der Verteidigung seiner gesellschaftlichen Vormachtstellung war. Weitere Anregungen zur vergleichenden Adelsforschung vgl. den Sammelband von Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750–1950. Lieven stellte die These auf, dass der russische Adel im Bereich der Literatur und Musik eine Hegemonie besaß, die stärker war als in England oder Preußen. 167 Vgl. Barinova, Vlast’ i pomestnoe dvorjanstvo Rossii v nacˇale XX veka, S. 129f. und zu den Bauern S. 150f.

Russland von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1905

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servativen) Adel als die einzig richtige, was folgerichtig zu Konfrontationen, auch gewaltsamer Art, mit anderen Gesellschaftsschichten führte. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich Russland in einem Zustand latenter Gewaltsamkeit. Das innenpolitische Klima verschlechterte sich gegen Ende des Jahrhunderts, und die unter Alexander II. begonnene Reform-Ära endete spätestens nach dessen Ermordung 1881, als er einem Sprengstoffattentat der extremistischen Terrorgruppe »Narodnaja volja« zum Opfer fiel.168 Anschläge unterschiedlichster Gruppen auf Personen des öffentlichen Lebens rissen auch in den Folgejahren nicht ab.169 Gewalt wurde aber auch seitens des Staates, sprich von Polizei und Geheimdiensten ausgeübt.170 Russland war ein Imperium, das »seit dem 18. Jahrhundert immer mehr Ungleichzeitigkeiten inkorporierte und produzierte, für deren Homogenisierung ihm die Kraft fehlen sollte.«171 Da wäre die Differenz zwischen den europäisierten, gebildeten Eliten und dem archaisch anmutenden, »traditionellen« Bauerntum; genauso die Opposition der Autokratie und deren Repräsentanten zu der »Gesellschaft«.172 Der Adel war nicht nur in wirtschaftlicher und sozialer, sondern auch in politischer Hinsicht heterogen. In den Adelsvereinigungen machte der konservativ gesinnte Adel seinen Einfluss geltend. Hier war das Hauptthema die Stärkung des russischen Adels mit Hilfe des Staates. Der liberal eingestellte Adel engagierte sich besonders stark in den lokalen Selbstverwaltungen, den Zemstva.173 Dennoch fiel auch diesem die Annäherung an andere

168 Vgl. Anke Hilbrenner: Gewalt als Sprache der Straße: Terrorismus als Form der politischen Kommunikation im Russischen Reich vor 1917, Habilitationsschrift Bonn 2014, insb. S. 105–155. 169 Zur Geschichte der Gewalt in Russland im 19. Jahrhundert vgl. Alphons Thun: Die Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland, Leipzig 1883; H8lHne CarrHre d’Encausse: The Russian Syndrom. One Thousand Years of Political Murder, New York/London 1992; Anke Hilbrenner : Gewalt als Sprache der Straße: Terrorismus und seine Räume im Zarenreich vor 1917, in: Walter Sperling (Hg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, Frankfurt/M./New York 2008, S. 409–432. 170 Vgl. Jonathan W. Daly : The Watchful State. Security Police and Opposition in Russia, 1906– 1917, DeKalb/Ill. 1999. 171 Walter Sperling: Jenseits von »Autokratie« und »Gesellschaft«. Zur Einleitung, in: ders. (Hg.), Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich, S. 7–40, hier S. 19. 172 Kritisch zur Dichotomie von »Autokratie« und »Gesellschaft« vgl. ebd.; zusammenfassend Manfred Hildermeier: Russland oder Wie weit kam die Zivilgesellschaft?, in: ders./Jürgen Kocka/Christoph Conrad (Hg.): Europäische Zivilgesellschaften in Ost und West: Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt/M./New York 2000, S. 113–148. 173 Vgl. Andreas Grenzer : Der russische Adel. Interessensvertretung und politische Artikulation in den »Zemstva« des späten Zarenreiches, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42, 1994, S. 399–414; Terence Emmons: The Zemstvo in Russia. An Experiment in Local Self-Government, Cambridge 1982.

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Gesellschaftsschichten, insbesondere an die der wachsenden Schicht der Industriearbeiter, schwer.

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Entwicklungen von 1905/06 bis zum Ersten Weltkrieg

Während des verlustreichen Russisch-Japanischen Krieges 1904/05, der mit einer schweren Niederlage des Zarenreiches endete, trugen die Menschen ihren Unmut auf die Straße.174 Die Streiks schlugen in revolutionäre Unruhen zuerst in St. Petersburg um, als am 22. Januar 1905 eine demonstrierende Gruppe vor dem Winterpalais von Soldaten mit Waffengewalt aufgelöst wurde. Dieser »Blutsonntag« förderte eine Ausbreitung von gewalttätigen Ausschreitungen über weite Teile des Landes. Die Antwort Nikolajs II. auf diese für den Monarchen beängstigende Entwicklungen war das Oktobermanifest, das von Sergej Vitte ausgearbeitet worden war, in welchem die Bildung der Duma verfügt wurde.175 Die Reaktionen auf das Manifest fielen sehr unterschiedlich aus – den einen ging es zu weit, den anderen nicht weit genug.176 Die revolutionären Ereignisse der Jahre 1905/06 trugen erheblich dazu bei, dass sich auch der Adel politisch in Verbänden, Vereinigungen und Parteien organisierte. Der Adel war auf der einen Seite die Stütze des monarchischen Prinzips, andererseits gründete er politische Parteien, forderte politische Partizipation und ein Teil war oppositionell eingestellt.177 Die Interessen der Adeligen waren vielfältig und damit auch die Reaktionen auf die politischen Entwicklungen seit dem Jahr 1905.178 Die Spannbreite der politischen Meinungen war daher enorm. Die Duma erwies sich als ein weiterer Streitpunkt innerhalb 174 Vgl. Dittmar Dahlmann: Die gescheiterte Revolution – Russland 1905–1907, in: Josef Kreiner (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg 1904/1905, Göttingen 2005, S. 117–135; Jan Kusber : Siegeserwartungen und Schuldzuweisungen. Die Autokratie und das Militär im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05, in: Kreiner (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg, S. 99–116. 175 Vgl. Jan Kusber : Den Herrscher an das Recht binden: Verfassungsgedanke und Verfassung im Zarenreich, in: Dittmar Dahlmann/Pascal Trees (Hg.): Von Duma zu Duma. Hundert Jahre russischer Parlamentarismus, Göttingen 2009, S. 31–48; Klaus Fröhlich: The Emergence of Russian Constitutionalism 1900–1904, Den Haag 1981. 176 Vgl. Julia Hildt: Duma und Öffentlichkeit im Russischen Reich und im europäischen Ausland, in: Dahlmann/Trees (Hg.), Von Duma zu Duma, S. 263–282, hier S. 267ff. 177 Vgl. George Fischer : Russian Liberalism. From Gentry to Intelligentsia, Cambridge/Mass. 1958; Shmuel Galai: The Liberation Movement in Russia 1900–1905, Cambridge 1973; Manfred Hildermeier : Liberales Milieu in russischer Provinz. Kommunales Engagement, bürgerliche Vereine und Zivilgesellschaft 1900–1917, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 51, 2003, S. 498–548. 178 Vgl. Manning, The Crisis of the Old Order, S. 355ff., 370f.; Jurij B. Solov’ev : Samoderzˇavie i dvorjanstvo v 1907–1914 gg., Leningrad 1990; die politischen Forderungen des Adels nach 1905 vgl. Kabytova, Krizis russkogo dvorjanstva, S. 56–92.

Entwicklungen von 1905/06 bis zum Ersten Weltkrieg

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des Adels, denn die liberalen Kräfte forderten weitere Reformen des politischen Herrschaftssystems, die konservativen Stimmen riefen nach Stärkung der Monarchie.179 Weitgehende Einigkeit bestand dagegen in der Meinung, dass Nikolaj II. sich als schwacher Zar und seine Regierungen sich als unfähig erwiesen hatten, den Reformstau aufzulösen bzw. Lösungen für den Adel anzubieten. Die politisch-gesellschaftliche Entwicklung seit 1905 führte zu einer Neubewertung des adeligen Verhältnisses zum Zaren.180 Zwar blieb die Mehrzahl der Adeligen konservativ und monarchisch eingestellt und damit prinzipiell misstrauisch gegenüber radikalen Umwälzungen, weshalb sie das bestehende politische und soziale System bis zu einem gewissen Grad unterstützten. Dennoch provozierte der Politikstil Nikolajs II. eine grundsätzlich oppositionelle Haltung, wobei diese sich nicht gegen die Monarchie als solche wandte, die als Garant für die Einheit des Landes galt: »For most, autocracy was still seen as the only way of maintaining the multinational Russian empire, and the Tsar remained the basic object of loyalty and guidance.«181 Daneben gab es aber auch den liberalen, demokratisch orientierten Adel, der seine politische Heimat vor allem in den Reihen der Konstitutionell-Demokratischen Partei fand (Abkürzung »KD«, daher auch die »Kadeten« genannt), die im Oktober 1905 gegründet wurde.182 Andere schlossen sich den gemäßigten »Oktobristen« an.183 Ein kleinerer Teil verteilte sich auf die extremen Flügel.184 Die Adelsvereinigung (Ob’’edinennoe dvorjanstvo) sollte eine Einigkeit nach außen demonstrieren, aber über die Erreichung der gesetzten Ziele bestanden viele unterschiedliche Meinungen: »Although broadly conservative, the United Nobility was far from united politically, and this reflected sharp differences amongst nobles after 1905.«185 Die wirtschaftliche Diversifizierung des russischen Adels, die sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts abgezeichnet hatte, fand nun also auch ihren Niederschlag in den unterschiedlichen politischen Ausrichtungen. 179 Vgl. Olga Kurilo: Adel und Staatsduma: Kampf ums Obenbleiben, in: Dahlmann/Trees (Hg.), Von Duma zu Duma, S. 229–246. 180 Vgl. zu der Haltung der Monarchisten bei Sergei Podbolotov : Monarchists against Their Monarch: The Rightists Criticism of Tsar Nicholas II, in: Russian History 1–2, 2004, S. 105– 120; vgl. auch Andrew M. Verner : The Crisis of Russian Autocracy. Nicholas II and the 1905 Revolution, Princeton/New York 1990. 181 Rendle, Defenders, S. 17. 182 Vgl. Dahlmann, Die Provinz wählt; N. Dumova: Kadetskaja partija v period pervoj mirovoj vojny i fevral’skoj revoljucii, Moskau 1988. 183 Vgl. Wolfram Baier : Die Oktobristen und die konstitutionelle Monarchie 1905–1907, München 2003. 184 Die Rechten untersuchte z. B. A. Ivanov : Poslednie zasˇcˇitniki monarchii. Frakcija pravych IV gosudarstvennyj dumy v gody pervoj mirovoj vojny, St. Petersburg 2006; Ju. Kir’janov : Pravye partii v Rossii, 1911–1917, Moskau 2001. 185 Rendle, Defenders, S. 15.

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Der »Erfahrungsraum« des Adels im Zarenreich

In den folgenden Jahren während der vier Dumen von 1906 bis 1914/17 gelang es dem Adel nicht, seine übergreifenden Standesinteressen politisch zu bündeln. Wie Barinova feststellte, waren die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg von abnehmender politischer Aktivität beziehungsweise von weiterer politischer Diversifizierung des Adels gekennzeichnet.186 Sie stellte auch die These auf, dass in der Folge der ersten russischen Revolution von 1905 das Selbstbild der Adeligen zunehmend von negativen Attributen bestimmt wurde. Denn in dieser Phase der ersten Revolution fühlte sich ein Teil des Adels angesichts seiner gefühlten Machtlosigkeit ernsthaft bedroht.187 Dabei gab es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, weiterhin in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Somit bestand eine Diskrepanz zwischen der negativen Selbstwahrnehmung und den tatsächlichen Chancen auf politische und soziale Teilhabe.

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Der Erste Weltkrieg und die Veränderungen im monarchischen Bewusstsein

Nach der ersten Zeit des Glaubens an einen schnellen Sieg im Ersten Weltkrieg kam die Phase der Ernüchterung. Die Niederlagen an der Front, der Verlust von Verwandten und Freunden, die Mangelwirtschaft verstärkten das Krisengefühl der russischen Gesellschaft, auch des Adels.188 Die Unfähigkeit der Entscheidungsträger, mit den Herausforderungen des Krieges umzugehen, führte in den Reihen des ansonsten loyalen oder bis dato noch unpolitischen Adels zu dem Glauben, dass politische Reformen zwar mit Risiken behaftet, aber dennoch unumgänglich seien.189 Doch so einig man sich auch in der Feststellung der drängenden Probleme war, so verschieden waren die Lösungsansätze: So suchten die Monarchisten etwa einen stärkeren Monarchen, während die Liberalen nach mehr konstitutionellen Reformen verlangten. Im Verlauf der Kriegsjahre nahm die Erosion der monarchischen und staatlichen Autorität zu, so dass selbst aus den Reihen der Eliten die Person des Zaren in Frage gestellt wurde.190 Diese »Desakralisierung« der Monarchie hatte also bereits Monate vor Ausbruch der Februarrevolution 1917 stattgefunden. Diesbezüglich können einige Parallelen zu der Französischen Revolution von 1789 186 Vgl. Barinova, Vlast’ i pomestnoe dvorjanstvo Rossii v nacˇale XX veka, S. 252ff. 187 Vgl. Ekaterina P. Barinova: Rossijskoe dvorjanstvo v nacˇale XX veka, e˙konomicˇeskij status i sociokul’turnyj oblik, Moskau 2008, S. 59. 188 Vgl. Barinova, Vlast’ i pomestnoe dvorjanstvo Rossii v nacˇale XX veka, Kapitel 7. 189 Vgl. Rendle, Defenders, S. 32. 190 Vgl. Boris I. Kolonickij: »Tragicˇeskaja e˙rotika«. Obrazy imperatorskoj sem’i v gody Pervoj mirovoj vojny, Moskau 2010, S. 241f.

Der Erste Weltkrieg und die Veränderungen im monarchischen Bewusstsein

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festgestellt werden. Wolfgang Kruse untersuchte den Prozess der »Desakralisierung« des französischen Königs und stellte fest, dass bei der Enthauptung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 dieser nicht mehr »der wundertätige, gottgleiche König, der ›Geweihte des Herrn, sein Leutnant, sein Bild‹ [war], als den man ihn knapp zwanzig Jahre davor gekrönt hatte. Er war offiziell nur noch der ›Bürger‹ Louis Capet. Bevor man den König jedoch absetzen, vor Gericht stellen, verurteilen und hinrichten konnte, musste er seiner Göttlichkeit entkleidet, auf ein menschliches Maß zurechtgestutzt, entzaubert und erniedrigt werden.«191 In Russland könnte die Eröffnung der Duma als die grundlegende Veränderung der politischen Szenerie aufgefasst werden, aber auch als die erste Phase der institutionellen Herabsetzung des Kaisers. Die verschiedenen Phasen der symbolischen Erniedrigung und Entzauberung, die der letzte Zar seitdem erleben musste, zerstörten gleichzeitig die traditionelle Legitimation des Kaisertums. Schritt für Schritt verlor er seine politische und soziale Autorität. Damit ging auch die persönliche Erniedrigung einher, die z. B. durch die politische Karikatur in die Öffentlichkeit getragen und eine wichtige meinungsbildende Rolle gespielt hatte. Vor allem die Zarin Aleksandra Fedorovna war eine beliebte Zielscheibe der Karikaturen und der Satire: Das mit der Zeit in verschiedenen Gesellschaftskreisen sich verbreitende Bild der »unzüchtigen Verräterin im Zarenschloss« wurde in den Augen vieler Zeitgenossen zum wichtigsten Symbol des Zerfalls des alten Regimes, außerdem zum vermeintlich glaubwürdigen Beweis des hinterhältigen Verrats von oben.192 Die Gerüchte bekamen nach und nach, mit einem Höhepunkt nach der Februarrevolution eine pornographische Note, die auf die Sexualität der Zarin anspielte.193 Zu einem nicht unerheblichen Teil hatten sie mit dem vermuteten Einfluss von Grigorij Efimovicˇ Rasputin – die »Rasputiniada« – zu tun. Nicht nur einfache Bauern glaubten den Gerüchten, dass Rasputin eine enorme Macht über die Zarenfamilie, insbesondere auf die Zarin, besaß. Auch Teile der liberalen Öffentlichkeit und sogar eingeschworene Monarchisten, die sonst keine Beleidigungen des Zaren und der Zarenfamilie duldeten, waren davon überzeugt.194 Die Tatsache, dass sich die Zarin in die

191 Wolfgang Kruse: Die Entzauberung Louis Capets. Die symbolische Destruktion des Königtums in der Französischen Revolution, in: Peter Brandt/Arthur Schlegelmilch/Reinhard Wendt (Hg.): Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. »Verfassungskultur« als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, S. 137–157, hier S. 137. 192 Vgl. Kolonickij, »Tragicˇeskaja e˙rotika«, S. 242. 193 Vgl. ebd., S. 352ff. Ähnliche Vorgänge während der Französischen Revolution vgl. Kruse, Die Entzauberung, in: Brandt u. a. (Hg.), Symbolische Macht, S. 148ff. 194 Vgl. William C. Fuller : The Foe Within. Fantasies of Treason and the End of Imperial Russia, Ithaca/New York 2006, S. 7.

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Der »Erfahrungsraum« des Adels im Zarenreich

Regierungsgeschäfte einmischte und diese wesentlich beeinflusste, verstärkte die Abneigung gegen die »deutsche« Zarin.195 Im November 1916 fand die XII. Zusammenkunft der Adelsgesellschaften statt, um wegen der Regierungskrise zu beraten. Es ging um den »Progressiven Block«, der die oppositionellen Politiker der Duma vereinte. Zahlreiche Adelige sympathisierten seit dem Sommer 1915 mit seiner Politik, die nicht nach der Abschaffung der Monarchie, sondern nach ihrer Parlamentarisierung strebte.196 Nun wurde im November 1916 eine Resolution verabschiedet, die sich zwar für den Erhalt der Monarchie aussprach, jedoch eine »Regierung des Vertrauens« forderte. Dies konnte als klare Kritik an der Regierung und am Monarchen verstanden werden.197 Die Worte von Pavel N. Miljukov »Was ist das: Dummheit ˇ to e˙to: glupost’ ili izmena?«) wurde zum Leitspruch dieser oder Verrat?« (»C 198 Zeit. Stimmen wurden von Seiten der Adelsgesellschaften laut, die sich gegen die »unwürdige« Politik von Premierminister A.D. Protopopov aussprachen. Auch ihm wurde die enge Beziehung zu Rasputin zu Last gelegt. Diese vermeintliche Abhängigkeit wurde verurteilt und nicht wenige forderten seinen Rücktritt. Den vorläufigen Höhepunkt der innergesellschaftlichen Spannungen bildete die Ermordung Rasputins am 16. Dezember 1916 (alten Stils) durch Angehörige des Hochadels – Fürst Feliks F. Jusupov und Großfürst Dmitrij Pavlovicˇ – sowie weitere Beteiligte.199 Nachdem alle Zensurschranken nach der Februarrevolution 1917 gefallen waren, verstärkte sich noch die Publikations- und Gerüchteflut. Es wurden bereits Mitte März 1917 Theaterstücke und Filme mit zweideutigen Titeln wie »Rasputins Nachtorgien«, »Rasputins fröhliche Tage« oder »Das leichte Mädchen von Carskoe selo« mit großem Erfolg aufgeführt, auch wenn es kritische Stimmen gegen solche »Pornographie« gab.200 195 Vgl. Kolonickij, »Tragicˇeskaja e˙rotika«, S. 159, 369f. 196 Vgl. Richard Pipes: Die Russische Revolution, Band 1: Der Zerfall des Zarenreiches, Berlin 1992, S. 390; Michael F. Hamm: Liberal Politics in Wartime Russia. An Analysis of the Progressive Bloc, in: Slavic Review 33, 1974, S. 453–468; Thomas Riha: Miliukov and the Progressive Bloc in 1915. A Study in Last Chance Politics, in: Journal of Modern History 32, 1960, S. 16–24; Raymond Pearson: The Russian Moderates and the Crisis of Tsarism 1914– 1917, London 1977. 197 Vgl. A.P. Korelin: Ob’’edinennoe dvorjanstvo (1906–1917gg.), St. Petersburg 1999, S. 350. 198 Vgl. Thomas M. Bohn: »Dummheit oder Verrat?« – Gab Miljukov am 1. November 1916 das »Sturmsignal« zur Revolution?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41, 3/1991, S. 361–393. 199 Feliks Jusupov verfasste und veröffentlichte im Exil seine Erinnerungen, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, vgl. Erstveröffentlichungen: Prince F. Youssoupoff: La fin de Raspoutine, Paris 1927; ders.: Lost Splendour, London 1953; ders.: Avant l’exil 1887–1919, Paris 1952. Vgl. auch Elisabeth Heresch: Rasputin. Das Geheimnis seiner Macht, München 2005, v. a. S. 368ff.; Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna, S. 170f. 200 Vgl. Heresch, Rasputin, S. 364ff.

Das Revolutionsjahr 1917 und der russische Bürgerkrieg 1918–1921

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Das gestörte Vertrauensverhältnis zwischen Adel und Zar Nikolaj II. war das Ergebnis eines langen Prozesses, der hier nur skizziert werden konnte. Es ist jedoch zugleich ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Reaktionen des Adels auf die Ereignisse der Februarrevolution 1917, die im Folgenden gezeigt werden.

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Das Revolutionsjahr 1917 und der russische Bürgerkrieg 1918–1921

Das Revolutionsjahr 1917 hat die russische Gesellschaft von Grund auf umstrukturiert. Die adelige Lebenswelt war besonders stark betroffen. Das ganze Ausmaß der Veränderungen konnte aber erst in der Retrospektive erfasst werden. Hier sollen daher zunächst die Ereignisse zwischen dem Februar und Oktober 1917 mit besonderem Augenmerk auf den Adel analysiert werden. Denn in Bezug auf diese Zeit ist eine Vielfalt an Sichtweisen möglich, die sich aus der Vielschichtigkeit der Ereignisse selbst ergibt. Die Februarrevolution begann mit Frauendemonstrationen am 23. Februar (8. März neuen Stils), denen sich die Arbeiter der Putilov-Werke anschlossen. Dieser Anfang war noch ohne einheitliche Führung. Die schlechte Versorgung der Stadtbevölkerung und die Passivität der eingesetzten Truppen waren wichtige Rahmenbedingungen, dass die Unruhen, die Nikolaj II. befahl, mit allen Mitteln zu unterdrücken, am 27. Februar (12. März n.S.) in eine Meuterei der Petrograder Garnison und ihrem Anschluss an die demonstrierenden Arbeiter mündeten. Die Soldaten wollten keinen Krieg mehr und die Arbeiter verlangten mehr Brot; zusätzlich wurde die Lage verkompliziert, da die Bauern-Soldaten gleichzeitig ihre Interessen nach eigenem Land durchzusetzen gedachten. Wer ergriff in dieser Situation die Initiative? Bereits am 27. Februar wurde ein »Provisorisches Dumakomitee« aus Vertretern der Parteien des Progressiven Blocks, der Men’sˇeviki und der Trudoviki gebildet. Gleichzeitig wurde unter ˇ cheidze ein »Provisorisches Exekutivkomitee des Führung von Kerenskij und C Arbeiterdeputierenrates« gebildet, das einige Tage später im »Sovet der Arbeiter- und Soldatendeputierten« mündete. Somit begann die Zeit der sogenannten Doppelherrschaft dieser zwei konkurrierenden Vertretungen. Das Dumakomitee und das Exekutivkomitee versuchten beide, politischen und militärischen Einfluss zu gewinnen, um die Neuordnung in die Hand zu nehmen. Durch den vom »Sovet der Arbeiter- und Soldatendeputierten« erlassenen Befehl Nr. 1 am 1. März (14. März n.S.) stellte man sicher, dass die Armee ein Machtinstrument des Sovets blieb. Am 2. März (15. März n.S.) trat die mittlerweile gebildete Provisorische Regierung ihr Amt an, am selben Tag un-

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terzeichnete Nikolaj II. seine Abdankungsurkunde zugunsten seines Bruders Großfürst Michail Aleksandrovicˇ ; einen Tag darauf verzichtete dieser auf den Thron. Noch im Januar 1917 beteuerten Adelige bei den Versammlungen der Adelsgesellschaften die Treue zur Monarchie, waren aber nach der Abdankung des Zaren recht schnell bereit, mit der Provisorischen Regierung zusammenzuarbeiten. Die Mehrheit des Adels war verunsichert und überrascht über die Schnelligkeit der revolutionären Vorgänge; auch Angst vor dem Bedeutungsverlust im neuen politischen Gefüge wurde thematisiert.201 Die Würfel waren noch nicht gefallen: der Adel hatte seinen Einfluss und seine Bedeutung nicht vollends eingebüßt. Dennoch gab es genügend beunruhigende Entwicklungen: Die »öffentliche Meinung« radikalisierte sich zunehmend, Adelige verloren schrittweise ihren bisherigen Einfluss in lokalen Angelegenheiten, und die Landbesitzer meldeten wachsende bäuerliche Unruhen, zudem wurde die Autorität der Offiziere untergraben.202 Dennoch oder gerade wegen der zunehmenden sozialen und politischen Konflikte ergaben sich auch neue Chancen für die Eliten, wenn sie ihre politische Erfahrung, ihren Wohlstand und ihre Bildung in das politische Leben einbringen konnten.203 Die aktive Verteidigung des alten Regimes kam für viele nicht in Frage: »[…] the level of discontent with the regime was such that few were prepared to defend it. The continued reign of Nicholas was no longer seen as in the best interest of Russia or elites. The revolution provided an opportunity for political change and elites needed to engage with it if they were to influence events. In taking this step, elites played a crucial role in ensuring that Nicholas was quickly removed.«204

Ein Teil der alten Eliten sah in der Revolution ein notwendiges Übel, um das bestehende System zu erneuern. Sie akzeptierten die neue Regierung, denn eine Rückkehr zum alten Regime war wenig wahrscheinlich bzw. wurde nicht gewünscht. Es galt daher, die Kontrolle über die Ereignisse zu gewinnen und nicht etwa, eine Kehrtwende zu erzwingen.205 Matthew Rendle argumentiert, dass es nicht Angst oder Resignation waren, die zu einer stillen Akzeptanz der neuen Situation nach der Februarrevolution führten, sondern die Einsicht und Hoffnung, dass der Adel auf seine zukünftige Stellung in der russischen Gesellschaft

201 Vgl. Rendle, Defenders, S. 156. 202 Vgl. E.N. Burdzhalov : Russia’s Second Revolution. The February 1917 Uprising in Petrograd, Bloomington 1987, S. 245–258; A. Wildman: The End of the Russian Imperial Army, 2 Bd., Princeton 1980, 1987, hier Bd. 1, S. 181f. 203 Vgl. Rendle, Defenders, S. 157. 204 Ebd., S. 32. 205 Vgl. ebd., S. 3.

Das Revolutionsjahr 1917 und der russische Bürgerkrieg 1918–1921

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Einfluss nehmen konnte: »Elites did not simply accept the revolution, however, but also tried to engage with it over the following months.«206 Der Adel war zu Kompromissen bereit, aber wie reagierten die neuen Machthaber darauf ? Zunächst wurden nur einige Privilegien des Adels eingeschränkt, ohne den sozialen Stand als solchen abzuschaffen, was erst nach der Oktoberrevolution geschah. Bedeutender war das Schüren der sozialen Konflikte. Die Hetze gegen die ehemals Privilegierten, die »burzˇui« (aus dem Franz. »bourgeois«), gegen Offiziere und Landbesitzer, nahm zu. Ein Kompromiss zwischen den gesellschaftlichen Schichten wurde immer unwahrscheinlicher, da die Vorstellungen hinsichtlich der zukünftigen Politik zu unterschiedlich waren. Das zeigte sich auch im Scheitern des »Kornilov-Aufstandes« Ende August 1917, der einen »politischen Scherbenhaufen« hinterließ.207 Nur wenige Wochen später erfolgte die nächste Umwälzung: die Oktoberrevolution 1917, mit der das Ende des Adels in Russland eingeleitet werden sollte. Nach der Oktoberrevolution 1917 und der Machtübernahme der Bol’sˇeviki wurde eine Reihe zentraler Dekrete verabschiedet. Das »Dekret über das Land« schuf das private Landeigentum ab, weitere Dekrete im Oktober und November galten der Verstaatlichung der Fabriken, der Nationalisierung der Banken, der Abschaffung der Ränge beim Militär sowie aller Titel und Privilegien im Zivilleben. Die ehemals Privilegierten wurden zu »byvsˇie ljudi« (»Ehemalige«, wörtlich: »gewesene Menschen«) degradiert.208 Sie wurden als überflüssig und schädlich angesehen, da sie konträr zum »Neuen Menschen« standen.209 Dabei ist der Begriff der »byvsˇie« nicht nur ein negativer Propagandabegriff, er bezeichnete vielmehr einen sozialen Status. Von 1918 bis 1936 wurden die staatlichen Leistungen der Sowjetunion an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse geknüpft.210 Der Adel gehörte zur »Ausbeuterklasse« (e˙kspluatatorskij klass), die in den Zuwendungen des Staates diskriminiert wurde. »Sozial fremden Elementen« und »Ehemaligen« wurde 1918 das Wahlrecht entzogen und damit die Kategorie 206 Ebd., S. 51. 207 Vgl. Helmut Altrichter : Rußland 1917. Das Jahr der Revolutionen, Zürich 1997, S. 208, Rendle, Defenders, S. 165; vgl. zu den Hintergründen des »Kornilov-Aufstandes« Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 98ff. 208 Vgl. Rendle, Defenders, S. 201. Zu »byvsˇie ljudi« vgl. T. Smirnova: »Byvsˇie ljudi« Sovetskoj Rossii: Strategii vyzˇivanija i puti integracii. 1917–1936 gody, Moskau 2003. 209 Vgl. zur Konzeption des »Neuen Menschen«: Manfred Hildermeier : Revolution und Kultur. Der »Neue Mensch« in der frühen Sowjetunion, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs, 1996, S. 51–68; Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.): Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005. 210 Vgl. Sheila Fitzpatrick: Ascribing Class. The Construction of Social Identity in Soviet Russia, in: dies. (Hg.): Stalinism. New Directions, London u. a. 2000, S. 20–46, v. a. S. 23f.; vgl. auch Matthew Rendle: The Problems of »Becoming Soviet«: Former Nobles in Soviet Society, 1917–1941, in: European History Quaterly 38, 1/2008, S. 7–33.

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der »lisˇency« (von russ. lisˇit’: wegnehmen, entziehen) geschaffen. Zu dieser stigmatisierenden Kategorie zu gehören, war mit weitreichenden Nachteilen verbunden: Neben dem Entzug des Wahlrechts wurde der Zugang zu Arbeit und Wohnraum, Gesundheitsfürsorge und höherer Bildung massiv eingeschränkt.211 Im Alltag war die Stigmatisierung allgegenwärtig; hinzu kamen die materiellen Schwierigkeiten: »Everyday life became harder after nobles were disenfranchised in July 1918, with access to fewer rations and problems obtaining flats and jobs.«212 Die Bezeichnungen »Ehemalige« oder »burzˇui« versahen die Autoren in ihren Erinnerungstexten meist mit Anführungszeichen und signalisierten damit eine klare Distanz zu diesen Begriffen.213 In den 1920er und 1930er Jahren bezeichneten diese Begriffe alle vor der Revolution wohlhabenden Schichten, den Adel inbegriffen. In den zeitgenössischen Publikationen wurde noch spezifiziert: »ehemaliger Pfaffe« (byvsˇij pop), »ehemaliger Landbesitzer« (byvsˇij pomesˇcˇik) etc. Dagegen war die Bezeichnung »Adelige/r« (dvorjanka, dvorjanin) für diejenigen verwendet worden, die vor der Revolution nicht gearbeitet oder eine Rente bezogen hatten, ebenfalls die Abgänger von elitären Bildungseinrichtungen und Verwandte von höheren Beamten. Die Bezeichnung »Aristokrat« (aristokrat) wurde für alle verwendet, die einen nichtsowjetischen Lebensstil hatten. Dagegen wurde der frühere Hochadel und diejenigen, die mit ihm verkehrten, oft in der Mehrzahl »Fürsten«, »Grafen« und »Barone« (knjaz’ja, grafy, barony) genannt.214 Es wurde offensichtlich, dass der Adel nicht in den Aufbau des neuen Staates passte und dabei auch nicht erwünscht war ; in den Augen der Revolutionäre und des »Volkes« war die Zeit seiner Herrschaft abgelaufen. Mit der Oktoberrevolution verloren alle Gruppen des russischen Adels die Möglichkeit, Einfluss auf die Gestaltung der neuen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu nehmen. Ihnen blieb nur noch die Entscheidung zu emigrieren, sich den neuen Verhältnissen in der Heimat anzupassen oder aber aktiv im nun beginnenden Bürgerkrieg gegen die Bol’sˇeviki zu kämpfen. Der Bürgerkrieg spaltete das Land in einem bis dahin nicht bekannten Ausmaß in Freunde und Feinde der Bol’sˇeviki. Die drei Jahre währende Auseinandersetzung zwischen den »Roten« und den »Weißen« wurde mit Verbissenheit und Härte auf beiden Seiten geführt. Beinahe jeder Winkel des Landes war betroffen und in einigen Gebieten, wie in Zentralasien, dauerte die Konfronta-

211 Vgl. Dietmar Neutatz: Träume und Albträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München 2013, S. 174f.; Rendle, Defenders, S. 202. 212 Rendle, Defenders, S. 215. 213 Vgl. z. B. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 274. ˇ ujkina, Dvorjanskaja pamjat’, S. 42f. 214 Vgl. C

Das Revolutionsjahr 1917 und der russische Bürgerkrieg 1918–1921

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tion noch bis in das Jahr 1923 hinein.215 Im Verlauf des Bürgerkrieges spitzte sich die Situation für Adelige besorgniserregend zu.216 Viele erkannten, dass ihre ursprüngliche Rolle sich radikal veränderte und Entscheidungen bezüglich der Zukunft getroffen werden mussten. Die anschließenden Reaktionen auf den Zusammenbruch der Ordnung im Zuge des Bürgerkrieges waren höchst unterschiedlich; sie können vereinfacht in vier wesentliche Kategorien unterteilt werden: Flucht bzw. Emigration, Widerstand (z. B. in der Weißen Bewegung), Loyalität zum neuen Regime und Apathie bzw. »innere Emigration«.217 Die Entscheidung, passiv oder aktiv getroffen, war von vielen Faktoren abhängig, u. a. von finanziellen Ressourcen, vom Standort und sozialen Status, ferner vom Alter und familiären Bindungen im In- und Ausland und nicht zuletzt vom individuellen Charakter. Ein Teil der Eliten floh an den Rand des Russischen Reiches, z. B. in den Süden Russlands, wo die Macht der Bol’sˇeviki noch nicht etabliert war. Andere verblieben trotz der Gefahr weiterhin auf ihren Gütern oder in den Städten. Als eine vorübergehende Lösung war die Emigration sicher für fast alle adeligen Familien im Gespräch. Denn das alltägliche Leben war zunehmend schwieriger zu gestalten. Die Beschlagnahme des Immobilienbesitzes und die Sperrung der Bankkonten sowie -schließfächer betrafen auch und insbesondere Adelige. Sie mussten Zwangsräumungen erdulden oder ihren Wohnraum mit anderen Mitbewohnern teilen, im Russischen »uplotnenie« (Verdichten) genannt. Das Wohnhaus musste ein gewähltes Hauskomitee haben, welches das Alltagsleben der Bewohner kontrollierte und bestimmte. Nicht selten mussten die alten Besitzer darum kämpfen, überhaupt im eigenen Haus bleiben zu können.218 Eine erfolgreiche Strategie war die Teilung der Wohnfläche mit Freunden und Verwandten. Damit schufen sie sich ein sicheres Umfeld und konnten ihre Res-

215 Vgl. allgemein zum Bürgerkrieg: Evan Mawdsley : The Russian Civil War, London u. a. 1987; Orlando Figes: Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution, 1917–1921, Oxford 1989; Nikolaus Katzer : Die weiße Bewegung in Russland. Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Bürgerkrieg, Köln u. a. 1999. 216 Vgl. Dahlmann, Krieg, Bürgerkrieg, Gewalt, in: Dülffer/Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden, S. 91–100. 217 Vgl. Albert O. Hirschman: Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations and States, Cambridge 1970; Guy Bajoit: Exit, voice, loyalty… and apathy : Les r8actions individuelles au m8contentement, in: Revue franÅaise de sociologie 29, 2/1988, S. 325–345. 218 Vgl. beispielhaft zu den Konfliktlinien in Petrograd/Leningrad Julia Obertreis: Wohnen im Leningrad der zwanziger Jahre aus kultur- und alltagsgeschichtlicher Sicht: Der Machtkampf zwischen Haupt- und Untermietern, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.): Kultur in der Geschichte Russlands: Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten, Göttingen 2007, S. 247– 264.

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Der »Erfahrungsraum« des Adels im Zarenreich

sourcen zusammenlegen. Auf diese Weise entstanden »Kolonien« ehemaliger Adeliger, die erfolgreicher überleben konnten als Einzelne.219 Zu den Schwierigkeiten des Alltags wie Diskriminierung bei der Zuteilung von Essensrationen sowie bei der Wohnungs- und Arbeitssuche kam der psychische Druck, sprich das Gefühl der Bedrohung des eigenen Lebens hinzu. Vor allem Familien mit einem bekannten Namen mussten die Erfahrung machen, dass ihr Leben und das ihrer Angehörigen einer ständigen Gefährdung ausgesetzt waren. Sie wurden nach der Oktoberrevolution stigmatisiert, diskriminiert, bedroht und auch ermordet, wie es am Beispiel der weit verzweigten Familie Obolenskij ersichtlich wird. Zahlreiche Mitglieder dieses alten Fürstengeschlechts kamen gewaltsam ums Leben, so z. B. Fürst Vladimir Dmitrievicˇ (ermordet Anfang 1918 auf seinem Gut im Gouvernement Rjazan’), sein älterer Bruder Fürst Aleksandr Dmitrievicˇ (erschossen im August 1918 in der Peterund Pauls-Festung in Petrograd), Fürst Michail Vladimirovicˇ (ermordet im Februar 1918 auf einem Bahnhof), Fürstin Elena Konstantinovna (verbrannt in ihrem Haus im Gouvernement Mogilev) oder die Brüder Fürst Michail und Fürst Nikolaj Fedorovicˇ (gestorben im Gefängnis, wahrscheinlich im Verlauf des Jahres 1918). Zahlreiche Mitglieder der Obolenskij-Familie, die nicht ausgereist waren, sind während der Repressionen der Stalinzeit in den Gefängnissen und Lagern umgekommen.220 Wobei Rendle darauf hinweist, dass die Bol’sˇeviki eine systematische »Ausrottung« der Adeligen nicht vorsahen, aber die Existenz dieser sozialen Gruppe mit allen Mitteln zu verhindern suchten.221 Die Entscheidung für die Emigration fiel den meisten Adeligen dennoch nicht leicht. Viele zögerten, da sie glaubten, die Ereignisse blieben auf die großen Städte begrenzt. Die Risiken, die Möglichkeit des Scheiterns, aber auch die Vorteile wurden immer wieder gegeneinander abgewogen. Einige stellten schnell fest, dass sie nicht emigrieren konnten, sei es aus finanziellen oder familiären Gründen.222 Es gab einige, die erst im Verlauf der 1920er Jahre ins Ausland emigrierten. Diese versuchten durchaus, sich zunächst den neuen Verhältnissen anzupassen, erkannten aber, dass sie keine Entfaltungsmöglichkeiten haben würden. Je später die Flucht ergriffen wurde, umso mehr Erfahrungen sammelten sie mit dem bol’sˇevikischen Russland und umso klarer war den Betroffenen, dass die Emigration von dauerhafter Natur sein würde.

219 Vgl. Rendle, Defenders, S. 212; ders.: Family, Kinship and Revolution: The Russian Nobility, 1917–1924, in: Family and Community History 8, 2005, S. 35–47. 220 Vgl. V.P. Stark (Hg.): Dvorjanskaja sem’ja: iz istorii dvorjanskich familij Rossii, St. Petersburg 2000, S. 153f. 221 Vgl. Rendle, The Problems of »Becoming Soviet«, S. 7–33. 222 Vgl. Rendle, Family, Kinship and Revolution, S. 35–47.

III.

Adelige Erinnerung und Identität im Exil

1

Adeliges Leben im Exil zwischen Heimkehrhoffnungen und Assimilation

Der Begriff des Exils stammt vom lateinischen exilium und bedeutete ursprünglich »Verbannung, Verbannungsort« oder »Zufluchtsstätte«. Die Exilforschung versteht darunter den Zustand des »Im-Exil-Seins« sowohl des Einzelnen, als auch der Gesamtheit aller emigrierten Personen. »Emigration« bezeichnet dagegen den Vorgang der Flucht beziehungsweise Auswanderung aus der bisherigen Umgebung in eine andere. Je nach Bedingungen der Fluchtbewegungen können die Gründe für eine Emigration differieren, dennoch lässt sich eine Definition ausmachen, die auch für russische Adelige Gültigkeit hat: »Offizielle Ausweisung, politische oder kulturpolitische Beweggründe […] oder andere durch die Umstände bedingte und als starker persönlicher Druck empfundene Zwänge, aber auch subjektive Faktoren wie das anhaltende Bewusstsein der ungewollten Ausgrenzung.«223 Ein weiteres Merkmal der Emigration, im Unterschied zu anderen Migrationsformen, ist der Wille der Betroffenen, möglichst schnell in ihre Heimat zurückzukehren. Diese klare Abgrenzung verliert an Schärfe, je mehr sich die Emigranten in den Aufnahmeländern assimilieren und sich an die Gegebenheiten anpassen.224 Die russische Diaspora war über die ganze Welt verteilt und hat nur wenige Länder ausgespart. Sowohl Süd-, Ost-, Mittel- und Nordeuropa, als auch Ame223 Eva Behring u. a.: Ostmitteleuropäisches Literaturexil 1945–1989. Historische Situierung, Definition, Begriffsgebrauch, in: dies. (Hg.): Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945–1989, Stuttgart 2004, S. 15–64, hier S. 22. 224 Vgl. Lutz Häfner : »Tritt diese Absicht [die Rückkehr in die Heimat, J.H.] zugunsten einer sukzessiven, soziokulturellen Adaption und Assimilation […] in den Hintergrund, wird aus der Emigration eine Immigration.«, vgl. ders.: Emigration, in: Thomas Bohn/Dietmar Neutatz (Hg.): Studienhandbuch östliches Europa, Bd. 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion, 2. Aufl., Köln u. a. 2009, S. 204–210, hier S. 207.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

rika und Asien nahmen unterschiedlich große Gruppen von russischen Emigranten auf. Es bildeten sich einige große Zentren russischer Emigranten, z. B. in Berlin,225 Paris226 oder New York,227 die ihre Blüte und auch ihren Niedergang erlebten. Die russische Gemeinschaft im Exil wird in der Literatur als »Russia abroad«228 oder »Russland jenseits der Grenzen«229 (Zarubezˇnaja Rossija, Russkoe Zarubezˇ’e) bezeichnet und als ein Land von Exilierten ohne eigenes Territorium verstanden. Es wird betont, dass die politischen, sozialen und intellektuellen Eliten des zarischen Russlands überrepräsentiert waren.230 Dennoch wird von Marc Raeff die Vorstellung einer Exil-Gesellschaft mit all ihren sozialen Gruppen hier übernommen. Denn alle grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen (Schulen, Kirchen, Universitäten sowie Verlagshäuser), die auch das Leben innerhalb Russlands gekennzeichnet hatten, waren vorhanden gewesen.231 Darüber hinaus vereinte die Exilanten ihr Streben nach Fortführung eines bedeutungsvollen russischen Lebens in der Fremde. Trotz dieses allgemeinen Ziels und der einigenden Gegnerschaft zu Sowjetrussland war die russische Exil-Gesellschaft – wohlgemerkt in den jeweiligen Ländern – wohl nur eine oberflächliche Einheit.232 Um den verschiedenen sozialen Milieus und Kulturen gerecht zu werden, bedarf es jedoch weiterer Forschung. Zahlreiche Adelige, aber auch andere soziale Gruppen, glaubten am Anfang ihres Exils, dass es sich nur um einen zeitlich begrenzten Zustand handeln würde. Sie verließen ihre Heimat meist wider Willen, in der festen Überzeugung, dass die Bol’sˇeviki bald stürzen würden. Eine Rückkehr galt zunächst als 225 Vgl. Karl Schlögel: Berlin: »Stiefmutter unter den russischen Städten«, in: ders. (Hg.), Der große Exodus, S. 234–259; Dittmar Dahlmann: Eine eigene Welt in der Fremde. Die russische Emigration in Berlin 1917–1923, in: ders. (Hg.): Unfreiwilliger Aufbruch. Migration und Revolution von der Französischen Revolution bis zum Prager Frühling, Essen 2007, S. 63–79. 226 Vgl. Robert Harold Johnston: Paris: Die Hauptstadt der russischen Diaspora, in: Schlögel (Hg.), Der große Exodus, S. 260–278. 227 Vgl. Thomas R. Beyer Jr.: New York: Russen in der Neuen Welt, in: Schlögel (Hg.), Der große Exodus, S. 346–372. 228 Vgl. Raeff, Russia Abroad. 229 Die deutsche Begrifflichkeit »Russland jenseits der Grenzen« wurde übernommen von Hans von Rimscha: Russland jenseits der Grenzen 1921–1926. Ein Beitrag zur russischen Nachkriegsgeschichte, Jena 1927. Vgl. auch Karl Schlögel: Russland jenseits der Grenzen. Zum Verhältnis von russischem Exil, alter und neuer Heimat, in: Claus-Dieter Krohn (Hg.): Exil im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 14–36. 230 Vgl. Raeff, Russia Abroad, S. 5, 11. 231 Vgl. Marc Raeff: Recent Perspectives on the History of the Russian Emigration (1920–1940), in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 6, 2/2005, S. 319–334. 232 Vgl. Karl Schlögel: Russische Emigration in Deutschland 1918–1941. Fragen und Thesen, in: ders. (Hg.): Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995, S. 11–16, S. 13.

Adeliges Leben im Exil zwischen Heimkehrhoffnungen und Assimilation

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selbstverständlich. Mit einem Daueraufenthalt im Ausland rechneten sie nicht und verstanden sich selbst eher als Flüchtlinge. Diese Hoffnung gaben sie lange nicht auf und lebten noch viele Jahre im Exil nach einer gewissen »KofferPhilosophie«.233 Dabei hatten Adelige zahlreiche Vorteile gegenüber anderen Gruppen. Ein Vorteil lag in ihrer europäischen Vernetzung. Sie pflegten in der Regel familiär oder freundschaftlich begründete Verbindungen zu Angehörigen ihres Standes im europäischen Ausland, die ihnen im Exil nützlich und hilfreich sein konnten. Nicht wenige besuchten in Westeuropa ein Gymnasium wie zum Beispiel Lidija Vasil’cˇikova, oder eine Universität wie Sergej Obolenskij. Auch Immobilienbesitz und Bankkonten im Ausland halfen in der ersten Zeit im Exil. Daher war für sie das Ausland weniger abstrakt, denn das Leben in den meisten europäischen Ländern war ihnen dank ihrer beruflichen und privaten Reisen, etwa zur Kur, meist gut bekannt. Etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in Südfrankreich bereits eine »russische Kolonie«. Zahlreiche Adelige verbrachten die Wintersaison an der Mittelmeerküste wegen des milden Klimas. In Paris234 und an der Cite d’Azur235 fand daher eine konzentrierte Niederlassung von wohlhabenden und adeligen Emigranten statt.236 Allerdings war Frankreich nicht mehr ein Ort der Erholung, sondern des Exils, was einen völlig anderen Rahmen vorgab und die Wahrnehmungen gänzlich veränderte: »Souvent, ob8issant / mon seul caprice, j’avais quitt8 avec insouciante le sol natal. Cette fois, le coeur serr8, je regardais la terre russe s’estomper / l’horizon; que sais-je? Je m’en allais pour toujours peut-Þtre, et la vieille Europe me parut brusquement hostile, 8trangHre, maintenant que je n’avais plus de patrie.«237

Zu den sozialen Hintergründen gibt es insgesamt wenig Forschungsergebnisse,238 aber eine vergleichende Studie zu den Exilanten in Jugoslawien in den 233 Vgl. Karl Schlögel: Sankt Petersburg am Wittenbergplatz. Eine Hauptstadt im Jahrhundert der Flüchtlinge, in: ders.: Berlin – Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998, S. 78–110, hier S. 106. 234 Vgl. H. Menegaldo: Les Russes / Paris, 1919–1939, Paris 1988; Johnston, New Mecca; Gousseff, Immigr8s Russes en France; Catherine Klein-Gousseff: L’exil russe. La fabrique du r8fugi8 apatride (1920–1939), Paris 2008. 235 Vgl. L.R. Ellis: Les Russes sur la Cite d’Azur. La Colonie russe dans les Alpes-Maritimes: des origines / 1939, Nice 1988; Paul Augier : Quand les grands-ducs valsaient / Nice, Paris 1981; Alexandre de la Cerda: La tourn8e des Grands-Ducs. Les Russes sur la Cite atlantique, Biarritz 1999; Ellis LeRoy : La colonie russe dans les Alpes-Maritimes des origines / 1939, Nizza 1988. 236 Vgl. Kira Kaurinkoski: Les communaut8s russe et italienne de l’entre-deux-guerres / Nice: similarit8s et diff8rences, in: Cahiers de la M8diterran8e 58, 1999, S. 133–155, hier S. 135. 237 Galitzine, R8miniscences, S. 231f. 238 Vgl. die detaillierte und sehr lesenswerte Studie zu osteuropäischen Einwanderern in Paris, die auch Exilanten nach der Revolution 1917 berücksichtigt, von Michael G. Esch: Parallele

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1920er Jahren zeigt, dass die Mehrheit gut ausgebildet, orthodox, mehrsprachig und oft mit militärischem Hintergrund war.239 Es lässt sich feststellen, dass jedes größere Zentrum der russischen Diaspora seine eigenen Charakteristika aufwies. Zum Beispiel war China für Ingenieure und andere technische Berufsgruppen attraktiv, dagegen weniger für Kulturschaffende und ehemalige Eliten. Italien und Frankreich, wie bereits oben erwähnt, zogen überwiegend adelige Familien, aber auch Schriftsteller und frühere oppositionelle Politiker an. Sie kannten diese Länder bereits vor der Revolution und konnten auf ihre Netzwerke zurückgreifen.240 Die besten Bedingungen Anfang der 1920er Jahre boten die Tschechoslowakei und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen an. In der Tschechoslowakei wurde finanzielle Unterstützung großzügiger gewährt und auch die Aufnahme gestaltete sich freundlicher : Die Exilanten hatten die Möglichkeit zu studieren, allerdings waren auch hier die Berufsaussichten schlecht und sie konnten sich auf legalem Weg nicht selbstständig machen.241 In den Aufnahmeländern fand vielfältige Interaktion zwischen den russischen Exilanten und ihrem gesellschaftlichen Umfeld statt. Sie waren einem unterschiedlich starken, aber permanenten Druck zur Assimilation ausgesetzt. Die anfängliche Hoffnung auf eine baldige Heimkehr wurde mit zunehmender Dauer des Exils von Anpassung und schließlich Assimilation abgelöst. Der Orientierungsprozess nach der eigenen Zugehörigkeit zu einer Gruppe war nicht statisch, sondern dynamisch. Im Verlauf seines Lebens in der Fremde konnte ein Protagonist durchaus verschiedene Stadien durchlaufen. Die Zeit der 1920er Jahre war für die meisten adeligen Emigranten von der Hoffnung geprägt, doch noch in die Heimat zurückkehren zu können. Sie lebten gewissermaßen »zwischen den Welten«. Die Anpassung an das Gastland war nur so weit fortgeschritten wie unbedingt notwendig. Die Kinder wurden in die russische Schule geschickt, die Einkäufe möglichst in russischen Läden erledigt. Das gesellschaftliche Leben wie Bälle, Kirchenfeiern und Freizeitangebote spielte sich in russischen Kreisen ab. Diese Zeit war geprägt von einem Spannungsverhältnis zwischen gestern und morgen. Oft schöpften die Exilanten das eigene Selbstverständnis und die Identität aus der Vergangenheit, aber die meisten Gesellschaften und soziale Räume. Osteuropäische Einwanderer in Paris 1880–1940, Frankfurt/M./New York 2012, hier insb. S. 411ff. 239 Vgl. Kapitel »Social’nyj portret rossijskogo zarubezˇ’ja 20-ch godov (po materialam massovogo obsledovanija rossijskich e˙migrantov v Jugoslavii«, in: E.I. Pivovar (Hg.): Rossija v izgnanii. Sud’by rossijskich e˙migrantov za rubezˇom, Moskau 1999, S. 320–348. 240 Vgl. Claudia Scandura: Rom: Russische Emigration in Italien, in: Schlögel (Hg.), Der große Exodus, S. 279–303, hier S. 282; Johnston, Paris: Die Hauptstadt der russischen Diaspora, in: Schlögel (Hg.), Der große Exodus, S. 260–278. Vgl. auch die Aufsatzsammlung: Charlotte Krauss/Tatiana Victoroff (Hg.): Figures de l’8migr8 russe en France au XIXe et XXe siHcle. Fiction et r8alit8, Amsterdam u. a. 2012. 241 Vgl. Chinyaeva, Russians Outside Russia, S. 64f., 94f.

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erkannten auch die Notwendigkeit, sich nach der Zukunft auszurichten. Dennoch gestalteten die meisten den privaten Bereich »auf russische Art und Weise« und blieben trotz fortschreitender Integration bestimmten Traditionen und Lebensweisen treu. Folglich fanden sich immer mehr Adelige mit den Tatsachen ab und richteten sich dauerhaft im neuen Land ein. Einige bemühten sich um die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes und integrierten auch ihre Kinder in die Gastgesellschaften. Diese Gruppe lässt sich als »Progressive« bezeichnen. Zum Beispiel bekam Sergej Obolenskij im Jahre 1931 die amerikanische Staatsbürgerschaft und berichtete sichtlich stolz in seiner Autobiographie davon: »I was granted one of the world’s greatest gifts, American citizenship. […] I was honoured and overjoyed at being accepted by America, a generous and understanding, friendly land – my new home on earth.«242

Ein weiteres Beispiel war Nadezˇda Vonljarljarskaja, welche die englische Staatsbürgerschaft beantragte.243 Gerade die jüngeren unter den Autoren fassten Fuß in neuen oder veränderten Berufen. Die russische adelige Vergangenheit war ihnen dabei meist sehr hilfreich, denn sie strahlte »glamour« aus.244 In diesem Fall konnte die Betonung der adeligen Wurzeln durchaus günstig sein – sie verhießen bessere Arbeits- und Karrierechancen. Vor allem ältere Emigranten taten sich mit dieser fortschreitenden Integration der Jüngeren schwer. Diese Gruppe der »Konservativen« betrachtete die Emigration als erzwungen und ihr Exildasein als unnatürlich. Dies beförderte das Selbstverständnis, ein »Russe« zu sein und erzeugte eine ablehnende Haltung gegenüber der Assimilation in das jeweilige Gastland. Diese Gruppe bezog sich auf das Russland vor der Revolution und leitete daraus ihr Selbstverständnis ab. Es bestand ein ausgeprägter Hang zu geistiger, kultureller und teilweise auch politischer Selbstisolation und der Wunsch nach Konservierung der russischen nationalen Identität. Die russische orthodoxe Kirche spielte dabei eine wichtige Rolle. Bei dieser Gruppe waren die Nostalgie, die Erinnerung an die »guten, alten Zeiten« und der Wunsch nach Rückkehr in die Heimat am stärksten. Das »auf den Koffern sitzen« zog sich nicht selten bis in die 1950er Jahre hin. Die Nostalgiker unter den Adeligen versuchten verstärkt, die Verbindung zur glorreichen Vergangenheit zu erhalten. Sie engagierten sich besonders stark für die jeweilige russische Gemeinde, z. B. für die Waisenhäuser, Ferienorte, Kirchen, Vereine, bei der Organisation von Wohltätigkeitsveranstaltungen oder als Autoren für Zeitungen und Zeitschriften. Gerade für sie war das gesellschaftliche 242 Obolensky, One Man in His Time, S. 266. 243 Vgl. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 205. 244 Vgl. Obolensky, One Man in His Time, S. 323.

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Leben nicht nur Zeitvertreib.245 Es diente der Traditionspflege, wie z. B. die Soir8es und Vorlesungen zu berühmten Persönlichkeiten der russischen Geschichte und Literatur. Mit den Geldern aus Wohltätigkeitsveranstaltungen wurden weniger Wohlhabende unterstützt. Eine Vertreterin dieser Gruppe war Marija Basˇmakova, die seit 1924 in Paris lebte. Sie und ihr Mann waren sprachlich und beruflich in Frankreich gut etabliert, blieben aber in der Freizeit und bei ihrem sozialen Engagement weitestgehend im Kreise der adeligen Exilanten.246 In dieser Gruppe waren verstärkt Versuche zu verzeichnen, das »wahre« Russland zu konservieren, etwa durch Förderung der russischen Kultur, Religion und Sprache. Die Nostalgiker lebten weiterhin im Wartestand, quasi auf Abruf. Denn wenn die Sowjetunion untergehen sollte, musste der Adel bereitstehen, dem Heimatland erneut zu dienen. Da jedoch mit der Zeit deutlich wurde, dass die Sowjetunion einen längeren Atem hatte als anfänglich vermutet worden war, reagierten zahlreiche Exilanten mit Enttäuschung und Verbitterung. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien eine Rückkehr zu den alten Zeiten immer unwahrscheinlicher, so dass die Gruppe der Nostalgiker und hartnäckigen Nichtassimilierten immer kleiner wurde. Die beschriebenen Gruppen sind nicht immer klar voneinander abzugrenzen. Denn alle Autoren betrieben eine Reihe von Praktiken, die das Überleben des Adels als Erinnerungsgemeinschaft sicherten. Hierzu zählten zum Beispiel das Schreiben von Memoiren und familiengeschichtlichen Forschungen, eigenhändiges Zeichnen und Malen von Szenen aus dem adeligen Alltag, das Sammeln von »Erinnerungsstücken« wie Ahnenporträts, Bilder und Fotos ehemaliger Landgüter und »Adelsnester« sowie von Familienmitgliedern, die als Symbol des Familiengedächtnisses dienten. Im Alltag halfen diese Praktiken, die Vorstellungen vom Adel zu bewahren und sie auch an die Nachkommen zu vermitteln, wie es auch die Tochter von Aleksandr Davydov, Olga Davydoff Dax, beschrieb: »Wir lebten in Paris, in Auteuil, wo auch andere Emigranten lebten. […] Meine Eltern hatten zahlreiche russische Freunde und Bekannte. Mama spielte auf dem Klavier und sang russische Romanzen und Zigeunerlieder, zu Hause feierten wir immer traditionell Ostern, mit Pascha und Kulicˇ, und ich bemalte die Eier, indem ich meine Gouvernante nachahmte, die auf den Eiern Kirchen mit orthodoxen Türmen aufmalte. Die Großmutter bereitete russische Speisen vor.«247

245 Vgl. zu diesem Aspekt beispielhaft bei Esch, Parallele Gesellschaften und soziale Räume, S. 327ff. 246 Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 254. 247 Davydov, Vospominanija, S. 251f.

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Das Thema des adeligen Lebens im Exil ist noch nicht ausreichend untersucht worden, aber die ersten grundlegenden Studien, wie die von Marion Mienert, deuten auf ein Fortbestehen eines spezifisch adeligen Zusammengehörigkeitsbewusstseins hin.248 Es äußerte sich in einer Art »Korps-Effekt«, der aus einer gewissen Solidarität, gegenseitiger Anerkennung und verwandtschaftlicher Unterstützung sowie der Pflege von Kontakten bestand.249 Dadurch spielte gerade in der Emigration das »soziale, kulturelle und symbolische Kapital« (nach Pierre Bourdieu) eine große Rolle.250 Und diese Kapital-Arten nach Bourdieu boten dem Adel in zahlreichen Situationen bessere Verdienst- und Überlebensmöglichkeiten als anderen sozialen Gruppen im Exil. Nahezu alle Adeligen mussten innerhalb kurzer Zeit ihre Existenz auf eine neue Grundlage stellen. So unterschiedlich die Beweggründe des Einzelnen zur Flucht, die Umstände derselben und das persönliche Leid der Betroffenen auch waren und an dieser Stelle allenfalls auszugsweise vorgestellt werden können, so ähnlich waren doch die ersten Erfahrungen in den Aufnahmeländern und die Überlebensstrategien, die auf das »symbolische Kapital« gründeten. Diesbezüglich hatten die bekannten adeligen Familien aufgrund ihres Namens, der guten Allgemeinbildung und der Sprachenkenntnisse sowie des weiten Bekannten- und Verwandtenkreises die größte Aussicht auf Erfolg. Vor allem am Anfang des Exils konnten persönliche Verbindungen bei der Suche der Unterkunft, der Arbeitsvermittlung oder der Geldbeschaffung sehr nützlich sein. So steuerten die aus Russland geflüchteten Adeligen häufig in die Länder und Städte, wo sich bereits Verwandte niedergelassen hatten, die sie materiell auf Dauer oder zumindest für eine gewisse Zeit auffingen. Dadurch wurde das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt. Eine große Herausforderung bestand in der Notwendigkeit, beruflich Fuß zu fassen und gleichzeitig die »Adeligkeit« zu bewahren oder neu zu definieren. Denn der Verlust der alten Lebenswelt bewirkte auch einen Teilverlust des gewohnten Lebensstils. Richtig ist, dass der Adel die Exil- und Verlusterfahrungen mit anderen sozialen Gruppen teilte. Es gab aber eine Besonderheit – die der (gewollten) Abgrenzung von anderen Gruppen durch die adelige(n) Identi-

248 Vgl. Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna: ein Leben in Zarenreich und Emigration. Siehe auch Dahlmann, »Als eine Welt unterging.«, in: Hösler/Kessler (Hg.), Finis mundi, S. 61–78. 249 Vgl. de Saint Martin, Die Konstruktion der adeligen Identität, S. 530f. 250 Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheit, S. 183–198; ders.: La noblesse: capital social et capital symbolique, in: de Saint Martin/Lancien (Hg.), Anciennes et nouvelles aristocraties, S. 386– 397. Für die Anwendung der Kapitaltheorie Bourdieus am Beispiel des französischen Adels vgl. de Saint Martin, Der Adel. Soziologie eines Standes; dies., Vers une sociologie des aristocrates d8class8s, S. 785–801.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

tät(en).251 Welche Unterscheidungs- und Abgrenzungskriterien im Exil aufgestellt wurden, um den Adel von anderen Exilgruppen und dem meist bürgerlichen Umfeld in der Fremde abzugrenzen, kann zum Teil die Auswertung von Selbstzeugnissen wie z. B. Autobiographien beantworten. Ob diese Abgrenzung funktionierte, ist eine andere Fragestellung. Bemerkenswert ist dennoch, dass es in der frühen Sowjetunion ebenfalls Abgrenzungsmechanismen gab. Sof ’ja ˇ ujkina verweist in ihrer Studie zum Adel in der Sowjetunion darauf, dass C Kenntnisse der klassischen Literatur, der klassischen Tänze sowie das Beherrschen von Fremdsprachen wie Englisch und Französisch eine erfolgreiche Strategie darstellten, im Privaten einen Teil der »Adeligkeit« zu bewahren und an die Nachkommen weiter zu vermitteln.252 Dort galt allerdings eine Art »Konversationstabu«253 – die Adelsidentität wurde keinesfalls nach außen, in zahlreichen Fällen auch nicht familienintern kommuniziert und sichtbar gemacht. Im Exil war das Gegenteil der Fall: die russischen Adeligen bemühten sich regelrecht »Meister der Sichtbarkeit« (Heinz Reif)254 zu werden, wie z. B. Sergej Obolenskij. Eine zentrale Rolle und eine wichtige Ressource im Exil spielte dabei die Bildung und Kultiviertheit im Sinne von russischer »kul’turnost’«. Diese wurde sowohl in Russland, als auch im Exil einerseits durch die adelige Erziehung zu Hause vermittelt, andererseits durch die Wissensbildung in der Schule, an der Universität oder im Beruf erworben. Jeder Adelige erwarb im Laufe seiner Sozialisation im Zarenreich verschiedene Kenntnisse und Fertigkeiten. Die Hauserziehung deckte die Allgemeinbildung und gute Manieren (bon ton) ab. Einen wichtigen Stellenwert hatten die Fremdsprachen, Musik, Tanz und die Grundkenntnisse in klassischen Schulfächern. Darüber hinaus vermittelten die

251 Zur Identitätsbildung durch Abgrenzung vgl. A. Cohen: The Symbolic Construction of Community, New York 1985. ˇ ujkina: Rekonfiguracija socialnych praktik. Sem’ja pomestnych dvorjan v do- i 252 Vgl. Sof ’ja C poslerevolucionnoj Rossii (1870–1930), in: Sociologicˇeskie issledovanija 1, 2000, S. 81–92. Vgl. auch Daniel Bertaux: Les transmissions en situation extrÞme: familles expropri8es par la r8volution d’Octobre, in: Communications 59, d8cembre 1994, S. 73–100. 253 Über das »Konversationstabu« schreibt Yme Kuiper in seinem Artikel zum niederländischen Adel nach dem Zweiten Weltkrieg, vgl. ders.: Eine rein bürgerliche Nation? Adel und Politik in den Niederlanden im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jörn Leonhard/Christian Wieland (Hg.): What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century, Göttingen 2011, S. 201–217, hier S. 216f. Die Auswirkungen des »Konversationstabus« auf die adeligen Autobiographien in der Sowjetunion zeigt Franziska Thun-Hohenstein anhand von drei Beispielen auf, vgl. dies.: »Der Petrinische Ehrenspiegel lag zertrümmert…«. Autobiographie und Epochenbruch (Oleg Volkov, Kirill Golicyn, Evfrosinija Kersnovskaja), in: Aust/Schenk (Hg.), Imperial Subjects, S. 482– 505. 254 Zitiert nach Conze/Wienfort, Einleitung, in: dies. (Hg.), Adel und Moderne, S. 7.

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Eltern sowie die weitere Familie den Kindern bestimmte Werte und Traditionen, z. B. Religiosität und Ehrgefühl. Besondere Fachkenntnisse erhielten die Männer in Eliteeinrichtungen oder Universitäten, Frauen in Instituten für adelige Mädchen oder in speziellen Kursen.255 Praktische Erfahrung gewannen sie durch die Führung ihrer Landgüter, Engagement bei den Zemstva sowie Gründung von Schulen und Krankenhäusern und bewiesen dabei ein gutes Organisationstalent.256 Hinzu kam bei den meisten die Ausübung eines oder mehrerer Hobbys, die sehr unterschiedlicher Natur sein konnten und erst in der Emigration als eine wertvolle Ressource nützlich wurden. Singen und das Beherrschen eines Musikinstruments, das Verfassen von Romanen und Artikeln, Sticken und Nähen, Malen, Fachkenntnisse in Kunst und Antiquitäten – all diese Hobbys konnten in einen potentiellen Beruf umgewandelt werden. Im Bereich der Mode war z. B. die Großfürstin Marija Pavlovna sehr erfolgreich. Sie eröffnete das Stickerei-Atelier »Kitmir« in Paris im Jahre 1923 und zählte u. a. Coco Chanel zu ihren Kundinnen. Sie bot zahlreichen emigrierten Russen Arbeit – bis zu 50 Stickerinnen waren bei ihr beschäftigt – und damit ein eigenes Einkommen.257 Zahlreiche Adelige machten sich selbständig. Insbesondere die perfekte Beherrschung mehrerer Fremdsprachen bot eine Möglichkeit, Geld mit Übersetzungen, Journalismus oder Privatunterricht zu verdienen. Dadurch schufen sie auch für sich ein eigenes russisches Versorgungsnetzwerk und Arbeitsplätze für ihre Landsleute. Vor allem gelang ein Ein- und Aufstieg in der Modebranche, im Kunst- und Antiquariatshandel, in der Wissenschaft sowie in der Gastronomie, im Hotelwesen und im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit.258 Einen steilen Aufstieg in den beiden letzteren Bereichen schaffte Sergej Obolenskij mit Hilfe seiner Beziehungen in Europa, aber auch in den USA. Ihm gelang der Anschluss an die mondäne Welt der Filmstars, Politiker und Adeligen. Er setzte seine Herkunft und Beziehungen gekonnt ein, um nicht nur Geld zu verdienen, sondern auch gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten. Oft waren die ergriffenen Berufe verbunden mit der Vermittlung von Wissen, 255 Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 40f. 256 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 26. 257 Vgl. Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna: ein Leben in Zarenreich und Emigration, S. 11f., 187ff.; Gunna Wendt: Vom Zarenpalast zu Coco Chanel: Das Leben der Großfürstin Maria Pawlowna Romanowa, Berlin 2013, S. 142ff. Vgl. auch zu den russischen Modehäusern in Paris und anderen Emigrationszentren Aleksandr Vasil’ev : Krasota v izgnanii. Tvorcˇestvo russkich e˙migrantov pervoj volny : isskustvo i moda, 8. Aufl., Moskau 2008; Alexandre Vassiliev : Beauty in Exile: The Artists, Models, and Nobility Who Fled the Russian Revolution and Influenced the World of Fashion, New York 2000. ˇ ujkina, Dvorjanskaja pamjat’, S. 207. Andrej 258 Vgl. Klein-Gousseff, L’exil russe, S. 135ff.; C Korljakov : Russkaja e˙migracija v fotografijach. Francija, 1917–1947, Bd. 2: Na puti k uspechu, Paris 2005.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

Traditionen und Informationen. Zu beobachten ist, gerade in der Anfangsphase, eine intensive berufliche Mobilität, ein Wechsel der Arbeitsstellen oder gar ein radikaler Neuanfang der beruflichen Ausrichtung. Die Aneignung von neuen Berufen war oft Neuland für die vormals wohlhabenden Adeligen, die vor der Revolution keinen Beruf ausgeübt hatten. Dies galt aber auch für die Landbesitzer, die sich nun in Städten wiederfanden und sich zum Wechsel gezwungen sahen, und auch für Frauen, die vor der Revolution meist nicht beruflich tätig gewesen waren.259 Die berufliche Integration in die Aufnahmeländer war keine Geschichte des reinen Abstiegs und der »Deklassierung«, auch wenn der alte Lebensstil nie mehr aufgenommen werden konnte. Vielmehr zeigten zahlreiche Adelige eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit und einen hohen Mobilitätswillen zwischen verschiedenen Berufszweigen. Ein breiter Kenntnisstand und solides Wissen waren dabei von großem Vorteil, um sich erfolgreich in einem neuen Beruf spezialisieren zu können.

2

»Adeligkeit« in den Erinnerungstexten

Jessica Tovrov betont, dass die Grenze zwischen dem Adel und dem Nichtadel in Russland durchlässiger als in vielen anderen europäischen Ländern war und dass die adelige Abstammung nur ein Aspekt war, um zum Adel dazu zu gehören: »A man may have been born into a noble family, but he still had to earn his noble status personally through the appropriate behaviour.«260 Selbstverständlich war die noble Abstammung auch in Russland von großer Bedeutung. Dennoch spielten zusätzliche Aspekte ebenfalls eine große Rolle, so z. B. das einem Adeligen angemessene Auftreten oder – vor den Reformen von 1861 – der Besitz von Leibeigenen.261 Um beim Beispiel der Reformen von 1861 zu bleiben, griffen sie die Privilegien des Adels an und die Grenzen zum Nichtadel wurden noch durchlässiger. Solche Entwicklungen veränderten die Position und das Selbstverständnis des Adels und lösten die Suche nach »genuin adeligen« Dis-

ˇ ujkina: 259 Vgl. auch zur beruflichen Mobilität der Adeligen in der Sowjetunion Sof ’ja C Dvorjane na sovetskom rynke truda (Leningrad, 1917–1941), in: T. Vihavainen (Hg.): Normy i cennosti povsednevnoj zˇizni. Stanovlenie socialisticˇeskogo obraza zˇizni v Rossii, 1920–30e gody, St. Petersburg 2000, S. 151–192. 260 Tovrov, The Russian Noble Family, S. 3. 261 Vgl. ebd., S. 33: »Lacking a naturally noble essence, the Russian nobleman was necessarily aware that there was no impenetrable barrier between himself and the lower orders. Wanting to maintain his privileged position, which meant denying it to others, he was eager to erect as many ›non-natural‹, functional distinctions between nobles and non-nobles as possible.«

»Adeligkeit« in den Erinnerungstexten

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tinktionsmerkmalen aus. Diese konnten adelige Erziehung und Bildung sowie das Verständnis vom »Dienst für Volk und Vaterland« beinhalten.262 Vor diesem Hintergrund wird die Definition von »Adeligkeit« in den autobiographischen Texten beleuchtet. Was wird von den adeligen Autoren darunter verstanden und welche Brüche sowie Kontinuitäten sind festzustellen? Welche Werte des vergangenen Russlands erachteten die Autoren als »typisch adelig« und als erinnerungswürdig? Hier wird nicht die Fremd-, sondern die Selbstwahrnehmung der Protagonisten in den Mittelpunkt gerückt. Die in den Autobiographien dargestellten Denkmuster sowie idealisierten Handlungsformen sind als Stilisierungen typisch adeligen Handelns und Verhaltens anzusehen. Es handelt sich um normative Ansprüche der Protagonisten, nicht immer (oder gar nicht) um die Darstellung realer Praktiken. Dennoch können die Selbstbeschreibungen der vorgestellten Teilgruppe als, wenn nicht allgemein verbindlichem, dann wenigstens als weitgehend akzeptiertem Entwurf der »Adeligkeit« angesehen werden.

2.1

Das adelige Dienstideal

Eines der stärksten und prägendsten Elemente, die in den Erinnerungstexten zu finden ist, war das Ideal des Dienstes. Im Zarenreich sah ein bedeutender Teil des Adels darin seine Berufung sowie seine materielle Grundlage und bezeichnete sich als »Dienststand« (sluzˇivoe soslovie). Dabei wurde der Dienst sowohl als Erfüllung adeliger Pflichten, als auch gewünschte Notwendigkeit betrachtet.263 Vor der Bauernbefreiung von 1861 lässt sich festhalten, dass der Adel in der Hierarchie des Staatsaufbaus nach adeligem Verständnis eine mittlere Position – unter dem Zaren, oberhalb der Bauern – einnahm. Für seinen Dienst für den Staat war er berechtigt, Dienst von seinen Untergebenen, den Leibeigenen, zu fordern. Die gesellschaftliche Struktur, geprägt durch ihre Hierarchie und die von oben nach unten ausgehende Autorität, bildete den Rahmen, innerhalb dessen sich Adeligkeit entfaltete. Die Hierarchie- und Autoritätsstruktur schlug sich dabei auch bis in die Familien selbst nieder und war zentral für die zeitgenössische adelige Identität, veränderte sich aber nach der Bauernbefreiung: »Das ständische Gefüge war in Bewegung geraten; der Hof verlor zusehends sein Distributionsmonopol für Anerkennung. Gerade diese gesellschaftliche Um262 Interessante Denkastöße gibt der Artikel von Ronald G. Ash: What Makes the Nobility Noble?, in: Jörn Leonhard/Christian Wieland (Hg.): What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century, Göttingen 2011, S. 329–340. 263 Vgl. Barinova, Rossijskoe dvorjanstvo v nacˇale XX veka, S. 50.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

bruchsituation löste auch die individuelle Persönlichkeit aus dem Kosmos der zaristischen Regelkultur.«264 Das verstärkte Interesse an der Persönlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte aber nichts daran, dass in den Erinnerungstexten der Adeligen unverändert die Haltung fortgeschrieben wurde, dass ein Adeliger dienen musste, um seinen adeligen Status ideell und materiell zu erhalten. Dabei schien es für die Autoren unerheblich, ob der Adelige den Dienst in der Armee, im Staatsdienst oder durch die Arbeit auf seinem Landgut verrichtete, so schrieb z. B. Boris Vasil’cˇikov : »Die einen dienten dem Staat, die anderen dem Volk, aber sie alle fanden ihre Erfüllung im Bewusstsein, dass sie dienen. Der Dienst galt als eine Pflicht für den Adeligen […].«265 Somit sollte der Adel unmittelbar dem Zaren oder der Regierung, allgemein dem russischen Staat oder der russisch-orthodoxen Kultur dienen – die Auswahl war durchaus groß, wie auch Tovrov betont: »[…] if a nobleman failed to join the military or civil service he was still serving the fatherland by virtue of his education.«266 Diese idealisierte Sicht über die Ordnung des zarischen Russlands mag im Alltag der untersuchten Autoren keine große Rolle gespielt haben, dennoch wurde sie in den Erinnerungstexten beharrlich gepflegt. Zusammengefasst wurde diese Haltung auch in Russland durch die Formel »noblesse oblige«, die sich in zahlreichen Erinnerungstexten wiederfindet. Sergej Trubeckoj beschrieb in seiner Autobiographie, was dieser Ausdruck in seiner Familie bedeutete: »[…] aus den Gesprächen der Erwachsenen habe ich klar verstanden, dass alle Erwachsenen (selbstredend die Männer) die Verpflichtung haben, auf irgendeine Weise an den Gesellschaftsbelangen teilzunehmen. Ein ›reicher Müßiggänger‹ zu sein und nur zum eigenen Vergnügen zu leben – das schien etwas sehr Schändliches, beinahe Beschämendes zu sein. Das Verständnis ›noblesse oblige‹ war eine stillschweigende Verpflichtung. Aus den Unterhaltungen und kritischen Anmerkungen der Erwachsenen habe ich die Schlussfolgerung gezogen, dass wir verpflichtet sind zu dienen, aber nicht einer persönlichen Sache, sondern einer gesellschaftsrelevanten Arbeit, der Wissenschaft, der Kunst.«267

Diese Passage in der Autobiographie lässt den Eindruck zu, dass Trubeckoj gegen das Vorurteil, Adelige wären wie die berühmte Figur Oblomov von Ivan 264 Urlich Schmid: Die subjektbildende Kraft des Imperiums. Autobiographien in der späten Zarenzeit, in: Aust/Schenk (Hg.), Imperial Subjects, S. 159–174, hier S. 160. Vgl. auch Tovrov, The Russian Noble Family, S. 18. 265 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 90. Zum Dienstideal des westeuropäischen Adels vgl. Conze, Von deutschem Adel, S. 388–393; vgl. de Saint Martin, Der Adel. Soziologie eines Standes, S. 127–129 und 155–171. 266 Tovrov, The Russian Noble Family, S. 29. 267 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 41.

»Adeligkeit« in den Erinnerungstexten

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Goncˇarov, ankämpfte.268 Die Merkmale von Oblomov wie die Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Fragen, das Fehlen an Handlungsbereitschaft und Tatkraft sowie Müßiggang wurden an dieser Stelle von Trubeckoj abgelehnt. Sergej Trubeckoj merkte zwar an zahlreichen Stellen seiner Autobiographie an, dass sich das hierarchische Gefüge des Staates nach der Bauernbefreiung 1861 zu ändern begann. Dennoch blieben für ihn die Begriffe »Hierarchie« und »Autorität« weiterhin überaus positiv. Dabei verlor die Staatsautorität insbesondere nach den Unruhen 1905/06 und auch nach dem Oktobermanifest viel an Respekt und Vertrauen in der Bevölkerung. Dieser Umstand wurde von Aleksandr Naumov in seinen Erinnerungstexten hinsichtlich seiner »historischen Verantwortung« reflektiert, denn er sah seine Rolle und Verpflichtung in der Schaffung einer lebendigen Verbindung (im Text: zˇivaja svjaz’) des Zentrums mit der Provinz.269 Naumov übte darüber hinaus Kritik am Oktobermanifest, das ihn zum Konservativen gemacht hätte. Er ergänzte für den Leser, dass sein Konservatismus nicht im Sinne »einer reaktionären Wiederherstellung des autokratisch-bürokratischen Regimes« und er nicht als ein blinder Unterstützer der alten Ordnung zu verstehen sei.270 Er sah sein Hauptziel vielmehr darin, dem »eigenen« Volk, das hilflos und primitiv sei, mit einem »ehrlichen Rat und nach Möglichkeit mit seinen Kenntnissen« zu dienen. Als »Mission« beschrieb Naumov die Rolle des Adels, der eine herausragende Stellung zwischen dem Zaren und dem Volk einnehmen und dadurch vermittelnd wirken sollte.271 Der Dienst für die Gemeinschaft wurde somit in der Erinnerung zu einer obligatorischen Aufgabe stilisiert. Für die Autoren stellte er zugleich die höchste Pflicht und Ehre, aber auch eine Verpflichtung dar : »Wer viel hat, von dem wird auch viel verlangt«.272 Auch Sergej Obolenskij beschrieb das Bestreben seines Vaters, ihm das Gefühl der Verantwortung gegenüber der russischen Gesellschaft zu vermitteln, damit er seinem Land »in the best possible way« dienen könne.273 Dass das Dienstideal auch im Wertekanon der Nachkommen der emigrierten Adeligen auftaucht, lässt sich an den Aussagen von Tatiana Metternich, der Tochter von Lidija und Ilarion Vasil’cˇikov, ablesen:

268 Der Roman »Oblomov« erschien 1859 und löste eine anhaltende gesellschaftliche Debatte aus, so dass der Begriff »oblomovsˇcˇina« in die zweite Auflage von Dal’s »Wörterbuch der russischen Sprache« im Jahr 1881 aufgenommen wurde. Vgl. Jens Herlth: Ivan Goncˇarov : Oblomov, in: Bodo Zelinsky (Hg.): Der russische Roman, Köln u. a. 2007, S. 139–163, hier S. 140. 269 Vgl. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 145f. 270 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 145. 271 Vgl ebd., Bd. 1, S. 119, 138. 272 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 92. 273 Vgl. Obolensky, One Man in His Time, S. 47.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

»Der Verlust ihres Besitzes war aber für meine Eltern, die den Gütern dieser Welt im Grunde ihres Herzens wenig Bedeutung beimaßen, weit weniger schmerzlich als die Tatsache, daß sie fortan ihrer Heimat nicht mehr dienen konnten.«274

Die Idee des adeligen Dienstes wurde in diesem Fall erfolgreich an die Nachkommen weitergegeben, was oftmals die Intention der Erinnerungstexte war.

2.2

Die adelige Familie und der adelige Name

Zunächst ist festzuhalten, dass das adelige Familienverständnis weit über das bürgerliche hinausgeht: Einerseits sind im Begriff »sem’ja« (Familie) alle in der Gegenwart lebenden Angehörigen einer Familie wie Vater, Mutter, Kinder, Großeltern usw. gemeint, das ist die »horizontale« Familie. Andererseits wird unter dem Begriff »semejstvo« (Familie) eine Gemeinschaft der vergangenen, lebenden und kommenden Generationen verstanden, die eine Gesamtheit bilden. Das ist die »vertikale« Dimension des Familienbegriffes.275 Der Begriff »Familie« wurde in den Erinnerungstexten je nach Kontext unterschiedlich verwendet. Die Vorstellung einer generationsübergreifenden Einheit der zeitgenössischen und historischen Familienmitglieder nahm in den Autobiographien einen zentralen Platz ein, wobei die unmittelbaren Familienangehörigen kaum erwähnt wurden. Man kann zwar davon ausgehen, dass im Exil die »horizontale« Familie existentiell wichtig war ; für die Stabilisierung der eigenen Identität nahm das »vertikale« adelige Familienverständnis weiter an Bedeutung zu. Es bot eine Identifikations- und Abgrenzungsmöglichkeit gegenüber anderen sozialen Gruppen. Bereits im vorrevolutionären Russland war eine lang tradierte Familiengeschichte ein Statussymbol an sich.276 In der Ausnahmesituation des Exils bekam die »vertikale« Familie eine besondere Bedeutung und in den Autobiographien einen exponierten Platz: Das erste Kapitel ist in der Regel der Erinnerung an Vorfahren sowie an zentrale Ereignisse und Persönlichkeiten der Familiengeschichte in Verbindung mit der 274 Tatiana Metternich: Prolog, in: Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 17. 275 Der Begriff der horizontalen und vertikalen Ausdehnung des adeligen Familienbewusstseins findet sich bei Conze, Von deutschem Adel, S. 344f.; vgl. Pric Mension-Rigau: Aristocrates et grands bourgeois. Education, traditions, valeurs, Paris 1994, der auf S. 29 von einem »enracinement vertical et horizontal« des französischen Adels in Genealogie und Geschlecht schreibt; vgl. zu diesem Aspekt Malinowski, Vom König zum Führer, S. 49f.; Funck/Malinowski, »Charakter ist alles!«, S. 73f.; dies., Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle, S. 242; de Saint Martin, Der Adel. Soziologie eines Standes, S. 115, 119f.; dies., Die Konstruktion der adeligen Identität, S. 535–537. 276 Vgl. Sofia Tchouikina: Collective Memory and Reconversion of Elite; Former Nobles in Soviet Society after 1917, in: No[l Packard (Hg.): Sociology of Memory – Papers from the Spectrum, Cambridge 2009, S. 65–99, hier S. 66.

»Adeligkeit« in den Erinnerungstexten

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Geschichte Russlands gewidmet. Diese Praxis der »Geschichtserzählung« wurde von den Autoren bereits in ihrer Kindheit erfahren: Die heldenhaften Vorfahren hatten einen festen Platz im Familiengedächtnis, unterstützt und visualisiert durch Portraits und Bilder, die in jedem Adelshaus zu finden waren. Und die Moral, die an die Kinder weitervermittelt wurde, hieß: Jeder Spross dieser Familie ist dafür prädestiniert, genauso wie die Vorfahren, dem Vaterland zu dienen und der Familie nützlich zu sein. Die Kenntnis der eigenen Familiengeschichte wurde vorausgesetzt und in der adeligen Gesellschaft sogar verlangt. Zahlreiche Beispiele dafür lassen sich z. B. bei Aleksandr Davydov finden, der auf die bekannten Vorfahren bei den Dekabristen verwies. Dabei war die Konstellation seiner Familie alles andere als einfach und rief nach seiner Aussage schwere innere Konflikte hervor, die sich aus der Herkunft zweier verschiedener Adelsgeschlechter und -traditionen ergaben, wobei bei ihm das Erbe der Davydovs die Oberhand über das der deutschbaltischen Familie Lieven gewann: »In mir vereinigten sich die deutsche Rittertradition und das spirituelle Erbe der Dekabristen. Solche unterschiedlichen Elemente konnten sich nicht zu einem Ganzen vereinen, und den Kampf zwischen ihnen gewann das zweite Element. Mir wurde lieb und teuer alles, was mit der russischen Geschichte zusammenhing, mit dem Namen Davydov. Die noble Herkunft der Familie meiner Mutter schmeichelte nicht meinem Ehrgefühl, aber der Platz, den der Name Davydov in der Geschichte der russischen Kultur einnahm, weckte stets meinen Stolz.«277

Aleksandr Davydov sah sich ganz deutlich als ein Mitglied der Davydov-Familie als »vertikale« Familie, und dieses Familienverständnis vererbte er auch an seine Tochter Olga Davydoff Dax. Im Vorwort zur Autobiographie ihres Vaters schrieb sie über die prägende Wirkung seiner Ansichten und Vorstellungen: »Mein Vater war ein Liberaler, warm- und großherzig. Ich teile seine Ideen und Meinungen. Und wenn wir zurück zu der Zeit der Dekabristen gehen, dann kann ich nicht umhin, es zu bedauern, dass diese jungen Leute mit all ihren Idealen ihre Ideen nicht verwirklichen konnten. Vielleicht wäre dann die Welt anders, besser, wer weiß?«278

Hier scheint der Mythos der Dekabristen tatsächlich bis in die jüngste Geschichte nachzuwirken, wie ihn Ludmilla A. Trigos in ihrer Untersuchung »The Decembrist Myth in Russian Culture« nachgezeichnet hat.279 277 Davydov, Vospominanija, S. 90. Vgl. den aufschlussreichen und lesenswerten Artikel von Jurij M. Lotman: Dekabrist v povsednevnoj zˇizni (bytovoe povedenie kak istoriko-psichologicˇeskaja kategorija), in: V.G. Bazanova/V.E˙. Vacuro (Hg.): Literaturnoe nasledie dekabristov, Leningrad 1975, S. 25–74. 278 Davydov, Vospominanija, S. 8. 279 Vgl. Ludmilla A. Trigos: The Decembrist Myth in Russian Culture, New York 2009; vgl. zur nachträglichen Verehrung der Dekabristen auch Hans Lemberg: Die Dekabristen, in: Klaus Zernack (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands. Band 2: 1613–1856: Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, Stuttgart 2001, S. 1024–1056.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

Davydov betrachtete sich offenbar als Bestandteil einer langen Ahnenreihe. Dennoch war die Vorstellung, das »Glied einer Kette«280 zu sein, in den Autobiographien unterschiedlich angelegt. Sergej Trubeckoj und Boris Vasil’cˇikov sahen die Weiterführung dieser Vorstellung in Gefahr, denn die Generation der Jüngeren war von Russland getrennt und hatte sich von dem Land entfremdet.281 Nach seiner Aussage, der sich auch Trubeckoj anschließen würde, hatte die Autobiographie die Aufgabe, an die Vergangenheit der Familie zu erinnern und diese den gegenwärtigen wie auch zukünftigen Familienmitgliedern für ihre spezifischen Bedürfnisse verfügbar zu machen.282 So entwickelte z. B. Sergej Trubeckoj die Vorstellung vom Adel als einem traditions- und geschichtsbewussten Stand, der im Gegensatz zu anderen Schichten über eine weit zurückreichende Ahnenreihe auf besondere Art und Weise mit der Vergangenheit und gleichzeitig mit der Heimat verbunden sei: »Die Liebe zur Heimat verbindet sich mit der Erinnerung an unsere Väter und Großväter.«283 Er verwendete für diejenigen ohne eine besondere Beziehung zu ihren Ahnen eine eigene Wortschöpfung – »Ivan-Nepomnjasˇcˇij« (in etwa: »Ivanohne-Erinnerung«). Er gestand auch diesen einen Familiensinn zu, aber die Adeligen »besaßen zusätzlich ein besonderes Gefühl von hierarchischem Respekt«284 für die Eltern und Großeltern. Die Einbindung des Einzelnen in die überpersönlichen Zusammenhänge der Familiengemeinschaft vermittelte offenbar dem Adel im Exil die dringend benötigte Gewissheit, dass seine adelige Identität auch nach dem Zusammenbruch von 1917 durch die Kontinuität der Familientradition und -geschichte gewährleistet war. Vor allem die Erinnerung an eine ruhmreiche Vergangenheit scheint der Selbstvergewisserung und -verortung zu dienen. Der Bezug zwischen der Familiengeschichte und der Geschichte Russlands wird bei den meisten Autoren besonders erwähnt – genauso wie die Verbindung der eigenen Familie mit der russischen Gesellschaft.285 Deshalb verwiesen die Autoren auf die Verantwortung des Adels gegenüber Gott, dem Zaren und der Gesellschaft.286 Das scheint 280 Vgl. de Saint Martin, Der Adel. Soziologie eines Standes, S. 115. Diese Vorstellung ist eine von westeuropäischen Adeligen häufig bemühte Metapher, vgl. z. B. Marcus Funck/Stephan Malinowski: »Charakter ist alles!« Erziehungsziele und Erziehungspraktiken in deutschen Adelsfamilien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 6, 2000, S. 71–92, hier S. 73f. 281 Vgl. Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 23f. 282 Vgl. ebd.; Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 7f. 283 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 37. 284 Ebd., S. 9. 285 Für das 19. Jahrhundert bei Tovrov, The Russian Noble Family, S. 9: »For the Russian nobility the tie between the family and the larger society was especially important.« 286 Zu diesen Leitmotiven für das Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts vgl. I.F. Chuduzˇina: Car’. Bog. Rossija. Samosoznanie russkogo dvorjanstva (konec XVIII – pervaja tret’ XIX vv.). Moskau 1995.

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eines der Leitmotive der Autobiographien von Marija Basˇmakova, Sergej Obolenskij oder Aleksandr Naumov zu sein. Basˇmakova entwarf das Selbstbild einer zutiefst gläubigen, aus traditionsreichem Militäradel stammenden und Zeit ihres Lebens (zaren)treuen Patriotin. Bei Obolenskij heißt es, in seiner Familie habe die Reihenfolge gegolten: »My country first, my family second, and myself third. That’s the way to be.«287 Die Bedürfnisse der Heimat wogen also mehr als die der Familie oder des einzelnen Individuums. Sicher blieb diese Vorstellung ein Ideal, das in der Realität viele Abstufungen kannte. Denn die Familie hatte eine größere Unmittelbarkeit und Realität als die abstrakten Gebilde wie Staat, Gesellschaft oder Zar. Die eigene Familie war ständig präsent im Leben ihrer Mitglieder und ihre Nöte waren unmittelbar sichtbar. Obolenskij schrieb selbst, dass er wegen der Familie ins Exil gegangen war, um sie vor Gefahren zu schützen.288 Die Selbstidentifikation verlief im Exil verstärkt über den adeligen Namen, ganz im Gegensatz zu den verbliebenen Adeligen in der Sowjetunion.289 Der Name, der auf der jeweiligen Titelseite der Autobiographien steht, ist ein Teil der gewünschten Selbstpräsentation. Auf der Titelseite der Autobiographie von Irina Skarjatina sind drei Namen aufgeführt und repräsentieren in nuce ihr Selbstverständnis. An erster Stelle erscheint der Mädchenname »Irina Skariätina«, an zweiter Stelle folgt in Klammern Mrs. Victor F. Blakeslee (Ehemann in den USA) und darunter ohne Klammern »Formerly Countess Irina Wladimirovna Keller«. Im Vorwort, das Herschel C. Walker von der »American Relief Administration«, verfasst hatte, spielt der Verweis auf die adelige Herkunft der Autorin eine zentrale Rolle: »Descended from the aristocratic princely families of Paskevitch, Sherbatov, Galitzine, her mother was the Princess Mary Lobanov of Rostov, and her father General Wladimir Skariatine. During the war she was married to Count Alexander Keller.«290

Da der emigrierte russische Adel alle äußerlichen Abgrenzungskriterien bis auf seinen Namen und Titel verloren hatte, scheint die Betonung des adeligen Namens an Bedeutung gewonnen zu haben: »Diese Kraft des Namens, der uns als letzter Reichtum geblieben ist, den nicht einmal die Bol’sˇeviki uns wegnehmen können, müssen wir, die lebende Generation, unseren 287 Obolensky, One Man in His Time, S. 65. 288 Vgl. ebd., S. 168. 289 Vgl. exemplarisch zum Verhältnis der Adeligen zu ihrem Familiennamen in der Sowjetˇ ujkina: Problema imeni i semejnoj pamjati v sem’jach byvsˇich dvorjan v union bei Sof ’ja C ˇ ikadze/I. Fliege/V. Voronkov (Hg.): Pravo na imja: biografii XX 1920e–1950e gody, in: E. C veka. Sbornik statej pamjati V.V. Iofe, St. Petersburg 2004, S. 150–172; Sofia Tchouikina: Le »grand compromis« et la m8moire familiale: les ex-nobles russes / l’8poque stalinienne, in: Revue d’8tudes comparatives Est-Ouest 37, 3/2006, S. 165–197. 290 Herschel C. Walker : Foreword, in: Skariätina, A World Can End, S. xv–xxii, hier S. xxi.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

Nachkommen bewahren und vermachen, damit diese Namen und die mit ihnen verbundenen Ehrentaten ›der in alten Zeiten herrschenden Staatsmänner‹ auch in der Zukunft als Zierde für unsere teure Heimat dienen, wenn sie wieder aufersteht.«291

Genau diesen Auftrag, die Nachkommen mit den »Heldentaten« bekannt zu machen, schien auch Aleksandr Davydov zu verfolgen, allerdings in einer undogmatischen Form. Im Nachwort zu seiner Autobiographie, verfasst von seiner Tochter, wird deutlich, dass dieser Auftrag geglückt war. Olga Davydoff Dax reiste in den 1970er und 1980er Jahren mehrmals in die Sowjetunion, »wo einst meine Vorfahren lebten«, auch mit ihrer eigenen Tochter, um die Spuren ihrer Familie zu suchen. Sie schrieb sichtlich stolz über den Familiennamen Davydov, der »mit einer der historisch bedeutendsten Epoche in Russland« zusammenhing.292 Das Bekenntnis zum adeligen Stand bei den Emigrierten drückte sich auch in der Annahme der landestypischen Adelsprädikate aus (»de« oder »von«) – je nachdem, in welchem Gastland sich der Autor aufhielt. So wurde aus einer Marija Basˇmakova »Marie de Bashmakoff«. Das im Französischen übliche »de« wurde vom russischen Adel auch schon bei den Reisen nach Europa im 19. Jahrhundert übernommen, diese Praxis war durchaus gängig.293 In der Emigration im 20. Jahrhundert war diese Betonung der Zugehörigkeit zum adeligen Stand besonders wichtig; so verweisen emigrierte Frauen stolz auch auf ihre geschiedenen adeligen Ehemänner, soweit sie einen prominenten Namen hatten. Marija Barjatinskaja ging zwar in ihrer Autobiographie nicht oft auf ihre erste Ehe mit Dmitrij Goneckij ein, stellte aber fest: »Nous 8tions fiers de porter un nom militaire historique.«294 Diese Einstellung wird in ihrem Buch noch dadurch unterstrichen, dass eines der wenigen Fotos ihren ersten Mann in Uniform zeigt mit der Unterschrift: »Colonel Dimitri Gonetzky en grand uniforme du R8giment Pr8obrajensky, 1907«.295 Boris Vasil’cˇikov fasste es treffend zusammen: »Ich […] hielt mein ganzes Leben lang meine Herkunft in Ehren und war stolz auf meinen Namen, und ich denke, dass die Mehrheit unseres Adels auch auf diese Weise auf ihre Vergangenheit als Stand zurückblickt.«296

291 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 93. 292 Beide Zitate bei Davydov, Vospominanija, S. 257. 293 Vgl. Rolf-Dietrich Keil: Puschkin. Ein Dichterleben, Biographie, Frankfurt/M. u. a. 1999, S. 16. Vgl. zum Gebrauch des Adelsmarkers »de« im Pariser Ort »La Muette« in den 1920er Jahren bei Esch, Parallele Gesellschaften und soziale Räume, S. 264. 294 Baschmakoff, M8moires, S. 85. 295 Ebd., S. 87f. 296 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 92.

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Den Autoren war es ein wichtiges Anliegen, den »guten Klang« des eigenen Familiennamens auch für die Zukunft zu bewahren. So berichtete Naumov über einen Vorfall in der eigenen Familie. Sein Bruder Nikolaj brachte Schande über den »bis dahin unbefleckten« Namen und Ruf der Familie Naumov. Auch nach Jahrzehnten saß die Schmach über die Beschmutzung des Familiennamens tief – der Autor deutete nur an, aber schrieb nichts Genaues über den Grund des Familienunglücks, das die Eltern und auch den Bruder gesundheitlich und psychisch fast ruiniert hätte.297 Es wird deutlich, dass für die Autoren der Familienname eine transpersonale Wertigkeit und Würde besitzt, und so gibt es eine über das Ansehen der jeweiligen Familienangehörigen hinausgehende kollektive Familienehre – pars pro toto. Jedes Familienmitglied handelte somit nie für sich allein, sondern stets stellvertretend für das gesamte Geschlecht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die eigene Familie, d. h. die lebende Generation, wahrscheinlich im Alltag eine größere Rolle spielte, aber in den Autobiographien wurde in der Regel am adeligen Verständnis einer vertikalen und horizontalen Familie festgehalten. Hier wirkten sich möglicherweise die Erziehungsziele der Eltern aus, die eine umfassende Identifikation der einzelnen Mitglieder mit der Familie und ihren Interessen sowie die Ausbildung zu Gehorsam und Pflichtbewusstsein beinhalteten. Vor allem der Erinnerung an die Leistungen der Familienmitglieder und Vorfahren, die zum Prestige der Familie beigetragen haben, wurde viel Raum in den Autobiographien gewidmet.

2.3

Die adelige »Persönlichkeit«

Alle Autoren zeichneten in ihren Autobiographien auf die eine oder andere Weise ein Idealbild eines Adeligen. Das Ideal stellte eine verantwortungsbewusste »Persönlichkeit« dar, die bei manchen Autoren im Gegensatz zu der verantwortungslosen russischen »Intelligencija«, bei anderen zu den »hartherzigen, narzisstischen Bürokraten« stand.298 Die Letzteren waren den Texten nach Menschen, die keine Kenntnis des Ehrenkodexes hatten. Sie waren der Dienstpflicht nicht so stark verbunden wie der Adel und besaßen kein Gefühl der historischen Verantwortung gegenüber dem russischen Staat. Sie dienten keinen höheren Idealen (verkörpert durch Zar, Kirche und Heimatland), sondern dem jeweils höher gestellten Vorgesetzten. Es lohnt sich, etwas länger beim Begriff der »Intelligencija« zu verweilen. Die Wörter »intelligencija, intelligent, intelligentnyj« haben im Russischen eine 297 Vgl. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 1, S. 266f. 298 Zu »bjurokratija« vgl. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 1, S. 196.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

besondere Stellung und sogar eine widersprüchliche Bedeutung.299 Von ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart haben diese Wörter zahlreiche Transformationen, Bedeutungsänderungen und Bewertungen erfahren. Zum späten Zarenreich lässt sich festhalten, dass die »Intelligencija« nicht mit dem westeuropäischen Bildungsbürgertum gleichzusetzen ist.300 Die kritisch Denkenden verstanden sich als Opposition nicht nur zur Obrigkeit, sondern auch zum gesellschaftlichen und politischen Establishment. Ein Kriterium der Dazugehörigkeit zur »Intelligencija« war die klar definierte politische Haltung. Außerdem stand für diese Gruppe das (selbst definierte) Wohl der Gesellschaft und nicht der Dienst für den Zaren oder den Staat im Vordergrund. Diese Gruppe war folglich sozial äußerst heterogen.301 Der Begriff wurde vor allem bezogen auf die Gruppe der Gebildeten, die bestrebt war, die Stagnation in der russischen Gesellschaft und Politik zu überwinden und einen Wandel des Bestehenden zu erreichen. So waren in den Jahrzehnten vor den Revolutionen 1917 auch Adelige, Studenten, Richter und Kulturschaffende in der Gruppe der »Intelligencija« vertreten.302 Hinzu kamen auch Angehörige nationaler Minderheiten, Frauen und sogar Offiziere der Armee; dabei waren ihre Ziele und Mittel durchaus heterogen.303 Eine Diskussion um den Begriff entbrannte vor allem nach dem Erscheinen des Buches »Wegzeichen« (»Vechi. Sbornik statej o russkoj intelligencii«) im Jahre 1909, das unter anderem von Autoren wie N. Berdjaev, S. Bulgakov, M. Gersˇenzon und P. Struve verfasst wurde, die fast alle nach 1917 ins Exil gingen. Karl Schlögel bewertet den Sammelband als einen markanten Einschnitt in der Geschichte der russischen Intelligencija und gar Russlands: »Die Debatte, die nach ihrem Erscheinen entbrannt war, wurde zu einer prägenden Erfahrung der 299 Vgl. Galina N. Skljarevskaja: Russkie ponjatija ›intelligencija‹, ›intelligent‹: Razmysˇlenija o semanticˇeskich transformacijach, in: Peter Thiergen (Hg.): Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat, Köln u. a. 2006, S. 435–447. Vgl. auch Kapitel 4 in Denis Sdvizˇkov : Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 139–184. 300 Vgl. Hildermeier, Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, hier S. 1218ff.; Dietrich Geyer: Zwischen Bildungsbürgertum und Intelligenzija: Staatsdienst und akademische Professionalisierung im vorrevolutionären Russland, in: Werner Conze/ Jürgen Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich, Stuttgart 1985, S. 207–230, hier S. 207. 301 Vgl. Martin Malia: Was ist die Intelligentsia?, in: Richard Pipes (Hg.): Die russische Intelligentsia, Stuttgart 1962, S. 11–32. 302 Vgl. Boris Elkin: Die russische Intelligentsia am Vorabend der Revolution, in: Pipes (Hg.), Die russische Intelligentsia, S. 49–64, S. 49f. 303 Vgl. Dietrich Beyrau: Russische Intelligenzija und Revolution, in: Historische Zeitschrift 252, 1991, S. 560–586; ders.: Broken Identities: The Intelligentsia in Revolutionary Russia, in: M.K. Palat (Hg.): Social Identities in Revolutionary Russia, Basingstoke 2001, S. 134– 160; Jane Burbank: Intelligentsia & Revolution: Russian Views of Bolshevism, 1917–1922, New York u. a. 1989.

»Adeligkeit« in den Erinnerungstexten

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Generation, die dann die Russische Revolution erlebte oder erlitt.«304 Das erklärte Ziel der Autoren des Sammelbandes war es, die Selbstanalyse der »denkenden Gesellschaft« anzustoßen. Die Diskussion um den Begriff wurde später in der Emigration weitergeführt.305 Die Klarheit der Definition rückte aber in weite Ferne, was auch die Verwendung des Begriffes in den autobiographischen Texten zeigt. Wie unklar sich der russische Adel über seine eigene Position war, zeigen die schematisch wirkenden Fremd- und Selbstzuschreibungen der Autoren.306 Der Begriff »Intelligencija« ist jedenfalls überwiegend negativ belegt, wobei der gemeinte Personenkreis sich von Text zu Text unterscheidet. Dabei war die »Intelligencija« des vorrevolutionären Russlands gemeint, insbesondere der 1870/1880er Jahre, und nicht Sowjetrusslands. Vera Golicyna fasste verschiedene Gruppen zur »Intelligencija« zusammen, z. B. die »universitäre Jugend«, die »Intellektuellen«, die »Utopisten« und die »aufgeklärten Pädagogen«, und stellte sie unter den Generalverdacht, mit Mitteln der Terroristen zu kämpfen: »La jeunesse universitaire, les intellectuels, les utopistes, les p8dagogues illumin8s, tous ceux / qui en bloc on donnait chez nous le beau nom ›intelligentzia‹, commenÅaient / user de moyens terroristes.«307

Lidija Vasil’cˇikova griff ebenfalls auf das Feindbild der »narodniki«308 zurück, die idealistische Vorstellungen vom Volk gepflegt und dabei doch über wenig Kontakt und Kenntnis von der Bevölkerung verfügt hätten.309 Dabei wird wie304 Karl Schlögel: Russische Wegzeichen, in: ders. (Hg.): Vechi – Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz, Frankfurt/M. 1990, S. 5–44, hier S. 5. Vgl. auch Leonid Luks: Bolschewismus, Stalinismus und Nationalsozialismus aus der Sicht russischer Exildenker – am Beispiel der »Vechi«-Autoren und der »Novyj-Grad«-Gruppe, in: Totalitarismus und Demokratie 8, 1/2011, S. 99–131; Rainer Goldt: Die Revolution und ihre Intellektuellen. Der Sammelband »Vechi« (»Wegzeichen«) im Kontext seiner Zeit, in: Jan Kusber/Andreas Frings (Hg.): Das Zarenreich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen. Bestandsaufnahmen, Berlin 2007, S. 383–411. 305 Vgl. Karl Schlögel: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne, 1919–1921, München/ Wien 2002, v. a. das Kapitel »Argonauten des 20. Jahrhunderts. Die russische Intelligencija zwischen ›Vechi‹ (1909) und ›Smena vech‹ (1921).«, S. 87ff. 306 Die Autoren wollten sich nicht zu der sog. »dvorjanskaja intelligencija« zuordnen. Vgl. zum Begriff: Hilmar Preuß: Vorläufer der Intelligencija?! Bildungskonzepte und adliges Verhalten in der russischen Literatur und Kultur der Aufklärung, Berlin 2013; A.G. Kicˇeev : Dvorjanskaja intelligencija: literaturno-istoricˇeskaja kompozicija na primere odnogo roda, Moskau 1998. 307 Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 38. 308 Vgl. dazu Julija Safronova: Russkoe obsˇcˇestvo v zerkale revoljucionnogo terrora: 1879– 1881 gody, Moskau 2014; Richard S. Wortman: The Crisis of Russian Populism, Cambridge 2008; Margaret Maxwell: Narodniki Women. Russian Women Who Sacrificed Themselves for the Dream of Freedom, New York u. a. 1990. 309 Vgl. Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 89.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

derholt ein Klischee bemüht, das offensichtlich besonders stark in der Erinnerung verankert war, verkörpert durch junge Frauen, mit einer dunklen Brille und kurzen Haaren, die sich unter die Bauern mischten und revolutionäre Ideen verbreiteten: »L’intelligentzia russe avait 8t8 8lev8e dans l’id8e qu’elle devrait combattre pour quelque chose, sp8cialement ›pour le peuple‹. La mode 8tait venue pour les filles de porter des lunettes sombres, de se couper les chevaux, et d’aller / la campagne parmi les paysants pour semer des id8es de r8volte dans leurs esprits simples. Jusque dans les classes dirigeantes s’infiltrait l’esprit critique, destructeur.«310

Boris Vasil’cˇikov bezeichnete die Vertreter der »Intelligencija« der 1860er und 1870er Jahre in seinem Erinnerungstext als »moralische Krüppel«. Diese Phase war »die Zeit des Nihilismus und der Bewegung ›ins Volk gehen‹«311 (narodnicˇestvo). Die »moralische Missbildung« habe sich in der »Verführung« des einfachen Volkes, in der »systematischen Zerstörung des guten Verhältnisses zwischen Bauern und Landbesitzern« und schließlich auch in der Revolution geäußert.312 Den Punkt der »Verführung des Volkes« griff auch Varvara Dolgorukova auf und verwies auf ihre persönlichen Kenntnisse und Erfahrungen, da sie bei der Eröffnung der ersten Duma anwesend war. Dieser Schritt zur Parlamentarisierung Russlands sei viel zu gewagt gewesen und habe nur Schaden angerichtet, denn die Bauern seien in jeglicher Hinsicht Analphabeten und auf diese Verantwortung nicht vorbereitet gewesen. Auf die radikalen Slogans wie »Land und Freiheit« fielen sie buchstäblich herein und die Intelligencija – »les prometteurs d’8l8phants blancs« – konnte sie leicht manipulieren. Resigniert stellte Varvara Dolgorukova fest: »Ce n’8tait plus le bon vieux temps.«313 Die »Intelligencija« war allerdings nicht das einzige Feindbild der Emigrierten. Sergej Trubeckoj beschrieb, wie er in seiner Kindheit von seinen Eltern, Evgenij Nikolaevicˇ Trubeckoj und Vera Aleksandrovna, geborene Sˇcˇerbatova, und seiner Umgebung lernte, zwischen einem »Bürokraten« (cˇinovnik), Angehörigen der »Intelligencija« (intelligent) und »kultivierten Menschen« (kul’turnyj cˇelovek) intuitiv zu unterscheiden. Dabei waren die beiden ersten Bezeichnungen überaus negativ gefärbt; demgegenüber stellte der Ausdruck »kul’turnyj cˇelovek« eine Auszeichnung dar.314 Die adelige Intelligencija erwähnte Sergej Trubeckoj ebenfalls, aber mit einer deutlich negativen Konnota310 Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 87. 311 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 41. Vgl. zum »Gang ins Volk« bei Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße, S. 55–59. 312 Alle Zitate Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 94 und 51. 313 Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 86. 314 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 42.

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tion, denn durch den »Seitenwechsel« verloren diese Adeligen die charakteristischen und für den Staat nützlichen Züge eines Dienststandes. Dadurch hätten sich diese Vertreter des Adels auch in die »Kulturlosigkeit« (im Text: bezkul’tur’e) begeben.315 Durch diese Veränderungen innerhalb des Adels sah Trubeckoj die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale des Adels von anderen sozialen Gruppen in Gefahr. Als Sergej Trubeckoj die Zeit seines Gefängnisaufenthaltes ab 1920 beschrieb, griff er wieder den Begriff der Intelligencija auf, wobei keine Konkretisierung erfolgte. Er drückte jedoch seine Verachtung gegenüber dieser Gruppe aus, da seine Vertreter angesichts der schwierigen Gefängnisbedingungen hysterisch reagiert hätten. Seine Selbstbeschreibung bildet einen Kontrast dazu, denn die Gruppe der »Ehemaligen« im Gefängnis erhalten in den Erinnerungen die Attribute »innerlich gefasst«, »willensstark« und »diszipliniert«.316 In jedem Text werden bestimmte Werte aufgezählt, die der jeweilige Autor einer adeligen »Persönlichkeit« zuschrieb. Es wurden Tugenden und Charaktereigenschaften herausgearbeitet, die eine genuin adelige Persönlichkeit aus den gewöhnlichen Menschen hervorhob. Die Selbstzuschreibungen verwenden häufig Attribute wie »Disziplin« oder »Charakter«, um das adelige Wesen und die adelige Lebensform zu umschreiben. Bei Sergej Trubeckoj wird z. B. ein Idealtypus eines Adeligen gezeichnet, der unbedingt einen ganzheitlichen Charakter besitzen sollte.317 Eine »innere und äußere« Disziplin, d. h. die äußere Haltung, das Auftreten in der Gesellschaft, Erziehung zur Contenance in allen Lebenslagen, gehörte bei Boris Vasil’cˇikov dazu, wie auch ein »aufopferungsvoller Dienst für das Vaterland«.318 Außerdem wurden die Taten eines Adeligen im Vergleich zu »Normalsterblichen« stets mit strengeren Maßstäben gemessen: »[…] derjenige, der von Vorteilen seiner Herkunft und des Respekts, der mit seinem Namen verbunden ist, profitiert, hat sich für seine Taten durch höhere Maßstäbe im Vergleich zu anderen zu verantworten.«319

Sergej Trubeckoj merkte ebenfalls an, dass er mit dem Wort »Aristokratie« die Werte »Pflicht« (objazannost’) und »Verantwortung« (otvetstvennost’) verband, keinesfalls aber den Gedanken an Überheblichkeit oder Privilegien.320 Die strengeren Maßstäbe hinsichtlich der Moral und der Taten hatte er von seinem 315 Vgl. ebd., S. 103. Vgl. zu den historischen Hintergründen dieser Entwicklung: Barinova, Rossijskoe dvorjanstvo v nacˇale XX veka, S. 52f. 316 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 224. 317 Vgl. ebd., S. 103. 318 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 113. 319 Ebd., S. 92. 320 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 41f.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

Großvater geerbt und auch in der Emigration an seine Worte gedacht: »Ich erinnere mich wiederholt an die Worte des Großvaters Trubeckoj: ›Wenn ein Fürst nur ein wenig rüpelhaft wird, ist er schlimmer als jeder Rüpel [cham]‹.«321 Dabei beinhaltet das Wort »cham« eine äußerst verachtende und entwürdigende Note. Die Kennzeichen, die in den Texten als typisch adelig deklariert werden, beziehen sich vor allem auf die inneren Werte eines Menschen. Der materielle Besitz erscheint immer an einer nachrangigen Stelle. Naumov ging sogar so weit zu sagen, dass die nichtadeligen Landbesitzer, die sich durch Selbstlosigkeit, Hilfs- und Einsatzbereitschaft sowie Zivilcourage während der Unruhen 1905/06 besonders ausgewiesen hatten, sich die Aufnahme in den Adelsstand verdient hätten: »Mir kam mehrmals der Gedanke, nachdem die Zeit der revolutionären Erschütterungen der Jahre 1905/1906 beendet war, dass zahlreiche lokale nichtadelige Landbesitzer während der Zeit der Wirren in Samara sich derart edelmütig verhalten haben, soviel aufopferungsvollen Patriotismus gezeigt haben, dass wir, die Adeligen vor Ort, diese Landbesitzer in unsere Adelsfamilie aufnehmen wollten.«322

Darin spiegelt sich einmal mehr die Tatsache, dass sich Teile des russischen Adels bereits lange vor dem Revolutionsjahr 1917 als eine Gesinnungsgemeinschaft verstanden hatten. Dies traf im Exil ebenfalls zu, mit dem Unterschied, dass die adelige Herkunft, der adelige Name und die Vorfahren wichtiger wurden. Die »Adeligkeit« rückte als Mittel gegen die subjektiv empfundene Bedrohung der eigenen Identität in den Vordergrund.323 Sie kann als ein »Kristallisationspunkt« des russischen Adels in der Emigration begriffen werden.324 Fürst Boris Vasil’cˇikov merkte in seiner Autobiographie an: »Die Vergangenheit wirkt besonders anziehend, und ihre Rekonstruktion wird zu einer Notwendigkeit, umso mehr in Situationen, welche wir erleben, wenn die Gedächtnisorte dieser Vergangenheit – Aufzeichnungen, Porträts, Gegenstände – verloren gingen und die Gebäude zerstört wurden.«325

Dass die erwähnten Gegenstände tatsächlich halfen, die Vergangenheit festzuhalten und an die Nachkommen weiter zu geben, wird an den Ausführungen von 321 322 323 324

Ebd., S. 95. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 251. Zum Verhältnis von Erinnerung und Identität vgl. Gillis, Memory and Identity, S. 3–24. Das Konzept des »Kristallisationspunktes« ist Karine Rance entlehnt. Bei Rance ist der »pile de cristallisation« die französische Nationalität der Emigranten. Vgl. Karine Rance: L’identit8 collective des nobles franÅais 8migr8s en Allemagne, in: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik 9, 1998, S. 24–37, hier S. 25. Zum deutschen Adel vgl. Meteling, Der deutsche Zusammenbruch 1918, in: Conze/Wienfort (Hg.), Adel und Moderne, S. 289– 321. 325 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 9.

»Adeligkeit« in den Erinnerungstexten

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Aleksandr Davydov deutlich, der beim Verfassen der Erinnerungen zwei Portraits seiner berühmten Urgroßmutter, Ekaterina Ivanovna Trubeckaja, vor Augen hatte.326 Äußerst detailliert beschrieb er diese außergewöhnliche Frau, die auch den Nachkommen im Gedächtnis bleiben sollte. Dabei stammte die Beschreibung offenbar von seiner Großmutter : »Auf diese Portraits blickend, erinnere ich mich an die fernen Zeiten meiner Jugend und erblicke vor meinem geistigen Auge meine Großmutter, die auf ihrem Sofa im Wohnzimmer auf dem Gut ›Sably‹ sitzt und mir über das Leben ihrer Mutter im fernen Sibirien erzählt. Das ist die Tochter der Fürstin E.I. Trubeckaja – meine Großmutter Elizaveta Sergeevna Davydova. Und nicht nur über das Leben ihrer Mutter in der Verbannung erzählte sie mir, sie erinnerte sich auch an Erzählungen über das damalige Leben in St. Petersburg, über ihre Eltern und Schwestern, über ihre Vorfahren und Menschen, denen sie im Elternhaus begegnete. Aber hauptsächlich liebte sie es, darüber zu sprechen, was ihre Mutter während der Ereignisse des Jahres 1825 erlebte und darüber, wie sie zahlreiche Hindernisse überwand, um nicht von ihrem Mann getrennt zu sein und wie sie ihm in die Katorga gefolgt ist.«327

An dieser ausführlichen Textpassage lassen sich mehrere Ebenen des »Gedächtnisses« aufzeigen: Die Erinnerung des Autors Aleksandr Davydov vermischte sich mit den Erinnerungen seiner Großmutter an die legendäre Urgroßmutter und Dekabristenfrau Ekaterina Trubeckaja. Und noch etwas wird deutlich: Dass die »adelige Persönlichkeit« ganz unterschiedliche Werte und Vorstellungen zusammenfassen konnte. Aleksandr Davydov widmete seine Erinnerungen seiner Tochter, der er offensichtlich vermitteln wollte, dass »adelig sein« mehr war als nur von adeliger Geburt zu sein. Es war vielmehr eine Geisteshaltung, die er am Beispiel seiner Vorfahren, der Dekabristen und ihrer Frauen, deutlich machte. Diejenigen Orte in Sibirien, wo sie sich niedergelassen hatten, entwickelten sich zu »Kulturnestern« (kul’turnye gnezda) und zu »Stätten des geistigen Lichts« (ocˇagi duchovnogo sveta).328 Jede Dekabristenfamilie erzog einige Bauernkinder, die sie bei sich aufnahm und an der Bildung teilhaben ließ. So versorgten sie die Ortsansässigen mit »geistiger Nahrung«. Genau das war für Aleksandr Davydov eine der wichtigsten Rollen des Adels: Seine Bildung und »Kultiviertheit« mit anderen Menschen zu teilen. Diese Ansicht vertraten die meisten adeligen Autoren im Exil. Seit dem frühen 19. Jahrhundert gab es das Ideal des umfassend in allen 326 Vgl. zu den Dekabristenfrauen: Anatole Gregory Mazour: Women in Exile: Wives of the Decembrist, Tallahassee 1975. 327 Davydov, Vospominanija, S. 33f. 328 An dieser Stelle zitiert Aleksandr Davydov die Erinnerungen von Fürst Sergej Michajlovicˇ Volkonskij, der ein Enkel des Dekabristen Fürst Sergej Grigor’evicˇ Volkonskij war, vgl. Davydov, Vospominanija, S. 44.

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Adelige Erinnerung und Identität im Exil

Lebensbereichen gebildeten Adeligen.329 Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts sah der wohlhabende Adel die Bildung als einen untrennbaren Teil seiner Existenz als Adel an. Das betraf sowohl Mädchen, als auch Jungen.330 Marc Raeff stellte für das 19. Jahrhundert fest: »The nobility’s newly acquired way of life – combining education and service – was its own accomplishment, its major raison d’Þtre, and its basis for claims to special treatment and rights. A cultured and educated way of life became in itself the mark of the nobility. No one who lacked a western-type general education could in truth be considered a member of good society or in fact if not in law claim privileges of noble status.«331

Je unsicherer die Zeiten, desto ausgeprägter war in den Kreisen des Adels das Bestreben, auf dieses Alleinstellungsmerkmal zu bauen. Die adelige Erziehung und Bildung ermöglichte es den Autoren, in jeder Situation die Haltung zu wahren und oftmals im Vorteil gegenüber Nichtgebildeten oder Nichtadeligen (prostoljudiny) zu sein. So schrieb Sergej Trubeckoj über seine Zeit im Gefängnis im Jahre 1920: »Während der Zeit im Gefängnis der Bol’sˇeviki, bei vollkommener Vernichtung von materiellen Vorteilen, sah ich, wie die hohe Kultiviertheit auf die einfachen Menschen wirkte und welches Prestige sie ihrem Träger in ihren Augen verlieh.«332

Diese Kultiviertheit ließe sich aber nicht einfach durch Bildung aneignen, sie sei nach Boris Vasil’cˇikov eine innere Haltung, die durch die richtige Erziehung geprägt wurde. Außerdem äußerte sie sich in einer »bestimmten Raffinesse der Meinung, des Geschmacks und der Gefühle«.333 Nadezˇda Vonljarljarskaja verwies ebenfalls auf die spezifisch adelige Erziehung, die bereits in der »kindlichen Früherziehung« darauf angelegt war, schlechte Manieren als Tabu zu bezeichnen und Höflichkeit zum zweiten Naturell werden zu lassen. Der Charakter war wichtiger als alles andere – hier ist selbstredend der adelige Charakter gemeint: »character was more important than many other qualities: Also we were trained to be ni poseuses, ni affect8es.«334 Offenbar wurde die Bildung im Sinne einer allumfassenden Erziehung, als »Menschenbildung«, verstanden. Den Unterschied zwischen reiner Wissens-

329 Vgl. Tovrov, The Russian Noble Family, S. 34. 330 Viele glaubten, dass nur eine gebildete Frau eine adäquate Ehefrau und Mutter sein konnte. Vgl. Marc Raeff: Origins of the Russian Intelligentsia. The Eighteenth-Century Nobility, New York 1966, S. 134. 331 Ebd., S. 145. 332 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 41. 333 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 71. 334 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 26.

»Adeligkeit« in den Erinnerungstexten

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bildung und adeliger Erziehung machte Aleksandr Davydov am Beispiel seiner Tante Lina Lieven deutlich: »Tante Lina […] war im besten Sinne des Wortes eine ›Grande Dame‹. Das Gefühl der Güte harmonierte bei ihr mit dem der Pflicht, wobei sie an sich selbst genauso strenge Maßstäbe anlegte wie an andere. […] Aber besonders gut ausgeprägt war ihr Taktgefühl – das Resultat echter gesellschaftlicher Erziehung und der Nähe zum Hof. Das Moralempfinden war bei ihr äußerst gut entwickelt und im Laufe ihres Lebens hat sie diesbezüglich nie gesündigt. Sie war stolz und stur, so ging sie keine Kompromisse mit ihrem Gewissen und ließ sich auf keine Intrige ein. Sie folgte stets dem Rat ihres Vaters und war ihrem Kaiser treu, blieb eine Monarchistin mit Herz und Verstand.«335

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den Autobiographien am Erziehungsideal des 19. Jahrhunderts festgehalten wird. Dieses beinhaltete zum Beispiel die Beherrschung mehrerer Fremdsprachen, nicht etwa, weil es berufliche Vorteile mit sich brachte, sondern weil diese Kenntnisse zum adeligen Status dazugehörten – der Wert der Bildung wurde nicht utilitaristisch verstanden, sondern stellte wie die adelige Erziehung insgesamt einen Wert an sich dar.

335 Davydov, Vospominanija, S. 83f.

IV.

Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Charlotte Linde macht uns darauf aufmerksam, dass es nicht »die« Geschichte in den Autobiographien gibt. Demnach wird sie faktisch nie vollständig präsentiert.336 Je nachdem, welches Selbstbild wir präsentieren wollen, geben wir »unserer« Geschichte unterschiedliche Färbungen, lassen das eine aus und betonen das andere. Folglich liegen uns mit den Autobiographien Momentaufnahmen dieses Prozesses vor.337 Die Autoren haben sich für eine Darstellung von bestimmten Themen entschieden, welche als kulturelles Ordnungsmuster zu verstehen ist. Sie ist nicht allein faktisch oder fiktiv, sondern vielmehr eine Erzählung, in der sich die Identitätssuche vollzieht. Sichtbar wird dies bei der Auswahl der Themen, bei denen bestimmte Narrative immer wieder hervortreten. Was sind nun die gemeinsamen »Geschichten« in den adeligen Autobiographien unter Beachtung der zeitlichen Distanz zwischen den Ereignissen an sich und ihrer Aktualisierung in der individuellen Erinnerung? Welche Aspekte des Lebens im zarischen Russland haben sich als erinnerungs- und damit als geschichtsmächtig für die Adeligen erwiesen und wie werden sie beschrieben?

1

Die adelige »glückliche Kindheit«

In allen Erinnerungstexten finden sich mehr oder weniger ausführliche Passagen zur Lebensphase der Kindheit, die als eine außerordentlich glückliche Phase des Lebens geschildert wird. Den Wert der »glücklichen Kindheit« haben die Autoren selbst erkannt: »[…] Das beste und kostbarste Gepäck, das der Mensch in seinem Leben trägt, ist die Erinnerung an eine glückliche Kindheit.«338 336 Vgl. Charlotte Linde: Life Stories. The Creation of Coherence, New York 1993. 337 Zum narrativen Charakter von Autobiographien vgl. Günther, »And now for something completely different«, S. 25–61. Vgl. auch Eakin, Living Autobiographically. How We Create Identity in Narrative. 338 Davydov, Vospominanija, S. 84.

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Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Auffallend ist, dass jeder Autor nur bestimmte Aspekte dieser Lebensetappe herausstellte, sei es das Elternhaus mit einem bestimmten Ritual, ein bestimmtes Hobby oder die Erziehung. Es sind oftmals nur die Farben, die Geräusche, die Fragmente eines Bildes, die in der Erinnerung haften bleiben. So fertigte Marianna Davydova in ihrem Exil für das Kapitel »Kindheit in Matussow« mehrere Zeichnungen mit dem Thema »Gerüche aus der Kindheit« an: Der Konditor Konrad beim Einmachen von Marmelade unter einem Maulbeerbaum sowie beim Backen eines Kuchens, eine alte Dienerin in der Backstube des Gutes, die Kaffeekränzchen der Mutter.339 Diese Erinnerungen sind sicher mit sensorischen Erlebnissen aus der Kindheit verknüpft. Selten wird die gesamte Kindheit resümiert, vielmehr sind es einzelne Erinnerungen, die sich ins kindliche Gedächtnis eingeprägt haben und in den autobiographischen Texten an die »Oberfläche« kommen. Da die Kindheit eine Phase voller starker Erlebnisse und Eindrücke ist, geht es nicht zuletzt um erste Erfolge und Misserfolge, um das Begreifen der Welt, um die Einprägung von Werten und Traditionen. Die Erinnerungstexte gehen insbesondere auf die Spiele in der freien Natur, auf bestimmte Speisen, auf Gerüche und Erlebnisse mit den Eltern und Großeltern ein. Es sind oftmals Kleinigkeiten wie »das wohl bekannte Geräusch von Schritten in Pantoffeln« oder »blendendes Sommerlicht und betörende Morgenluft«, die sich einprägten.340 Welche Attribute wurden demnach einer »glücklichen Kindheit« zugeschrieben und weshalb wird dieses Narrativ in den Erinnerungstexten verwendet? Das Narrativ der adeligen »glücklichen Kindheit« entstand um die Mitte des 19. Jahrhunderts.341 Andrew Wachtel untersuchte anhand der »Pseudo-Autobiographien« (Texte zwischen Autobiographie und Fiktion) der Jahre 1860– 1930 das Entstehen dieses Mythos, der sich nicht nur literarisch, sondern auch kulturgeschichtlich auswirkte.342 Der Initialimpuls erfolgte von Lev Tolstojs Buch »Kindheit« (Detstvo) im Jahre 1852. Diesem sollten noch zwei weitere – »Knabenalter« (Otrocˇestvo, 1854) und »Jünglingsjahre« (Junost’, 1857) – folgen. Diesen Impuls verstärkte die Pseudo-Autobiographie von S.T. Aksakov »Detskie gody Bagrova-vnuka« (Bagrovs Kinderjahre, 1858). Andere Werke 339 Vgl. Davidoff, Auf dem Lande, S. 17, 20, 21, 31. Diese Zeichnungen entstanden nach Angaben der Herausgeberin Olga Davidoff Dax in den 1920er Jahren (vermutlich zwischen 1924 und 1932), als die Autorin in der Bretagne lebte. Eine genauere Datierung liegt nicht vor. Vgl. ebd., S. 9. 340 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 21f. 341 Allgemein zur Kindheit in Russland vgl. Clementine Creuziger : Childhood in Russia. Representation and Reality, Lanham 1996; Lisa A. Kirschenbaum: Small Comrades. Revolutionizing Childhood in Soviet Russia, 1917–1932, New York 2001; Alla Sal’nikova: Rossijskoe detstvo v XX veke. Istorija, teorija i praktika issledovanija, Kazan’ 2007; Catriona Kelly : Children’s World: Growing Up in Russia, 1890–1991, New Haven 2007. 342 Vgl. Wachtel, The Battle for Childhood, S. 3, 15.

Die adelige »glückliche Kindheit«

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folgten und stießen einen Prozess der Vergegenwärtigung der Kindheit in der russischen Literatur an, der nicht nur beim Adel, aber insbesondere bei ihm nachhaltig wirkte: »Tolstoy claimed universal validity for his picture of the happy childhood, and many members of the gentry class agreed.«343 Dieser Einfluss habe sich nach Andrew Wachtel insoweit verselbständigt, als dass zahlreiche adelige (wie auch nichtadelige) Autoren Tolstojs Bild der Kindheit verinnerlicht hatten und – bewusst oder unbewusst – diesen Filter beim Schreiben auch auf ihre Kindheit anwandten.344 Andrew Wachtel verweist darauf, dass in der Umbruchszeit der 1860er Jahre der Adel nach neuen Distinktionsmerkmalen suchte, die ihn von den Nichtadeligen unterschieden. Diese fand er unter anderem in der Vorstellung der »glücklichen Kindheit«, denn durch sie gewann der Adelige an bestimmten positiven Lebensprinzipien, die das ganze Leben Bestand hatten und über alle Schwierigkeiten hinweghelfen konnten. Eine gute Allgemeinbildung konnten auch andere ehrgeizige »raznocˇincy« (in etwa: »solche von verschiedenem Rang« oder »solche ohne besonderen Rang«) erhalten, aber eine fehlende »glückliche Kindheit« war nicht mehr nachzuholen.345 Bildete der Mythos der »glücklichen Kindheit« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den positiven Kontrast zu dem als bedrohlich oder zumindest ungewiss empfundenen Wandel im Zarenreich, so bekamen die Erinnerungen an eine glückliche Kindheit für die emigrierten Adeligen eine Zusatzkomponente. Sie bildeten einen positiven Kontrast, ja einen Fluchtweg aus den negativen Erfahrungen in den Revolutions- und Exilzeiten. Diesen Aspekt beschrieb Nadezˇda Vonljarljarskaja: »These isolated memories stored away in one’s mind, formed a serene background for the whole of one’s life and were a mental and moral way of escape during the ghastly days of the Revolution and the anxieties of the immediate future […].«346

Diese Fluchtmöglichkeit in die Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit ergriffen alle Autoren in den untersuchten Autobiographien, auch wenn die Beschreibungen der konkreten Inhalte einer »glücklichen Kindheit« in den Erinnerungstexten durchaus unterschiedlich sein konnten. Die Phase der ganz frühen Kindheit war für die Autoren von Emotionen und einzelnen gefühlsbetonten Erinnerungen beherrscht. Varvara Dolgorukova begann ihre Autobiographie mit folgenden Worten: »Les premiHres images incrust8es en ma m8moire sont celles d’une petite fille de deux ans et demi, la 343 344 345 346

Ebd., S. 2. Vgl. ebd., S. 83ff. Vgl. ebd., S. 85. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 21.

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Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Crim8e, l’automne, et du soleil.«347 Sergej Trubeckoj beschrieb den typischen sommerlichen Morgen seiner Kindheit auf dem Landgut »Nara« (in der Nähe von Moskau) in einem beinahe »tolstojschen« Ton. Fast drehbuchartig fielen ihm die kleinsten Dinge wieder ein – die Njanja, welche die Gardinen öffnete und das helle Sommerlicht sowie die betörende Morgenluft hereinließ, die warme Milch am Morgen, die französischen Dialoge zwischen »Mama« und seinem Großvater Sˇcˇerbatov, der morgendliche Besuch im Stall bei den Pferden.348 In der Kindheit war neben den Eltern und Großeltern eine weitere Figur zentral: die Njanja, die russische Kinderfrau. Von ihr erfuhren die adeligen Kinder Zuneigung und liebevolles Miteinander. Die Kinderfrauen waren meist ehemals leibeigene Bäuerinnen, die zunächst als Ammen ins Haus kamen, dann aber meist blieben, bis ihre Zöglinge von Gouvernanten oder Hauslehrern übernommen wurden. So waren sie die ersten und zunächst wichtigsten Bezugspersonen, die in Krankheitsfällen gepflegt und getröstet, Märchen vorgelesen und Gebete gelehrt hatten. Die Eltern wurden eher als eine Art höhere Instanz gesehen, die Njanja dagegen verkörperte Trost und Zuneigung im Alltag. Viele Beschreibungen erinnern an die sagenhafte Njanja von Aleksandr Pusˇkin, die das Bild der Kinderfrau in Russland wesentlich geprägt hatte.349 Varvara Dolgorukova kam auf den ersten Seiten ihrer Erinnerungen auf ihre russische Kinderfrau, »une niania russe / l’.me simple«, zu sprechen. Diese prägte in ihr die Vorstellung, dass jeder Russe drei Väter hätte: Den Gott, den Zaren und den leiblichen Vater : »Cela m’impressionnait beaucoup et m’est toujours rest8 au fond du cœur.«350 Die Njanja hatte für Dolgorukova eine »natürliche Weisheit« (sagesse naturelle), obwohl sie eine einfache Bäuerin war. Irina Skarjatina beschrieb die »Liebeshierarchie« ihrer Kindheit und in ihrer Rangfolge kamen an erster Stelle die Njanja als zentrale Bezugsperson, dann der Hausdoktor und die deutsche Gouvernante, erst dann folgten die Eltern: »[Njanja] slept with me, washed me, dressed me, fed me, grumbled at me, punished me, sometimes (very rarely) caressed me, and loved me, as I instinctively knew, with a boundless, devoted, faithful love – that never changed from the day of my birth until the day of her death.«351

347 Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 15. Vgl. für das 19. Jahrhundert Tovrov, The Russian Noble Family, S. 148f. 348 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 21–33. 349 Vgl. A.I. Ul’janskij: Njanja Pusˇkina, St. Petersburg 2008 (1. Aufl. Leningrad 1940); Michail I. Sinel’nikov : Russkaja njanja, Moskau 2004. Zur Rolle der njanja in der russischen Adelsfamilie vgl. Barbara A. Engel: Mothers and Daughters. Family Patterns and the Female Intelligentsia, in: D.L. Ransel (Hg.): The Family in Imperial Russia. New Lines of Historical Research, Urbana/Ill. 1978, S. 44–59, hier S. 45f. 350 Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 17. 351 Skariätina, A World Can End, S. 7f.

Die adelige »glückliche Kindheit«

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Auch Nadezˇda Vonljarljarskaja gab zu, dass sie in ihrer Kindheit keinen so geliebt hätte wie ihre »Nannie.«352 Dass diese innige Beziehung auf Gegenseitigkeit beruhte, nahmen die meisten adeligen Autoren an. Bei Aleksandr Davydov findet sich eine farbige Beschreibung seiner Njanja Marija Matveevna, die mehrere Generationen der Familie Lieven erzogen hatte und eine besondere Stellung in der Familie einnahm. So wurde sie respektvoll beim Namen und Vatersnamen angesprochen, sie hatte ein eigenes Zimmer und sie genoss besondere Aufmerksamkeit und Gehorsam seitens ihrer Schützlinge. Sie wurde von Aleksandr Davydov als eine wichtige Institution in der Familie beschrieben, die sich durchaus auch Extravaganzen erlauben konnte: »Alle Interessen der Njanja waren mit unserer Familie verbunden und sie war ihr treu ergeben. Uns drei liebte sie wie die eigenen Söhne. Bei all ihrer Herzensgüte hatte sie dennoch einen schwierigen Charakter und unerklärliche Marotten. Wenn sie jemandem etwas übel nahm, stieg ihre rechte Augenbraue hoch, das Gesicht nahm einen tragischen Ausdruck an. Und nachdem sie ihre Unzufriedenheit geäußert hatte, schwieg und schmollte sie für zwei oder drei Wochen.«353

Die Njanja prägte auch die Religiosität der Kinder, was Aleksandr Davydov sehr positiv bewertete. Die Njanja lehrte die Kinder zu beten und Respekt vor den Traditionen der Orthodoxen Kirche zu haben, ohne dabei dogmatisch zu sein.354 Dabei waren es gerade die Kinderfrauen, die auch die russischen Volksmärchen, -lieder, -spiele und den tief verwurzelten Aberglauben vermittelten. Auf diese Weise verinnerlichten die Zöglinge beides – den orthodoxen Glauben und den bäuerlichen Aberglauben, z. B. waren die Deutung von Träumen, »schlechten Zeichen« und Wahrsagerei sehr weit verbreitet: »Peasant superstitions were also widely found among the aristocracy […]. The peasant nanny was without a doubt the main source of these superstitions, and such was her importance in the nobleman’s upbringing that they often loomed much larger in his consciousness than all the teachings of the Church.«355

Weitere Bezugspersonen, welche die Weltanschauung und Erziehung der Kinder prägten, waren die zahlreichen Gouvernanten und Hauslehrer. Meist kamen sie aus dem Ausland und wurden aufgrund ihrer Herkunft, Bildung und Funktion nicht zu der Dienerschaft gezählt.356 In der Regel haben sie die Kinder, bei Jungen im Alter von sieben Jahren, bei Mädchen oft etwas später, von der Njanja hin352 353 354 355 356

Vgl. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 15. Davydov, Vospominanija, S. 74. Vgl. ebd., S. 75. Orlando Figes: Natasha’s Dance. A Cultural History of Russia, New York 2002, S. 323f. Vgl. Angela Rustemeyer : Dienstboten in Petersburg und Moskau 1861–1917. Hintergrund, Alltag, soziale Rolle, Stuttgart 1996, S. 24.

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sichtlich der Erziehung übernommen.357 So wichtig dieser Einschnitt war, so wenig haben die einzelnen Erzieher einen bleibenden Eindruck hinterlassen und erscheinen »auswechselbar«: »Nous avions une quantit8 de gouvernantes. L’une, anglaise, avait toujours le spleen, l’autre, allemande, se querellait constamment avec la franÅaise.«358 Marianna Davydova konnte sich an insgesamt 25 Gouvernanten erinnern, die sich schnell abwechselten. Eine erinnerungswürdige Ausnahme bildete »Lady Charlotte«, die den Kindern Englisch und Französisch beibrachte (Abb. 1). Sie blieb aufgrund ihrer Erscheinung und Geduld besonders in Erinnerung, da sie einen Buckel hatte und die Kinder nicht bestrafte, wenn sie Fehler machten.359

Abb. 1: »Lady Charlotte distribue des r8compenses pour les reponses bien faites aux leÅons«360

357 Vgl. Tovrov, Noble Family, S. 156; allgemein zum Beruf der Gouvernante: Irene HardachPinke: Die Gouvernante. Geschichte eines Frauenberufs, Frankfurt/M. 1993. 358 Baschmakoff, M8moires, S. 22. Vgl. auch Harvey Pitcher : When Miss Emmie was in Russia. English Governesses Before, During and After the October Revolution, London 1977. Harvey untersucht die Erinnerungen von englischen Gouvernanten, die am Ende des Zarenreiches in Russland arbeiteten; allerdings fehlen im Buch die wissenschaftlichen Hinweise. 359 Davidoff, Auf dem Lande, S. 38. 360 Ebd., S. 39.

Die adelige »glückliche Kindheit«

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Ähnlich fiel die Bewertung der französischen Gouvernante der Brüder Davydov aus, die sie bis zu ihrem zehnten Geburtstag in französischer Sprache und allgemeinen Benimmregeln unterrichtet hatte, ohne sich allerdings in die Familie eingelebt zu haben: »Über Mademoiselle Fuke˙ ist nicht mehr viel in meiner Erinnerung geblieben. Sie war eine ganz gewöhnliche französische Gouvernante. Ihre Pflichten uns gegenüber erfüllte sie ehrlich, d. h. wir lernten schnell Französisch zu sprechen und uns anständig bei Tisch zu benehmen. Ich denke, dass sie, ähnlich Monsieur l’Abb8 bei ›Onegin‹ von Pusˇkin, uns ›nicht allzu sehr mit strenger Moral langweilte‹ und ›nachsichtig wegen der Streiche ausschimpfte‹.«361

Nach der französischen Gouvernante übernahm ein deutscher Hauslehrer aus dem Baltikum die Bildung der Jungen des Hauses Lieven. Nach der Beschreibung von Davydov war es der Mutter wichtig, dass ihre Söhne das »deutsche Ehrgefühl«, das sie beim Hauslehrer vermutete, verinnerlichten. Sie war davon überzeugt, dass bei den baltischen Deutschen noch »echte Rittertraditionen« bestanden, so dass die Absolventen der Universität Dorpat (Estland) dafür am besten in Frage kamen.362 Irina Skarjatina beschrieb ihre Kindheit als eine sehr behütete Zeit. Als sie mit zwölf Jahren an einen anderen Tagesrhythmus herangeführt wurde, da sie in St. Petersburg eine grundlegende Bildung erhalten sollte, war für Skarjatina die Kindheit ein Stück weit vorbei. Dafür lernte sie nach eigener Aussage zu denken, d. h. zu analysieren und ihre eigene Meinung zu bilden. Sie zitierte zum Beweis ihren Lehrer: »›Think! Before you answer. I don’t want you to learn things like a parrot and not know what you’re talking about! […] And learn to separate the essentials from the nonessentials and to think like a man, not like a woman.‹«363

Die Hauserziehung war für die meisten adeligen Familien die bevorzugte Form der Ausbildung der Kinder und insbesondere der Mädchen. Nadezˇda Vonljarljarskaja, geborene Nabokova, betonte, dass ihre Eltern der Meinung waren, dass für ein junges Mädchen aus gutem Hause die öffentliche Schule mit ihren sozial gemischten Klassen nicht akzeptabel war.364 Es kann davon ausgegangen werden, dass die Qualität des Unterrichts sowohl von der Aufgeschlossenheit der Eltern hinsichtlich der Bücher und anderer Unterrichtsmaterialien, als auch vom Engagement und den erzieherischen Fähigkeiten des Lehrers abhing. Vonljarljarskja schrieb in ihren Erinnerungen, dass sie sich an keine Verbote bei der 361 362 363 364

Davydov, Vospominanija, S. 75. Vgl. ebd., S. 85. Skariätina, A World Can End, S. 54. Vgl. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 22.

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Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Bücherwahl oder den Diskussionsthemen in der Familie Nabokov erinnern könne. Vielmehr wären gemeinsame Gespräche über vielfältige Themen erwünscht gewesen: »As we grew older, we were encouraged to take part in the heated arguments about politics, history, books, music, etc. […]. Papa hoped that we should learn to listen, as well as to talk, and to form our own opinions. He encouraged independence of thought. […] No restriction was placed in our home on what a girl might read.«365

Hier findet sich womöglich ein Hinweis darauf, dass in zahlreichen adeligen Familien eine Einschränkung bzw. Kontrolle über die Lektüre der Kinder stattfand. Dies war zumindest bei der Familie Lieven der Fall. Von der strengen Überwachung der Eltern über die Lektüre der Kinder und wie sie dennoch umgangen wurde, berichtete Davydov : »Unsere Lektüre wurde streng kontrolliert (ungeachtet dessen las ich früh Zola) und die Kontrolle funktionierte gut in Bezug auf die Literatur […], die als schädlich im religiösen und moralischen Sinn galt. Sogar Tolstoj, außer ›Krieg und Frieden‹, gab man uns nicht zu lesen, da er in dieser Zeit solch eine gefährliche Novelle wie ›Die Kreutzersonate‹ geschrieben hatte.«366

Aleksandr Davydov zählte in dieser Passage mehrere Konflikte zwischen Eltern und Kindern der damaligen Generation auf. Zum ersten gab er zu, dass er heimlich den Roman »Nana« von Zola las, obwohl die Eltern dies nicht erlaubten. Er diente ihm als »Aufklärung«, galt bei den Eltern aber als »schmutzig«. Dies hatte weitreichende Folgen, denn das bis dato gute Verhältnis zur Mutter änderte sich schlagartig, und sie war über seine »Sündhaftigkeit« (im Text: isporcˇennost’) verärgert.367 Zum zweiten gab der damalige Geschichtslehrer ihm und seinen Brüdern Bücher von Dmitrij N. Mamin-Sibirjak zu lesen, die auf strikte Ablehnung seitens seines Vaters stießen. Dabei wurde den Kindern nicht erklärt, warum die Ablehnung oder das Verbot ausgesprochen wurde; die Kinder hatten die Entscheidung der Eltern ohne Erklärung zu respektieren.368 Der Gehorsam gegenüber den Eltern wurde von Aleksandr Davydov als eine Art »Dienstpflicht« der Kinder gegenüber den Eltern beschrieben, die später ausgeweitet wurde auf die Lehrer, Vorgesetzten, letztlich auch auf den Zaren: »Die Autorität der Eltern musste bedingungslos anerkannt werden, ganz gleich wie veraltet oder ungerecht ihre Ansichten waren. Jede Regung von selbständiger Meinung seitens der Kinder, die gegen die Anschauungen der Eltern ging, wurde als amoralisch und schädlich angesehen, und wurde, je nach Charakter der Eltern, mehr oder weniger 365 366 367 368

Ebd., S. 32f. Davydov, Vospominanija, S. 90f. Alle Zitate ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 78.

Die adelige »glückliche Kindheit«

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streng bewertet. […] Die Eltern waren die Vorgesetzten ihrer Kinder und ihre Befehle mussten widerspruchslos befolgt werden.«369

Eine Gemeinsamkeit aller Autoren war demnach die Erfahrung einer durchaus strengen Erziehung. Sie wurde aber, wie bereits angedeutet, sehr unterschiedlich bewertet. Die Etikette und die Disziplin, die Kenntnis der sozialen Hierarchie, die Haltung gegenüber Vorgesetzten und Untergebenen, die Fähigkeit zum »Small talk« und die Kunst zu schweigen – das waren für die Autoren wichtige Elemente der Erziehung, zumindest in der Retrospektive. Die Etikette wurde verinnerlicht und die Autoren schrieben ihr eine wichtige Bedeutung zu – sie sicherte das zu jeder Zeit angemessene Verhalten und bewahrte vor Peinlichkeiten und Unsicherheiten. So wusste jeder Angehöriger der Gesellschaft, wie er jemanden zu grüßen hatte, welche Komplimente angebracht waren und auf welche Weise er mit dem anderen Geschlecht adäquat umzugehen hatte. Die Vermittlung dieser Fähigkeiten nahm Sergej Trubeckoj als überaus positiv wahr und beschrieb folgendermaßen die Atmosphäre während seiner Kindheit: »Streng geregelte Lebensweise, Harmonie und Bedächtigkeit in allem […].«370 So stellte er seine eigene Vorstellung von der glücklichen Kindheit dar, die er selbst erfahren hatte. Er räumte durchaus ein, dass diese Disziplinierung auf ein Kind zwar einschränkend wirkte, aber den nötigen erzieherischen Effekt hatte: »Nicht der Komfort, sondern Traditionen und ›Stil‹ regierten damals das Leben. Über dies alles lachen jetzt einige, verkennen aber völlig den erzieherischen Effekt der Disziplin, indem die äußere Form gewahrt wurde zuungunsten der persönlichen Bequemlichkeit.«371

Dennoch und vielleicht gerade deswegen verwendete Sergej Trubeckoj für seine Kindheit Adjektive wie »hell« (svetloe) und »außerordentlich glücklich« (cˇrezvycˇajno scˇastlivoe). Vor allem für die Mutter hegte er eine tiefe Dankbarkeit für die strenge Erziehung und Disziplin, die nach seinen Worten nicht hartherzig, sondern systematisch war. Die Klarheit über die soziale Zugehörigkeit und die eintrainierten Benimmregeln hätten sein ganzes Leben vereinfacht. Dennoch gab er in einem Nebensatz zu, dass »diese notwendige und vernünftige Disziplin« auch bedrückend für ein Kind war.372 Denn es war eine bis in alle Details reglementierte Kindheit, sowohl in der Schule, als auch zu Hause.373 Der Tagesablauf wurde minutiös mit als sinnvoll erachteten Beschäftigungen gefüllt. Dabei stattete der Autor vor allem seine Mutter mit überaus positiven At369 370 371 372 373

Ebd., S. 82. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 37. Ebd., S. 23. Vgl. alle Zitate ebd., S. 14. Vgl. zu der adeligen Ausbildung zu Hause und in Schuleinrichtungen: Zacharova, Svetskie ceremonialy v Rossii, S. 80–85.

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tributen aus: Sie habe eine undogmatische Religiosität, Demut, eine starke Disziplin und ein ausgeprägtes Pflichtgefühl besessen.374 Dagegen wurde der Vater durchaus ambivalent dargestellt: Einerseits habe er sich um seine Kinder gekümmert, ihnen vorgelesen und mit ihnen ernste Gespräche geführt. Sobald er aber in sein Arbeitszimmer ging, sei er zu einem fernen Wesen geworden, das mit einer »mystischen Aura« umgeben gewesen sei. Der Respekt der Kinder sei ins Unermessliche gewachsen und habe beinahe »religiöse Züge« angenommen. Diese Trennung zwischen einem Vater im Alltag und einem im Arbeitszimmer war Trubeckoj lebhaft in Erinnerung geblieben.375 Skarjatina verwies auf die Abwesenheit der Eltern vom Alltag der Kinder. Dies verstärkte offenbar die besondere Verehrung bzw. eine gewisse Furcht vor den Eltern. So erschien die Mutter bei ihr als ein Wesen aus einem Märchenbuch, wohingegen der Vater zwar idealisiert, aber auch gefürchtet wurde: »Of course I love my parents, but in a totally different way. Whereas Nana, Doca and Schellie were part of my everyday life, my Mother and Father were more like visitors from another mysterious, glorified world.«376 Die Ikonisierung der Eltern findet sich auch bei Varvara Dolgorukova: »Oui, mon enfance fut belle. La vie 8tait faite pour moi de lumiHre. Jamais aucune querelle ne venait rompre l’harmonie qui r8gnait entre mes parents. Les domestiques voyaient passer les ann8es en paix dans notre maison. Ma famille vivait simplement, sans luxe et nous, enfants, 8tions 8lev8s avec quelque s8v8rit8.«377

Die erwähnte Strenge sollte bewirken, dass die Kinder ein für das Leben wichtiges »Rückgrat« (8pine dorsale) entwickelten.378 Sie betonte an mehreren Stellen die Einfachheit des Lebens (im Sinne einer Abwesenheit von unnötigem Luxus) und die Strenge der Erziehung im Hause ihrer Eltern: »f la maison, r8gnait une discipline s8vHre. On nous inculquait le sens du devoir, dont mon pHre 8tait l’exemple vivant. Nous n’8tions pas g.t8s comme le sont souvent les enfants d’aujourd’hui, mÞme les enfants de parents modestes.«379

Varvara Dolgorukova und Sergej Trubeckoj waren ihren Eltern für die Strenge und Disziplin dankbar, dagegen empfand Aleksandr Davydov diese Erziehung als erdrückend und eher negativ. Seine kritische Sicht auf manche Aspekte adeliger Erziehung betrafen vor allem die Tabuthemen Sexualität und freie Persönlichkeitsentwicklung, ferner die Vermittlung von Religiosität. Die Reli374 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 33. Vgl. die Ähnlichkeit des Mutterbildes bei Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 16. 375 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 16. 376 Skariätina, A World Can End, S. 8. 377 Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 20. 378 Ebd., S. 62. 379 Ebd., S. 88.

Die adelige »glückliche Kindheit«

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gion war für ihn zwar ein fester und akzeptierter Bestandteil des Alltaglebens in Form von Beachtung der Gebote und Feiertage. Aleksandr Davydov störte sich aber an der strengen »Erziehung zur Gottesfurcht« (im Text: vospitanie v strache Bozˇiem). Das Gottesbild der Kinder sei entscheidend durch die Erfahrungen mit dieser Erziehung geprägt worden. Aleksandr Davydov empfand es als einschränkend und einengend, dass die Religiosität und die auf ihr aufbauende Moral nicht erklärt, sondern von oben »anerzogen« wurden. Mögliche Fragen oder Überlegungen der Kinder wurden als negativ bewertet, da sie als potentielle Glaubenserschütterung wahrgenommen wurden.380 Bei Aleksandr Davydov rief die autoritäre Religions- und Moralerziehung Widerspruch hervor, die er als »eine Opposition gegen die Autorität der Mutter« bezeichnete. Sein Verhältnis zu ihr beschrieb er als einen »jahrelangen Kampf zweier willensstarker Naturelle, von denen das eine für ihre Macht, das andere für seine Unabhängigkeit kämpfte.«381 Diesen Kampf habe er gewonnen. In der Retrospektive bewertete Davydov seine Mutter milder. Er schrieb versöhnlich, dass seine Mutter nur mit besten Absichten und konform mit den damaligen Erziehungsmethoden gehandelt habe: »Heute begreife ich, dass diese Opposition weniger gegen meine Mutter gerichtet war, […], sondern gegen das Erziehungssystem, das sie bei mir anwandte. […] Wie viele schwere Erschütterungen musste ich durchleben und wieviel kostbare Zeit wurde verwendet auf den Kampf gegen den liebsten und mich liebenden Menschen – meine Mutter.«382

Aleksandr Davydov betonte an weiteren Stellen seiner Autobiographie, dass er diesen Kampf, den er auch bei anderen Familien dieser Zeit vermutete, nicht als Mangel an Liebe seitens der Eltern wertete. Er sei der festen Meinung gewesen, dass je mehr die Eltern ihre Kinder liebten, desto strikter wurden die autoritären Erziehungsmethoden angewandt. Das sei immer in der Annahme geschehen, das Beste für ihre Nachkommen zu tun sowie den anerkannten gesellschaftlichen Normen zu genügen. Dies implizierte auch körperliche Strafen, an die sich Aleksandr Davydov lebhaft erinnerte und die er als demütigend empfand.383 Die autoritäre Erziehung der Eltern wurde von adeligen Frauen nicht so offen geschildert oder möglicherweise nicht als solche erlebt. Varvara Dolgorukova bemerkte in ihren Erinnerungen an einer Stelle, dass sie »/ l’anglaise« erzogen worden sei, reserviert und mit »unnötigem Schamgefühl«.384 In Erinnerungstexten von Frauen, die aus eher liberal gesinnten Familien kamen, wurden die 380 381 382 383 384

Vgl. Davydov, Vospominanija, S. 81. Ebd., S. 85. Ebd. Vgl. ebd., S. 84. Vgl. Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 63.

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Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Erziehungsmethoden eher positiv bewertet. Irina Skarjatina und Nadezˇda Vonljarljarskaja merkten an, dass in ihrer Kindheit die Eltern bzw. die Lehrer versuchten, aus ihnen eine »denkende Person« zu machen und ihnen nicht nur repräsentative Fähigkeiten zu vermitteln, wie es sonst üblich war. Die Fächerauswahl war nach ihren Erinnerungen groß – Literatur, Geschichte, Mathematik, außerdem bekamen sie eine Klavierausbildung. Irina Skarjatina schien diese Art der Erziehung auch positiv zu bewerten, obwohl sie das Ende der Kindheit bedeutete. Umso mehr genoss sie die Sommerzeit in Troickoe, denn dort klang ihre Kindheit nach – sie erwähnte die reichhaltigen Mahlzeiten, viel Zeit zum Lesen, Reiten, Spielen, Erholen.385 Für Marija Basˇmakova endete die erste Kindheitsphase mit dem Beginn der schulischen Ausbildung mit elf Jahren, als sie zusammen mit ihrer Schwester im St.-Katharinen Institut in Petersburg aufgenommen wurde. Die Erziehung im Institut sollte auf das Leben in der Gesellschaft vorbereiten: »On disait que nous n’8tions pas pr8par8es pour la vie. Je pense, quant / moi, que l’Institut m’a beaucoup donn8: un caractHre ferme, de la pers8v8rance, un courage / toute 8preuve et une jolie provision de patience.«386

Diese Beschreibung deckt sich mit den Zielen der Institutserziehung für Mädchen im 19. Jahrhundert. Es wurde großer Wert auf die Vermittlung von Religion, Moral sowie guten Umgangsformen gelegt. Darüber hinaus sollte den Mädchen Disziplin, Gehorsam, Pflichterfüllung und Geduld anerzogen werden.387 Daneben lag der Schwerpunkt auf der Entwicklung von »weiblichen« Fertigkeiten wie Zeichnen, Malen und Musizieren.388 Diese Fertigkeiten waren nicht nur ein standesgemäßer Zeitvertreib, sondern eine anerkannte Norm. Darüber hinaus konnten Mädchen, die gut sangen, zeichneten und musizierten, in der Gesellschaft glänzen und auf dem »Heiratsmarkt« bessere Chancen haben.389 Für Aleksandr Davydov lagen die Vorteile einer Schulausbildung in anderen Bereichen, wobei auch er die Zeit am Gymnasium als »sehr wertvoll und nützlich« bezeichnete. Dabei seien für ihn nicht die reine Wissensvermittlung, sondern die Erfahrungen mit Kindern aus anderen sozialen Schichten prägend gewesen:

Vgl. Skariätina, A World Can End, S. 57. Baschmakoff, M8moires, S. 40. Vgl. Engel, Mothers and Daughters, S. 24ff. Vgl. Christine Johanson: Women’s Struggle for Higher Education in Russia, 1855–1900, Kingston/Montreal 1987, S. 3ff. 389 Für den deutschen Adel vgl. Christa Diemel: Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert: Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen 1800–1870, Frankfurt/M. 1998, S. 26ff.

385 386 387 388

Die adelige »glückliche Kindheit«

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»Ich kam in diese Umgebung aus einem fremden, da höheren Gesellschaftskreis, in welchem meine Mutter einen sehr großen Einfluss besaß. […] Das Gepäck des Wissens, dass ich aus dem Gymnasium mitgenommen habe, war nicht schwer. Wir lernten ›irgendwie und irgendwas‹, aber ich persönlich sammelte dort meine ersten Lebenserfahrungen und traf auf ein mir fremdes Milieu, was mir das Leben während der Epoche der schweren Erschütterungen und Umwertungen sehr erleichterte.«390

In den Erinnerungstexten der Autorinnen wurde häufig thematisiert, wann der endgültige Abschied von der Kindheit erfolgte. Für die adeligen Frauen kam der Eintritt ins Erwachsenenleben mit 16 Jahren. Irina Skarjatina merkte an, dass sie in diesem Alter als eine junge Dame betrachtet wurde, die in die Gesellschaft eingeführt werden sollte. Ein Ball markierte den Übergang in die Welt der Erwachsenen und damit den Beginn eines neuen Lebensabschnitts, denn nun galt sie als heiratsfähig. Die jungen Damen verließen nun die private Sphäre des Elternhauses und besuchten Theater, Bälle und D%ners sowie die obligatorischen Wohltätigkeitsveranstaltungen. Eine besondere Erwähnung in den Erinnerungstexten verdienten der erste Ball und die Bildungsreisen ins Ausland.391 Varvara Dolgorukova unternahm ihre erste ausgedehnte Reisen mit 17 Jahren unter anderem nach Florenz, Paris und Versailles. Dort lernte sie die wichtigsten Werke der Malerei kennen, bewunderte die westeuropäische Kultur, ließ sich außerdem bei einem der großen französischen Schneider ihre ersten Ballkleider schneidern, die sie als ihre »Eintrittsgarderobe in die Welt« bezeichnete.392 Im ersten Balljahr im Jahre 1902 absolvierte sie 21 Bälle, davon sechs am Hof.393 Gerade der erste Ball hinterließ bei den Autorinnen offenbar einen bleibenden Eindruck, so werden bei Vera Golicyna ausführlich alle Einzelheiten aufgeführt: die seltenen Pflanzen, das exotische Essen, das Lichtermeer aus Tausenden Kerzen, die ausgefallenen Kleider und unzähligen Schmuckstücke der Damen: »[…] on se croyait brusquement transport8, en franchissant le seuil, dans un monde de contes de f8es.«394 Die Beobachtung, dass adelige Erinnerungstexte die Zeit der Kindheit als eine außerordentlich glückliche und prägende Zeit darstellen, trifft auf die meisten untersuchten Texte zu. Der bereits bestehende Code der adeligen »glücklichen Kindheit« aus dem 19. Jahrhundert wurde mit einigen Veränderungen übernommen. Er bezeichnete eine bestimmte – durchaus strenge – Erziehungsnorm; durch sie gewann der Adelige bestimmte »positive Lebensprinzipien«, die alle Autoren als wertvoll erachteten und welche über die Identitätskrisen im Exil hinweghalfen. 390 391 392 393 394

Davydov, Vospominanija, S. 122. Vgl. zum Debüt von adeligen Frauen bei Diemel, Adelige Frauen, S. 43ff. Vgl. Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 64. Vgl. ebd. Galitzine, R8miniscences, S. 73.

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Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Das Adelsnest – dvorjanskoe gnezdo

Eng mit der Vorstellung der »glücklichen Kindheit« verknüpft war das Landleben der Adeligen, insbesondere im »Adelsnest« der Familie. »Fröhlicher Lärm des dörflichen Familienlebens«395 – das ist in nuce die Beschreibung des Adelsnestes »Kamenka« von Aleksandr Davydov. Eine Verwandte von ihm, Marianna Davydova, fertigte zahlreiche Zeichnungen und Aquarellbilder davon an. Diese wurden von Aleksandr Davydovs Tochter, Olga Davydoff Dax, veröffentlicht.396

Abb. 2: »Picknick im Wald: Lew liegt mir zu Füßen«397

In Kamenka konnten die Kinder wie die Erwachsenen nicht nur ihre Zeit freier gestalten, sondern auch die Natur erleben und in Kontakt mit den Bauern treten, worauf Sergej Obolenskij in seinen Erinnerungen einging: »Our friends were the sons of the villagers. They grew up as I was growing up. […] We cooked our meals outdoors and looked after the horses. The country boys had to work, so we worked too.«398 395 Davydov, Vospominanija, S. 13. 396 Vgl. Davidoff, Auf dem Lande, S. 61–125. Einige Zeichnungen von Marianna Davydova sind bei Priscilla Roosevelt abgedruckt, vgl. dies., Life on the Russian Country Estate, S. 50, 116, 167, 197, 270, 276ff. 397 Davidoff, Auf dem Lande, S. 49. 398 Obolensky, One Man in His Time, S. 39.

Das Adelsnest – dvorjanskoe gnezdo

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Diese sommerlichen Landaufenthalte bedeuteten für den Autor das einfache Glück und die Harmonie mit der bäuerlichen Welt. Sergej Obolenskij beschrieb das Landleben in seiner Kindheit als die Quintessenz des russischen Lebens überhaupt. Er habe einen engen Kontakt zu den Bauernjungen knüpfen können, die ihn »Serge« nannten und nicht »Eure Exzellenz«. Er habe sich glücklich und frei gefühlt: »Out in those great woods and rolling fields there were no absurdities, and if there are moments in men’s lives that can be remembered as sheer peace, this was one of mine. We sat round the pastookh’s fire and listened to the old men reminisce [sic].«399

In allen Erinnerungstexten spielt das »Adelsnest« (dvorjanskoe gnezdo), auch Familiensitz (rodovoe imenie), Familiennest (rodovoe gnezdo) oder einfach Gutshaus (usad’ba) genannt, eine große Rolle. Der Bau von großen Gutshäusern mit entsprechenden Anlagen, die als »Adelsnester« dienten, begann verstärkt unter Katharina II. und setzte sich bis ins 19. Jahrhundert fort.400 Kulturgeschichtliche Studien haben das »Adelsnest« als »künstlerisches Ensemble«, als »Lebensraum« und als »Kulturzentrum in der russischen Provinz« thematisiert.401 Der Mythos »Adelsnest« wurde nicht zuletzt durch die russische klassische Literatur begründet.402 Die prominentesten Beispiele sind die Romane »Dvorjanskoe gnezdo« (Das Adelsnest) von Ivan Turgenev und »Oblomov« von Ivan Goncˇarov, die rege gesellschaftliche Diskussionen und Debatten ausgelöst haben.403 Es ist anzunehmen, dass die adeligen Autoren diese Romane gekannt haben. Die Roman-Adelsnester haben dazu beigetragen, dass das eigene, reale »Adelsnest« in den Erinnerungstexten eine starke geistige, über den Wohnraum hinausgehende Funktion erhielt. In der Erinnerung wurde es zum nie mehr erreichbaren Lebensideal und zum geistigen Schutzraum.404 Der Verlust des 399 Ebd., S. 40. 400 Vgl. Gary M. Hamburg: Politics of the Russian Nobility, 1881–1905, New Yersey 1984, S. 12. 401 Vgl. Gudrun Goes: Adelsnest (dvorjanskoe gnezdo). Begriff, Mythos und Symbol, in: Thiergen (Hg.), Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit, S. 105–126, hier S. 105. Vgl. zum »Theater auf dem Land« bei Roosevelt, Life on the Russian Country Estate, S. 130ff.; über das russische Gutshaus (usad’ba) vgl. Ljudmila V. Ivanova (Hg.): Mir russkoj usad’by. Ocˇerki, Moskau 1995; dies. (Hg.), Dvorjanskaja i kupecˇeskaja sel’skaja usad’ba. 402 Zum Mythos »Adelsnest« in der russischen klassischen Literatur, vor allem aber bei Ivan Turgenev und Ivan Goncˇarov, vgl. V. Sˇcˇukin: Mif dvorjanskogo gnezda. Geokul’turologicˇeskoe issledovanie po russkoj klassicˇeskoj literature, Krakau 1997. 403 Die beiden Romane erschienen fast zeitgleich im Jahre 1859. Vgl. Peter Thiergen: Ivan Turgenev : Das Adelsnest, in: Zelinsky (Hg.), Der russische Roman, S. 164–185; Herlth, Ivan Goncˇarov : Oblomov, in: Zelinsky (Hg.), Der russische Roman, S. 139. 404 Vgl. das Unterkapitel »Adelsnester – ein langer Abschied« bei Hildermeier, Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, S. 1283f. Eine spannende Studie von Svetlana Boym untersucht u. a. Vladimir Nabokovs Verarbeitung und Nutzung der Nost-

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»Adelsnestes« schmerzte alle Autoren; viele fühlten sich in der Emigration »ohne Nest«, also schutz- und heimatlos.405 Diese existentielle Unbehaustheit durchzieht alle autobiographischen Texte. Für alle Autoren war das Adelsnest mit der »alten« Lebensweise, d. h. mit der Epoche der Leibeigenschaft, verbunden. Die »Moderne«, was immer die Autoren darunter verstanden, vertrug sich mit dem Ideal des Adelsnestes oftmals nicht: »Vieles, was zerstört wurde, wird wiederaufgebaut werden, aber niemals wird diejenige russische vorrevolutionäre Gutsherren-Lebensweise auferstehen, die die Überreste der Leibeigenschaft darstellte und sich mit den Bedingungen der Moderne nicht organisch verbinden konnte.«406

Boris Vasil’cˇikov benannte das Familiengut »Lopasnja« (im Gouvernement Moskau) als eines der Familiennester. Bei den Ausführungen verwies er auf die Verbundenheit der Familiengenerationen mit diesem Adelsnest. Für ihn bestand die Wertigkeit des Besitzes in der Übergabe an die nächste Generation, in der organischen Verbindung zwischen den verschiedenen Generationen, die die Projekte, Haus und Hof betreffend, vervollständigten und ständig verbesserten: »Der Wert und Sinn unseres Besitzes bestand in der Erbfolge, in der organischen Verbindung der Unternehmungen bezüglich der Perfektionierung des Landsitzes und der Landwirtschaft; ist diese Erbfolge einmal zerstört, die Verbindung unterbrochen – dann vermag keine ›Restauration‹ diese Werte wiederherzustellen.«407

Boris Vasil’cˇikov nannte ein weiteres Adelsnest der Familie – das Familiengut »Vybiti« im Novgoroder Gebiet. Dies schien für ihn derjenige Platz auf Erden zu sein, an dem vier Generationen seiner Familie sich tatsächlich »zu Hause« gefühlt hatten.408 Den Alltag beschrieb er aus seinem eigenen Erleben heraus, vermischt mit Erinnerungen und Erzählungen anderer Familienmitglieder. Besondere Beachtung fanden die Jagdtraditionen der Familie, die bis zur Revolution unverändert fortbestanden hatten, außerdem ging er auf die Theateraufführungen, die Orangerie und das »zahlreiche Gesinde« ein.409 Aleksandr Naumov beschrieb das Leben auf dem Familiengut Golovkino bis zum Jahre 1902 als ungetrübt, als ein Paradies auf Erden, wo die Tiere keine Angst vor den Menschen hatten und die Natur unberührt und reich gewesen war :

405 406 407 408 409

algie in seinen Romanen. Vgl. Svetlana Boym: The Future of Nostalgia, New York 2001, insb. S. 250–283. Ich danke Frithjof Benjamin Schenk für diesen Hinweis. Zum Adelsnest und seiner Verwendung in der russischen Literatur vgl. Susanne Frank: Orte und Räume der russischen Kultur, in: Die Welt der Slaven XLV, 2000, S. 103–132. Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 57. Ebd., S. 23f. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd.

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»In der von mir beschriebenen Zeit lebten wir alle ›bei uns‹, in unseren Adelsnestern, das Leben verlief gemessen, großzügig, auf Gutsherren-Art im besten Sinne des Wortes.«410

Die Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war für Aleksandr Naumov mit dem Adjektiv »gutsherrschaftlich« (pomesˇcˇicˇ’e) bedacht, zu welchem folgende Inhalte gehörten: Die Empfänge mit zahlreichen Gästen, die Jagd, die Ausflüge in die Natur mit Picknicks, die Hauskonzerte und Theateraufführungen: »In all diesem zeigten sich noch die Großzügigkeit und Lebensart des Barin [Gutsherr, J.H.] der früheren Gutsherren-Zeiten.«411 »Barstvo« wurde hier positiv gebraucht, um die Lebensweise und die privilegierte Stellung der Gutsherren zu umschreiben.412 Aleksandr Davydov nannte dies den »Zauber des alten Lebens nach Gutsherren-Art«, zu dem er die Jagd mit der Hundemeute, das Ausreiten mit den Pferden, zudem fröhliche Abende mit Familie und Freunden zählte.413 Sergej Trubeckojs Charakterisierung der Ära der Adelsnester ging in die gleiche Richtung. Nach seinem Verständnis hätte nur der Adel diese Kultur weiterführen können: »Ich liebe unsere altwürdigen Anwesen und Landsitze – die Wiege unserer verfeinerten ›Adelskultur‹. Zwar sagt mir mein Verstand, dass ich zum Nutzen für Russland anstelle der untergehenden Anwesen die wohlhabenden Bauern unterstützen sollte, die aber doch nicht in der Lage wären, diese Kultur zu verstehen oder gar fortzuführen!«414

Einen festen Platz in dieser Adelskultur nahm die Beschreibung der Jagd ein, ganz in der Tradition der »Jagderzählung« (ochotnicˇij rasskaz). Das berühmteste Beispiel und vielleicht auch Vorbild waren Ivan S. Turgenevs »Aufzeichnungen eines Jägers« (Zapiski ochotnika).415 Die Ausführlichkeit der Beschreibungen in den Erinnerungenstexten verweist auf die Bedeutung der Jagd für die Autoren, die auf die Ritual-, Regel- und Terminologiekenntnisse eingingen: »Sie [die Hetzjagd, J.H.] vereinigt in sich bestimmte Regeln, Bräuche und Traditionen, die gemeinsam mit spezieller Terminologie eine gesonderte Erscheinung darstellt, dabei eine recht konservative, die nicht zu Veränderungen im Laufe der Zeit neigt.«416 410 Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 1, S. 316. 411 Ebd., S. 19. 412 Die negative Konnotation bekam das Wort »barstvo« erst später und stand in Verbindung mit »Verweichlichung« (iznezˇennost’), Müßiggang (prazdnost’) oder auch Hochmut (vysokomerie). Vgl. S.I. Ozˇegov/N.Ju. Sˇvedova: Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka, 4. Aufl., Moskau 1999, S. 37. 413 Vgl. Davydov, Vospominanija, S. 130. Vgl. zum Thema Jagd in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts: Ingolf Natmessnig (Hg.): Russland: Erzählungen rund um die Jagd – vom Zarenreich bis zur Gegenwart, Wien 2007; ders. (Hg.): Ochota. Russische Jagdgeschichten, Wien 2009. 414 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 80. 415 Vgl. literarische Beispiele aus dieser Gattung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Margarita M. Odesskaja (Hg.): Russkij ochotnicˇij rasskaz, Moskau 1991. 416 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 58.

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So widmete Boris Vasil’cˇikov rund 30 Seiten seiner Erinnerungen den ausführlichen Jagdbeschreibungen samt dazugehöriger Fachtermini, die der Herausgeber, der Neffe des Autoren Georgij I. Vasil’cˇikov, übersetzt hat.417 Er beschrieb sich selbst als einen leidenschaftlichen, aber auch verantwortungsbewussten Jäger. Er habe sogar einige Verwunderung in der Gesellschaft anderer Adeliger verursacht, als er bestimmte Speisen ablehnte, weil sie aus Vögeln, die Schonzeit hatten, zubereitet waren. Dagegen seien nach seiner Aussage die Bauern nicht so gewissenhaft gewesen – sie hätten auch während der Schonzeit gejagt und damit verantwortungslos gehandelt.418 Aleksandr Davydov erwähnte zwei Adelsnester, welche die Familie jedes Jahr von Mai bis in den Herbst aufgesucht hatte. Das erste war das Adelsnest der Familie Lieven in Kurland, das Schloss »Bliden« (Groß-Blieden, nördlich der Eisenbahnlinie zwischen Mitau und Libau).419 Das zweite war das Adelsnest der Familie Davydov, das Gut »Kamenka« (im Kiever Gouvernement). Dieser Ort schien für Aleksandr Davydov außerordentlich wichtig zu sein; ihm widmete er das erste Kapitel seiner Erinnerungen: »Es schien, dass Kamenka sich durch nichts von anderen Dörfern und Ortschaften in der Ukraine unterschied. Aber das Schicksal wollte es, dass ihr Name nicht nur in die Geschichte des Kampfes des ukrainischen Kosakentums gegen die Polen, sondern auch in die Geschichte Russlands und in die russische Kultur eingeht und jedem gebildeten russischen Menschen bekannt wird.«420

Davydov ging ausführlich auf die Bedeutung von Kamenka ein. Dieser Ort war Anfang des 19. Jahrhunderts ein Treffpunkt des »Südbundes« der Dekabristen. Zu Gast waren u. a. Graf Pavel I. Pestel’, Sergej I. Murav’ev-Apostol sowie Michail P. Bestuzˇev-Rjumin und als berühmtester Besucher Aleksandr S. Pusˇkin. Später ˇ ajkovskij zu Besuch, da seine Schwester Aleksandra mit war dort auch Petr I. C Lev Vasil’evicˇ Davydov, einem Onkel des Autors, verheiratet war. Aleksandr Davydov berichtete detailliert von diesen »zwei Genies der russischen Kultur«,421 die er allerdings mehr aus Erzählungen anderer kannte. Dennoch betonte er, dass er die Atmosphäre der damaligen Zeit nicht nur kannte, sondern »erfühlen« und die Begebenheiten deshalb so lebendig vermitteln konnte.422 Ein weiteres Adelsnest der Familie Davydov lag in der Nähe von Kamenka, »Jurcˇicha«. Mit diesem Ort verband der Autor zahlreiche persönliche Erinnerungen der Kind417 Vgl. ebd., S. 52–84; zu Borzoj-Jagd bei Obolensky, One Man in His Time, S. 76f.; Jagdbeschreibungen bei Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 58ff. Vgl. auch Aleksej Kamernickij: Ochota s sobakami na Rusi: X–XX vv., Moskau 2006. 418 Vgl. Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 52f. 419 Vgl. Davydov, Vospominanija, S. 97. 420 Ebd., S. 10. 421 Ebd., S. 26. 422 Vgl. ebd., S. 28.

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heit und Jugend. Dort begann seine bewusste und kritische Auseinandersetzung mit dem familiären, aber auch bäuerlichen Umfeld. Die adeligen Autorinnen teilten diese Idealisierung der »Adelsnester«. Zum Beispiel beschrieb Lidija Vasil’cˇikova das Gut ihres Vaters »Lotarevo« (Gouvernement Tambov) als ein Paradies: der Park, die Blumen, das Vieh, die Felder und die Pferde seien vorbildlich gewesen.423 Marija Basˇmakova verbrachte ihre ersten sieben Lebensjahre auf dem Gut der Mutter, »Bogdanovka«. Alles sei mit Sinn und Verstand sowie mit erlesenem Geschmack eingerichtet gewesen. Für die Leser ergänzte sie, dass man das Anwesen auch »ch.teau« nennen könnte.424 Irina Skarjatina benannte »Troickoe« als das »Adelsnest«, das genau 300 Jahre – von 1617 bis 1917 – im Besitz der Familie gewesen war. Das Haus wurde detailliert beschrieben und mit zwei Fotos belegt. Das im Empirestil errichtete Gebäude war mit einhundert Zimmern inklusive einem Ball- und Empfangszimmer großzügig geschnitten. Dazu gehörten ein großer Wirtschaftsteil, diverse Blumengärten und ein weitläufiger Park. Das Adelsnest Troickoe habe bis auf wenige Ausnahmen autark gewirtschaftet: »The place was entirely self-supporting and self-sufficing – in every branch of life as only such products as sugar, caviar and similar things that could not possibly be produced at home, were imported. […] Great-grandfather also had a splendid collection of books, and his library, consisting of truly rare editions, was one of the best of his time. Loving all that was beautiful in life and knowing how to live, he surrounded himself with every conceivable luxury and comfort known in those days and the fame of Troitskoe [sic] spread far and wide.«425

Damit war »Troickoe« für Skarjatina das Ideal eines gut geordneten, selbstgenügsamen Mikrokosmos. Der Vater kümmerte sich demnach um die Landwirtschaftsfragen, um die Pferde, Hunde, Jagdpartien; er liebte das Reiten, Automobilfahren, seinen Kirchenchor und das Fotografieren. Die Mutter war mit den zahlreichen Wohltätigkeitsveranstaltungen, der Gestaltung der Blumengärten sowie der Hausführung beschäftigt.426 Ganz ähnlich schilderte es auch Varvara Dolgorukova, die ausführlich von der regelrechten Leidenschaft des Vaters für die Modernisierung des Gutes mit allerlei technischen Neuerungen wie Erntemaschinen, moderner Mühle etc. berichtete.427 Sie wurde dabei von klein auf in die Wirtschaft des Gutes einbezogen, so bepflanzte sie einen eigenen Bereich im Garten, außerdem half sie bei der Marmeladenherstellung und bei der Viehfütterung. 423 424 425 426 427

Vgl. Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 70. Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 25. Skariätina, A World Can End, S. 28f. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 31–33.

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Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Für Marija Barjatinskaja war das Adelsnest »Mar’ino« im Dorf Ivanovskoe im Kursker Gouvernement nicht nur persönlich ein Zufluchtsort, sondern der Inbegriff der Zivilisation inmitten einer als trostlos empfundenen Gegend: »Recht eintönig, wenn nicht gar monoton, war diese russische ländliche Gegend, und wir waren regelrecht überwältigt, als in unserem Blickfeld ein wunderschönes Schloss erschien, umgeben von einem weitläufigen Park, und plötzlich gelangten wir in den Wirkkreis hochentwickelter Zivilisation.«428

Diese Erinnerungen verdeutlichen, dass das Adelsnest nicht nur ein materieller Ort zum Leben und Sterben war, sondern auch eine symbolische Bedeutung innehatte – die glückliche Kindheit mit ihren Freiräumen war ebenso darin impliziert wie auch die Vereinigung mit der Familie als Ganzes und der Kontakt zur Landbevölkerung. Der Verlust des Adelsnestes wog für die Autoren schwer ; Boris Vasil’cˇikov bezeichnete die »revolutionäre Inbesitznahme« der Adelsnester wie »Vybiti, Dikan’ka, Dugino, Lotarevo, Trubetcˇina« als einen »Raub der uns heiligen Schätze« und als »etwas unvergleichlich tief Tragisches, was nicht wieder gut zu machen ist.«429 Beide Motive – die »goldene Zeit der Kindheit« und das »Adelsnest« – erfüllten die Funktion, einen starken Kontrast zu der dunklen und bedrohlichen Revolutionszeit zu bilden und erzählerisch-bildlich zu verstärken. Die Beschreibung des »verlorenen Paradieses« kann auf die Erkenntnis der Autoren hinweisen, dass die alte Welt unwiederbringlich verloren war. So hatte die Nostalgie sicher einen großen Anteil am Entstehen dieser Bilder, sie trieb aber auch zur Selbstreflexion und schließlich zum Schreiben an.430

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In den Autobiographien erfahren die Figur des Bauern (krest’janin, muzˇik) sowie die Vorstellung über das »Volk« (narod) große Aufmerksamkeit.431 Dabei lassen sich die Aussagen bei den adeligen Frauen und den adeligen Männern 428 Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 203f. 429 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 23f. 430 Anregende Ansätze dazu vgl. Arianne Baggermann/Rudolf Dekker/Michael Mascuch: Einleitung, in: dies. (Hg.): Controlling Time and Shaping the Self. Developments in Autobiographical Writing since the Sixteenth Century, Leiden/Boston 2011, S. 1–10. 431 Eine Gegenüberstellung mit den bäuerlichen Narrativen könnte weitere Forschungsergebnisse bringen, vgl. Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Bielefeld 2013; zum Geschichtsverständnis russischer Bauern im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts: A.V. Buganov : Licˇnosti i sobytija istorii v massovom soznanii russkich krest’jan XIX – nacˇala XX v.: istoriko-e˙tnograficˇeskoe issledovanie, Moskau 2013; zur bäuerlichen Sicht auf die Stadt vgl. Barbara A. Engel: Russian Peasant Views of City Life, 1861–1914, in: Russian Review 52, 1993, S. 445–459.

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durchaus unterscheiden. Die Beschreibungen der Landbevölkerung sind bei den Autorinnen oft schematisch und wenig differenziert, so z. B. bei Nadezˇda Vonljarljarskaja: »Our peasants, the emancipated serfs, living in their own houses, working their own land and generally owning small tables, barns and orchards, seemed to be quite happy in their lives.«432

Varvara Dolgorukova entwarf ebenfalls ein klischeehaftes Bild des einfachen Bauern, der fest mit dem ländlichen Leben und der Natur Russlands verbunden war : »[L]e paysan russe 8tait un homme trHs fort. Comme tous les paysans du monde, peutÞtre. Sa force, il la tenait de la terre labour8e, du soleil, du vent, de l’eau, de sa nourriture simple, de la foi qu’il avait au cœur, des difficult8s vaincues tout au long sa vie, de l’8nergie montant de la terre. Cette force que l’homme comprend mieux il l’a perdue, quand il se retrouve dans la cit8 contamin8e par les foules et attrist8e par l’absence de la nature.«433

Das mag zum Teil an der Tatsache liegen, dass sie nur wenig Kontakt zur einfachen Bevölkerung hatten und diesen meist nur über Mittler wie etwa den Gutsoder Hausverwalter pflegten. Die einfachen Bauern waren in ihren Schilderungen idealisiert, bis zu dem Zeitpunkt, als diese »friedlichen, einfachen Leute« aufbegehrten. Zu der Erzählstruktur vom »glücklichen Bauern« um die Jahrhundertwende gesellt sich gern die von den »guten Herren«. So schrieb Marija Barjatinskaja über die Familie ihres Mannes: »Die Eltern meines Mannes bauten Schulen für die Bauern auf ihren Besitzungen, eröffneten Krankenhäuser und Kindergärten, wohin die Arbeiterinnen ihre Kinder abgeben konnten.«434

Die männlichen Autoren dagegen schrieben ausführlicher und tiefgehender über ihre Beziehung zu den Bauern und der Landbevölkerung. Dies hing zum Teil mit der Lebenswirklichkeit von adeligen Frauen und Männern zusammen. Die Frauen hatten ihre Aufgaben, wie die Haushaltsführung oder die Kinderbetreuung, vornehmlich im Haus. Die Männer waren oftmals mit der Führung des Familiengutes betraut und hatten mehr Kontakt zu den Bauern, ja Verantwortung für »ihre« Bauern. Auch bei ihnen findet sich das Narrativ der »fried-

432 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 65. 433 Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 99. 434 Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 135. Vgl. zum Hintergrund Ben Eklof: Russian Peasant Schools. Officialdom, Village, Culture, and Popular Pedagogy, 1861–1914, Berkeley 1986; ders./Stephen Frank (Hg.): The World of the Russian Peasant: Post-Emancipation Culture and Society, Boston 1990.

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liebenden, tief religiösen« Bauern, die zumindest bis 1905 als solche beschrieben werden: »The people on our land were very much in the family circle; we knew them all on a face-to-face basis, and they knew us. […] In my experiences with them the peasants were an exceedingly kindly group of people, and this went for all of Russia. They lived up to their name Crestianin. […] and they were at all times deeply religious.«435

Sergej Trubeckoj beschrieb die Beziehung zwischen Landbesitzern und ihren Bauern als eine besondere Beziehung oder gar »Verwandtschaft«, die es zwischen anderen Schichten nicht gegeben habe: »Die Liebe zum muzˇik, […] das Gefühl einer besonders engen Verbindung mit dem Bauerntum, habe ich von Geburt an von meiner Umgebung aufgesogen. Bis zu einem gewissen Grad trugen meine Gefühle zum Bauern einen irgendwie undeutlichen Abdruck von Verwandtschaft, was im Verhältnis zum Arbeiter, zu den raznocˇincy oder zur Intelligencija absolut nicht der Fall war.«436

Dass diese »Verwandtschaft« für ihn existierte, versuchte auch Boris Vasil’cˇikov überzeugend darzulegen, indem er Bauern bei der Ernte beschrieb.437 Diese kamen aus nah und fern gelegenen Dörfern »in bunten Gewändern« und betrachteten die Ernte als ein Fest, an dessen Ende sie ein Glas Wodka bekamen und »glücklich und zufrieden« wieder singend nach Hause fuhren. Dass sich diese Beschreibung stark idealisiert anhört, gibt auch der Autor zu. Dennoch sei es die Wahrheit gewesen: »Ich weiß, dass viele mir nicht glauben und sagen werden, dass diese Idylle aus der Vergangenheit nur Trugbilder unter dem Einfluss des Alters sind, das dazu tendiert, alles aus früheren Zeiten zu idealisieren. Aber ich nutzte die Zeit des Exils zum Prüfen dieser Erinnerungen in meinem Gedächtnis und fühle, dass ich die Wahrheit schreibe, dass in den ersten Jahren nach der Befreiung [1861, J.H.], als die Lebensbedingungen der Leibeigenschaft weiter Bestand hatten, der Bauer es wesentlich besser hatte als in den nachfolgenden Jahren bis zur Revolution.«438

Die Autoren schrieben in ihren Erinnerungstexten einstimmig, dass die Lebensbedingungen der Bauern ihrer Einschätzung nach eine Verschlechterung Ende des 19. Jahrhunderts und nach den Unruhen der Jahre 1905 und 1906 erfuhren. Die Revolution von 1905/06 habe das Verhältnis zwischen dem Adel 435 Obolensky, One Man in His Time, S. 37. Vgl. auch Valerie A. Kivelson/Robert H. Greene (Hg.): Orthodox Russia: Belief and Practice Under the Tsars, Pennsylvania 2003. 436 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 52. Vgl. Leonid Heretz: Russia on the Eve of Modernity. Popular Religion and the Traditional Worldview in Late Imperial Russia, Cambridge 2008. 437 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 49ff. Vgl. Heinz-Dietrich Löwe: Die Lage der Bauern in Russland 1880–1905. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen in der ländlichen Gesellschaft des Zarenreiches, St. Katharinen 1987. 438 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 50.

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und den Bauern endgültig verändert und sie voneinander entfremdet. Vasil’cˇikov machte die russische Intelligencija dafür verantwortlich: »Diese Beziehung war friedlich und sogar patriarchalisch, und wenn sie sich mit der Zeit wandelte zu dem, was wir als Zeitzeugen während der Revolutionsjahre erlebten, dann geschah dies nicht infolge des natürlichen Verhältnisses zwischen Adel und Bauern, sondern infolge der systematischen Aufwiegelung der Bauern gegen die Landbesitzer, womit unsere Intelligencija seit einem halben Jahrhundert beschäftigt war.«439

In den Erinnerungstexten von Trubeckoj und Vasil’cˇikov wird sehr deutlich, dass sie die Überbleibsel des patriarchalischen Verhältnisses nach der Bauernbefreiung als außerordentlich positiv und stabilisierend bewerteten. Es habe die negativen Veränderungen, vor allem auch für die Bauern selbst, dennoch nicht aufhalten können. Die Bauern hätten sich in ihrem Habitus und Aussehen zum Schlechten verändert, die Familienbande und damit auch die »innere Disziplin« seien beschädigt gewesen, ohne die eine »häusliche Geschäftigkeit« (im Text: semejnaja domovitost’) nicht möglich sei.440 Dass sich die Haltung der Bauern negativ gegenüber dem Adel verändert hatte, merkten beinahe alle Autoren an, allerdings mit unterschiedlichen Erklärungsansätzen. Wurde von Boris Vasil’cˇikov vor allem die russische Intelligencija verantwortlich gemacht, verwies Sergej Trubeckoj auf die Auswirkungen der russischen Revolution 1905/06 auf die Beziehung zwischen Adel und Bauern. Sie habe die »gesellschaftliche Gärung«, die er mit »politische Betrunkenheit« und »Verliebtheit in politische Programme« umschrieb, entscheidend gefördert.441 Sie erwies sich außerdem als eine »erste Prüfung« für die politischen, aber auch gesellschaftlichen Kräfte, und die Revolution von 1917 war dementsprechend »eine Wiederholung der Prüfung« (im Text: peree˙kzamenovka), die tragisch endete. Der komplizierte Staatsapparat hätte mit viel Vorsicht umgebaut werden müssen, stattdessen wurde er zerstört.442 Dabei betonte Trubeckoj mehrfach, dass die materiellen Verluste für ihn weniger wogen als die moralischen: »Schmerzhaft rissen die Verbindungen, die uns jahrhundertelang mit den Bauern verbanden.«443 Hier ging Sergej Trubeckoj nicht auf einzelne Bauern ein, sondern meinte das »Bauernvolk« allgemein. Das »Volk« vor der Revolution, oftmals mit dem ambivalenten Mythos von der

439 440 441 442 443

Ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 44. Vgl. ebd., S. 51. Ebd., S. 54.

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»russischen Seele« verknüpft,444 wurde in zahlreichen Textpassagen als gut und »von Natur aus« zarentreu, ergeben und hilflos beschrieben. Marija Barjatinskaja, die selbst freimütig zugab, das Landleben nicht gut zu kennen, bediente sich des Mythos vom treuen und monarchisch gesinnten Volk, das ihre Zaren und Zarinnen »mit herzlicher Ehrlichkeit« geliebt und verehrt habe.445 Die Vorstellung des grundsätzlich monarchisch gesinnten Volkes – also in seiner Mehrheit die Bauern – hielt sich hartnäckig auch in der Emigration. Das Bild des Zaren als Patriarchen und Gesandten Gottes war in der Tat bis in das 20. Jahrhundert hinein fest mit der Religiosität der Bauern verbunden. Zarentreue bedeutete aber nicht zwingend Adelstreue oder eine uneingeschränkte Autoritätstreue. Je nach Region und Zeit war die Haltung der Bauern gegenüber dem Adel zumindest ambivalent, in den Revolutionszeiten tendenziell feindlich.446 Dies hatte Sergej Obolenskij zumindest in der Retrospektive erkannt und verband die Revolution von 1905 mit dem Pugacˇev-Aufstand.447 Er verwies auf den Fehler der Adeligen, den Druck von unten unter- und die Gefahren falsch eingeschätzt zu haben, wobei er gleichzeitig auf die guten Kontakte seiner Familie mit den Bauern verwies: »When the Revolution of 1905 began, one of the great fears was that the peasants would seize the land of the estates. […] The land hunger of the farmers could explode overnight. Houses might be looted and burned as they had been during Pugachev’s rebellion more than a century before. In the spring some estates actually were seized and some landowners were killed. It was not an organized unrest, but was spasmodic and depended on local relations between the peasants and the owners of the landed estates.«448

Obolenskijs Familie war, trotz der Unruhen in der Gegend, nicht betroffen. Dagegen erlebte Marija Barjatinskaja im Jahre 1906 die Schrecken der Revolution hautnah mit. Den Sommer verbrachte sie auf dem Familiengut im Gouvernement Voronezˇ und musste mit ansehen, wie zahlreiche benachbarte Landgüter bis auf die Grundmauern niederbrannten: 444 Vgl. Carsten Goehrke: Russland. Eine Strukturgeschichte, Paderborn u. a. 2010, hier das Kapitel über die »russische Seele« – zum Diskurs über den russischen Nationalcharakter, S. 299–301; vgl. auch das Kapitel »In Search of the Russian Soul« bei Figes, Natasha’s Dance, S. 292–354. 445 Vgl. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 48. 446 Vgl. O.G. Buchovec: Social’nye konflikty i krest’janskaja mental’nost’ v Rossijskoj imperii nacˇala XX veka: novye materialy, metody, rezul’taty, Moskau 1996; zu den Bauernaufständen vgl. Heinz-Dietrich Löwe (Hg.): Volksaufstände in Russland. Zeit der Wirren bis zur »Grünen Revolution« gegen die Sowjetherrschaft, Wiesbaden 2006. 447 Vgl. dazu Alice Plate: Der Pugacˇev-Aufstand: Kosakenherrlichkeit oder sozialer Protest?, in: Löwe (Hg.), Volksaufstände in Russland, S. 353–396. 448 Obolenskij, One Man in His Time, S. 61.

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»Wir waren selbst in großer Gefahr. Alle Landsitze um uns herum standen in Flammen, u. a. das Landgut der Gräfin Panin, des Fürsten Mesˇcˇerskij, des Fürsten Vasil’cˇikov und des Fürsten Orlov. Der Letztere besaß dort das angesehene Gestüt ›Padi‹, wo er seine berühmten Traber züchtete. Das ganze Gestüt brannte vollständig nieder. […] Vom Dachgeschoss unseres Hauses sahen wir den Feuerschein der Brände und der Anblick war wahrlich markerschütternd.«449

Marianna Davydova ging in ihren Erinnerungen auf die Brände in der Nachbarschaft und auf dem eigenen Familiengut in Podlesnoe, aber auch auf die Gerüchte über die Gräueltaten, ein. Auf der Zeichnung (Abb. 3), die das Sujet dieser Szene aufgreift, sind Marianna selbst und ihr Mann Lev zu sehen, dabei hält sie die Zügel der Kutsche in der einen, einen Revolver in der anderen Hand.

Abb. 3: »Feuer auf Podlesnoje; Lew und ich eilen zu Hilfe«450

449 Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 143f. 450 Davidoff, Auf dem Lande, S. 95.

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Aleksandr Naumov beschrieb ausführlich die Ereignisse während des Herbstes 1905 in seiner Heimatstadt Samara, die er auch als Reaktion auf das Manifest vom 17. Oktober deutete.451 Dabei stellte er das »Unvermögen der Regierung«, »ihre Machtlosigkeit und den Triumph der Straße« fest. Samara habe sich in zwei feindliche Lager aufgespaltet: »[…] die einen wüteten weiter im Geiste falsch verstandener ›Freiheiten des Manifestes‹, Hooliganismus und Anarchie um sich verbreitend; die anderen, als Gegengewicht zu den ersten, hielten das Porträt des Zaren hoch und sangen ›Herrgott, behüte den Zaren‹, verprügelten die Gegner und riefen: ›Es lebe die Autokratie!‹«452

Es lassen sich bei zahlreichen Autoren Textpassagen finden, die in diesen Monaten des Herbstes 1905 das »Volk« mit Negativattributen belegten: es sei streitsüchtig, alkoholabhängig, schwermütig sowie gewalttätig gewesen.453 Vera Golicyna misstraute dem bäuerlichen Volk grundsätzlich. Die »muzˇiki« hätten nur ein »rudimentär ausgebildetes Gehirn« und könnten deshalb keine komplizierten Sachverhalte verstehen.454 Naumov bewertete das Verhalten der Bauern dagegen unter anderem als eine Folge der niedrigen Alphabetisierungsrate auf dem Land. Gleichzeitig war die Landbevölkerung für Naumov auch durch eine gewisse Naivität und Einfachheit des Denkens bzw. durch eine »wenig anspruchsvolle Psychologie« gekennzeichnet.455 Dies waren für ihn die Gründe, weshalb er seinen »Schutzbefohlenen« auch nach der Bauernbefreiung beigestanden und sie verteidigt habe.456 Einen Versuch, beide Seiten der »Volksseele« zu beschreiben, unternahm Lidija Vasil’cˇikova. Sie kam zu der Schlussfolgerung, dass das russische Volk nicht zu ergründen gewesen sei: »Ich komme mit Bedauern zu dem Schluss, dass nicht nur ich, sondern auch die meisten anderen Menschen, die in engeren Kontakt mit der Bauernbevölkerung gerieten, deren Mentalität nicht verstanden. […] Sie fanden es oft unmöglich, die Logik in

451 Zum Oktobermanifest und seinen Folgen vgl. Philipp Amendt: Das Oktobermanifest von 1905 – eine ernsthafte Modernisierung oder der Akt einer optionslosen Autokratie?, in: Riccardo Altieri/Frank Jacob (Hg.): Die Geschichte der russischen Revolutionen. Erhoffte Veränderungen, erfahrene Enttäuschungen, gewaltsame Anpassungen, Bonn 2015, S. 122– 155. 452 Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 21. 453 Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 27f., 30. Vgl. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 16–21, 24–29. 454 Vgl. Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 29. 455 Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 1, S. 196. 456 Vgl. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 1, S. 195. Vgl. zur bäuerlichen Lebenswelt in der letzten Phase des Zarenreiches Stephen Frank/Ben Eklof (Hg.): The World of the Russian Peasant: Post-Emancipation Culture and Society, London u. a. 1990.

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den Gedankengängen der Bauern zu enträtseln und zu ergründen, was in deren Köpfen wirklich vorging.«457

Sergej Obolenskij formulierte insgesamt ein positives Bild der Bauern, aber er ergänzte, dass sie für Nichtkundige ein Rätsel, gar ein Mysterium (enigma) darstellten. Außerdem hätten die Bauern dazu geneigt, in Gefahrensituationen oder wenn sie zu einer Menschenmenge zusammenkamen, grausam zu sein.458 Ebenfalls schematisch schilderte Vonljarljarskaja das russische »Volk« und bediente damit auch bekannte Stereotypen: »Every Russian is a Slav and a savage; a mixture of the European and the Oriental; a creature of sudden impulses, of great intuition and of deep religious feeling with a large admixture of superstition. […] At the beginning of the twentieth century the Russian peasant’s mentality was perhaps as far advanced as that of the English peasant in the time of the Tudors. He seems to have had many traits in common with the Irish peasant. He had a deep love for and great faith in his master.«459

Sergej Trubeckoj griff auf eine Begebenheit zurück, um die »mysteriöse« Seele des russischen Bauernvolkes zu beschreiben. Er zitierte einen treuen Diener seines Großvaters, Osip. Dieser trat als ein Befürworter der Leibeigenschaft auf, da sonst die »muzˇiki« nicht im Zaum gehalten werden könnten. Osip diente ihm als eine zuverlässige Quelle und eine Art Orakel, denn er spräche mit der Stimme der Bauernschaft. Dieser bezeichnete den »muzˇik« als »Tier«, welcher die ihn fütternde Hand zu beißen versuche. So habe Osip vorausgesagt, dass die Bauern irgendwann versuchen würden, die »knjaz’ki« (in etwa: kleine Fürsten, gemeint waren die Brüder Trubeckoj) zu ermorden.460 Die Vorstellung von der »wilden« Bauernschaft im Gegensatz zum oft überfeinerten Adel taucht wiederholt auf, so auch bei Barjatinskaja, die sehr schablonenhaft die sozialen Verhältnisse in Russland beschrieb: »Was war das für ein seltsames Leben! Russland ist ein völlig anderes Land als England, sogar zu den Zeiten, über die ich spreche. Dort gab es keine Mittelklasse, die die Lücke zwischen fast wilder Bauernschaft und allzu verfeinertem Adel gefüllt hätte.«461

Bei den meisten Autoren ist festzustellen, dass sie den seit Generationen eingeübten Paternalismus als das Ideal ansahen.462 Das implizierte für sie, dass die eigene Familie stets gut zu »ihren« Bauern gewesen war, denn es gehörte zu den 457 458 459 460 461 462

Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 89. Vgl. Obolensky, One Man in His Time, S. 37. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 4. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 53. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 134. Zum Paternalismus des preußischen Adels siehe Robert M. Berdahl: Preußischer Adel: Paternalismus als Herrschaftssystem, in: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 123–145.

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Pflichten eines Adeligen, die Fürsorge für »seine« Bauern auch nach der Bauernbefreiung zu übernehmen. Dabei herrschte weiterhin das alte »Gewohnheitsrecht«, das sich z. B. in den Anreden niederschlug. Sergej Trubeckoj gab eine treffende Beschreibung des »Erfahrungsraumes«463 seiner Generation: »Für die neue Generation lohnt es sich wahrlich zu bemerken, dass es für uns völlig selbstverständlich erschien und es auch nicht anders sein konnte, dass wir zu allen alten Kutschern, den Büfettiers [bufetcˇik] und sogar dem Butler [dvoreckij] Osip ›Du‹ sagten. Geduzt haben wir auch alle Bauern und überhaupt alle ›einfachen Leute‹ [prostoj narod]. Zu uns sagte man ›Sie‹.«464

Das informelle »Du« gegenüber den eigenen Bauern wurde vom Adel mit größerer Vertrautheit, selbstredend eine einseitige Vertraulichkeit der Ranghöheren gegenüber den Rangniederen, verbunden: »[…] in certain trusted circumstances the use of ›ty‹ for the nobility illustrated friendship, familiarity, trust, and was ›truly Russian‹, and not at all humiliating. In this sense it reinforced patriarchal attitudes, particularly with regard to peasants and servants.«465

Dass dieses »Vertrauensverhältnis« vor allem von der älteren Generation von Adeligen gepflegt wurde, beobachtete Aleksandr Davydov als Kind und Jugendlicher, als er die Sommerzeit auf dem Land verbrachte und seinen Vater im Umgang mit den Bauern beobachten konnte. Er empfand diese einseitige Vertraulichkeit sowie auch die körperliche Züchtigung der Bauern als unnatürlich und demütigend für beide Seiten. Er beschrieb das Verhältnis zwischen Gutsherren und ihren Bauern als eine »tiefe Falschheit« und ein Relikt aus der Zeit der Leibeigenschaft: »[…] der Gutsherr sprach die Bauern stets mit ›Du‹ an, in Gesprächen mit ihnen ließ sich Überheblichkeit und ein gewisser belehrender Ton heraushören. Es muss allerdings gesagt werden, dass nicht alle Gutsherren den strengen Ton im Umgang mit den Bauern annahmen, manche […] gaben umgekehrt ihren Reden einen süßlich-sentimentalen Charakter, in welchem noch mehr Verlogenheit steckte. Die Bauern antworteten nicht minder verlogen. Wie es Brauch war, haben sie sich unterwürfig verneigt [lomali ˇsapki]466 und zu Zeiten meiner Kindheit küssten sie Barins ›Händchen‹ oder ›Schulter‹ [celovali barskuju ›rucˇku‹ ili ›plecˇiko‹]. Dabei nahmen ihre Gesichter einen mitleidigen, flehentlichen Ausdruck voller Selbsterniedrigung an.«467

Aleksandr Davydov sah sich als ein genauer Beobachter seiner Zeit. Er schrieb, dass der Respekt der Bauern gegenüber den Gutsherren stetig abgenommen 463 Vgl. Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 349–375. 464 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 22. 465 Rendle, Defenders, S. 69. 466 Vgl. Ozˇegov/Sˇvedova, Tolkovyj slovar’, S. 332. 467 Davydov, Vospominanija, S. 159f.

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habe. Aber nicht, wie manche anderen Autoren annahmen, aufgrund der »revolutionären Propaganda«, sondern wegen der Beobachtungsgabe der Bauern. Sie hätten bemerkt, dass die früheren Herren oft nicht das wirtschaftliche und verwaltungstechnische Verständnis besaßen, um ein Gut erfolgreich zu führen. In der Tat waren zahlreiche Landgüter des Adels aufgrund des schlechten Wirtschaftens und des großzügigen Lebensstils hoch verschuldet. Zumindest den Bauern im Süden Russlands sprach Aleksandr Davydov aus seiner Erfahrung einen starken Wirtschaftssinn zu, dementsprechend hätten sie keinen Respekt für die fast immer abwesenden, verschwenderischen »Herren« gehabt.468 Davydov zog seine Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen. Das Gut »Sably« auf der Krim übernahm er kurz vor der Revolution. Obwohl die Bauern dort als gewaltbereit galten, beschloss er, sich zunächst eine eigene Meinung zu bilden und unvoreingenommen zu bleiben. Die Verlogenheit, die ihm so verhasst war, wollte er durch »völlige soziale Gleichberechtigung« ersetzen, was ihm eine »große moralische Zufriedenheit« verschafft habe.469 So begann er, das Verhältnis mit den benachbarten Bauern auf eine andere Grundlage zu stellen. Als erste Maßnahme redete er sie ebenfalls mit »Sie« an, ging auch nicht zu ihnen vor die Tür (im Text: »ne ›vychodil‹ k nim«), sondern lud sie in sein Büro ein. Den Brauch »lomat’ ˇsapki« (auf Deutsch etwa: »sich vor jemandem ehrfürchtig verbeugen«) hatte er abgeschafft, da in seinen Augen die Leibeigenschaft längst der Vergangenheit angehörte und er die Bauern als freie, selbstbestimmte Personen betrachtete. Gleichzeitig machte er ihnen aber auch deutlich, dass die Zeiten der besonderen Fürsorge und Wohltätigkeit vorüber waren, und er sie als gleichwertige Verhandlungspartner mit allen Vor- und Nachteilen ansehe. Davydov sah sich durch den Erfolg bestätigt: »Allmählich hatte meine Politik Erfolg und die Verlogenheit, die mir so zuwider war, verschwand gänzlich aus unserem Verhältnis.«470 Im Unterschied zu Davydov standen zahlreiche andere Adelige offenbar vor einem Rätsel, warum sich das Verhältnis zur einfachen Landbevölkerung sukzessive verschlechterte. So sprach Sergej Trubeckoj von »grotesker Verzerrung« der alten Verhältnisse zwischen Gutsherren und deren Verwaltern, Bauern und Angestellten auf den Landgütern, die er auf die »Ansteckung mit revolutionärer Propaganda« zurückführte.471 In den Erinnerungstexten lassen sich Hilflosigkeit und Unverständnis gegenüber den Handlungen der Bauern während und nach

468 469 470 471

Vgl. ebd., S. 160f. Beide Zitate ebd., S. 161. Alle Zitate ebd., S. 164. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 155.

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der Revolution 1905/06 herauslesen. Irina Skarjatina sah die Wut der Bauern, die sich entlud, als unsinnig und unlogisch an: »We cannot go to the country after all. The peasants are in a very hostile and dangerous frame of mind and agrarian disorders are spreading like wild-fire. Several estates have been completely destroyed. As usual in such cases the peasants burn the houses, cut down the woods and even kill the cattle, which is such an idiotic thing to do as they could keep the animals for their own use.«472

Das wahllose Abschlachten der Nutztiere beschrieb auch Sergej Trubeckoj, wobei er die »Rechtlosigkeit«, »Anarchie« und »Disziplinlosigkeit« als Grund aufführte. Das Vieh und die Pferde wurden nicht mehr gefüttert oder gepflegt, so dass sie regelrecht verhungerten.473 Einige Autoren widmeten dem Verhältnis zwischen den Bauern und den Gutsherren einen großen Teil ihrer autobiographischen Texte. Aleksandr Naumov betonte, dass die alten Bande zwischen dem Bauerntum und dem Adel bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gehalten hätten. Er datierte die starken Veränderungen auf das Jahr 1906, als sich ihm in Golovkino nicht mehr das gewohnte friedliche Bild bot. Vielmehr sah er überall die »Zeichen des vorübergezogenen revolutionären Hurrikans«, die sich unter anderem in einem unfreundlichen Verhalten der Bevölkerung ihm gegenüber äußerten: »Anstatt der bisherigen Aufmerksamkeit, der freundlichen Verbeugungen und des Freimachens des Weges [svoracˇivanie s dorogi] zeigten sich in ihren Gesichtern deutlich die Verbitterung und in ihrem Verhalten eine absichtliche Grobheit gegenüber dem entgegenkommenden ›barin‹.«474

Naumov schrieb, dass er »seine« Bauern und Angestellten von der revolutionären Propaganda »reinigen« musste, denn diese hätten einen Aufstand gewagt – die Bauern wollten mehr Land zu ihrer Verfügung, außerdem freies Recht auf Jagen und Fischen. Die Angestellten hätten eine Petition mit Forderungen über weniger Arbeit und mehr Lohn vorgebracht. Naumov zeigte sich in seiner »Gutsherren-Art« unnachgiebig und wies die »Absurdität« der Forderung zurück. Zunächst konnte er den Aufstand auf seinem Gut bezwingen. Diese Erfahrungen lösten Veränderungen seiner Persönlichkeit aus: Von einem liberalen Politiker des Zemstvo habe er sich zu einem Konservativen verändert – für die Revolutionäre sogar zum »stärksten Reaktionär«, der die Revolution mit allen Mitteln bekämpfen wollte.475 In dieser Zeit erhielten er und seine Ehefrau Morddrohungen wie zahlreiche andere Politiker und Adelige auch.476 472 473 474 475 476

Skariätina, A World Can End, S. 149. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 155. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 72. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 88, 96, 100.

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Das Bild der Dorfbevölkerung und des Dorflebens in den Jahren nach 1905/06 wurde in den Erinnerungstexten in zunehmend dunkleren Farben gezeichnet. Boris Vasil’cˇikov erinnerte sich, dass die letzten Jahre vor 1917 erfüllt waren von Rowdytum, Prügeleien, Verletzungen und Mordanschlägen (im Text: chuliganstvo, draki, uvecˇija, ubijstva). Die Beschreibung kulminierte in »Wildheit, Unzivilisiertheit, Raufereien, Massaker«.477 Das Beklagen des dörflichen oder städtischen Rowdytums war um die Zeit der Jahrhundertwende ein oft beobachtetes und beschriebenes Phänomen.478 In dieser Zeit bekleidete Boris Vasil’cˇikov den Posten des Gouverneurs und reagierte auf diese »Verfallserscheinungen«, indem er u. a. alle gefährlichen Waffen auf Dorffesten verbot. Dennoch seien alle seine Bemühungen um den inneren Frieden im Dorf vergebens gewesen: »Am Ende beherrschen die schlimmsten und meist kriminellen Teile der Bevölkerung das Leben im Dorf, wohingegen der beste Teil, der gesetzestreu und tief im Inneren konservativ war, lange vor der Revolution eingeschüchtert worden war und keinen Einfluss auf das Schicksal des Dorfes mehr hatte.«479

Entgegen solchen negativen Urteilen zeichnete Aleksandr Davydov ein anderes Bild der Bauern auf dem Land, in diesem Fall auf »Sably«. Als seine Nachbarn waren die Bauern ihm nicht feindlich gesinnt. Er führte es auf die positive Entwicklung seines Gutes Sably zurück. Damit hätte er sich einen grundlegenden Respekt und eine gute Reputation bei den Bauern verdient. Das Verhältnis trug einen freundschaftlichen Charakter und die Bauern hätten seinen Rat gerne angenommen und ihm über die Vorgänge im Dorf, auch über die »sich entwickelnde Revolution« berichtet. Die Bauern seien zunehmend ungeduldig geworden, was die Versprechen seitens der Provisorischen Regierung anging, und Davydov hatte gewisse Schwierigkeiten, sie zu vertrösten. Es scheint, dass er sich als ein stabilisierendes Element im Dorf verstand, das eine Zeit lang für Ruhe und Kontinuität sorgte. Lediglich die desertierten Soldaten machten ihm Sorgen, da sie durch ihre Trunkenheit und ihr Randalieren die Landbevölkerung verunsicherten.480 Wie bereits erwähnt, betonten einige Autoren, dass auf ihrem eigenen Gut die Bauern bei den Unruhen 1905/06 friedlich geblieben seien, und sie selbst folglich »gute Herren« gewesen wären, nur die anderen Güter seien geplündert und in 477 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 106: »projavlenie dikosti, nekul’turnosti, draki, krovavaja rasprava«. 478 Joan Neuberger sieht dies als eine Abgrenzung der »urbanen Bildungselite« gegen die Unordnung und Chaos verbreitenden »unzivilisierten Massen«, vgl. Joan Neuberger : Stories of the Street: Hooliganism in the St. Petersburg Popular Press, in: Slavic Review 48, 1989, S. 177–194, hier. S. 178. 479 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 107. 480 Vgl. Davydov, Vospominanija, S. 167f.

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Brand gesteckt worden.481 Die Ausschreitungen und die Gewaltbereitschaft der Bauern konnten sich tatsächlich von Region zu Region und sogar von Dorf zu Dorf gravierend unterscheiden. So argumentiert Franziska Schedewie in ihrem Aufsatz zur Provinz Voronezˇ, dass vor allem dort Gewalt eskalierte, wo die Reformen der 1860er Jahre »Verlierer« zurückgelassen hatten, die immer noch von Gutsherren abhängig waren. In »fortschrittlichen« Dörfern waren die Bauern trotz revolutionärer Propaganda überwiegend friedlich geblieben.482 Die unterschiedlichen Beschreibungen des »Volkes« mögen mit der Häufigkeit und Intensität des Kontakts der Adeligen mit der Landbevölkerung zusammenhängen. Zudem vermischten sich idealisierte Vorstellungen, sogar literarische Vorbilder mit eigenen Erfahrungen, die im Exil zusätzlich eine Umformung durch die retrospektive Sicht erfuhren. Die revolutionären Ereignisse der Jahre 1905/06 bestätigten die adeligen Autoren offenbar in ihrer Meinung, dass die an sich friedlichen Bauern sich in unruhigen Zeiten schnell zum gewalttätigen und unberechenbaren »Mob« zusammenfänden. Dabei wurde in den Texten häufig Bezug auf den Fatalismus bzw. die Gleichgültigkeit als Bestandteil des »russischen Charakters« genommen, so bei Nadezˇda Vonljarljarskaja: »There is a strong streak of fatalism in all Russians. In general, their attitude to most events in life is Nitchevo – it doesn’t matter. What insidious poison was in which, under Nihilist and Bolshevik influence, turned a peace-loving people into a lawless, bloodthirsty and unbelievably cruel mob?«483

Der Wandel des positiv besetzten Begriffes »Volk« zur Beschreibung desselben als »Mob« hebt das »Janusgesicht« der Bauern von 1905 bis 1917 hervor.484 Mit der Revolution von 1905/06 beginnend, fand bei den untersuchten Autoren in dieser Phase die stärkste Umformung des Verständnisses über das »Volk« statt, auch wenn es einige Unterschiede zwischen der wohlgesonnenen Bewertung von Aleksandr Davydov oder Aleksandr Naumov auf der einen und dem eher pauschal negativen Urteil von Nadezˇda Vonljarljarskaja oder Marija Barjatinskaja auf der anderen Seite gab.

481 Vgl. Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 121. 482 Vgl. Franziska Schedewie: Peasant Protest and Peasant Violance in 1905: Voronezh Province, Ostrogozhskii Uezd, in: Jonathan D. Smele/Anthony J. Heywood (Hg.): The Russian Revolution of 1905. Centenary Perspectives, London 2005, S. 137–155. 483 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 122. 484 Vgl. Dietrich Beyrau: Janus in Bastschuhen: Die Bauern in der Russischen Revolution 1905–1917, in: Geschichte und Gesellschaft 21, 4/1995, S. 585–603; Jan Kusber: Die Bauern und das Jahr 1905. Befunde und Interpretationen, in: ders./Frings (Hg.), Das Zarenreich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen, S. 83–103.

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Die Dienerschaft – prisluga

Vor Aufhebung der Leibeigenschaft war die Beziehung zwischen dem Hausherrn und seinen Dienern eine der engsten.485 In der Stadt und auf dem Land leisteten sich die wohlhabenden Familien einen umfangreichen Bedienstetenstab, der in der Regel aus den Familien der Leibeigenen rekrutiert wurde.486 Wenn von den »muzˇiki« behauptet wurde, sie neigten in Krisenzeiten dazu, gewalttätig gegenüber den Adeligen und ihren Besitztümern zu werden, dann trat die Dienerschaft in den Erinnerungen als das sichere und treu ergebene Element auf: »Those of us who escaped during the revolution, realised that we owed our lives to the loyalty and devotion of our faithful servants.«487 Die Textstellen, in denen die Dienerschaft beschrieben wurde, sind zahlreich. Oft ist von »prisluga« (Bedienstete), »sluga« (Diener) oder »domasˇnjaja prisluga« (häusliche Dienerschaft) die Rede. Besonders aber treten die spezialisierten Diener in Erscheinung: die »njanja« (die Kinderfrau oder Amme), die »gornicˇnaja« (Stubenmädchen oder Zofe), der »povar« (Koch), der »kucˇer« (privater Kutscher) und der »lakej« (der Repräsentation dienende Lakai). Auf den Aquarellen von Marianna Davydova tauchen einige langjährige Diener mehrmals auf. So zeichnete sie z. B. den Diener Zosim: Eine Abbildung zeigt ihn bei der Ausführung einer seiner Haupttätigkeiten, der Lampenpflege, aber auch in seiner Freizeit, in der er in einer Nische unter der Treppe Psalmen liest (s. Abb. 4). Auf weiteren Zeichnungen ist er im Hintergrund beim Servieren von Speisen in Matusov und später während des Revolutionsjahres 1917 beim Teeservieren in Kiev zu sehen.488 In den Erinnerungstexten wurden die persönlichen Diener als der adeligen Familie treu ergeben und sich selbst aufopfernd dargestellt. Nadezˇda Vonljarljarskaja beschrieb ihre Magd Tonja als einen »wunderbaren Charakter« und »absolut ergeben«.489 Dieses Ideal der »treuen Seele« weist eine gewisse Parallele zu der Idealisierung der Beziehungen zwischen »Herren« und »Dienern« im französischen »Goldenen Zeitalter« vor der Revolution von 1789 auf.490

485 Vgl. zu Dienstmädchen Barbara A. Engel: Between the Fields and the City : Women, Work, and Family in Russia, 1881–1914, New York 1994. 486 Vgl. Rustemeyer, Dienstboten, S. 25. Zu den Bedeutungen vgl. Ozˇegov/Sˇvedova, Tolkovyj slovar’, S. 154. 487 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 5. 488 Vgl. Davidoff, Auf dem Lande, S. 13, 30, 147. 489 Vgl. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 124f. S. auch bei Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 301; vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 54. 490 Vgl. Rustemeyer, Dienstboten, S. 12, 18.

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Abb. 4: »Der alte, gottesfürchtige Diener Zossim liest in der Nische unter der Treppe Psalmen. Sorgfältig pflegt er sämtliche Lampen des Hauses«491

Betont wurde in allen Texten die Fürsorge der adeligen Familie für die Diener: »In general the men-servants with their wives and families lived in their own quarters in the house, and were fed and looked after by the Master, which may sound somewhat patriarchal to western ears.«492 Marija Basˇmakova verwies darauf, dass den Kindern der Hausangestellten das Lesen beigebracht worden sei.493 Die Berichte über das schlechte Verhältnis zwischen Herren und Dienern seien also schlicht »Lügen«: »Les mensonges colport8s, sur les mauvais rapports entre ma%tres et serviteurs, sont incroyables. La plupart, chez nous, se consid8raient de la famille.«494 Namentliche Erwähnung fand bei Basˇmakova ein alter Bediensteter, der wie ein Retter in schweren Zeiten aufgetreten sei. Dieser Koch, »le vieux cuisinier F8odorovitch«, den sie von der Familie Goneckij zu ihrer Hochzeit bekommen habe und der früher ein Leibeigener ihres Schwiegervaters gewesen sei, hatte ihr geschworen, dass er sie niemals ohne eine Mahlzeit lassen würde. Das gab ihr die Sicherheit, dass ihre treuen Diener sie nicht im Stich lassen würden: »Je savais bien que mes servieurs ne me d8laisseraient pas.«495 Oft begnügten sich die Autorinnen damit, lediglich knapp zu erwähnen, dass zahlreiches Personal beschäftigt wurde, ohne im Detail darauf einzugehen. Ganz anders Aleksandr Davydov, der auch auf die Anzahl und Gehälter der Dienerschaft einging: Der »erstklassige Koch« hatte das höchste Gehalt von 25 Silberrubeln im Monat, männliche Diener bekamen 15 Silberrubel, Zimmermädchen jeweils zehn 491 492 493 494 495

Davidoff, Auf dem Lande, S. 13. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 5. Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 26, 69f. Ebd., S. 70. Ebd.

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Silberrubel, die »niedere« Dienerschaft wie Kutscher, Buffetdiener sowie die Spülhilfe erhielten weniger. Dieser Lebensstil mit zahlreichen Bediensteten sei nur möglich gewesen, weil deren Gehälter und auch die allgemeinen Lebenskosten so günstig gewesen seien. Seine Mutter habe Einkünfte von 10.000 Silberrubel im Jahr gehabt, davon konnte die Familie den Alltag bestreiten, Gouvernanten und Hauslehrer beschäftigen und ins Ausland verreisen.496 Aleksandr Davydov erwähnte auch die Bedienungsrituale in der Familie Lieven: »Der Brauch des Handkusses für die Dienstherrschaften, Frauen als auch Männer, bestand im Baltikum bis zur Revolution 1905 fort.«497 Diese Rituale hatten die Grenze zwischen »Herren« und »Dienern« aufrechterhalten und blieben bei einigen Autoren ein wichtiges Kriterium der »guten alten Zeit«. Wichtig schien z. B. Marija Basˇmakova, in allen relevanten öffentlichen oder privaten Räumen – sei es das Theater, die Straße oder das eigene Haus – eine klare Abgrenzung zwischen denen, die dienen, und denen, die herrschen, zu ziehen.498 Für die wichtigen Feiertage galten jedoch Ausnahmen, so wurde in den Erinnerungstexten darauf verwiesen, dass an Ostern oder Weihnachten bestimmte Rituale gemeinsam mit den Bediensteten und Bauern begangen wurden.

Abb. 5: »Die Weihnachtspyramide aus Holz«499

496 497 498 499

Vgl. Davydov, Vospominanija, S. 75f. Ebd., S. 104. Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 83f. Vgl. ebd., S. 25.

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Diese Ausnahmen von der Regel finden sich auch in den Zeichnungen und Aquarellen von Marianna Davydova wieder. Die Familie hatte auf ihrem Gut Matusov eine eigene Kapelle und während der Gottesdienste standen auf der einen Seite die Diener, auf der anderen die Familienmitglieder Lopuchin.500 Diese Regel wurde im Alltag strikt beachtet. An Weihnachten hingegen durften die Diener z. B. die festliche Weihnachtspyramide aus Holz ebenfalls anschauen, wenngleich aus gebührendem Abstand (Abb. 5). Diese zeitlich begrenzte Minimierung der Distanz, als »Gnade« seitens der Dienstherren gewährt, zeigte im Umkehrschluss, dass diese Grenze zwischen Herren und Dienern in vielen Familien auch nach der Bauernbefreiung weiterhin beachtet wurde. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den Erinnerungstexten die eigenen Diener überwiegend positiv gezeichnet wurden, nicht nur für die Zeit vor den Revolutionen 1917, sondern auch danach, sofern die Diener die Familie in das Exil begleiteten.

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Aleksandr Naumov schrieb in seiner Autobiographie: »Ich möchte auf immer die Erinnerung an ihn nicht in Form eines Alltagsportraits konservieren, sondern als ein ikonenhaftes Bild des leidenden Märtyrerzaren.«501 An diesem Zitat wird ersichtlich, dass das Bild des letzten Zaren einen grundlegenden Bewertungswechsel erfuhr.502 Es entstand der Mythos des Märtyrerzaren, der seinen Höhepunkt erst viel später in der Heiligsprechung Nikolajs II. und seiner Familie durch die Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland im Jahre 1981 und durch das Moskauer Patriarchat im Jahre 2000 erreichte.503 Die Bewertung der russischen Zaren unterlag im Verlauf der russischen Geschichte immer einem steten Wandel. Sie hing unmittelbar mit den jeweiligen gesellschaftlichen Veränderungen zusammen. Als sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bestehenden Hierarchien veränderten, hatte dies Auswirkungen auf das Bild des Zaren. So stellte Jessica Tovrov in ihrer Studie zur adeligen Familie im 19. Jahrhundert fest: 500 Vgl. Davidoff, Auf dem Lande, S. 14. 501 Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 554f. 502 Vgl. bei Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 280; Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 555; Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 56. 503 Vgl. detailliert zu den Kanonisierungsprozessen in beiden Teilen der Russischen Kirche: Silke Graupner : Zar Nikolaj II. und seine Familie – Heilige der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die Kanonisierung aus religions- und kulturgeschichtlicher Perspektive, Berlin 2009; Gerd Stricker : Zar Nikolaj II. – ein »Neu-Heiliger«. Zu einer umstrittenen Entscheidung der Russischen Orthodoxen Kirche, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 11, 2000, S. 1187–1196.

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»The principle of sacrifice to a higher unit, indeed the very concept of higher and lower, more and less valuable social entities, was undermined. Sacrifice for the tsar, to say nothing of his lesser deputies, was no longer the obviously appropriate course of action, and many began to question the autocracy itself.«504

Das Hinterfragen des bestehenden Gesellschaftsaufbaus führte dazu, dass die – bisher unantastbare – Person des Zaren zunehmend in Frage gestellt wurde. Zum einen wurde er körperlich angegriffen, so wurde das erste Attentat auf Alexander II. im Jahre 1866 verübt und es folgten noch weitere. Zum anderen wurde die Herrschaft von der Person des Zaren immer weiter abgekoppelt, die Einführung der Duma im Jahre 1906 stellte einen voläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Der Zar wurde zunehmend als eine Privatperson (vgl. z. B. bei Vonljarljarskaja: »private individual«)505 gesehen. Zudem förderte Nikolaj II. selbst diesen Prozess: »Nicholas found his happiness as an ordinary person in the family. […] With Nicholas II, the public obligations of the Russian sovereign faded into the background of scenes of marital happiness.«506 Mit der »Menschwerdung« des Zaren ging ein Autoritäts- und Respektverlust einher und gipfelte in der »Desakralisierung« der Monarchie. Diese Entwicklung wurde von den Autoren retrospektiv durchaus bewusst reflektiert. Nikolaj II. fand demnach nicht als Herrscher Anerkennung in den Erinnerungstexten, sondern als »guter Mensch« und »Märtyrer«. Gerade wegen seines Charakters, der durch Nachgiebigkeit und »Milde« geprägt war, erfolgte die »Resakralisierung« des letzten Zaren bei den untersuchten Autoren. Die Beschreibungen Nikolajs II. erfolgen in den Texten oft über den Vergleich mit anderen Zaren, und das ist in der Regel sein Vater Alexander III., der als eine starke und unangreifbare Institution gesehen wurde.507 Marija Basˇmakova beschrieb diesen als einen »tapferen Ritter«, der die Stärke Russlands personifizierte: »Je ne pouvais d8tacher mes yeux de mon Tsar, ce preux chevalier, personnification de la puissance de la Russie.«508 Vera Golicyna betonte ebenso die Fähigkeit Alexanders III., Russlands Prestige im Ausland aufrecht zu erhalten und zu mehren.509 Sie hielt ihm zugute, dass es keinen Krieg während seiner Regierungszeit gab. Zwar wuchs in Russland die Unzufriedenheit, aber er wusste, sie zu 504 Tovrov, The Russian Noble Family, S. 385f. 505 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 102. 506 Richard S. Wortman: Scenarios of Power : Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Bd. 2: From Alexander II to the Abdication of Nicholas II., Princeton 2000, S. 333. Vgl. auch ders.: The Tsar and the Empire – Representation of the Monarchy and Symbolic Integration in Imperial Russia, in: Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen (Hg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 266–286. 507 Vgl. bei Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 533; bei Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 36ff. 508 Baschmakoff, M8moires, S. 50f. 509 Vgl. Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 115.

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unterbinden. Dagegen sei Nikolaj II. kein guter Selbstherrscher gewesen, denn sein zu freundliches Wesen habe es allen recht machen wollen.510 Bei Ilarion Vasil’cˇikov finden wir ebenfalls die Bewunderung für Alexander III., den er als Kind auf einem Kinderball erlebt hatte: »Der Kaiser Alexander III. war ein absolutes Oberhaupt und Hausherr nicht nur des Russischen Reiches, sondern auch seiner Familie. Seine ruhige Selbstsicherheit hat jedem und allen imponiert.«511 Das Bild Alexanders III. als Familienoberhaupt (chozjain) seiner Familie und ganz Russlands vermittelte das Gefühl der Sicherheit und der Stärke. So referierte Ilarion Vasil’cˇikov über Alexander III. als den »Friedenszar« (car’-mirotvorec), als Russland seine volle Würde entfaltete und der nationale Stolz der Russen (im Text: nacional’naja gordost’ russkich ljudej) zur Geltung kam. Dabei hätte der Zar seine Friedenspläne nicht durch Nachgiebigkeit, sondern durch die Durchsetzung seines Willens erreicht.512 Ilarion Vasil’cˇikov gab zwar freimütig zu, dass die Regierungszeit Alexanders III. als reaktionär zu bezeichnen sei, aber das sei eine »gesunde Reaktion« auf die Vergiftung durch die Zeit des »Nihilismus« gewesen. Er führte weiter aus, dass das autokratische Regime für Russland die beste Regierungsform sei, aber nur in den Händen eines geborenen, echten Autokraten (im Text: prirozˇdennyj samoderzˇec). Wohingegen seine Generation habe erleben müssen, wie die autokratische Macht unaufhaltsam schwand. Dadurch übte Vasil’cˇikov zwar Kritik am Regierungsstil Nikolajs II., sagte aber im selben Atemzug, dass dieser von den besten Absichten und von »leidenschaftlicher Liebe« zum Volk geleitet worden sei. Der Zar habe schlicht die Gabe der Alleinherrschaft nicht besessen und sei deshalb gescheitert.513 Diese Beispiele zeigen auf, dass die aufgeführten Charaktereigenschaften Nikolajs II., die seine Zeitgenossen eher negativ bewerteten, in der retrospektiven Sicht der Autoren als rehabilitierend wirkten. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass diese Umwertung vor dem Hintergrund des Wissens um das tragische Schicksal des letzten Zaren und seiner Familie stattfand. Das Bedürfnis, über Nikolaj II. zu schreiben, war vor allem bei denjenigen stark, die ihn persönlich erlebt und kennengelernt hatten. Nadezˇda Vonljarljarskaja stattete ihn mit Attributen wie Zuvorkommenheit, Charme und außerordentliche Freundlichkeit aus. Dass er das Volk geliebt habe, stellte sie nicht in Frage: »He constantly had in mind the welfare of his people whom he loved so much.«514 Der »das Volk liebende und gute Zar« ist in zahlreichen Erinnerungen an das Bild der schlechten Berater gekoppelt. Boris Vasil’cˇikov schrieb, dass der Zar 510 511 512 513 514

Vgl. ebd., S. 133. Vasil’cˇikov, To, cˇto mne vspomnilos’, S. 51. Alle Zitate ebd., S. 197. Vgl. ebd. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 102.

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abgeschirmt von der Welt gelebt habe und von seinen Beratern mit Absicht im Dunkeln gehalten worden sei, weshalb er von den komplexen Problemen des Landes gar keine Kenntnis gehabt habe: »Vom Zaren geht nur das Gute aus; alles Übel, alle Unwahrheiten gehen von seinen Beratern aus. Wenn es sie nicht gegeben hätte oder wenn es andere gewesen wären, die Wahrheit hätte bis zum Thron durchdringen und das Übel hätte beseitigt werden können.515

Dieser Topos der schlechten Berater – mit Rasputin an der Spitze – findet sich auch bei Marija Basˇmakova. Sie bedauerte den Zaren Nikolaj II. als »le pauvre tsar«, denn er habe einen schwachen Charakter gehabt: »Le pauvre Tsar avait un caractHre mou.«516 Außerdem sei er vom Pech verfolgt gewesen. Basˇmakova erwähnt auch die Katastrophe von Chodynka,517 die als schlechtes Omen für die Herrschaft Nikolajs II. gedeutet worden sei und an welcher nur die anonymen Organisatoren schuld gewesen seien.518 Die Tatsache, dass der Moskauer Gouverneur und Onkel von Nikolaj II., Großfürst Sergej Aleksandrovicˇ, verantwortlich für das Unglück war, aber nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, findet keine Erwähnung in den Erinnerungstexten.519 Des Weiteren stellte Basˇmakova eine Kausalkette her : Hätte man gewusst, dass seine deutsche Gemahlin aus einer »kranken Dynastie« kam, wäre es nicht zur Bluterkrankheit des Thronfolgers gekommen und zur Abhängigkeit der Zarin von Rasputin, den die Basˇmakova abwechselnd »grossier paysan« (ungehobelter Bauer), »vaurien« (Taugenichts), »pseudo-moine« und »aigrefin« (Hochstapler) nannte.520 Rasputin wurde in den untersuchten Autobiographien mit überwiegend negativen Attributen ausgestattet, dennoch blieb er eine sehr ambivalente Figur – ein Sünder und Wunderheiler zugleich.521 Basˇmakova übte auch Kritik an ihren Zeitgenossen. Einen Teil der Schuld 515 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 191. 516 Baschmakoff, M8moires, S. 114, vgl. auch S. 185f. 517 Die Katastrophe von Chodynka bezeichnet die Ereignisse wenige Tage nach der Krönung Nikolajs II. im Mai 1896. Ein Volksfest wurde auf dem Chodynka-Feld in der unmittelbaren Nähe von Moskau veranstaltet; es nahmen wesentlich mehr Besucher teil als geplant. Bei der Verteilung von Essen und Geschenken brach eine Massenpanik aus, 1400 Menschen kamen ums Leben und 600 wurden verwundet. Der Zar nahm trotz dieser tragischen Vorfälle an einem Ball teil und die Festlichkeiten gingen in den folgenden Tagen weiter. Diese Haltung rief Empörung in der Bevölkerung hervor und vertiefte die Kruft zwischen Hof und Gesellschaft. Vgl. Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 1998, S. 37f.; Henri Troyat: Nikolaus II. Der letzte Zar, Frankfurt/M. 1992, S. 52ff. 518 Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 93. 519 Vgl. Kathleen Klotchkov : Der lange Weg zum Fest: Die Geschichte der Moskauer Stadtgründungsfeiern von 1847–1947, Berlin 2006, S. 132f. 520 Baschmakoff, M8moires, S. 113, 114, 115, 417. 521 Z. B. bei Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 125ff.

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sprach Basˇmakova der »guten Gesellschaft« zu, denn es wäre »in Mode« gewesen, den Hof zu kritisieren und der Zar wäre pietätslos »le petit colonel« genannt worden. Der Zar hätte in jedem Fall die nötige Unterstützung erhalten müssen, gerade in der Kriegszeit. Die Kritik der Zeitgenossen wäre während des Ersten Weltkrieges nicht nur unangebracht, sondern auch zerstörerisch gewesen: »On ne construit pas la maison pendant l’incendie.«522 Allerdings hätte auch Nikolaj II. selbst einen Anteil am Verlust seines Prestiges gehabt, da er zu viel Zeit in bestimmten Regimentern verbracht und nach Popularität gestrebt habe: »On disait qu’il recherchait la popularit8«.523 Auf diese Weise hätte er schrittweise an Respekt und Prestige bei den Soldaten eingebüßt: »Ces passe-temps sous les yeux des plantons furent peut-Þtre une des gouttes qui sapHrent le prestige du pouvoir et de la majest8 imp8riale aux yeux des soldats.«524 Gleichzeitig hätte Rasputin eine immer größere Rolle gespielt, da sein Einfluss in der »hohen Gesellschaft« wuchs. Er hätte die Charakterlosigkeit sowie moralische Schwäche machthungriger Politiker ausgenutzt, die auf Vermittlung von Posten »durch diesen Zauberer« hofften.525 Marija Basˇmakova betonte, dass sie sich niemals erlaubt hätte, den Zaren zu kritisieren oder gar zu verspotten, wie es unter den Ärztinnen während ihrer Zeit als Krankenschwester der Fall gewesen wäre: »J’avais 8t8 8lev8e dans le respect des traditions. Je ne supportai pas que Nicolas II fut tourn8 en d8rision.«526 Bei Nadezˇda Vonljarljarskaja findet sich keine direkte Kritik an Nikolaj II., aber es gibt Hinweise auf die Unzufriedenheit mit dem Regierungsstil des letzten Zaren: In der Phase zwischen dem Russisch-Japanischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg hätte die Zarenfamilie mit ihren Vertrauten sehr zurückgezogen gelebt, dadurch hätten sie den Kontakt zur Bevölkerung verloren.527 Aleksandr Naumov schrieb an mehreren Stellen, welche Ungerechtigkeit es gewesen wäre, dass die Regierung, der Adel und die Bauern dem Zaren zwar wiederholt ihre Treue und ihren Glauben an das Vaterland beteuert hätten, so z. B. bei der Feier des 300-jährigen Jubiläums des Hauses Romanov und auch bei Beginn des Ersten Weltkrieges.528 Diese Beteuerungen wären aber im entscheidenden Jahr 1917 nichts mehr wert gewesen, denn diese monarchische »grenzenlose Treue« hätte sich nicht nur aufgelöst, sondern auf schicksalhafte Weise

522 523 524 525 526 527 528

Baschmakoff, M8moires, S. 134. Ebd., S. 85f. Ebd. Vgl. ebd., S. 113. Ebd., S. 134. Vgl. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 56. Vgl. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 233.

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gegen die Zarenfamilie gewandt. Dabei wäre dieser Verrat sowohl vom Hochadel, als auch von einigen Militäreinheiten ausgegangen.529 Das tragische Schicksal Nikolajs II. löste bei Aleksandr Naumov Entsetzen und auch Unverständnis aus. Trotz der eingeräumten Missstände und der Unzufriedenheit mit dem letzten Zaren konnte er die Vorgänge nur als eine »Massenpsychose« deuten, die von einigen Persönlichkeiten befeuert worden wäre: Michail Rodzjanko, Aleksandr Gucˇkov, Pavel Miljukov und Vladimir Purisˇkevicˇ. Als Gegengewicht dazu beschrieb Naumov die eigenen Empfindungen gegenüber der Monarchie bzw. dem Monarchen. So schilderte er sein erstes Treffen mit dem Zaren im Jahre 1904 als eine magische Erfahrung: »Ich werde niemals dieses Gefühl der besonderen Entzückung vergessen, mit welcher mein junges Herz erfüllt war beim Erwarten des einzigartigen Erlebnisses in meinem Leben – der Möglichkeit, zum ersten Mal meinen Monarchen zu sehen.«530

Marija Basˇmakova legte in ihrem Erinnerungstext ebenfalls Wert darauf, dass das Kritisieren der Kaiserlichen Familie bei ihr tabu gewesen sei.531 Die Mitglieder der Romanov-Familie wurden bei ihr überwiegend positiv beschrieben: sie benutzte für sie Adjektive wie schön, elegant, kunstliebend, charmant, graziös und vorbildlich.532 Erst in Verbindung mit der Erinnerung an den Krieg stellte sie fest, dass eine gewisse Abkehr von der alten Pracht und den hohen Standards stattfand, was sie »une certaine d8mocratisation« nannte. Das hätte sich z. B. im nicht standesgemäßen Heiraten von Tänzerinnen oder geschiedenen Frauen geäußert.533 Dabei waren Scheidungen oder morganatische Ehen im Hause Romanov nicht nur ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Alexander II. nahm sich im Jahre 1866 eine junge Geliebte, Ekaterina Dolgorukaja, die im Jahre 1880 durch die morganatische Ehe mit ihm den Titel Fürstin Jur’evskaja erhielt.534 Mitte des 19. Jahrhunderts wurde unter anderem die Ehe von Großfürst Nikolaj Nikolaevicˇ (dem Bruder Alexanders II.) und seiner Frau geschieden.535 Andere folgten diesem Beispiel und nicht wenige Großfürsten (und einige Großfürstinnen) sowie Adelige heirateten erneut, oft auch bereits geschiedene Partner. Das 529 530 531 532 533 534

Vgl. ebd., S. 244f. Ebd., S. 354. Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 77. Vgl. ebd., S. 62f. Ebd., S. 140. Vgl. E.M. Almedingen: Die Romanows: Die Geschichte einer Dynastie. Rußland 1613–1917, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1995, S. 341ff., 365. Die jüngste Tochter aus dieser Verbindung, Ekaterina, war in erster Ehe mit A.V. Barjatinskij und in zweiter Ehe mit Sergej P. Obolenskij verheiratet. Diese Ehe wurde 1924 geschieden. Vgl. Obolenskij, One Man in His Time, S. 128 (Abb. 1 und 2), S. 129 (Abb. Ekaterina Obolenskaja im Jahre 1920), S. 148f. 535 Vgl. zahlreiche Beispiele bei Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna: ein Leben in Zarenreich und Emigration, S. 142.

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Thema hatte definitiv »den Ruch des Skandalösen«,536 aber das Haus Romanov hatte dennoch eine recht liberale Einstellung dazu. Marija Barjatinskaja betonte darüber hinaus, dass die Vergnügungen am Hof unter Nikolaj II. abnahmen und die Zurückgezogenheit der Zarin negativ auffiel: »Die Kaiserin mochte das mondäne Gesellschaftsleben nicht, sie zeigte kein Interesse für das Tanzen, und die Kinder waren noch viel zu klein für eine Einführung in die Gesellschaft.«537 Barjatinskaja war nicht die einzige, die diese ablehnende Haltung für die »deutsche« Zarin hegte. So schrieb Vera Golicyna, dass die junge Zarin weder auf den russischen Thron vorbereitet gewesen wäre, noch das Talent gehabt hätte zu regieren. Außerdem neigte sie zum Mystizismus, und der Zar war zu liebenswürdig, um sie zurechtzuweisen. Die Zarenfamilie zog sich immer mehr ins Private zurück, und infolgedessen rückte auch die »Gesellschaft« vom Hof immer mehr ab.538 Nikolaj II. blieb in den Augen der Autoren ein herzensguter Mensch, der aber den hohen Anforderungen seines Amtes nicht gerecht geworden war. So beschrieb Naumov den »gütigen Monarchen« während eines Empfanges in Mogilev während des Ersten Weltkrieges: »Der Monarch – immer geradlinig, mit allen freundlich, für jeden ein liebevolles Wort übrig.«539 Das Essen zeichnete sich, im Unterschied zu zahlreichen pompösen Empfängen verschiedener Minister in Petersburg, durch eine extreme Einfachheit aus und bestand nur aus typisch russischen Gerichten, was bei Naumov gleichgesetzt wurde mit Volksnähe und Patriotismus.540 Bei der Beschreibung seines letzten Treffens mit dem Zaren treten die ikonenhaften Züge Nikolajs II. zu Tage: »Die Traurigkeit in seinem blassen, müden Gesicht; die Tränen auf den Wimpern der schönen, aber der Alltagswelt entrückten Augen; etwas unbeschreiblich Leuchtendes und gleichzeitig Sanftes im ganzen Benehmen und seiner Statur – das ist das Bild, das vor meinem inneren Auge entsteht, wenn ich an den letzten Monarchen Russlands denke.«541

Auch bei Varvara Dolgorukova entstand das Bild des letzten Zaren als das eines Heiligen, aber keineswegs eines autokratischen Herrschers. Er habe in seiner Gefangenschaft allen vergeben und seine Getreuen gebeten, ihn nicht zu rächen, da »nur die Liebe den Hass überwinden könne«.542 Dieser Zar sei noch um den Frieden bemüht gewesen, als die Deutschen bereits den Krieg geplant hätten; er habe sogar nach dem Mord am österreichischen Thronfolger nach Wien reisen 536 537 538 539 540 541 542

Ebd., S. 143. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 38. Vgl. Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 170f. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 510. Vgl. ebd. Ebd., S. 554f. Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 141.

Car’-mucˇ enik – der Märtyrerzar Nikolaj II.

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wollen. Dolgorukova umschrieb den Zaren als durchweg bescheiden, sanft und friedfertig.543 Bei Barjatinskaja findet sich das Bild des alles erduldenden Zaren, als er sich unter Hausarrest in Carskoe Selo befand: »Und nun war der Kaiser tatsächlich gezwungen, ›den Annehmlichkeiten zu entsagen und schwere Zeiten durchzumachen‹. In Carskoe Selo durfte er lediglich in einem kleinen Eckchen des Parks spazieren gehen, welcher von einem hohen Metallzaun umgeben war. Hier hat er oft die Erde umgegraben, um eine körperliche Beschäftigung zu haben und sich auch seelisch zu entspannen. Hinter den hohen Zaunstäben standen stundenlang meuternde Soldaten, die, wie es schien, Gefallen daran fanden, ihn zu beleidigen und zu demütigen.«544

In den Erinnerungen von Dolgorukova und Barjatinskaja wurde die Existenz eines Zaren als unabdingbar für die Existenz Russlands dargestellt. Getreu der Idee, dass jeder Russe drei Väter habe: Gott, den Allmächtigen, den Zaren und schließlich den Leiblichen, entspricht das von Dolgorukova gezeichnete Bild des letzten Zaren dem einer sanften Vaterfigur. Die Beschreibung drückt eine große Zuneigung aus: Seine blauen, erleuchteten und guten Augen seien ihr besonders in Erinnerung geblieben.545 Sie wies gleichzeitig darauf hin, wie hoch die Anforderungen gewesen wären. Das Amt des Zaren erscheint als Last und als Bürde. Um diese Aussage zu untermauern, präsentierte die Autorin im Anhang der Autobiographie die Rede des Metropoliten von Moskau anlässlich der Krönung des Zaren, in welcher darauf eingegangen wurde, dass es keine höhere Macht auf Erden und keine schwerere Bürde als die Macht eines Zaren gäbe.546 Für Marija Barjatinskaja symbolisierte der Zar das Herz Russlands, ohne das es nicht überleben könne: »[Nikolaj II.] liebte sein Land und war so stolz darauf! Und seit diesen Zeiten, wo er nicht mehr lebt, lebt auch das Land nicht. Russland kann ohne einen Zaren nicht existieren. Er war das Herz in diesem riesigen Leib, der unsere Heimat war.«547

Das Verhältnis Nikolajs II. zu seinem Volk wäre zu Beginn durchaus ungetrübt gewesen, wie Barjatinskaja anhand der Krönungsfeierlichkeiten nachzuweisen versuchte: »Die Rufe der Begeisterung waren dermaßen langanhaltend, dass Ihre Hoheiten sich gezwungen sahen, auf den Balkon zu gehen und sich mehrmals vor ihren Untertanen zu verbeugen. Als der Kaiser erschien, erreichte der Enthusiasmus seinen Höhepunkt: laut ertönten die fröhlichen Begrüßungen und viele warfen ihre Mützen in die Höhe, obwohl es schwierig war, sie in der Menge wieder zu fangen. Die Augen des Kaisers füllten 543 544 545 546 547

Vgl. ebd., S. 131f. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 59. Vgl. Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 17. Vgl. ebd., S. 189. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 268.

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sich mit Tränen angesichts dieses Beweises der Volkstreue. Er selbst war dem Volk so treu, dass er für sein Land sein Leben geopfert hätte.«548

An die uneingeschränkte Monarchie-Verehrung während seiner Kindheit erinnerte sich auch Sergej Trubeckoj. Als Alexander III. gestorben war, hinterließ die Trauerzeremonie bei ihm einen großen Eindruck. Er räumte zwar ein, dass das eine Kindheitserinnerung, aber dennoch ein tiefes patriotisches und monarchisches Erlebnis gewesen sei. Dieses Gefühl, auch von seinen Zeitgenossen geteilt, habe zum kollektiven Empfinden der Epoche gehört: »Russland war in dieser Zeit tief monarchisch, und das persönliche Erleben ermöglichte mir das Verständnis für den Zeitgeist, den ich [durch] viele Erzählungen von Menschen aus der Generation meiner Großeltern mit ihrer ungetrübten, ganzheitlichen und organischen monarchischen Weltanschauung kannte.«549

Es ist an dieser Stelle nicht zu beantworten, wie die Haltung einzelner Adeliger im Jahr 1917 tatsächlich war. In den Erinnerungen jedenfalls wurde entschieden auf die eigene Monarchie- und Zarentreue verwiesen: »Im Geheimen meines Herzens kritisierte ich in vielem den Zaren, […] aber gewissenhaft blieb ich ihm immer treu«.550 Nicht nur die Abdankung von Nikolaj II., sondern auch der Thronverzicht seines Bruders, des Großfürsten Michail Aleksandrovicˇ, sowie der gesetzeswidrige Verzicht Nikolajs II. für seinen minderjährigen Sohn Aleksej erschütterten neben Vonljarljarskaja auch andere Autoren: »We Russian loyalists were plunged into unutterable despair because we saw in this renuciation the shattering of our last hopes.«551 In den untersuchten Texten zeigt sich durchaus eine ambivalente Bewertung Nikolajs II. Den Autoren war es dennoch wichtig, einen Gegenentwurf zum sowjetischen Bild des Zaren zu zeichnen. In der Sowjetunion dominierte die Polemik gegen den »Zarismus«, welcher als ein Schreckbild entworfen wurde und als Kontrast zum positiven Bild der Sowjetgesellschaft diente. Der letzte Zar wurde in der sowjetischen Geschichtswissenschaft, aber auch in den Medien, zu »Nikolaj dem Blutigen« bzw. »Nikolaj mit der Knute«.552 Der Erinnerungsdiskurs der Emigranten korrigierte diese Darstellung und hatte weitreichende Folgen. An die pro-zarischen autobiographischen Texte knüpften der biographische Roman von Robert K. Massie »Nicholas and Alexandra«553 und der gleichnamige Film im Jahre 548 549 550 551 552

Ebd., S. 49. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 9. Ebd., S. 137. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 166, vgl. auch Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 139f. Vgl. Isabelle de Keghel: Vom Tyrannen zum Heiligen: sowjetische und postsowjetische Imaginationen des letzten Zaren, in: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.): Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, S. 349–362, hier S. 351f. 553 Vgl. Robert K. Massie: Nicholas and Alexandra, New York 1967; ders.: Nikolaus und Alexandra. Die letzten Romanows und das Ende des zaristischen Russland, Frankfurt/M. 1968.

Das revolutionäre Jahr 1917

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1971 an.554 Hier wurde die Figur des Zaren, wie in den untersuchten Autobiographien auch, überaus positiv dargestellt. Nikolaj II. erschien weniger in seiner Funktion als Monarch, sondern in der Rolle des liebenden Familienvaters und einer Privatperson. In der Zeit der Perestrojka rückte vor allem das Schicksal der Zarenfamilie in den Vordergrund, und Nikolaj II. wurde vom »Täter zum Opfer«, vom »Feind zum Heiligen«.555 Welchen Anteil die untersuchten Autobiographien an diesem Wandel hatten, lässt sich nicht exakt beziffern.556 Dennoch ließ diese Entwicklung die adeligen Autoren als »Propheten« erscheinen.557

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Das revolutionäre Jahr 1917

Das revolutionäre Jahr 1917 mit seiner radikalen Zäsur für die gesamte Welt558 stellte ein identitätsstiftendes Negativereignis für den russischen Adel dar und hatte daher eine signifikante adelshistorische Dimension. Die Bewältigung der Revolution und ihrer Folgen für den Adel wurde in der Fachliteratur vereinzelt untersucht.559 An dieser Stelle soll der Stellenwert der Revolutionen im Jahr 1917 in der Erinnerung der Adeligen herausgearbeitet werden.560 554 Vgl. de Keghel, Vom Tyrannen zum Heiligen, in: Satjukow/Gries (Hg.), Unsere Feinde, S. 355. 555 Vgl. ebd., S 355, Abb. 2 auf S. 356. Vgl. auch die Monographie von Isabelle de Keghel: Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte. Identitätsdiskurse im neuen Russland, Hamburg 2006. 556 Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass Robert Massie zahlreiche autobiographische Texte von russischen Exilanten (nicht nur von Adeligen) für sein Buch benutzte, was ein Blick in die Bibliographie bestätigt. Allerdings scheinen überwiegend die Autobiographien mit einem starken Bezug zur Romanov-Familie in der engeren Auswahl gewesen zu sein, so z. B. von Aleksandr A. Mosolov, Anna A. Vyrubova und anderen Vertrauten des Zaren und seiner Frau. 557 Vgl. zur Rolle des »Propheten« beim französischen Adel bei Rance, Les m8moires de nobles 8migr8s en Allemagne, in: Schönpflug/Voss (Hg.), R8volutionnaires et 8migr8s, S. 221–233. 558 Vgl. Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017, S. 212ff.; Altrichter, Russland 1917; Heiko Haumann (Hg.): Die Russische Revolution 1917, Köln u. a. 2007; Richard Pipes: Die Russische Revolution, 3 Bde, Berlin 1992, 1993; Jörg Baberowski/Christian Teichmann/Robert Kindler : Revolutionen in Russland 1917–1921, Erfurt 2007; Manfred Hildermeier : Die Russische Revolution, Frankfurt/M. 1989, 2. Aufl. 2004; Dietrich Beyrau: Die bolschewistische Revolution 1917– 1921, in: P. Wende (Hg.): Große Revolutionen der Geschichte. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 2000, S. 190–207; ders.: Petrograd Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, München 2001. ˇ ujkina, Dvorjanskaja pamjat’. Vgl. auch E. Foteeva: Social’naja 559 Vgl. Smith, Former People; C adaptacija posle 1917 goda: zˇiznennyj opyt sostojatel’nych semej, in: dies./V. Semenova (Hg.): Sud’by ljudej: Rossija XX vek. Biografii semej kak ob’’ekt sociologicˇeskogo issledovanija, Moskau 1996, S. 240–275. 560 Vgl. allgemein zum Aspekt der unterschiedlichen Sichtweisen der Zeitgenossen und der nachfolgenden Generationen auf die Revolution von 1917: Heiko Haumann: Erinnerung an

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Hierfür wird das Konzept der Erinnerungsorte – »lieux de m8moire« – herangezogen, das auf den französischen Historiker Pierre Nora zurückgeht.561 Seiner Ansicht nach kristallisiere sich das »kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe« (nach Halbwachs) an bestimmten »Orten« der Erinnerung, die ein besonderes Spannungsfeld zwischen historischen Ereignissen und den Angehörigen dieser Gruppe aufweisen. Diese Erinnerungsorte sind folglich für die Bildung und den Zusammenhalt von Gruppen von besonderer Bedeutung, wobei »Ort« nicht ausschließlich im wortwörtlichen Sinne, sprich geographisch, verstanden werden darf. Vielmehr kann ein »Ort« unterschiedlicher Natur sein: Als prägendes Ereignis, als Institution, Begriff oder als Erinnerungsfigur.562 Er besitzt eine besondere symbolische Bedeutung, die für die jeweilige Gruppe identitätsstiftend wirkt.563 Dabei geht es bei den Erinnerungsorten weniger um den »Ort« selbst als vielmehr um die kollektive Selbstverständigung über seine Bedeutung. Durch den Kommunikationsprozess über den Erinnerungsort erfolgt ein wichtiger Teil der Identitätskonstruktion.

6.1

Die Februarrevolution

Die Februarrevolution erlebten die Autoren nicht auf gleiche Art und Weise: Während die Städter in Petrograd die beunruhigenden Ereignisse zeitnah mitverfolgen konnten, erfuhren die Moskauer von den neuen Entwicklungen zunächst nur aus den Zeitungen und je weiter sich die Adeligen von den städtischen Zentren entfernt befanden, desto länger dauerte der Informationstransfer.564 Der Großteil der adeligen Familien konnte sowohl in den Städten, als auch auf dem Land sein altes Leben zunächst weiterführen, obwohl es bereits ein Anachro-

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1917: Sichtweisen der Russischen Revolution, in: ders. (Hg.), Die Russische Revolution 1917, S. 143–157. Vgl. Pierre Nora (Hg.): Les lieux de m8moire, 3 Bände (7 Halbbände), Paris 1984–1992. Zu den deutschen Erinnerungsorten vgl. Ptienne FranÅois/Hagen Schulze: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I–III, München 2001; Moritz Cs#ky (Hg.): Orte des Gedächtnisses, Wien 2000; Jacques Le Rider/Moritz Cs#ky/Monika Sommer (Hg.): Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck 2002. Zwei herausragende Studien bieten Frithjof Benjamin Schenk zur »Erinnerungsfigur« Aleksandr Nevskij und Guido Hausmann zum »Erinnerungsort« der Volga. Vgl. Schenk, Aleksandr Nevskij. Heiliger – Fürst – Nationalheld; Guido Hausmann: Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2009. Vgl. die neuere Tendenz in der Forschung, die einzelnen Gruppen in den russischen Revolutionen stärker in den Mittelpunkt zu rücken: Frank Wolff/Gleb J. Albert: Neue Perspektiven auf die Russischen Revolutionen und die Frage der Agency, in: Archiv für Sozialgeschichte 52, 2012, S. 825–858. Vgl. dazu Heiko Haumann: Das Jahr 1917 in den Metropolen und in den Dörfern, in: ders. (Hg.), Die Russische Revolution 1917, S. 52–72; Jörn Happel: Die Revolution an der Peripherie, in: Haumann (Hg.), Die Russische Revolution 1917, S. 73–86.

Das revolutionäre Jahr 1917

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nismus gewesen sei, wie der in Moskau lebende Sergej Trubeckoj in der Retrospektive einräumte: »Unsere zwei Familien lebten ein seltsam anmutendes Leben in einer großen Villa. Wir konnten nicht umhin, die ganze Zeit daran zu denken, dass wir auf einem Vulkan lebten: Unter unseren Füßen bewegte sich die Erde und es grollte gefährlich. Und dennoch – in der ersten Zeit jedenfalls – lebten wir weiterhin mit alten Lebensgewohnheiten: als ›Herren‹ mit Dienerschaft, einem Koch usw.«565

In ähnlicher Weise erinnerte sich die in Petrograd lebende Varvara Dolgorukova und sprach von einer »bizarren Mischung aus Routine und Neuigkeiten«. In der Retrospektive fiel ihr auf, dass damals die Dienerschaft nicht mehr so folgsam war und die Gewalt der Straße sie überraschte. Die Ungewissheit, was die Zukunft bringe, wechselte sich mit Optimismus ab.566

Abb. 6: »Aljonuschka und ich [Marianna Davydova, J.H.] in Kiew während der ersten Tage der Revolution. Zossim, der alte Diener aus Matussow, serviert uns den Tee.«567

Marianna Davydova zeichnete im Exil ein Bild, das sie und ihre Tochter Aljena in Kiev während der ersten Tage der Revolution zeigt (Abb. 6). Das Bild vermittelt genau diesen Anachronismus: Während »draußen« die alte Welt untergeht, führen die Bewohner »drinnen« ein scheinbar unverändertes Leben mit alten Annehmlichkeiten. Nur die Bildunterschrift verrät, dass Veränderungen anstehen, denn auf der Zeichnung selbst erkennt der Betrachter keine Anzeichen der 565 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 160. 566 Vgl. Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 140. 567 Davidoff, Auf dem Lande, S. 147.

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Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Revolution. Der Tee wird vom alten Diener serviert. Die Wohnung ist auf dem Aquarell mit Bildern und Möbeln behaglich eingerichtet. Die Februarrevolution traf manche der adeligen Autoren unvorbereitet, andere erinnerten sich an Vorboten der Revolution. Besonders im städtischen Milieu erfolgte eine regelrechte Umkehrung der früheren Verhältnisse, wie Lidija Vasil’cˇikova beschrieb: »Das Hauspersonal bildete jetzt die privilegierte Klasse. Man erkundigte sich in den verschiedenen Häusern, ob sich die Dienerschaft über irgendetwas beschweren wolle, und wenn es Klagen gab, war jedes Mal die Herrschaft schuld. Die mit uns befreundeten Obolenskis hatten ein Hausmädchen entlassen. Sie beschwerte sich beim örtlichen Kommissariat, das sofort in der Villa ihrer Arbeitgeber eine Hausdurchsuchung vornahm und verfügte, das Mädchen entweder wiedereinzustellen oder ihr eine enorme Abfindung zu zahlen.«568

So erschien das veränderte Verhalten des Personals als ein sicheres Kennzeichen der Revolution. Als das Pflegepersonal in einem Lazarett beschloss, eine unbeliebte Oberschwester zu entlassen und sie auf einer Schubkarre hinauszubefördern, wertete Vasil’cˇikova diese Handlung als Protest gegen das »alte Regime« und eine Reverenz an die neuen Machthaber, die Bol’sˇeviki.569 Irina Skarjatina beschrieb eine ähnliche Situation in einem Krankenhaus, erlaubte sich aber kein eigenes Urteil, sondern zitierte eine Vorgesetzte, die die revoltierenden Köche, Dienstmädchen, Wäscherinnen und Krankenpfleger als »Kinder« bezeichnete, welche die Erwachsenen imitieren würden. So wäre die Ablehnung jeglicher Autorität nur ein Reflex auf die Abschaffung der Monarchie.570 Für Skarjatina gab es deswegen nicht eine »große« Revolution, sondern mehrere lokale.571 Die mangelhafte Bildung, das schlechte Benehmen und die fehlenden Sprachkompetenzen der unteren Schichten beschrieb sie mit gewisser Ironie und Humor, wodurch vielleicht auch das eigene Überlegenheitsgefühl einer gebildeten Schicht zum Ausdruck kam. So machte sich Irina Skarjatina über die Krankenschwestern lustig, die das Wort meeting falsch aussprachen: »’mitinka’ they pronounced it«.572 Skarjatina wies auch auf die Unfähigkeit des einfachen Personals hin, sich unter den Slogans der Revolutionäre etwas Konkretes vorstellen zu können, und den daraus resultierenden irrationalen Gehorsam. Eine ältere Mitarbeiterin wurde als Beispiel angeführt, die davon

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Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 343. Vgl. ebd., S. 314f. Vgl. Skariätina, A World Can End, S. 112. Vgl. ebd., S. 114. Ebd., S. 108. Zu der revolutionären Terminologie bei den Bauern mit zahlreichen Beispielen vgl. Figes, The Russian Revolution of 1917, S. 76f.

Das revolutionäre Jahr 1917

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überzeugt gewesen sei, nicht mehr den »alten Dienstherren«, sondern den Befehlen des »Volkes« gehorchen zu müssen.573 Der erinnerte »Niedergang des Respekts« war von allen Autoren registriert worden. Umso mehr stachen die Ausnahmen heraus, wenn die Adeligen als Respektpersonen behandelt wurden. Marija Barjatinskaja bemerkte, dass zu ihrer Erleichterung »ihr« Personal in ihrem Lazarett für Offiziere sich nicht anfällig für die Revolution gezeigt hätte. Sie betonte nachdrücklich, dass die Assistenten sehr freundlich mit ihr umgingen und sich keine »Frechheiten oder Respektlosigkeit« ihr oder den Patienten gegenüber erlaubten.574 Neben den Abschnitten mit persönlichen Erfahrungen versuchten einige Autoren, Erklärungs- und Deutungsversuche über Ursachen, Verlauf und Folgen der Februar- und später der Oktoberrevolution zu liefern. Marija Basˇmakova hatte schon deutlich den »Atem der Revolution« (le souffle de la r8volution) nach der Ermordung Rasputins gespürt. Denn wenn bereits die Vertreter der »guten Gesellschaft« zu rebellieren anfingen, konnte es nur schlecht für Russland ausgehen. Sie hatte bereits eine »schaurige Vorahnung« für die Zukunft, als die angespannte Stimmung in Petrograd sich in gewaltsamen Demonstrationen entlud.575 Das nächste einschneidende Ereignis war für sie die Abdankung des Zaren, die sie mit dem Begräbnis ganz Russlands verglich. Zudem zeigte sie sich entsetzt über die ihr unverständliche Freude darüber in ihrer Umgebung.576 Eine Anklage gegen die Standesgenossen, die eine gefährliche Naivität an den Tag legten, formulierten auch andere Autoren. Diese »Naivität«, die sich recht bald der Realität beugen musste, erwähnte Vera Golicyna: »f Tsarsko8-S8lo j’avais aussi une amie, la comtesse Macha Loris, qui, toute p8n8tr8e des id8es de son pHre, avait salu8 avec enthousiasme l’aube de la r8volution et ne jurait que par Kerensky. Comme bien d’autres, elle dut d8chanter devant les progrHs du chaos.«577

Auch Sergej Trubeckoj empfand schieres Entsetzen darüber, dass so viele sich auf die Revolution regelrecht gefreut hatten. Mit einer gewissen Genugtuung registrierte er aber auch, dass die revolutionären Ideen, die noch vor der Februarrevolution 1917 auch beim liberalen Adel en vogue gewesen waren, sich schnell als desillusionierend herausstellten.578 Lidija Vasil’cˇikova schrieb, dass der »Zusammenbruch ihrer Welt« mit der 573 574 575 576 577 578

Vgl. Skariätina, A World Can End, S. 111f. Vgl. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 301. Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 183. Vgl. ebd., S. 186; vgl. auch Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 207f. Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 216. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 51.

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Abdankung des Zaren und dem Verzicht seines Bruders auf den Thron gekommen sei. Den Zusammenbruch der Ruhe und Ordnung im ganzen Land habe der »Befehl Nr. 1«579 verstärkt, da er den Truppen »Anarchie« gepredigt und die Disziplin in den Streitkräften untergraben habe.580 Dabei verwies sie darauf, dass am Anfang der Unruhen am häuslichen Tisch Uneinigkeit darüber geherrscht habe, ob die auf der Straße stattfindenden Ereignisse schon eine Revolution seien oder nicht.581 Die Veränderungen nach der Abdankung des Zaren seien unmittelbar sichtbar gewesen, etwa durch die Entfernung der Symbole des alten Systems, v. a. solche sichtbaren wie die Statuen und Portraits der Zaren oder der doppelköpfige Adler.582 Letzterer sei buchstäblich über Nacht von Geschäften, Palästen, Metrostationen und anderen öffentlichen Plätzen verschwunden. Die Armeeuniformen und -auszeichnungen wurden »neutraler« gestaltet bzw. »revolutioniert«: »Die St.-Georgs-Banner – die höchste russische Auszeichnung für eine Einheit – wurden den Regimentern, die sie sich aufgrund ihrer Tapferkeit verdient hatten, jetzt weggenommen – angeblich, weil die Initialen des Zaren entfernt werden sollten – und anstelle der schwarz-goldenen St.-Georgs-Bänder erhielten sie rote.«583

So wurde der Tausch von Symbolen bewusst sichtbar für alle Bevölkerungsschichten vollzogen, die neuen wurden rasant allgegenwärtig. Die »deromanovization« (Richard Stites) ging zügig voran,584 was Sergej Trubeckoj offensichtlich mit dem bevorstehenden Ende Russlands verband: »Alles ging in einen Zustand der Formlosigkeit und Zersetzung über. Russland versank in den Sumpf der schmutzigen und blutigen Revolution. Ich fühlte mich damals in Pskov seelisch einsam. […] In allen zivilen und militärischen Einrichtungen wurden die Porträts des Herrschers unverzüglich abgenommen, sogar manchmal auf grobe Weise zerstört. Bei mir im Kabinett hing eins aber weiterhin […]«.585

Die Gründlichkeit, Geschwindigkeit und Gewalttätigkeit, mit der die alten Symbole durch neue ersetzt wurden, erschreckte und überraschte offensichtlich alle Autoren. Von den visuellen Eindrücken scheint sich die Farbe Rot besonders 579 Vgl. Martin Mühlenberg: Das Machtpotenzial der russischen Provisorischen Regierung nach der Februarrevolution, Hamburg 2015, S. 62ff. 580 Diese Ereignisse stellten tatsächlich und in den Erinnerungen eine Ereigniskette dar : Der Befehl Nr. 1 wurde am 1. März gegeben, die Abdankung Nikolajs II. erfolgte am 2. März und der Verzicht seines Bruders am 3. März 1917 (alles alten Stils). 581 Vgl. Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 301, 305, 307. 582 Vgl. Rendle, Defenders, S. 68. 583 Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 318. 584 Vgl. Richard Stites: Revolutionary Dreams: Utopian Life and Experimental Life in the Russian Revolution, Oxford 1989, S. 65. 585 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 140.

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eingeprägt zu haben.586 Für die Autoren stand sie in erster Linie für die Schrecken der Revolution. Dagegen kann davon ausgegangen werden, dass diese von den Revolutionssympathisanten mit Freiheit und Solidarität assoziiert wurde. Für den Adel signalisierte sie den »Mob«, die »Straße«, was identisch war mit Unruhe und Gewalt. Zugleich aber verband sie der politisch interessierte Adel auch mit der Ausübung von Macht und Herrschaft. Sergej Trubeckoj schrieb, dass ein Auto mit einer roten Flagge – auch wenn sie »verhasst« gewesen sei – eine gewisse Sicherheit garantierte.587 Die bewusste Verwendung der Farbsymbolik an der Kleidung oder an Transportmitteln diente als Unterscheidungsmerkmal und signalisierte die politische Einstellung »für« oder »gegen« die Revolution: »An den Uniformen erschienen die roten Bänder (Gott sei Dank habe ich mir diesbezüglich keine Schande gemacht!), die Frontsoldaten wurden immer undisziplinierter und bei den Offizieren begann die politische Spaltung.«588

Die akustischen Eindrücke prägten sich ebenfalls ein und spielen in den autobiographischen Quellen eine große Rolle: Das »dreckige Lachen« der Soldaten, ihre Schimpfwörter und das Singen revolutionärer Lieder kommen in den Erinnerungstexten immer wieder vor. Die Hymne jener Tage war neben anderen revolutionären Liedern die »Russische Marseillaise«. Tatsächlich gab es 1917 zwei Varianten der »Marseillaise«. Die eine Version war das französische Original und wurde nur vom Orchester, ohne Worte, gespielt. Die andere Version, die auf allen Straßen gesungen wurde und sich im Takt und im Liedtext vom französischen Vorbild unterschied, war die Version von Petr L. Lavrov mit dem Titel »Otrecˇemsja ot starogo mira« (Lasst uns der alten Welt abschwören), die am 1. Juli 1875 erstmals in der Zeitung »Vpered« (Vorwärts) veröffentlicht worden war.589 Die roten Fahnen und die Marseillaise wurden als das sichtbarste Zeichen der Revolution gewertet: »[…] the red flags and the playing of the Marseillaise spoke eloquently of the great change that has taken place in the life of the country.«590 Die Marseillaise und die Farbe Rot verwiesen auf die Tradition der Französischen Revolution von 1789 und damit auch auf das Schicksal der französischen Monarchie mitsamt dem Adel.591 Dabei wurde vor allem Bezug auf »la grande

586 Vgl. Orlando Figes/Boris Kolonitskii: Interpreting the Russian Revolution. The Language and Symbols of 1917, New Haven/London 1999, S. 9ff. 587 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 142. 588 Ebd., S. 138. 589 Vgl. Figes/Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution, S. 39f. 590 Skariätina, A World Can End, S. 126. 591 Vgl. Boris Kolonickij: Simvoly vlasti i bor’ba za vlast’, St. Petersburg 2001, S. 250–303.

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Terreur« von 1793 genommen und trotz der Gemeinsamkeit des Terrors auf die Unterschiede hingewiesen: »In Frankreich, obwohl viel Blut vergossen, wurden weder die Paläste, noch die Königsschätze oder die Kunstwerke vernichtet. Bei uns hingegen zählte nichts als heilig und alles wurde der wütenden Menge von Barbaren geopfert.«592

Das Singen war meist auch mit dem Rufen von Slogans verbunden, welche die Privilegierten attackierten: die einen galten dem Zaren und dem Krieg: »Fort mit dem Zaren!«, »Fort mit dem Krieg«; die anderen den Landbesitzern und den »burzˇui«: »Tod den Burzˇuj!«, »Fort mit den Blutsaugern!«.593 Die abschätzigen Bezeichnungen für die ehemaligen Eliten wie »burzˇuj«, »byvsˇij«, »klassovyj vrag« (Klassenfeind), »vreditel’« (Schädling)594 oder »counter-revolutionist«595 wurden als ein sicheres Zeichen des Untergangs der alten Ordnung wahrgenommen. Die ersten revolutionären Tage verfolgten manche Autoren auch mit einer gewissen Neugier. Irina Skarjatina konnte ihre anfängliche Faszination für die Revolution nicht verhehlen. Sie verfasste in dieser Zeit ein Tagebuch, das nach ihrer Aussage im Exil vorlag und für den Erinnerungstext verwendet wurde. Ihre Beschreibung der Ereignisse mutet wie eine Darstellung eines Theaterstücks oder gar des Karnevals an,596 einschließlich des sich »Verkleidens«, um ihre wahre Identität zu verbergen und sich damit unter das Volk mischen zu können. In der Uniform einer Rote-Kreuz-Schwester, die ihr die notwendige Sicherheit bot, konnte sie unerkannt auf die Straße gehen: »In my Red Cross uniform I am perfectly safe.«597 Trotz aller tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahren habe bei ihr zunächst die Neugier auf die aufregenden Ereignisse in der Stadt überwogen: »Tonight I’m on duty, but tomorrow we’ll go out and see some more of this Revolution«.598 Das »Sehen der Revolution«, einem Theaterstück gleich, wurde zumindest eine Zeit lang zu einem zwar manchmal gefährlichen, aber immer aufregenden Zeitvertreib: »[…] it is most interesting to see a Revolution with one’s own eyes and hear with one’s own ears.«599 592 Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 45. 593 Vgl. Boris Kolonitskii: Antibourgeois Propaganda and Anti-›Burzhui‹ Consciousness in 1917, in: Russian Review 53, April 1994, S. 183–196. 594 Vgl. alle Begriffe bei Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 183, 274. 595 Vgl. Skariätina, A World Can End, S. 132. 596 Auf die »karnevalistischen« Elemente der Februarereignisse verweisen auch Figes/Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution, S. 42. Die »karnevalistische« Tradition in der Literatur untersuchte Michail Bachtin, vgl. Auszüge aus seinem Werk: Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1990. Ich danke Dittmar Dahlmann für diesen Hinweis. 597 Skariätina, A World Can End, S. 96, auch S. 92, 97, 101. 598 Ebd., S. 105. 599 Ebd., S. 130.

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Allerdings, trotz der anfänglichen Faszination von den revolutionären Ereignissen, versetzten auch ihr die ersten Opfer der Februarrevolution einen Schock. Sie beschrieb eine regelrechte Hetzjagd »der aufgebrachten Meute« auf einen Polizisten, bis er gefangen und regelrecht in Stücke gerissen worden sei.600 Nicht immer ist dabei eindeutig, ob die geschilderten Ereignisse selber erlebt oder lediglich gehört wurden. Die Gerüchte spielten eine große Rolle bei der Informationsbeschaffung und -weitergabe, denn den offiziellen Berichten der »Revolutionäre« wurde naturgemäß weniger vertraut als einem Bekannten oder Verwandten.601 Auf diese Weise verbreiteten sich die Nachrichten über Verhaftungen und Angriffe auf die Adeligen wie ein Lauffeuer und sie trugen zur allgemeinen Verunsicherung sowie zum subjektiven Gefühl des Ausgeliefertseins bei. Der normale Alltag, wie ihn die Angehörigen des Adels gewohnt waren, war besonders in den Städten gestört. Auf den Straßen waren keine Droschken, Autos, Polizisten und »respektable« Fußgänger mehr zu sehen. Sie seien dagegen entweder von »Massen«602 bevölkert oder ganz leer und verdreckt durch Zigarettenstummel und die Schalen der omnipräsenten Sonnenblumenkerne gewesen.603 In diesen Beschreibungen spiegelte sich die Vorstellung vom Adel als kultivierter Elite und als Gegengewicht zu den zerstörerischen, gewalttätigen Kräften eines irregeleiteten, verführten Volkes, das sich durch sein »gesetzloses« Handeln zum »Mob« bzw. in den Städten zur »Straße« degradiert hatte.604 Lidija Vasil’cˇikova hielt sich während der Februarrevolution in Petrograd auf und erinnerte sich an die für sie ungeheuerlichen Ereignisse, als sie am 12. März zu Fuß zum Taurischen Palais unterwegs war :

600 Vgl. ebd., S. 100. 601 Vgl. Rendle, Defenders, S. 67f. 602 Zum Begriff der Massen vgl. Walter Ehrenstein: Die Entpersönlichung. Masse und Individuum im Lichte neuerer Erfahrung, Frankfurt/M. 1952, S. 7–21; Peter Sloterdijk: Die Verachtung der Massen. Versuch über die Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000; St. Günzel: Der Begriff »Masse« im ästhetisch-literarischen Kontext. Einige signifikante Positionen, in: Archiv für Begriffsgeschichte 45, 2003, S. 151–166. 603 Bei Marija Barjatinskaja werden die Sonnenblumenkerne als »Arme-Leute-Essen« erwähnt, vgl. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 297; Sonnenblumenkerne als Attribut von marodierenden Soldaten bei Skariätina, A World Can End, S. 127; Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 219. 604 Vgl. dagegen die Studie von Aaron B. Retish: Russia’s Peasants in Revolution and Civil War : Citizenship, Identity, and the Creation of the Soviet State, 1914–1922, Cambridge 2008. Retish untersuchte bäuerliche Identitäten im nordostrussischen Gouvernement Vjatka in der Phase zwischen 1914 und 1922. Dabei widerlegt er die Thesen, wonach die Bauernschaft nicht fähig gewesen war, über den engen Horizont ihrer Dorfgemeinschaft zu blicken oder wenig Interesse an einer Auseinandersetzung mit politischen Vorgängen hatte. Retish zeigt vielmehr auf, dass sich die Bauernschaft in dieser Kriegs- und Revolutionszeit von »rural subjects« zu »modern citizens« wandelte. Vgl. ebd., S. 264.

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»Die Stadt bot dasselbe Bild wie am Vortag: mit roten Fahnen geschmückte Lastwagen, überquellend mit Soldaten, Zivilisten und Frauen, fuhren mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Straßen; ihre Insassen schrien, winkten, sangen und schossen in die Luft. Ab und zu hörte man das Geknatter des Maschinengewehrfeuers von den Dächern.«605

In den Erinnerungstexten finden sich wiederholt Passagen über marodierende Soldaten, die in Gruppen durch die Straßen zogen. Dabei wurden diese »von allen möglichen Zivilisten, Frauen, Studenten und Schulkindern, aber auch von Kriminellen der schlimmsten Sorte begleitet« – bei Vasil’cˇikova als »Mob« zusammengefasst.606 Die Beobachtungen der Rechtlosigkeit, so z. B. die Plünderungen der Geschäfte, die Beschlagnahmungen der Privatfahrzeuge und die Einbrüche in die Häuser schockierten und ängstigten die Autoren. Besonders ungewohnt und einprägsam scheint der Anblick der »revolutionierenden« Frauen gewesen zu sein, denn diese werden in mehreren Texten erwähnt: »A woman, noticing the car, left the crowd, jumped on the running-board and shaking her fist at the chauffeur screamed: ›Lackey, servant, low one, get out of there and join us! Let her walk!‹ […] Two other women climbed on to the running board, yelling insults at me.«607

Lidija Vasil’cˇikova beschrieb die Durchsuchungen im eigenen Haus von Soldaten, die darauf aus waren, sich die Taschen zu füllen. Zu diesen erniedrigenden Prozeduren kam noch hinzu, dass einige Bedienstete nicht zuverlässig zur Verfügung standen. Sie hätten sich stattdessen »die Brust mit roten Schleifen dekoriert«, seien auf die Straße demonstrieren gegangen und hätten somit die Familie »vernachlässigt«.608 Die Fürstin gab in ihren Erinnerungen mehrmals die Erlebnisse anderer wieder, so dass es nicht möglich ist, selbst Erlebtes und Gerüchte klar zu trennen. So habe sie z. B. gehört, dass in Irkutsk alle Zuchthausinsassen freigelassen worden seien und diese die Bürger der Stadt bedrohten.609 Lidija Vasil’cˇikova betonte mehrmals, dass in der Provinz lange Zeit Ruhe geherrscht habe, bis immer mehr »Deserteure von der Front«, »Dunkelmänner und Kriminelle«, »Agitatoren« und »fremde Elemente«, die in die Dörfer entsandt worden seien, ankamen.610 Diese Agitatoren hätten nur deshalb Gehör bei 605 Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 294f. 606 Ebd., S. 296. 607 Skariätina, A World Can End, S. 77f. Vgl. auch Elizabeth A. Wood: The Baba and the Comrade: Gender and Politics in Revolutionary Russia, Bloomington 1997. 608 Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 397. 609 Vgl. ebd., S. 323. 610 Vgl. Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 332. Die Entwicklungen nach der Februarrevolution 1917 in der Provinz untersuchen Stefan Karsch und Sarah Badcock mit unterschiedlichen regionalen und methodischen Schwerpunkten, vgl. Stefan Karsch: Die

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den Bauern gefunden, weil sie mit den Schlagworten »Boden, Frieden und Freiheit!« oder »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!« die Bauern gegen den Adel aufbrachten: »›Ruhe‹ war kein geeignetes Klima, auf dem eine Revolution gedeihen konnte. Es war Zeit, die Bevölkerung durch ein paar ›spontane‹ Morde zu ›engagieren‹ und Vorbilder einer fortschrittlichen landwirtschaftlichen Entwicklung, wie zum Beispiel Lotarewo, zu vernichten.«611

Die Erklärung, warum ihr Gut in Lotarevo zerstört wurde, lieferte Vasil’cˇikova ebenfalls: Als der Respekt und die Furcht der Bauern vor Bestrafung weggefallen seien, habe dies den Weg zur Zerstörung und Plünderung der Gutshäuser freigegeben.612 Die politisch aktiven Adeligen versuchten durchaus, auf die Ereignisse Einfluss zu nehmen. Dabei war den meisten bewusst, dass eine weitere Entfesselung der »Straße« fatale Folgen haben würde. Die Interpretation des Aufbegehrens der Bevölkerung gegen Not und Krieg wurde auf die Interpretation der Vorgänge auf der »Straße« verlegt, wobei die als Bedrohung empfundene Menschenmenge zum Hauptakteur wurde. Die Missstimmung gerade in den Städten und Industriezentren, aber auch auf dem flachen Land, schlug von der schweigenden Hinnahme der bestehenden Situation in Aufruhr, von der Apathie in aktiven Protest um. Dieser Vorgang wurde von den Autoren als nicht berechenbar und voraussagbar bewertet. Die Gewaltbereitschaft der Straße wurde von den Adeligen sensibel registriert und dokumentiert. Störend oder vielmehr verstörend war offensichtlich die Art und Weise, wie die »Straße« agierte und nicht nur, dass sie agierte. Die Autoren schwankten dabei zwischen Geringschätzung und Sorge, was auch in der Sprache umso deutlicher wird, je näher die »Straße« auch physisch an die Adeligen heranrückte. Die gefühlte Bedrohung wird in den Autobiographien an folgenden Sätzen deutlich, z. B. »die Straße ergoss sich«613 oder »das Volk mit seiner Unwissenheit und Grausamkeit«.614 Die Bedrohungen nahmen beständig zu, wie Basˇmakova es schilderte: »Les perquisitions, les arrestations, se multipliHrent. On vint chez moi chercher des armes. […] je ressentis une frayeur

611 612 613 614

bolschewistische Machtergreifung im Gouvernement Voronezˇ (1917–1919), Stuttgart 2006; Sarah Badcock: Politics and the People in Revolutionary Russia. A Provincial History, Cambridge 2007. Badcock nimmt das Beispiel der Gouvernements Kazan’ und Nizˇnij Novgorod, um die politischen Handlungsmöglichkeiten der »ordinary people« nach der Februarrevolution aufzuzeigen. Stefan Karsch untersucht dagegen die Machtübernahme der Bol’sˇeviki am Beispiel von Voronezˇ. Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 332. Vgl. ebd., S. 332. Vgl. auch zu den Vorgängen in Lotarevo: Smith, Former People, S. 107. Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 133. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 295.

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intense pour la premiHre fois de ma vie.«615 Die Soldaten wurden bei Basˇmakova als »bis an die Zähne bewaffnet« und »wild« beschrieben, hätten aber eigentlich von den politischen Ereignissen nichts verstanden. Gerade wegen der blanken Gewalt erscheinen sie als einschüchternd und unberechenbar : »J’eus l’impression de leur servir de cible. Ma porte referm8e, je me regardai dans un miroir. J’8tais blanche comme la craie.«616 Den Verfassern der untersuchten Autobiographien gelang die Flucht ins Ausland, wodurch sie ihr Leben retten konnten. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass viele von ihnen Gewalt am eigenen Leib erfuhren. Physische Gewalt kommt in den vorliegenden Autobiographien allerdings nur indirekt vor, etwa in Form von Gewalt gegen Familienangehörige oder Freunde. So berichtete etwa Vasil’cˇikova über den Tod ihres Bruders Boris durch die Kugel eines russischen Soldaten im August 1917. Bei ihr waren die Verbitterung und der Schock besonders groß: »Ich konnte mich nicht mit der Tatsache abfinden, dass mein Bruder bei einer Meuterei unserer eigenen Truppen, durch eine russische Kugel ums Leben gekommen war, wo er drei Jahre hindurch in vorderster Front tätig gewesen und nur einmal verwundet worden war. Der Schock, den sein Tod auslöste, war so groß, dass mir die entscheidende Bedeutung der folgenden politischen Ereignisse zum damaligen Zeitpunkt entging. […] Und so begriff ich nicht gleich von Anfang an, dass eine Welt zusammengebrochen war.«617

Zu den persönlichen Erschütterungen kamen die Berichte über die Gewalt gegen die Verteidiger der alten Ordnung wie Polizisten und Offiziere: »Der Mob wurde aggressiv, und ein Reservistenbataillon des Garderegiments Pawlowsk […] ermordete bei der Rückkehr in die Kaserne seinen Kommandeur.«618 Marija Barjatinskaja beschrieb den Mord an General Duchonin in Kiev, der von wütenden Soldaten und Matrosen gelyncht wurde: »Sie [Soldaten und Matrosen, J.H.] hatten nicht einmal Respekt vor dem Tod, da sie die Augen des Toten mit einem Bajonett durchstochen und ihm eine Zigarette in den Mund gesteckt hatten. […] So war das Ende eines der treuesten und mutigsten Menschen, welcher unermüdlich jede Gelegenheit ergriffen hatte, Russlands Ehre zu retten, und welcher den hohen Prinzipien des Kaisers treu war, der ein ehrenvolles Ende des Krieges wollte.«619

615 616 617 618

Baschmakoff, M8moires, S. 187. Ebd., S. 187. Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 300. Ebd., S. 294f. Vgl. zum Konzept der »Gewalträume«: Baberowski, Einleitung. Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt, in: ders./Gabriele Metzler (Hg.), Gewalträume, S. 7–27. Vgl. auch Figes, Die Tragödie eines Volkes, S. 379–386. 619 Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 309.

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Es lässt sich beobachten, dass in der Retrospektive der adeligen Frauen der Erste Weltkrieg für den Ausbruch der Februarrevolution keine große Rolle zu spielen scheint. Bedeutender scheinen andere »Akteure« zu sein, z. B. »innere Feinde« in Form der Intelligencija. Dennoch gibt es Textpassagen, die auf einen Zusammenhang zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Revolution verweisen: »Als sich aber andererseits der Krieg, anstatt wie erhofft 1915 beendet zu werden, ohne Aussicht auf ein baldiges Ende hinzog, als sich die Verluste vervielfachten und immer mehr Wehrpflichtige eingezogen wurden, Familien ihre Söhne und Brüder verloren und die notwendigen Arbeitskräfte auf den Feldern fehlten […], wurde der Boden für den Erfolg der bolschewistischen Propaganda bereitet […].«620

So beunruhigend die Situation in den Städten war, Aleksandr Davydov erinnerte sich an eine zwar durch Gerüchte durchzogene, aber nicht wirklich bedrohliche Zeit auf der Krim. Er konnte mit der Verwaltung und Neuaufstellung des Familiengutes »Sably« fortfahren, bis auch dort die diffusen Gerüchte über die Vorgänge in den großen Städten eintrafen.621 Was genau in Petrograd vor sich ging, wusste keiner zu berichten, aber »alle ahnten, dass es etwas Außergewöhnliches war.«622 Da in den ersten Revolutionstagen keine Zeitungen aus den großen Städten und keine andere Post ausgeliefert wurden, blieb die Informationsgewinnung auf lokale Gerüchte begrenzt. Dennoch erreichte die Peripherie die Nachricht von der Abdankung des Zaren. Dieses »historische Ereignis« stellte Davydov vor die Entscheidung: Sollte er auf dem Gut Sably bleiben oder in die nächstgelegene Stadt »vor der möglichen Bauerngewalt« fliehen? Er erinnerte sich, dass seine Überlegungen ergeben hätten, dass die Flucht in die Stadt ein Akt der Feigheit gewesen wäre und es seine Pflicht gewesen sei, die Wirtschaft auf dem Gut aufrechtzuerhalten und somit im kleinen Format die Wirtschaftskraft Russlands zu unterstützen. Damit gedachte er, die »Exzesse der Revolution« nach seinen »bescheidenen Kräften« zu begrenzen.623 Nur wenige seiner Nachbarn wären in die Städte gezogen, die meisten hätten weiterhin auf ihren Gutshöfen ohne größere Zwischenfälle gelebt. Aleksandr Davydov berichtete zwar in seinen Erinnerungen von aufgebrachten Bauern, die er positiv-neutral »Nachbarn« und keinesfalls »Mob« nannte, aber er persönlich wurde nicht angegriffen, obwohl diese Absicht seitens der Bauern nach Aussage des Gutswächters bestanden habe.624 620 Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 254. 621 Vgl. zum Aspekt der politischen Gerüchte und der Propaganda: Roger Pethybridge: The Spread of the Russian Revolution. Essays on 1917, London u. a. 1972, S. 140–175 [2. Aufl. 2014]. 622 Davydov, Vospominanija, S. 165. 623 Alle Zitate ebd., S. 165f. 624 Vgl. ebd., S. 167.

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Im Zusammenhang mit der Beschreibung der Zeit nach der Februarrevolution fällt auf, dass zwar die Folgen der Revolution sowie die Gewalt gegen den Adel und seinen Besitz ausgiebig beschrieben wurden, aber die konkreten Akteure und ihr politisches Handeln insgesamt wenig Beachtung fanden. Die Autoren schrieben zu diesem Aspekt ausführlicher, wenn sie auf die Oktoberrevolution eingingen.625

6.2

Die Oktoberrevolution

Die hier untersuchten Autoren beschrieben die Oktoberrevolution unisono als einen Staatsstreich.626 Ob den Autoren die Tragweite der Ereignisse zum Zeitpunkt des Erlebens klar war, muss an dieser Stelle offen bleiben. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie keine allumfassende Sicht auf die historischen Abläufe hatten.627 Die genaue Betrachtung der Textpassagen ergab, dass die Autoren die Ereignisse zwischen Februar und Oktober in einen logischen Zusammenhang setzten. Für sie waren die Würfel nun gefallen, auch wenn zeitlich versetzt zunächst in Petrograd und Moskau sowie dann nach und nach im Rest des Landes: »Die Tage der Oktoberrevolution kamen. In Petersburg übernahmen die Bol’sˇeviki innerhalb eines Tages und fast ohne Widerstand die Macht. Anders verlief es in Moskau. Der Aufstand der Bol’sˇeviki begann an den Stadträndern und von dort rückten ihre Truppen, bestehend aus den Soldaten der Reserve und bewaffneten Arbeitern, bis zum Zentrum vor. Im Zentrum am Kreml organisierte sich der Widerstand, welcher aus Offiziersanwärtern der Militärakademien und Offiziersgruppen bestand. In der Stadt entwickelte sich ein Kriegszustand einschließlich Feuergefechten […].«628

»Anarchy reigned« – so die knappe Zusammenfassung von Nadezˇda Vonljarljarskaja. Die Februarrevolution hatte sie noch an eine »abgeschwächte Version der Französischen Revolution« erinnert, aber der Oktober 1917 habe ihr die ganze Tragweite der revolutionären Vorgänge vor Augen geführt: 625 Vgl. zu der Theorie der Akteure: Eric Selbin: Revolution in the Real World. Bringing Agency Back in, in: John Foran (Hg.): Theorizing Revolutions, London u. a. 1997, S. 123–136, hier S. 128: »revolutions do not come, they are made«. Vgl. auch Wolff/Albert, Neue Perspektiven auf die Russischen Revolutionen, S. 831ff. 626 Auch in der westlichen Geschichtsforschung gibt es die Bewertung der Oktoberrevolution als Staatsstreich oder Aufstand einer kleinen Gruppe von Revolutionären. So z. B. Richard Pipes: The Russian Revolution, New York 1990, S. 385ff, 439ff. 627 Matthew Rendle schreibt treffend: »The October Revolution was over in Petrograd before most Russians had realized what was happening. […] The action was largely limited to the corridors of power.« Rendle, Defenders, S. 199. 628 Vasil’cˇikov, To, cˇto mne vspomnilos’, S. 134f.

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»We were convinced that our revolution could never be anything but a very mild version of the French revolution because, in our case, there was no real reason for hatred on either side. Alas! We were mesmerised by the knowledge that we were living in the twentieth century and we placed our faith in the people. Then came our rude awakening.«629

Die Oktoberrevolution, die über das Land fegte, beschrieb Naumov als »unaufhaltsame revolutionäre Naturgewalt« (im Text: bezuderzˇnaja revoljucionnaja stichija).630 Basˇmakova schrieb kurz und bündig: »Finalement le bolch8visme prit le dessus au mois d’octobre.«631 Sie stellte ebenfalls eine rasante Verschlechterung der Lebensbedingungen im Alltag fest. Die Gefahren wurden konkreter und bedrohliche Situationen in Petrograd und auch auf dem Land nahmen zu. Ob auf dem Bahnhof in Platonovka, wo Basˇmakova nur knapp einer betrunkenen Meute entkam,632 oder in Petrograd, überall empfand sie Abscheu gegenüber dem sich verändernden Umfeld: »L’odeur naus8abonde de mauvais tabac, de transpiration, de vomissures de vin 8tait indescriptable.«633 Dass eine erneute Revolution sich durch den »Geruch der Straße« bereits ankündigte, merkte Skarjatina in ihrem Tagebuch an: »The streets are nasty these days – by that I mean that they have taken on again that unmistakable air of ›trouble brewing‹ that always precedes a new Revolutionary outburst.«634 Ein weiteres sicheres Zeichen seien für sie die zahlreichen streunenden Hunde edler Rassen gewesen, die ohne ihre geflohenen Besitzer auf der Straße hungerten.635 Als das Landgut der Schwester von Marija Basˇmakova Anfang 1918 geplündert und ihr Neffe dabei verhaftet und inhaftiert wurde, rückte die Gefahr ganz konkret an sie heran. Ihr eigenes Landgut wurde zum Eigentum eines BauernKomitees, was sie als einen weiteren Schicksalsschlag hinnahm: »J’avais compris depuis longtemps que le pass8 8tait r8volu, qu’il fallait mettre tout son espoir en Dieu et ne compter que sur ses propres forces.«636 Es folgte die Erkenntnis, dass die Ereignisse bis zur Oktoberrevolution unterschätzt worden und das eigene Leben akut in Gefahr waren. Die »Ehemaligen« konnten nicht mehr auf das Gesetz hoffen; damit gab es keinen Schutz und keine Gerechtigkeit mehr.637 Hierzu schien insbesondere die im Dezember 1917 gegründete Geheimpolizei, die »Allrussische Außerordentliche Kommission zur 629 630 631 632 633 634 635 636 637

Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 173. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 1, S. 253. Baschmakoff, M8moires, S. 204. Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 204f. Ebd., S. 206. Skariätina, A World Can End, S. 213. Vgl. ebd., S. 203. Baschmakoff, M8moires, S. 206. Vgl. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 184.

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Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage« (Vserossijskaja cˇrezvycˇajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej, spekuljaciej i sabotazˇem, ˇ K, eingedeutscht »Tscheka«), beizutragen.638 Sie veranlasste unabgekürzt VC zählige Durchsuchungen, von denen auch die Verfasser der Autobiographien betroffen waren. Zudem verhaftete sie ohne Grund und liquidierte jeden, der als Feind der Revolution galt. Zudem entzogen die sowjetischen Machthaber durch die Konfiszierung des Besitzes und der Landgüter dem Adel die Lebensgrundlage.639 Angst- und Ohnmachtsgefühle wurden zu einem Grundtenor in den Schilderungen jenes Jahres. Hinzu kam, dass sich die Maßstäbe für Normalität verschoben und das früher Selbstverständliche seltsam fremd erschien; Außergewöhnliches wurde dagegen zum Alltäglichen.640 Die soziale Revolution brachte es mit sich, dass neue Formen der Ansprache durchgesetzt wurden. Es sollte mehr Gleichheit und Respekt für alle erreicht werden: »The revolution sought to introduce equality and respect into everyday acknowledgements and forms of address, from the rejection of titles and salutes in the military to peasants refusing to bow or take off their caps. In the cities the use of ›comrades‹ and ›citizens‹ was the most obvious change.«641

Die neuen Regelungen bedeuteten für die meisten Adeligen eine zusätzliche Orientierungsstörung. Noch Ende 1917 versuchte Barjatinskaja, ihren Adelstitel zu ihrem Vorteil auszuspielen, als sie einen ukrainischen Offizier darauf aufmerksam machte, dass sie eine Fürstin sei. Er gab ihr jedoch zu verstehen, dass ihn das nicht beeindrucke, und dieses Scheitern, von ihrem adeligen Namen einen Vorteil zu erhalten, war für die Autorin erinnerungswürdig. Sie stellte diese Situation als Beweis ihres Mutes heraus.642 Aleksandr Davydov erinnerte sich, dass er die Auswirkungen der Oktoberrevolution erst mit Verzögerung zu spüren bekam. Bis Dezember 1917 habe er nur wenige Veränderungen bemerkt, dann aber hätten sich die Ereignisse überschlagen, der traurige Höhepunkt sei die Beschlagnahmung seines Gutes Sably gewesen. Das Besondere und für Davydov erinnerungswürdige war jedoch, dass der Dorfsowjet um die Mitarbeit von Davydov bat. Er ließ sich zu638 Vgl. Altrichter, Rußland 1917, S. 227; Peter Scheibert: Lenin an der Macht. Das russische Volk in der Revolution 1918–1922, Weinheim 1984, S. 79ff. 639 Das Dekret über Grund und Boden wurde unmittelbar nach der Oktoberrevolution verabschiedet. Damit konnte der Besitz des Adels und der Krone, der Kirche und der Klöster entschädigungslos enteignet werden. Darüber hinaus wurden sämtliche Eigentumsrechte an Grund und Boden abgeschafft, vgl. Altrichter, Rußland 1917, S. 230. 640 Vgl. Baberowski, Einleitung. Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt, in: ders./Metzler (Hg.), Gewalträume, S. 7. 641 Rendle, Defenders, S. 69. 642 Vgl. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 310.

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nächst darauf ein, da er nicht glaubte, dass die Bol’sˇeviki sich lange halten würden: »Mitte Dezember wurde mir klar, dass die Bauern des Dorfes Sably, außer den besonders Vermögenden, zu Bol’sˇeviki wurden. Zum Vorsitzenden des Dorfsowjet wurde Petro Gutenko gewählt, der seine politischen Überzeugungen nicht verbarg, und der gesamte Sowjet folgte ihm. Bolschewismus durchdrang zu dieser Zeit auch die Ökonomie und sogar das Milieu der Bediensteten. Die Situation wurde für mich und meine Gäste zunehmend gefährlich, aber zunächst gab es keine Exzesse seitens der Bauern.«643

Die von Davydov gefühlte Bedrohung sei hauptsächlich von einem unbekannten »Agitator« aus der Stadt ausgegangen. Er beschrieb eine Situation, in welcher er von den Bauern gebeten wurde, ihnen bei der Organisation der Gutswirtschaft zu helfen, was den Protest von diesem »Agitator« hervorrief: »[Der Agitator] fing mit Schaum vorm Mund an zu schreien, was denn vor sich ginge, dass es eine Verhöhnung der Revolution sei und jegliche Absprache mit dem Junker, dem Blutsauger und Ausbeuter, nicht zu dulden sei. Hier mischte sich nicht nur Petro Gutenko ein, aus der Menge waren Rufe zu vernehmen, dass ›Davydcˇuk‹ niemals ein Blutsauger gewesen sei und dass er als ein guter Verwalter und ein ehrlicher, ihnen bekannter Mann, benötigt werde.«644

Die Erinnerung an die Verteidigung seitens der Bauern erfüllte Davydov noch im Exil mit tiefer moralischer Zufriedenheit. Dass sie seine Kenntnisse in der Landwirtschaft hochschätzten, und er als Experte weiterhin ein gefragter Mann war, ließ ihn glauben, er habe »den Sieg über die revolutionären Kräfte errungen«. Da er, wie viele andere in dieser Zeit, an die »Beständigkeit der Sowjetmacht« nicht geglaubt hatte, sah er in der Mitarbeit an der Vergemeinschaftung von »Sably« die einzige Chance für seine Familie, auf dem Gut zu bleiben.645 Allerdings zerschlugen sich seine Hoffnungen auf das Weiterleben auf Sably, als am 10. Januar 1918 Matrosen und Arbeiter aus Sevastopol’ die Halbinsel Krim einnahmen und zahlreiche Landbesitzer erschossen, die ihre Güter nicht schnell genug verlassen hatten. Davydov konnte in letzter Minute fliehen, »als das bewaffnete Volk bereits in meinem Park war.«646 Auf der Krim wurde die Sowjetmacht etabliert, »Sably« wurde zu einer Sovchose. Irina Skarjatina erlebte die Enteignung des Familiengutes in »Troickoe« bereits im November 1917 und merkte an: »It’s a good time to remember the words, ›Lay not up for yourselves treasures upon earth‹, and to try to believe that everything that has to do with this world is only ›vanity of vanities‹.«647 Im 643 644 645 646 647

Davydov, Vospominanija, S. 170. Ebd., S. 172. Alle Zitate ebd., S. 173. Ebd., S. 174. Skariätina, A World Can End, S. 224f.

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Dezember des Jahres verglich sie sich und ihre Standesgenossen mit der biblischen Figur des Hiob, dem alles Irdische genommen wurde, um ihn in seiner Gottesergebenheit zu prüfen: »Apparently all our worldly goods are to be taken away from us and we’ll be lucky if they leave us even a mound to sit on.«648 Neben den Übergriffen der Bol’sˇeviki auf das Vermögen und die Adelsnester beschrieb Skarjatina, dass sie erlebte, wie in ihrer unmittelbaren Umgebung unschuldige Menschen verhaftet, gequält und ins Gefängnis gebracht worden waren. Diese Willkür habe sich lähmend auf sie ausgewirkt, gleichzeitig habe sie begriffen, dass es gefährlich war, in Russland zu bleiben.649 Ihrer Familie wegen musste sie es dennoch. Episoden der inneren Ruhe und des Friedens ließen sich für sie nur noch in der Kirche finden, denn dort fühlte sie noch den »Geist des alten Russlands«, der sich in diese letzte Festung zurückgezogen habe.650 So unterschiedlich die Februar- und die Oktoberrevolutionen waren, lassen sie sich jedoch in den Texten nicht strikt getrennt voneinander betrachten. Vielmehr verschmelzen diese in der Retrospektive in eine evolutionäre Entwicklung, die in den Augen der Autoren in letzter Konsequenz zur Katastrophe und für sie zur Emigration führen musste. Die Revolutionen wurden aber nur als der sprichwörtlich letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, gesehen. Trubeckoj machte die Veränderungen im kollektiven Bewusstsein dafür verantwortlich, dass die Revolution überhaupt erst ermöglicht wurde: »Man muss zugeben, dass nicht erst die Revolution den Glauben an die Monarchie im russischen Volk erschüttert hat: der Glaube verkümmerte bereits vorher und dies schuf die Möglichkeit zur Revolution. Bereits zehn Jahre nach dem Tod Alexanders III. war dieser Glaube nicht mehr derselbe wie zur Zeit meiner Kindheit. Dabei verkümmerte er nicht nur bei denen, die von der revolutionären Propaganda angesteckt waren. Selbst ich, der im Prinzip ein Monarchist war, stellte mit Bedauern fest, dass ich zu Beginn des Krieges 1914, als der Herrscher in Moskau feierlich auftrat, kein lebendiges Gefühl des Monarchismus mehr verspürte.«651

Die Entfremdung zwischen Volk und Zar und die Kluft zwischen der Bevölkerung und den Regierenden war auch in der Autobiographie von Aleksandr Naumov ein wichtiges Thema. Er stellte fest, dass es eine Kluft zwischen Oben und Unten sowie zwischen Stadt und Land gab. Das Fehlen einer gemeinsamen öffentlichen Plattform und von Orten der Begegnung konnte nicht folgenlos bleiben: »Die Ursache solcher Zwietracht wurde mir von Jahr zu Jahr klarer – zwischen dem hauptstädtischen Regierungszentrum und dem Dorf lag ein Abgrund. Es wurde 648 649 650 651

Ebd., S. 225. Vgl. ebd., S. 246f. Vgl. ebd., S. 248f. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 9.

Das revolutionäre Jahr 1917

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überdeutlich, dass eine lebendige, vernunftbasierte Beziehung zwischen ihnen dringend hergestellt werden musste.«652

Im Zusammenhang mit der Reflexion über die Ursachen für das Gelingen der Revolution in Russland ist es ebenso interessant, welche politischen und gesellschaftlich wichtigen Personen jener Zeit den Autoren in Erinnerung blieben, wer also indirekt oder direkt »die Schuld« am Untergang des alten Russlands trug.653 Die Frage der eigenen Schuld, der individuellen oder als Mitglied des Adelsstandes, stand im Raum. Die Reflexionen darüber blieben oft vage.654 Die Deutungshoheit über die Ereignisse wollten die Emigrierten jedoch nicht einfach den sowjetischen Machthabern überlassen, und manche prominente Exilanten nahmen einen großen Einfluss auf die frühe Geschichtsschreibung der Revolution.655 Hier kann die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes als Waffe verstanden werden.656 Zu den Möglichkeiten der »Benennungsmacht« schreibt Edgar Wolfrum: »Wer sie geltend machen kann, wem es gelingt, eine bestimmte Erinnerung zu aktualisieren und dadurch andere abzudrängen oder dem Vergessen anheimfallen zu lassen, vermag offenbar Orientierung zu geben und die Wahrnehmung der Realität zu steuern.«657 Wie bereits im Kapitel über die Besonderheiten der autobiographischen Texte ausführlich besprochen, gingen die Autoren selektiv bei ihren Erinnerungen vor. Manche Episoden wurden auf Kosten von anderen Fakten/Personen/Ereignissen hervorgehoben. Z. B. gingen die Autoren auf die Provisorische Regierung und ihre Mitglieder verstärkt ein. Sie wurde als schwach und handlungsunfähig beschrieben und deshalb habe sie die »Katastrophe« noch beschleunigt: »[…] durch den vergeblichen Versuch, die revolutionäre Bewegung noch zu überbieten und ihr dadurch Zügel anzulegen, beschleunigte die Regierung noch das Abgleiten des Landes in einen Zustand völliger Anarchie. […] Bei mehreren Gelegenheiten hätte die Provisorische Regierung aber durchaus die Zügel in die Hand nehmen und das Land vor der Katastrophe bewahren können. Da sie aber fürchteten, in den Augen ihrer radikalen Kollegen an Ansehen zu verlieren, taten die vernünftigen Minister so, als seien auch sie radikal, und gaben immer nach […].«658

652 Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 1, S. 202. 653 Vgl. Fuller, The Foe Within. 654 Vgl. als Anregung die Studie von Stefan Zahlmann: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989, Köln 2009. 655 Vgl. Fuller, The Foe Within, S. 5. 656 Sehr anschaulich hat dies die Studie zu Deutschland von Edgar Wolfrum bestätigt, vgl. ebd.: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 2001. 657 Ebd., S. 6. 658 Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 323, 325f. Vgl. die Einschätzung von Manfred Hildermeier : »[…] die bolschewistischen Revolutionäre, die Geschichte machten,

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Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Auch Ilarion Vasil’cˇikov, der ein Mitglied der Provisorischen Regierung gewesen war, zeichnete ein überaus kritisches Bild der Provisorischen Regierung.659 Anscheinend erfolgte die Desillusionierung hinsichtlich der politischen Möglichkeiten erst im Verlauf des Sommers 1917, denn er habe zunächst versucht, seine Vorstellungen durchzusetzen.660 Dafür wäre er von anderen Mitarbeitern als »Unterstützer der alten Ordnung und Verhinderer der Demokratisierung« bei Fürst L’vov, dem Ministerpräsidenten, denunziert worden. Dem Rat, sich dem Druck der Bol’sˇeviki zu beugen, um zu überleben, wäre er dennoch nicht gefolgt: »Dieses System der Widerstandslosigkeit und des Nachgebens, das die Provisorische Regierung und insbesondere ihr Vorsitzender Fürst L’vov verfolgten, möchte ich ›Defaitismus in den eigenen Reihen‹ nennen. Es war unvermeidlich, dass es zur Lähmung der Macht und schließlich zu ihrer Besetzung durch die einzige mächtige, disziplinierte und aktive Partei, die Partei der Bol’sˇeviki, kam.«661

Der Vorwurf der Mutlosigkeit und Resignation in den eigenen Reihen kommt in mehreren Erinnerungen vor, so sei vieles im zarischen Russland seitens zahlreicher Adeliger »schlecht geredet worden«. Barjatinskaja ging noch weiter und bescheinigte dem eigenen Stand schlechte Kenntnisse über das eigene Land: »Die Revolution zeigte uns, wie wenig wir zum Kampf bereit waren, als sie über uns hereinbrach, und wie groß die Unkenntnis unseres eigenen Landes war.«662 Diesen Überlegungen folgte auch Sergej Trubeckoj, der die »Schuld so oder so bei den höheren Klassen« liegen sah. Deshalb war die Revolution im Sinne einer »Volksexplosion« (im Text: narodnyj vzryv)663 nicht zufällig, nur das Datum und die Form waren nicht vorhersehbar, wenn auch fühlbar : »Ich habe damals gefühlt, dass etwas ›Fatales‹ auf Russland zukam: ein Verhängnis bedrohte es. Und diese Empfindung stellte keine Ausnahme dar, umgekehrt, sie war weit verbreitet.«664 Die Schuld am Scheitern der liberalen und progressiven Kräfte wurde aber nicht nur abstrakt gedacht. Eine beliebte Zielscheibe der Kritik war z. B.

659 660 661 662 663 664

[hätten] ohne die kapitalen Versäumnisse der Provisorischen Regierung ihr Ziel nicht erreicht […].« Vgl. ders., Geschichte der Sowjetunion, S. 106. Einen Überblick über die Memoiren der Mitglieder der Provisorischen Regierung bietet Ian D. Thatcher : Memoirs of the Russian Provisional Government 1917, in: Revolutionary Russia 1/27, 2014, S. 1–21. Vgl. neuere Forschungsergebnisse zu den Spielräumen der Provisorischen Regierung: Mühlenberg, Das Machtpotenzial der russischen Provisorischen Regierung, hier Kapitel 3 und 4. Vasil’cˇikov, To, cˇto mne vspomnilos’, S. 120f.; Vgl. über die Unzufriedenheit mit der Provisorischen Regierung bei den Eliten bei Rendle, Defenders, S. 201. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 134. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 132. Ebd., S. 133.

Das revolutionäre Jahr 1917

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Aleksandr F. Kerenskij.665 Lidija Vasil’cˇikova traf ihn persönlich und urteilte: »Er hielt sich offenbar genau für das, was er nicht war : für einen großen Mann in einer großen Epoche.«666 Auch Barjatinskaja entwirft ein satirisches Bild von Kerenskij, der nur den Kaiser imitiere, ohne selbst eine große Persönlichkeit zu sein: »[Kerenskij] kam mit dem kaiserlichen Wagen an und obwohl das Emblem ›N‹ unter der Krone entfernt worden war, konnte man die dunkle Stelle, wo sich der Buchstabe befunden hatte, und ihre Umrisse erkennen. Umringt von Soldaten aus den Garderegimentern, kam Kerenskij die Stufen mit dem Selbstbewusstsein eines Eroberers herunter.«667

Die spätere Machtergreifung durch die Bol’sˇeviki erklärte Naumov mit der fatalen »Fehlbesetzung« nach der Abdankung des Zaren. Der »sozialrevolutionäre Hochstapler Kerenskij« bediente sich zwar den abgewandelten kaiserlichen Symbolen, so z. B. »einer roten Flagge statt der Zarenflagge, und mit einem gerupften Adler statt des Allrussländischen Staatswappens«, aber die Macht und Ordnung habe er dennoch nicht aufrechterhalten können.668 Warum wurde die Person Kerenskijs so ausführlich behandelt ? Es mag mit der Tatsache zusammenhängen, dass Kerenskij selbst ins Exil fliehen musste und dort ebenfalls mehrere Bücher, darunter über die Russische Revolution, und auch Memoiren verfasste und seine Sicht auf die Geschehnisse darlegte.669 665 Er gehörte zu den Trudoviki, einem Ableger der Sozialrevolutionäre und gehörte der Provisorischen Regierung zuerst als Kriegs- und Marineminister an, ab dem 8. Juli (a.S.) war er Ministerpräsident. Nach der Oktoberrevolution ging er ins Exil. Vgl. S.V. Tjutjukin: Aleksandr Kerenskij. Stranicy politicˇeskoj biografii (1905–1917 gg.), Moskau 2012; Boris Kolonickij: »Tovarisˇcˇ Kerenskij«. Antimonarchicˇeskaja revoljucija i formirovanie kul’ta »vozˇdja naroda«, mart – ijun’ 1917 goda, Moskau 2017. 666 Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 331. Vgl. die Charakterisierung Kerenskijs bei Figes, Die Tragödie eines Volkes, S. 464: »Erfolg und Schmeichelei stiegen Kerenski zu Kopf. Er begann in komischer Selbstüberschätzung herumzustolzieren, seine schmale Brust aufzublasen und die Pose eines Bonaparte zu imitieren.« 667 Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 298. Auch Figes und Kolonitskii teilen die Einschätzung, dass es bewusste Parallelen zwischen Kerenskij und dem letzten Zaren gab: »There were obvious parallels between Kerensky, the fallen idol, and Nicholas, the fallen Tsar.« Figes/Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution, S. 95. 668 Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 246. 669 Auf Deutsch z. B. Alexander Kerenski: Die Kerenski-Memoiren. Rußland und der Wendepunkt der Geschichte, Wien/Hamburg 1966 [letzte dt. Auflage 1991]; engl. Original: A. Kerensky : Russia and History’s Turning Point, New York 1965. Vgl. auch ders.: Vom Sturz des Zarentums bis zu Lenins Staatsstreich. Erinnerungen, Dresden 1928. Die Bücher erschienen auch auf Französisch, Russisch und Englisch. Interessant wäre ein Vergleich der retrospektiven Erinnerungstexte mit dem Interviewtext vom Sommer 1917, welches in einem Sammelband von Semion Lyandres erschien. Lyandres hat zehn bis dato unbekannte Interviews mit Akteuren der Februarrevolution und der Provisorischen Regierung übersetzt und als einen Teil der Oral History wissenschaftlich eingeordnet. Diese Interviews wurden im Frühsommer 1917 aufgezeichnet, galten aber jahrzehntelang als verschollen.

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Adelige Geschichtsbilder im Spiegel der Erinnerung

Damit konkurrierte er um die »Deutungshoheit« mit anderen Emigrantengruppen.670

Vgl. Semion Lyandres: The Fall of Tsarism. Untold Stories of the February 1917 Revolution, Oxford 2013, insb. S. 220–244. 670 Über die örtliche Parallelität der russischen Emigration, so z. B. das Zusammenleben von Sozialrevolutionären wie Kerenskij und eher monarchisch gesinnten Exilanten im Pariser Ortsteil »La Muette« vgl. Esch, Parallele Gesellschaften und soziale Räume, hier S. 263f.

V.

Weibliche und männliche Selbstentwürfe im Exil

Die Autobiographien tragen im vorliegenden Kontext nicht zur Analyse der historischen Ereignisse bei, sondern zum Aufspüren, was für die Autoren eine »nützliche Vergangenheit« bedeutete.671 Die Autobiographien von emigrierten Adeligen sind in erster Linie Erzählungen, in denen sich eine Auswahl von Selbst- und Weltentwürfen zeigt. Dabei werden einige Unterschiede bei der Konzeptualisierung der autobiographischen Texte von Frauen und Männern deutlich, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Besondere Merkmale des weiblichen autobiographischen Schreibens sind in der Geschichts- und Literaturwissenschaft bereits ausführlich erforscht und diskutiert worden.672 In der Osteuropäischen Geschichte gibt es ebenfalls entsprechende Studien;673 als ein Beispiel im Forschungsfeld der russischen Adeligen sei insbesondere die Arbeit von Marion Mienert zur Großfürstin Marija Pavlovna erwähnt.674 671 Anregend dazu: Angela Brintlinger : Writing a Usable Past. Russian Literary Culture, 1917– 1937, Evanston/Ill. 2000. 672 Vgl. z. B. Katherine R. Goodman: Weibliche Autobiographien, in: Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann (Hg.): Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Stuttgart 1999, S. 166–176; Michaela Holdenried (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin 1995; Mary G. Mason: The Other Voice: Autobiographies of Women Writers, in: Olney (Hg.), Autobiography, S. 207–235; Karin Tebben: Literarische Intimität: Subjektkonstitution und Erzählstruktur in autobiographischen Texten von Frauen, Tübingen 1997; Dausien, Bettina: Biographie und Geschlecht. Zur biographischen Konstruktion sozialer Wirklichkeit in Frauenlebensgeschichten, Bremen 1996; Domna C. Stanton: Autogynography : Is the Subject Different?, in: Sidonie Smith/ Julia Watson (Hg.): Women, Autobiography, Theory : A Reader, Madison 1998, S. 131–144. 673 Vgl. Barbara A. Engel: Mothers and Daughters: Women of the Intelligentsia in NineteenthCentury Russia, Cambridge 1983; Sheila Fitzpatrick/Yuri Slezkine (Hg.): In the Shadow of Revolution: Life Stories of Russian Women from 1917 to the Second World War, Princeton/ New Jersey 2000; Beth Holmgren: For the Good of the Cause: Russian Women’s Autobiography in the Twentieth Century, in: Toby W. Clyman/Diana Greene (Hg.): Women Writers in Russian Literature, Westport 1994, S. 127–148; Hilde Hoogenboom: Vera Figner and Revolutionary Autobiographies: The Influence of Gender on Genre; in: Rosalind March (Hg.): Women in Russia and Ukraine, Cambridge 1996, S. 78–92. 674 Vgl. Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna: ein Leben in Zarenreich und Emigration.

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Weibliche und männliche Selbstentwürfe im Exil

Die untersuchten Autobiographien weisen bereits in der Titelwahl den ersten Unterschied auf: Die adeligen Frauen betonten die Verbindung zu Russland viel stärker als die männlichen Autoren. Die »Liebe zu Russland« wurde noch emotionaler ausgesprochen. Es ist möglich, dass die Ansprache der erhofften Leserschaft gilt oder auch die Verlage darauf Einfluss genommen haben. So tragen die Bücher solche Titel wie zum Beispiel: »The Russia that I loved« von Nadezˇda Vonljarljarskaja, »Mein russisches Leben« (Moja russkaja zˇizn’) von Marija Barjatinskaja, »On the Estate. Memoirs of Russia before the Revolution« (Auf dem Lande. Erinnerungen einer russischen Gutsherrin) von Marianna Davydova, »Au Temps des Troxka« von Varvara Dolgorukova oder »Verschwundenes Russland« von Lidija Vasil’cˇikova. Dagegen scheint es, dass die männlichen Autoren sich viel eher auf den eigenen Lebenslauf beziehen; so überwiegen Titelnamen wie: »Aus verbliebenen Erinnerungen« (Iz ucelevsˇich vospominanij) von Aleksandr Naumov, »One Man in His Time« von Sergej Obolenskij, »Erinnerungen« (Vospominanija) von Boris Vasil’cˇikov, »Das, woran ich mich erinnere…« (To, cˇto mne vspomnilos’…) von Ilarion Vasil’cˇikov. Zahlreiche Themen werden sowohl von den Frauen, als auch von den Männern aufgegriffen (s. Kapitel III. und IV.). Signifikante Unterschiede gibt es bei den weiblichen und männlichen Perspektiven auf das eigene Leben sowie im Selbstverständnis. Des Weiteren sollen nach Möglichkeit die geschlechterspezifischen Erinnerungsbestandteile herausgearbeitet werden, die mit historischen Schlüsselereignissen zusammenhängen können, wie am Beispiel der adeligen Frauen im Folgenden aufgezeigt wird.

1

Von »grandes dames« zu »femmes d’action« – ein Selbstentwurf der adeligen Frauen

1.1

Der Erste Weltkrieg – die erste Emanzipation

Ein großer Teil der Publikationen zur Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges,675 zu Russland im Krieg676 sowie zu den Kriegserfahrungen von verschie675 Vgl. Wolf-Rüdiger Osburg (Hg.): Hineingeworfen: Der Erste Weltkrieg in den Erinnerungen seiner Teilnehmer, Berlin 2014; Gerd Krumeich u. a. (Hg.): Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätengeschichte des Ersten Weltkrieges, Essen 1997. 676 Vgl. Dietrich Beyrau/Pavel P. Shcherbinin: Alles für die Front: Russland im Krieg 1914– 1922, in: Arnd Bauernkämper/Elise Julien (Hg.): Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich, Göttingen 2010, S. 151–177; Nikolaus Katzer : Russlands Erster Weltkrieg: Erfahrungen, Erinnerungen, Deutungen, in: Joachim Tauber/Konrad Maier (Hg.): Über den Weltkrieg hinaus: Kriegserfahrungen in Ostmitteleuropa 1914–1921, Lüneburg 2009, S. 267–292.

Von »grandes dames« zu »femmes d’action«

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denen sozialen Gruppen677 beinhaltet wenig zu den Themen der Kriegsbeteiligung und -erfahrungen von Frauen. Es gibt einige Arbeiten, die dieses Forschungsfeld in den Mittelpunkt rücken,678 dennoch bedarf es weiterer Forschungsanstrengungen.679 Dies gilt insbesondere für die adeligen Frauen. Denn die Bedeutung des Ersten Weltkrieges, wie auch später des Bürgerkriegs und des Exils, darf für die Entwicklung des Selbstbewusstseins der Frauen nicht unterschätzt werden. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten die Autorinnen ein weitgehend behütetes Leben. Vor allem gesellschaftliche und familiäre Verpflichtungen prägten ihr Leben.680 Die adeligen Frauen wuchsen mit einem – mehr oder weniger stark ausgeprägten – hierarchischen und patriarchalischen Weltbild auf. Der adeligen Frau standen nur wenige »adäquate« Betätigungsfelder zur Auswahl. Zwar hatten die Frauen um die Jahrhundertwende in Russland generell wesentlich mehr Möglichkeiten zur beruflichen und persönlichen Entfaltung als die Generationen vor ihnen: das Ergreifen von »städtischen Intelligenzberufen« war nach dem Krimkrieg etwa im pädagogischen und medizinischen Bereich möglich.681 Außerdem veränderte die »Krise der patriarchalen Autorität«682 die sozialen und familiären Strukturen in Russland: ˇ elovek i vojna. Vojna kak javlenie kul’tury, Moskau 677 Vgl. I.V. Narskij/O.Ju. Nikonova (Hg.): C 2001; Ol’ga Porsˇneva: Krest’jane, rabocˇie i soldaty Rossii nakanune i v gody pervoj mirovoj ˇ eljabinsk vojny, Moskau 2004; Igor’ V. Narskij (Hg.): Opyt mirovych vojn v istorii Rossii, C 2007; Aaron J. Cohen: O that! Myth, Memory and World War I in the Russian Emigration and Soviet Union, in: Slavic Review 62, 1/2003, S. 69–86. 678 Vgl. Pavel P. Sˇcˇerbinin: Voennyj faktor v povsednevnoj zˇizni russkoj zˇensˇcˇiny v XVIII – nacˇale XX v., Tambov 2004. Zum Thema »Frauen in der russischen Armee« vgl. Laurie S. Stoff: They Fought for the Motherland. Russia’s Women Soldiers in World War I and the Revolution, Lawrence/Kansas 2006; dagegen nur einzelne Verweise bei Peter Gatrell: Russia’s First World War : A Social and Economic History, London/New York 2005, S. 64, 85. Vgl. zu städtischen Arbeiterinnen in Deutschland: Ute Daniel: Der Krieg der Frauen 1914– 1918, in: Gerd Krumeich/Gerhard Hirschfeld (Hg.): »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…«: Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993, S. 131–150. Des Weiteren sind die Arbeiten von Adele Lindenmeyr zu erwähnen, die (auch adelige) Wohltätigkeit während der Kriegsjahre im Mittelpunkt haben. Vgl. Adele Lindenmeyr : Poverty is not a Vice: Charity, Society, and the State in Imperial Russia, Princeton 1996. 679 Wichtige Impulse geben diverse Ausstellungen, z. B. die Ausstellung »World War Women« im War Museum Ottawa, 23. 10. 2015–3. 04. 2016. Ausstellungskatalog von Stacey Barker/ Molly McCullough: World War Women, Ottawa 2015. ˇ etyre vozrasta 680 Vgl. zum Leben von adeligen Frauen im 19. Jahrhundert Anna V. Belova: »C zˇensˇcˇiny«. Povsednevnaja zˇizn’ russkoj provincial’noj dvorjanki XVIII – serediny XIX v., St. Petersburg 2010. 681 Vgl. Richard Stites: The Women’s Liberation Movement in Russia: Feminism, Nihilism, and Bolshevism, 1860–1930, Princeton 1978, S. 225. 682 Vgl. Karen Petrone: Family, Masculinity, and Heroism in Russian War Posters, in: Billie Melman (Hg.): Borderlines: Genders and Identities in War and Peace, 1870–1930, New York 1998, S. 95–119, hier S. 95.

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Weibliche und männliche Selbstentwürfe im Exil

»Women of all ranks of Russian society were actively involved in the social and political turmoil caused by Russia’s entry into the modern world [and] the instability caused by rapid social change also made resistance to [patriarchy] more possible than ever before.«683

Der Erste Weltkrieg gab dieser Entwicklung einen enormen Auftrieb und eröffnete Frauen aller sozialen Schichten neue Möglichkeiten zur Ausbildung und eigenen Arbeit, oft in sogenannten »Männerberufen«.684 Ob der, von der zeitgenössischen Presse und Literatur beschworene, Patriotismus hauptsächlich dafür verantwortlich war, ist nicht deutlich von anderen Motivationen abzugrenzen.685 Allerdings berichten die adeligen Frauen in ihren Autobiographien, dass der Erste Weltkrieg bei ihnen den Patriotismus förderte, denn sie fühlten sich in einer besonderen Weise vom Vaterland gebraucht.686 Der Wandel in der Selbstwahrnehmung während des Ersten Weltkrieges lässt sich bei den russischen adeligen Frauen deutlich nachzeichnen. Irina Skarjatina schrieb, dass der Kriegsbeginn eine Rettung gewesen sei, in ihrem Fall vor einer zweiten arrangierten Heirat.687 Ihre erste Heirat mit dem Fürsten Aleksandr Fedorovicˇ Keller, einem Offizier der Chevalier-Garde, wurde von der Mutter geplant und war Skarjatina zufolge zum Scheitern verurteilt. Sie liebte ihn nicht, fühlte sich aber Mutters Wünschen verpflichtet.688 Sie beschrieb zwar in allen Einzelheiten ihren Hochzeitstag, fasste aber die folgende Periode ihres Lebens in einigen wenigen Sätzen zusammen:

683 Barbara Clements: Introduction: Accommodation, Resistance, Transformation, in: Barbara Evans Clements/Barbara A. Engel/Christine D. Worobec (Hg.): Russia’s Women: Accommodation, Resistance, Transformation, Berkeley 1991, S. 1–13, hier S. 8f. 684 Vgl. Sˇcˇerbinin, Voennyj faktor v povsednevnoj zˇizni, S. 227f. Vgl. zu anderen europäischen Ländern: Arthur Marwick: Women at War 1914–1918, London 1977; ders.: War and Social Change in the Twentieth Century : A Comperative Study of Britain, France, Germany, Russia and United States, London 1979. 685 Vgl. Sˇcˇerbinin, Voennyj faktor v povsednevnoj zˇizni, S. 224f. 686 Vgl. Alfred G. Meyer : The Impact of World War I on Russian Women’s Lives, in: Clements/ Engel/Worobec (Hg.), Russia’s Women, S. 208–224. Vgl. auch Stoff, They Fought for the Motherland; Melissa K. Stockdale: »My Death for the Motherland is Happiness«: Women, Patriotism, and Soldering in Russia’s Great War, 1914–1917, in: The American Historical Review 109, 1/2004, S. 78–116. 687 Martina Winkelhofer betont dagegen die Nachteile des Ersten Weltkrieges für die österreichischen adeligen Frauen, da die Heiratschancen sich dadurch verschlechterten. Dieser Aspekt spielte in den hier untersuchten Erinnerungen keine Rolle. Vgl. Martina Winkelhofer: Das Leben adeliger Frauen. Alltag in der k.u.k. Monarchie, Innsbruck u. a. 2011, S. 221ff. Die Frage, ob die Frauen doch zu den »Gewinnerinnen des Ersten Weltkriegs« in Deutschland und Österreich gehörten, kann nach Antonia Meiners nicht eindeutig beantwortet werden. Vgl. Antonia Meiners: Die Stunde der Frauen. Zwischen Monarchie, Weltkrieg und Wahlrecht 1913–1919, München 2013, hier S. 13. 688 Vgl. Skariätina, A World Can End, S. 75f.

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»The next summer my son was born, then two years later my daughter. But the marriage was not a success, my family being perfectly right in holding that our tastes were too dissimilar, and after four years of married life, desperately unhappy years as far as I was concerned – with my little son’s death as a climax that nearly killed me – we decided to separate.«689

Nach der Scheidung lebte Irina Skarjatina zeitweise bei ihren Eltern, zeitweise alleine. Sie reiste in dieser Zeit mehrmals nach Europa und versuchte auf jede Art, sich abzulenken. Sie zählte die Zerstreuungen auf, wie das Tanzen, die Trojka-Fahrten, die Theateraufführungen sowie die Abende bei den Zigeunern, die sie aber nicht erfüllt hätten: »[S]uch a life could not satisfy me and I would come home more restless and unhappy than ever. What I would have done I really don’t know, probably I would have remarried soon; when suddenly without any warning out of a clear sky came the great thunderbolt – the World War!«690

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete sie sich umgehend freiwillig beim Roten Kreuz, wo sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester begann. Relativ ausführlich sind hierbei die Textpassagen, die Abweichungen von ihrem »gewohnten« Lebensstil darstellten. So beschrieb Skarjatina solche Haushaltsarbeiten wie Böden wischen und Öfen heizen, da sich durch diese Aufgaben gezeigt hätte, wer zu arbeiten gewillt war und wer nicht. Die Selbstbeschreibungen beinhalten Adjektive wie »ehrgeizig« und »interessiert«, außerdem hätte sie erst dadurch den Wunsch entwickelt, Ärztin zu werden.691 Skarjatina war sichtlich Stolz über ihren beruflichen Fortschritt in Form des Studiums, der bestandenen Prüfungen und der Auszeichnungen für die Arbeit in einem Warschauer Krankenhaus.692 Das Materielle hätte für sie in dieser Zeit keine Rolle gespielt; sie verzichtete nach eigenen Angaben ohne Bedauern auf die komfortable Wohnung, auf die Dienerschaft und luxuriöse Kleider, denn »for heart and soul I belonged to my work […].«693 Zahlreiche Parallelen zu dieser Lebensauffassung finden sich auch bei Marija Basˇmakova, die in ihrer Jugend über den Beruf der Ärztin oder »Künstlerin« nachgedacht hatte. Ihre Mutter habe aber andere Pläne mit ihr gehabt: »Je voulais devenir m8decin ou artiste. Mais je reÅus une verte admonestation de ma mHre. Je dus commencer / 16 ans la vie d’une demoiselle de la soci8t8.«694 Ihre Heirat mit Dmitrij Ivanovicˇ Goneckij, einem Offizier des Preobrazˇenskij-Regi689 690 691 692 693 694

Ebd., S. 85. Ebd., S. 86f. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. ebd. Ebd., S. 87f. Baschmakoff, M8moires, S. 43.

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Weibliche und männliche Selbstentwürfe im Exil

ments und deshalb eine »gute Partie« (un beau parti), wurde dementsprechend arrangiert. Sie stellte die Entscheidung ihrer Eltern nicht in Frage und zeigte sich als eine vorbildliche Ehefrau und Mutter zweier Kinder. Ihren Mann zeichete sie als einen Patrioten und treuen Monarchisten: »Mon mari 8tait un 8poux et un pHre modHle. Il croyait en Dieu et 8tait grand patriote. La devise du r8giment: ›Pour la Foi, le Tsar et la Patrie‹ 8tait conforme / sa nature.«695 Das Leben begann für sie »traditionell«, verlief aber ihrer Ansicht nach unkonventionell. Durch den frühen Tod des ersten Ehemannes im Jahre 1909 und des Sohnes im Jahre 1914 wurde sie ihrer Ehefrauen- und teils ihrer Mutterrolle beraubt. Als auch die Tochter heiratete und eine eigene Familie gründete, verlor sie nach eigener Aussage zunächst jegliche Lebenslust. Die Rettung war für sie der aufopferungsvolle Dienst für das Vaterland im Ersten Weltkrieg. So überschrieb sie das entsprechende Kapitel mit »Au service de la douleur d’autrui«. Unmittelbar nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges begann sie eine Ausbildung zur Krankenschwester, die sie nach dem Tod des Sohnes mit umso mehr Verve absolvierte: »Je terminai vite mes cours d’infirmiHre pour ne pas perdre la raison aprHs ce coup terrible [der Tod des Sohnes, J.H.]. Je voulus employer mes forces aux soins des malheureux.«696 Diese Entscheidung markierte den Beginn eines neuen Lebens für sie, das einerseits hart, andererseits durch Selbstbestimmung gekennzeichnet war. Sie ging ab 1915 in ihrer neuen Aufgabe als Oberschwester in einem Moskauer Krankenhaus auf und arbeitete »nuit et jour«.697 Über den Verlauf des Krieges hat sie nicht viel berichtet; ausführlicher ging sie auf die verschiedenen Leiden und Verletzungen, die sie bei den Soldaten beobachtet hatte, ein. Sie betonte in ihren Erinnerungen, dass die Stimmung ungebrochen patriotisch gewesen sei. Marija Basˇmakova interpretierte den Patriotismus insofern, als dass sie für die »Gemeinschaft der Slaven« und gegen das »Joch der Deutschen« bereit war zu kämpfen. Jedenfalls käme es für sie nicht in Frage aufzugeben, wie es ihr älterer Bruder mit dem Selbstmord getan hatte. Allerdings interpretierte Basˇmakova dieses tragische Ereignis dahingehend, dass der Bruder nur der Revolution zuvorkommen wollte: »Il 8tait persuad8 que cette guerre serait le pr8lude de la r8volution et que la Russie passerait par une s8rie de calamit8s. Il avait l’habitude de dire: ›j’ai toujours 8t8 un barine (seigneur) et je veux dispara%tre pendant que je suis‹.«698

Sie dagegen habe beschlossen zu kämpfen, auch wenn es eine Veränderung ihres ganzen Lebens zur Folge hatte. Im Krankenhaus arbeitete sie viel und pflegte 695 696 697 698

Ebd., S. 57. Ebd., S. 127. Ebd. Ebd., S. 22.

Von »grandes dames« zu »femmes d’action«

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bewusst einen asketischen Lebensstil, um das Image der »unnützen« Gesellschaftsdame abzustreifen: »Le m8decin-chef […] pensait probablement au d8but que la dame du monde arriv8e de P8tersbourg, jouerait / la ›soeur de charit8‹. On m’observait les premiers jours, mais quand on vit que j’avais un .pre d8sir de travailler, que toute mon .me meurtrie cherchait / soulager les blesses, tous se mirent / m’aider dans ma t.che.«699

Später fuhr sie als Schwester des Roten Kreuzes in einem Lazarettzug mit und inspizierte die Bedingungen russischer Kriegsgefangener in Österreich-Ungarn. Dieses Kapitel ist mit »Ma mission / l’8tranger« überschrieben und verdeutlicht ihr Selbstbild in dieser Zeit: Sie habe ihren Anteil an der Verteidigung ihres Heimatlandes gehabt: »Je d8fendis la Russie«.700 Den russischen Kriegsgefangenen mangelte es ihrer Ansicht nach vor allem an orthodoxen Priestern für ihr Seelenheil.701 Basˇmakova habe versucht, den Gefangenen Mut zu machen und verteilte silberne Kreuze, Gebetsbücher und Ikonen an tapfere Soldaten und Offiziere. Dass ihre Arbeit geschätzte wurde, versuchte sie mit einem Zitat eines Briefes von entlassenen Kriegsgefangenen, die ihr für ihren Einsatz dankten, zu verdeutlichen.702 Die Bedeutung ihrer Arbeit betonte Basˇmakova auch durch die Auswahl der Fotographien, zwei davon zeigen russische Gefangene in einem österreichischen Lager im Jahre 1916.703 Die Wortwahl und die Ausdrücke in diesem Abschnitt ihrer Erinnerungen zeugen vom Stolz, vom Vaterland gebraucht zu werden und einen wertvollen Beitrag in der Gesellschaft leisten zu können. Wie für Irina Skarjatina war es auch für sie ein Stück Emanzipation, eigenständige Entscheidungen treffen zu können. Insoweit überrascht es nicht, dass die Kapitel über den Krieg wesentlich länger als die vorangegangenen sind. Ein weiteres Beispiel für den gewissermaßen befreienden Effekt des Ersten Weltkrieges bietet der Lebenslauf von Marija Barjatinskaja. Sie definierte sich selbst in ihrer Jugend überwiegend durch ihren Ehemann, Fürst Anatolij Vladimirovicˇ Barjatinskij, für den sie sich von ihrem ersten Mann hatte scheiden lassen (dieser wird nicht namentlich im Text erwähnt).704 Das Paar musste aufgrund des beruflichen Werdeganges von Anatolij Barjatinskij oft umziehen; zeitweise lebten sie in Vladivostok und Turkestan. Dort musste sie ihrem Empfinden nach allerlei »erdulden«, denn es gab weder eine »richtige« Gesell-

699 700 701 702 703 704

Ebd., S. 128f. Ebd., S. 149. Ebd., S. 165. Vgl. ebd., S. 166f. Vgl. ebd., S. 87c. Vgl. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 17f.

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schaft noch andere Amüsements.705 Außerdem berichtete sie immer wieder von Erkrankungen aufgrund des schwierigen Klimas in diesen »von Gott vergessenen Gebieten«. In dieser Zeit fuhr sie mehrmals ins Ausland zur Kur und kümmerte sich gleichzeitig aufopferungsvoll um ihre kleine Tochter. Bis dahin griff sie auf die Darstellung des eigenen Lebenswandels als Beispiel an Genügsamkeit, Bescheidenheit und Fleiß zurück. Sie ging wenig auf die übergreifenden Ereignisse im politischen und gesellschaftlichen Leben ein – die großen Zusammenhänge wie auch der Alltag der anderen Bevölkerungsschichten wurden weitgehend ausgeblendet. Diese etwas schematisch wirkende Darstellung des Lebensverlaufs ändert sich mit der Beschreibung ihrer Tätigkeit während des Ersten Weltkrieges. Sie habe sich dem Heimatland verpflichtet gefühlt, deshalb ließ sie sich zur Krankenschwester in Kiev, wo ihr Mann mittlerweile stationiert war, ausbilden.706 Sie habe Bettwäsche genäht, Essen gekocht und bei Operationen trotz drohender Ohnmachtsanfälle angesichts des Elends der Kranken assistiert. Diese für sie ungewohnten Tätigkeiten werden recht ausführlich dargelegt. Des Weiteren verwies sie auf ihre Idee, gemeinsam mit anderen Offiziersfrauen ein kleines Hospital für genesende Offiziere auf eigene Kosten zu gründen. Folgerichtig sei es nach ihr auch benannt worden.707 Auf diese Weise erweiterte sie nach und nach ihr Betätigungsfeld und entdeckte dabei ihr Organisationstalent. Die Entwicklung von einer »Dame der Gesellschaft« zur fleißigen Patriotin mit ungeahnten Kräften wird in den Erinnerungen von der Beschreibung der gefährlichen Revolutionstage gekrönt, z. B. verteidigte sie ihr Offiziershospital, bis eine Ausquartierung nicht mehr aufzuhalten war und sie selbst emigrieren musste.708 Die Autorin Lidija Vasil’cˇikova war nach eigenem Empfinden immer eine unabhängige Persönlichkeit gewesen, auch wenn sie durch die Heirat »gezähmt« wurde.709 Bereits in den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend betonte sie, dass sie gern an Jagdgesellschaften teilgenommen habe und äußerst unternehmungslustig gewesen sei.710 Bereits während des Russisch-Japanischen Krieges wäre Vasil’cˇikova am liebsten unmittelbar in Frontnähe tätig gewesen; aufgrund ihres Alters durfte sie es allerdings noch nicht und arbeitete deshalb in einem Versorgungsladen für die Verwundeten. Tatkraft war für Vasil’cˇikova ein wichtiger positiver Begriff, Untätigkeit dagegen eine Sünde.711 705 706 707 708 709 710 711

Vgl. auch für die folgenden Sätze ebd., S. 99f., 146ff., 157ff. Vgl. ebd., S. 245. Vgl. ebd., S. 246. Vgl. ebd., S. 310. Vgl. Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 151. Beschreibungen der Jagd vgl. ebd., S. 142, 152. Vgl. ebd., S. 24, 27f.

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Nach der Heirat im Jahre 1909 mit dem Fürsten Ilarion Sergeevicˇ Vasil’cˇikov zog sie nach Jurburg (Landsitz der Familie des Ehemannes) um, nahe der ostpreußischen Grenze. Ihre Familie war nach ihrer Einschätzung froh, dass die »Unzähmbare« einen ehrbaren Mann mit einer anständigen Familiengeschichte gefunden hatte. Auch sie selbst schrieb sichtlich stolz, in eine alte und ehrwürdige Familie eingeheiratet zu haben.712 Als ihr Ehemann zum Adelsmarschall für die Provinz Kovno ernannt wurde, verwendet Vasil’cˇikova den Plural »wir«, da sie nach eigener Aussage »mitregieren« wollte: »Als wir zum Adelsmarschall ernannt wurden«. Jedoch habe ihr Ehemann protestiert: »[…] von einem ›wir‹ könne gar keine Rede sein, denn ich hätte nur die fügsame Ehefrau zu spielen.«713 Ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter habe sie auch gewissenhaft erfüllt, indem sie in kurzen Abständen die ersten drei Kinder zur Welt brachte. Außerdem übernahm sie zahlreiche wohltätige Aufgaben, u. a. die Aufsicht über das Rote Kreuz in Kovno sowie die Leitung des Krankenhauses und der örtlichen Schwesternvereinigung. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, musste die Familie aus Jurburg wegziehen. Diese Flucht vor der Gefahr empfand sie als »die tiefste Erniedrigung«.714 Sie registrierte, dass nun die Mitglieder jeder Familie vom Krieg betroffen waren, entweder als Offiziere an der vordersten Front oder im Landesinneren in unterschiedlichen Funktionen. Patriotismus, aber auch ein Stück Stolz auf die eigenen Leistungen klingen bei der Beschreibung ihrer damaligen Aufgaben durch. Vasil’cˇikova hatte die Leitung des Roten Kreuzes hinter der Nordwestfront übernommen und führte 1916 ein Feldlazarett, u. a. in unmittelbarer Nähe zur Front. Täglich bewies sie ihren Mut: »[J]etzt war die Reihe an mir, meine Pflicht zu tun. Ich genoß das aufregende Gefühl, nahe an der Front zu sein, und hoffte, historische Ereignisse aus erster Hand miterleben zu können. Außerdem war ich jung genug, stolz auf meine klar umrissenen Aufgaben als verantwortliche Vertreterin des Roten Kreuzes zu sein, wo so viele andere erst zahlreiche Schnellkurse besuchen mussten, um irgendwo in Frontnähe eingesetzt zu werden.«715

Die oben erörterten Stellungnahmen der Autorinnen zum Ersten Weltkrieg verweisen auf die Verwirklichung ihres Wunsches nach Selbstbestimmung, Arbeit und danach, nützlich zu sein. Die Ausbildung und Arbeit als Krankenschwester kann dabei als »idealtypisch« bezeichnet werden, da sie eine der meist ausgeübten Tätigkeiten von Frauen während des Krieges war. Die Krankenpflege hat sich bereits im Krimkrieg zur wichtigen Arbeit der Frauen entwickelt und 712 713 714 715

Vgl. ebd., S. 151. Beide Zitate ebd., S. 165. Ebd., S. 230. Ebd., S. 235.

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fand weitere Verbreitung im Ersten Weltkrieg.716 Dazu hat nicht zuletzt die Vorbildfunktion der Zarin Aleksandra und ihrer Töchter beigetragen: »Patriotische, christliche und hochadelige Standespflichten geboten den weiblichen Mitgliedern des Zarenhauses, sich bei Kriegsausbruch wohltätigen Aufgaben zu widmen.«717 Diesem Vorbild folgend, ließen sich zahlreiche adelige Frauen ausbilden, nicht zuletzt, weil sie die erforderlichen Grundkenntnisse besaßen.718 Und auch diejenigen, die nicht als Krankenschwestern arbeiten konnten oder wollten, haben in irgendeiner Weise mitgewirkt. Varvara Dolgorukova berichtete über den Beitrag ihrer Familie: »Ma tante Betsy Chouvaloff partait pour le front / la tÞte d’un convoi de la Croix-Rouge 8quip8 / ses frais avec m8decin, infirmiHres et l’appareillage le plus moderne et le plus fonctionnel dont on p0t alors disposer. […] Dans le grand palais, l’imp8ratrice avait organis8 un ouvroir oF se pr8parait le mat8riel st8rilis8 pour les bless8s. Mes deux niHces et moi y travaillions tous les jours.«719

Zusammenfassend lässt sich in den Autobiographien die Entwicklung der – nach eigener Darstellung der Autorinnen – meist »sorglosen und unbekümmerten Damen der Gesellschaft« zu »verantwortungsvollen Frauen der Tat« nachzeichnen. Dieses Selbstbild wirkte auch bei der nachfolgenden Generation nach, z. B. in den Memoiren von Tatiana Metternich. Sie beschrieb ihre Mutter Lidija Vasil’cˇikova als eine tatkräftige, mutige und erfolgreiche Frau während des Ersten Weltkrieges, die sich durch nichts habe aufhalten lassen: »Mit dem ihr eigenen Schwung und praktischen Sinn, den sie entwickelte, wenn es sich um andere handelte, stand Mama während des Krieges einem Krankenzug an der nordöstlichen Front vor und unterbrach ihre Tätigkeit nur ab und zu, wenn das eine oder andere Baby geboren wurde.«720

In der Tat rückte das persönliche Leben in den Hintergrund und schuf Raum für vielfältige Tätigkeiten. Nicht wenige waren bei Krankenhausgründungen und der Organisation von Sanitätszügen einschließlich sämtlicher Materialien wie Verbandsmaterial, Medikamenten, Nahrungsmitteln, Kleidung und Geld aktiv und auch stolz auf die Nützlichkeit ihrer Aufgaben. Insbesondere aber der Einsatz hinter der Front verlieh Sinnstiftung und auch Selbstverwirklichung mit einer Prise Abenteuer, wie es v. a. Lidija Vasil’cˇikova und Irina Skarjatina empfanden. 716 Vgl. Marion Mienert: Krankenschwestern für das Vaterland. Krankenpflege im Krimkrieg und ihre Auswirkungen auf die »Frauenfrage« in Russland, in: S. Kemlein (Hg.): Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848–1918, Osnabrück 2000, S. 181–195. 717 Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna: ein Leben in Zarenreich und Emigration, S. 153. 718 Vgl. Stoff, They Fought for the Motherland, S. 26. 719 Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 133. 720 Tatiana Metternich: Bericht eines ungewöhnlichen Lebens, Augsburg 1981, S. 41.

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1.2

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Das Selbstbild der Frauen im Spiegel der Revolutionen 1917 – eine »survival story«

Nadezˇda Vonljarljarskaja fasste an einer Stelle ihrer Erinnerungen ihr sorgloses, mondänes Leben zusammen, als sie in die reiche und extravagante Familie der Vonljarljarskij im Jahre 1902 einheiratete. Sie gab freimütig die Verschwendung von Geld in all den luxuriösen Modegeschäften und bei den Juwelieren von Moskau und Petersburg zu, an das sie sich schnell gewöhnt habe: »I also found it quite easy to fling money to the winds.«721 Sie zählte sich selbst zu den »Jungen, Reichen und Berühmten«, die ein »Lotterleben« führen konnten.722 So erscheinen diese Jahre am Anfang des Jahrhunderts voller »Partys, Schlittenfahrten, Zigeunermusik, durchfeierter Nächte« in den Erinnerungen als der letzte Abgesang einer Generation, die noch sorglos aufwachsen konnte.723 Der Erste Weltkrieg scheint für Vonljarljarskaja weniger eine Wendung darzustellen als für andere Autorinnen, zumindest schrieb sie nicht über neue Aufgaben oder maßgebliche Veränderungen in ihrem Leben. Eine radikale Zäsur ihres bisherigen Lebens stellte vielmehr das Jahr 1917 mit den beiden Revolutionen und dem nachfolgenden Bürgerkrieg dar. Diese Jahre bedeuteten einen Bruch in ihrem Lebenslauf, wobei die Oktoberrevolution das Schlüsselereignis zu sein scheint: »It seemed to happen all at once; the situation had not become worse by degrees; it had become worse in a moment.«724 Nun habe sie um alles Alltägliche kämpfen müssen, z. B. Lebensmittel und Brennholz besorgen. Die Versorgung der Familie, die ihr oblag, gestaltete sich äußerst schwierig: da sie und ihre Angehörigen zu den »Nichtwerktätigen« gehörten, wurden sie bei den Essenskarten und der Zuweisung von Wohnraum bzw. »Verdichtung« (uplotnenie) systematisch diskriminiert. Ihr starker Überlebenswille habe dabei geholfen, diese Zeit zu überstehen.725 Hinzu kam, dass ihr Ehemann nach der Oktoberrevolution ins Gefängnis gebracht worden und infolgedessen von ihm keine Hilfe zu erwarten war. Nadezˇda Vonljarljarskaja beschrieb die Schwierigkeiten des Jahres 1918, als der Adel sein gesamtes Hab und Gut veräußern musste, weil alles, was auf der Bank und in Safes gelegen

721 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 90. Sehr gute Darstellung der ungeheuren »Ansammlung von Reichtum« am Nevskij Prospekt bietet Schlögel, Das Laboratorium der Moderne, S. 213ff, 234ff. 722 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 92. 723 Vgl. ebd., S. 96ff. Vgl. zum Lebensgefühl in der russischen Gesellschaft in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg: Felix Philipp Ingold: Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913: Kultur, Gesellschaft, Politik, München 2000. 724 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 173. 725 Vgl. ebd., S. 174.

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hatte, konfisziert worden war.726 Sie zählte die ihr bekannten Opfer des Terrors auf, zeigte aber auch eine gewisse Ermüdung und Gleichgültigkeit ob der vielen Gräueltaten der Bol’sˇeviki: »Our nerves were so strained, mental and physical tiredness so great that personal reaction was often expressed only by making the Sign of the Cross and saying, ›Thy will be done. If our term comes next may it be a quick death and no torture.‹«727

Während des Jahres 1919 habe sie zahlreiche Hausdurchsuchungen in Gatcˇina erdulden müssen, die unerwartet zu jeder Tageszeit stattfinden konnten. Das Bedrückende sei dabei das Gefühl des Ausgeliefertseins gewesen: »There was no basis of law, or justice or tradition, for the treatment meted out; nothing to protect unfortunate victims; no appeal to any other higher tribunal; no escape; no hope.«728 In dieser extremen Zeit habe sie ungeahnte Kräfte entwickelt, da sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre alte Mutter, die kleine Tochter Sofija und die verbliebenen Dienstmädchen verantwortlich gewesen war : »I was a very busy woman in those days; all the heavy work of our m8nage lay on my shoulders. My family of six had to be fed.«729 Die alltäglichen Tätigkeiten – Schneeschippen, Feuerholz auf Schlitten ziehen, Eis brechen – erforderten aus mehreren Gründen mehr Energie und Mühe als zu »normalen« Zeiten. Denn der allgegenwärtige Terror, die Furcht vor Verhaftungen und Denunziation, zwang dazu, »unsichtbar« zu werden, um überleben zu können.730 Dennoch musste auch der Adel sich um Ressourcen kümmern, denn die Gefahr des Verhungerns und des Kältetodes war durchaus real. Vonljarljarskaja habe z. B. die Erlaubnis erwirkt, ein Haus in seine Einzelteile zu zerlegen und zu verfeuern; diese Textstellen sind ausführlich und detailliert. Fast minutiös beschrieb sie die Schwierigkeiten des Zerlegens, des Transports der Holzteile und die anschließende Freude über die Wärme.731 Dabei sei die harte Arbeit an sich für sie nicht neu gewesen, denn darauf sei sie durch die betonte Einfachheit des vorrevolutionären Alltagslebens und die frühere Übernahme der Verantwortung vorbereitet gewesen. Zum Beispiel habe sie sich im Alter von 17 Jahren um das Familiengut »Batovo« zeitweilig alleinverantwortlich gekümmert. Sie schrieb, dass ihre Eltern meist abwesend gewesen waren, da die Gesundheit des Vaters häufige Kuraufenthalte im Ausland erforderte. In dieser Zeit habe sie gelernt, wie eine Wirtschaft erfolgreich geführt 726 Dazu gibt es zahlreiche Erinnerungstexte, auch von Mitgliedern der Aristokratie, vgl. Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna, S. 182f. 727 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 178. 728 Ebd., S. 184. 729 Ebd., S. 191. 730 Ebd., S. 180f. 731 Vgl. ebd., 191f.

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werden musste; so habe sie die Tätigkeiten rund um die Viehhaltung, den Fischfang, das Einmachen, die Heizmaterialien, sogar das Schnapsbrennen selbst bewerkstelligt. Diese praktischen Erfahrungen bewertete sie auch für ihre Exilzeit als äußerst wertvoll: »Undoubtedly, these two years which I spent at Batovo learning to manage the property, to handle the men and to deal with the odd problems which necessarily cropped up, were most valuable years.«732 Im Verlauf des Jahres 1917 setzte sich bei ihr die Erkenntnis durch, dass ein weiterer Aufenthalt in Russland ein Risiko für Leib und Leben darstellte. Dem Wunsch zu emigrieren stand aber der Mangel an notwendigem Bargeld entgegen: »To escape out of the country was a very costly business.«733 Deshalb habe sie im Sommer 1919 zuerst ihrer Mutter ins Exil verholfen. Desweiteren kümmerte sie sich um ihren Ehemann, der in einem Petrograder Gefängnis saß. Dabei berichtete sie ohne Verwunderung, sondern eher mit Resignation, dass sie in dieser Zeit bei keinem der Verwandten oder Bekannten unterkommen konnte, weil jeder das Risiko einer Verhaftung oder Denunziation gescheut habe. Schließlich habe sie Unterschlupf bei der Geliebten und späteren Ehefrau ihres Mannes, Baroness Rosen, gefunden. Um an Bargeld zu kommen, haben sie ein eigenes Geschäft gegründet – sie produzierten und verkauften Süßigkeiten, was streng verboten war.734 Sie berichtete über den ständigen Hunger, um gleichzeitig darauf zu verweisen, dass sie ihre eigenen Essensrationen ihrer Tochter gab und den Hunger durch das Rauchen von Zigaretten zu lindern suchte. Dieses altruistische Verhalten beschrieben auch andere Adelige, etwa Irina Skarjatina, die in ihren Erinnerungen darauf verwies, dass sie anbot, anstatt ihrer Mutter ins Gefängnis zu gehen.735 Die Nächstenliebe und die »wahre Menschlichkeit« seien demnach gerade durch die Erfahrungen der Bürgerkriegsjahre gestärkt worden: »However miserable, and however dreadful the conditions appeared to be, if someone turned up in even greater need, one gladly gave all that one had in order to help him. The martyrdom through which we were passing, undoubtedly had its effect on our characters and brought out the best that was in us.«736

Diesen Aspekt der »wahren Menschlichkeit« seitens des Adels unterstrich auch Varvara Dolgorukova. Nach der Februarrevolution 1917 befand sie sich in Petrograd und hatte ihrer Mutter geholfen, auf eigene Kosten Pakete für die 732 Ebd., S. 58. 733 Ebd., S. 196. 734 Zur Wirtschaft während des Kriegskommunismus vgl. Silvana Malle: The Economic Organization of War Communism, 1918–1921, 2. Aufl., Cambridge u. a. 2002; Pipes, Die Russische Revolution, Bd. 3: Rußland unter dem neuen Regime, S. 595ff. 735 Vgl. Skariätina, A World Can End, S. 294f. 736 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 197.

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Kriegsgefangenen zu packen und zu verschicken, trotz der tagtäglichen Gefahr seitens der marodierenden Menschenmassen: »[Je] pouvais encore confectionner des paquets avec le materiel qui nous restait. Pauvres prisonniers de guerre. Bientit ils ne recevraient plus rien.«737 Selbstlos zeigte sich auch Marija Basˇmakova, die sich entschloss, nach der Oktoberrevolution auf Seiten der Weißen zu helfen. Ihren Besitz habe sie ohnehin ohne Bedauern aufgegeben. Sie habe ihre Entscheidung aufgrund von Überlegungen getroffen, wo sie nützlich sein konnte, nicht aufgrund ihrer Sicherheit: »[…] il faut partir, travailler, ne pas attendre d’Þtre massacr8e sans aucune utilit8.«738 So trat sie ihren Weg zu den »Weißen« an: »J’appris qu’un train d’officiers, habill8s en civil, se formait dans le plus grand mystHre pour essayer de rejoindre l’Arm8e Volontaire (blanche) en direction d’Ekat8rinodar.«739 Die darauffolgenden Monate arbeitete sie als Rote-Kreuz-Schwester auf Seiten der »Weißen«. Einen längeren Aufenthalt hatte sie lediglich in Kislovodsk im Mai 1918, wo die Welt noch in Ordnung zu sein schien. Denn hier fand sie »toute l’aristocratie russe« vor, die in ihren Villen weitgehend unbeschwert lebte: »Kislovodsk continuait / s’amuser.«740 Dazu gehörten regelmäßige Feste für einige Hundert Personen, Picknicks und gesellschaftliche Veranstaltungen. Dabei entging Basˇmakova nicht, dass die Bediensteten aufbegehrten und ihre Forderungen nach höherem Lohn stiegen.741 Die Situation änderte sich schlagartig, als die Stadt von den »Roten« eingenommen wurde. Es mehrten sich Nachrichten über Gräueltaten, Massenerschießungen und Durchsuchungen. Basˇmakova wurde selbst kurz verhaftet, kam aber nach kurzer Zeit wieder frei. Die Situation spitzte sich zu, nicht zuletzt durch die Ausbreitung der Typhuserkrankung, und sie überlegte zu fliehen: »J’avais un grand d8sir de quitter Kislovodsk, qui m’avait paru Þtre un paradis au premier abord.«742 Basˇmakova war auf der Suche nach Helfern und beobachtete ihre Umgebung. Dabei stellte sie fest, dass viele »Rote« das nur dem Anschein nach waren: »Je m’adressai / un medecin / la tÞte d’une organisation qui remplaÅait la Croix-Rouge. Je compris vite qu’il allait m’aider. Je le comparai mentalement / un radis. L’ext8rieur 8tait rouge et l’int8rieur blanc.«743 Irina Skarjatina stellte insofern eine Ausnahme dar, als sie erst im Jahr 1922 ins Exil geflohen war. So hatte sie mehr Erfahrungen mit Sowjetrussland sammeln können als andere und überschrieb das dritte Kapitel, das die Zeit der 737 738 739 740 741 742 743

Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 140. Baschmakoff, M8moires, S. 207. Ebd., S. 207. Ebd., S. 209 und 210. Vgl. ebd., S. 210. Ebd., S. 213f. Ebd.

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Revolutionen von 1917 behandelt, mit »Victims of the Revolution«.744 Nach der Oktoberrevolution bereitete sie sich auf ihre Medizinprüfungen vor, während die Lebensbedingungen zunehmend schlechter wurden. Im Januar 1919 wohnte sie im Krankenhaus und beschrieb eindringlich die große Kälte, da kein Heizmaterial vorhanden war ; es fehlte an Möglichkeiten sich zu waschen oder die Kleidung zu wechseln. Die Textpassagen über die entbehrungsreiche Zeit nach dem Oktober weisen sehr starke Parallelen zu den Darstellungen von Varvara Dolgorukova und Nadezˇda Vonljarljarskaja auf.745 Es kann davon ausgegangen werden, dass die Erfahrungen tatsächlich ähnlich waren und die Kommunikation darüber bestimmte Erzählstrukturen noch verfestigte. Wie die anderen Autorinnen auch, räumte Irina Skarjatina der »wahren Menschlichkeit« und der Verantwortung den eigenen Angehörigen gegenüber großen Raum in den Erinnerungen ein. Während zahlreiche Bekannte und Verwandte ins Exil gingen, habe sie ihre Eltern nicht verlassen wollen, die unerschütterlich auf die Möglichkeit einer Rettung von außen gehofft hätten.746 Ihr Vater habe sich mehrfach in Gefahr begeben, indem er sich wiederholt gegen die Bol’sˇeviki äußerte und die Hoffnung auf ihren Sturz nicht aufgab: »He was always hoping someone from the outside world come and rescue us – either the White army or the English, or the united forces of all European countries, and he firmly believed that soon, very soon, they’d arrive, overthrow the Bolsheviks and restore the old regime.«747

Sein unvorsichtiges Verhalten wurde ihm zum Verhängnis: Bei einem Zwischenfall auf der Straße wurde er von Soldaten geschlagen und erlag seinen Verletzungen: »They had beaten him to death, they had killed his body – but they hadn’t been able to touch his spirit!«748 Nach dem Tod des Vaters sei ihre Mutter mit dem Vorwurf des Juwelenbesitzes verhaftet worden und habe nur dank einer hilfsbereiten Mitgefangenen überlebt.749 Sie wurde in die Freiheit entlassen, kurz darauf aber erneut verhaftet. Nachdem ihr Gesundheitszustand sich weiter verschlechterte, habe Skarjatina beschlossen, ihre Mutter mit Hilfe einer Scheinehe mit einem Ausländer (»einem Esten oder Litauer«) außer Landes zu bringen. Diese Idee setzte sie um und im April 1921 konnte ihre Mutter ausreisen.750 Ähnlich wie ihrem Vater setzte 744 Skariätina, A World Can End, S. 269–351. Dieses Kapitel macht etwa ein Viertel der Autobiographie aus. 745 Zum Beispiel bezüglich der »Tauschgeschäfte«, bei welchen Essen gegen wertvollen Besitz eingetauscht wurde. Vgl. Skariätina, A World Can End, S. 290f. 746 Vgl. ebd., S. 251. 747 Ebd., S. 272. 748 Ebd., S. 280. 749 Vgl. ebd., S. 286. 750 Vgl. ebd., S. 291f.

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Skarjatina auch ihrer Mutter in ihrem Erinnerungstext ein Denkmal, indem sie die Abschiedsszene am Bahnhof auf mehreren Seiten niederschrieb: »Those hours spent together on that mattress, beneath the blankets, in the total darkness of the freight car, surrounded by so many unknown human beings, seemed to bring us closer to each other than we had ever been even during our very close companionship of a lifetime. […] her last words were the most perfect ending to which not one more word could have been added.«751

Jedoch überlebte ihre Mutter die Strapazen der Reise nicht und verstarb auf dem Weg ins Exil. Skarjatinas Tochter emigrierte unterdessen mit der Großmutter väterlicherseits nach Frankreich.752 Skarjatina habe nach diesen einschneidenden Ereignissen ihre Arbeit im Hospital beendet und in einem Kloster Erholung und Zuflucht gesucht.753 Nach der Rückkehr nach Petrograd, habe sie feststellen müssen, dass sie an ihrem alten Arbeitsplatz nicht arbeiten und wohnen konnte, da sie »eine Fürstin« und somit »a member of the Old R8gime« sowie ein »counter-revolutionist« sei.754 Ab diesem Zeitpunkt habe sie kaum noch Handlungsmöglichkeiten gehabt; der nackte Überlebenskampf habe sie zum Verkauf von verbliebenen Möbel- und Kleidungsstücken gezwungen, um Grundnahrungsmittel zu kaufen. Ihre Rettung sei die »American Relief Association« (ARA) gewesen, da sie sonst regelrecht verhungert wäre.755 In dieser Zeit wurden zahlreiche Priester und Bischöfe verhaftet und des »Verrats an der Revolution« angeklagt. Da Skarjatina die Gerichtsverfahren im Gerichtssaal verfolgt habe, wurde auch sie verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Sie beschrieb, dass sie als eine »Ehemalige« nicht auf Erleichterungen der Haftbedingungen hoffen konnte.756 Vielmehr sei es die innere Disziplin gewesen, also ein wesentlicher Bestandteil der adeligen Erziehung, die sie gerettet hatte. Desweiteren habe sie ein genaues Tagesprogramm ausgearbeitet, das geistiges Training wie Mathematik, Geschichte, Geographie sowie Sportelemente wie Gymnastik, Singen und Tanzen enthielt: »And I must say that that daily program of thought probably saved my mind, which, instead of becoming weaker in solitary confinement, grew stronger and freer every day,

751 Ebd., S. 301f. 752 Vgl. ebd., S. 85. Dort besaß die Großmutter eine Villa in Cannes und hatte auch einen Teil ihres Vermögens dorthin retten können. 753 Vgl. ebd., S. 306. 754 Ebd., S. 311, 318. 755 Zur Arbeit der vom amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover gegründeten ARA in Sowjetrussland von 1921 bis 1923 vgl. Figes, Die Tragödie eines Volkes, S. 823f.; Richard Pipes: Die Russische Revolution, Bd. 3: Rußland unter dem neuen Regime, Berlin 1993, S. 668ff. 756 Vgl. Skariätina, A World Can End, S. 330ff.

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learning the great lesson of self-reliance and the power of living within one’s own self!«757

Dennoch gingen die Strapazen nicht ohne Spuren an ihr vorüber : nach einem Zusammenbruch wurde sie in einem Krankenhaus behandelt.758 Danach haben die Mitarbeiter der »ARA« sie dazu gedrängt, auszureisen. Diesen Gedanken habe sie zunächst entschieden abgelehnt: »I hated going, having lived all through the Revolution and suffered and, as I thought, become an integral part of Russia. To go away now, when the worst of the storm was over and a new constructive era about to begin on the smouldering ruins of Old Russia, seemed a terrible thing to do.«759

Da die »new constructive era« die »Ehemaligen« aber weiterhin benachteiligte und diskriminierte, schienen gute Zukunftsaussichten für sie in weite Ferne zu rücken. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal anderer Bevölkerungsgruppen während dieser Zeit, z. B. der Juden oder der bäuerlichen Bevölkerung, bei den meisten Autorinnen gänzlich fehlt. Die Konzentration liegt auf der Betrachtung des eigenen Lebens und der naher Verwandter. Dabei hatten Adelige in den meisten Fällen mehr Ressourcen in Form von Geld, Schmuck, Beziehungen und anderer »Kapitalarten« als der Rest der Bevölkerung.760 Auf diese Weise erscheinen die Beschreibungen der Schreckenserlebnisse vor und nach dem Oktober »eindimensional«, wobei die Erwartung an die Autoren, eine historisch korrekte Einbettung zu leisten, verfehlt wäre. Vielmehr wird aus den hier behandelten Textpassagen über die Jahre 1917–1921 deutlich, wie die Adeligen zu »soziokulturellen Fremden im eigenen Heimatland« geworden waren und sich an diesen Vorgang erinnerten.761

757 758 759 760

Ebd., S. 344. Vgl. ebd., S. 345f. Ebd., S. 349. Zahlreiche Autoren von Erinnerungstexten verwiesen auf das Verstecken von wertvollem Besitz in den Monaten nach der Oktoberrevolution 1917, um diesen vor dem Zugriff der Bol’sˇeviki zu schützen. Darauf wurde zurückgegriffen, um die Hungerzeiten in Russland 1918/1919 und 1920/1921 zu überstehen, ins Exil zu gehen und dort ein Auskommen zu haben. Vgl. zahlreiche Beispiele: Smith, Former People, S. 136f. Vgl. auch Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 152; Baschmakoff, M8moires, S. 231; Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 230; Obolensky, A Man in His Time, S. 23, 157f.; Skariätina, A World Begins, S. 301f. Skarjatina berichtet z. B. über den Verkauf eines wertvollen Kleides im amerikanischen Exil, womit ein relativer Reichtum und das Gefühl einer finanziellen Sicherheit verbunden war. 761 Vgl. Ekaterina Foteeva: Coping with Revolution. The Experiences of Well-to-do Russian Families, in: Daniel Bertaux/Paul Thompson/Anna Rotkirch (Hg.): On Living Through Soviet Russia, London/New York 2004, S. 68–90, hier S. 70.

174 1.3

Weibliche und männliche Selbstentwürfe im Exil

Der Weg ins Exil

Die Gefahren einer Verhaftung, eines Verhörs oder Gefängnisaufenthaltes waren die häufigsten Auslöser für den Entschluss zu emigrieren. Die Autorinnen fanden es offenbar wichtig zu schildern, welche Gründe sie dazu bewogen, die Heimat zu verlassen, möglicherweise um den Verdacht des »Vaterlandsverrats« zu entschärfen oder um sich vor den nachkommenden Generationen zu rechtfertigen. Im Folgenden soll die jeweilige Motivation der Autorinnen und ihre Anfangszeit im Exil näher beleuchtet werden. Marija Barjatinskaja zum Beispiel beschloss zu emigrieren, als sie gegen Ende des Jahres 1918 durch Gerüchte erfuhr, dass sie als Druckmittel auf ihren Mann Anatolij V. Barjatinskij verhaftet werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in Kiev und betreute ihr Hospital für Offiziere.762 Diese Arbeit habe sie erfüllt und war gleichzeitig dem Vaterland von Nutzen, daher habe sie sich lange geweigert, die Einrichtung zu schließen. Da aber diese Tätigkeit als Hilfe für die Weißen gewertet werden konnte, war die Gefahr einer Verhaftung ohnehin stets zu befürchten gewesen. Dass sie diese Bedrohung durchaus als real einstufte, unterstrich sie durch die Aufzählung anderer verhafteter Verwandter.763 Während ihr Ehemann vorerst auf der Krim blieb, reiste sie Ende Dezember 1918 mit ihrer Tochter und einer Nichte, außerdem mit der Njanja und zwei weiteren Bediensteten nach Deutschland, um von dort in die Schweiz zu gelangen.764 Barjatinskaja betonte, dass es ihr äußerst schwergefallen sei, das Heimatland »unter solchen Umständen« zu verlassen, aber sie tröstete sich selbst mit dem Gedanken, dass »schon bald die Ordnung wiederhergestellt wird und wir nach Hause zurückkehren werden«.765 In Berlin angekommen, musste sie feststellen, dass auch dort eine Revolution im Gange war.766 Das bereits Erlebte schien sich zu wiederholen und vermittelte das Gefühl eines D8j/-vu.767 Trotzdem versuchte Barjatinskaja, aus der Situation das Beste zu machen. Sie habe sich derart engagiert um die emigrierten Offiziere der Weißen Armee gekümmert, dass sogar Vgl. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 340. Vgl. ebd., S. 336. Vgl. ebd., S. 340f. Ebd., S. 343. Vgl. zur russischen Emigration nach Berlin: Schlögel, Berlin: »Stiefmutter unter den russischen Städten«, in: ders. (Hg), Der große Exodus, S. 234–259; ders.: Russische Emigration in Deutschland 1918–1941; ders.: Berlin. Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998; Dahlmann, Eine eigene Welt in der Fremde. Die russische Emigration in Berlin 1917–1923, in: ders. (Hg.), Unfreiwilliger Aufbruch, S. 63–79. 767 Vgl. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 345ff. Vgl. zu den Hintergründen Sebastian Haffner : Die deutsche Revolution 1918/19, 4. Aufl., Reinbek 2004; Sönke Neitzel: Weltkrieg und Revolution, 1914–1918/19, Berlin 2008, S. 145ff.; Eberhard Kolb: Revolutionsbilder : 1918/19 im zeitgenössischen Bewusstsein und in der historischen Forschung, Heidelberg 1993.

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das Gerücht entstand, sie würde eine Armee für die Unterstützung von Baron Petr Vrangel’ formieren, was sie aber entschieden zurückwies.768 Zunächst hegte sie, wie viele andere auch, Hoffnung auf eine »Rettung Russlands«; erst als sich der Sieg der Roten abzeichnete, zog sie nach England um, wo bereits zahlreiche Bekannte und Mitglieder der Romanov-Familie im Exil lebten.769 Die Gefahr für Leib und Leben war auch für Marija Basˇmakova der Grund, im März 1918 an den Rand des zerfallenden Russischen Reiches zu fliehen. Sie arbeitete an jeder Station ihrer Flucht – u. a. Tiflis, Novorossijsk, Anapa – als Schwester des Roten Kreuzes. An einer der Stationen lernte sie Aleksandr Aleksandrovicˇ Basˇmakov kennen, den sie später im Exil heiratete. Dies markierte für sie einen Neuanfang.770 Trotz aller Entbehrungen, die der Bürgerkrieg mit sich brachte, habe sie festgestellt, dass ihre Kräfte nicht nachließen, sondern im Gegenteil zuzunehmen schienen: »La nouvelle 8tait commenc8e. Elle n’avait rien de commun avec la pr8c8dente. Elle serait int8ressante. Cette aventure arriva / bien d’autre, j’imagine, mais se qui 8tait 8tonnant, 8tait qu’aprHs avoir tout perdu, je parvenais / vivre, / travailler, / avoir beaucoup d’amis et quoique la vie fut dure, mon 8nergie et mes forces ne baissaient pas. Elles semblaient mÞme grandir.«771

Bis Februar 1920 habe Basˇmakova gehofft, dass die Weißen noch das Ruder herumreißen würden. Als ihre Niederlage jedoch nicht mehr zu übersehen war, floh Basˇmakova, wie viele andere auch, mit dem Dampfer »Constantin« über Istanbul und Griechenland nach Serbien:772 »Nous pleurions tous au moment du d8part. Nous quittions notre Patrie avec quand mÞme l’espoir que c’8tait pour peu de temps. Des dizaines d’ann8es ont pass8 depuis. Nous ne reverrons plus notre Patrie. Nous ne foulerons plus son sol aim8, nombre de ses fils reposent pour toujours dans de lointains pays.«773

Die ersten Erfahrungen in der Fremde, vor allem die Abhängigkeit von anderen, seien wahrhaft schwer gewesen: »C’8tait la premiHre fois de ma vie que je recevais une aumine. Je compris l’amertume du pain de l’exil.«774 Sie beschrieb aus768 Vgl. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 356. 769 Vgl. ebd., S. 360f.; Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna, S. 186. Einen Überblick über die emigrierten Mitglieder der Familie Romanov, allerdings ohne einen wissenschaftlichen Apparat, bietet Marie-AgnHs Domin: AprHs la R8volution Russe de 1917, des Romanov en exil, Paris 2014. 770 Vgl. Baschmakoff, M8moires, S. 220f. 771 Ebd., S. 221. 772 Vgl. zur Emigration in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen: Vladimir A. Tesemnikov : Belgrad: Die russischen Emigranten in Jugoslawien, in: Schlögel (Hg.), Der große Exodus, S. 86–111. 773 Baschmakoff, M8moires, S. 224. 774 Ebd., S. 230.

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führlich das karge Essen und den notwendigen Verkauf von Schmuck.775 So versuchte sie, möglichst schnell eine Arbeit zu finden und sich nützlich zu machen. Das gelang ihr auch – sie wurde Leiterin eines serbischen Mädchenpensionats (Maison des 8lHves des 8coles secondaires) in Belgrad. Zusätzlich arbeitete sie als Dolmetscherin in einer französisch-serbischen Agentur. Ihr Kapital waren dabei Beziehungen und Bildung, vor allem Fremdsprachenkenntnisse. So kam sie nicht in die Zwangslage, sich als schlecht bezahlte Arbeiterin zu verdingen, sondern konnte sich ihren Unterhalt ihrem Status entsprechend verdienen. In Serbien blieb Basˇmakova bis zu ihrer Ausreise nach Paris im Jahre 1924, da Aleksandr Basˇmakov dort eine Stelle als Wissenschaftler erhalten hatte. Auch hier war ihr Wunsch nach Selbständigkeit und Anerkennung groß. Als ihr Mann eine Rede zum Thema »La Russie et le rile de la femme russe dans sa patrie et dans l’8migration« gehalten habe, sei sie sehr zufrieden gewesen: »J’8tais contente. Mon mari avait compris notre vie pleine de labeur et de privations. Il exposait la perte de notre Patrie et le double travail que nous devions faire pour gagner de l’argent et rendre nos humbles foyers aussi confortables que possible.«776

Die entscheidende Entwicklung in den Erinnerungen lag im Wandel von der Rolle als Ehefrau, Mutter und vor allem als Repräsentantin einer traditionsreichen Familie des Militäradels hin zu einer selbstbewussten und starken Frau, die ihren Unterhalt selbst bestreiten konnte. Sie hatte aufgezeigt, dass sie sich auch an neue Situationen und Lebensbedingungen anzupassen wusste. Ihre Leitmotive waren dabei die Liebe zu Russland und der Patriotismus. Das Bild einer »starken Frau« entwarf auch Lidija Vasil’cˇikova. In der Familie sei sie die treibende Kraft gewesen. Zugunsten der Sicherheit der Kinder sei die Familie aus Petrograd auf die Krim umgezogen, wo die Kaiserin-Mutter ihre Villa zur Verfügung gestellt habe.777 Trotz der gefährlichen Lage in den Städten versuchten Vasil’cˇikova und ihr Mann, etwas von ihrem Besitz in Moskau und Petrograd zu retten und fuhren mehrfach zu diesem Zweck dorthin. Die Lage wurde aber dort wie auch auf der Krim zunehmend gefährlicher : Anfang des Jahres 1918 häuften sich die Hausdurchsuchungen und die Hausangestellten mussten mit Hilfe des Verwalters »gezügelt werden«.778 Während eines Aufenthaltes in Petrograd mit gefälschten Papieren wurde sie ˇ K verhaftet.779 Das Verhör wurde in ihrer Wohnung an der Fontanka von der C ˇ von Moisej S. Urickij, dem Leiter der CK in Petrograd, vorgenommen, der 775 776 777 778 779

Vgl. ebd., S. 231. Ebd., S. 273. Vgl. Metternich, Bericht eines ungewöhnlichen Lebens, S. 13ff. Vgl. Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 343. Vgl. ebd., S. 372ff.

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»wegen seiner sadistischen Grausamkeit« bekannt war : »Meine Mitgefangenen versicherten mir später, von Uritzki [sic!] persönlich verhört zu werden sei eine Ehre, die nur denjenigen zuteil werde, die für gefährliche Verschwörer gehalten ˇ K-Leute mit würden.«780 Sie beschrieb sich als eine stolze Gefangene, welche die C Wanzen und Läusen verglich und Urickij zur Weißglut getrieben habe. In ihre Zelle mit drei weiteren Frauen gebracht, habe sie zunächst »Ordnung und Sauberkeit« herstellen lassen: sie »engagierte« eine Insassin, ihre Zelle zu reinigen. Belastend seien vor allem der ständige Lärm, der Mangel an frischer Luft und Bewegung sowie das Fehlen eines Bades und der Privatsphäre gewesen.781 Dennoch versuchte sie, wie Irina Skarjatina, das Beste aus der Situation zu machen, indem sie viel las und spazieren ging: »Denn unser Gefängnis war eine Welt für sich, ganz anders als alles andere, mit eigenen Wertmaßstäben, und das Leben war, wenn man von den unangenehmeren Seiten absieht, sogar zeitweilig unterhaltsam.«782 Bei der Analyse dieses Abschnitts der Autobiographie könnte der Eindruck entstehen, Lidija Vasil’cˇikova hätte eine längere Zeit im Gefängnis verbracht. Dabei betrug ihre Haftzeit genau vier Tage. Dies verdeutlicht, wie unterschiedlich verschiedene Episoden im Leben gewichtet werden konnten, je nachdem wie wichtig sie den Autoren erschienen. Nach der Freilassung reiste sie in die Ukraine aus, um der Gefahr einer erneuten Verhaftung zu entgehen. Für sie sei es in dieser Situation wichtig gewesen, noch am Leben und außer Gefahr zu sein, nicht mehr beschattet zu werden und etwas zu essen zu haben.783 Spätestens ab Herbst 1918 herrschten in der Ukraine politisch und militärisch chaotische Verhältnisse. Vasil’cˇikova sprach von »revolutionäre[m] Gesindel«, das wieder an die Oberfläche kam.784 Es gab weder einen Souverän, ein Gewaltmonopol oder eine entsprechende Regulierung der verschiedenen Konfliktparteien: die Partisanen kämpften gegen die (unterschiedlichen) Besatzer ; die Roten gegen die Weißen; die Ukrainer gegen die Juden; die Bauern gegen die Gutsbesitzer.785 Obwohl diese Verhältnisse alles andere als beruhigend waren, blieb die Familie Vasil’cˇikov während des Bürgerkrieges im Sommerpalast der Kaisermutter auf der vergleichsweise sicheren Krim, um den weiteren Verlauf abzuwarten. Abwechselnd gewannen die Weißen oder die Roten die Oberhand. Als die Letzteren größere Gebiete kontrollierten, beschloss die Familie Vasil’cˇikov im April 1919 zu fliehen. Von Jalta aus ging die Reise zunächst über Sevastopol’ und 780 781 782 783 784 785

Ebd., S. 375. Vgl. ebd., S. 380. Ebd., S. 383. Vgl. ebd, S. 410. Vgl. ebd., S. 416. Vgl. Felix Schnell: Ukraine 1918: Besatzer und Besetzte im Gewaltraum, in: Baberowski/ Metzler (Hg.), Gewalträume, S. 135–168.

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Konstantinopel nach Malta. Besonders blieben Lidija Vasil’cˇikova und ihrer Tochter Tatiana (verh. Metternich) die Freundlichkeit und die Zuvorkommenheit der britischen Seeleute in Erinnerung, die im Unterschied zu ihren russischen Kameraden überaus kinderlieb auftraten, so dass die Flucht von der Krim wie ein »höchst vergnügliche[s] Picknick« erschien.786 Nach zwei Monaten auf Malta setzte die Familie ihre Flucht Richtung Marseille und dann Beaulieu fort. Auch diese Station war nicht ihre letzte: Die Reise ging weiter nach Ostpreußen, genauer nach Rauschen in der Nähe von Königsberg. Hier blieb die Familie, allerdings ohne Ilarion Vasil’cˇikov, der nach Litauen weiterzog. Dort war ein Teil des Landbesitzes seiner Familie verblieben. Da die Unabhängigkeit der baltischen Staaten nicht gefestigt erschien, zog Lidija Vasil’cˇikova es vor, mit den Kindern zwar in räumlicher Nähe, aber in Sicherheit zu bleiben. Die pragmatische Ader der Mutter und die eher emotionale Art des Vaters beschrieb eindrücklich Tochter Tatiana in ihrer Autobiographie: »[Mama] machte sich Sorgen um ihn, denn er hatte auf der Krim, kurz bevor wir flohen, eine Art Nervenzusammenbruch erlitten. Der Verlust der Heimat schmerzte ihn wie eine tödliche Wunde, die langsam die Kräfte aufzehrt.«787

In letzter Konsequenz musste sich die Familie trennen, denn zu unterschiedlich waren die Vorstellungen über die Zukunft: Lidija Vasil’cˇikova wollte ein neues Leben für sich und ihre Kinder aufbauen, ihr Mann dagegen schien auf eine Wiederherstellung der vergangenen Zeiten zu hoffen. Vera Golicyna floh vor dem Bürgerkrieg in den Kaukasus mit nur wenig Vorbereitung. Golicyna rechtfertigte ihren Entschluss mit einem anonymen Anrufer, der sie kurz nach den Oktoberereignissen vor einer Verhaftung gewarnt habe. Sie fuhr über Rostov nach Kislovodsk, wo – wie bei Basˇmakova beschrieben – zahlreiche Adelige verweilten. Die erste Zeit schien unbeschwert zu sein, aber je mehr militärische Erfolge die Roten verzeichneten, desto mehr Gewalterfahrungen erlebte auch Vera Golicyna, so die Exekution ihres Cousins Ivan Orlov.788 Zusätzlich spielten auch die Gerüchte über mögliche Gräueltaten eine Rolle.789 Bei einem Überfall auf ihr Haus wurde sie mit Waffen bedroht, kam aber glücklicherweise mit nur materiellen Verlusten davon: »Bref, ils me d8valisHrent de leur mieux.«790 Danach habe sie sich in steter Lebensgefahr gefühlt; im Verlauf des Jahres 786 Wassiltschikow, Verschwundenes Russland, S. 421; vgl. Metternich, Bericht eines ungewöhnlichen Lebens, S. 21ff. 787 Metternich, Bericht eines ungewöhnlichen Lebens, S. 25. 788 Vgl. Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 225f. 789 Varvara Dolgorukova schrieb in ihren Erinnerungen über die Gerüchte, die Bol’sˇeviki hätten den getöteten Offizieren die Augen herausgeschnitten und aus ihren Händen Handschuhe gemacht. Vgl. Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 151f. 790 Galitzine, R8miniscences d’une Pmigr8e, S. 228.

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1918 trafen wiederholt Nachrichten von Verhaftungen und Ermordungen von Bekannten und Freunden ein. Außerdem seien die materiellen Sorgen erdrückend gewesen: »Aux angoisses morales se joignirent les soucis mat8riels.«791 Die Lebensmittel und das Heizmaterial wurden knapp und unerschwinglich teuer. Nach einem relativ ruhigen Frühling und Sommer – da die Weißen Erfolge verzeichneten – kam wieder eine unsichere Zeit. Diesmal blieb auch Vera Golicyna nicht vor Ort und fuhr zunächst nach Novorossijsk, um dann im März 1919 über Konstantinopel nach Rom ins Exil zu gehen. Dort kam sie bei ihrer Freundin Zinaida Jusupova (Mutter von Feliks Jusupov) unter. Später zog die Fürstin Golicyna weiter nach Frankreich und ließ sich in Nizza nieder.792 Nadezˇda Vonljarljarskaja unternahm den ersten Fluchtversuch nach eigener Aussage bereits kurz vor dem Ausbruch der Oktoberrevolution mit dem Großfürsten Michail Aleksandrovicˇ, dem Bruder Nikolajs II. Dieser lebte nach seiner Abdankung mit seiner Frau Natal’ja Brasova in Gatcˇina.793 Diese Flucht gelang nicht, denn der Großfürst wurde im August 1917, noch in der Zeit der Provisorischen Regierung, unter Hausarrest gestellt, nach der Oktoberrevolution verhaftet und im Juni 1918 in Perm’ erschossen. Vonljarljarskaja bezeichnete diese Episode als »fuite de Varennes«, womit sie Bezug auf den gescheiterten Fluchtversuch des französischen Königs Ludwig XVI. und der Königin MarieAntoinette nahm.794 Erst zwei Jahre später konnte sie die Flucht ihrer Mutter im Sommer 1919 mit der Weißen Armee organisieren, verblieb aber selbst mit ihrer Tochter in Petrograd aufgrund fehlender finanzieller Mittel. Erst im März 1920 ergab sich eine Gelegenheit für sie, über Finnland nach England zu emigrieren.795

1.4

Das neue Leben im Exil

Das Exilleben stellte adelige Frauen wie Männer vor bisher ungeahnte Schwierigkeiten: Die schwierige Arbeitssuche, der soziokulturelle Anpassungsdruck und nicht zuletzt das Fehlen der gewohnten »Gesellschaft«. Doch die Verarbeitung dieser Exilerfahrungen fiel in den Erinnerungen sehr unterschiedlich aus: Beklagten die Männer oftmals einen beruflichen und sozialen Abstieg, 791 Ebd., S. 229. 792 Vgl. ebd., S. 231ff. Vgl. auch Gousseff, Immigr8s Russes en France; Klein-Gousseff, L’exil russe. La fabrique du r8fugi8 apatride. 793 Vgl. zum Großfürst Michail Aleksandrovicˇ V.M. Chrustalev : Velikij knjaz’ Michail Aleksandrovicˇ, Moskau 2008; Donald Crawford: The Last Tsar : Emperor Michael II., Edinburgh 2012. 794 Vgl. Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 174. 795 Vgl. ebd., S. 198.

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betonten die Frauen eher ihre Stärken und neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung.796 Dies wurde auch von den Kindern der Emigrierten, so zum Beispiel von Tatiana Metternich, wahrgenommen: »Ohne Geld, ohne ausländisches Vermögen, konnte sie [die Mutter, J.H.] dazu auf keine wirkliche Unterstützung durch Papa bauen. Er neigte von Natur aus zu Pessimismus und sollte sich nie mehr von der Niederlage der Emigration erholen, die sein Selbstvertrauen zerstört hatte. Es schien, als ob in ihm eine lebenswichtige Triebfeder gebrochen wäre. Nicht nur wurde eine vielversprechende Karriere an ihrem Anfang jäh abgeschnitten – denn er war zum Staatsmann im weitesten Sinne erzogen –, er hatte sein ganzes Leben dem Dienst an seinem Land gewidmet.«797

Im Exil mussten die Frauen gezwungenermaßen die (Teil-)Verantwortung für sich und ihre Familien übernehmen oder zumindest zum Unterhalt beitragen. So entwickelte sich auch ein Bewusstsein von Unabhängigkeit von ihren Ehemännern oder anderen Familienmitgliedern, verbunden mit neuen Möglichkeiten der Lebensgestaltung und der beruflichen Entfaltung. Eine gute Bildung und Erziehung, außerdem ein bekannter adeliger Name konnten in diesen Fällen als wertvolles soziales Kapital eingesetzt werden.798 Diese Faktoren waren in hohem Maße nützlich, um einer möglichst angemessenen Tätigkeit nachzugehen. Viele Erfahrungen aus der Zeit in Russland kamen ihnen dabei zu Gute. Marija Basˇmakova betonte zum Beispiel, dass ihre Ausbildung im St.-Katharinen Institut in Petersburg entscheidend zum Gelingen ihres Exil-Lebens beigetragen habe: »Je pense, quant / moi, que l’Institut m’a beaucoup donn8: un caractHre ferme, de la pers8v8rance, un courage / toute 8preuve et une jolie provision de patience. Il m’a valu en outre de fidHles amies. Je suis en ce moment pr8sidente de l’Association des Anciennes PlHves de l’Institut de l’Ordre de Ste-Catherine de St-P8tersbourg. Je vois avec satisfaction que, celles que je connais, ont su organiser leur vie. Elles se tiennent avec beaucoup de dignit8.«799

Wie bereits dargelegt, waren nicht wenige adelige Frauen als Schriftstellerinnen, Übersetzerinnen, Sprachlehrerinnen und Journalistinnen tätig, so auch Irina Skarjatina. Sie war zunächst über Estland, Deutschland und Belgien nach England emigriert.800 Die Wahl fiel auf London, weil ihre Schwester mit ihrem Mann bereits dort lebte und sie auf ihre Unterstützung hoffen konnte. Die Lebensumstände erinnerten sie dennoch an das Leben in Petrograd: die kalte Woh796 Vgl. das Kapitel über das Exil bei Yalom, Blood Sisters, S. 209–235. 797 Metternich, Bericht eines ungewöhnlichen Lebens, S. 41. 798 Vgl. das Kapitel »Schritte in die Öffentlichkeit. Wie ein Titel zu Geld wird«, in: Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna, S. 215–243. 799 Baschmakoff, M8moires, S. 40f. Vgl. auch Skariätina, A World Begins, S. 281. 800 Vgl. Skariätina, A World Begins, S. 5–63. Vgl. zur russischen Exilgesellschaft in Großbritannien: Kudrjakova, Russkaja e˙migracija v Velikobritanii v period mezˇdu dvumja vojnami.

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nung, die Knappheit der Lebensmittel, die Geldsorgen. Die wenigen Übersetzungsaufträge brachten kurzfristig Geld in die Kasse, was aber dauerhaft nicht reichte. In London besuchte sie jeden Samstag und Sonntag die russisch-orthodoxe Kirche, die ein Treffpunkt für die Mitglieder der Romanov-Familie und zahlreicher Bekannter war : »And wherever I looked I saw the familiar faces of friends and acquaintances, some looking terribly poor and shabby, while others still managed to keep up appearances. After the service was over and the Empress had departed, the entire Russian colony of exiles would form congenial little groups outside the church, talking, exchanging news and arranging future meetings.«801

Irina Skarjatina betonte, dass die Kirche ein wertvoller Schutzraum gewesen sei, wo jeder selbstverständlich Russisch sprach, so dass der Eindruck entstand, sie wären wieder in Russland.802 Die ersten Tage und Wochen empfand sie als besonders bedrückend, zum Teil weil ihre hohen Erwartungen notgedrungen enttäuscht wurden. Ihre Schwester und ihr Schwager lebten sehr bescheiden und Skarjatina habe ihnen nicht zur Last fallen wollen. Eine Arbeit zu finden war jedoch im Winter 1922/23 sehr schwierig, da die Arbeitslosigkeit in England hoch und die Konkurrenz stark war. So habe sie sich entmutigt und deprimiert gefühlt.803 Diese Sicht auf ihre Exilzeit zeichnete auch Nadezˇda Vonljarljarskaja in ihren Erinnerungen, wenn auch mit einem anderen Schwerpunkt. Auch sie entschied sich für London, weil sie dort Verwandte hatte. Bei der Ankunft sei sie eine mittellose, erschöpfte und mittlerweile geschiedene Frau gewesen: »I arrived in London with £10 in my pocket; worn-out physically and mentally ; terribly tired; ill from starvation and already an old woman – just thirty-eight years old.«804 Zwei wertvolle Ringe habe sie zwar zum Verkauf bei sich gehabt, aber danach wären die finanziellen Mittel erschöpft gewesen. Die Aussichten auf einen Beruf seien zunächst schlecht gewesen: »I had no profession, no training, no means of qualifying for any job.«805 Mit Dankbarkeit erinnerte sie sich, dass ihre Tochter eine schulische Ausbildung in Kent mit Hilfe des Russischen Roten Kreuzes erhielt. Was auch bei anderen adeligen Emigrierten funktionierte, war eine Aktivierung von Beziehungen, womit ein geregelter Alltag sichergestellt werden konnte. Unter anderem erhielt sie offenbar einen besonders günstigen Preis für ein Zimmer im 801 Skariätina, A World Begins, S. 76. Vgl. auch die Erinnerungen von Pyotr Petrovich Shilovsky : ›Here is Imperial Russia‹, in: Michael Glenny/Norman Stone (Hg.): The Other Russia: The Experience of Exile, London 1991, S. 289–297. 802 Vgl. Skariätina, A World Begins, S. 76. 803 Vgl. ebd., S. 68f. 804 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 202. 805 Ebd., S. 202.

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»Aban Court Hotel«, da sie die Besitzerin kannte. Des Weiteren konnte sie das »Kapital« der Fremdsprachenkenntnisse, wie Marija Basˇmakova, erfolgreich nutzen: Sie verdiente etwas Geld mit Französischunterricht und Übersetzungsaufträgen. Besonders bedrückend und als schwer zu ertragen empfand sie retrospektiv weniger den finanziellen Engpass als vielmehr den Mangel an adäquaten gesellschaftlichen Kontakten, ebenso wie das Fehlen guter Kleidung und die empfundene Indifferenz der Engländer. Sie gab in ihren Erinnerungen zu, sogar Selbstmordgedanken gehabt zu haben, wozu auch die tragischen Vorfälle in der Familie beitrugen.806 Die Situation habe sich erst gebessert, als sie die Vorteile Englands zu schätzen gelernt hatte: »Perhaps my struggles are not yet over but every day of my life I thank God for having brought me to safe harbour in this great and blessed country. I have learnt to love and to understand England; its real freedom, its justice, its traditions, its greatness; the country where happiness and peace are still to be found.«807

Sie beantragte sogar die englische Staatsbürgerschaft »to become a loyal subject of His Majesty, the King of England.«808 England blieb dennoch nicht die letzte Exilstation. Vonljarljarskaja zog in die Schweiz um, wo sie bis zu ihrem Lebensende blieb. Einen anderen Weg wählte Irina Skarjatina. Nach ihrer Darstellung nahm sie ihr Schicksal selbst in die Hand, indem sie beschloss, in den USA – der »Neuen Welt« – ein neues Leben aufzubauen.809 Sie bewarb sich bei einer amerikanischen Familie aus Dawn in Middle West, um der Dame des Hauses Französisch beizubringen.810 Zuerst reserviert und unfreundlich, war diese dennoch beeindruckt von den Kontakten und Referenzen von Irina Skarjatina. Die Aussicht, eine »echte Fürstin« als Lehrerin zu haben, war offenbar mehr als verlockend. 806 Ihre Mutter und ihr Bruder Vladimir D. Nabokov lebten seit 1919 im Exil kurz in London, dann in Berlin, wo Vladimir Nabokov am 28. März 1922 von politisch motivierten Attentätern erschossen wurde. Ihre Mutter zog dann weiter nach Prag und Bukarest, wo ihre Schwester »Bessie« (Fürstin Wittgenstein) und Bruder Sergej lebten. Vgl. zu Vladimir D. Nabokov, Vater des Schriftstellers Vladimir V. Nabokov, im Exil: Barbara Straumann: Figurations of Exile in Hitchcock and Nabokov, Edinburgh 2008, S. 36f. Vgl. auch die Autobiographie von Vladimir V. Nabokov: Speak, Memory, Erstauflage London 1951 [bearbeitete und erweiterte Aufl.: Speak, Memory : An Autobiography Revisited, New York 1966]; dt. Übersetzung: Sprich, Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie, Reinbek b. Hamburg 1984. 807 Wonlar-Larsky, The Russia That I Loved, S. 203f. 808 Ebd., S. 205. 809 Vgl. zur Auswanderung von Russen in die USA in den 1920er Jahren: Beyer Jr., New York: Russen in der Neuen Welt, in: Schlögel (Hg.), Der große Exodus, S. 346–372. Zur Anziehungskraft der »Neuen Welt« vgl. L. Dumenil: The Modern Temper. American Culture and Society in the 1920s, New York 1995. 810 Vgl. Skariätina, A World Begins, S. 103.

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Trotz der Bedenken angesichts der schlechten Bezahlung sagte sie zu, obwohl ihr der Gedanke, fast wie eine »Bedienstete« behandelt zu werden, nicht behagte.811 Die Gepflogenheiten der Amerikaner wirkten befremdend auf Irina Skarjatina. Ironisch betrachtete sie den Drang der Hausherrin, das Haus möglichst teuer, aber geschmacklos einzurichten: »Strange pictures in heavy gilt frames, complicated pseudo antique pieces of furniture, silver ships with sails blowing out in an imaginary wind, a canary in a bright cage all contibuted to create the impression of a show room in a very expensive interior decorater’s shop.«812 Parallelen zu dieser Bewertung des Geschmacks – »adelig« contra »vulgär« – finden sich auch bei anderen (hoch)adeligen Autoren.813 Einerseits verweisen diese Textstellen auf die Verbitterung der Exilierten, nicht mehr zur wohlhabenden Elite dazuzugehören. Irina Skarjatina fühlte sich offenbar von oben herab behandelt und gekränkt, da sie kein eigenes Zimmer im Haus bekam und außer Haus in einer Art Kantine speisen musste. In den Erinnerungen beschrieb Skarjatina, dass die »Dame des Hauses« sie regelrecht tyrannisiert habe, so dass sie ihr sogar die Revolution als ein Mittel zur Vermenschlichung gewünscht habe.814 Anderseits verbarg sich hinter der Auseinandersetzung mit der (nichtadeligen) Arbeitgeberin die Vorstellung, an Herkunft, Bildung und »Kultiviertheit« über den »neureichen« Amerikanern zu stehen.815 Sie war sich sicher, sowohl besser erzogen, als auch mit besseren Manieren und Geschmack ausgestattet zu sein: die Fauxpas der Arbeitgeberin wurden mit jeder erzählten Begebenheit zahlreicher.816 Deshalb versuchte sie, mit gewisser Ironie und Distanz auf die ihr zugewiesene Rolle der »Madame« zu blicken. Die Kränkungen kompensierte sie in gewisser Weise durch ihre distanzierte Haltung und auch mit einem Überlegenheitsgefühl gegenüber ihrer Arbeitgeberin. Dies verstärkte sich noch, als sie eine offizielle Einladung als »Countess« von ihrer Arbeitgeberin erhielt und sie sich sicher war, dass sie nur zur Dekoration diente: »[T]he guests were all ›out 811 812 813 814

Vgl. ebd., S. 108. Ebd., S. 163. Vgl. Beispiele in Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna, S. 270f. Skariätina, A World Begins, S. 180: »[…] how I would love to see her in the midst of a good old Revolution, that would burn her pictures and destroy her house and confiscate her jewels and money and make her work! Yes, that’s what she needs – work to make her human.« 815 Vgl. Skarjatinas Erfahrungen mit »millionairesses« in Bekleidungsgeschäften, wo sie tätig war, ebd., S. 250, 280f. Sie ließ den Leser nicht daran zweifeln, dass diese »Neureichen« weder Geschmack noch Manieren besaßen: »as a rule nearly all were impatient, supercilious and very often capricious.« Ebd., S. 259. 816 Zum Beispiel hatte die Dame des Hauses die Angewohnheit, die Preise für die Hausgegenstände zu nennen oder im Unterricht einzuschlafen: »I wondered if she memorized words in the way parrots do, during sleep«. Skariätina, A World Begins, S. 165, vgl. auch S. 179.

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of town guests‹ from New York and Washington, and I, with my title, was playing the role of Tchekov’s [sic] ›poor General‹ who used to be hired for parties as to impress newcomers with his high rank and decorations.«817 Recht ausführlich beschrieb Skarjatina ihre Befreiung aus dem »prekären« Beschäftigungsverhältnis. Das gelang ihr nur teils aus eigener Kraft. Wohl nahm sie andere Arbeitsangebote an; die wichtigste Veränderung brachte aber die Heirat mit einem Amerikaner.818 In der Retrospektive waren es aus Skarjatinas Sicht ihr Überlebenswille, ihre Disziplin und ihre Überlegenheit, die zu einem erfolgreichen Leben in Amerika führten. Gleichzeitig wird deutlich, dass sie erst durch die Heirat bereit war, sich zu »amerikanisieren«: »to feel like an American, to think like an American and to act like one«.819 Zur Zeit des Schreibens ihrer Autobiographie hatte sie diese Transformation bereits vollzogen und zeigte sich begeistert von den technologischen Errungenschaften Amerikas, ebenso wie sie den Komfort und die Lebensqualität genoss.820 Allerdings behielt sie ihre distanzierte Haltung zu den Wohlhabenden Amerikas bei, wie die Auszüge aus ihren autobiographischen Texten gezeigt haben. Die Gründe für russische Emigranten, von Europa nach Amerika auszuwandern, konnten vielfältiger Natur gewesen sein. Einerseits spielten ökonomische Überlegungen eine wichtige Rolle, andererseits war die Anziehungskraft der »Neuen Welt« nicht zu unterschätzen. Der weitverbreitete Glaube, das wirtschaftliche Wachstum in den USA würde fortdauern, wurde zwar vom Börsenkrach im Jahre 1929, der das Land in eine Depression stürzte, unterbrochen.821 Gerade in dieser Zeit schienen die amerikanischen Leser aber offen für »wahre« und glänzende Schicksalsgeschichten wie die von russischen Adeligen in der Emigration gewesen zu sein.822 Die Faszination der Amerikaner für Adelige und ihre Adelstitel wurde von zahlreichen Emigranten beobachtet, die davon unter anderem in Form hoher Auflagen ihrer Memoiren profitierten.823 Das Schreiben wurde dabei verstärkt von Frauen als eine akzeptable Form des Gelderwerbs betrachtet und angestrebt, denn es war nicht nur lukrativ, sondern mit Prestige verbunden. Eine Besonderheit an der Emigration in die USA war das Bestreben der 817 818 819 820 821

Ebd., S. 216. Vgl. ebd., S. 229. Skariätina, A World Can End, S. viif. Vgl. ebd., S. ix. Vgl. D.M. Kennedy : Freedom from Fear. The American People in Depression and War 1929– 1945, New York/Oxford 1999. 822 Vgl. Bulgakowa, The »Russian Vogue« in Europe and Hollywood, S. 211–235. 823 Vgl. z. B. Alexander von Russland: Kronzeuge des Jahrhunderts, Leipzig 1933, S. 83; Marie, Grand Duchess of Russia: Education of a Princess, New York 1939; dies.: A Princess in Exile, New York 1932. Vgl. zu Marija Pavlovna bei Mienert, Großfürstin Marija Pavlovna: ein Leben in Zarenreich und Emigration, S. 228ff.

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Emigranten, sich möglichst schnell in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren. Deshalb war dort nie ein wichtiges Emigrationszentrum entstanden wie in Paris oder Berlin, wo die russischen Exilanten eher bestrebt waren, ihre russische Identität zu bewahren.824 Auch Irina Skarjatina ließ sich von den stereotypen Vorstellungen und Amerika-Bildern leiten, zum Beispiel dem Machbarkeitsmythos und den »self-made-man«-Möglichkeiten.825 Ihr kam zugute, dass in Amerika die Berufstätigkeit der Frauen beständig zunahm und gesellschaftlich anerkannt war. Sie beschrieb sich als ein gelungenes Beispiel für eine erfolgreiche Verwandlung von einer armen Emigrantin zu einer selbstbestimmten Frau in einer neuen Heimat.

2

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Während sich die Frauen im Zuge des Ersten Weltkrieges und später im Exil emanzipierten und als Überlebenskünstlerinnen stilisierten, waren die IchEntwürfe der Männer von anderen Themen bestimmt. Im Vordergrund stand das Verlangen, in der Fremde klare Selbst- und Fremdbilder zu finden. Für die Sowjetunion waren die Emigrierten Vaterlandsverräter ; diesen Vorwurf versuchten diese wiederum zu entkräften – ob für sich selbst oder für die nächste Generation. Denn die Vaterlandsfeinde waren in ihren Augen nicht die in die Fremde Geflohenen, sondern die Bol’sˇeviki. Die Autoren entwarfen auf unterschiedliche Weise das Selbstbild des Vaterlandsverteidigers und »wahren Patrioten«, das mit ihren jeweiligen »Erfahrungsräumen« im Zarenreich und im Exil zusammenhing.

2.1

Der Patriot im gesellschaftlich-politischen Bereich

Aleksandr Naumov betonte an mehreren Textstellen seine ungebrochene Liebe zum vorrevolutionären Russland sowie seine Opferbereitschaft, wegen der Treue zu dieser vertrieben worden zu sein: »Unsere Heimat hatte einst den Namen ›die Heilige Rus‹, und das Gebet für sie verbleibt in allen Herzen der ›wegen der Wahrheit Vertriebenen‹.«826 Das Selbstbild von Naumov leitete sich von der gesellschaftlich-politischen Stellung ab, die er in Russland innehatte. Er stellte 824 Vgl. Beyer, New York, in: Schlögel (Hg.), Der große Exodus, S. 362f. 825 Zu den Stereotypen vgl. Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid von Saldern: Einleitung, in: dies. (Hg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, S. 7–33. 826 Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 1, S. II.

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mehrmals seine historische Rolle bei der Arbeit an der Schaffung einer lebendigen Verbindung des Regierungszentrums mit der Provinz heraus.827 Bereits während des Russisch-Japanischen Krieges 1904/05 und nach der Verkündung des Oktobermanifestes im Jahre 1905 habe er gemahnt, dass die »bürokratischen Oberschichten« (bjurokraticˇeskie verchi) zu weit von der Bodenständigkeit und der Realität der Provinz entfernt waren.828 Was ihm in der Retrospektive als mögliche Lösung erschien, war eine evolutionäre Demokratisierung auf der Grundlage der Zemstva, die bereits im Volk verankert und anerkannt gewesen wären.829 Der Fehler lag seiner Meinung nach im übereilten Umbau des Staates von oben mit »einer Fassade, die zwar an den westlicheuropäischen konstitutionellen Stil erinnerte, aber ohne einen klar definierten inneren Plan war und aus einem Material bestanden habe, das wenig erprobt gewesen war.«830 Mit Bedauern stellte er fest, dass seine »Träumereien« von den Ereignissen des Jahres 1905/06 beiseite gefegt worden waren.831 Was er sich selbst hoch anrechnete, war seine unbeugsame politische Haltung trotz Morddrohungen und mehrerer Attentatsversuche gegen ihn.832 Außerdem habe er unbeirrt an der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bauern, z. B. durch Einführung von neuen landwirtschaftlichen Methoden, gearbeitet.833 Diese ambivalente Haltung zwischen Stolz auf die eigenen Leistungen und dem gleichzeitigen Bewusstsein des Scheiterns nahm auch Boris Vasil’cˇikov ein. Die Selbstbeurteilung seiner Laufbahn beinhaltete eine »sehr gute Note« als Adelsmarschall, eine »gute« als Gouverneur, eine »mangelhafte« als Minister und eine »absolute Null« als Mitglied des Staatsrates.834 Er konkretisierte, dass diese Beurteilung mit seinem fehlenden Willen zur Macht beziehungsweise fehlenden Ambitionen im Zusammenhang gestanden habe: »[F]ür den Erfolg im staatlichen oder politischen Bereich reichen die Bemühungen um die ehrliche Erfüllung der Pflicht nicht aus: sogar die herausragend begabten und

827 Vgl. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 145. 828 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 352. Vgl. zum Konflikt zwischen den Regierungsbeamten und ZemstvoAktivisten: Thomas Fallows: The Zemstvo and the Bureaucracy, 1890–1914, in: Terence Emmons/Wayne S. Vucinich (Hg.): The Zemstvo in Russia. An Experiment in Local SelfGovernment, Cambridge u. a. 1982, S. 177–241. 829 Vgl. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 1, S. 352; Bd. 2, S. 17f. 830 Ebd., Bd. 1, S. 352. 831 Vgl. ebd. Vgl. auch Lutz Häfner : zemcy und intelligenty als liberale Akteure der Russischen Revolution von 1905, in: Martin Aust/Ludwig Steindorff (Hg.): Russland 1905. Perspektiven auf die erste Russische Revolution, Frankfurt/M. u. a. 2007, S. 69–88. 832 Vgl. Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 20. 833 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 253. 834 Vgl. Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 204.

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talentierten Menschen erreichen nur dann gute Resultate in der Politik, wenn bei ihnen ein bestimmter Anteil an Ehrgeiz und Machtwille vorhanden ist.«835

Er habe seine Aufgaben zwar stets gewissenhaft, aber ohne Enthusiasmus ausgeführt. Denn ihm wären die Abläufe der Bürokratie und die politischen »Manipulationen«836 hinter den Kulissen fremd geblieben. So machte er aus einer vermeintlichen Schwäche eine Tugend, denn er sei sich immerhin treu geblieben, ohne sich zu verbiegen. Ilarion Vasil’cˇikov räumte seiner politischen Karriere nur wenig Raum in seinen Erinnerungen ein, obwohl er im späten Zarenreich politisch und gesellschaftlich überaus aktiv war. So war er u. a. Duma-Abgeordneter und Mitglied der Provisorischen Regierung. Doch nicht er, sondern sein Sohn Georgij Ilarionovicˇ Vasil’cˇikov verwies auf dessen »politisches Erbe«: »Mein Vater war einer der letzten Vertreter jener jungen Generation von Persönlichkeiten aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben Russlands, die die erste russische Revolution von 1905 nicht als ›das Ende vom Alten‹, sondern als ›einen Neubeginn‹ wahrnahmen […], sie haben sich der Erneuerung Russlands auf dem Weg liberaler Reformen und der Festigung eines konstitutionellen Aufbaus verschrieben.«837

Die Analyse der Autobiographie von Ilarion Vasil’cˇikov zeigt jedoch, dass sein Selbstbild sich eher nicht aus seiner politischen Rolle, sondern aus dem starken Bezug zur Orthodoxen Kirche speiste, wie im folgenden Kapitel dargelegt wird.

2.2

Bewahrer der russischen Kultur und Geistlichkeit

Das Thema der Bewahrung der russischen Kultur und Religion war eines der wichtigsten der russischen Gemeinden im Exil.838 Die Emigrierten trieb die Furcht um, dass die nächste Generation die geistige Verbindung zu Russland nicht aufrechterhalten könnte. Daher waren die Pflege und die Vermittlung von russischer Sprache, Kultur und Religion in beinahe allen Familien stark ausgeprägt, auch wenn nicht alle Aspekte der Vaterlandsliebe vermittelt werden konnten: »Gott sei Dank müssen unsere Kinder die wichtigste Säule der Erziehung – die Säule der Religion – nicht entbehren, aber die zweite Säule, die patriotische, ist für die junge 835 836 837 838

Ebd., S. 204f. Ebd., S. 206. G.I. Vasil’cˇikov : Predislovie, in: Vasil’cˇikov, To, cˇto mne vspomnilos’, S. 5. Vgl. Raeff, Russia Abroad, Kapitel 5: To Keep and to Cherish: What is Russian Culture?, S. 95–117; Kapitel 6: The Kingdom of God is Within You: Church and Religion in the Diaspora, S. 118–155.

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Generation grundlegend verzerrt. Russland ist für unsere Kinder nicht mehr die dem Herzen nahe Realität, es hat lediglich eine abstrakte Bedeutung! […] Je tiefer wir, die Eltern, das Glück fühlen, das uns früher selbstverständlich erschien – das Glück, Russland zu haben, desto stärker empfinden wir den Schrecken, dass dieses lebendige, reale Russland für unsere Kinder nicht existiert!«839

Auf die Bedeutung der Religion für den gefühlten und gelebten Patriotismus verwies insbesondere Ilarion Vasil’cˇikov. Für ihn stellte der orthodoxe Glaube den Anker und den Drehpunkt für das russische Wertesystem dar, und er hielt an dieser Vorstellung auch im Exil fest. Er war seit September 1917 an der Wiedereinführung des Patriarchats in Russland, ebenso wie der Vater von Sergej Trubeckoj,840 beteiligt. Er wertete sie als eine »Fundamentlegung« für die Wiedergeburt des religiösen Lebens in Russland: »Um uns herum fiel alles auseinander, die alten Werte des staatlichen und gesellschaftlichen, aber auch des familiären Lebens, aber hier, auf dem Kirchenkonzil schaffen wir ein historisches Werk, wir legen das Fundament für die neue moralische und religiöse Wiedergeburt Russlands […].«841

Sergej Trubeckoj erinnerte sich ebenfalls an dieses Erstarken der Kirche vor dem Hintergrund des allgemeinen Zerfalls, war aber weitaus skeptischer, was die Langzeitwirkung anging. Denn die »kirchliche Wiedergeburt« sei weitaus weniger stark gewesen als von seinen Verfechtern angenommen: »Der Bolschewismus konnte die Kirche nicht besiegen, aber er injizierte ihr und der Volksseele ein neues und scharfes Gift!«842 Diese Skepsis wollte Vasil’cˇikov nicht teilen. Er fand Halt und Trost im 839 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 37f. 840 Vgl. Vasil’cˇikov, To, cˇto mne vspomnilos’, S. 138f.; Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 160f. Zur Wiederherstellung des Patriarchats im August 1917 und zur Wahl des Metropoliten von Moskau Tichon zum neuen Patriarchen im November 2017 vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 329. Vgl. zu den Entwicklungen hinsichtlich des Verhältnisses Staat-Kirche Roman Rössler : Kirche und Revolution in Russland. Patriarch Tichon und der Sowjetstaat, Köln 1969; Otto Luchterhandt: Der Sowjetstaat und die Russisch-Orthodoxe Kirche, Köln 1976. 841 Vasil’cˇikov, To, cˇto mne vspomnilos’, S. 138f. Vgl. auch die Erwähnung der Zeremonie bei Sergej Trubeckoj und das Zitat aus einem Brief von seinem Vater, Fürst Evgenij N. Trubeckoj, vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 165f. und Fußnote auf S. 166. 842 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 166. Wie weit der »revolutionäre Gedanke« in die Kirche vorgedrungen war, lässt sich an dieser Quellenedition einsehen: Michail A. Babkin (Hg.): Rossijskoe duchovenstvo i sverzˇenie monarchii v 1917 godu. Materialy i archivnye dokumenty po istorii Russkoj pravoslavnoj cerkvi, Moskau 2006. Hier sind verschiedene Quellen, z. B. zeitgenössische Publizistik, Korrespondenz, Predigten etc., zusammengefasst. Eine Tendenz zeichnet sich dabei ab, dass der Klerus nicht per se »konterrevolutionär«, sondern die Kirche bezüglich der Revolution innerlich zerrissen war. Zwischen der Februar- und Oktoberrevolution gab es durchaus Unterstützung für die »demokratische Republik« und eine Ablehnung der Monarchie, vgl. ebd., S. 204, auch S. 165, 214ff. Vgl. auch Vera Shevzov : Russian Orthodoxy on the Eve of Revolution, Oxford/New York 2003.

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Glauben an eine baldige religiöse Erneuerung Russlands. Dieser Aspekt ist in den Erinnerungen dominant, dagegen spielte z. B. die Familie keine zentrale Rolle. Es scheint nur an einigen Stellen durch, dass er das private Leben als gescheitert betrachtete, aber die große Sache – die Errichtung des Patriarchats – gab ihm die Gewissheit, einen sinnvollen Beitrag zur Zukunft Russlands geleistet zu haben. Die Hoffnung auf eine »Wiedererstehung des wahren Russlands« hatten auch die hier betrachteten Autorinnen. So transportierte z. B. Marija Basˇmakova in ihrer Autobiographie diese wesentliche Botschaft: »Nous gardons la Russie dans nos .mes et dans nos coeurs meurtris. Nous attendons sa r8surrection et c’est alors que nous nous exclamerons pleins d’all8gresse: ›Le Christ est ressuscit8!‹«843 Keineswegs sei der Kampf um Russland verloren gewesen, dieser würde in der Zukunft entschieden werden. Marija Barjatinskaja schrieb in ihrem Schlusswort über ihren »unerschütterlichen Glauben an die Wiedergeburt« Russlands, auch wenn im Moment des Schreibens »alles dunkel wie niemals zuvor« erscheine.844 Mit diesem religiösen Motiv hing der Grundsatz der Autoren zusammen, dass sie sich karitativ und ehrenamtlich für die Exilgesellschaft einsetzen müssen. Auch dadurch begriffen sie sich als die »wahren Russen«, die ihre Heimat in der Fremde würdig vertraten und ihr weiterhin dienten.845 Nach diesem Selbstverständnis musste sich der russische Adel, bzw. die nachkommende Generation, für die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bereithalten, um den kulturellen Wiederaufbau Russlands, insbesondere mit dem Baustein der Religion, zu leisten.

2.3

»Kämpfer für die gerechte Sache«

Einige Autoren, die aktiv an Kriegshandlungen teilgenommen hatten, entwarfen ein von militärischem Patriotismus geprägtes Selbstbild. So liegen Erinnerungen von Aleksandr Davydov zum Russisch-Japanischen Krieg846 und von Sergej Obolenskij zum Ersten und Zweiten Weltkrieg vor. Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei den untersuchten Texten nicht um Erinnerungen von Berufsoffizieren 843 844 845 846

Baschmakoff, M8moires, S. 309. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 366. Vgl. z. B. Obolensky, One Man in His Time, S. 323f. Zum Russisch-Japanischen Krieg vgl. Jan Kusber : Krieg und Revolution in Russland 1904– 1906. Das Militär im Verhältnis zu Wirtschaft, Autokratie und Gesellschaft, Stuttgart 1997; zu den Voraussetzungen des Krieges vgl. Heinz-Dietrich Löwe: Russland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Russisch-Japanischen Krieges: Reformen und Gegenreformen, ökonomische Expansion und koloniales Abenteurertum, in: Maik Hendrik Sprotte/Wolfgang Seifert/Heinz-Dietrich Löwe (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg 1904/ 05. Anbruch einer neuen Zeit? Wiesbaden 2007, S. 41–53.

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und -soldaten handelt,847 sondern um Adelige, die sich freiwillig zum Kriegseinsatz gemeldet hatten. Dass der Russisch-Japanische Krieg 1904–1905 in einer demütigenden Niederlage für Russland endete und weitreichende Folgen für die russische Gesellschaft hatte, erkannten die adeligen Exilanten in der Retrospektive wohl an: »With Russia’s defeat in the Japanese War the authority and prestige of the government had suffered disastrously.«848 Dass dieser Krieg aber als Epochenwende oder gar als »World War Zero« zu sehen sei,849 lässt sich den Erinnerungen nicht entnehmen. Schon eher findet sich die kritische Auseinandersetzung mit dem Kriegsverlauf. Boris Vasil’cˇikov schrieb, die Begeisterung für den Krieg sei bei den Zeitgenossen bereits bei Kriegsausbruch begrenzt gewesen und habe mit Verlauf des Krieges immer mehr abgenommen: »[K]omplizierte und unverständliche politische Kombinationen, die den [Krieg] verursacht haben, waren vielen wenig verständlich, nicht nur vom ersten, sondern bis zum letzen Tage, und er erschien als eine absolut überflüssige Belastung für das Volk.«850

Boris Vasil’cˇikov, der selbst nicht aktiv am Kriegsgeschehen teilgenommen hatte,851 stellte in seinen Erinnerungen die These auf, dass dem durchschnittlichen Russen ein starker Kampfgeist fremd gewesen sei und er nach Möglichkeit weniger gefährliche Posten suchen würde: »Embusques [sic, in etwa »Drückeberger«, J.H.] gab es überall, aber ich glaube, nirgendwo war es leichter durchführbar als bei uns, was die Bewertung in der öffentlichen Meinung an847 Eine Teilauswertung von Erinnerungen von Offizieren leisten folgende Sammelbände: David R. Jones: The Officers and the October Revolution, in: Roger Reese (Hg.): The Russian Imperial Army, 1796–1917, Aldershot 2006, S. 377–393; Allan Wildman: The February Revolution in the Russian Army, in: Reese (Hg.), The Russian Imperial Army, S. 303–327. Vgl. auch Basik (Hg.), Russkaja voennaja e˙migracija; I.V. Domnin (Hg.): Dusˇa armii. Russkaja voennaja e˙migracija o moralnych-psichologicˇeskich osnovach rossijskoj vooruzˇennoj sily, Moskau 1997; Sergej V. Volkov (Hg.): Kadety i junkera v Beloj bor’be i na cˇuzˇbine. Vospominanija ucˇastnikov, Moskau 2003. 848 Obolenskij, One Man in His Time, S. 61. Vgl. auch Dahlmann, Die gescheiterte Revolution, in: Kreiner (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg, S. 135: »Ihre Macht konnte die zarische Regierung nie wieder in jener Weise ausüben, wie dies vor 1905 der Fall gewesen war.« Vgl. Martina Hamberger : Der Russisch-Japanische Krieg und die russische Revolutionsbewegung, in: Altieri/Jacob (Hg.), Die Geschichte der russischen Revolutionen, S. 92–121; Heinz-Dietrich Löwe: Der Russisch-Japanische Krieg und die russische Innenpolitik: Vom »kleinen erfolgreichen Krieg« in die erste Revolution von 1905, in: Sprotte/Seifert/Löwe (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05, S. 147–171. 849 Vgl. John W. Steinberg u. a. (Hg.): The Russo-Japanese War in Global Perspective. World War Zero, Leiden 2005. 850 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 154. Vgl. auch Dahlmann, Die gescheiterte Revolution, in: Kreiner (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg, S. 119f. 851 Boris Vasil’cˇikov meldete sich beim Roten Kreuz und wurde zum Generalbevollmächtigten des nordöstlichen Frontabschnittes. Vgl. Evgenija Oksenjuk: Dejatel’nost’ Rossijskogo Obsˇcˇestva Krasnogo Kresta v nacˇale XX veka (1903–1914 gg.), Moskau 2004, insb. S. 105– 141.

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geht.«852 Dieses Phänomen erklärte er mit der vermeintlichen Friedfertigkeit und dem unkriegerischen Charakter des russischen Volkes.853 Diejenigen, die sich zum Kriegseinsatz gemeldet hatten, widersprachen dieser Sicht vehement, so auch Aleksandr Davydov. Zwar sparte er nicht mit Kritik, was den Verlauf des Krieges und die Entscheidungen auf der Kommandoebene anbetraf, aber er und seine Kameraden hätten das Vaterland in dieser Situation der Bedrohung uneingeschränkt verteidigt. Als »Einjährig-Freiwilliger« nahm er an mehreren Schlachten teil, u. a. im August 1904 in der unmittelbaren Nähe der Schlacht von Liaoyang. Er beschrieb ausführlich die strategischen Fehler der russischen Armeeführer, aber auch den Mut und das militärische Ehrgefühl der Offiziere und Soldaten, die er kennengelernt hatte. Er schien seinen Entschluss zu kämpfen nicht zu bereuen, denn der wahre Patriotismus bestünde für ihn in der Verpflichtung, für das Vaterland zu kämpfen und dabei über die persönlichen Interessen hinwegzusehen. Davydov empfand ein Gefühl der Verantwortung gegenüber Russland als seinem Heimatland, nicht jedoch gegenüber dem Zaren.854 Aleksandr Davydov blickte mit merklichem Stolz auf diese Erlebnisse zurück, nicht zufällig zitierte er in seinen Erinnerungen die Aufschrift auf der Medaille, welche die russischen Kriegsteilnehmer erhalten haben: »Dass Gott euch erhöhe zu seiner Zeit«. Ebenso fand er es zu Recht erwähnenswert, dass er das silberne St.-Georgs-Kreuz für seine Tapferkeit erhalten hatte.855 Dieser Stolz auf die eigenen Leistungen in kriegsentscheidenden Schlachten hielten ihn dennoch nicht davon ab zu vermerken, dass der Krieg aufgrund des Zögerns und der Apathie der russischen Kommandoinhaber verloren worden sei. Dies habe den Verlauf des Krieges in seiner Gesamtheit besiegelt.856 Er selbst kämpfte in einem Regiment, welches alle Nachteile eines neu zusammengesetzten Regiments hatte: keine lange Tradition, keine gemeinsamen Erfahrungen der Offiziere, außerdem eine große Anzahl von rekrutierten Soldaten, die als Bauern »vom Feld geholt« worden waren und denen die militärische Disziplin fern gewesen sei.857 Dennoch zeichnete er die unmittelbare Umgebung, die Kameraden und seine Vorgesetz852 Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 156. 853 Vgl. ebd., S. 156. 854 Vgl. Davydov, Vospominanija, S. 142. Vgl. zu den Schlachten bei Geoffrey Jukes: The RussoJapanese War 1904–1905, Oxford 2002, S. 49ff. Die berühmte Schlacht von Liaoyang zwischen der japanischen und der russischen Armee war eine der großen Landschlachten des Russisch-Japanischen Krieges. 855 Vgl. Davydov, Vospominanija, S. 150. 856 Vgl. ebd., S. 142. 857 Vgl. ebd., S. 146. Die militärische Mobilisierung gestaltete sich in Russland in der Tat schwierig; es kam immer wieder zu Ausschreitungen und Massenflucht, vgl. Löwe, Der Russisch-Japanische Krieg, in: Sprotte/Seifert/Löwe (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05, S. 153.

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ten, positiv. Die Soldaten seien »jung, hochgewachsen, gesund, hervorragend diszipliniert und miteinander durch eine echte russische Seelensolidarität verbunden« gewesen.858 Während einer Schlacht meldete er sich freiwillig, einen verletzten Offizier aus der Schusslinie zu bringen und beschrieb, was ihm besondere Kräfte verliehen habe: »Meine Kräfte gingen zur Neige, aber das Bewusstsein, dass ich in meiner ersten Schlacht ein St.-Georgs-Kreuz für Soldaten verdient hatte, […] verlieh mir zusätzliche Energie.«859 Nach der Schlacht erhielt er tatsächlich für die »Rettung eines verletzten Offiziers unter feindlichem Beschuss« das »Ehrenzeichen des Kriegsordens«.860 Diese heldenhafte Vorstellung des »wahren Patrioten« lässt sich auch bei Sergej Obolenskij finden, welcher im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger gedient hatte. Welche Rolle der Erste Weltkrieg in den untersuchten Erinnerungstexten für die adeligen Frauen gespielt hatte, wurde bereits im vorhergehenden Kapitel eingehend beleuchtet. Auf welche Weise erinnerte sich Obolenskij an dieses epochale Ereignis? Einige Worte vorab zum Unterschied der Erinnerungskultur in der Sowjetunion und im russischen Exil. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wurde außerhalb der Sowjetunion wesentlich stärker gepflegt, auch wenn er dort ebenfalls ein »durchaus virulenter Erinnerungsort« blieb.861 Dies hing mit den Erinnerungskulturen der jeweiligen Gastländer zusammen, welche der Erinnerung an die gefallenen Soldaten sowie den Veteranen wesentlich mehr Platz im Kollektivgedächtnis einräumten. Die neuen sowjetischen Machthaber strebten nach dem Vergessen und Verschweigen des Ersten Weltkrieges, denn dieser war für sie ein »imperialistischer« Krieg, der außerdem von der »relevanteren« Oktoberrevolution überlagert wurde: »Any tsarist wars that were defined as imperialist remained excluded from the pre-revolutionary heritage of Bolshevism. The memory of World War I in particular was used to distance the Soviet regime from non-Soviet politics and culture.«862 Die Konzentration der Geschichtspolitik lag daher auf der Begründung des 858 859 860 861

Davydov, Vospominanija, S. 146f. Ebd., S. 151. Ebd., S. 152. Dittmar Dahlmann: »Schreckenszeiten sind nahe, Frische Gräber dicht an dicht«. Russische Literatur im Ersten Welt- und im Bürgerkrieg, in: Uwe Baumann/Gislind Rohwer-Happe (Hg.): »The Great War«: Literarische und visuelle Repräsentationen, Göttingen 2018 (im Druck), o.S. Ich danke Dittmar Dahlmann für die Einsicht in das Manuskript. Vgl. auch ders., Krieg, Bürgerkrieg, Gewalt, in: Dülffer/Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden, S. 91–100; Siehe auch Cohen, Oh, that!, S. 69–86. 862 Cohen, Oh, That!, S. 78f. Vgl. auch Manfred Hildermeier : Die Oktoberrevolution in der russisch-sowjetischen Geschichte, in: H. Mommsen (Hg.): Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, Köln u. a. 2000, S. 185–205.

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Revolutionsmythos. So war der Erste Weltkrieg durch die Überhöhung des anschließenden Bürgerkrieges und der Revolution (und später durch den Zweiten Weltkrieg) »erinnerungspolitisch verschüttet«863 worden. Deshalb waren die Erinnerungen von Exilanten, sofern sie des Ersten Weltkriegs gedachten, eine wichtige »Korrektur« und eine Plattform des Erinnerns für die russischen Militärs im Exil. Auch wenn die Passagen in den autobiographischen Texten über den Krieg an manchen Stellen schematisch und gestrafft wirken, haben sie ihre Funktion als »Erinnerungsorte« zu erfüllen gesucht – ganz gleich, ob sie für eine breite Leserschaft oder nur für die Familie geschrieben wurden. In den Erinnerungen von Sergej Obolenskij kommen als Kernelemente seines Selbstbildes Opferbereitschaft, Mut sowie enge Kameradschaft vor. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er zunächst ausgemustert, konnte aber seine Beziehungen aktivieren und wurde in die Kavalleriegarde als Freiwilliger aufgenommen. Obolenskij gab zu, dass ihm das Ausmaß des Krieges zu diesem Zeitpunkt nicht klar war : »But even if we sensed the war was coming we had no concept whatever of its terrible scope.«864 Ein Teil der Kriegsbeschreibungen entfiel auf diverse Kriegssituationen, auf die er mit Witz und gewisser Ironie zurückblickte. Der Ton der Beschreibungen wurde ernster, wenn er auf den Erkenntniswert seiner Kriegsteilnahme einging, die für ihn u. a. im Verständnis des einfachen Soldaten lag: »In the First World War I was a raw private, carrying my own saddle, caring for my own horse, eating the food that the privates ate; and thereby I came to understand the difference between their point of view and that of an officer class which was still largely hereditary.«865

Obolenskij erhielt drei St.-Georgs-Kreuze für seine Tapferkeit. Die überaus wichtigen Auswirkungen des Krieges auf die Innenpolitik Russlands analysierte Obolenskij nicht.866 Zwar registrierte er, dass die Moral an der Heimatfront wegen der zahllosen Opfer erschüttert wurde und die Unzufriedenheit wuchs, aber diese Verfallserscheinungen hätten ihn und seine Kameraden nicht betroffen: »In our own unit there was no deterioration of morale.«867 Für ihn ging die Teilnahme am Ersten Weltkrieg nahtlos in den Kampf gegen

863 Herfried Münkler : Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, 3. Aufl., Berlin 2013, S. 753. 864 Obolensky, One Man in His Time, S. 110. Vgl. Jörg Baberowski: Der Anfang vom Ende. Das Zarenreich im Krieg 1914–1917, in: Osteuropa 64, 2–4/2014, S. 7–20; Münkler, Der Große Krieg, S. 758; Karen Petrone: The Great War in Russian Memory, Bloomington u. a. 2011. 865 Obolensky, One Man in His Time, S. 323f. 866 Vgl. zum Zusammenhang Krieg und Revolution: Beyrau/Shcherbinin, Alles für die Front, in: Bauerka¨ mper/Julien (Hg.), Durchhalten!, S. 151–177. 867 Obolensky, One Man in His Time, S. 143f.

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die Roten über.868 Auch hier sah er sich als den Vaterlandsverteidiger, der seine Heimat gegen die inneren Feinde – die Bol’sˇeviki – zu beschützen suchte. Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges floh er zunächst auf die Krim, wie viele andere Adelige auch.869 Seine erste Intention sei die Rettung des Familienbesitzes in Form von wertvollen Gemälden, Schmuck und Geld gewesen, was zum Teil gelang. Diese »privaten« Angelegenheiten haben ihn nicht davon abgehalten, aktiv gegen die Bol’sˇeviki zu kämpfen: »Doubtless some of those who supported the Whites hoped to regain their estates. I know that I, personally, did not; I thought the only hope was to save Russia, at whatever cost.«870 Als Selbstbeschreibung im Text wählte er den Ausdruck »guerilla fighter with the antiBolshevik Tartars«.871 Die Offiziere und Soldaten der Freiwilligenarmee zeigten sich in seinen Beschreibungen stets humaner und würdevoller als die Roten: »We captured them [the Reds, J.H.], and the commissar, a tough-looking man, begged me for mercy. He grovelled on his knees, so I sent him back. It was a mistake. After having debased himself in this fashion, he wanted revenge for his humiliation, and became notorious for his cruelty in the area.«872

An dieser Stelle der Erinnerungen entwarf Obolenskij das Selbstbild von einem Mann mit Ehre und Mitgefühl, obwohl seine Kontrahenten es nicht verdient hätten. Obolenskij schrieb des Weiteren mit sichtlichem Stolz, dass auf ihn ein Kopfgeld ausgeschrieben worden sei. Doch die Roten eroberten nach und nach weitere Teile Russlands, auch den Süden. Als eine Niederlage deutlich wurde, entschied sich Obolenskij gegen die Fortführung des Kampfes, da Russlands Bevölkerung nicht bereit gewesen wäre, sie ausreichend zu unterstützen.873 So sah er sich auf verlorenem Posten und beschloss, den aktiven Kampf aufzugeben: »I realized then that Russia would have to go through a blood bath, for her people no longer realized what liberty meant, and they did not understand. It could only be after

868 Vgl. zu den historischen Hintergründen: Peter Holquist: Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914–1921, Cambridge/Mass. 2002. 869 Vgl. Obolensky, One Man in His Time, S. 157ff. 870 Ebd., S. 185. Vgl. auch zum Ehrenkodex russischer Offiziere der Weißen bei Paul Robinson: »Always With Honour«. The Code of the White Russian Officers, in: Canadian Slavonic Papers 41, 2/1999, S. 121–142; ders.: The White Russian Army in Exile, 1920–1941, Oxford 2002. 871 Obolensky, One Man in His Time, S. 159. 872 Ebd. An einer anderen Stelle heißt es über die Soldaten der Roten: »They thought they were going to be shot directly, and fell on their knees, begging for mercy. It was terrible to see how these men, who were so ruthless when they were winning, became abject and terror-stricken when they were beaten.«, ebd., S. 161. 873 Ebd., S. 185.

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terrific pain and hardship that they would be able to comprehend that the Bolshevik government was not the government they wanted.«874

Er schloss diese Überlegungen mit den lakonischen Worten ab: »In the meantime, it was useless to fight for them.«875 Zunächst kehrte Obolenskij nach Moskau zurück und tauchte bei Freunden unter, um einer Verhaftung zu entgehen. Ihm wurde nach eigenen Angaben erst dann deutlich, dass er in Sowjetrussland sich selbst fremd geworden sei: »I came to realize that my own way of living was like acting a part on stage. After a time, it ceased to be acting. I was by now completely divorced from my former self. […] Because I was thought to have been killed, exploits were attributed to me, great exaggerations of what had really happened. […] I had no sense of any connection with myself.«876

Dieser Zustand löste bei ihm eine Identitätskrise aus, daher schien nur die Emigration eine Lösung zu bieten. Seine Ehefrau und er versuchten, so viel Geld wie möglich zusammenzubekommen. Schließlich gelang die Flucht über Kiev und Wien in die Schweiz. Eine Besonderheit des Lebenslaufs von Sergej Obolenskij war, dass er auch im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, nicht etwa auf der Seite Hitlerdeutschlands, wie einige russische Emigranten, sondern als Soldat der US-Army. Somit kämpfte er nach seinem Selbstverständnis stets auf der richtigen Seite: »There was never any real sympathy for Hitler among the Russian refugees I knew. […] To them, at any time, any means of destroying the Communists seemed right. But I could never accept that view.«877 Nach seiner Aussage spielte auch die Abenteuerlust und Neugierde eine Rolle: »I wanted to learn the drill, the infantry drill.«878 Zu diesem Zeitpunkt war er fast fünfzig Jahre alt. Frei nach dem Motto: »Es gibt nichts, was ein russischer Adeliger nicht tun kann«, erhielt er eine Spezialausbildung und war als Fallschirmjäger an zahlreichen militärischen Operationen des Zweiten Weltkrieges beteiligt, u. a. auch in Frankreich und Algerien. Sein Abschied erfolgte im März 1945 aufgrund des Alters und bereits »erfüllter Pflicht«.879 874 875 876 877

Ebd., S. 168. Ebd. Ebd., S. 181. Obolenskij, One Man in His Time, S. 272. Vgl. zur Verflechtung der russischen Exilanten im Nationalsozialismus bei Kellogg, The Russian Roots of Nazism; Okorokov, Fasˇizm i russkaja e˙migracija; Bettina Dodenhoeft: Vasilij von Biskupskij – Eine Emigrantenkarriere in Deutschland, in: Schlögel (Hg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941, S. 219–228. 878 Obolenskij, One Man in His Time, S. 273. 879 Ebd., S. 313.

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»Der Widerstandskämpfer«

Was die Pflichterfüllung des Adels in Verbindung mit seiner Kriegsbeteiligung angeht, reflektierte Sergej Trubeckoj durchaus selbstkritisch darüber.880 Bei der Ursachenforschung der militärischen Niederlagen im Verlauf des Ersten Weltkrieges sah er eine klare Mitschuld der »höheren Gesellschaft«, die sich nach und nach aus dem militärischen Leben verabschiedet hätte.881 Das militärische Erbe solcher Helden wie Suvorov, Rumjancev, Bagration sei herausragend gewesen, aber die Fortführung dieser Traditionen hätte gelitten, da sich die Adeligen von einer militärischen Karriere abwandten oder sie erst gar nicht anstrebten. Seine eigene Familie führte er als ein anschauliches Beispiel an: »Fast alle meine Vorfahren vor drei Generationen waren Militärs, dagegen in den nachfolgenden Generationen recht wenige. Dabei hatten wir keine Abneigung gegen die Armee wie die ›intelligencija‹. […] Bezeichnend, dass meine beiden Urgroßväter, mütterlicherseits und väterlicherseits, aktive Generäle waren, die in der Garde dienenden Großväter verließen die Armee als höhere Offiziere, mein Vater absolvierte lediglich die Wehrpflicht und war als einziger von vier Brüdern ein Offizier der Reserve. Eine solche Abkehr von der Armee war […] charakteristisch und gleichsam so traurig. […] Die russischen Fahnen, die bei unseren Großvätern und Vätern siegreich wehten, haben wir – ihre unwürdigen Nachfahren – mit der Schande der Niederlage befleckt.«882

Diese Selbstkritik ist durchaus bemerkenswert, denn sie verweist auf die Reflexionen über die eigene Beteiligung an historischen Ereignissen und das empfundene Scheitern der »Eliten«. Die Kritik blieb aber nicht ohne ein Gegenbild. Eine positive Korrektur des Selbstbildes versuchte Trubeckoj durch die Beschreibungen seiner Tätigkeiten nach der Februarrevolution. Er habe sich selbst gefragt, was in dieser Situation der neuen Ordnung zu tun sei. Er führte aus, welche Versuche er unternahm, in der Zeit der Provisorischen Regierung die laufenden Projekte im »Allrussischen Zemstvobund« in seinem Sinne zu beeinflussen. Nachdem in zahlreichen Bereichen »neue Arbeitsmethoden« und eine gewisse »Demokratisierung« eingeführt worden waren, was Trubeckoj negativ als Abschaffung von Disziplin und Ordnung auslegte, nahm er 880 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 99ff.; Trubeckoj war während des Ersten Weltkriegs Mitarbeiter einer der Kontrollabteilungen des »Allrussischen Zemstvobund für die kranken und verwundeten Soldaten« (Vserossijskij Zemskij Sojuz pomosˇcˇi bol’nym i ranenym soldatam). Zum Zemstvobund vgl. Guido Hausmann: Die Konturen der städtischen Selbstverwaltung, in: ders. (Hg.): Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002, S. 38–115, v. a. S. 55f. 881 Vgl. zu dieser Entwicklung: Matitiahu Mayzel: The Formation of the Russian General Staff, 1880–1917. A Social Study, in: Cahiers du monde russe et sovi8tique 16, 3/1975, S. 297–321, v. a. Tabelle S. 302. 882 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 133.

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Abschied von seiner Arbeit. Außerdem sei er überzeugt gewesen, dass sein adeliger Nachname »nicht demokratisch genug« war und der Arbeit eher schaden würde.883 In Petrograd arbeitete er sodann in verschiedenen Komitees des »Zemgor« (eine Plattform aus Vertretern des Zemstvo- und Städtebundes), musste jedoch einsehen, dass auch hier seine Ideen und Vorstellungen nicht mehr angenommen wurden.884 Nicht nur seine Positionen, auch die seiner »Mitkämpfer« verteidigte er in seinen Erinnerungen, so z. B. von dem ebenfalls im Pariser Exil lebenden A.I. Gucˇkov. Dieser sei stets ein »glühender Patriot und überzeugter Monarchist« gewesen, allerdings habe er eine starke Abneigung gegen den Herrscher (Nikolaj II.) gehegt.885 Hier wurde der Patriotismus als ein Phänomen verstanden, das von der Person des Zaren abgekoppelt war. Was für ihn zählte, waren Authentizität, der bedingungslose Dienst für das Beste Russlands bei Rückstellung persönlicher Interessen, außerdem ein gewisses Rückgrat, was z. B. zahlreiche Bürokraten und einige Militärs nicht besessen hätten. Mehrfach hätte er beobachten können, wie »moderne Bürokraten« versuchten, sich dem »neuen Geist« anzupassen: »Das zu beobachten war manchmal amüsant, aber stets widerlich.«886 Eine Abkehr von seinen Überzeugungen kam für ihn jedenfalls nicht in Frage. Mit Genugtuung registrierte er, dass eine gewisse Ernüchterung bei Teilen der »revolutionsfreundlichen« Intelligencija durch die Ereignisse im Juli und August 1917 erfolgte, aber es sei einfach zu spät gewesen; das Ruder konnte keiner mehr herumreißen.887 Nach seinem Rücktritt von sämtlichen Posten in Petrograd entschloss er sich, in »sein« Dorf Begicˇevo zu fahren und das dortige Familiengut zu führen. Dies gestaltete sich aufgrund der Unsicherheit der Besitzverhältnisse als schwierig.888 Dem Gesetz nach waren er und seine Familie die legalen Besitzer des Gutes, aber das Landkomitee (zemel’nyj komitet) habe sich überall eingemischt. Außerdem habe er sich in dieser Zwischenzeit der »Kerensˇcˇina«889 von einer »moralischen Einsamkeit« erdrückt gefühlt. Auf seine »Gutsherren«-Einstellung legte er großen Wert, z. B. habe er sich standhaft geweigert, Bestechungsgelder zu vertei-

883 884 885 886 887 888 889

Ebd., S. 141. Vgl. ebd., S. 141ff. Vgl. ebd., S. 145. Ebd., S. 147. Vgl. ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 148. Andreyev und Savicky´ weisen in ihrer Studie darauf hin, dass in den Emigrantenkreisen »Kerensˇcˇina« Folgendes bedeutete: »a pejorative term in the 8migr8 lexicon associated with Kerensky and signifying vacillation, hypocrisy and lack of principle […].« Andreyev/ Savicky´, Russia Abroad. Prague and the Russian Diaspora, S. 42.

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len.890 Er habe auch nicht versucht, mit allen Mitteln seine genuin adeligen Eigeninteressen bezüglich seines Besitzes zu verteidigen: »[E]ben diese Absage an die eiserne Verteidigung der eigenen Privatinteressen gab uns das moralische Recht, besonders stark die Interessen des Reiches zu verteidigen. Ich sage – uns, denn von diesem privatwirtschaftlichen ›Nicht-Widerstand‹ war nicht nur ich beseelt, sondern zahlreiche Vertreter des russischen Landadels. Noblesse oblige [im Orig.] – wenn Russland vor unseren Augen unterging, konnten wir uns doch nicht der Verteidigung unserer, wenn auch legitimen, aber dennoch nur privaten Interessen widmen.«891

Nach dem missglückten Kornilov-Aufstand892 kehrte Sergej Trubeckoj mit seiner Mutter und Schwester nach Moskau zurück, wo die Familien Trubeckoj und Solovoj zusammen in ein Haus der Tante von Trubeckoj einzogen. Die Familie musste während des Bürgerkrieges in Moskau regelrecht hungern, aber Trubeckoj schrieb, dass er diese physischen Probleme besser als die moralische Unterdrückung ertrug: »Die moralische Unterdrückung – stumpf und unerträglich schwer, konnte man die ganze Zeit über fühlen.«893 Nach der Oktoberrevolution spitzte sich die Lage zu, zahlreiche Bekannte und Mitstreiter des Vaters wurden verhaftet und eine Flucht in den Süden des Landes schien unvermeidlich. Der Bruder Aleksandr wollte in der Freiwilligenarmee gegen die Bol’sˇeviki kämpfen. Sergej Trubeckoj musste allerdings aufgrund einer Krankheit seiner Schwester Sonja in Moskau bleiben und nach dem Verlust seiner Stelle beim Zemstvobund andere Arbeitsmöglichkeiten suchen; gleichzeitig nahm er Kontakt zum politischen Untergrund auf: »[I]ch war gezwungen, für ›den Leib‹ zu arbeiten (ich musste meine Schwester und Mutter versorgen), aber für die ›Seele‹ nahm ich an verschiedenen geheimen politischen Organisationen und Verschwörungen teil.«894

So war er für »Azbuka« tätig und stand mit der Moskauer Militärorganisation (Voennaja organizacija) in Verbindung.895 Für ihn sei vor allem die Durch-

890 891 892 893 894 895

Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 155f. Ebd., S. 156. Vgl. zu General Lavr Kornilov : Figes, Die Tragödie eines Volkes, S. 468–481. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 184. Ebd., S. 169. »Azbuka« wurde von V.V. Sˇul’gin im Herbst 1917 gegründet und war eine geheime antibol’sˇevikische Organisation zur Sammlung von Informationen und zur militärischen Aufklärung. Sie arbeitete u. a. für die Freiwilligenarmee unter General Alekseev und später Denikin sowie für die Missionen der Alliierten. Außerdem hielt sie Kontakt zu den Mitgliedern der kaiserlichen Familie. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 169; Zu den Aufgaben von »Azbuka« und zu anderen Organisationen der Zeit in Moskau und anderen Städten vgl. Christopher Lazarski: The Lost Opportunity. Attempts at Unification of the Anti-Bolsheviks, 1917–1919. Moscow, Kiev, Jassy, Odessa, Lanham u. a. 2008, S. 36–58, hier S. 80f.; zu

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führbarkeit und Finanzierbarkeit von Aktionen wichtig gewesen, und er fungierte offenbar als der »kühle Kopf«. So habe er seine Beteiligung an der Befreiung des Zaren und seiner Familie im Januar 1918 aufgrund der schlechten Planung und des Risikos abgelehnt, lobte aber die noblen Absichten der Verschwörer, zu denen auch sein Bruder Aleksandr und vier Cousins gehörten: »Hier zeigte sich in der Tat die aufopferungsvolle Bereitschaft von vielen, an einer riskanten Aktion für die Befreiung des Herrschers mit geschlossenen Augen teilzunehmen, gleichzeitig offenbarte sich die sündhaft-leichtfertige Organisation solch einer verantwortungsvollen Sache.«896

Sein Bruder Aleksandr erinnerte sich, dass trotz des Scheiterns die positive Erinnerung bei den Teilnehmern »über den erlebten Enthusiasmus und die Gewissheit darüber, dass wir die Bereitschaft, unserem Herrscher zu dienen, durch unsere Tat bewiesen und dem Diensteid ihm gegenüber treu geblieben sind« überwog.897 Aus diesem Gefühl der Treue und der adeligen Verpflichtung der »rodina« (Heimat) gegenüber, waren aus der Trubeckoj-Familie mehrere Mitglieder im Untergrund oder bei der Freiwilligenarmee aktiv : der Vater von Sergej Trubeckoj, Evgenij Nikolaevicˇ ; der Onkel Grigorij Nikolaevicˇ ; der bereits erwähnte Bruder Aleksandr Evgen’evicˇ und diverse Cousins.898 Auch Sergej Trubeckoj blieb nicht tatenlos: er wurde einer der führenden Köpfe im »Taktischen Zentrum« (Takticˇeskij Centr) bzw. in der »Kriegskommission« (Voennaja kommissija) des »Nationalen Zentrums«.899 Die »Untergrundkämpfer« hielten einerseits die Verbindung zu den Weißen Kräften (Denikin, Kolcˇak, Judenicˇ) in den Randgebieten Russlands, andererseits zu den Alliierten.900 Außerdem versuchten sie, den Kontakt zum »Rechten Zentrum« (Pravyj Centr) und zum »Bund der Wiedergeburt Russlands« (Sojuz Vozrozˇdenija Rossii) aufrechtzuerhalten.901 So erarbeitete Trubeckoj einen detaillierten Plan zum bewaffneten Widerstand in Moskau, der lediglich durch das Zögern der »weißen« Befehlshaber nicht zur Ausführung kam. So fragte sich Trubeckoj, ob bei entsprechend mu-

896

897 898 899 900 901

»Azbuka« vgl. Jonathan D. Smele: Historical Dictionary of the Russian Civil Wars, 1916– 1926, Lanham 2015, S. 160, 1034. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 171. Vgl. Erinnerungsfragmente des Bruders Aleksandr E. Trubeckoj bezüglich der gescheiterten Rettungsaktion des Zaren aus Tobol’sk: Knjaz’ A.E. Trubeckoj: Istorija odnoj popytki (janvar’–fevral’ 1918 g.), in: A.V. Trubeckoj (Hg.): Rossija vosprjanet!, Moskau 1996, S. 519–526. Trubeckoj, Istorija odnoj popytki, in: Trubeckoj (Hg.), Rossija vosprjanet!, S. 526. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 167f.; Smith, Former People, S. 167f. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 171ff.; Vgl. Lazarski, The Lost Opportunity, S. 79, 85 Fn. 67. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 172. Eine kompakte und ausgewogene Definition der »Weißen Bewegung« bei Lazarski, The Lost Opportunity, S. 5. Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 172f.

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tigen Entscheidungen ein militärischer und politischer Sieg der »Weißen Bewegung« und somit die Rettung Russlands nicht doch möglich gewesen wäre.902 Sergej Trubeckoj fühlte sich trotz fehlender »Abenteuerlust« oder »Risikofreudigkeit« zum Widerstand verpflichtet, da er »keine Gelegenheit hatte, an der Front zu kämpfen« und diese Tatsache »zwang mich dazu, ein persönliches Risiko im politischen Kampf für Russland zu tragen.«903 Er, selbst ein Teil der »Weißen Bewegung«, glorifizierte diese aber nicht und stellte in seinen Erinnerungen fest, dass es einen moralischen Verfall auf beiden Seiten – bei den Roten und den Weißen – gab: »Die Atmosphäre des Bürgerkrieges und des Klassenhasses vergiftete alles. Dabei ging der Krieg – der grausame, unbarmherzige und verräterische Krieg – auf allen Ebenen weiter. Allmählich vermischten sich die Reihen der Kämpfenden: Verrat und Untreue in verschiedensten Formen zerfraßen wie ein schreckliches Geschwür beide Kontrahenten.«904

Den konkreten Beispielen von Überläufern aus »guten Familien« zu den Roten widmete er lediglich acht Zeilen und schloss diese mit der Bemerkung ab, dass »man sich daran nicht erinnern möchte«.905 Er selbst entging nur knapp mehreren Verhaftungsversuchen und der Dienstpflicht in der Roten Armee. Als einen Kontrast dazu beschrieb er die »Oasen« des alten Lebensstils bei einer Cousine, wo er den alten Charme, die Gemütlichkeit und sogar die Eleganz der »alten Welt« noch wiedererkannte.906 Im Januar 1920 konnte er der lang drohenden Verhaftung nicht mehr entgehen; einem Gerücht nach wurde er von einem Bekannten verraten. Das Kapitel über seine Verhaftung und Gefängniszeit besteht aus 82 Seiten (von insgesamt 291 Seiten) und stellt den ausführlichsten Part in seinen Erinnerungen dar. Hier ˇ K, die ihn wegen seiner beschrieb er ausführlich seine Erfahrungen mit der C konspirativen Tätigkeiten verhaftete und in die »Lubjanka« brachte.907 Eine große Rolle spielten die detaillierten Beschreibungen der Gefängniswelt und des Alltags. Freimütig gab er zu, dass ihm die langen Verhöre stark zu schaffen gemacht hätten, da er sich vor Folter, aber nicht vor dem Tod gefürchtet habe. Er 902 Vgl. ebd., S. 174. Das legt auch die Studie von Lazarski, The Lost Opportunity, nahe: »Yet it is not true that at the beginning of the Civil War [the] concept [of the political elites] for the struggle against the Bolsheviks was a preordained failure. In fact, it remained a viable option until the spring of 1919, i. e., until the collapse of the French intervention in the South.« Vgl. ebd., S. 2. 903 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 175. 904 Ebd., S. 186. Vgl. auch Christopher Lazarski: How the Whites Blew Their Chances, in: Canadian-American Slavic Studies 47, 2/2013, S. 137–169. 905 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 187. 906 Vgl. ebd., S. 190. Vgl. zum Leben in Moskau G.V. Andreevskij: Povsednevnaja zˇizn’ Moskvy v stalinskuju e˙pochu. 1920–1930-e gody, Moskau 2003. 907 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 193ff.

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stellte in seinen Erinnerungen fest, dass er eine »natürliche Autorität« ausgestrahlt habe, der sich sogar die Tschekisten gebeugt hätten.908 Die Willenskraft und die Disziplin, die er zu Hause gelernt hatte, hätten ihm geholfen, alles zu überstehen. Auf dieses »Kapital« der adeligen Erziehung und Werte, welches das Überleben erleichterte, gingen, wie bereits ausgeführt, auch andere Autoren (insbesondere Skarjatina, Vasil’cˇikova, Obolenskij) explizit ein. Diese Einstellung wird besonders dort deutlich, wo ein Kontrast zu anderen sozialen Schichten beschrieben wurde. So schrieb Trubeckoj von »intellektuellen und halbintellektuellen« Gefängnisinsassen, die sich durch eine schwache Moral und »hysterische Attacken« hervorgetan hätten.909 Dagegen wurden die »Ehemaligen« mit positiven Attributen ausgestattet: angeborene Disziplin, Stärke, Ironie und Willenskraft. Er ließ zwar die Schrecken des Gefängnisalltags nicht aus, so z. B. die Krankheiten, die Grausamkeiten seitens der Wärter oder der Insassen untereinander. Darüber hinaus benutzte er für die zahlreichen Beschreibungen des Alltags bevorzugt die Sprache der »einfachen« (nichtadeligen) Gefangenen, was offenbar Authentizität erzeugen sollte.910 Die Beschreibung des Gerichtstages im Kreml, an welchem er verurteilt werden sollte, weisen religiöse Elemente und auch Parallelen zum Text von Vasil’cˇikov über seine Rolle bei der Einführung des Patriarchats auf: »Religiöse, ästhetische und historische Gefühle übermannten mich: ich fühlte mich, wahrscheinlich wie nie zuvor, als ein Teil der Kirche, des Volkes und der Ahnen […]. Ich fühlte, dass ich hier war, im Kreml, vor dem Gericht und vielleicht der Erschießung, – für meine Treue zur Kirche, zu Russland und den besten Traditionen meiner Väter und Großväter. Dieses Bewusstsein erhöhte und bestärkte mich.«911

Sergej Trubeckoj und einige »Mitverschwörer« wurden zunächst zum Tode verurteilt, allerdings wurde das Urteil nicht vollstreckt, sondern auf zehn Jahre Einzelhaft geändert. Trubeckoj spornte dies umso mehr an, das Vaterland zu retten. Mehrmals nannte er sich in seiner Autobiographie »Konterrevolutionär« (kontrrevoljucioner).912 Die Haftzeit verbrachte er im Gefängnis »Taganskaja«. Dort habe ein eigenartiger Zustand geherrscht: Einerseits zollten ihm die alten Wärter Respekt, indem sie ihn, »wenn keine verdächtigen Leute in der Nähe waren, […] ›Euer Erlaucht‹«913 nannten. Andererseits ließ er den Leser bei der Beschreibung des Gefängnisalltages zwischen den Zeilen erahnen, wie grausam und archaisch diese Welt war. Da dieses Gefängnis gleichzeitig für minderjährige 908 909 910 911 912 913

Ebd, S. 205. Vgl ebd. S. 224. Vgl. ebd., S. 219, 242, 243. Ebd., S. 247. Vgl. ebd., S. 278. Ebd., S. 256.

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Straftäter zuständig war, herrschten ganz eigene Gesetze, wie Trubeckojs Andeutungen über sexuellen Missbrauch von Minderjährigen oder die brutalen Strafen unter den Insassen selbst belegen.914 Trubeckoj wurde im Gefängnis eine Zeit lang als Erzieher für minderjährige Straftäter eingesetzt.915 Durch die Erarbeitung von Verhaltensregeln und die Erschaffung von Ordnung in seinem »Zuständigkeitsbereich« verdiente er sich mit der Zeit Respekt sogar unter den Schwerverbrechern, auch weil sie »richtige Herren« sehr geschätzt hätten.916 Nach eineinhalb Jahren Gefängnis durfte er tagsüber aus dem Gefängnis heraus und an der Universität arbeiten. Die Stadt erlebte er bei diesen Freigängen als grundlegend verändert: »Moskau hat sich in allem erschreckend verändert. Als ich ins Gefängnis kam, konnte man den Typus des ›ehemaligen Menschen‹ oder des ›nicht erledigten burzˇuj‹ viel öfter auf der Straße antreffen als jetzt. Die Vergangenheit, in all ihren Formen, ging mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in die Geschichte über. […] Außerdem veränderte sich die ganze politische Situation radikal. Ich ging ins Gefängnis während des Bürgerkrieges mit all seinen Hoffnungen. Nun – die Bol’sˇeviki haben ohne Zweifel gewonnen.«917

Die Zeit der NE˙P (Neue Ökonomische Politik), die ab 1921 einsetzte,918 brachte ihm unverhofft eine neue Arbeitsstelle im landwirtschaftlichen Bereich und somit die Befreiung aus dem Gefängnis. So profitierte Trubeckoj von der Zugehörigkeit zu den alten Eliten, da er als ehemaliger Gutsbesitzer als Fachmann für Landwirtschaft eingestuft wurde.919 Damit wurde er »bürgerlicher Spezialist« in der Sowjetunion. Er nahm nach seinen Angaben weiterhin an nicht weiter konkretisierten religiösen Zirkeln teil. Dies war offenbar einer der Gründe, warum er erneut verhaftet wurde. Im Frühling 1922 wechselten Vladimir Lenin und Feliks Dzerzˇinskij Briefe, wie eine Aktion der Ausweisung von unerwünschten Schriftstellern und Wissenschaftlern, die »die Konterrevolution« unterstützen würden, vorbereitet und welche Listen angefertigt werden sollten. Trubeckoj befand sich auch auf einer 914 Vgl. ebd., S. 256, 270. 915 Zu diesem Themenbereich gehören auch die »bezprizorniki« (Waisenkinder bzw. unbeaufsichtigte und verwahrloste Minderjährige), vgl. Alan M. Ball: And Now My Soul is Hardened. Abandoned Children in Soviet Russia, 1918–1930, Berkeley 1994; Hildegard Kochanek: Russlands verwahrloste Kinder in den 1920er Jahren, in: Dittmar Dahlmann (Hg.): Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Kindersoldaten Afrikas, Paderborn u. a. 2000, S. 93–121. 916 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 255, 260, 269. 917 Ebd., S. 274. 918 Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 233–248, 263, 297f. 919 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 277. Vgl. John Channon: Tsarist Landowners after the Revolution. Former Pomeshchiki in Rural Russia during NEP, in: Soviet Studies 39, 4/1987, S. 575–598.

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dieser Listen.920 Die Ausweisung erfolgte dann im Herbst 1922 auf mehreren Schiffen, darunter auf zwei deutschen Dampfern, des Weiteren auf dem Landweg mit dem Zug. Diese Aktion bekam die Bezeichnung »Philosophenschiff«, auch als »Philosophendampfer«921 bekannt, weil vor allem Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler des Landes verwiesen wurden, darunter Nikolaj Berdjaev, Fedor Stepun und Semen Frank.922 Zu dieser Aktion schrieb Lev Trockij: »Wir haben diese Leute abgeschoben, weil es keinen Anlaß für ihre Erschießung gab, sie zu tolerieren jedoch unmöglich war.«923 Sergej Trubeckoj schrieb in seinen Erinnerungen, dass ihm und seiner Familie im Sommer 1922 – für ihn überraschend – die Ausreise ins Ausland angeboten wurde. Seine de facto Ausweisung sollte sich unter dem Mantel der Freiwilligkeit vollziehen und auch deshalb vermutete Trubeckoj einen Hinterhalt und lehnte nach eigenen Angaben die Ausreise zunächst ab. Außerdem habe er sich nicht dazu durchringen können, Russland zu verlassen. Gleichzeitig sei ihm deutlich geworden, dass die Sicherheit seiner Familie in ständiger Gefahr sein würde. So kämpften in ihm zwei Gefühle: Das erste benannte er »Rausweh« [sic], das zweite »Heimweh« [sic].924 Die Entscheidung wurde ihm gewissermaßen abgenommen, da ihm die nötigen Dokumente einfach ausgestellt und er mit seiner Familie ausgewiesen wurde. Im französischen Exil war Sergej Trubeckoj für einige Organisationen der Emigration tätig. Allerdings enden die Erinnerungen mit der Schlusspassage über die Zwischenstationen des Exils in Berlin und Wien. In Paris dagegen war er für die Generäle Aleksandr P. Kutepov und seinen Nachfolger Evgenij K. Miller tätig, bis diese im Jahre 1930 bzw. 1937 aus Paris in die Sowjetunion entführt wurden.925 Somit findet bei Trubeckoj keine nennenswerte Auseinandersetzung 920 Vgl. V.G. Makarov/V.S. Christoforov : Passazˇiry »filosofskogo parochoda« (sud’by intelligencii, repressirovannoj letom – osen’ju 1922 g.), in: Voprosy filosofii 7, 2003, S. 113–137, hier Anhang unter Nr. 67. 921 Vgl. Michail Glavackij: »Filosofskij parochod«: Istoriograficˇeskie e˙tjudy. God 1922-j., Ekaterinburg 2002; V.G. Makarov/V.S. Christoforov (Hg.): Vysylka vmesto rasstrela. Deˇ K-GPU. 1921–1923, Moskau 2005. portacija intelligencii v dokumentach VC 922 Vgl. Fedor Stepun: Vergangenes und Unvergängliches, 3 Bde, München 1947–1950, hier Bd. 3, S. 255ff.; N.A. Berdjaev : Samopoznanie, Moskau 2001, S. 240ff.; Vgl. auch Christian Hufen: Fedor Stepun. Ein politischer Intellektueller aus Rußland in Europa. Die Jahre 1884– 1945, Berlin 2001, S. 95–102. 923 Zitiert nach Alexander Borosnjak/Eva Oberloskamp: Das »Russische Deutschland« in den zwanziger Jahren, in: Helmut Altrichter u. a. (Hg.): Deutschland – Russland. Stationen gemeinsamer Geschichte – Orte der Erinnerung. Bd. 3: Das 20. Jahrhundert, München 2014, S. 65–74, hier S. 73. 924 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 286. 925 Vgl. Hassell, Russian Refugees in France and the United States, S. 51ff.; Johnson, New Mecca, S. 101ff.; Beaune Danielle: L’enlHvement du G8n8ral Koutiepoff: Documents et commentaires, Aix-de-Provence 1998.

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Weibliche und männliche Selbstentwürfe im Exil

mit diesen wichtigen Figuren und den Veteranenorganisationen statt.926 Dabei waren die beiden Generäle als Leiter der Gallipoli-Union (Union de Gallipoli) sehr einflussreich und bemühten sich, die russischen Monarchisten unter einer Führung zu einigen.927 Am Beispiel der männlichen Selbstbilder lässt sich nachvollziehen, welche Auswirkungen die Umwälzungen der Jahre 1917 bis 1922 auf Einzelne hatten. Im Fall der untersuchten Adeligen beschleunigten sie den bereits im Gange befindlichen Prozess der Heterogenisierung der Lebensläufe. Die alten Lebensentwürfe von Boris und Ilarion Vasil’cˇikov, Davydov, Obolenskij, Naumov und vielen anderen wurden unterbrochen und erforderten eine Neukonstitution. In Ansätzen wurde in den Erinnerungstexten kommuniziert, dass auch Adelige sich ein Leben in der Sowjetunion vorstellen konnten. Eine gute Ausbildung und vielfältige Kenntnisse waren dabei durchaus von Vorteil – ein bekannter Familienname und eine politisch-gesellschaftliche Tätigkeit während der Zarenzeit waren dagegen eher hinderlich. Wer aber den Willen zur Adaption hatte sowie eine berufliche und soziale Flexibilität aufwies, konnte eine Integration in die sowjetische Gesellschaft bewerkstelligen.928 Den untersuchten Autoren gelang das aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht; als Folge davon gingen sie – nicht immer freiwillig – ins Exil. Die Autoren unterstrichen in ihren Erinnerungen, dass sie sich gar nicht an die neuen Verhältnisse anpassen wollten. Sie bekundeten außerdem die unbedingte Treue zur Heimat und den Willen, ihr weiterhin zu dienen – auch wenn es »Russland jenseits der Grenzen« war.

926 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 127. 927 Vgl. zum Dachverband der verschiedenen Veteranenvereinigungen (Union G8n8rale des Associations des Anciens Combattants Russes en France), der auch den »Russischen Allgemeinen Militärbund« (Russkij Obsˇcˇe-Voinskij Sojuz, ROVS) und ab 1934 auch die »Jungrussen« (Mladorossy) beinhaltete. Vgl. Esch, Parallele Gesellschaften und soziale Räume, S. 321ff. 928 Einige Beispiele vgl. Tchouikina/de Saint Martin, La noblesse russe / l’8preuve de la R8volution d’Octobre, S. 104–128.

VI.

Schlussbetrachtung

Die im Exil entstandenen Selbstbilder russischer Adeliger standen im Mittelpunkt dieses Buches. Dabei wurde ein interdisziplinärer Ansatz gewählt, der es ermöglichen sollte, zahlreiche Narrative und Geschichtsbilder auszumachen, die einen Teil der Identität von Adeligen im Exil darstellten. Auch die hier untersuchten Autoren griffen auf das Mittel der autobiographischen Texte für gruppeninterne wie gruppenexterne Kommunikation zurück. Sie dienten als Verbindung innerhalb der familiären Generationen, aber auch als Vermittlungsorgan bestimmter Leitgedanken für eine abstrakte Leserschaft in den Aufnahmeländern. Darüber hinaus boten sie auch innerhalb der Exilgesellschaft Ideen von »Adeligkeit« an, deren Veröffentlichung Identifikations- und Deutungsangebote für andere Adelige bereitstellte, die in den Erinnerungstexten ihre eigenen »Erfahrungsräume« (Koselleck) wiedererkannten. Die Autoren, als Teil der Elite der Exilgesellschaft, setzten ihr ganzes symbolisches Kapital dafür ein, weiterhin als Adel sichtbar zu bleiben.929 Damit kann durchaus von einem Beitrag der Autobiographien zur »symbolischen Vergemeinschaftung«930 dieser Gruppe gesprochen werden. Der Rückgriff auf die Historie als Selbstvergewisserungsmechanismus war von den Mitgliedern dieser Gruppe bereits im vorrevolutionären Russland angewandt worden. Vor den Revolutionen des Jahres 1917 gab es wiederholt historische Konstellationen, die das jeweils gültige adelige Selbstbild herausforderten und umformten, so z. B. die Bauernbefreiung 1861 oder die erste russische Revolution von 1905/06. Allerdings waren diese historischen Ereignisse in ihren Konsequenzen für den Adel nicht so einschneidend wie die Oktoberrevolution 1917 und der nachfolgende Bürgerkrieg. Die Herrschafts-, Wirtschafts929 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Michael Seelig zum vertriebenen ostelbischen Adel, vgl. Michael Seelig: Communities of Memory and Attitude. The Self-Perception of the East Elbian Nobility in West Germany, 1945/49-c.1975, in: Yme Kuiper/Jaap Dronkers/ Nikolaj Bijleveld (Hg.): Aristocracy in Europe During the Twentieth Century : Reconversions, Loyalties and Memories, Louvain/Paris 2015, S. 169–186. 930 Esch, Parallele Gesellschaften und soziale Räume, S. 312.

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Schlussbetrachtung

und Sozialstruktur Russlands wurde von den Bol’sˇeviki grundlegend verändert und damit auch die materiellen sowie die rechtlichen Grundlagen des Adels. Die »Verlierer der Revolution« wurden in der neuen kommunistischen Gesellschaft zu »Ehemaligen« (»byvsˇie«; eine Parallele kann zu den »ci-devant« nach der Französischen Revolution gezogen werden), die konträr zum Bild des »Neuen Menschen« standen, denen von nun an die Zukunft gehören sollte. Die russischen Adeligen verloren nicht nur Amt und Würden, sondern auch ihr Hab und Gut und damit die wirtschaftliche Grundlage ihrer bisherigen gesellschaftlichen Stellung. Der Sturz der ehemals privilegierten Elite ins Bodenlose wurde verstärkt durch den enormen psychischen und physischen Druck. Dem russischen Adel blieb damit nur die freiwillige oder erzwungene Anpassung an die neuen Verhältnisse in der Sowjetunion oder die Emigration ins Ausland. Zum Verlust aller politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Privilegien kam das Gefühl der Heimatlosigkeit und der kulturellen Entwurzelung. Im Exil begann ein langer Prozess der Aufarbeitung der Geschehnisse und der Selbstfindung unter denkbar schwierigen Bedingungen. Das Schreiben von Erinnerungen war eine Möglichkeit, sich mit dem eigenen Leben und dem Schicksal Russlands auseinanderzusetzen. Dabei verfassten ganz unterschiedliche Exilanten ihre Erinnerungstexte – ehemalige Politiker, Militärs, Mitglieder der Romanov-Familie etc. In diesem Buch lag der Schwerpunkt auf adeligen Autoren, die drei Gemeinsamkeiten aufwiesen: die gemeinsame Sozialisation in der Zarenzeit (Geburtsjahr zwischen 1860 und 1890); das Erleben der Russischen Revolutionen von 1917 sowie des Bürgerkrieges und der Verlust der Heimat, des Besitzes und der gesellschaftlichen Privilegien. Diese Aspekte und die Kommunikation über diese Erfahrungen im Exil verbanden die Autoren zu einer Generationsgruppe. Es gab innerhalb dieser Gruppe unterschiedliche Motive für das Verfassen von autobiographischen Texten. Diese sind nicht strikt voneinander zu trennen, dennoch ließen sich Hauptmotive herausarbeiten. Eine Gruppe der untersuchten Autoren leitete der Wunsch nach einer Verbindung zwischen den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen sowie die Dokumentation und Fortführung der Familientradition im »Russland jenseits der Grenzen«. Die fehlende örtliche und materielle Kontinuität des Familiengedächtnisses – in Form von Familiengütern, Gemälden, Bibliotheken, historischen Erbstücken etc. – wurde durch Abstraktion und Erinnerung an die Familientradition und -geschichte ausgeglichen. Die Festigung einer kontinuierlichen Familienidentität schien diesen Autoren umso dringlicher zu sein, als die noch in Russland geborene Generation ausstarb, während die in der Fremde geborene Generation sich an die neue Heimat anpasste und infolge dessen »ihren russischen Charakter« verlor. Zahlreiche Autobiographien wurden daher als »intergenerationelles Vermächtnis« angelegt, mit der Ab-

Schlussbetrachtung

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sicht, die eigenen Erfahrungen und Erinnerungen an nachgeborene Generationen weiterzugeben. Deshalb wurde ein großer Teil der Erinnerungen den adeligen Ahnen und der Bedeutung des Adels gewidmet. Die Rolle der »Gralshüter« des »besseren Russlands« sollte an die Kinder weitergereicht werden. Die zweite Gruppe von Autoren betrieb verstärkt historische Reflexion. Diese Texte enthielten – menschlich durchaus verständlich – Rechtfertigungsversuche, Bemühungen um ein positives Selbst- und Außenbild sowie Korrekturen der »offiziellen« Geschichtsdarstellung in der Sowjetunion. So waren in diesen Texten einige Versuche der Definition einer zeit- und ortsunabhängigen »Adeligkeit« zu finden. Offenbar sahen sich diese Autoren in der Pflicht, den durch die Russische Revolution verursachten Bruch in der Familien-, aber auch in der Adelsgeschichte zu kitten. Die »geistige Erhaltung« adeliger Werte und die Vererbung der Ideale der »alten Ordnung« an die nächste Generation spielten hier eine große Rolle. Auffällig war die Vorstellung der Autoren, Bestandteil einer langen Ahnenreihe, das »Glied einer Kette«931 zu sein. Freilich lagen die Hoffnung auf den Fortbestand der Ahnenreihe und der Zweifel daran nicht weit voneinander entfernt. Einige Autoren, z. B. Boris Vasil’cˇikov, sahen sich durch die Unterbrechung der »organischen Verbindung« mit Russland als »das letzte Glied einer Kette«.932 Andere, wie Sergej Trubeckoj, versuchten dagegen, mit der Autobiographie an die Vergangenheit der Familie zu erinnern und diese den gegenwärtigen wie auch zukünftigen Familienmitgliedern für ihre spezifischen Bedürfnisse verfügbar zu machen.933 Wenn man mit Maurice Halbwachs annimmt, dass insbesondere beim Adel eine besonders stark ausgeprägte Kontinuität des Lebens und des Denkens vorhanden ist und der Rang einer Familie maßgeblich von der Sichtbarkeit in der Gesellschaft bestimmt wird,934 dann sind die hier untersuchten Autobiographien als Kampf um die Fortführung dieser Kontinuität zu interpretieren. Die dritte Gruppe von Autoren hatte neben den vorgenannten Gründen zusätzlich publizistische Ambitionen und verband mit der Veröffentlichung der Erinnerungen die Hoffnung auf ein neues Betätigungsfeld sowie eine einträgliche Einkommensquelle. In einigen Aufnahmeländern bestand ein starkes Interesse am Schicksal der ehemals »Reichen und Schönen« des zarischen Russlands. Im meist demokratischen Umfeld fanden diese Autoren ihre Nische als »russische Exiladelige« und waren damit beruflich recht erfolgreich, wie z. B. Irina Skarjatina und Sergej Obolenskij. In diesen Texten war das Spannungsfeld 931 Zu dieser Vorstellung beim deutschen Adel vgl. Funck/Malinowski, »Charakter ist alles!«, S. 73f.; de Saint Martin, Der Adel. Soziologie eines Standes, S. 120. 932 Vgl. Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 23f. 933 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 7f. 934 Vgl. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 307f.

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Schlussbetrachtung

zwischen Privatem und Öffentlichem am deutlichsten, denn das Persönliche musste mit den Interessen eines potentiell interessierten Publikums in Einklang gebracht werden. Alle Autoren trugen durch ihre veröffentlichten Autobiographien Botschaften und Bilder in den familiären und öffentlichen Raum. Somit erfüllten sie die Funktion, dem individuellen ebenso wie dem allgemeinen Vergessenwerden ihrer sozialen Schicht entgegen zu wirken. Die Brüche in der eigenen Vita und den persönlichen Lebensentwürfen wurden im Exil unterschiedlich verarbeitet. Dies hing wiederum mit den im Aufnahmeland gemachten Erfahrungen und der Lebensgestaltung zusammen. Die Heimkehrhoffnungen hatten manche Autoren nie ganz aufgegeben, andere integrierten sich beruflich in das neue Umfeld bei Beibehaltung des »Russisch-Seins« im Privatleben, daneben gab es die Assimilierten, welche die Staatsbürgerschaft des Gastlandes annahmen. Dennoch wiesen alle Texte trotz der unterschiedlichen Lebenswege die Gemeinsamkeit der Suche nach einer »adeligen Identität« im Exil auf. Drei Hauptelemente der adeligen Identität wurden in den Erinnerungstexten betont. An erster Stelle rangierte das Dienstideal des russischen Adels. Es entsprach ganz der Redewendung »noblesse oblige« und war eine im Adel weit verbreitete Lebensauffassung bereits vor den Revolutionen 1917. Das Handeln eines jeden Adeligen war demnach stets dem Nutzen der gesamten Gesellschaft zu widmen. In dieser Vorstellung verschmolz das Dienstethos des Adels mit der Tradition des Paternalismus und der karitativen Tätigkeit. Dieses Ideal konnte moduliert werden und so ohne größere Schwierigkeiten den sich wandelnden Zeitumständen angepasst werden. Im Exil wurde es offenbar als eine Verpflichtung gegenüber der russischen Gesellschaft im Exil gedeutet. Dieser obligatorische Auftrag äußerte sich im karitativen Einsatz und ehrenamtlichen Engagement für die Landsleute. Die Aufforderung »noblesse oblige« im Sinne der Dienstpflicht für das »wahre« Russland sollte der »Ariadnefaden« werden, der trotz der Brüche durch die Revolution eine Verbindung zwischen den vergangenen und den zukünftigen Generationen des Adels herstellen sollte. Dieser Appell einte die Autoren. Sie verstanden darunter mehrheitlich die Sicherung der russischen Kultur, der Sprache und nicht zuletzt der Religion für die Nachkommen. In diesem Selbstverständnis musste sich der russische Adel, beziehungsweise die nachkommende Generation, für die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bereithalten, um den Dienst an Volk und Vaterland in der Heimat wiederaufzunehmen. An zweiter Stelle folgten die adelige – horizontale und vertikale – Familie und der adelige Name. Damit aufs Engste verbunden war die Wertschätzung der Familiengeschichte und -tradition. In allen Texten war ein Teil der Erinnerung der Abstammung sowie der Leistungen der Vorfahren im politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und geistigen Leben des Vaterlandes gewidmet. Die

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adelige Familie ging in den Texten weit über die klassische Kernfamilie hinaus und wurde als die Gemeinschaft der vergangenen, lebenden und kommenden Generationen verstanden. Diese Familienvorstellung nahm im Exil offenbar weiter an Bedeutung zu. Die Einbindung des Einzelnen in die überpersönlichen Zusammenhänge der Familiengemeinschaft vermittelte gerade den Exilierten die benötigte Gewissheit seiner »Adeligkeit«. Die enge Verbindung der Familienmit der Russischen Geschichte wurde von allen Autoren herausgestellt. So waren zum Beispiel die Familienmitglieder von Aleksandr Davydov nicht passive Teilnehmer am historischen Geschehen, sondern vielmehr selbst aktive Gestalter der Geschichte. In diesem Zusammenhang spielte der adelige Familienname eine große Rolle für die Selbstidentifikation. Da alle äußerlichen Abgrenzungskriterien bis auf den Namen und den Titel verlorengegangen waren, waren die Autoren bemüht, dies durch die Betonung des »guten« Namens zu kompensieren. Das Bekenntnis zum adeligen Stand drückte sich am deutlichsten in der Annahme der landestypischen Adelsprädikate aus (z. B. »Marie de Bashmakoff«). An dritter Stelle standen die Ausführungen der Autoren zur »adeligen Persönlichkeit«. Der Wertekatalog konnte individuell variieren, bezog sich dennoch stets auf die inneren, immateriellen Eigenschaften. Die Grundelemente lauteten »Ehre, Würde, Verantwortung, Patriotismus« und wurden in einigen Texten um »die innere und äußere Disziplin, den Mut, den Gerechtigkeitssinn und Altruismus« ergänzt. Auch das Russisch-Sein gewann in der Emigration enorm an Bedeutung, auch wenn die vorrevolutionäre Lebensweise einiger Autoren eher westeuropäisch als »typisch« russisch gewesen sein mochte. Das Idealbild eines Adeligen bestand aus einer verantwortungsbewussten Persönlichkeit, die im Gegensatz zu der verantwortungslosen russischen »Intelligencija« und den unflexiblen »Bürokraten« stand. Das »adelige Wesen« blieb in den Texten nicht in allen Fällen konkret greifbar, die Suche nach genuin adeligen Distinktionsmerkmalen gestaltete sich schwierig. Von männlichen Autoren wurde aber meist ein Idealadeliger gezeichnet, der einen »ganzheitlichen Charakter« und eine »innere und äußere Unabhängigkeit« besitzen sollte. Wegen der großen Vielfalt adeliger Lebensläufe nach 1917 existierte höchstwahrscheinlich keine einheitliche Definition von »Adeligkeit«. Dennoch scheint die Formel dafür bei den Autoren zusammengesetzt zu sein aus den Elementen »noblesse oblige«, der Weiterführung der Familienwerte (Name, Traditionen) sowie der aktiven Pflege adeliger Bildungsnormen bzw. Erziehungswerte. Des Weiteren wurden einige der sich in den Texten wiederholenden Narrative untersucht. In den Schilderungen historischer Ereignisse oder Strukturen der Vergangenheit schlug sich das Bedürfnis der Autoren nach Strukturierung der eigenen Erfahrungen und Erlebnisse nieder. Als Hauptmotive wurden die

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Schlussbetrachtung

»adelige glückliche Kindheit«, das »Adelsnest«, die »Bauern« und die »Dienerschaft« sowie der »Märtyrerzar Nikolaj II.« ausgemacht. Darüber hinaus war auch der »Erinnerungsort der Revolutionen 1917« in allen Texten präsent. Die Narrative wurden in diesem Zusammenhang als gemeinsame »Geschichten« der adeligen Autoren verstanden. Die These von Andrew Wachtel, dass die »adelige glückliche Kindheit« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine Art Statussymbol und Distinktionsmerkmal diente, konnte auch für das Exil bestätigt werden. Die konkreten Inhalte einer »adeligen glücklichen Kindheit« fielen teils unterschiedlich aus, aber die Autoren betonten stets, dass es auch im Exil galt, die adeligen Normen und Werte, die sie selbst kennengelernt hatten, weiter zu vermitteln. Die »glückliche Kindheit« umfasste fast zwangsläufig das Landleben im »Adelsnest«. Dieses bezeichnete viel mehr als den reinen Wohnraum. Es stellte vor allem einen Lebens- und Schutzraum dar und konservierte die alten Formen der »Adeligkeit« über die Zeit der Bauernbefreiung hinaus. Für die Autoren verkörperte es die »Basis« und einen wichtigen Berührungspunkt mit dem dörflichländlichen Milieu. Dieses veränderte sich kontinuierlich bereits vor der Revolution 1905, aber die Autoren zeichneten das Zusammenleben auf dem Land als weitgehend unverändert, oft auch idealisiert. Mit dem Verlust des »Adelsnestes« wurde für die Autoren die Verbindung zwischen den Generationen unterbrochen, außerdem empfanden sie sich fortan als schutz- und heimatlos. Eine große Rolle nahmen in den Texten die »eigenen« (mittlerweile befreiten) Bauern und die Hausbediensteten ein. Darunter hatte die Njanja eine »pusˇkinsche« Sonderrolle inne. Gerade in der Kindheit wurde die Beziehung zu bestimmten Hausangestellten oder Erziehern als familiär empfunden, die Njanja war meist ein fester Bestandteil der eigenen kindlichen Welt. Trotz der engen emotionalen Nähe wurde dennoch eine Trennung zwischen der eigenen Familie sowie den Bediensteten und Bauern gezogen. Die beschriebenen positiven Narrative bildeten einen erzählerisch-bildlichen Kontrast zu der dunklen und bedrohlichen Revolutionszeit. Daneben erlebte die vorgestellte Generation, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren wurde, eine Zeit großer politischer und sozialer Veränderungen. Es gab einen starken wirtschaftlichen Aufschwung, der aber auch die bestehenden Lebensformen, die als sicher und intakt empfunden wurden, stark veränderte. Diese Prozesse vermittelten ein Gefühl des »verlorenen Paradieses«, denn die alte Welt gehörte unwiederbringlich der Vergangenheit an. So hatte die Nostalgie sicher einen großen Anteil am Entstehen dieser Erzählungen. Eine ambivalente Haltung nahmen die Autoren zum Begriff »Volk« ein. Das betraf vor allem die Zeit von 1905/06 bis 1917. Der Wandel des positiv besetzten Begriffes »Volk« zur Beschreibung desselben als »Mob« hebt das »Janusge-

Schlussbetrachtung

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sicht«935 der bäuerlichen Bevölkerung in dieser Phase hervor. Mit der Revolution von 1905/06 beginnend bis zu den Revolutionen von 1917 fand bei den untersuchten Autoren somit die stärkste Umformung des Verständnisses über das »Volk« statt, auch wenn es einige Unterschiede zwischen den wohlwollenden Bewertungen von Aleksandr Davydov oder Aleksandr Naumov und den eher pauschal negativen Urteilen von Nadezˇda Vonljarljarskaja oder Marija Barjatinskaja gibt. Eine große Ambivalenz wies auch das Bild des Zaren Nikolaj II. auf. In den Texten wurde übergreifend das »ikonenhafte Bild des leidenden Märtyrerzaren«936 gezeichnet und damit seine »Resakralisierung« betrieben. Damit nahmen die Autobiographen die Heiligsprechung Nikolajs II. und seiner Familie durch die Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland im Jahre 1981 und durch das Moskauer Patriarchat im Jahre 2000 vorweg. Dennoch sparten die Autoren nicht mit Kritik am »sanften«, allzu »privaten« und »bürgerlichen« Monarchen. Er hätte selbst seine »Desakralisierung« gefördert, da seine Persönlichkeit eher der »eines Gandhis oder gar eines Heiligen« entsprach,937 was sich aber mit den Anforderungen an einen autokratischen Herrscher nicht vertrug. Dazu kam die feste Überzeugung der Autoren, dass der Zar keinen Bezug zur Welt seiner Untertanen und zudem »schlechte Berater« hatte. In Verbindung mit diesen »schlechten Beratern« wurde in den Texten das bereits vorrevolutionär verwendete Narrativ der »inneren Feinde« bemüht, um auszudrücken, dass die alte Ordnung von innen heraus, durch Verrat und »Verrottung der Macht von oben«, zu Fall gebracht worden sei. Hier wirkten die Vorstellung der langjährigen Kontaminierung der Seele des Volkes durch die »Intelligencija« in Verbindung mit dem Prestige- und Autoritätsverlust der Staatsmacht zusammen. Außerdem verwiesen die Autoren auf die Entfremdung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und das Fehlen gemeinsamer Interessen, das sich bereits in der Revolution von 1905 gezeigt hatte. Die schleichenden Veränderungen im kollektiven Bewusstsein der »Bauern«, aber auch der Elitegruppen, ebneten nach diesem Verständnis der Revolution den Weg. Die historischen Ereignisse nach der Jahrhundertwende – der Russisch-Japanische Krieg, die Revolution 1905, die Einführung der Duma 1906, der Erste Weltkrieg, die Abdankung Nikolajs II. – mündete, für die Autoren in logischer Abfolge, in der Machtergreifung der Bol’sˇeviki. Diese hätten die zerstörerischen, gewalttätigen Kräfte eines irregeleiteten, verführten »Volkes« am besten zu nutzen gewusst. Es gab nicht »die« Erinnerung an die einzelnen Etappen des revolutionären 935 Vgl. Beyrau, Janus in Bastschuhen, S. 585–603. 936 Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 554. 937 Vgl. Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 141.

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Jahres 1917. Je nachdem, wo sich die Adeligen aufgehalten hatten und welche Erfahrungen sie machen mussten, wurden einzelne Ereignisse des Jahres 1917 entweder hervorgehoben oder nicht erwähnt. Allen Texten gemeinsam war die retrospektive Sicht, dass die Monate von Februar bis Oktober 1917 eine Ereigniskette darstellten. Für die Bildung und den Zusammenhalt der untersuchten Adelsgruppe war dieses Jahr von besonderer, auch symbolischer Bedeutung. Die kollektive Verständigung darüber in den Erinnerungstexten tendierte zur Deutung des Jahres 1917 als Epochengrenze und markierte den Untergang der »alten Welt«. Somit wurde dieses Jahr sowohl als Zäsur für die Geschichte Russlands, als auch für den individuellen Lebenslauf wahrgenommen. Wobei die Bewertung genau entgegengesetzt zu der in der Sowjetunion stand. Damit versuchten die Autoren vielleicht indirekt das »Arbeiterparadies« zu entlarven, das im Westen auf bestimmte Intellektuellenkreise und auch in der Arbeiterschaft eine große Anziehungskraft ausübte. Dies wurde aber in den Erinnerungen nur von Sergej Trubeckoj an einer Stelle kommuniziert, da er einen aus Deutschland geflohenen »preußischen Arbeiter« als Zellennachbarn hatte, der in Moskau verhaftet worden war.938 Ein zentraler Teil dieses Buches konzentriert sich auf die Untersuchung der Unterschiede zwischen den weiblichen und den männlichen Selbstentwürfen. In der Auswahl von Themen und Selbstbildern wurden einige Unterschiede bei der Konzeptualisierung der autobiographischen Texte von Frauen und Männern deutlich. Die Autorinnen versuchten, den positiven wie negativen Erfahrungen einen Sinn abzutrotzen. Sie begriffen das Leben im Exil auch als eine neue Chance und dementsprechend lesen sich die Autobiographien oftmals als Erfolgs- oder Heldinnengeschichten. Als eine Art Befreiung und erste Zäsur im Leben empfanden sie ihren Einsatz im Ersten Weltkrieg (und nicht etwa die Heirat oder die Geburt eines Kindes) und widmeten diesem Thema einen großen Teil ihrer Texte. Die zweite Zäsur markierte das Revolutionsjahr 1917. Der äußerliche Zwang zum Exil bildete schließlich die letzte große Zäsur in ihren Autobiographien, bei der sie auf eine harte Probe gestellt wurden. Die Frauen erzählen jedoch nicht ohne Stolz über ihr Leben, das sie sich erkämpfen und erarbeiten mussten. Das Exilleben »vollendete« die Wandlung der Autorinnen von »Damen der Gesellschaft« zu »starken Frauen«. Daher kann von – auch seitens der Frauen so empfundenen – emanzipatorischen Effekten gesprochen werden. Das Leben in der Fremde verlangte von den Frauen die Notwendigkeit der Anpassung an ein verändertes Umfeld, bot aber gleichzeitig neue Chancen für die Selbstbehauptung und das Ergreifen eines Berufes. Die Frauen übernahmen häufig erstmals Verantwortung für ihr Einkommen, sie wurden gar zu den Hauptversorgern der 938 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 220.

Schlussbetrachtung

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Familien, da sie über Fertigkeiten und Kenntnisse verfügten, mit denen im Exil Geld zu verdienen war. Dies ermöglichte eine größere Unabhängigkeit von ihren Ehemännern und förderte das Selbstbewusstsein. Die Ich-Entwürfe der adeligen Frauen enthielten spannende Abenteuerelemente vermischt mit Überlebenden-Erzählungen über die Zeit nach der Russischen Revolution von 1917. Damit wird auch ein bestimmtes Image aufgebaut – die russischen Adeligen als Heldinnen ihrer Zeit, die trotz monumentaler Einschnitte und Entbehrungen ihren Weg zurück ins Leben gefunden haben. Dagegen waren die »typisch weiblichen« Themen wie Heirat, Kinder und Haushalt auffällig unterrepräsentiert. Die adeligen männlichen Autoren versuchten ebenfalls, die eigenen Erfahrungen in einen Sinnkontext zu bringen. Ein Unterschied bestand darin, dass sie das eigene Berufsleben stärker reflektierten. Die frühere berufliche Laufbahn stellte für sie den Bezugsrahmen dar, der durch den Zusammenbruch des Russischen Reiches in Frage gestellt worden war. Folglich entfielen nach eigenem Empfinden die »traditionellen« beruflichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten, für das Heimatland nützlich zu sein. Außerdem hatten einige von ihnen einflussreiche Positionen im zarischen Russland inne; damit bedeutete für sie das Scheitern des Zarenreiches auch ein persönliches Scheitern. Suchten die Frauen einen Ausweg in neuen Betätigungsfeldern, ohne sich für den Zusammenbruch der alten Ordnung verantwortlich zu fühlen, sah dies bei den männlichen Autoren anders aus. Treffend formulierte die Tochter von Lidija und Ilarion Vasil’cˇikov, Tatiana Metternich, den Unterschied zwischen ihren Eltern insofern, als dass für ihre Mutter der Zusammenbruch des alten Russlands »kein persönliches Versagen« darstellte, wohingegen der Vater durchaus das Scheitern der alten Ordnung auch auf sich und den eigenen Stand bezog.939 Und Aleksandr Naumov schrieb: »[…] ich denke, dass ich bis zur Revolution 1917 ein ›Leben‹ hatte, danach begann das bloße Existieren.«940 Diese Selbsteinschätzung hing mit den unterschiedlichen Lebenserfahrungen vor und nach dem Revolutionsjahr 1917 zusammen. Eine Gemeinsamkeit der untersuchten Autobiographien war die Beschreibung des passiven/inneren oder aktiven Widerstands der männlichen Autoren als kultivierte Schicht des Zarenreiches gegen die kultur- und religionsfeindlichen Bol’sˇeviki. Ihr Selbstverständnis blieb fest mit dem vorrevolutionären Russland und dessen Wertmaßstäben verbunden. Bei den männlichen Autoren fanden sich vermehrt Überlegungen über die eigene politische, militärische oder berufliche Verortung innerhalb des früheren Gefüges Russlands. Je nachdem, in welchem Bereich sie Erfolge zu verzeichnen 939 Vgl. Metternich, Bericht eines ungewöhnlichen Lebens, S. 42f. 940 Naumov, Iz ucelevsˇich vospominanij, Bd. 2, S. 379.

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Schlussbetrachtung

glaubten, erfolgte die Selbstverortung mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten. Dabei hatten alle Autoren gemeinsam, dass der gesamte Lebensentwurf, trotz der Rückschläge, nicht als ein reines Scheitern erscheinen durfte. Im besten Fall sollte er durch ein erfolgreiches persönliches »Projekt« gelungen oder sogar durch besondere Verdienste gekrönt erscheinen. Zum einen finden sich die Selbstbilder des »Patrioten im politisch-gesellschaftlichen Bereich« und des »Bewahrers der russischen Kultur und Geistlichkeit«. Diese Autoren haben nach ihrem Selbstverständnis versucht, die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland nach ihren Möglichkeiten und Vorstellungen zu beeinflussen. Sie stellten die Nichtangepasstheit ihrer Ansichten trotz des Druckes von außen heraus. Die Überzeugung, die richtigen Ideale gehabt zu haben und ihnen treu geblieben zu sein, war stark ausgeprägt. Sie hätten stets eine Offenheit für evolutionäre, aber niemals revolutionäre Veränderungen gehabt. Darüber hinaus sah sich zum Beispiel Ilarion Vasil’cˇikov, trotz des »gescheiterten« Privat- und teils Berufslebens, als »Fundamentleger« für die religiöse Erneuerung Russlands: Wenn die Kirche lebte, und sei es für eine Zeit lang im Exil, lebte für ihn auch Russland. Damit versuchte er, seine Tätigkeiten für die Kirche als eine Weichenstellung für die Zukunft und einen persönlichen Erfolg zu sehen. Zum anderen lassen sich die Selbstbilder des »aktiven Kämpfers« und des »Widerstandskämpfers« erkennen, die von militärischem Patriotismus geprägt waren. Aufschlussreich war die Selbstreflexion von Sergej Trubeckoj, der eine Entfremdung des Adels (auch in seiner Familie) vom Militärdienst feststellte und, gleichsam als Entschädigung, sich verpflichtet fühlte, nach der Februarrevolution in den Widerstand gegen die Bol’sˇeviki zu gehen. Damit lag die Frage der Schuld bei den männlichen Autobiographen stärker im Fokus als bei den Frauen. Gerade weil sie ein aktiver Teil des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems Russlands waren, versuchten sie, das Scheitern des Zarenreiches mit erfolgreichen »Teilgeschichten« zu kompensieren und gleichzeitig ihrem Selbstbild einen stark positiven Kern zu geben. Der interdisziplinäre Ansatz bringt neue Erkenntnisse und auch neue Fragen für die Autobiographie- und Adelsforschung. An dieser Stelle sollen mögliche weiterführende Forschungsprojekte aufgezeigt werden. Ein Vergleich des adeligen Selbstbildes im Exil mit dem in der Sowjetunion sowie der jeweiligen Anpassungsstrategien des Adels in diesen unterschiedlichen sozialen Räumen stellt sich als ein vielversprechendes Untersuchungsfeld dar. Denkbar ist des Weiteren eine vergleichende Studie des russischen Adels nach der Revolution 1917 und des französischen Adels nach der Revolution 1789.941 941 Als Beispiel zum autobiographischen Verarbeiten des Scheiterns vgl. Zahlmann, Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Zu französischen Exilanten s.

Schlussbetrachtung

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Bis dato fehlt auch ein intergenerationeller Vergleich der Erinnerungsliteratur der Exilanten der ersten Generation mit der ihrer Nachkommen. Es liegen zahlreiche Erinnerungstexte der Adeligen mit dem Geburtsjahr nach 1890 vor, daher wäre ein Vergleich verschiedener Generationsgruppen erkenntnisversprechend.942 Schließlich wäre zu untersuchen, wie spätere Generationen die Bilder und Erzählungen der adeligen Exilanten rezipierten. Denn, wie bereits erwähnt, erlebte der russische Adel als »Idee« seine Wiedergeburt im Russland der 1990er Jahre. Daher war die adelige Strategie des »Nicht-Vergessenwerdens« bzw. des »Sichtbarbleibens« auch durch die Flut der Autobiographien am Ende offensichtlich erfolgreich.

die Studien von Karine Rance: Retours d’exil, retours sur l’exil, in: Bruno Dumons/Hilaire Multon (Hg.): »Blancs« et contre-r8volutionnaires. Espaces, r8seaux, cultures et m8moires (fin XVIIIe-d8but XXe siHcles), France, Italie, Espagne, Portugal, Rom 2012, S. 333–344; dies.: Les nobles, victimes de la R8volution?, in: Michel Biard (Hg.): La R8volution franÅaise, une histoire toujours vivante, Paris 2010, S. 209–221. 942 Als erste Auswahl: Zenaide Burke-Bashkiroff: La faucille et la moisson, Paris 1973 (zuerst engl., dies.: The Sickle and the Harvest, London 1960); Fürstin Marie Gagarin: Blond war der Weizen der Ukraine. Erinnerungen, Bergisch Gladbach 1991 (zuerst franz., Marie Gagarine: Blonds 8taient les bl8s d’Ukraine, Paris 1989); dies.: Russland im Herzen. Erinnerungen, Bergisch Gladbach 1993 (zuerst franz., Marie Gagarine: Le th8 chez la comtesse, Paris 1990); Irina Galitzine: Spirit to Survive. The Memoirs of Princess Nicholas Galitzine, London 1976; Paul Grabbe: Windows on the River Neva. A Memoir, New York 1977; Aleksej V. Obolenskij: Moi vospominanija i rozmysˇlenija, Stockholm 1961; Olga Woronoff: Bouleversements, Paris 1988 (zuerst engl., dies.: Upheaval, Putnam 1932).

VII. Biographische Angaben zu den Autoren

Ein kurzer Überblick über die Biographien der Autoren kann dabei helfen, die Erinnerungstexte in einen Kontext einzuordnen. Die meisten adeligen Autoren gedachten ihrer Herkunft mit Stolz und räumten der Familiengeschichte in den Erinnerungstexten einen wichtigen Platz ein. Barjatinskaja, Fürstin Marija Sergeevna, geborene Basˇmakova, wurde im Jahre 1870 in St. Petersburg geboren. Der Vater, Sergej Dmitrievicˇ Basˇmakov (1831– 1877), und die Mutter, Varvara Karlovna, geb. Sˇmidt (1841–1873), wurden in der Autobiographie selten erwähnt. Stärker wurde dagegen die Großmutter väterlicherseits berücksichtigt, die eine Nachfahrin des berühmten Generals Aleksandr V. Suvorov war : Varvara Arkad’evna, geb. Fürstin Suvorova-Rymnickaja (in erster Ehe Basˇmakova, in zweiter Gorcˇakova).943 In erster Ehe war Barjatinskaja mit Aleksej Vladimirovicˇ Svecˇin verheiratet, der keine namentliche Erwähnung in den Erinnerungen findet. Nach der Scheidung von ihm im Jahre 1894 heiratete sie ihre Jugendliebe Anatolij Vladimirovicˇ Barjatinskij (1871–1924). Gestorben ist Marija Barjatinskaja im Jahre 1933 in Boneval in der Nähe von Chartres, Frankreich. Das Paar hatte eine Tochter, Marija Anatol’evna, verheiratete Ford (1905–1937), welcher die Autobiographie gewidmet wurde.944 Die Autobiographie schrieb die Fürstin in England, wo auch die Erstauflage unter dem Titel »Princess Anatole Marie Bariatinsky : My Russian Life, Verlag Hutchinson, London 1923« erschien.945 Eine russische Übersetzung kam im Jahre 2006 heraus: »Marija Barjatinskaja: Moja russkaja zˇizn’. Vospominanija velikosvetskoj damy 1870–1918, Moskau 2006« in der Reihe »Svideteli e˙pochi« (Zeugen der Epoche). 943 Vgl. Jacques Ferrand: Les familles princiHres de l’ancien Empire de Russie, Bd. 1, 2. Aufl., Paris 1997, S. 5. 944 Vgl. Barjatinskaja, Moja russkaja zˇizn’, S. 1. 945 Vgl. ebd., S. 26, 51, 193, 366.

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Biographische Angaben zu den Autoren

Der Aufbau ist weitgehend chronologisch, die einzelnen Kapitel sind jedoch thematisch voneinander getrennt. Die Hauptabschnitte gliedern sich wie folgt: Die Zeit vor 1903 (Kindheit, Jugendzeit, Heirat, das Hofleben, die Auslandsreisen, Kapitel 1–9), die Zeit von 1903 bis 1914 (Geburt der Tochter, Vladivostok, Turkestan, Kuraufenthalte, Kapitel 10–12), Erster Weltkrieg und Revolution (Hospital in Kiev, Rasputin, Bürgerkrieg, Kapitel 13–15), Flucht und Exil (Kiev, Berlin, London, Kapitel 16–18). Basˇmakova, Marija Nikolaevna, geborene Gruzinova, wurde im Jahre 1870 in Pavlovsk im Gouvernement Tambov geboren. Der Vater war Nikolaj Osipovicˇ Gruzinov und die Mutter Nadezˇda Aleksandrovna, geborene Betcˇinina. Marija Basˇmakova genoss eine Ausbildung am St.-Katharinen-Institut (Ekaterinskij institut) in St. Petersburg. Während des Ersten Weltkrieges machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitete für das Rote Kreuz, u. a. für die Inspektion der Kriegsgefangenenlager. Im Jahr 1917 war sie Vorsitzende des »Komitees der Angehörigen von Kriegsgefangenen«. In erster Ehe war Basˇmakova mit Dmitrij Ivanovicˇ Goneckij (gest. 1909, drei Kinder : Georgij, Vladimir, Nadezˇda), in zweiter Ehe seit 1922 mit Aleksandr Aleksandrovicˇ Basˇmakov (1858–1943) verheiratet. Letzterer war Jurist, Historiker und Paläo-Ethnologe.946 Mit ihm ging sie 1920 ins Exil nach Jugoslawien (Serbien). Seit 1924 lebte Marija Basˇmakova mit ihrem Mann in Paris, wo er seine Forschungen betrieb und veröffentlichte.947 Er nahm als ein bekennender Monarchist und Panslawist an den zwei großen Kongressen der Emigration teil – in Bad Reichenhall (1921) und in Paris (1926).948 Marija Basˇmakova war in der russischen Exilgesellschaft sehr aktiv, z. B. organisierte sie Spendenveranstaltungen und war Mitglied des »Komitees der Vereinigung zur Hilfe russischer Kriegsversehrter« in Paris. Marija Basˇmakova verstarb im Jahre 1959. Nur ein Jahr davor erschien ihre Autobiographie in Paris unter dem Titel »Marie de Baschmakoff: M8moires. 80 ans d’Ppreuves et d’Observations«. Das Vorwort verfasste Louis Marin (Pr8si-

946 Vgl. Hannelore Müller: Religionswissenschaftliche Minoritätenforschung: zur religionshistorischen Dynamik der Karäer im Osten Europas, Wiesbaden 2010, S. 145. Vgl. z. B. Alexandre Baschmakoff: Cinquante siHcles d’8volution ethnique autour de la mer Noire, Paris 1937. 947 In Paris unterrichtete Basˇmakov in der französischen »Pcole d’Anthropologie« und am »Institut de Pal8ontologie Humaine de Paris«, vgl. BibliothHque nationale de France, http:// data.bnf.fr/15557113/alexandre_baschmakoff/, abgerufen am 18. 01. 2018. 948 Zum Kongress in Bad Reichenhall vgl. Baur, Die russische Kolonie in München, S. 102–118; ders.: Russische Emigranten und die bayerische Öffentlichkeit, in: Hermann Beyer-Thoma (Hg.): Bayern und Osteuropa: aus der Geschichte der Beziehungen Bayerns, Frankens und Schwabens mit Russland, der Ukraine und Weißrussland, Wiesbaden 2000, S. 461–478.

Biographische Angaben zu den Autoren

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dent de l’Acad8mie des Sciences Morales et Politique).949 Der Aufbau ist weitgehend chronologisch, ohne Vor- und Rückblenden, wobei die einzelnen Kapitel thematisch, sprich inhaltlich, voneinander abgegrenzt werden. Im Wesentlichen lassen sich vier Hauptabschnitte erkennen: Die Zeit vor der Revolution (Kapitel 1–14), der Erste Weltkrieg (Kapitel 15–19), Revolution und Bürgerkrieg (Kapitel 20–25) und die Zeit in der Emigration (Kapitel 26–33). Davydov, Aleksandr Vasil’evicˇ wurde 1881 in Tambov geboren. Die Mutter, Fürstin Ol’ga Aleksandrovna, geborene Lieven, entstammte dem deutschbaltischen Adel. Der Vater war Vasilij Petrovicˇ Davydov. Nach der Trennung der Eltern zog Davydov mit seiner Mutter und seinen Brüdern nach Moskau um, wo er seine Schuljahre im Razumovskij und Elisavetskij Institut verbrachte.950 Nach dem Abschluss der Juristischen Fakultät arbeitete er im Finanzministerium. Er meldete sich freiwillig für den Russisch-Japanischen Krieg im Jahre 1904 und wurde für seine Tapferkeit mit dem silbernen St.-Georgs-Kreuz (»Ehrenzeichen des Kriegsordens«) ausgezeichnet. Ab 1914 arbeitete er für das Rote Kreuz und parallel nahm er die Verwaltung des Gutes Sably auf der Krim an. Aleksandr Davydov hatte berühmte Vorfahren, die in seinen Erinnerungen eine zentrale Rolle spielen: zwei berühmte Dekabristen, Vasilij L. Davydov und Fürst Sergej P. Trubeckoj, waren seine Urgroßväter. Verheiratet war er mit Ol’ga Jakovlevna, geborene Miller (1899–1975), das Paar hatte eine Tochter, Olga Davydoff Dax.951 Im Januar 1918 musste er von seinem Gut in Sably fliehen und emigrierte nach Paris. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog er nach New York, wo er in russischen Emigranten- und Freimaurerkreisen tätig war. Im Jahre 1955 verstarb er dort nach einer kurzen Krankheit. Mit seinen Erinnerungen begann er nach Angaben der Tochter in New York, konnte sie aber vor seinem Tod nicht mehr vervollständigen und herausbringen. Diese Aufgabe übernahm die Tochter, Olga Davydoff Dax, 27 Jahre nach seinem Tod. Zuerst erschien der Text auf Russisch in Paris: »Aleksandr Davydov : Vospominanija, 1881–1955, Verlag Al’batros, Paris 1982«, die zweite Auflage erschien ein Jahr darauf. Außerdem erschienen die Erinnerungen auf Englisch, die Übersetzung machte wiederum Olga Davydoff Dax: »Alexander Davydoff (introduction John M. Dax, foreword Marc Raeff): Russian Sketches: Memoirs, Hermitage, Tenafly/New York 1984«. Auf Französisch kam ebenfalls eine Übersetzung heraus: »Alexandre Davydoff (Vorwort v. Marc Raeff, hg. v. Jean 949 Vgl. N.L. Bajanov : Marija Nikolaevna Basˇmakova, in: L. Mnuchin/M. Avril’/V. Losskaja: Rossijskoe zarubezˇ’e vo Francii (1919–2000). Biograficˇeskij slovar’ v trech tomach, Bd. 1, =oskau 2008, S. 127. 950 Vgl. Davydov, Vospominanija, S. 59, 71f. 951 Vgl. Mnuchin/Avril’/Losskaja, Rossijskoe zarubezˇ’e vo Francii, S. 457.

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Biographische Angaben zu den Autoren

Dax und Olga Davydoff Dax): Images russes: souvenirs, L’Age d’Homme, Lausanne 1984«. Der Aufbau ist chronologisch mit einigen thematischen Schwerpunkten. Eine starke Aufmerksamkeit erfuhren die Familiengüter Kamenka, Sably und die berühmten Dekabristenvorfahren (S. 9–50). Der nächste thematische Block befasst sich mit den Kinder- und Jugendjahren, mit der Erziehung, Bildung und den Auslandsreisen (S. 51–140). Des Weiteren wird auf die Erlebnisse während des Russisch-Japanischen Krieges, sein Leben in St. Petersburg und auf Sably bis zum Jahr 1918 eingegangen (S. 141–180). Danach beschäftigt sich der Autor mit der Geschichte der Dekabristen (S. 181–222). Der letzte Teil enthält eher gemischte Themen, die nicht in Verbindung zueinander stehen (die Kunstsammlung der Familie Davydov, die Freimaurer in Russland, S. 223–250). Davydova, Marianna Adrianovna, geborene Lopuchina, wurde 1871 in Gouvernement Kiev auf einem Gut der Familie Lopuchin geboren. Die Mutter, Ol’ga Ivanovna Orlova, und der Vater, Adrian Adrianovicˇ Lopuchin, hatten ihre Familiengüter in der Ukraine. Marianna hat die Möglichkeit gehabt, Anfang der 1890er Jahre Malerei an der Acad8mie Julien in Paris zu studieren. 1899 heiratete sie Lev Alekseevicˇ Davydov (1870–1935). Er war ein Enkel des Dekabristen Vasilij L’vovicˇ Davydov, somit auch mit Aleksandr Davydov verwandt.952 Das Paar verbrachte einen Teil des Jahres in Carskoe Selo und einen Teil in Kamenka, dem Familiengut der Davydov. Nachdem ihr Mann 1914 in den Krieg zog, lebte sie mit ihrer Tochter Aljena in Kiev und floh nach der Ankunft der Bol’sˇeviki nach Odessa. Von hier aus emigrierte die Familie über Konstantinopel und Rom nach Paris im Jahre 1919. Dort lebten sie zunächst bis 1924, allerdings zwang sie die schlechte finanzielle Situation zum Umzug zu ihrer Schwester Juliette nach Concarneau in der Bretagne, wo auch ihre Eltern lebten und verstarben. Erst 1932 kehrte Marianna nach Paris zurück. Im Jahre 1949 zog sie in die USA, wo sie 1961 verstarb (Long-Island/New York).953 Die Herausgeberin der Memoiren, Olga Davydoff Dax, beschrieb im Vorwort die Entstehungsgeschichte der Aquarelle und des Textes. Alle Zeichnungen und das Originalmanuskript ihrer Erinnerungen seien in Russland verloren gegangen. Davydova malte und schrieb erneut, als sie in der Bretagne zwischen 1924 und 1932 lebte, v. a. um ihrer Enkelin über Russland, wie sie es erlebt hatte, zu berichten.954 Die Bilder sind nicht genauer datiert, sie wurden lediglich mit einem Untertitel auf Französisch oder Russisch von Marianna Davydova ver952 Vgl. Olga Davidoff Dax: Vorwort, in: Davidoff, Auf dem Lande, S. 7–9, hier S. 7, auch Stammbaum der Familie Davydov, in: ebd., S. 158f. 953 Vgl. ebd., S. 9. 954 Vgl. ebd.

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sehen. Die Erinnerungen erschienen im Jahre 1986 im Londoner Verlag Thames and Hudson und im New Yorker Verlag H.N. Abrams.955 Eine deutsche Übersetzung erschien im selben Jahr im Gustav Lübbe Verlag: »Mariamna Davidoff: Auf dem Lande. Erinnerungen einer russischen Gutsherrin, Bergisch Gladbach 1986«. Auf Französisch erschienen die Erinnerungen unter dem Titel: »Journal d’une femme russe avant la r8volution, Paris 1987«. Neben einem Vorwort der Herausgeberin Olga Davydoff Dax und einem Stammbaum der Familie Davydov besteht das Buch aus drei Kapiteln: 1) »Kindheit in Matussow«, S. 11–55, 2) »Leben auf Kamenka«, S. 57–125, 3) »Dubrowa, Krieg und Revolution«, S. 127–157. Dolgorukova, Fürstin Varvara Aleksandrovna, verheiratete Kocˇubej, wurde als letzte von sechs Kindern im Jahre 1885 geboren. Der Vater, Fürst Aleksandr Sergeevicˇ Dolgorukov (1841–1912), war ein Diplomat und Oberhofmarschall, außerdem Mitglied des Staatsrates und Oberzeremonienmeister. Die Mutter von Varvara war Ol’ga Petrovna, geborene Gräfin Sˇuvalova (1848–1927). Dank dieser Verbindung gehörten die Dolgorukovy zu den reichsten Familien Russlands.956 Verheiratet war Varvara Dolgorukova ab 1910 mit Nikolaj Vasil’evicˇ Kocˇubej (1885–1947).957 Das Paar hatte einen Sohn, Arkadij, der mit der Mutter nach der Revolution zunächst nach Kiev, dann nach Novocˇerkassk, Rostov und schließlich wieder nach Kiev floh. Über die Krim emigrierten sie im Mai 1919 nach Italien. Gestorben ist die Fürstin in Rom im Jahre 1980. Ihre Autobiographie wurde erstmals 1976 in italienischer Sprache veröffentlicht unter dem Titel »I Quaderni« in Mailand. Zwei Jahre später erschien eine Übersetzung auf Französisch im Rahmen der Buchreihe »Si 1900 m’8tait cont8«: »Varvara Dolgorouki: Au Temps des Troxka 1885–1919, Paris 1978« bei der »Pdition France-Empire«. Nach Angaben des Herausgebers Claude Pasteur habe die Autorin nach Fertigstellung des Textes Kopien an die auf allen fünf Erdteilen lebende Familie verschickt, danach sei das Manuskript durch die Hände verschiedener Archivare, Bibliothekare und Historiker gewandert, bis schließlich ein Verleger Gefallen an ihm gefunden hatte.958 Der Aufbau ist chronologisch und thematisch, wobei die Autobiographie mit 955 Vgl. Mariamna Davydoff: Memoirs of a Russian Lady. Drawings and Tales of Life before the Revolution, New York 1986; dies.: On the Estate. Memoirs of Russia before the Revolution, London 1986. Eine Neuauflage erschien im Jahre 2011. 956 Vgl. S.L. Kravec: Dolgorukovy, in: Bol’sˇaja rossijskaja e˙nciklopedija, Bd. 9, Moskau 2007, S. 214. 957 Vgl. S.L. Kravec: Kocˇubei, in: Bol’sˇaja rossijskaja e˙nciklopedija, Bd. 15, Moskau 2010, S. 534; P.N. Petrov : Istorija rodov russkogo dvorjanstva. Knjaz’ja i dvorjane Kocˇubei, Moskau 2010, S. 549. 958 Vgl. Dolgorouki, Au Temps des Troxka, S. 11.

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den »klassischen« Themen »Kindheit, Familie und Landleben« beginnt (S. 15– 35), gefolgt von den Überlegungen zu »Religiosität und Gebräuchen« (S. 36–62). Es folgen die Kapitel zur den »Jugendjahren, Leben am Hof, das Jahr 1905« (S. 63–83), daran schließen sich die Erinnerungen an »Duma, Heirat, Leben auf Andreevka« (S. 85–124) an. Zuletzt werden die Themen »Erster Weltkrieg, Februarrevolution, Abdankung des Zaren, Flucht und Emigration« behandelt (S. 125–166, Anhang S. 169–190). Golicyna, Fürstin Vera Viktorovna wurde im Jahre 1862 in Slavgorod geboren. Die Mutter war Elizaveta Nikolaevna, geborene Annenkov (1840–1886); der Vater Fürst Viktor Vasil’evicˇ Golicyn (1835–1885) war Adelsmarschall in Achtyrka, in der Nähe von Slavgorod. Sie war nie verheiratet und verstarb im Jahre 1943 in Nizza. In Südfrankreich verfasste Golicyna ihre Autobiographie, die unter dem Titel »Princesse V8ra Galitzine: R8miniscences d’une Pmigr8e 1865–1920« in Paris im Jahre 1925 erschien. Der Aufbau ist chronologisch und lässt sich in folgende Abschnitte unterteilen: »Großeltern, Eltern und die eigene Kindheit« (S. 5–36), »Alexander II., Alexander III. und die Einführung in die Gesellschaft« (S. 37– 76), »Bildungsreisen nach Europa und Asien, Zeitgenossen« (S. 77–148), »Nikolaj II.« (S. 149–192), »Der Erste Weltkrieg, Ende des Zarenreiches, Provisorische Regierung, Emigration« (S. 192–233). Naumov, Aleksandr Nikolaevicˇ wurde 1868 in Simbirsk geboren, gestorben ist er als 82-jähriger im Jahre 1950 in Nizza. Seine Eltern gehörten alten Adelsgeschlechtern an: Vater Nikolaj Michajlovicˇ Naumov, Mutter Praskov’ja Nikolaevna, geborene Fürstin Uchtomskaja. Das Studium absolvierte er an der Juristischen Fakultät der Moskauer Universität; danach bekleidete er verschiedene Ämter im Zemstvo in Stavropol’ (Gouvernement Samara). Von 1905 bis 1915 hatte er den Posten des Adelsmarschalls von Samara inne. Von 1915 bis 1916 war er als Minister für Landwirtschaft tätig.959 Verheiratet war Naumov ab 1898 mit Anna Konstantinovna, geborene Usˇkova, mit ihr hatte er sechs Kinder. Der Weg ins Exil führte die Familie erst auf die Krim 1918–1919, dann 1920 nach Konstantinopel und später nach Marseille und Nizza. Die zweibändige Autobiographie »Aleksandr N. Naumov : Iz ucelevsˇich vospominanij, 1868–1917, New York 1954« (»Aus verbliebenen Erinnerungen«) schrieb er in Nizza; dabei wurden eigene Notizen und Tagebücher als Grundlage benutzt. Herausgegeben wurde die Autobiographie von der Ehefrau und der Tochter Ol’ga Aleksandrovna Kusevickaja, gedruckt wurde sie im »Russian Printing House New York«. Der Aufbau ist chronologisch und der erste Band 959 Vgl. Barinova, Rossijskoe dvorjanstvo v nacˇale XX veka, S. 91f.

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beinhaltet folgende Abschnitte: Kindheit, Gymnasialjahre, Studium (Teil 1–2, S. 1–134); Zemstvo, Samara, Berufsleben bis 1905 (Teil 3–5, S. 135–377). Der zweite Band besteht aus: Das Jahr 1905/06, Dumatätigkeit (Teil 6–8, S. 1–257), die Jahre 1914–1915 (Teil 9, S. 258–465), die Jahre 1915–1916 (Teil 10, S. 466– 567). Obolenskij, Fürst Sergej Platonovicˇ wurde 1890 in St. Petersburg geboren. Der Vater war der General Platon Sergeevicˇ Obolenskij, Fürst Obolenskij-Neledinskij-Meleckij, die Mutter Fürstin Marija Konstantinovna Narysˇkina. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1913 trug der Sohn den Familiennamen ObolenskijNeledinskij-Meleckij. Er hatte einen Bruder, Vladimir.960 Sergej Obolenskij absolvierte einen Teil seiner Ausbildung in Oxford/England. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges kehrte er nach Russland zurück und diente als Offizier in der Kavalleriegarde. Er wurde dreifach mit dem St.-Georgs-Kreuz ausgezeichnet. Während des Bürgerkrieges kämpfte er aktiv auf Seiten der Weißen.961 Nach dem Scheitern der weißen Bewegung emigrierte er erst in die Schweiz, dann nach Großbritannien, bis er in Amerika beruflich Fuß fassen konnte und im Jahre 1932 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er für die USA und wurde Oberstleutnant bei den US-Fallschirmjägern. Zudem war er für den OSS (Office of Strategic Services, Vorläufer der CIA) tätig. Nach dem Krieg arbeitete er im Hotelbusiness der Familie Astor ; im Jahre 1958 wurde er zum Vizepräsidenten der Hilton Hotels Corporation ernannt.962 Der Fürst war ab 1916 in erster Ehe mit Ekaterina Aleksandrovna Jur’evskaja Barjatinskaja (1878–1959), Tochter des Zaren Alexander II. aus der morganatischen Ehe mit Fürstin Ekaterina Michajlovna Dolgorukaja, verheiratet. Das Paar ließ sich 1924 scheiden. In zweiter Ehe heiratete Sergej Obolenskij im Jahre 1924 die Amerikanerin Ava Alice Muriel Astor, mit der er zwei Kinder, Ivan und Sylvia, hatte. Die Scheidung folgte 1932. Im Jahre 1971 heiratete er zum dritten Mal Marilyn Fraser Wall. Verstorben ist Sergej Obolenskij 1978 in Grosse Pointe, Michigan. Seine Autobiographie »Prince Serge Obolensky : One Man in His Time. The Memoirs of Serge Obolensky« erschien 1958 in New York im Verlag McDowell. Der Aufbau ist chronologisch und lässt sich in drei große Teile aufteilen. Der erste Teil befasst sich mit den Vorfahren, Kindheit und Jugendjahren sowie der Ausbildung in England (Kapitel 1–3), der zweite Teil beinhaltet den Ersten

960 Vgl. Stark, Dvorjanskaja sem’ja: iz istorii dvorjanskich familij Rossii, S. 152f. 961 Vgl. Vitalij Zˇumenko: Belaja Armija. Fotoportrety russkich oficerov 1917–1922, Paris 2007, S. 147, 529. 962 Vgl. Obolensky, One Man in His Time, S. 273, 314, 318.

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Weltkrieg, die Revolution und den Bürgerkrieg (Kapitel 4–5) und der dritte Teil ist der Emigration und dem Leben in Amerika gewidmet (Kapitel 6–7). Skarjatina, Irina Vladimirovna wurde 1888 in Troickoe in Zentralrussland, Orel-Gebiet, geboren. Der Vater war Vladimir Vladimirovicˇ Skarjatin und die Mutter Fürstin Marija Michajlovna Lobanova-Rostovskaja. Sie verließ erst 1922 Sowjetrussland Richtung England und etablierte sich später als Schriftstellerin und Journalistin in den USA. In Russland war sie mit dem Grafen Aleksandr Keller verheiratet, aber das Paar ließ sich scheiden. Im Exil heiratete sie im Jahre 1926 Victor F. Blakeslee, einen Marineoffizier, der während der Stalin-Zeit als Botschaftsmitarbeiter in der Sowjetunion arbeitete. Verstorben ist Irina Skarjatina im Jahre 1962. Die Autobiographie »A World Can End, New York 1931« beinhaltet Erinnerungen aus der Kindheit und Jugendzeit (Teil 1); die Revolutionsgeschehnisse, basierend auf eigenen Tagebucheinträgen, in Petrograd von 5. März 1917 bis 25. Februar 1918 (Teil 2); ergänzt durch Erlebnisse in Russland bis zur Emigration im Jahre 1922 (Teil 3). Folgende Publikationen erschienen neben der Autobiographie: »A World Begins, New York 1932« (Neuauflage 2007); »First to Go Back. An Aristocrat in Soviet Russia, London 1934«; (eher als Roman angelegt) »Little Era in Old Russia, Indianapolis 1934«; »Tamara: A Novel of Imperial Russia, New York 1942«; zusammen mit ihrem Mann Victor F. Blakeslee: »New Worlds for Old, Indianapolis 1945«. Trubeckoj, Fürst Sergej Evgen’evicˇ wurde im Jahre 1890 in Moskau geboren. Der Vater, Fürst Evgenij Nikolaevicˇ Trubeckoj (1863–1920) verfasste selbst ausführliche Erinnerungen.963 Die Mutter Vera Aleksandrovna war eine geborene Fürstin Sˇcˇerbatova.964 Trubeckoj erhielt zunächst im elterlichen Haus in Kiev Unterricht, im Jahre 1905 begann er seine gymnasiale Ausbildung in Kiev und danach in Moskau. Die Familie reiste oft und gern ins Ausland. Er studierte an der Historisch-Philosophischen Fakultät in Moskau und unterrichtete dort auch. Während des Ersten Weltkrieges hatte er verschiedene Positionen hinter der Front beim »Allrussischen Zemstvobund für kranke und verwundete Soldaten« (Vserossijskij Zemskij Sojuz pomosˇcˇi bol’nym i ranenym soldatam) inne. Im Revolutionsjahr 1917 lebte er in Petrograd und später in Moskau und war in verschiedenen Bereichen des Zemstvobundes tätig. Im Jahr 1920 wurde er verhaftet und erst am Anfang des Jahres 1922 entlassen. Bereits im Sommer 1922 963 Vgl. Kn. Evg. N. Trubeckoj: Vospominanija, Sofia 1921. 964 Vgl. Stark, Dvorjanskaja sem’ja: iz istorii dvorjanskich familij Rossii, S. 152f.; A.V. Trubeckoj: Rossija vosprjanet: Knjaz’ja Trubeckie, Moskau 1996.

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erfolgte eine erneute Verhaftung und im September die Ausweisung aus dem Land. Auf einem der »Philosophenschiffe« ging er mit seiner Familie ins Exil.965 Die erste Station des Exils führte ihn zunächst nach Berlin, wobei die Mutter und die Schwester nach Baden in der Nähe von Wien zu anderen Verwandten zogen. Dann zog er weiter nach Paris, wo sein Bruder Aleksandr lebte.966 Geheiratet hat Sergej Trubeckoj die Fürstin Marija Nikolaevna Gagarina (1897– 1984) im Jahre 1923 im Exil. Zwischen 1922 und 1938 war er für die Generäle Aleksandr P. Kutepov und Evgenij K. Miller bis zum Zeitpunkt ihrer Entführung aus Paris in die Sowjetunion im Jahre 1930 bzw. 1937 tätig.967 Ab 1938 war er als Publizist und Übersetzer in Paris tätig. Gestorben ist Sergej Trubeckoj im Jahre 1949 in Frankreich.968 Der erste Teil der Autobiographie »Sergej E. Trubeckoj: Minuvsˇee, Paris 1989« (»Vergangenes«) entstand im Winter 1939/1940, während Sergej Trubeckoj in einem Vorort von Paris lebte.969 Der zweite Teil der Memoiren entstand 1944 in Clamart, unweit von Paris. Die Autobiographie erschien im Verlag YMCA-Press in der Reihe »Vserossijskaja memuarnaja biblioteka: Serija: Nasˇe nedavnee« (»Russländische Memoiren-Bibliothek, Serie: Unsere jüngste Vergangenheit«). Die zweite Auflage erschien im Jahre 1991 in Moskau. Der Aufbau ist chronologisch, dabei befasst sich der erste Teil mit der Kindheit, der Erziehung und den Vorgängen bis 1914; dann folgt der Erste Weltkrieg; der dritte Teil behandelt die Russische Revolution in der Stadt und auf dem Land; der vierte Teil beinhaltet die Verhaftung und die Gefängniszeit während der ersten Jahre nach 1917 und schließlich den Weg ins Exil im Jahre 1922. Vasil’cˇikov, Fürst Boris Aleksandrovicˇ wurde 1860 auf dem Familiengut Vybiti im Gouvernement Novgorod geboren. Sein Vater war Fürst Aleksandr Ilarionovicˇ Vasil’cˇikov, ein bekannter Liberaler, Zemstvo-Aktivist und Publizist in den 1860er–1870er Jahren. Die Mutter Evgenija Ivanovna, geborene Senjavina, starb zwei Jahre nach seiner Geburt. Die Familie besaß neben umfangreichem Grundbesitz auch mehrere Zucker- und Destillationsfabriken.970 965 Vgl. V.G. Makarov/V.S. Christoforov : Passazˇiry »filosofskogo parochoda« (sud’by intelligencii, repressirovannoj letom – osen’ju 1922 g.), in: Voprosy filosofii 7, 2003, S. 113–137, hier Anhang unter Nr. 67. 966 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 290f. Von Paris aus veranlasste er die Herausgabe eines Teils der Erinnerungen seines Vaters über den Bürgerkrieg: Kn. E.N. Trubeckoj: Iz putevych zametok bezˇenca, Berlin 1926. 967 Vgl. Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 127; Hassell, Russian Refugees in France and the United States, S. 51ff.; Beaune Danielle: L’enlHvement du G8n8ral Koutiepoff: Documents et commentaires, Aix-de-Provence 1998. 968 Trubeckoj, Minuvsˇee, S. 3f. (Vorwort). 969 Vgl. ebd., S. 136, 153, 75. 970 Vgl. Vorwort von G.I. Vasil’cˇikov, in: Vasil’cˇikov, Vospominanija, S. 5, 7.

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Biographische Angaben zu den Autoren

Boris Vasil’cˇikov war nach Beendigung der Kaiserlichen Juristischen Universität in St. Petersburg im Jahre 1881 im Justizministerium tätig. Lange Zeit war er in lokalen Zemstvo-Einrichtungen und als Adelsmarschall aktiv. Dann wurde er zum Gouverneur von Pskov ernannt (1900–1903), einige Jahre später arbeitete er in der Regierung Stolypin (1906–1908), zudem war er ein Mitglied des Staatsrats (1906–1917). Vor und während des Ersten Weltkrieges hatte er verschiedene Posten beim Roten Kreuz inne. Nach der Revolution 1917 wurde er einige Male in Haft genommen und wieder entlassen; danach beschloss er, mit seiner Frau, Fürstin Sof ’ja Nikolaevna Mesˇcˇerskaja, im Frühjahr 1919 zu emigrieren. Über Finnland und England kamen sie in Südfrankreich an, wo Boris Vasil’cˇikov im Jahre 1931 auch verstarb.971 Die Autobiographie »Knjaz’ Boris Vasil’cˇikov : Vospominanija, Moskau 2003« (»Erinnerungen«) wurde mit Vorwort und Anmerkungen von seinem Neffen Georgij Ilarionovicˇ Vasil’cˇikov herausgegeben. Er war der Sohn von Ilarion Sergeevicˇ Vasil’cˇikov, der das Manuskript nach Russland zur Publikation gegeben hatte. Ebenfalls von Georgij I. Vasil’cˇikov wurden die Erinnerungen seines Vaters herausgegeben (s. u.). Der Aufbau ist thematisch und der Inhalt lässt sich in drei Teile gliedern. Der erste Teil umfasst die Erinnerungen an die Vorfahren, die Eltern und das »Adelsnest« mit ausführlichen Jagdbeschreibungen (die über 30 Seiten einnehmen) sowie Ausführungen zum russischen Adel (Teil 1–4); der zweite Teil befasst sich vor allem mit dem Berufsleben und gesellschaftlichem Engagement (Teil 5–6); der dritte Teil beinhaltet »Kriege und Revolutionen«, d. h. der Autor geht auf drei Kriege ein, die er erlebt hat und auf die russische Revolution 1905/06, ohne auf die Revolutionen 1917 einzugehen (Teil 7–8). Die Autobiographie beinhaltet keine Erinnerungen an die Zeit nach 1917 und scheint aufgrund der Tuberkulose-Erkrankung und des folgenden Todes des Autors nicht zu Ende geschrieben worden zu sein. Vasil’cˇikov, Fürst Ilarion Sergeevicˇ wurde 1881 in St. Petersburg geboren. Der Vater war Fürst Sergej Ilarionovicˇ Vasil’cˇikov, die Mutter Marija Nikolaevna, geborene Isakova. Nach einer kurzen Station in Pjatigorsk zog die Familie nach Carskoe Selo um. Dort besuchte er das Nikolaevsk-Gymnasium, das er 1899 mit einer Auszeichnung in Gold abschloss. Danach fing das Jurastudium in St. Petersburg an, das er mit einer Auszeichnung 1903 bestand. Ab 1906 war er im Justizministerium tätig. Im Jahre 1909 heiratete er Lidija Leonidovna Vjazemskaja, mit der er fünf Kinder hatte.972 971 Vgl. ebd., S. 5ff. 972 Die »berühmteste« Tochter war Tatiana Metternich, die ihrerseits zahlreiche Bücher über Russland publiziert hat, z. B. Tatiana Metternich-Wassiltchikov: Keime der Hoffnung. Das wahre Russland, München 1991; Tatiana Metternich: Bericht eines ungewöhnlichen Lebens, Augsburg 1981.

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Im Jahre 1909 wurde er zum Adelsmarschall im Gouvernement Kovno gewählt. Ab dem Jahr 1912 war er Mitglied der vierten Staatsduma. Am Anfang des Ersten Weltkriegs befand er sich an der Front, Ende 1915 kehrte er nach Petrograd zurück. Nach der Februarrevolution wurde er in die Provisorische Regierung gewählt. In seiner Funktion als Mitglied der Hauptverwaltung des Roten Kreuzes ab Juli 1917 gelang ihm deren Reorganisation erst in Russland, dann später in der Emigration. Des Weiteren kämpfte er erfolgreich für die Wiedereinführung des Patriarchats in Russland.973 Im April 1919 emigrierte die Familie Vasil’cˇikov über die Krim, Konstantinopel und Malta zunächst nach Marseille. Im Exil war er politisch und journalistisch aktiv, u. a. im »Russischen Parlamentarischen Komitee« in Berlin. In Paris arbeitete Ilarion Vasil’cˇikov eine Zeitlang für die Zeitung »Vozrozˇdenie« (»Wiedergeburt«).974 Im Jahre 1932 kehrte er zunächst mit der Familie nach Litauen zurück, wo sich noch Landbesitz der Familie befand. Später emigrierten seine Frau und sein Sohn allein in den Westen. Ilarion Vasil’cˇikov floh erst 1940 nach Deutschland, wo er erst in Berlin, später in Baden-Baden lebte. Verstorben ist Vasil’cˇikov im Jahre 1969 in Ebersteinburg (Baden-Baden). Die Autobiographie »Ilarion Sergeevicˇ Vasil’cˇikov : To, cˇto mne vspomnilos’…: vospominanija knjazja Ilariona Sergeevicˇa Vasil’cˇikova, Olma-Press, Moskau 2002« (»Das, woran ich mich erinnere…«) wurde vom Sohn Georgij Ilarionovicˇ Vasil’cˇikov herausgegeben und mit einem Vorwort und Anmerkungen versehen. Von diesem stammt ebenfalls eine kurze Abhandlung über die Vorfahren der Familie Vasil’cˇikov.975 Der Aufbau ist chronologisch und in drei Teile gegliedert. Der erste Teil beinhaltet die Erinnerungen an die Vorfahren, die Eltern und die eigene Kindheit, der zweite Teil bezieht sich v. a. auf den beruflichen Werdegang (ca. 1908–1916) und der dritte Teil umfasst die Ereignisse der Jahre 1917–1919. Vasil’cˇikova, Fürstin Lidija Leonidovna, geborene Vjazemskaja, wurde 1886 auf dem Gut Lotarevo im Gouvernement Tambov als drittes Kind und einziges Mädchen geboren. Der Vater, Fürst Leonid Dmitrievicˇ Vjazemskij, war Gouverneur von Astrachan’ und Mitglied des Staatsrates. Die Mutter war Fürstin Marija Vladimirovna, geborene Levasˇova. Vasil’cˇikova hatte drei Brüder, Boris (1883–1917), Dmitrij (1884–1917) und Vladimir (1889–1960), die eine wichtige Rolle in ihrer Autobiographie spielen. Nach der Kindheit auf dem Familiengut Lotarevo lebte sie seit 1890 in St. Petersburg, wo sie ein Mädchengymnasium 973 Vgl. Vorwort von G.I. Vasil’cˇikov, in: Vasil’cˇikov, To, cˇto mne vspomnilos’, S. 5ff. 974 Vgl. Weiss, Das Russland zwischen den Zeilen, S. 86, Fußnote 69. 975 Vgl. G.I. Vasil’cˇikov : Indris – flandrskie krestonoscy, in: Vasil’cˇikov, To, cˇto mne vspomnilos’, S. 8–12.

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besuchte. Während des Russisch-Japanischen Krieges arbeitete sie beim Roten Kreuz zusammen mit ihrer Mutter. Im Jahre 1906 konnte sie ein Jahr lang in Oxford (England) studieren. Im Jahre 1909 heiratete sie den Fürsten Ilarion Sergeevicˇ Vasil’cˇikov. Ab dem Kriegsjahr 1914 arbeitete sie beim Roten Kreuz, organisierte ein mobiles Lazarett und fuhr mit ihm zur Front, wo sie weiterhin als Krankenschwester arbeitete. Nach der Oktoberrevolution floh sie mit ihrer Familie auf die Krim. Im Mai 1918 versuchte die Fürstin in Moskau und St. Petersburg, etwas vom Familienbesitz zu retten, wurde dabei verhaftet und für einige Tage ins Gefängnis gebracht. Nach der Freilassung fuhr sie wieder auf die Krim, um im April 1919 mit ihrer Familie über Konstantinopel und Malta nach Marseille zu emigrieren. Nach einer Zwischenstation in Paris kehrte sie zunächst mit ihrem Mann im Jahr 1934 nach Litauen (früheres Gouvernement Kovno) auf das Familiengut des Ehemannes zurück. Sie floh bereits vor dem Vorrücken der Roten Armee nach Italien, dann nach Berlin zu ihrem Mann, mit dem sie dann nach Baden-Baden umzog. Die Fürstin musste 1941 zu ihrer Tochter Tatiana Metternich nach Böhmen fliehen. Sie zog 1948 nach Paris, wo sie durch einen Autounfall im selben Jahr verstarb. Die Autobiographie »Lydia Wassiltschikow : Verschwundenes Russland. Die Memoiren der Fürstin Lydia Wassiltschikow, 1886–1919, Wien u. a. 1980« wurden aus dem Englischen übersetzt und von der Tochter, Tatiana Metternich, herausgegeben. Die Autobiographie wurde auch ins Russische übersetzt und erschien 1995 unter dem Titel »L.L. Vasil’cˇikova: Izcˇeznuvsˇaja Rossija: Vospominanija knjagini Lidii Leonidovny Vasil’cˇikovoj, 1886–1919, St. Petersburg 1995« (deutscher Titel wie oben). Der Aufbau des Textes ist weitgehend chronologisch und orientiert sich am Lebenslauf und an historischen Ereignissen. Der erste Teil umfasst die Erinnerungen an die Kindheit, die Eltern, Erziehung und Ausbildung, außerdem den Russisch-Japanischen Krieg, die Duma und das Stadtleben in Moskau und St. Petersburg (Kapitel 1–7); der zweite Teil beinhaltet die Heirat, die Familie des Ehemannes, die Auslandsreisen (Kapitel 8–11); der dritte Teil befasst sich mit dem Ersten Weltkrieg, den beruflichen Tätigkeiten, den Revolutionen 1917 und den Ereignissen in den Städten (Kapitel 12–20). Der vierte Teil behandelt schließlich den Weg ins Exil (Kapitel 21–22). Vonljarljarskaja, Nadezˇda Dmitrievna, geborene Nabokova,976 wurde im Jahre 1882 geboren. Der Vater, Dmitrij Nikolaevicˇ Nabokov (1827–1904), war Justizminister 1878–1885 unter den Zaren Alexander II. und Alexander III. Die Mutter 976 Nadezˇda Vonljarljarskaja war die Tante des Schriftstellers Vladimir Nabokov. Ihr Bruder, Vladimir Dmitrievicˇ Nabokov, war ein bekannter Liberaler, Publizist und Dumaabgeordneter.

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war Marija Ferdinandovna Korf (1842–1925). Nadezˇda heiratete den Fürsten Dmitrij Vladimirovicˇ Vonljarljarskij; diese Ehe wurde 1920 geschieden. Der Schwiegervater, Vladimir Michajlovicˇ Vonljarljarskij, hat selbst eine Autobiographie verfasst.977 Im Jahre 1920 emigrierte sie mit ihrer Tochter, Sofija Vonljarljarskaja, nach London, da sie dort Verwandte und zahlreiche Bekannte hatte. Sie erteilte Französischunterricht und erledigte auch Übersetzungen, später kam die Arbeit als Auslandskorrespondentin hinzu. Verstorben ist Nadezˇda Vonljarljarskaja 1954 in der Schweiz. Die Autobiographie »Nadine Wonlar-Larsky : The Russia That I Loved« erschien erst in London im Jahre 1937 und in der zweiten Auflage 1952. Der Aufbau ist chronologisch. Der erste Teil beinhaltet die Erinnerungen an die Kindheit, das Adelsnest Batovo, die Erziehung und die Jugendzeit (Kapitel 1–8); der zweite Teil beginnt mit ihrer Verantwortung für das Gut Batovo mit 17 Jahren, ihrer Einführung bei Hof und schließt mit ihren Beobachtungen des Land- und Stadtlebens (Kapitel 9–11). Der dritte Teil behandelt die Eheschließung, das gesellschaftliche Leben in St. Petersburg und die Auslandsaufenthalte (Kapitel 12–17). Der vierte Teil beginnt mit dem Russisch-Japanischen Krieg und seinen Auswirkungen und beinhaltet verschiedene Aspekte bis zum Ausbruch der Februarrevolution 1917 (Kapitel 18–24). Der letzte Teil ist dem Revolutionsjahr 1917 und ihren Erlebnissen bis zur Flucht gewidmet (Kapitel 25–26).

977 Vgl. Vladimir M. Vonljarljarskij: Moi vospominanija, 1852–1939 gg., Berlin 1939.

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Band 5: Kerstin Hinrichsen

Imperial Desert Dreams

Die Erfindung der Ziemia Lubuska

Cotton Growing and Irrigation in Central Asia, 1860–1991 2017. 536 Seiten, gebunden € 70,– D / € 72,– A / € 59,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0786-6

Konstruktion und Aneignung einer polnischen Region 1945–1975 2017. 354 Seiten, mit 12 Abbildungen, gebunden € 50,– D / € 52,– A / € 39,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0654-8

Band 7: Dennis Dierks

Nationalgeschichte im multikulturellen Raum

Band 4: Diana Ordubadi Die Billings-Saryčev-Expedition

Serbische Erinnerungskultur und konkurrierende Geschichtsentwürfe im habsburgischen Bosnien-Herzegowina 1878–1914

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Band 6: Carola Lau

Band 3: Moritz Florin

Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur nach 1989

Kirgistan und die sowjetische Moderne

Institute für nationales Gedenken im östlichen Europa im Vergleich

2015. 309 Seiten, mit 21 Abbildungen, gebunden € 50,– D / € 52,– A / € 39,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0313-4

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Eine Forschungsreise im Kontext der wissenschaftlichen Erschließung Sibiriens und des Fernen Ostens

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www.v-r.de