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German Pages 498 Year 1998
RAINER BEISENWENGER
Der nichtwettbewerbliehe Boykott
Schriften zum Bürgerlichen Recht
Band 218
Der nichtwettbewerbliehe Boykott Rechtliche Aspekte des gesellschaftlichen Einflusses auf den Marktverkehr
Von Rainer Beisenwenger
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Beisenwenger, Rainer: Der nichtwettbewerbliche Boykott: rechtliche Aspekte des gesellschaftlichen Einflusses auf den Marktverkehr / von Rainer Beisenwenger. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum bürgerlichen Recht; Bd. 218) Zugl.: Erlangen, Nümberg, Univ., Diss., 1997/98 ISBN 3-428-09542-1
D29
©
Alle Rechte vorbehalten 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 3-428-09542-1
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
e
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1997/1998 von der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank: gilt Herrn Prof. Dr. Klaus Vieweg ft1r die Betreuung dieser Arbeit und die Erstellung des Erstgutachtens. Seine Offenheit in der juristischen Diskussion während meiner jahrelangen Mitarbeit am Institut ft1r Recht und Technik an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg hat mich beeindruckt. Dank: schulde ich weiterhin Herrn Prof. Dr. Winfried Veelken ft1r die zUgige und engagierte Erstellung des Zweitgutachtens. Bei Christian Paul möchte ich mich ft1r die tatkräftige UnterstUtzung bei der Drucklegung der Arbeit bedanken. Mein Dank: gilt auch Herrn Prof. Dr. Norbert Simon rur die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe. Rechtsprechung und Literatur wurden bis einschließlich September 1997 berücksichtigt. Nürnberg, August 1998
Rainer Beisenwenger
Inhaltsveneichnis
Einleitung...................................................................................................................... 17
Teil]
Grundlagen
22
A. Geschichte und Entwicklung des Boykotts .............................................................. 24 I. Der Boykott als ambivalente Erscheinung ......................................................... 24 1. Der Boykott als intellektuelle Lynchjustiz .................................................. 25 2. Der Boykott als Mittel demokratischer Meinungsäußerung ........................ 28 3. Die Relativität des Boykotts ........................................................................ 31 11. Historischer Abriß ............................................................................................. 33 1. Der Boykott als Indikator und Katalysator gesellschaftlicher Verhältnisse 33 a) Der Ursprung der Ächtung im Mittelalter ............................................. 34 b) Der Boykott als Folge der sozialen Frage ............................................. 35 c) Der Boykott als Mittel der allgemeinpolitischen Auseinandersetzung. 37 d) Der Boykott in der Folge des zweiten Weltkrieges ............................... 38 e) Der Boykott als Reaktion aufUmweltbelastungen ............................... 41 f) Der Boykott als künftige Erscheinung .................................................. 43 2. Normierungsgeschichte ............................................................................... 45
B. Der Boykott als Arbeitsbegriff................................................................................. I. Die Notwendigkeit einer begrifflichen Konturierung ........................................ 11. Der Boykott als umfassendes kollektives ürganisationsmittel... ....................... 1. Die Notwendigkeit eines Dreiparteienverhältnisses .................................... 2. Die Eignung des Verrufs zur Willensbeeinflussung .................................... 3. Die Wertneutralität des Boykottbegriffs ...................................................... a) Die Boykottdefinition ........................................................................... b) Die Konkretisierung des Boykottbegriffs: Der nichtwettbewerbliche Bewirkungs- und Sanktionsboykott ...................................................... 111. Die Verrufserklärung .........................................................................................
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8
Inhaltsverzeichnis 1. Die Verrufserklärung im Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und zurechenbarer Kollektivierung ............................................................. 59 a) Die Individualisierung des Verrufers .................................................... 59 b) Der Adressat als Mittel zu einem konkreten Zweck: Die einseitige Willensbeeinflussung ................ ......... ......... ... ................... ...... ...... ........ 60 c) Die Boykottabsprache als wechselseitige Verrufserkillrung ................. 66 2. Die funktionale Selbstlfudigkeit des Adressaten.......................................... 68 a) Der Adressatenkreis .............................................................................. 68 b) Die Willensbeeinflussung eines beschränkten Adressatenkreises ......... 69 3. Die Individualisierung des Verrufenen ....................................................... 72
C. Der nichtwettbewerbliche Boykott .......................................................................... 75 I. Die nichtwettbewerbliche Zwecksetzung der Verrufserklärung ........................ 76 1. Das allgemeine Zivilrecht als offenes System im Vergleich zum begrenzten wettbewerbsrechtlichen System ............................................................. 76 2. Die sonderpflichtfreie Sphäre des Verrufers in Abgrenzung zur Wettbewerbsabsicht .. ...... .... .................. ... ................. ... ............ .... ......... .............. 78 a) Der außerhalb eines Wettbewerbsverhältnisses stehende Verrufer ....... 78 b) Der innerhalb eines Wettbewerbsverhältnisses stehende Verrufer........ 79 II. Der Vergleich mit ähnlichen Erscheinungen: Der Streik, die Aussperrung und der arbeitsrechtliche Boykott ...................................................................... 81 1. Die Übertragbarkeit rechtlicher Bewertungskriterien auf den nichtwettbewerblichen Boykott ........................................................................... 81 2. Der Streik, die Aussperrung und der arbeitsrechtliche Boykott als Mittel des Arbeitskampfes ..... ..... .... ... ..... ... .... ..... ... .... ..... ... ... .... ..... .... ..... .... ... .... .... 83 a) Der Streik und die Aussperrung als Boykott ......................................... 83 b) Der arbeitsrechtliche Boykott als unselbständiges Arbeitskampfinitte1... ........ 86 D. Die Komplexität der boykottbezogenen Interessen ................................................. I. Die Interessen der Hauptbeteiligten ................................................................... I. Die Interessen des Verrufers. ........ ... .... ..... .... ... ..... ... ..... .... ... .... ......... ....... .... 2. Die Interessen des Adressaten .. ... ... ........... ....... ... ..... ............ ............ ........ ... 3. Die Interessen des Verrufenen..................................................................... II. Die Interessen der Nebenbeteiligten .................................................................. I. Die Interessen der Boykottmittler ...... .... ... .... ..... ........ ... .... ... ...... ... ......... ..... 2. Die Interessen der reflexartig betroffenen mittelbar Beteiligten ................. 3. Die Interessen des Staates ........................................................................... III. Das Interessendiagramm ....................................................................................
87 88 88 89 89 90 90 90 92 93
Teil 2
Der Eingriff in die unternehmerische Sphäre
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A. Der Boykott in der Rechtsprechung und Literatur ...... ... ......... ... ........ ..... ... ..... .... ..... 96
Inhaltsverzeichnis
9
I.
Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ......................... 96 1. Der richterrechtliche Schutz der unternehmerischen Tätigkeit... ................. 96 a) Der Bestandsschutz in der Rechtsprechung des Reichsgerichts ............ 96 b) Die Erweiterung des Schutzbereichs in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs .................. ....... ... ...... ... ............ ..... .... ... ..... .... .... ..... 98 2. Die Stellungnahme der Rechtswissenschaft .... ......... ..... ............ ................ 101 11. Der Boykott als Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.............................................................................................................. 103 B. Die boykottspezifische Problemstellung................................................................ 105 I. Die Einflußnahme auf das unternehmerische Handeln als primärer Boykottzweck ............................................................................................................... 105 11. Der Boykott als Dauertatbestand im Dreiparteienverhältnis... ... .... ... ...... ... ...... 107 C. Das umfassende Recht der unternehmerischen Freiheit...... .... .... ....... ......... .... ... .... 108 I. Der Inhalt des Rechts der unternehmerischen Freiheit.. .... ....... .... ... ...... .......... 109 11. Die rechtsdogmatische Begründung der unternehmerischen Freiheit.............. 111 1. Die Redogmatisierung des zivilrechtlichen Unternehmerrechts ................ 111 a) Das Unternehmerrecht als Rechtsfortbildung ..................................... 112 b) Die Voraussetzungen der Rechtsfortbildung ....................................... 115 2. Die unternehmerische Freiheit im Grundgesetz .. .... .... ... ......... ........ ... .... ... 117 a) Die Wirtschaftsverfassung .................................................................. 117 b) Die subjektiv-rechtliche Absicherung freien Wirtschaftens ................ 119 3. Die Grundrechtsdrittwirkung .................................................................... 120 a) Die mittelbare Berücksichtigung grundrechtlicher Werte im Privatrecht .................................................................................................... 120 b) Das sonstige Recht als generalklauselartiger Tatbestand .................... 122 4. Die Schutzwürdigkeit der unternehmerischen Freiheit ............................. 125 a) Die bestandsbezogene statische Komponente der unternehmerischen Freiheit als Existenzrecht.. ... ..... ....... ... ...... ....... .... ... ...... .... ....... .... ... .... 126 b) Die erwerbsbezogene dynamische Komponente der unternehmerischen Freiheit als Existenzrecht.. ........................................................ 127 c) Die Schutzwürdigkeit der unternehmerischen Freiheit im Vergleich zu den sonstigen deliktsrechtlich geschützten Rechten und Rechtsgütern .................................................................................................. 129 5. Die unternehmerische Freiheit im Spannungsfeld zwischen absolutem Rechtsschutz und dem Schutz des Vermögens .......................................... 132 a) Die deliktsrechtliche Konzeption des Vermögensschutzes ................. 132 b) Die Publizität der unternehmerischen Freiheit.. .................................. 135 c) Tatbestandsbezogene Einschränkungen der unternehmerischen Freiheit ................................................................................................ 137 d) Rechtswidrigkeitsbezogene Einschränkungen der unternehmerischen Freiheit ...................................................................................... 142 D. Die Eingriffsmodalitäten des Boykotts .................................................................. 143
Inhaltsverzeichnis
10 I.
Isolierte Betrachtung von Verrufserklärung, Sperre, Zwecksetzung und Art und Weise der Durchftlhrung des Boykotts..... ... ..... ... .... ..... .... ... ..... .......... 143 11. Der Eingriff in die unternehmerische Freiheit zum Zeitpunkt der Verrufserklärung .......................................................................................................... 145 1. Der Boykott als Sanktion .......... ............ ... ......... ... ........................... .... ...... 145 2. Der Bewirkungsboykott ...... .... ... ......... ... ......... ........ ... .... ... ..... .... ..... .... ...... 146 a) Die bezweckte Wirkung ...................................................................... 146 b) Der Eingriff in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit .............. 147 III. Der Eingriff in die unternehmerische Freiheit zum Zeitpunkt der Sperre ........ 150 1. Das Eingriffsgut .. ... ..... ... ................ ..... ... ....... ..... ......... ...... ..... ......... .......... 150 a) Die Sperre als bestandsbezogener Eingriff in den Kundenstamm ....... 150 b) Die Sperre als erwerbsbezogener Eingriff in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit ..... ..... .... ........ ... .... ..... ............ ... .... ..... ... ........ ..... 151 2. Die Sperre als Eingriff durch die einzelnen Adressaten. ..... ....... ... ..... ....... 152 a) Der Adressat als Alleintäter ................................................................ 152 b) Der Adressat als Mittäter..................................................................... 153 3. Die Sperre als Eingriff durch die Gesamtheit der Sperrenden ................... 154 a) Isolierte Betrachtungsweise................................................................. 154 b) Kollektive Betrachtungsweise ............................................................. 154 4. Die Zurechnung des Eingriffs der Gesamtheit an den Verrufer ................ 156 a) Das Selbstverantwortungsprinzip ........................................................ 156 b) Die Untemehmerbezogenheit. ............................................................. 157 c) Die Zurechnung aufgrund gesetzlicher Vorschriften .......................... 158 d) Die normative Betrachtungsweise ....................................................... 160 e) Rechtmäßiges Alternativverhalten ...................................................... 162 IV. Zusammenfassung ........................................................................................... 163 E. Exkurs: Die berufliche und gesellschaftliche Sphäre ............................................. I. Der Eingriff in die berufliche Sphäre .... ..... ....... ........ ............................. ..... .... 1. Das Recht auf berufliche Freiheit .............................................................. 2. Der Eingriff in das Recht auf berufliche Freiheit ...................................... 11. Der Eingriff in die gesellschaftliche Sphäre..... ..... ... ... .... ........ .............. ... ....... 1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht und seine sozialen Bezüge .............. 2. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht .................................
165 165 165 167 169 169 171
Teil 3 Rechtfertigungsgründe
173
A. Der Allgemeinwohlbezug des Boykotts ................................................................ 174 I. Die Notwehr, der Notstand und das Selbsthilferecht zur Durchsetzung überindividueller Interessen ............................................................................ 174 11. Übertragbare Wertungen der Rechtfertigungsgründe ...................................... 177
Inhaltsverzeichnis
11
B. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen ...................... ...................... ................ 179 I. Der unmittelbare Anwendungsbereich der Wahrnehmung berechtigter Interessen.................... ..... ................... ......................... ............................. ....... 179 II. Der mittelbare Anwendungsbereich der Wahrnehmung berechtigter Interessen ......................................................................................................... 181
Teil 4 Die umfassende Interessenabwigung als Metbode A. Die Berücksichtigung aller konfliktbezogenen Interessen.................. ................... I. Die Interessenabwägung als Konsequenz der rahmenrechtlichen Konzeption der unternehmerischen Freiheit...... ........................ ........ ...... ........ 11. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung aller konfliktbezogenen Interessen 1. Die Berücksichtigung der Interessen des Verrufers und des Verrufenen .. 2. Die Berücksichtigung des Allgemeinwohls und der Interessen Dritter ..... a) Der Dualismus: Die richterliche Tätigkeit im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung und Streitentscheidung .. .............. ................. b) Die Eingriffshandlung: Die Durchsetzung überindividueller Interessen durch Dritte........ ................................................................ c) Die Sozialgebundenheit der unternehmerischen Freiheit.......... ..........
187 187 187 192 192 193 194 197 199
B. Der Abwägungsvorgang ........................................................................................ 202 I. Die Rechtsquellentheorien als dogmatische Grundlage einer methodengerechten Interessenabwägung ........................................................................ 202 1. Die wissenschaftliche Rechtserzeugung durch Begriffskonstruktionen (Begriffsjurisprudenz) ............................................................................... 203 2. Die Kausalität und Produktivität des Zweckgedankens für das Recht (Interessenjurisprudenz) ................ ;........................................................... 204 3. Die Rechtserzeugung durch Qualifizierung der Interessen (Wertungsjurisprudenz) ............................................................................................. 207 II. Die erste Phase der Interessenabwägung: Die Interessensammlung ................ 210 I. Das Interesse im Rechtssinn ...................................................................... 210 a) Das Interesse im engeren Sinn ............................................................ 211 b) Das Interesse im weiteren Sinn ........................................................... 212 2. Die Zuordnung der Interessen .................................... ............................... 213 a) Die Erkennbarkeit der Interessen ........................................................ 213 b) Die Zuordnung der Interessen im engeren Sinn .................................. 217 c) Die Zuordnung der Interessen im weiteren Sinn: Die Konfliktlage .... 219 III. Die zweite Phase der Abwägung: Die Interessenbewertung ............................ 223 1. Die Abwägungsskepsis............. ................................................... .............. 223 a) Bedenken gegen die Abwägung auf der Wertungsebene .................... 223 b) Alternativen zur Interessenabwägung als rechtswissenschaftliche Methode.............................. ........................................ ........................ 225
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Inhaltsverzeichnis 2. Die verobjektivierte Vorgehensweise zur Überwindung der Abwägungsskepsis .. .... ... ......... ... ..... .... ..... ....... .... ... ... ...... ... ... ............ ......... ... ......... ... ... 229 a) Die verobjektivierte Entscheidungstendenz als Ziel der rechtswissenschaftlichen Methode der Interessenabwägung.............................. 229 b) Das Willkürverbot als Gerechtigkeitskriterium ................................... 233 c) Die Bedeutung der richterlichen Eigenwertung .................................. 236 3. Die erste und zweite Ebene der Interessenbewertung................................ 239 a) Die Qualifizierung und Quantifizierung der Interessen ...................... 239 b) Die erste Ebene der Interessenbewertung: Die Ermittlung und Gewichtung der Bewertungskriterien .................................................. 243 c) Die zweite Ebene der Interessenbewertung: Die Relation ................... 246 4. Die Maßstäbe der Interessenbewertung: BerUcksichtigungsflihige Wertungen der Rechtsordnung ......................................................................... 246 a) Das Gewaltenteilungsprinzip als kompetenzrechtlicher Rahmen ........ 247 b) Die Normenhierarchie ......................................................................... 253 c) Der Verhältnism!Ißigkeitsgrundsalz und die Mittel-Zweck-Beziehung ........ 258 d) Die gegenseitige Neutralisierung der Interessensphären: Das Entscheidungskriterium ......... ..... .... ... ... .... ........ ............ ...... ... ... ...... ... .... ... 262 Teil 5
Die Bewertung des nicht-wettbewerb lichen Boykotts
270
A. Die Bewertung des Boykottaufrufs ........................................................................ 270 I. Die Projektion des grundrechtlichen Spannungsverhältnisses zwischen der unternehmerischen Freiheit und der Meinungsfreiheit in das Zivilrecht. ........ 270 I. Der Boykottaufruf im Schutzbereich des Art.5 Abs.1 GG ........................ 270 a) Die Identität des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit im Grundgesetz und im Zivilrecht. ........................................................... 270 b) Der Boykottaufruf im Spannungsverhältnis zwischen Meinungsäußerung und Meinungswirkung ......................................... 272 2. Die praktische Konkordanz im Zivilrecht: Der Ausgleich zwischen freier Marktordnung und politischer Grundordnung ................................. 2.15 11. Absolute Bewertungskriterien: Der zivilrechtliche Rechtsmißbrauch, das Schikaneverbot und der Schutz der Menschenwürde ................................ 279 I. Die Meinungsäußerung als demokratisches Grundrecht: Der Schutz der öffentlichen Willensbildung ............................................. 279 2. Der absolute Schutz der Menschenwürde ................................................. 281 III. Abstrakt-relative Bewertungskriterien ............................................................. 283 IV. Konkret-relative Bewertungskriterien ............................................................. 287 1. Die Bewertung des Meinungsinhalts und des Meinungsgegenstands ....... 288 a) Die Bewertungsneutralität bezüglich des Meinungsinhalts ................. 289 b) Die Bewertungsmöglichkeit des Meinungsgegenstands ..................... 291
Inhaitsverzeichnis
13
2. Der nichtwettbewerbliche Boykott im offenen und dynamischen System des Meinungsaustausches ..... .... ... ...... ... .... ..... .... .......... ...... ... .... .... 294 a) Das offene System der Auseinandersetzung im Verhältnis zu begrenzten Systemen. ........ ....... ...... ....... ... ...... ....... ..... .... .... ... ..... .... ..... 294 b) Die dynamische Komponente: Der Boykott als Indikator und Katalysator gesellschaftlicher Verhältnisse ......................................... 297 3. Die Legitimation zum Boykottaufruf.. ...................................................... 298 4. Der Schutz der Kollektivierung ................................................................. 302 5. Die Herausforderung: Die Bewertung des Verursacherprinzips................ 305 a) Das Kriterium des Sachzusammenhangs............................................. 305 b) Die allgemeine Herausforderungsfonnel als Zurechnungskriterium ... 308 c) Der Öffentlichkeitsbezug der unternehmerischen Tätigkeit.. .............. 309 d) Der Abwehrgedanke ............................................................................ 311 e) Der mittelbare Sekundärboykott ......... ......... ... ....... ...... ....... .... ............ 314 f) Der mittelbare politische Boykott ....................................................... 318 6. Das Monopson: Sachgerechte Auswahlkriterien zur Bestimmung des Boykottgegners ......................................................................................... 322 a) Der Monopolbezug des Boykotts ........................................................ 322 b) Der Boykott im Spannungsfeld zwischen Diskriminierung und Privatautonomie .................................................................................. 324 7. Die Mächtigkeit. ........................................................................................ 327 a) Macht und Kontrolle ........................................................................... 327 b) Die wirtschaftliche Mächtigkeit: Gesetzliche Wertungen ................... 330 c) Die politische Mitbestimmung und Chancengleichheit ...................... 333 8. Der Schaden .............................................................................................. 335 a) Die Schadensgeneigtheit des Boykotts ............................................... 335 b) Der Schaden des Verrufenen ............................................................... 338 c) Die Beeinträchtigung Dritter ..... ....... .......... ... .... .... ................ ..... .... ..... 341 9. Der Markt zwischen Regulierung und Selbstverantwortung. Die Selbstkontrolle des Marktgeschehens in der Privatrechtsgesellschaft ....... 343 a) Die Rechtmäßigkeit der untemehmerischen Tätigkeit und der Vertrauensschutz....................................................................................... 344 b) Das Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und staatlichem Zwang: Das moralische Minimum ...................................................... 348 10. Die soziale Verantwortung im Spannungsverhältnis zum unternehmerischen Risiko..... ..... ... ..... ... ........... ........ .......... ....... ..... .... .... ... .... .... ....... ...... 351 a) Soziale Verpflichtung und soziale Verantwortung .............................. 351 b) Soziale Verantwortung und Wirtschaftsliberalismus .......................... 354 c) Die Entwicklung zur sozialen und ökologischen Marktwirtschaft: Soziale Verantwortung zwischen gesetzlicher Verpflichtung und freiwilliger Selbstkontrolle .................................................................. 356 11. Die ökonomische Analyse des Rechts: Die Internalisierung externer Kosten durch den Boykott ........................................................... 361
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Inhaltsverzeichnis a) Die Identität des Sekundärinteresses des Verrufers und der Zwecksetzung der ökonomischen Analyse des Rechts .................................. 361 b) Die verbindliche Ressourcenverteilung im öffentlichen Recht und im Privatrecht ...................................................................................... 370 c) Die Integration der ÖAR in das Recht der unternehmerischen Freiheit ................................................................................................ 376 d) Die Beachtlichkeit wirtschaftsfremden Marktverhaltens: Der Wandel vom homo oeconomicus zum homo socialis ................................. 381 e) Die sekundäre Bewertungsspirale der Monetarisierung ...................... 387 t) Die Monetarisierung materieller und immaterieller externer Effekte.. 395 g) Ausblick: Die soziologische, psychologische, ökologische und politische Analyse des Rechts ...... ... ..... ... ............. ....... ... ......... ......... ... ...... 400 V. Zusammenfassung ........................................................................................... 403
B. Die Bewertung der Boykottdurchfllhrung ............................................................. 406 1. Die Doppelrelevanz der Durchfllhrungsmaßnahmen ....................................... 407 H. Absolutes Bewertungskriterium: Der Boykott als Meinungsvollstreckung ..... 409 I. Der unmittelbare Zwang auf den Verrufenen ............................................ 411 2. Der mittelbare Zwang auf den Verrufenen ................................................ 414 III. Relative Bewertungskriterien in der Einleitungsphase .................................... 420 I. Die Grundlage der Meinungsbildung ........................................................ 422 a) Die Wechselbeziehungen zwischen Werturteil und Tatsachen ........... 422 b) Die Wahrheit und Vollständigkeit der Tatsachen: Die Rechercheund Informationsobliegenheit ............................................................. 424 2. Die Kooperation als vertrauensbildende Maßnahme ................................. 429 a) Kooperation und Eskalation ................................................................ 429 b) Kooperation im nichtwettbewerblichen Boykott als Meinungskampf 431 IV. Relative Bewertungskriterien in der Phase des Boykottaufrufs ....................... 433 I. Meinungskampf und Meinungsbegründung: Die Publizität.. .................... 434 a) Die Freiheit der Meinungsbildung: Der Adressat zwischen Fremdbestimmung und Autonomie .... ...... ..... ...... ..... .... ... ..... .... ... ..... .... ... ...... 434 b) Die objektive und subjektive Grundlage der Meinungsbildung .......... 436 c) Die Sachlichkeit der Auseinandersetzung ........................................... 438 2. Der öffentliche Boykottaufruf in den Massenmedien ............................... 440 a) Der Boykott in der Kommunikationsgesellschaft ............................... 440 b) Die Rundfunk- und Pressefreiheit: Der Verantwortungsbereich des Meinungsmittlers ................................................................................ 445 3. Der physische und psychische Druck im Meinungskampf........................ 449 a) Der physische Druck ........................................................................... 451 b) Der psychische Druck ......................................................................... 452 V. Relative Bewertungskriterien in der Durchflihrungs- und Beendigungsphase ........... 456 I. Die Verfahrenskontrolle ............................................................................ 458 2. Aktive Einwirkungen in der Durchftlhrungs- und Beendigungsphase ...... 460 3. Passive Einwirkungen in der Durchfllhrungs- und Beendigungsphase ..... 463
Inhaltsverzeichnis
15
VI. ZusaIllmenfassung .. ....... ... ............. ........ ......... ... ............... ............ .............. ..... 467 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 471 Sachwortverzeichnis .................................................................................................. 491
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung I:
Das Interessendiagramm ................................................................. 94
Abbildung 2:
Der Rechtseingriff durch die Verrufserklärung und die
Abbildung 3:
Verletzung der unternehmerischen Freiheit: Die Rechtswidrigkeit ...................................................................................... 268
Abbildung 4:
Die erste und zweite Ebene der Interessenbewertung ................... 468
Sperre ............................................................................................ 164
Einleitung
Im Juni 1995 fllhrte die Entscheidung des Shell-Konzerns, die Ölplattfonn Brent Spar in der Nordsee zu versenken, zu einer in diesem Ausmaß unerwarteten "nationalen Empörung".! Der als Reaktion auf das als ökologisch unvertretbar qualifizierte Verhalten ausgerufene Boykott des Unternehmens2 gipfelte in dessen pauschaler Verurteilung und einer dem Pranger vergleichbaren Kampagne. 3
Das von Shell unterschätzte Dilemma des unternehmerischen Vorgehens verdeutlicht sich im Folgenden: Zwar wurden seitens des Konzerns neben wirtschaftlichen auch ökologische Faktoren bei der staatlich genehmigten Entscheidung berücksichtigt.4 Die öffentliche Akzeptanz insbesondere umweltbezogener Entscheidungen hängt jedoch nicht nur von deren Legalität und unternehmerischer Zweckmäßigkeit ab. Mit dem Ausmaß der bereichsspezifischen Sensibilisierung wächst das praktische Erfordernis, bereits in die unternehmerischen Entscheidungsprozesse die zu erwartenden Einwände einzubeziehen und diese in einem der abschließenden Entscheidung vorgeschalteten und transpa-
! Zuck, NJW 1996, S.570 (S.571), kritisiert in diesem Zusammenhang den "Mißbrauch unserer moralischen Geftlhle". 2 Entgegen dem in der Öffentlichkeit entstandenen Eindruck rief Greenpeace (als medienwirksamer Aktivist: Besetzung der Brent Spar etc.) bewußt nicht zum Boykott auf. Sehr frühzeitig (24.5.1995) hat aber beispielsweise der nordrhein-westfälische Landesverband der Jungen Union den Verruf erklärt, vgl. Möllers, NJW 1996, S.1374.
3 Die öffentliche Anklage des Konzerns in Deutschland dokumentiert sich in einer den Auswertungszeitraum l.Mai bis 15.Juli 1995 betreffenden Medienresonanz in Höhe von 8589. Diese ungefähr 60 Prozent der tatsächlich veröffentlichten Beiträge erfassende Zahl ergibt sich aus einer die TageszeitungenIWochentitel betreffenden Gesamtresonanz in Höhe von 6887 und einer TV-Medienresonanz in Höhe von 1702, Vgl. Mantow, S.235-237.
4 Zur internen Entscheidungsfindung bei Shell und der mit internationalen Konventionen übereinstimmenden Versenkungsgenehmigung Vgl. Johanssen, S.3f.
2 Beisenwcnger
Einleitung
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renten Verfahren zum Ausgleich zu bringen. s Die Fehleinschätzung der öffentlichen Meinung in Deutschland hatte einen hohen Preis. Die zu einer kollektiven Marktmacht verbundenen Verbraucher bewirkten nicht nur einen erheblichen UmsatzrUckgant und Imageverlusf des Unternehmens, sondern auch die Rücknahme der unternehmerischen Entscheidung, die Plattform zu versenken. 8 Der Boykott als druckvolle Organisationsmaßnahme gegen mißliebige Dritte beschränkt sich nicht auf die gesellschaftliche Kontrolle kritisierter Verhaltensweisen: Der Boykott kann beispielsweise auch als wettbewerbliche Behinderung konkurrierender Unternehmen, als verbands- und sportpolitische Maßnahme oder als völkerrechtliche Sanktion im Rahmen eines Embargos Bedeutung erlangen. Der Shellboykott bietet jedoch einen Anlaß zur "Wiederbelebung" der Rechtsprobleme des nichtwettbewerblichen Boykotts von Unternehmen: 9 Der Boykott als geschichtlich in Entwicklung befmdliches Druckmittel muß jeweils zeitgemäßen Wertungen zugetllhrt werden. Mittelalterliche Ächtungen, soziale Kämpfe im 19. Jahrhundert, Streiksituationen und politisch motivierte Sperrmaßnahmen bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts 10 können nur als AusZur besonderen Beachtlichkeit des Verfahrens vgl. im einzelnen Teil 5, B.
S
6 Zum Verlust in zweistelliger Millionenhöhe und zur Problematik der Drittwirkung des Boykotts (Betroffenheit der Tankstellenpächter) vgl. M6l1ers, NJW 1996, S.1374 (S.1377). 7 Shell mußte eine am 1.3.1995 filr 30 Millionen DM gestartete Kampagne, in der die Verantwortung filr die Umwelt herausgestellt werden sollte ("Wir wollen etwas ändern"), als Saldoposten abschreiben, vgl. M6/lers, NJW 1996, S.1374 (S.1377, Fn.56); zur Notwendigkeit der Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit und Integrität des Unternehmens nach dem Boykott vgl. Johannsen, S.5.
8
Zum Shellboykott im historischen Kontext vgl. auch Teil I, A, 11., 1., e).
9 Während der wettbewerbliehe Boykott 1991 in einer Dissertation von Schultz (Der Wandel in der rechtlichen Beurteilung des Boykotts in Deutschland - Ursachen, Gründe, Auslöser, Dissertation München, 1991) eine umfassende Betrachtung erfuhr, ist der nichtwettbewerbliehe Boykott in jüngster Zeit nur von M6l1ers, NJW 1996, S.1374 ("Zur Zulässigkeit des Verbraucherboykotts - Brent Spar und Mururora"), rechtlich gewürdigt worden. Im Rückblick ist eine boykottspezifische (rechtliche) Beschäftigung vor allem im Zusammenhang mit dem 28. Deutschen Juristentag (1908), mit Paul Oertmanns grundlegendem Werk "Der politische Boykott" (1925) und mit BVerfGE 7, 198 (Lüth) bzw. BVerfGE 25,265 (B1inkfiler) erkennbar. 10
Zur Geschichte und Entwicklung des Boykotts vgl. im einzelnen Teil 1, A.
Einleitung
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gangspunkt eines modemen Verständnisses gesellschaftlicher Auseinandersetzungen dienen. Die auf den Shellboykott bezogene Vielfalt medialer Berichterstattung bietet zudem eine in diesem Umfang neue Chance: Mit der Anzahl der auf das Streitgeschehen gerichteten und veröffentlichten Meinungen wächst die Publizität der Interessen und Wertungen, die dem Boykott als Rechtsproblem eine Kontur verleihen. Da die den Shellboykott betreffenden Umstände bei sämtlichen nichtwettbewerblichen Boykotten eine vergleichbare Relevanz aufweisen, kann eine rechtliche Untersuchung von einer umfassend offengelegten Interessenlage ausgehen. Diese muß einer Struktur zugeftlhrt werden, die gleichzeitig der Komplexität boykottbezogener Interessen und dem Anliegen der Faßbarkeit des Streitgeschehens gerecht wird. Der besondere Reiz einer rechtlichen Untersuchung des nichtwettbewerblichen Boykotts ergibt sich aus der Natur der zumeist medienwirksam aufbereiteten Kampfsituation. Mit der Anzahl der unmittelbar und mittelbar am Boykottgeschehen Beteiligten, mit dem Ausmaß der materiellen und immateriellen (Wechsel-) Wirkungen der sozialen Auseinandersetzung auf den Einzelnen und die Gesamtheit, mit der erwünschten Durchsetzung gemeinwohlbezogener Interessen und mit der Einflußnahme auf den weitgehend autonomen Marktverkehr entsteht die Gewißheit, ein zunächst isoliert erscheinendes Rechtsproblem nur im Rahmen einer "Querschnittsbetrachtung" lösen zu können. Bereits bei einer nur überschlägigen Begutachtung der Interessenlage beim Shellboykott wird in beispielhafter Weise die Schnittstelle unterschiedlicher Rechtsbereiche offenbar. Eine rein zivilrechtliche Lösung des Boykottstreits erscheint schon deswegen als femliegend, weil nicht ausschließlich individuell zugeordnete Interessen einen Ausgleich erfahren sollen: Beim Boykott werden vor allem gesellschaftliche, dem Gemeinwohl entsprechende Interessen "quasitreuhänderisch" gebündelt. Es wird daher unter anderem geklärt werden müssen, inwieweit ein zeitgemäßes Demokratieverständnis 11 , das Macht- und EinflußgeflUle der Beteiligten, politische und marktliche Kontrollmöglichkeiten, staatsbürgerliche Freiheiten l2 und weitere Faktoren der Staats- und Gesell11 Es muß überprüft werden, ob der "Konsumboykott" (Macht der Verbraucher) in der "Weltrisikogesellschaft" tatsächlich zum "demokratischen Instrument" wird, so Beck, Champagnerfreie Zone, in: ZEIT-Punkte 1995, Nr.6, S.94. 12 Dabei wird die zivi/rechtliche Wirkung der Eigentums- und Berufsfreiheit (Art.l2, 14 GG) und der einen dynamischen Diskurs absichernden Meinungsfreiheit (Art.5 Abs.l GG) von besonderer Bedeutung sein.
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schaftsverfassung eine Entscheidung im privatrechtlichen Zweiparteienstreit überlagern. Die Lösung der Boykottproblematik wird sich nicht auf die Berücksichtigung solcher rechtlicher Wertungen beschränken können, die in Gesetzen einen unmittelbaren Ausdruck gefunden haben. Auch insofern bietet der Shellboykott einen Anlaß zu konkreten Fragestellungen: Kann es zulässig sein, daß eine gesellschaftliche Gruppe Druck auf einen Unternehmer ausübt, der sich nach der geltenden Rechtsordnung rechtmäßig verhält? Können bei einer zivilrechtlichen Problembewältigung "überschießende" moralische, ethische, politische oder ökologische Anliegen berücksichtigt werden, die dem Unternehmen eine über rechtliche Verpflichtungen hinausgehende soziale Verantwortung abverlangen? Wie verhält sich der öffentlich-rechtliche Vertrauensschutz zu privat vorgetragenen Anforderungen, die keine rechtliche Verbindlichkeit aufweisen? Setzt das übergreifende Subsidiaritätsprinzip, das den in einer "Privatrechtsgesellschaft" zusammengefaßten Individuen eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung abverlangt, nicht sogar eine von verbindlichen Regeln losgelöste private Streitkultur voraus?13 Die Notwendigkeit der Verknüpfung unterschiedlicher Lebens- und Regelungsbereiche wird nicht zuletzt beim Regelfall des Boykotts offenbar: Dieser richtet sich nicht gegen die private, sondern gegen die unternehmerische Sphäre des Boykottierten. Dem "kontrollierten" Unternehmer soll durch den Boykott eine Verantwortung abverlangt werden, die rechtlich nicht durchsetzbar ist. Im autonomen Marktverkehr kann aber dann die Konformität eines entsprechenden Verlangens mit den ökonomischen Gesetzen vermutet werden, wenn sich das Marktverhalten nicht ausschließlich über individuelle Anbieter und Nachfrager defmiert. Fraglich wird daher sein, ob eine kollektivierte "Verbrauchersouveränität" mit der den tatsächlichen Streitrahmen bildenden "sozialen Marktwirtschaft" und den darauf bezogenen wirtschaftswissenschaftlichen Annahmen in Einklang zu bringen ist. Widerspricht nicht die durch den Boykott angestrebte Mitbestimmung unternehmerischer Entscheidungen einer ausschließlichen Zuordnung des unternehmerischen Risikos an den Unternehmer? Oder ist umgekehrt die intendierte Kontrolle des Marktverkehrs die Kehrseite der Möglichkeit des Unternehmers, einseitig Kosten zu externalisieren?14
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Vgl. im einzelnen Teil 5, A.. IV, 9. und 10.
14 Da der nichtwettbewerbliche Boykott unmittelbar auf marktbezogene Verhaltensweisen einer Mehrzahl Beteiligter abzielt, erscheint eine Analyse des Kampfgeschehens
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Die den nichtwettbewerblichen Boykott betreffenden Fragen können wegen dessen Vielgestaltigkeit nicht abschließend aufgezählt werden. Das Anliegen der folgenden Untersuchung besteht vor allem darin, ftlr eine Vielzahl denkbarer Konfliktfälle Wertungen aufzuzeigen, die das allgemeine Bedürfnis nach einer ,,relativen Rechtssicherheit" weitgehend befriedigen. Wenn bei den am Boykottgeschehen interessierten Kreisen - auch unter rechtlichen Aspekten ein Verständnis ftlr die Konfliktsituation geweckt und eine Verständigung über die "ungeflihr-adäquate" Gewichtung der jeweiligen Interessen erzielt werden kann, ist bereits viel gewonnen. 15
unter ökonomischen Gesichtspunkten angezeigt: Zur integrativen Berücksichtigung der "Ökonomischen Analyse des Rechts" bei der Bewertung des Boykotts vgl. im einzelnen Teil 5, A., IV, 11. 15 Zur Unmöglichkeit, die vielzähligen Interessen einer absoluten Bewertung zuzuführen, vgl. im einzelnen Teil 4, B., III.
Teil]
Grundlagen Die Lösung von Rechtsproblemen ist in erster Linie die Aufgabe von Juristen. Diese ebenso einsichtige wie banale Erkenntnis darf nicht dazu fUhren, daß der Rechtsanwender, sei er Wissenschaftler, Rechtsanwalt oder entscheidender Richter, den Blick rur die tatsächlichen Zusammenhänge verliert, die die Rechtsfrage erst lebendig erscheinen lassen. Kernstück der Jurisprudenz ist die Erkenntnis, Auslegung und Fortbildung des geltenden Rechts, 1 innerhalb dessen sich die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung behaupten muß. Die rechtliche Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse kann aber nicht erfolgen, wenn nicht Erkenntnisse und Zustandsbeschreibungen anderer Wissenschaftszweige berücksichtigt werden. Das Recht ist schon deswegen einem ständigen Wandel unterworfen, weil die Gesetzgebung dynamisch auf sich verändernde Lebensumstände mittels zeitgemäßer Normierungen reagieren muß. 2 Aber auch der Rechtsanwender ist im Rahmen der statisch erscheinenden, keiner Gesetzesrevision ausgesetzten
1 Bei der Erkenntnis des objektiven Rechts bedient sich die Rechtswissenschaft der Rechtstheorie, der Rechtsdogmatik, der Rechtssystematik, der Rechtsgeschichte, der Rechtsvergleichung, der Rechtsphilosophie und der Rechtssoziologie, vgl. ereife/ds, S.965f. 2 Wenn auch die Rechtsetzung "im weiten Umfang als relativ freie politische Wertung" stattfindet - vgl. Bydlinsld, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S.150 -, um die in einer Gemeinschaft auftretenden Rechtsprobleme gerecht zu lösen - vgl. Zippelius, Methodenlehre, S.8 -, muß vermieden werden, daß der Fortschrittsgedanke im Recht sich nicht stets "durch Umgehung bestehender normativer Bindungen Bahn bricht und brechen muß", vgl. Westermann, NJW 1997, S.I (S.5); der Gesetzgeber muß die Wirkungen seiner Maßnahmen beachten und gegebenenfalls seine Regelung nachbessem, vgl. (für Prognoseentscheidungen) Steinberg, NJW 1996, S.1985 (S.l989); vgl. (im Zusammenhang mit grundrechtlichen Schutzpflichten) BVerfGE 49 (89) (130, 132); zur Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklung ("Gesundheitsgefahren aus heutiger Sicht"; "wiederholt überprüfte ... Einschätzung des Gesetzgebers") und der "Einschätzungs- und Entscheidungsprärogative" des Gesetzgebers vgl. BVerfGE 90, 145 (181183) (Cannabis).
Teil 1: Grundlagen
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Regelungen dazu verpflichtet, die sich im Prozeß befmdlichen gesellschaftlichen, soziologischen, ökologischen und wirtschaftlichen Implikationen der Fallgestaltungen zu berücksichtigen. 3 Die Boykottproblematik zeichnet sich durch die Komplexität wechselwirksamer Interessen aus, die durch die Vielzahl der unmittelbar und mittelbar Streitbeteiligten4 vorgegeben ist und gegebenenfalls durch eine Interessenabwägung aufgelöst werden muß. Ein gerechter Ausgleich erstrebt ein "Maximum an Wertverwirklichung"s. Eine relative Synthese der Interessensphären kann nur erreicht werden, wenn die boykottspezifischen Zusammenhänge methodengerecht einer rechtlichen Wertung zugefilhrt werden. Es muß ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem freien Wirtschafts system, das die Basis der privaten Existenzsicherung bildet, und der freien politischen Grundordnung, die als Grundlag~ der verbalisierten und kollektivierten privaten Anforderung an den Wirtschaftenden dient, hergestellt werden. 6
3 Sattler, 8.73, weist im Boykottzusammenhang auf die Notwendigkeit einer "grundlegenden Neubewertung" hin; nach Larenz/Canaris, Methodenlehre, 8.256, beruht der Rechtswandel auf dem Prozeß der Anwendung gleichbleibenden Gesetzestextes; zur Rechtsrelevanz des tatsächlichen Wandels (wirtschaftliche Phänomene, technischer Fortschritt) und des Wertewandels vgl. Engisch, Einllihrung, 8.145; zur Veränderung des Inhalts insbesondere von Generalklauseln bei gleichbleibendem Wortlaut infolge einer Entwicklung der Gesamtordnung vgl. Veelken, ZVglRWiss 92 (1993), S.241 (S.256). 4 Neben dem Verrufer, dem Adressat und dem Verrufenen (Hauptbeteiligte) nehmen mittelbar am 8treit Beteiligte (Nebenbeteiligte: Geschäftspartner, Arbeitnehmer und Gläubiger des Verrufenen) am Boykottgeschehen teil, vgl. nur Kreuzpointer, 8. 144f. 5 Kreuzpointer, S.222; zum grundlegenden Gebot, "die Erfüllung der Motive aller in ihrer Gesamtheit zu maximieren", vgl. Enderlein, 8.270.
6 Wenn auch die unternehmerische Freiheit - vgl. im einzelnen Teil 2, C. - und die Meinungsfreiheit subjektiv-rechtlich das 8pannungsverhältnis der im Boykottstreit befindlichen Interessen umschreiben - vgl. im einzelnen Teil 5, A., I. -, wird hier bereits auf die Lebensbereiche abgestellt, in denen sich die subjektiven Rechte aktualisieren.
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Teil 1: Grundlagen
A. Geschichte und Entwicklung des Boykotts I. Der Boykott als ambivalente Erscheinung Der historische Rückblick verleitet zu polarisierenden boykottbezogenen Äußerungen. Die Bezeichnung als "private Exekution, eine Art intellektueller Lynchjustiz"7 überzeichnet den Regelfall des Boykotts ebenso wie die generalisierende Aussage, es handle sich um ein Mittel demokratischer MeinungsäußerungB• Die beiden Pole eignen sich dazu, den Rahmen der Boykottproblematik abzustecken. Die Absolutheit dieser wertenden Äußerungen bereitet zwar ein rechtliches Unbehagen, positioniert jedoch die in Betracht kommenden streitbezogenen Interessen. Die Ausgangsthese, der Boykott sei eine ambivalente Erscheinung, bezieht sich auf einen Boykottbegriff, der im allgemeinen Sprachgebrauch keine einheitliche Kontur erfahren hat. 9 Mit der Vielzahl der denkbaren Bedeutungen stimmen die unterschiedlichen Vorstellungen und darauf bezogenen Gefllhle des juristischen Laien überein. Die ambivalente Doppelwertigkeit des Boykotts, die gleichzeitig bestehende, einander entgegengesetzte Gefllhle im Sinne einer "Haßliebe"lo erzeugt, wird auch von Juristen empfunden, die sich mit der Boykottproblematik beschäftigen. I I
7 Arndt,
NJW 1964, 8.23 (8.24).
B Kübler, bei LöjJ1er, DÖV 1973, 8. 707 (8.708), sieht zwischen der bloßen Kritik und einer Verrufserklllrung keinen abwägungserheblichen Wesensunterschied.
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Zum Boykott als Arbeitsbegriffvgl. im einzelnen Teil 1, B.
10 Brockhaus, Enzyklopädie in 24 Bänden, Band 1, 8.473, zum Begriff der Ambivalenz; zur "Ambivalenz" der Boykottheurteilung vgl. Kübler, AfP 1973, 8.405. II Bereits Lobe, Bericht, 8.172 (8.186), stellt die kontradiktorischen Auffassungen der heiden Gutachter zum 29. Deutschen Juristentag heraus: Grundsätzliche Anerkennung des Boykotts einerseits (Oertmann), grundsätzliche Bekämpfung ("tückische Waffe") andererseits (Pape).
A. Geschichte und Entwicklung des Boykotts
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1. Der Boykott als intellektuelle Lynchjustiz
Kann der Boykott als eine "intellektuelle Lynchjustiz", als ein "Krebsschaden der Neuzeit,m, als "Terrorismus"J3 oder "sozialer Kannibalismus"14 und damit als ein besonders geflihrliches KampfmitteP S bezeichnet werden? Ein Boykottkomplex aus der deutschen Geschichte eignet sich in besonderem Maße zur Verifizierung dieser absoluten Aussagen negativer Prägung. Die Geschichte der Juden ist eine Geschichte von Verfolgungen 16; insofern ist die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland kein Phänomen der deutschen Geschichte. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten erreichte die Judenverfolgung jedoch eine neue Qualität. Im Kontext mit dem Genozid des europäischen Judentums muß der Boykott gegen Juden durch Nationalsozialisten gesehen werden. Bereits vor der Machtergreifung durch Hitler am 30.1.1933 kam es zu rassisch motivierten Boykotthandlungen, beispielsweise durch den Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund gegenüber jüdischen Ärzten. 17 Nach der Machtergreifung stellte der Massenboykott gegen Juden vom l.4.1933 18 den
12 Pape, Gutachten, S.246 (S.248); Puttfarcken, S.3, erkennt diese "Erkenntnis" grundsätzlich an.
J3 Im fall entscheidenden "Bierkrieg" verneinend das Reichsgericht, Urteil vom 2.12.1907, Nachweis bei Maschke, S.293. 14
Puttfarcken, S.106.
IS Lerche, Meinungsfreiheit, S.197 (S.199), sieht im Verhältnis zum Verrufenen keinen Meinungsaustausch, sondern "einen Akt direkter Aggressivität";. zur per-seGefllhrlichkeit des Boykotts vgl. Neumann, S.66.
16 In Brockhaus, Enzyklopädie in 24 Bänden, Band 11, S.247, ist die Entwicklung der Verfolgungen nachgezeichnet: Die vorchristliche ludenfeindschaft, reichsrechtliche Sanktionen, Kreuzzugsbewegung, Ketzerbekämpfung, mittelalterlichen Kennzeichnungspflichten, Verbote, öffentliche Ämter zu übernehmen, sowie zahlreiche Vertreibungen münden in den "modemen Antisemitismus" seit Ende des 19. Jahrhunderts ein. 17 Vgl. Barkei, S.25, S.39. 18 Der Boykott wurde als Operation der NSDAP organisiert, wobei Iulius Streicher an die Spitze des Organisationskomitees gestellt wurde, vgl. Jäckel/Longerich/Schoeps (Hrsg.), Enzyklopädie des HolocaustlII, S.687.
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Teil I: Grundlagen
Auftakt zur organisierten und mit staatlichen Zwangsmitteln verbundenen Entrechtung und späteren Vernichtung der Juden dar. 19 Die deutsche Öffentlichkeit wurde mittels Plakaten an jüdischen Geschäften - "Deutsche, kauft bei Deutschen"20 - und durch Vorabinformationen, beispielsweise in der Presse - "Boykott - Wir nehmen den Kampf auf