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German Pages 403 [404] Year 1997
fieatron
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 22
Gerda Poschmann
Der nicht mehr dramatische Theatertext Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997
D 09 Philosophische Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-MaximiliansUniversität München Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatenext: aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse / Gerda Poschmann, - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Theatron : Bd, 22) ISBN 3-484-66022-8
ISSN 0934-6252
© Max Nierneyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt. Einband: Buchbinderei Siegfried Geiger, Ammerbuch.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
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1, Methodische Vorüberlegungen l. l Problemstellung l .2 Zur Forschung l .3 Zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft 1.4 Zur Methode
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2. Theater, Text. Theatertext , 2.1 Theatertext und Texttheater 2.1.1 Die Krise der Repräsentation; Zur Ungleichzeitigkeit des Dramas 2.1.2 Mehr Theater, weniger Text: Das Ende des Texttheaters? 2. l .3 Text im Theater heute: Neue Voraussetzungen 2.1.4 Die Krise des Dramas als Krise einer Wahrnehmung 2.2 Theatertext und Drama: Zur Begriffsverwendung 2.2. l Theatertext und Drama 2.2.2 Szenische Theatralität und Texttheatralität 2.2.3 Konventionelle und analytische Theatralität 2.2.4 Drama und dramatische Form
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29 32 34 38 38 42 44 47
3 Theatertext heute: Möglichkeiten des Umgangs mit der dramatischen Form 3. l Zur Auswahl der Stücke 3.2 Nutzung der dramatischen Form 3.2. l Problemlose Nutzung der dramatischen Form Spiegel der Gegenwart Darstellung von Historie und Mythos Bedeutung der Wahl bestimmter Dramentypen Grenzfalle: Groteskes und Phantastisches
55 58 65 66 69 76 83 85
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Oliver Bukowski: Burnout, die Verweigerung des hohen Cehs hina Liebmann: Berliner Kindl 3.2.2 Kritische Nutzung der dramatischen Form , Metadrama und Metatheaier Episches und absurdes Theater Kritische Nutzung der dramatischen Form Elfriede Müller: Die Bergarbeiterinnen Oliver Bukowski: Inszenierung eines Kusses 3.2.2.1 Thematisierung der dramatischen Form im Metadrama . Friederike Roih: Das Ganze ein Stück. Erben und Sterben Thomas Brasch: Frauen, Krieg. Lustspiel 3.2.2.2 Umfunktionierung der dramatischen Form: Zuschauerverunsicherung und Eigengesetzlichkeit der Fiktion Peter Turrini: Alpenglühen Thomas Hürlimann: Der Gesandte Oliver Czeslik: Heilige Kühe Marlene Streeruwitz: New York. New York, und andere Texte Gisela von Wysocki: Der Erdbebenforscher Wolf gang Maria Bauer: In den A ugen eines Fremden. Matthias Zschokke: Brut 3.2.2.3 Unterwanderung der dramatischen Form: »Sprache als Hauptdarsteller« , Werner Schwab: Volksvernichtung und andere Texte,, Elfriede Jelinek: Totenauberg Rainald Goetz: Festung 3.3 Sonderfall monologischer Theatertext Monodramen Kritische Nutzung des Monodramas Rainald Goetz: Katarakt Elfriede Jelinek: Begierde & Fahrerlaubnis 3.4 Mischformen 3.5 Überwindung der dramatischen Form Gisela von Wysocki: Schauspieler Tänzer Sängerin Elfriede Jelinek: Wolken.Heim
VI
86 87 88 89 95 97 100 103 107 110 121
128 133 143 148 153 163 168 170 177 184 194 211 227 233 235 238 245 255 259 261 274
4. Theatertexte lesen: Wege der dramaturgischen Analyse 4. l Funktionsmodell fürs Theater: Implizite Theatralität, 4,1.1 Status des Sprechtextes 4. l .2 Status des Zusatztextes 4. l .3 Status der Textträger 4.1.4 Status des Bühnengeschehens, von Raum und Zeit 4.1.5 Funktionsmodell analytische Theatralität
288 296 297 300 305 311 318
4.2 Performative Dimensionen im Text: Texttheatralität
321
4.2.1 Mittelbare Texttheatralität: Tauschwert für szenische Theatralität 4.2.2 Unmittelbare Texttheatralität; Innersprachliches Geschehen 4.2.3 Zusammenfassung: Texttheatralität 4.3 Perspektiven der Anwendung , Ausblick
Register
332 ,. 340 341 ,. 344
Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis
328
, ,
349 351 391
VII
Danksagung
Die vorliegende Arbeit entstand während der Jahre 1993-1996 unter dem Titel Theater. Texte.: Zu Dramaturgie und Analyse zeitgenössischer deutschsprachiger Stücke an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Meinem Betreuer Prof. Dr. Günther Erken verdanke ich die Anregung und Ermutigung zur intensiven Beschäftigung mit zeitgenössischen Theatertexten. Sein Vertrauen, seine Offenheit und sein engagiertes Interesse schufen die idealen Voraussetzungen für produktives Arbeiten. Für langjährige Unterstützung und Forderung (nicht nur) während meiner Arbeit an dieser Studie danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes. Den Herausgebern gilt mein Dank für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Theatron. Ich möchte an dieser Stelle außerdem all jenen danken, bei denen ich bis heute auf vielfältige Art und Weise lernen durfte - nicht zuletzt meinen Eltern, denen ich dieses Buch widme. Mein herzlicher Dank gilt schließlich Dirk, der mich durch alle Höhen und Tiefen der Arbeit geduldig und verständnisvoll begleitet hat und meinem Weg immer wieder Sinn gab.
IX
Zunächst gibt es einen Grundirrtum: Literaturgeschichte oder Kunstgeschichte wird in den Medien immer erst einmal als eine Geschichte von Inhalten oder Bearbeitung von Inhalten verstanden und interpretiert. Das utopische Moment kann ja auch in der Form liegen oder in der Formulierung. Das wird, glaube ich, übersehen. Die Theaterpraxis ist so, daß Inhalte transportiert werden. Es werden Mitteilungen gemacht mit Texten, es wird aber nicht der Text, die Form mitgeteilt. Die Stücke werden nur nach ihren Inhalten beurteilt [...]. Heiner Müller
Vorbemerkung
Das Problem, von dem die vorliegende Arbeit ausgeht, ist zugleich eines der Praxis wie der Theorie, es stellt sich gleichermaßen den Theatern wie der Wissenschaft: Zunehmend sperren sich zeitgenössische Theaterstücke gegen eine Behandlung als Dramen im herkömmlichen Sinne, sind als solche sinnvollerweise, so scheint es, nicht inszenierbar und entziehen sich auch dem Zugriff einer Dramenanalyse, die versucht, diese Texte mit Hilfe traditioneller dramaturgischer Begriffe zu untersuchen. Praktikable Wege im Umgang mit solchen nicht mehr als dramatisch beschreibbaren Stücken zu erschließen, ist das primäre Ziel dieser Dissertation, die versucht, mit Blick auf Theatertheorie und -praxis beiden Seiten der Fragestellung gerecht zu werden Dabei gehen gattungstheoretische und methodologische Betrachtungen Hand in Hand mit der Analyse ausgewählter Texte. Am Anfang stehen angesichts »postdramatischer« Theaterkunst grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Theater und Text, die zur Revision des Dramenbegriffs und damit zur Einfuhrung einer neuen Begrifflichkeit fuhren. Neben dem Oberbegriff >Theatertext< wird dabei insbesondere der Begriff der > dramatischen Fomi< zur Bezeichnung der rein äußerlichen Strukturmerkmale des Dramas eingeführt. Diese dramatische Form kann, so die These, auch gelöst vom dramatischen Funktionsmodell des Theatertextes genutzt werden. An ausgewählten Stücken werden anschließend verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit der traditionellen dramatischen Form - von ihrer problemlosen Nutzung bis zu ihrer völliger Verabschiedung - in Einzelbetrachtungen vorgestellt, wobei zugleich Wege einer aufführungsbezogenen dramaturgischen Analyse erprobt werden, die den dramatischen Charakter der Theatertexte nicht fraglos voraussetzt. Aus den Ergebnissen dieser Untersuchungen speist sich schließlich die systematische Darstellung der einzelnen Schritte und Kriterien einer dramaturgischen Analyse, mit deren Hilfe zeitgenössische Theatertexte fürs Theater erschlossen werden können.
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Aus dem Anspruch der Arbeit, einerseits dramen- und theatertheoretischen Herausforderungen, die zeitgenössische Theatertexte stellen, durch eine Revision von Dramenbegriff und -analyse gerecht zu werden und andererseits Wege der Analysepraxis an ausgewählten Beispielen zu erproben, ergibt sich die enge Verknüpfung und wechselseitige Erhellung von Theorie und Praxis, die sich auch im Aufbau der Arbeit niederschlägt. So rahmen die theoretischen Teile zu Methode und Begrifflichkeit einerseits und zur Systematik einer dramaturgischen Analyse andererseits den Mittelteil, der in praktischer Arbeit an den Texten die dargelegten Probleme ebenso anschaulich machen soll wie Möglichkeiten ihrer Bewältigung, Da die Kriterien der Analyse aus den Texten selbst entwickelt werden, stehen auch bei der schriftlichen Präsentation die Analyseversuche - als solche, nicht als abgeschlossene, selbständige Einzelanalysen wollen die Untersuchungen verstanden werden - eingeschoben zwischen den beiden theoretischen Blöcken, um größtmögliche Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Vorgehens zu ermöglichen. Steht auch die Frage des angemessenen Umgangs mit »schwierigen«, nicht mehr dramatischen Theatertexten im Zentrum des Interesses, so soll diese Arbeit zugleich auch eine Orientierung über die vielfältigen Formen des Schreibens fürs Theater heute ermöglichen: Im Analyseteil wird, wenn auch nur exemplarisch, ein Überblick über deutschsprachige Dramaturgien der vergangenen zehn Jahre gegeben. Dieser zusätzliche Anspruch hat nicht nur zur Folge, daß hier auch Beispiele für konventionell dramatische Theatertexte aus dem untersuchten Zeitraum kurz vorgestellt werden, sondern begründet auch die große Zahl der angeführten Beispiele. Diese Entscheidung macht den dritten Teil ungleich länger als die anderen und birgt das Risiko, daß der Leser den roten Faden nicht an jeder Stelle deutlich vor Augen hat. Es wird versucht, den Zusammenhang der Argumentation dennoch zu gewährleisten, indem der Beschäftigung mit den einzelnen Texten jeweils theoretische Überlegungen zu den verschiedenen Varianten des Umgangs mit der dramatischen Form vorangestellt werden. Die Beschränkung auf je ein Beispiel für jede Variante würde sicherlich mehr Klarheit und Übersichtlichkeit im Hinblick auf die primäre Fragestellung ermöglichen, dabei allerdings auch vorhandene Differenzen einebnen und unterschiedliche Funktionalisierungen gerade bei der kritischen Nutzung der dramatischen Form ausblenden. Wenn die Gelegenheit wahrgenommen wird, um auch einen Einblick in die Breite des Spektrums zeitgenössischer Theatertexte zu geben, so soll damit der Verantwortung Rechnung getragen werden, die theaterwissenschaftlicher Forschung im
Bereich gegenwärtigen Schreibens fürs Theater zukommt. Damit wird bewußt ein Gegengewicht zur weit verbreiteten Praxis der Theater gesetzt, neue Stücke nach der Uraufführung (so sie stattfindet) in Vergessenheit geraten zu lassen. Will man dem Theater die doppelte Funktion erhalten, Repertoire sowohl zu bewahren als auch zu schaffen, so müssen ihm auch Hilfen für den Umgang mit Theateitexten der Gegenwart bereitgestellt werden. Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Dramaturgien gehört dann selbstverständlich zu den Arbeitsfeldern der Theaterwissenschaft. Dabei stellt die unmittelbare zeitliche Nähe zum Untersuchungsgegenstand natürlich eine Schwierigkeit dar, während mit dem Abstand Überblick und Objektivität der Bewertung wachsen können. Diese Schwierigkeit und das damit verbundene Risiko der Fehleinschätzung (schon bei der Auswahl der Stücke, die gesondert begründet wird) muß in Kauf genommen werden, um sich eines drängenden Problems anzunehmen, dessen Lösung angesichts der Hilflosigkeit der Theater wie der Wissenschaft im Umgang mit Gegenwartsdrarnatik höchst notwendig erscheint.
l. Methodische Vorüberlegungen
l. l Problemstellung Seit der von Peter Szondi diagnostizierten »Krise des Dramas«1 existiert in der modernen Dramatik eine Vielfalt unterschiedlicher Textformen nebeneinander, deren Bezeichnung als >Dramen< Gemeinsamkeit suggeriert. Wo avancierte zeitgenössische Autoren wie Peter Handke oder Heiner Müller fürs Theater schreiben, sieht man sich aber häufig Textgestalten gegenüber, die mit dem, was im allgemeinen unter >Drama< verstanden wird, nichts mehr zu tun haben. Bereits die Gattungszuordnung wird dort zum Problem, wo Handlung, Figuren und Dialog als Elemente nicht mehr fraglos vorausgesetzt werden können, wie etwa in Müllers Bildbeschreibung oder Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten.2 Werke zu Dramenpoetik, -theorie und -analyse implizieren einen Dramenbegriff, dem sich Theaiertexte seit der »Krise« (deren erste Symptome Szondi bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert erkennt) zunehmend entziehen, Das gilt selbstverständlich für den normativen und überzeitlich präskriptiven Dramenbegriff, den ältere Arbeiten in ihrem Selbstverständnis als Poetik oder Theorie des Dramas oder als handwerkliche Lehre von dramatischer Technik voraussetzen oder formulieren (z.B. G. Freytags Technik des Dramas von 1863), und der schon zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nur unter Mißachtung der von Hegel formulierten Einsicht in die Historizität ästhetischer Kategorien möglich war. Aber auch jüngere Handbücher der Dramenanalyse und -theorie sind für den Umgang mit zeitgenössischer Dramatik nur selten hilfreich,3 obgleich sie diese Historizität meist ebenso anerkennen wie die 1 2
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Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas, FfM, 1963 [1956]. Heiner Müller: Bildbeschreibung, Shakespeare Factory l, Berlin, 1985, S. 714 (zuerst in: Sinn und Form, H, 5/1985, S. 1042-1047,). Peter Handke: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, Theaterstücke, FfM, 1992, S, 543576. Z.B. Heinz Geiger u. Hermann Haarmann: Aspekte des Dramas, Opladen, 1987. Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, Stuttgart, 1984
mittlerweile durchgesetzte Erkenntnis der dialektischen Verschränkung von Dramatik und theatraler4 Praxis: Die meisten Theorien des Dramas und seiner Analyse gehen mittlerweile davon aus, daß das Drama als »szenisch realisierter Text« sich erst in der plurimedialen Aufführung vollendet.5 Ihr Anspruch, Rüstzeug für die Analyse dramatischer Texte schlechthin bzw. unterschiedlicher historischer Dramentypen bereitzustellen, führt jedoch aufgrund der Tatsache, daß der Löwenanteil des abendländischen Repertoires in der traditionellen, mimetisch-fiktionalen Dramenform, dem »klassischen Modelldrama« aufgeht,6 dazu, daß deren strukturelle Merkmale (Handlung, Figuren, Dialog, Raum- und Zeitgestaltung) als Beschreibungskategorien auch für zeitgenössische Texte dienen, welche diese lange Zeit dominante Form sprengen. Brecht und Beckett als bekannteste Exponenten des epischen und des absurden Theaters (selten darüberhmaus Peter Handke und Heiner Müller) stellen in solchen Untersuchungen die modernsten Vorposten der behandelten Dramatik dar, die dann (meist ohnehin nur am Rande) als Ausnahmeerscheinungen erwähnt und ex negafivo mit Begriffen der Dramenanalyse beschrieben werden. Das mag für Texte der klassischen Moderne noch angehen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem traditionellen Drama entwickelten und teilweise selbst in Abgrenzung von ihm definierten (so Brechts »nicht-aristotelische Dramatik« oder lonescos »anti-piece« La cantatrice chauve). Der heutigen Vielfalt an Theatertexten jedoch wird man durch Inbezugsetzung zu tradierten Vorstellungen nicht mehr gerecht. Sie de(konstruieren nämlich nicht nur Kategorien des Dramas, sondern entwerfen zugleich neue, »postdramatische«7 Funktions[1980]. Elke Platz-Waury: Drama und Theater, Tübingen, 1980. Norbert Greiner [u.a.]: Einführung ins Drama, München; Wien, 1982. Manfred Pf ister: Das Drama, München,5 ] 988 {1982]. Ungeachtet der jeweiligen Konnotationen werden die Adjektive >theatral< und >theatralisch* in der vorliegenden Arbeit differenzierend verwendet: Ais >theatral< werden zum Theater gehörige Phänomene allgemein bezeichnet, während >theatralisch< als vom Begriff der TheatraHtät - ein Begriff, von dem noch ausführlicher zu sprechen sein wird - abgeleitetes Eigenschaftswort eingesetzt wird. Repräsentativ: Pfister 5 I988 [1982], Zitat S. 24. Zur näheren Definition der dramatischen Form s. weiter unten. Den Begriff klassisches Modelldrama< verwendet Hans-Thies Lehmann in seinem Artikel über »Dramentheorie« in: Theaterlexikon, hg. v. Manfred Brauneck u. Gerard Schneilin, Reinbek, 1986, S, 280-287 (zit. als Lehmann 1986a). Parallel zum von ihm als »prä-dramatisch« bezeichneten antiken Theater spricht Hans-Thies Lehmann in seinen Vorbemerkungen zu Theater und Mythos (Stuttgart, 1991) von »postdramatischen« »Formen des neuen und neues-
modeile von Theater. Nun befördert aber die Klassifizierung in Dramen und solche, die eigentlich gar keine mehr sind, noch keine Erkenntnisse für die Analyse und kann somit nicht mehr sein als eine erste Hilfskonstruktion. Auf eine Beschreibung zeitgenössischer Theatertexte ex negative, die leider auch in der Theaterkritik heute gang und gäbe ist, sollte man sich also nicht beschränken lassen, sondern versuchen, diese Phänomene positiv zu bezeichnen. Dies unternimmt die vorliegende Arbeit, indem ausgehend von einer Beschreibung heute praktizierter Formen des Umgangs mit der dramatischen Form versucht wird, Besonderheiten, Wirkungsprinzipien und Ästhetik zeitgenössischer Theatertexte zu umreißen.
l .2 Zur Forschung Szondi hatte die Reaktionen der Dramatiker auf das Verschwinden der Voraussetzungen für das (von ihm freilich ebenfalls präskriptiv durch seine »Absolutheit« definierte) Drama als Rettungs- und Lösungsversuche bezeichnet. Nachdem das Drama als historische und heute »problematische Form«8 erkannt und die Tendenz zur Infragestellung und Auflösung seiner bisher für gattungskonstitutiv gehaltenen Elemente festgestellt wurde, reagierte die Forschung ihrerseits mit Versuchen zur Rettung des Dramenbegriffs, So wurde etwa angesichts zusehends handlungsarmer Dramaturgien versucht, dennoch die Beibehaltung des strukturanalytischen Begriffs von Drama9 zu ermöglichen, dem die Handlung traditionell zentral war - sei es durch eine Schwerpunktverschiebung von der Handlung zum Dialog innerhalb der gattungsspezifischen Elemente10 oder durch die Verlagerung des
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ten Theaters der (Post-)Moderne« als »in die Richtung eines Theaters jenseits des Dramas« weisend (S. 2). Dabei schließt er ausdrücklich neben szenischen Entwicklungen auch Tendenzen aufseilen der Texte mit ein (S. 3). Unter dem Titel Drama als problematische Form (FfM, 1979) untersucht Jochen Achilles in seiner Dissertation den »Wandel zu nichtrealistischer Gestaltungsweise im Werk Sean O'Caseys«. Zur Dominanz des strukturanalytischen Ansatzes in der Geschichte der Dramentheorie - von Aristoteles bis hin zu Pfister - vgl, Peter Pütz: »Grundbegriffe der Interpretation von Dramen«, Handbuch des deutschen Dramas^ hg. v. Walter Hinck, Düsseldorf, 1980, S. 11-25. Herta Schmid etwa sieht nicht in der Handlung, sondern im szenischen Dialog die Konstruktionsdominante des Dramas. Herta Schmid: »Ist die Handlung die Konstruktionsdominante des Dramas?«, Poetica, 8 (1976), S. 177-207.
Blickwinkels von einzelnen Strukturelementen auf ihr Zusamrnenspiel,11 sei es durch eine Neudefinition einzelner Elemente (so des Handlungsbegriffs unter Einbeziehung neuerer Erkenntnisse der Sprach-, Kommunikationsund Sozialwissenschaften, 12 oder der Figur, deren Depersonalisierung zum Typus konstatiert wird).1-1 Dies mag neue Blickwinkel auf das Drama eröffnen, doch gerade die Anwendung kommunikationstheoretischer und sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse auf das Drama und den dramatischen Dialog14 läuft Gefahr, unzulässigerweise Alltagskommunikation der Lebenswelt und ästhetische Kommunikation zu parallelisieren, 15 Genau hier scheint aber der Punkt zu Hegen, der für das Versagen der Dramen analyse vor zahlreichen zeitgenössischen Theatertexten verantwortlich ist: Auch neuere Ansätze der Dramentheorie und -analyse, die auf Erkenntnisse moderner Sprach- und Handlungstheorie, Psychologie und Soziologie rekurrieren, basieren auf der Grundannahme, der Text bilde eine Welt zwischenmenschlicher Kommunikation ab und sei aus dieser Funktion der (heute freilich keineswegs als realistisch vorausgesetzten) Widerspiegelung erklärbar. Die Dramenanalyse »privilegiert unzulässig die Ebene der
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Axel Hübler (Drama in der Vermittlung von Handlung, Sprache und Szene, Bonn, 1973) begreift, ausgehend von Szondi, das Drama als Vermittlung von Form (Sprache), Inhalt (Handlung) und dem pragmatischen Aspekt der Aufführung (Szene). Ewald Kiel (Dialog und Handlung im Drama, FfM [u.a.], 1992) sieht das Drama im Zusammenhang von Dialog und Handlung konstituiert, 12 So etwa die Bochumer Diskussion vom 20. und 21.6.1975 zum Thema »Dramentheorie - Handlungstheorie«, abgedruckt in: Poetica, 8 (1976), S.321450. Vgl. auch Steve Giles: The Problem of Action in Modem European Drama (Stuttgart 1981) und die Dissertation Susanne Werlings (Handlung im Drama, FfM [u.a.], 1989). fi Marianne Kesting; »Der Abbau der Persönlichkeit. Zur Theorie der Figur im modernen Drama«, Beitrage zur Poetik des Dramas, hg. v. Werner Kelier, Darmstadt, !976, S. 209-235. 14 So etwa bei Kiel 1992. '·' Dagegen erweist sich der exzentrisch wirkende Ansatz Athanas Natews, der ebenfalls eine Neudefinition der dramatischen Handlung fordert und zur Bewältigung der Krise (nun nicht des Dramas, sondern der »theoretischen Vorstellungen über die Natur der dramatischen Handlung«, S. 45) den Zwischcnaufzug zum bestimmenden Gattungsprinzip erheben will, bei genauem Hinsehen als vielversprechender: Natew vertritt die Wende vom strukturellen zum pragmatischen Gattungsmodell unter Berücksichtigung der »mitkornponierenden Betätigung des Zuschauers« (S. 91): Athanas Natew: Das Dramatische und das Drama, Velber, 1971.
Fabel«,16 und auf dieser Ebene ist vielen Texten nicht mehr beizukommen, welche die traditionelle Auffassung des Dramas als szenische Repräsentation von Lebenswelt verabschieden, Historisierende Ansätze in der Tradition Peter Szondis scheinen somit vielversprechender als der Versuch, das Drama schlechthin mit Hilfe seiner Strukturelemente, die sich aus eben diesem Prinzip der Repräsentation ableiten, definieren zu wollen. Der »Bewegung von der Kontinuität zur Historisierung«17 der dramatischen Gattung muß auch die Dramenanalyse Rechnung tragen. Einen Beitrag dazu soll diese Arbeit leisten, deren gattungstheoretische Überlegungen zu einer Unterscheidung von pragmatisch definiertem Theatertext einerseits und Drama als einer seiner historischen Untergattungen andererseits führen. Der Versuch, Wege einer dramaturgischen Analyse zu erkunden, wird dabei bewußt im Hinblick auf ein historisch eng begrenztes Feld, nämlich dasjenige deutschsprachiger Theatertexte der vergangenen zehn Jahre, vorgenommen. Damit soll nicht so sehr eine zeitgenössische Theorie der Dramenanalyse entworfen, sondern in erster Linie eine Analyse zeitgenössischer Theatertexte ermöglicht werden;18 lediglich ein Ausblick auf Perspektiven der Anwendung über unser Untersuchungsgebiet hinaus wird am Ende versucht. Hier wird ein kurzer Überblick über den Stand der Forschung im Bereich deutschsprachiger Gegenwartsdramatik notwendig. Theorien zur neueren Dramatik, die eine Systematisierung versuchen, Gattungsfragen behandeln und mit Bau-, Struktur- und Wirkungsprinzipien auch Analysemöglichkei— ten erschließen, findet man zur Genüge noch anläßlich des epischen und des absurden Theaters, im deutschsprachigen Raum auch zum dokumentarischen Theater und zum >neuen VolksstückHaupt-« und >NebentextMetadrama< behandelt wird. 58 Andererseits ermöglicht es die Beschränkung auf zeitgenössische deutschsprachige Theatertexte, den sozialen Kontext, der bei Pavis' »Soziosemiotik des Theaters«4*9 als veränderliche Größe im Zentrum des Interesses steht, als für 54
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Horst Turk: »Soziale und theatralische Konventionen als Problem des Dramas und der Übersetzung«, Soziale und theatralische Konventionen als Probleme der Dramenuhersetzung, hg. v. Erika Fischer-Lichte [u.a.], Tübingen, 1988, S. 9-53, Zitat S. 9. Andreas Höfele: »Drama und Theater: Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses«, Forum modernes Theater, 6 (1991), H. l , S. 3-23, Zitat S. 18, Hans-Peter Bayerdörfer: »Regie und Interpretation oder Bühne und Drama: Fußnoten zu einem unerschöpflichen Thema«, Literatur, Theater, Museum: Acta hing 1986, hg. v. Helmut Kreutzer u, Dieter Zerlin, München, 1987, S. 8-143, ZitatS. 122. Patrice Pavis: Semiotik der Theaterrezeption, Tübingen, 1988. Die Ausschließlichkeit dieses Blickwinkels und die Ausblendung der impliziten Inszenierungen verstellen bei der Betrachtung zeitgenössischer Stücke in Birgit Brüsters Dissertation (Das Finale der Agonie: Funktionen des >Meiadramas< im deutschsprachigen Drama der 80er Jahre, FfM [u.a.], 1993} den Bück dafür, daß autoreflexive Texte nicht nur das Drama dekonstruieren, sondern auch Alternativen konstruieren. Ein Exkurs zum Metadrama wird sich mit diesem Problem im Analyseteil (3.2.2) näher befassen. Als solche bezeichnet Pavis (1988, S. 18) seibst seine soziale u. kritische Semiologie der Theaterrezeption. 17
Produktion und Rezeption weitgehend identisch vorauszusetzen und damit aus der Analyse - abgesehen von prinzipiellen Überlegungen zur Postmoderne - auszuklammern.60 Aus der theaterwissenschaftlichen Perspektive auf die Dualität des Theatertextes als literarisches Kunstwerk und als Basis für ein Inszenierungskunstwerk sowie aus den oben geschilderten Versäumnissen in der Anwendung von Erkenntnissen der neuesten Literaturwissenschaft auf Dramatik bieten sich mehrere methodische Zugriffe auf zeitgenössische Theatertexte: Es erscheint ebenso notwendig, poststrukturalistische Konzepte der Literaturwissenschaft an den Texten zu erproben, wie Ansätze aufführungsbezogener Dramenanalyse fortzuentwickeln - mit Hilfe einer Umkehrung des theatersemiotischen Blicks, welche die Inszenierungsanalyse auf das Verhältnis von schriftlichem und szenischem Text wirft. Theater- und dramengeschichtliche Überlegungen können helfen, zeitgenössische Entwicklungen als Fortführung des modernen (absurden oder epischen) Dramas bzw. Theaters zu verstehen. Versteht man außerdem Theaterwissenschaft als Kunstwissenschaft, so bietet es sich an, Positionen zeitgenössischer Ästhetik und Entwicklungen anderer Kunstgattungen (am naheliegendsten natürlich Tendenzen der zeitgenössischen Regie, aber auch Phänomene aus dem Bereich der bildenden Kunst) zu berücksichtigen; wird dagegen mehr der kulturwissenschaftliche Aspekt betont, so scheint eine Inbezugsetzung der Theatertexte zu postmodernern Denken sinnvoll. Angesichts des doppelten Ansatzes der vorliegenden Arbeit, die zugleich einen Überblick über Formen des Schreibens fürs Theater heute geben und Möglichkeiten ihrer Analyse systematisieren will, angesichts auch der sich daraus ergebenden Unterschiedlichkeit der zu behandelnden Texte, erschien die Festlegung auf einen dieser Ansätze weder notwendig noch hilfreich. Stattdessen erwiesen sich methodische Pluridisziplinarität und Flexibilität als der vorgefundenen Pluralität der Gegenstände angemessen. Als methodische Prinzipien der vorliegenden Arbeit lassen sich aber einige Grundüberlegungen zusammenfassen: 1. Mit Patrice Pavis soll Semiotik verstanden werden als »Netz, dessen Maschen sich dem Gegenstand anpassen«.61 Eine induktive Vorgehensweise 60
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Diese zugegebenermaßen vereinfachende Konstruktion erscheint vertretbar, zumal eine besondere Berücksichtigung von DDR-Dramatik, deren sozialer Kontext zu unterscheiden gewesen wäre, aufgrund des Vorliegens von Peter Reicheis Veröffentlichungen als verzichtbar erschien. Dazu mehr unter 3.1 Zur Auswahl der Stücke, Pavis 1988, S. 87.
wird am ehesten dem heutigen Pluralismus der Erscheinungsformen von Kunst gerecht: Nichts wäre unangemessener, als sich auf die Suche nach einem gemeinsamen Nenner< für die jüngste Literatur zu begeben, [...] Statt auf deduktive Weise mit generalisierenden Etiketten zu operieren, um darunter möglichst viele Texte zusammenzufassen, schien der induktive Zugang über Spezialanalysen einzelner Dichtungen der adäquatere Weg zu sein.62
Die Unzulänglichkeit von Analysen, die normative Vorstellungen vom Drama implizieren, ist Grund genug, von deduktiven Vorgaben abzusehen und mit einem praskriptiven Dramenbegriff auch apriorische Kategorien der Analyse zu vermeiden. Die Kriterien der Analyse sollen vielmehr aus Annäherungsversuchen an die Werke erst entwickelt werden - daher auch die vielleicht ungewohnte Reihenfolge der Präsentation, die ihr Ziel darin hat, die Entwicklung von Wegen einer dramaturgischen Analyse für den Leser nachvollziehbar zu machen. Natürlich bedeutet diese Vorentscheidung keine voraussetzungslos deskriptive Arbeit - reine Induktion ohne Vorurteil ist faktisch ohnehin unmöglich -, doch gerade angesichts der festgestellten Unzulänglichkeiten herkömmlicher Beschreibungskategorien und Analysemodelle scheint es geboten, von den vorliegenden Texten selbst (als vorläufig einziger »gesicherter Wahrheit«) auszugehen. Sie werden im dritten Kapitel zunächst noch im Hinblick auf ihren Umgang mit der dramatischen Form beschrieben, was zu einer Bestandsaufnahme führt, die einerseits (noch ex negativo) eine Grobsystematisierung in problemlose oder kritische Nutzung der dramatischen Form sowie deren Überwindung darstellt und andererseits in den Einzelanalysen zugleich bereits die Vorarbeit zu einem Kriterienkatalog leistet, der im anschließenden vierten Kapitel zusammenfassend systematisiert wird.
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Lützeler (Hg.) 1991 im Vorwort, S. 14. 19
2. Theater. Text. Theatertext.
Angesichts der wechselseitigen1 Abhängigkeit von Dramenproduktion und Aufführungspraxis scheint vorweg die Frage angebracht, welchen pragmatischen Bedingungen sich Stückeschreiber heute gegenübersehen. Eins steht fest: Obgleich nach wie vor auf den Bühnen präsent, ist der literarische Text heute nicht mehr unbestrittener Mittelpunkt und Zweck der theatralen Veranstaltung, sondern wird zusehends als sprachliches Material einer autonomen Inszenierungskunst betrachtet und als solches auch verwendet, wird gegen den Strich gebürstet, »zerfleddert«, dekonstruiert. Zudem ist das hier als Texttheater2 bezeichnete Literaturtheatermodell nicht mehr alternativlos, der (präexistente) Text kann nicht mehr als selbstverständlicher Bestandteil des Theaters betrachtet werden. Als Resultate einer Emanzipation des Theaters vom Primat des Textes haben sich im Laufe unseres Jahrhunderts vor allem zwei Entwicklungsstränge manifestiert: einerseits ein Regietheater, das den Text nur noch als ein bestenfalls gleichberechtigtes Element der Inszenierung betrachtet und sich in radikal dekonstruktiver Ausprägung auch als Theater gegen den Text versteht (»Klassikerzertrümmerungen«), und andererseits ein postdramatisches Theater ohne Text, das mit Theaterformen »jenseits des Konzepts der mise-en-scene von Fabel und Text«3 und Wechselseitigkeit meint gegenseitige Abhängigkeit, die nicht als Einflußtheorie im Sinne einer einsinnigen Beeinflussung verstanden werden darf. Parallelentwicklungen sind geradezu zwingend, ohne daß zeitliche Verschiebungen immer nach dem Kausalitätsprinzip erklärbar wären. Ob die Entwicklung der Texte dem Theater voraus oder hinterher ist, hängt im Einzel fall auch von der individuellen Theaternähe oder -ferne der Autorinnen ab. Wenn hier Tendenzen im zeitgenössischen Theater zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden, so deswegen, weil diese von der Theaterwissenschaft und -semiotik besser erforscht sind als zeitgenössische Dramatik. Als »Texttheater« bezeichnet Floeck entschieden literarisches Theater im Unterschied zum »Regietheater«. Wilfried Floeck: »Vom Regietheater zum Texttheater? Tendenzen und Probleme des französischen Gegenwartstheaters«, SchoeH(Hg-) 1991, S, 1-18. Lehmann 1991, S. 1.
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häufig im Grenzbereich zwischen Theater und bildender Kunst experimentiert (Performance, Happening, inszenierte Räume, Bob Wilsons >Theater der Bilden4 u.a.)- Wenn der Schwerpunkt ästhetischer Innovation sich für die Theateriamji heute vom Sprechtheater auf Bereiche wie Tanz und Performance-Theater verlagert hat5 und Formen ohne präexistenten Text die Vorreiterfunktion im zeitgenössischen Theater übernommen haben, so macht dies eine kurze Rückbesinnung auf die Ursachen der Entliterarisierung des Theaters durch die Avantgardebewegungen notwendig, welche die Weichen für modernes Theater ohne Text erst gestellt hat. Betrachtet man die Tendenzen der Theaterpraxis im zwanzigsten Jahrhundert - einerseits: kritische Nutzung des Dramas durch die Regie (bewußt akzentuierende und interpretierende Lektüre des Dramas anstelle seiner bloßen »Realisierung« im Arrangement), andererseits: Überwindung des Dramas im postdramatischen Theater ohne Text - auch als Konsequenzen des Theaters aus der Krise des Dramas, so sieht man sich unwillkürlich auf Szondis Befunde zurückverwiesen. Seine Überlegungen zum modernen Drama sind nicht nur zu kritisieren, insofern er seinen Betrachtungen einen präskriptiven Dramenbegriff zugrundelegt, sondern unter der Bedingung einer Einbeziehung des Theaters auch fortzuschreiben.6 Die Berücksichtigung der theatralen Komponente erweist sich als unausweichlich: Betrachtungen zum Drama als einer heute weitgehend pragmatisch definierten literarischen Gattung führen schnell zum zentralen Begriff der Theatralität, wie die im folgenden skizzierten Überlegungen zeigen. Gerade im Namen der Theatralität aber erfolgte in unserem Jahrhundert die Entliterarisierung des Theaters, und heute noch ist die Ansicht verbreitet, theatralisches Theater schließe per defmitionem Texttheater aus. Hier soll dagegen die These vertreten werden, daß auch der schriftliche Text die für das zeitgenössische Theater spezifische Theatralität konstituieren und eben dadurch das Drama kritisieren oder überwinden kann. Dies macht schließlich zur Klärung der Trotz berechtigter Einwände gegen diese verkürzende Bezeichnung (vgl, Helga Finter: Der subjektive Raum, Bd, 2: »...der Ort, wo das Denken seinen Körper finden soll«: Anionin Artaud und die Utopie des Theaters, Tübingen, 1990, zit. als Finter 1990h, S.103) wird dieser gebräuchlich gewordene Begriff hier dennoch zur abkürzenden Verständigung verwendet. Bayerdörfer 1987, S. 128. Diese Tatsache erklärt sich allerdings teilweise auch daraus, daß innovative Tendenzen der fürs Theater geschriebenen Texte schlicht nicht wahrgenommen werden, wie zu zeigen sein wird. Nach Patrice Pavis: »L'heritage de Peter Szondi pour la semiologie et la theorie de l'avant-garde theätrale«, Voix et images de la scene: Essais de semiologie theätrale, Lilie, 1982, S, 61-79. 21
Begrifflichkeiten eine Revision des Dramenbegriffs und die Einführung des Oberbegriffs >Theatertext< notwendig, bevor wir uns ausgewählten Texten zuwenden, die während der vergangenen zehn Jahre fürs Theater geschrieben wurden.
2. l Theatertext und Texttheater 2.1.1 Die Krise der Repräsentation; Zur Ungleichzeitigkeit des Dramas Einen Begriff von Ernst Bloch übernehmend, spricht Joachim Schmitt-Sasse von der »Ungleichzeitigkeit« eines als fiktional darstellend verstandenen Theaters, »das auf Charakter und Dialog als Leitmittel sich gründet«, zur gegenwärtigen Welterfahrung. Solches Theater habe zwar als Chronist »der verlorenen und der ersehnten Zeit« (Ernst Wendt) noch seine Berechtigung, sei aber unfähig zu Gegen waits bezug in Stoffen und Themen.7 Diese These wird hier (entschärft)8 aufgenommen und modifiziert bzw. präzisiert zur »Ungleichzeitigkeit des Dramas«, denn auch Schmitt-Sasse räumt ein, daß es durchaus eine andere Form der Gleichzeitigkeit des Theaters gebe: im nichtdramatischen Theater, dessen Aktualität eben nicht in Inhalten, sondern in der »medialen Gegenwart« des Theaters liege.9 Überlegungen zur Ungleichzeitigkeit des Dramas als einer Kunstgattung weisen aber umgehend zurück auf die Krise, in die es an der Schwelle zur Moderne im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert gerät. Die Ungleichzeitigkeit der literarischen Gattung des Dramas erklärt Szondi auf der Basis eines präskriptiven Dramenbegriffs im wesentlichen als Krise der traditionellen Inhalte des Dramas, das ein »je gegenwärtiges zwischenmenschliches Geschehen«10 darstelle. Das Schwinden der traditionellen Inhalte (bzw. der Bedingungen ihrer Möglichkeit) führe schließlich zur Sprengung der Form. Wird somit von literaturwissenschaftlicher Seite die Problematisierung gesellschaftlicher Voraussetzungen einzelner Struk7
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Joachim Schmitt-Sasse: »Thesen über die Ungleichzeitigkeit des Theaters«, TZS, 14 (1985/86), S. 15-23, Zitat S. 19/20. Es wird zu zeigen sein, daß dramatisches Theater mit thematischem Gegenwartsbezug durchaus sein Recht auf den Bühnen noch nicht verwirkt hat, wenn es auch in diesem Fall Theater meist weniger als Kunst- denn als Kommunikations- oder Unterhaltungsmedium nutzt, Ibid. S. 20-22. Szondi 1963 [l956] S. 74.
turelemente des Dramas (des autonomen Individuums, der sprachlichen Verständigung im Dialog, der Möglichkeit selbstbestimmten und sinnvollen Handelns etc.) zur Erklärung der Krise des Dramas als einer literarischen Gattung bemüht, so bietet sich aus theatergeschichtlicher Sicht eine andere Erklärungsvariante an, welche Sprachskepsis und damit eine Aufwertung der ikonischen vor den symbolischen Zeichen für einen Statuswandel des Textes im Theater, für die Entliterarisierung des Theaters verantwortlich macht: Die sprachlichen Qualitäten, die fur die Dramatik des bürgerlichen illusionstheaters konstitutiv waren und die Dominanz der Sprache begründet harten, sind Hofmannsthals Lord Chandos nicht mehr verfügbar. 1 '
Daß die »Trennung des Theaters von der Literatur« als »Grundgegebenheit der Theatermoderne«12 bezeichnet werden kann, wird damit begründet, daß die abendländische Dominanz des Begrifflich-Symbolischen (der »entsinnlichten Erkenntnis«) über das Bildlich-Ikonische (die »sinnliche Anschauung«) seit dem neunzehnten Jahrhundert durch Sprachskepsis und eine »Renaissance des Visuellen« aufgeweicht werde.13 Konsequenterweise gehe die Theatralisierung des Theaters, wie sie die historische Avantgarde vollzieht, einher mit seiner Entliterarisierung. Hier wird weniger die Krise des Dramas als vielmehr die Krise des Texttheaters erklärt. Es erscheint notwendig, beide Ansätze miteinander zu verbinden.14 Unter Berücksichtigung von Parallelen in anderen Kunstgattungen kann man die Krise des Dramas und des Texttheaters im Zusammenhang mit einer umfassenden Krise der Repräsentation, mit dem Übergang zu einer modernen Ästhetik der (Material)Präsentation, der Artikulation und der als Koproduktion verstandenen Rezeption verstehen. Bestimmt man vorläufig Dialog, Figuren und Handlung als Stmkturelemente des Dramas, so ist Drama seinem Wesen nach repräsentaüonal.15 Daß die ästhetische Innova11 12
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Fischer-Lichte 1992, S. 131. Dieter Borchmeyer: »Theater (und Literatur)«, Moderne Literatur in Grundbegriffen, hg, v. Dieter Borchmeyer u. Viktor Zmegac, FfM, 1987, S. 370-381, Zitat S, 370. Elmar Bück: »Von der Bedeutung der Wörter auf der Bühne - und von den Chancen der Bilder im Theater«, Medien + Erziehung, 27 (1983), H, 2, S. 8389, Zitat S. 84. Hilfreich hierbei: Dramatische und theatralische Kommunikation 1992, bes. die Einleitung Jurij Striedters. In Anbetracht der gebräuchlichen Verwendung des Adjektivs >repräsentativ< im Sinne von »charakteristisch oder >typisch< soll hier und im folgenden die Eigenschaft linguistischer oder szenischer Sprache, auf dem Prinzip der
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tion im Theater sich von der dramatischen Repräsentation einer Geschichte entfernt (wie übrigens auch zeitgenössische >Narrativik< immer seltener im Erzählen von Geschichten aufgeht und zu essayistischen Formen tendiert), scheint umso verständlicher, als im Verlauf dieses Jahrhunderts zusehends neue Medien die Darstellung von Fiktion übernehmen. Es erscheint bemerkenswert, daß nicht »dramatische Fiktion«16 schlechthin problematisch wird, sondern daß sie vielmehr dem ästhetischen Anspruch des Theaters als einer Kunstform nicht mehr genügt. Als Unterhaltung wird dramatischer Fiktion in Film und Fernsehen ein anderer Status zugewiesen. Gerade angesichts der Konkurrenz, die dem dramatischen Theater als audiovisueller Darstellung von Fiktion in Form des ebenfalls szenisch repräsentierenden und fiktionalen Mediums des Films17 erwächst, erscheint gerade die Parallele zur Malerei interessant., deren Abstraktionstendenzen auch als Resultat ihrer Befreiung von der Abbildungsfunktion durch die Verbreitung der Photographic zu verstehen sind. Als szenische Darstellung einer Fiktion wird das Drama an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert zu einer modernen Welterfahrung ungleichzeitig, die aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse (paradigmatisch: Einstein), welche begrifflich-rationales Denken an seine Grenzen stoßen lassen, von einem gewandelten Weltbezug aufgrund des »Verlustes eines allgemeinen Wirklichkeitsverständnisses«18 geprägt ist. Welt wird bereits seit der Sprengung des kosmologischen Weltbegriffs durch die Transzendentalphilosophie nicht mehr als objektiv Gegebenes betrachtet, das nur noch der Widerspiegelung und Interpretation bedarf, vielmehr wird sich der Mensch seiner eigenen kognitiven Leistungen bewußt, die erst zur Konstitution von Welt fuhren. Mit technischem Fortschritt und zunehmender Verbreitung neuer Medien radikalisiert sich diese moderne Befindlichkeit im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts: Zweifel an einer objektiven Beschreibbarkeit der
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(symbolischen oder ikonischen) Repräsentation zu beruhen, also im wesentlichen die semantische Funktion des Zeichensystems, die Bedeutung der Zeichen zu nutzen, >repräsentational< genannt werden. So der Titel des Kapitels über den Ort des Dramas in der Logik der Dichtung bei Kate Hamburger: Die Logik der Dichtung, München, 1987 [1957], In vereinfachender Abkürzung werden Film und Fernsehen hier und im folgenden ausschließlich als Medien der Repräsentation betrachtet, als welche sie sich in ihrer heute dominierenden kommerziellen Ausprägung darsteilen. P\\mkunst, die ebenso wie Theater&wnsf die Darstellungsästhetik überwinden kann, bleibt hier unberücksichtigt. Sie bedürfte einer eigenen Untersuchung. Rolf Schäfer: Ästhetisches Handeln als Kategorie einer interdisziplinären Theaterwissenschaft, Aachen, 1988, S. 100.
Wirklichkeit und Skepsis gegenüber Wahrnehmung und Verstehen werden im Medienzeitalter radikalisiert zu Wirklichkeitsverlust durch Phänomene wie Enträumlichung, Entzeitlichung und zunehmende Ästhetisierung der Lebens weit. Für die darstellenden Gattungen der Kunst schlägt sich dieser Wandel des Weltbezugs in einem ästhetischen Paradigmenwechsel zur Moderne nieder, der, am deutlichsten in der Malerei, aber auch in literarischen Gattungen,' 9 zunächst von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion weist, zur »Emanzipation des Signifikanten« und zur »Suspension des Sinns«, 20 wie weiter oben bereits Lehmanns Definition avantgardistischer Ästhetik zitiert wurde. Die Preisgabe der Darstellungsfunktion einer gegenständlichen Kunst nach ihren Exzessen in Realismus und Naturalismus und die Delegation dieser Funktion an andere Medien gehen einher mit der Entwicklung nicht-repräsentationaler Kunstformen unter Aufwertung der Subjektivität und des Materialwerts einer »konkreten« Kunst sowie unter (teils radikaler) Delegation der Bedeutungsproduktion an die Rezipienten, Damit kommt Kunst aber nicht mehr die Aufgabe zu, als darstellende »Objektkunst« 2 ' zwischen Form und Inhalt zu vermitteln, sondern sie provoziert Bedeutungsproduktion durch Semiotisierung, die »Inhalt« erst herstellt, und macht autoreflexiv zugleich deren Bedingungen erfahrbar. Kunst sucht ihre Berechtigung zunehmend als »Antifiktion«, 22 in dezidiert nicht-repräsentationaler Artikulation und Autoreflexion der vorn Signifikat emanzipierten Signifikanten. Dieser Paradigmenwechsel wird hier als Krise nicht der Mimesis, sondern der Repräsentation bezeichnet, denn Mimesis läßt sich über ihre allzu enge Definition als Naturnachahmung 2 - 1 hinaus verstehen. So kann der oft 19
Vg]. Walter Jens: »Plüdoyer für die abstrakte Literatur«, Texte und Zeichen, H. 1/1955, S. 505-515, sowie Jo-Hans Engers Dissertation: Theorie der abstrakien Literatur, Berlin, 1969. Zum Verständnis der »Revolution« poetischer Sprache (Kristeva) in der modernen Lyrik mit Hilfe des Abstraktionsbegriffs aus systemtheoretischer Perspektive s. auch Peter Fuchs und Niklas Luhmann: »Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte: Zur Ausdifferenzierung der modernen Lyrik«, Reden und Schweigen, HM, i 989, S. 138-177. 20 Lehmann 1985,5,250. 21 Zu diesem Begriff vg], Niklas Luhmann: »Weltkunst«, Unbeobachibare Welt; über Kunst und Architektur, Bielefeld, 1990, S. 7-45, 3 - Odo Marquard: »Kunst als Antifiktion - Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive«, Funktionen des Fiktiven, hg. v. Dieter Henrich u. Wolfgang Iser, München, 1983, S. 35-54. 3 Die Tradition der Gleichsetzung von Mimesis und Darstellungsästhetik belegt etwa der Untertitel von Erich Auerbachs Standardwerk Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Berlin; München, 1982 [1946]. 25
als »antirnimetisch« bezeichnete Impuls modemer, nicht-repräsentationaler Kunst paradoxerweise als Anpassung der Mimesis an einen veränderten Wirklichkeitsbegriff verstanden werden, und auch abstrakte Kunst ist als Mimesis gesellschaftlicher praxis faßbar.24 Jede Kunst ist mimetisch als »Mimesis von Bewußtseins- oder Unbewußtseinsprozessen«,25 die sich immer auf menschliche Wirklichkeit bezieht. Gerade in jüngerer Zeit wird ein revidierter Mimesis-Begriff auch »im vor-repräsentationalen Bereich« verwendet.26 Repräsentation ist das Prinzip einer Ästhetik, die Rolf Schäfer als »dingmimetisch«27 beschreibt: Ästhetik einer imitativen Kunst, die »dominant semantischen Vertextungsprakdken« folgt und Wirklichkeit (durchaus auch interpretierend) darstellt, also - hier verwendet Schäfer selbst diese Formulierung - »repräsentiert«,2g Diese hier repräsentational genannte Auffassung von Kunst unterscheidet Schäfer vom »material-mimetischen« autonomen Bild der abstrahierenden und konkreten Kunst (z.B. des Kubismus, des Expressionismus, des Konstruktivismus und der konkreten Malerei), die »dominant syntaktischen Vertextungspraktiken« folgt und Wirklichkeit herstellt, sowie von »nichtmimetischer«29 Kunst, die »dominant konkreten Vertextungspraktiken« folgt und den Rezipienten zum Koproduzenten eines Werks macht, das lediglich Strukturen anbietet, die »ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten der semantischen Übersetzung [zulassen]« und somit erst durch die Semiotisierungsleistung des Betrachters eigentlich entsteht.30 Die Wandlung der Ästhetik von einer darstellenden Kunst, deren Form im Dienst der Repräsentation (eines »Inhalts«) steht, zur Verabsolutierung der Autoreflexion künstlerischen Signifikantenmaterials (Sprache, Farbe, Form, Licht etc.), das gelöst von seiner Bezeichnungsfunktion Verwendung 24
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Friedrich Tomberg: Mimesis der Praxis und abstrakte Kunst: Ein Versuch über die Mimesistheorie, Neuwied; Berlin, 1968. So Grohotolsky 1984, S. 22 unter Berufung auf Adornos Ästhetik. Vgl. hierzu Kristeva 1978, S. 66-71: »1.8. Einbruch ins Thetische: die mimesis« sowie die kritische Zusammenfassung anti-repräsentationaler Ästhetik des Poststrukturalismus durch Robert Weimann: »Mimesis und die Bürde des Repräsentation«, Weimarer Beiträge, 31 (1985), H. 7, S. 1061-1099. Weimanns dialektische Konzeption der Repräsentation als Produktion und Prozeß kann hier nicht berücksichtigt werden. Schäfer 1988, hier bes. S. 39-104. Schäfer 1988, S, 100. Eine weiter gefaßte Definition von Mimesis würde sicherlich auch diese Kunst als mimetisch erfassen, was hier aber nicht diskutiert werden muß. Schäfer 1988, S. 99-101.
findet, und zur Einbeziehung des Rezipienten ist für das zwanzigste Jahrhundert bestimmend. Diese Ästhetik der Moderne wird mit poststrukturalisüschen Theorien faßbar, welche Bedeutung als unabschließbaren Semioseprozeß betrachten, und die Scmiotik macht die künstlerische Praxis der Avantgarde beschreibbar als Nutzung ästhetischer Codes in ihrer Eigenschaft als Systeme aus Signifikanten, die »erst im Prozeß der Artikulation und Rezeption zu möglichen Sinnpotentialen werden«. 1 ' Während Repräsentation den Zeichencharakter der Kunst voraussetzt, erforscht nicht-repräsentationaie Kunst diesen autoreflexiv oder leugnet ihn ganz. Das Interesse wird damit vom Repräsentierten (von den Signifkaten) auf die materielle Oberfläche (auf die polyvalcnten Signifikanten) gelenkt - und auf die kognitiven Mechanismen, die im Betrachter wirken, wenn er versucht, die Signifikanten zu Zeichen zu ergänzen. 12 Im Theater zieht nun eine Betonung der Materialität der Signifikanten keineswegs automatisch ihre Befreiung von der Bezeichnungsfunktion nach sich, sondern läuft im Gegenteil Gefahr, diese zu intensivieren: Aufgrund der semiotischen Spezifität des Theaters, das heterogene Material der umgebenden Kultur als Zeichen zu verwenden, 31 also reale Objekte der Lebenswelt als Zeichen für eine fiktionale Welt einzusetzen, funktioniert die theatrale Darstellung von Fiktion traditionell auf der Basis einer »referentiellen Illusion« 34 : Die Materialidentität von Referent und Signifikant führt dazu, daß der Zuschauer meint, den Referenten des Zeichens wahrzunehmen, während tatsächlich nur der Signifikant präsent ist. Dies schlägt sich in einer fürs Theater spezifischen Oszillation zwischen Objekt- und Zeichencharak-" Helga Finter: Der subjektive Raum, Bd. 2: Die Theaferulopitm Stephane Mallarmes, Alfred Jarrys und Raymond Roitsxels: Sprach räume des imaginären, Tübingen, 1990(zit. als Finter 1990a), S. 2. Vgl, auch Kristeva 1978. 32 Diese Entwicklung kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden, doch soll darauf hingewiesen werden, daß der Paradigmenwechsel der Moderne auch und gerade da fortwirkt, wo eine Rückkehr zur Gegenständlichkeit (etwa in Malerei und Narrattvik) zu beobachten ist; Auch wo zeitgenössische Kunst gegenständliche Darstellung nicht mehr völlig verweigert, trägt sie deren Dekonstruktion doch oft bereits in sich und läßt sich nicht durch Erschließung des Dargestellten (das traditionelle Verstehen) erfassen. Daß die Rückkehr zur Repräsentation in der »literarischen Postmoderne« sich nur oberflächlich, nicht aber substantiell vollzieht, belegen beispielsweise Beiträge in Hempfer (Hg.) 1992. 33 Vgi. Erika Fischer-Lichte: Das System der theatralischen Zeichen (Semiotik des Theaters; Bd. l), Tübingen, ~21988 [1983], S. 194-!97, und Pavis 1988, S.49-67. 34 Pavis 1988,5.53. 27
ter des theatralen Signifikanten nieder, in einer »Spannung zwischen Sein und Bedeuten«,35 einer ständigen Interferenz zwischen absenter fiklionaler Welt und präsentem realen Bühnengeschehen, welche scheinbar Repräsentation zum Defmitionskriterium des Theaters macht: Das Bühnengeschehen bildet als inneres Kommunikationssystem fiktionales zwischenmenschliches Geschehen ab. Doch kann die Materialidentität von Wirklichkeit und Theater auch als Sonderform der »Repertoireabhängigkeit« gesehen werden, die prinzipiell das mimetische Verhältnis von Kunst zu Wirklichkeit kennzeichnet und nicht zwingend zur Repräsentation führt. Dem Drama macht also im Vergleich zu den anderen literarischen Gattungen seine Sonderstellung die Lösung von repräsentationaler Ästhetik doppelt schwer, Im Spannungsfeld zwischen Literatur und Theater bedient es sich als literarische Gattung der traditionell in ihrer semantischen Funktion genutzten, symbolisch repräsentierenden Sprache. Die moderne Skepsis gegenüber diesem Material kann als Krise der verbalsprachlichen (symbolischen) Repräsentation gefaßt werden, die auch andere literarische Gattungen betrifft. Wenn aber in der Moderne durch Radikalisierung der poetischen Funktion in Lyrik und Teilen der Narrativik der »Aufflug ins Abstrakte«36 möglich wird, indem Sprache nicht mehr als Mediuni der Kommunikation, sondern als autoreflexive »reine Form« genutzt37 und damit entgrenzt wird, so stellt sich das Problem der Sprache im Theater mit Blick auf den zweiten Pol des Spannungsfeldes, das Theater, als besonderes dar. Das vermittelnde Kommunikationssystem der Bühne bindet nämlich Sprache an Schauspieler und läßt sie somit unwillkürlich als Kommunikation (Sprechhandlung) von Figuren erscheinen. Im Zentrum des dramatischen als eines »ding-mimetischen« Theaters steht der Schauspieler, mit ihm verrügt das Theater über »das ikonische Zeichen par excellence«,3* er wird traditionell als Rollenfigur gelesen und in dieser Funktion für die Beschränkung des Dramas auf eine repräsentational-fiktionale Ästhetik ins Feld geführt: [Die] als Sinnverweigerung und Entpersonal is ierung sich darstellende Tendenz kann auf dem Theater nicht konsequent vorwärtsgetrieben werden. Es wird ja [,..] von Menschen gespielt. Das Material trotzt der Entpersonalisierung.39 35 36 37 38
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Fischer-Lichte 21988 [ 1983], S. 196. Fuchs/Luhmann 1989. Ibid. Martin Esslin: Die Zeichen des Dramas: Theater, Film, Fernsehen, Reinbek, 1989,5.57. Joachim Kaiser: »Grenzen des modernen Dramas: Vortrag, gehalten auf dem Germanistentag in Essen«, TH, H. 12/1964, S. 12-15, Zitat S. 14. Weiter unten
Das Drama benutzt also einerseits sprachliche (symbolisch repräsentierende) Zeichen, stellt aber zusätzlich ikonische Zeichen des Theaters in Rechnung,40 die aufgrund der oben beschreibenen semiotischen Spezifität des Theaters traditionell als (sich selbst) repräsentierend verstanden werden. Im Theater als einer sozialen und hoch konventionalisierten Kunst sind zudem ästhetische Innovationen nur mit Rücksicht auf ein Minimum an Verständigung zwischen allen Beteiligten durchsetzbar. Für Drama und Theater, die traditionell als »mimetische«41 Künste schlechthin bezeichnet werden, bedeutet die Krise der Repräsentation eine besondere ästhetische Herausforderung, Historisch vollzieht sich etwa zeitgleich mit dem ästhetischen Paradigmenwechsel zur Moderne die Ausbildung einer autonomen Theaterkunst und der Versuch, das Literaturtheatermodell zu ersetzen. Das moderne Theater glaubt, als Kunst nur bestehen zu können, indem es sich vom Drama emanzipiert. 2.1.2 Mehr Theater, weniger Text: Das Ende des Texttheaters? Als mit der repräsentationalen Ästhetik auch das Drama als Kunst der dramatischen Fiktion problematisch wird, verbindet sich die Neubestimmung einer modernen Theaterkunst rasch mit der Verbannung des Textes aus dem Theater. Die beiden Schlagwörter, deren enge Verbindung auch heute die Gleichsetzung von nicht-repräsentationalem und postdramatischem Theater signalisiert, lauten Theatralisierung und Entliterarisierung. Während die Krise des Dramas seit Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts auf seilen der Dramatiker zu »Rettungs-« und »Lösungsversuchen« (Szondi) führt, eta-
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schränkt der Autor selbst die Gültigkeit seiner These, das Menschliche als Material der Bühne mache eine Emanzipation des Materials unmöglich, auf das moderne abendländische Drama ein und eröffnet einen Ausblick auf andere Kulturen, auf »die Masken und Kothurne des chinesischen und vor allem des griechischen Theaterspiels« (ibid.). Zu dieser »Präsuppositionsthese« vgl. Turk 1988, S. 10: »Allerdings setzt der dramatische Text Darstellungsmittel voraus, die er nicht besitzt, über die er verfugt, indem er sie in Rechnung stellt.« Andreas Hofele (1991, S, 160 bezweifelt zwar zu Recht den Erkenntniswert des von Turk zur Bezeichnung dieses Verhältnisses verwendeten Präsuppositionsbegriffs, laßt jedoch die zitierte These in ihrem Kern unangetastet und entwickelt sie weiter zur Theorie der impliziten Inszenierung. In diesem Zusammenhang wird Mimesis unter Berufung auf aristotelische Dramentheorie meist verstanden als Nachahmung handelnder Menschen, also als »Ding-rnimesis«.
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bliert sich auf der anderen Seite das Theater etwa zeitgleich als eigene Kunstform und emanzipiert sich vom Primat des Dramas. Die seit Aristoteles' Geringschätzung der opsis dokumentierte Spannung zwischen Text und Theater, welche die gesamte Theatergeschichte prägt, radikalisiert sich im zwanzigsten Jahrhundert. Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Unterordnung von Theater und Theatertheorie unter Drama und Dramentheorie fuhrt die Ungleichzeitigkeit des Dramas und des dramatischen Theaters rasch dazu, daß avantgardistische Theaterkünstler die mise-en-scene nicht nur einer dramatischen Fabel, sondern prinzipiell von literarischen Texten ablehnen. In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wird unter dem Postulat der Theatralisierung des Theaters ein innovatives Theater mit gänzlich neuem Funkiionsverständnis vor allern unter Einbeziehung des Publikums propagiert. Als zentral für die Theaterreform darf die »Reorganisation der Beziehung zwischen Bühne und Zuschauer (externe theatrale Kommunikation)« betrachtet werden,42 die Bühne experimentiert bald mit der Abstraktion einzelner Elemente des Inszenierungstextes wie Licht, Farbe und Raum bzw. mit vermehrtem Einsatz abstrakter Bühnenzeichen (Musik, Choreographie) und nutzt deren Materialwert statt ihres Zeichencharakters, Avantgardistisches Theater versucht auch, die untrennbar erscheinende Einheit von Schauspieler und Rollenfigur zu sprengen und stattdessen ein konventionalisiertes System aus Körperzeichen zu erstellen.43 Das Projekt der Theatralisierung wird aber vor allem vielfach gegen den literarischen und damit traditionell einer Ästhetik der Repräsentation gehorchenden Bestandteil des Theaters, gegen das Drama, gewendet und mit der Verbannung des geschriebenen Textes aus einem »entfesselten Theater« (Tairov) gleichgesetzt. Es ist darauf hinzuweisen, daß ob der Krise des Dramas die antiliterarische Theaterreform auch von selten der Literaten begrüßt wurde, und daß gleichzeitige Experimente der Autorinnen im Schreiben fürs Theater - als Versuche, auch die verbalsprachliche Komponente des Inszenierungstextes aus ihrer darstellenden Funktion als symbolische Zeichen zu lösen, oder als Bemühungen um eine Stilisierung der Figuren zu marionettenähnlichen
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Fischer-Lichte: »In Search of a New Theatre«, Unconventional Conventions in Theatre Texts, hg, v, Günter Ahrends u, Hans-Jürgen Diiler, Tübingen, 1990, S, 161-380, Zitat S. 165. Fischer-Lichte 1992.
Kunstfiguren44 - in engem Zusammenhang mit ihr gesehen werden müssen, da sie gleichermaßen von den Aporien des Dramas ihren Ausgang nahmen.^ Es wurde sehr wohl auch in der literarischen Produktion fürs Theater versucht, das Drama zu überwinden — symbolistische Dramatik zeugt davon ebenso wie Gertrude Steins landscape plays und die von Finter untersuchten Theaterutopien in den Texten Mallarmes, Jarrys, Roussels und auch bei Artaud.46 Dennoch hielt sich die irrige Vorstellung, man habe zu unterscheiden zwischen dramatischem Texttheater einerseits, das eine Geschichte darstelle, und nicht-repräsentationalem, theatralischem Theater ohne Text andererseits. Sie wurde noch zementiert in einer zweiten Theatralisierungsbewegung der sechziger Jahre, besonders durch die Wiederentdeckung Antonin Artauds. Sein Ruf: »Schluß mit den Meisterwerken« wurde, ebenso wie die Präferenz für Körper- vor Verbalsprache, ohne Differenzierung der Ursachen übernommen. Dabei ging es auch Artaud ursprünglich weniger um eine Verbannung des Textes aus dem Theater als um die Entgrenzung der Sprachen des Theaters durch Erforschung neuer Sinngebungsmodalitäten jenseits der symbolischen und ikonischen Repräsentation, Dies zeigt, aufbauend auf Derridas Artaud-Lektüre, 47 Finters Arbeit ebenso, wie sie die Aufmerksamkeit darauf lenkt, daß diesen Modalitäten (als dem »Texttheatralischen«)48 durchaus auch innerhalb poetisch-literarischer Texte, und nicht nur auf der Bühne, nachgespürt wurde. Finter zufolge fehlten zu Beginn unseres Jahrhunderts noch die Voraussetzungen für die Realisierung der Visionen avantgardistischer Autoren, Theatralität und literarischen Text zu versöhnen und so die Ungleichzeitigkeit des Dramas als einer fiktionalen und repräsentationalen Gattung im Schreiben für das Theater zu überwinden. Diese können daher von ihr als U-topien beschrieben werden: Sie hatten keinen Ort. Die Veränderung ästhetischer Sensibilitäten, die Entwicklung postdramatischer Theaterformen und ein neues, poststrukturalistisches Sprach- und Zeichenverständnis lassen 44
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Vgl. hierzu Hans-Peter Bayerdörfer: »Eindringlinge, Marionetten, Automaten: Symbolistische Dramatik und die Anfänge des modernen Theaters«» Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, hg. v. Viktor 2megac, Königstein/Ts., 1981, S. 191-216. Borchmeyer: »Theater (und Literatur)«, 1987. Vgl. Helga Finter 1990s und 1990b. Jacques Derrida: »Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation«, Die Schrift und die Differenz, FfM, 1972, S.351-379. Als das »Texttheatratische« bestimmt Finier »all die translinguistischen Phänomene, die die Codes übersteigen und die Materialität des Sprechakts indizieren«: Finter 1990a, S. 2f. 31
dagegen heute erwarten, daß auch nicht-repräsentationale Texte auf dem Theater ihren Ort finden. 2.1.3 Text im Theater heute: Neue Voraussetzungen Das Theater der Postmoderne belebt avantgardistische Ästhetik neu und akzentuiert sie um: Experimente mit der Desemantisierung (Abstraktion) der Verbalsprache, mit der Dekonstruktion des sprachlichen Zeichensystems und der Nutzung vorwiegend lautlicher Qualitäten - Klang und Rhythmus der Signifikanten werden im zeitgenössischen Theater fortgeführt.49 Zugleich wird die Semiotisierung des Körpers als Sprache des Theaters, welche die historische Avantgarde bereits an die Mechanisierung seiner Bewegungen und seine Umformung vom ikonischen Zeichen in ein mehrdimensionales Spiel disparater Signifikanten koppelt, in einer Desemantisierung50 auch des Körpers negiert. Postmodernes Theater hebt also auf der Suche nach einer theatralen Universaisprache durch konsequente Desemantisierung von Körper und Sprache die »semiotische Differenz« zwischen Körper und Sprache auf, von welcher das bürgerliche Illusionstheater geprägt ist, und die das avantgardistische Theater lediglich umbewertet. Die Dominanz von Sprache oder Körper auf dem Theater ist heute nicht mehr gleichzusetzen mit der Dominanz symbolischer oder ikonischer Zeichen. Wichtiger als dieser Befund des Verschwindens einer Differenz erscheint aber in unserem Zusammenhang, worin sich diese Differenz aufhebt: Sowohl Sprache als auch Körper erscheinen »in gleicher Weise weitgehend desemantisiert und in ihrer Funktion als Zeichen dekonstruiert«,51 haben also ihre (hier symbolisch, da ikonisch) repräsentierende Funktion als Zeichen im postmodernen Theater verloren. Wenn somit durch neue Möglichkeiten, Verbalsprache jenseits ihrer Darstellungsfunktion zu nutzen, ebenso wie durch die Möglichkeit, den menschlichen Körper und seine Bewegungen als reine Signifikanten jenseits ihrer Ikonizität einzusetzen, die oben angeführten Voraussetzungen für die Gleichsetzung von Theatralisierung und Entliterarisierung des Theaters entfallen, wenn Text und Theatralität also kein Gegensatzpaar mehr bilden, muß eine Theatralisierung nicht nur des 49 50
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Vgl. hier und im folgenden Fischer-Lichte 1992. Fischer-Lichte verwendet gleichermaßen die Begriffe »Desemantisierung« und »Desemiotisierung«, von denen der letztere hier als mißverständlich vermieden wird. Ibid. S. 136.
Theaters, sondern auch des Dramas einen Weg aus seiner Ungleichzeitigkeit weisen. Tatsächlich haben neben der als Artaud-Nachfolge begriffenen Entliterarisierung zwei Entwicklungen der modernen Dramatik den Weg aus der Krise gewiesen, die bezeichnenderweise als episches und absurdes Theater geläufig sind. Beide brechen radikal mit dem bisher vorausgesetzten Prinzip der Darstellungsästhetik, delegieren die Sinngebung an die Rezeption und lassen sich als »Narration in dramatischer Gestalt«52 nicht mehr charakterisieren, konstituieren also eine neue, nicht-dramatische Theatralität, In unserem Zusammenhang bleibt für das zeitgenössische Verhältnis von Theater und Text festzuhalten, daß die zu Zeiten der Avantgardebewegungen vorgenommene Verknüpfung der beiden Forderungen nach Retheatralisierung und Entliteraräsierung des Theaters heute nicht mehr zwingend ist. Sie resultierte daraus, daß dem Drama abgesprochen wurde, was fürs moderne Theater als konstitutiv erkannt wurde: Theatralität 51 als Autoreflexion theatraler Signifikantenpraxis, Die Tatsache, daß über Jahrhunderte hinweg die Spannung zwischen Text und Theater relativ problemlos und produktiv genutzt wurde und daß sie problematisch erst mit dem ästhetischen Paradigmenwechsel zur Moderne wird, läßt vermuten, daß dem Drama nicht Theatralität schlechthin abgesprochen werden kann. Vielmehr hält mit der Moderne ein neues Verständnis von Theatralität Einzug, das unvereinbar ist mit dem auf repräsentationaler Ästhetik basierenden Theatralitätsbegriff, den bis dahin das Drama ebenso impliziert wie das dramatische Theater. Die Einsicht in die historische Wandelbarkeit von Theatralität gehört zu den neueren Positionen der Theaterwissenschaft, S4 und Helmar Schramms Thesen zum »Zusammenhang von Theatralität und Denkstil« 55 (der zugleich 52 53
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Lehmann 1991, S. 1. Angesichts der aktuell zu konstatierenden Entgrenzung des Theater- und des Theatralitätsbegriffs, den Schramm als »interdisziplinäres Diskurselement« verstanden wissen will (Helmar Schramm: >»Theatralität< und Schrift/Kultur«, 7ZS, 35 (1993), S. 101-108, zit. als Schramm 1993a), erscheint es notwendig, zu betonen, daß hier vordergründig nur einer der Aspekte von Theatralität interessier!, nämlich Theatralität als Bestimmungskriterium für Theater (insbesondere in seinen zeitgenössischen Erscheinungsformen), das wiederum als Medium ästhetischer Kommunikation verstanden wird. So die Ergebnisse der Berliner Schule zur Theatralität und das Leipziger Theatralitätskonzept, »Die Vermessung der Hölle: Über den Zusammenhang von Theatralität und Denkslii«, Forum Modernes Theater 10 (1995), H.2, S.119-125 (zit. als Schramm I993b). Zu Schramms Theatralitatskonzept vgl. im folgenden neben 33
ein Zusammenhang von Theatralität und Sprache ist, da Denken und Sprache sich gegenseitig bedingen) machen plausibel, daß moderne Weltsicht, Sprachskepsis und Abkehr von repräsentationaler Ästhetik auch das Verständnis von Theatralität radikal ändern. Aufgrund der neuzeitlichen Dominanz des literarischen Theatermodells ging Theatralität in unserem Kulturkreis lange Zeit in ihrer dramatischen Ausprägung, der Dramatizität, auf. Diese ist allerdings als >die Dramatik< bzw. >das Dramatische< potentielle Eigenschaft auch anderer literarischer Gattungen56 und wird somit bei der Suche nach dem spezifisch Theatralischen, welches modernes Theater als Kunst betont und reflektiert, als ungenügend befunden.
2.1.4 Die Krise des Dramas als Krise einer Wahrnehmung Viele Regisseure arbeiten heute mit der Spannung zwischen konventionellem, repräsentationalem dramatischem Text und neuer., autoreflexiver Theatralität einer Inszenierungspraxis, die Figuren, Handlung und Sprache der Vorlage perspektiviert, mechanisiert, dezentriert, fragmentarisiert, dekonstruiert und die Signifikanten der Bühne desemantisiert bzw. ihre Semantisiemng als Vorgang bewußt macht. Diese Spannung besteht freilich nur, solange Text und Regie unterschiedliche Begriffe von Theatralität zugrundelegen. Zahlreiche Symptome in der zeitgenössischen Stückproduktion aber weisen darauf hin, daß die Entwicklung neuer Formen der Theatralität jenseits der Dramatizität durchaus erkannt wird, ja, daß von einer »Aneignung des sogenannten Regietheaters durch den Autor«57 zu sprechen ist. Einerseits werden mit Handlung, Figuren und Dialog zunehmend Strukturelemente des traditionellen Dramas (als Eingeständnis der Ungleichzeitigkeit des dramatischen Theaters) durch »dramaturgische Selbstreflexion«58 im Metadrama thematisiert. Sie werden auch problematisiert durch Handlungslosigkeit in Dramaturgien der Statik bzw. der endlosen Wiederkehr, durch Reduktion des Personals auf entindividualisierte Schwundfiguren oder durch monologische bzw. chorische Gestaltung anstelle des Dialogs. Auf der anderen Seite spiegelt sich auch der gewandelte Status des Textes im Theater:
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Schramm selbst auch Keim 1995, insbes. »1.2 Der kulturhistorische Ansatz von Helmar Schramm« (S. 15—i3). Zum >Dramatischen< vgl. auch Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, Zürich, 1946. So Köhn über Heiner Müller in Hinck [u.a.] 1988, S. 35. Franz Norbert Mennemeier: »Drama«, Moderne Literatur in Grundbegriffen 1987,5.89-101.
Seine Behandlung als Material wird im Fragment- und (Zitat-) Collagecharakter der Texte selbst ebenso vorweggenommen wie seine Nutzung als »sound pattern« und »rhythmische Sigmfikantenstruktur«^ in der Rückkehr gebundener und rhythmisierter Verssprache; die Verdrängung des Wortes durch das Bild wird schließlich provokativ aufgenommen von Autorinnen, die das traditionelle Verhältnis von Haupt- und Nebentext umkehren oder nur noch eine einzige Textschicht anbieten. 60 Bisher werden diese Symptome der Texte, wie hier in einem ersten Schritt auch, weitgehend nur ex negativo und aus der Sicht einer Darstellungsästhetik beschrieben: als Stillstand der dargestellten Handlung, als Sinnentleerung des dargestellten Dialogs oder Verzicht auf dialogische Struktur und als Entindividualisierung der dargestellten Figuren. So dienen sie vielfach als Beleg für die Unzulänglichkeit des dramatischen Theaters als Medium zur Darstellung von Welt und Weiterleben heute - eine Absicht, die von einer »noch immer latent mimetischen Kritik« 61 fraglos vorausgesetzt wird: »Wie kann man die heutige Welt auf dem Theater darstellen?« lautet bezeichnenderweise das Thema einer Diskussion mit zeitgenössischen Autorinnen, zu welcher die Dramaturgische Gesellschaft 1995 einlädt. 62 In diesem Zusammenhang ist die aus einer pragmatischen Definition der Dramatik resultierende und heute weitgehend durchgesetzte Position, der dramatische Text sei in seiner Eigenart als fürs Theater geschriebener Text ergänzungsbedürftig und finde in der theatralen Konkretisation erst seine wahre Bestimmung und Vollendung, zwar einerseits eine längst überfällige Korrektur des überholten Verständnisses vom Theater als einer Realisierungsanstalt für dramatische Texte, birgt aber andererseits die Gefahr, das Theatralische allein an Regie und Inszenierung zu delegieren, anstatt von einem Text, der fürs Theater geschrieben wird, auch die Berücksichtigung der gewandelten, nicht mehr als repräsentational vorauszusetzenden Theatralität zu verlangen bzw. sie in ihm zu suchen. 59
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So Pavis über den neuen Status des Textes in postmodemen Experimenten der Regie: »Die Inszenierung zwischen Text und Aufführung«, ZfS, 11 (1989), H. l, S. 13-27. Als frühes Bespiel für Theatertexte, die auf Haupttext ganz verzichten, sei Peter Handkes Das Mündel will Vormund sein (1968) genannt. Dieser von Klaus W. Hempfer (1992, S. 8) so treffend zusammengefaßte Befund Winfried Flucks bezieht sich zwar auf den Umgang mit postmoderner Narrativik (Thomas Pynchon), gilt aber verstärkt für den Umgang mit zeitgenössischen Theatertexten. Im Rahmen der 43. Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft vom 24, bis 27. November 1995 in Hamburg,
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Die Unmöglichkeit, postmodemes Theater und avancierte Formen der Regie zu »verstehen«, die zum »Stolpern« der Rezeption führt,63 geht mit Versuchen einher, deren Ästhetik der Artikulation als Metatheater zu beschreiben, das nicht mehr Bedeutung transportiert, sondern unter Verlegung des Dramas in die Sinne und in den Prozeß der Sinnkonstitution64 gerade Prozesse der Wahrnehmung und des Verstehens bewußt macht und dessen Sinn in der Eröffnung von Rezeptionsfreiräumen zu suchen ist. Theatrale Praxis wird somit als »Signifikantenpraxis« erkannt, die das »vielfältige Sinnpotential« der inszenierten Texte bzw. des Inszenierungstextes sichtbar macht, Interpretation verweigert und stattdessen den »Pluralismus der Bedeutungen« aufrechterhält.65 An zeitgenössische Theatertexte hingegen werden nach wie vor Kriterien der Repräsentationsästhetik angelegt, obwohl zeitgenössische Theatertexte den problematischen Status des Dramas ebenso reflektieren wie das gewandelte Verhältnis zwischen Theater und Text und ein neues Theatralitätsverständnis, Wo Status, Funktion und sogar die Existenzberechtigung des Textes auf der Bühne fraglich werden, sehen sich die Autorinnen neuen Herausforderungen gegenüber, die sich längst im Schreiben fürs Theater niederschlagen: als Versuch, Theater ohne Text und Regietheater herauszufordern und zu verändern,66 indem die Texte selbst postdramatisch werden. So wird der Status des Textes im Theater verteidigt, indem er neu definiert wird: jenseits des Dramas. Angesichts der Tatsache, daß zeitgenössisches Theater auf Errungenschaften der Regiekunst und der Bühnentechnik ebenso zurückgreifen kann wie auf zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten durch neue Medien und andere Kunstgattungen, die zunehmend Einzug ins (Performance-)Theater halten, ist heute im Grunde nichts mehr unspielbar. Es wäre zu erwarten, daß Theatertexte, die an seinerzeit tatsächlich »u-topische« Vorstöße avant63
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Hans-Thies Lehmann: »Ästhetik. Eine Kolumne: Über die Wünschbarkeit des Nichtverstehens«, Merkur, 48 (1994), H. 5, S. 426-431. Lehmann bestreitet den zentralen Wert des Verstehens im Umgang mit (zumal moderner) Kunst und fordert für die Theaterrezeption den »NV-Effekt, den des Nichtverstehens« ein. Von einem Hinweis auf Heiner Müller abgesehen, betrachtet er allerdings keine Texte, sondern Exponenten zeitgenössischer Regieäsihetik, Helga Finter: »Das Kameraauge des postmodernen Theaters«, Thomsen (Hg.) 1985, S. 46-70 (zit. als Finter 1985). Pavis 1982, S. 193f. Als »Herausforderung« (Roeder) des Theaters durch die Autorinnen, und nicht als Zeichen ihrer Unfähigkeit, ist denn auch Völkers Befund in Weber (Hg.) 1992 zu verstehen, die Autorinnen schrieben - so der Titel - »vorbei am Theater, so wie es ist«.
gardistischer Gestaltung anschließen, im postdramatischen Theater ihren Platz finden und somit ein neues Texttheater neben dem postdramatischen Theater ohne Text etablieren, Tatsächtich stellt sich die seit Mitte der siebziger Jahre wieder vielbeschworene Krise, in der zeitgenössische Dramatik sieh zu befinden scheint, heute tatsächlich auch und vor allem als Krise ihrer Wahrnehmung durch Theater, Kritik und weite Teile der Wissenschaft dar,67 als Krise auch der Dramenanalyse, deren Kriterien von Voraussetzungen ausgehen, welche die Texte bewußt nicht mehr erfüllen: Solange man zeitgenössische Theatertexte mit Instrumenten untersucht, die von Darstellungsästhetik ausgehen (etwa Fragen nach Handlungsstruktur, Figurenkonstellation, Sympathielenkung etc.), ohne zuerst den Anspruch der Texte und das von ihnen implizierte Verständnis theatraler Kommunikation zu hinterfragen, entgeht einem ein gut Teil ihres ästhetisch-innovativen Potentials. Die unumkehrbare Entwicklung, die das Theater in unserem Jahrhundert vollzogen hat, führt allen Totsagungen des Dramas zum Trotz - wohl auch aufgrund der abendländischen Tradition der Literalkultur -6Sä nicht zur definitiven Verbannung des Textes vom Theater. Das Literaturtheatermodell und der Logozentrismus des dramatischen Theaters wurden relativiert, nicht abgeschafft. Im Gegenteil läßt sich feststellen, daß die Stellung des Textes im Theater seit Anfang der achtziger Jahre wieder stärker wird.69 Einerseits wächst (wieder) das Interesse an Gegenwartsdramatik, die Theaterautorinnen zeigen zunehmend Selbstbewußtsein. Auf der anderen Seite wird eine »Utopie des Buches« im postmodernen Theater konstatiert,' 70 werden Sprache und (durchaus auch lyrischer oder narrativer) Text als Material für experimentelles Theater wiederentdeckt. 71 So ist die Prognose, »daß die Zeit des Textes im Theater erst kommen wird«, 72 welche angesichts der jahrhundertelangen Dominanz des Literaturtheaters absurd erscheinen mag, ver67
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Zur Krise des Gegenwartsdramas als Krise einer Wahrnehmung: Matthias Müller 1992, S. 399-403. Diese These vertritt Bayerdörfer 1987. Entsprechende Befunde liefern beispielsweise Thornsen (Hg.) 1985, Borchmeyer 1987, S. 380 und Floeck in Schoell (Hg.) 1991, S. 1-17. Finter !990b, S. 141. Hierzu etwa Hajo Kurzenberger: »Erzähltheater. Zur Theatralisierung epischer Texte von Franz Kafka und Marguerite Duras«, Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, 1994, S. 171-181. So Heiner Müller in einem Gespräch 1989. Heiner Müller u. Robert Weirnann: »Gleichzeitigkeit und Repräsentation: Ein Gespräch«, Postmoderne - Globale Differenz, hg. v. Robert Weimann u. Hans Ulrich Gumbrecht, FfM, 1991, S. 182-207, ZitatS. 195. 37
ständlich vor einem neuen Verständnis von Text im Theater, der als Theatertext jenseits des Dramas erst zu definieren wäre. Das Drama stellt nicht länger die Textform dar, in der fürs Theater geschriebene Texte fraglos aufgehen. Seine traditionelle Form und die repräsentationale Theatralität, welche diese voraussetzt, werden heute nicht nur in Inszenierungen thematisiert, problematisiert und ersetzt, sondern auch in Theatertexten. Es erscheint notwendig, die Verwendung des Dramenbegriffs zu hinterfragen und eine neue Begrifflichkeit einzuführen.
2.2 Theatertext und Drama: Zur Begriffs Verwendung 2.2.1 Theatertext und Drama Nirgendwo hat sich der Normanspruch eines Gattungsbegriffs so durchzusetzen und zu behaupten vermocht wie in der Geschichte des Dramas, dessen Theorie auch dann noch im geheimen Bann der aristotelischen Poetik stand, als die Praxis der Dramatiker und der Bühne längst über sie hinweggeschritten war.73 Fürs Theater geschriebene Texte zeichnen sich also dadurch aus, daß sie Theatralität implizieren. Versteht man Theatralität aber als wandelbare Größe, so müssen diese Texte mit einem dynamischen, offenen Gattungsbegriff erfaßt werden. Eine Revision des pragmatisch definierten Oberbegriffs für Texte der gemeinhin als dramatisch bezeichneten Gattung (im Sinne eines »Sammelbegriffs« mit »Klassencharakter«)74 ist im Grunde seit Szondis Feststellung überfällig, daß »die Entwicklung in der modernen Dramatik vom Drama selbst wegführt«:75 Wo fürs Theater geschriebene Texte ebensogut »episch« sein können, wird ihre konventionalisierte und abkürzende Bezeichnung als >Drama« problematisch. Eine interkulturelle Perspektive würde das Problem noch zusätzlich verschärfen, denn gerade im Kulturenvergleich ist der Oberbegriff >Drama< von jeher kaum haltbar. Obgleich also in einschlägigen Lexika >Drama< nach wie vor als »Sammel-Bezeichnung für sämtliche Spielarten von auf szenische Realisierung im Theater hin angelegten literarischen Werken, die sich ihrem Bauprinzip nach mehr an den 73 74 75
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Walter Hinck (Hg.) 1980, S. 7-10 (Einleitung), Zitat S. 7. Hempfer 1973, S. 28. Szondi 1963 [1956] S. 13. Dieser Satz trifft auch dann zu, wenn man von Szondis normativer Definition des Dramas (Absolutheitsknterium) zugunsten einer strukturellen Definition absieht
Zuschauer als an den Leser wenden«, 76 geführt wird, ist heute folglich deutliches Unbehagen im Urngang mit diesem Begriff spürbar, sobald er über das klassische Modelldrama hinaus angewendet werden soll. Die Literaturwissenschaft definiert denn auch >Drama< enger mit den Kriterien eines »konfliktträchtigen Handlungsgeschehens« in Dialog und Monolog, während >Dramatik< zwar als »Sammelbegriff für Schauspieltexte« beibehalten wird, darüberhinaus aber, nach Staiger, auch das Dramatische als die »Spannung bewirkende Eigenschaft« bezeichnet, die »potentiell in sämtlichen literarischen Gattungen nachweisbar« ist.77 So ist auch die bereits erwähnte Tatsache erklärbar, daß die beiden Entwicklungsstränge der Dramatik, die das zwanzigste Jahrhundert gerade durch ihre Überwindung des traditionellen Dramas prägen, meistenteils als episches und absurdes Theater geführt werden. Während die Ersetzung des in sich widersprüchlichen Begriffs >episches Drama< durch die Formulierung vom epischen Theater noch mit der engen Bindung dieser Dramaturgie an Theater-, Schauspiel- und Inszenierungstheorie erklärbar ist, beruht die häufig festzustellende Vermeidung auch der Rede vom absurden Drama offensichtlich darauf, daß diese Formulierung als widersprüchlich empfunden wird: Dramaturgien des Absurden zeichnen sich nun einmal nicht selten durch Handlungsstillstand aus. Dies verdeutlicht, daß trotz der propagierten pragmatischen Definition des Dramas sowohl Tradition der Dramentheorie als auch Etymologie des Begriffes fortwirken. Der Gattungsbegriff wird zusätzlich aufgeweicht, da der Einfluß v.a, englischsprachiger Forschung dazu führt, daß >Drama< mittlerweile nicht nur im Theater, sondern auch in Film und Fernsehen shuicrt wird 78 und außerdem (ebenso wie die Bezeichnung >Stück
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Stellvertretend für viele ähnliche eine Definition des Dramas aus der Brockhaits-Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl., Mannheim, 1988. Otto Lorenz: Kleines Lexikon liierarischer Grundbegriffe, München, 1992, S.30f. Beispielhaft und einflußreich Esslin 1989 und ders.: Was ist ein Drama? Eine Einführung, München, 1978. Vgl. auch Giles 1981. So beispielsweise in Beckerman 1970 und Pfister ^1988 [1982] sowie bei Lorenz 1992, wo unter dem Stichwort >Drama< Text und szenische Aufführung gliechermaßen behandelt werden.
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gödie als prädramatisch bezeichnet,80 hat er mit >Tragödie< immerhin einen Ausweichbegriff zur Verfügung. Texte des postdramatischen Theaters hingegen - und Lehmann deutet wiederholt an, daß die Entwicklung einer postdramatischen, »sich autonomisierenden ecriture scenique« der Regie ein Pendant im Bereich der Texte hat -S1 wird man kaum postdramatische Dramen nennen wollen (oder nichtdramatische, wenn man angesichts des faktischen Fortbestehens des Dramas sein mit diesem Begriff suggeriertes Ende nicht implizieren möchte). Tatsächlich stellt man gerade im Umgang mit zeitgenössischen Texten fest, daß ihre konventionalisierte, abkürzende Bezeichnung als Dramen (und manchmal sogar ihre Bezeichnung als Stücke) von allen Seiten vermieden wird: von Wissenschaftlern ebenso wie von Kritikern und - nicht zuletzt - von den Autorinnen selbst.82 Hier soll plädiert werden für die Ablösung des Sammelbegriffs >Drama< zur Bezeichnung aller Erscheinungsformen der pragmatisch definierten Gattung durch denjenigen des >TheatertextesTheatertext< unmerktich durch, wie etwa die Wahl des Titels »Theatertexte« für Peter Reicheis Textsammlungen83 und der Sprachgebrauch Hans-Thies Lehmanns in seiner Untersuchung von Heiner Müllers Bildbeschreibun^ belegen. Angesichts dieses für unsere Untersuchung paradigmatischen Textes schreibt Lehmann: Der Text wurde für [.,.] ein Theaterfestival geschrieben; Müller deklarierte ihn mehr als einmal als Theatertext und nach der Uraufführung [..,] stehen wehere Inszenierungen an. Doch inwiefern handelt es sich um einen Theatertextl Es 80 81 82
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Lehmann 1991. Ibid. S. 3. Ein Beispiel von vielen möglichen: Rainald Goetz' Heiliger Krieg, erster Teil der Trilogie Krieg, nach Angaben des Autors »drei Theaterstücke«, ist nach Kritikermeinung »alles andere als ein Drama« (Stegfried Schmidt: »Piff Paff singt der torkelnde Bürger«, Bonner Rundschau, 12.10.1987), ja sogar ein »Nicht-Stück« (Dieter Gerber: »Die Welt ist ein Dreck, es lebt einzig der Tod«, Bonner General-Anzeiger, 12.10.1987). Zur Klassifizierung der Texte durch Autorinnen und Verlage als »Szenen«, »Sequenzen«, »Schauspiele« und immer wieder als »Stücke« vgl. auch die Untertitel der behandelten Theatertexte, wie sie im Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Theatertexte, 2 Bde., Berlin/DDR, 1989 und 1990. Hans-Thies Lehmann: »Theater der Blicke: Zu Heiner Müllers Bildbeschreibung«,, Dramatik der DDR, hg. v. Ulrich Profttlich, FfM, 1987, S. 186-202.
gibt keine szenischen Anweisungen, keine eindeutige Handlung, keine Rollen, kein Drama. [...] Die Unterscheidung von dramatischem und theatralischem Text muß am Anfang der Analyse von Müllers neueren Texte stehen,^
Die Entscheidung für >Theatertext< als Oberbegriff ist aber über diese Vorbilder hinaus begründbar. Wenn Reichel selbst den von ihm verwendeten Begriff >Theatertext< kritisiert, da er »das literarische Kunstwerk auf seinen theatralischen Verwendungszweck [reduziert]«,86 so ist dem entgegenzuhalten, daß >Theatertext< als Kompositum in unübertrefflicher Weise den »Doppelcharakter«87 erfaßt, welcher der Dramatik als Bestandteil der Inszenierung im Theater einerseits und als literarischer Gattung mit Totstatus andererseits eigen ist. Das Vermögen, den Doppelcharakter der Gattung zu erfassen, gibt dem Begriff >Theatertext< den Vorzug vor heute ebenfalls gebräuchlichen Alternativen wie >Stück< und >SchauspielDrama< - auch synonym für >Aufführung< gebraucht werden und so tatsächlich Gefahr laufen, den literarischen Aspekt, der den Theatertext auch bestimmt, zu vernachlässigen. Dieser Gefahr entgeht der neue Begriff, ohne jedoch die Komponente der szenischen Bestimmung des Textes auszublenden. Eine pragmatische Konzeption der nicht mehr ausschließlich als literarisch betrachteten Gattung reduziert den Theatertext keineswegs auf einen seiner beiden Aspekte, sondern versucht im Gegenteil, sie gleichermaßen zu integrieren und so die vielbeschworene Einheit von Dramen- und Theatertheorie in einer Theatertext-Theorie zu ermöglichen, die zugleich Theatertheorie und Texttheorie ist. Wenn auch zeitgenössische Theatertexte den Anlaß für die Einführung dieses Begriffs liefern, so ist er doch auf postdramatische Erscheinungsformen, mit denen wir heute konfrontiert sind, durchaus nicht begrenzt. Definiert in Anwendung eines pragmatischen Gattungsverständnisses, umfaßt der Sammelbegriff >Theatertext< auch das Drama, das als dramatischer Theatertext nun als eine seiner historischen Untergattungen - und zwar als die im abendländischen Kutturkreis über Jahrhunderte dominierende - zu verstehen ist und damit noch einer engeren Definition bedarf. Diese wird mit Hilfe der Kriterien von Figuration, Narration und Fiktion den Dramenbegriff in Verbindung mit einer historischen Dramentheorie wieder präziser einsetzbar machen und die Aporien traditioneller Drarnentheorie und -analyse
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Ibid. S. 186, Herv. G.P.. Reichel (Hg.) 1990, S. 457. Juri] Striedter in der Einleitung zu Dramatische und Theatralische Kommunikalion 1992,5.7. 41
durch die Beschränkung ihrer Anwendung auf einen historisch und kulturell begrenzten Bereich des Dramas überwinden. 2.2.2 Szenische Theatralität und Texttheatralität Die pragmatische Definition des Theatertextes beschreibt diesen als Element einer dynamischen Klasse verbalsprachlicher Texte, weiche allein ihre Bestimmung oder - auch jenseits der »Autorintention« - ihre Eignung für die Bühne vereint. Der Doppelcharakter des Theatertextes macht die Spannung zwischen Theater und Text, die im Theater und Theatertext der Moderne bewußt aufgenommen und radikalisiert wurden,88 zum konstitutiven Merkmal der Gattung. Ob früher als »Entwerfungsfunktion in Hinsicht auf das Theatralische« und »theatralische Auftragsimmanenz« bezeichnet89 oder heute als »implizite Inszenierung« mit Hilfe der Intertextualitätstheorie definiert (Höfele), bezeichnend für den Theatertext ist der innerästhetische Medienwechsel: Der Theatertext stellt theatraie Zeichen (oder, genauer: Signifikanten) in Rechnung, die er selbst nicht besitzt. Damit verfügt er aber im Medium der Sprache über die Spezifität theatraler Signifikantenpraxis, über Theatralität, Theatertexte sind somit definiert als sprachliche Texte, denen eine performative, theatralische Dimension innewohnt. Theatralität wird zu ihrem Bestimmungskriterium, und mit dem historisch-kulturellen Wandel dieses zentralen Kriteriums, das sich weder als Struktur- noch als Bauelement fassen läßt, sondern ein operatives Vermögen, ein Potential bezeichnet, dessen Besonderheiten in den Analysen nachzugehen sein wird, wandeln sich auch Theatertexte. Theatralität wird nun aber auch heute noch häufig als Eigenschaft des Inszenierungstextes gerade »im Unterschied zum (dramatischen) Text«90 definiert. Neben dieser ausschließlich als Element der Bühne definierten szenischen Theatralität soll hier aber auch Theatralität irn Sinne einer »inhärenten
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Ibid, Theodor Franz Gottschalk: Die theatralische Struktur des Dramas, Bonn, 1952, S. 110 und 100. Diese mir nicht vorliegende Dissertation zitiert Joachim Hintze: Das Raumproblem im modernen deutschen Drama und Theater, Marburg, 1969, S. 4. Hans-Thies Lehmann: »Theatralität«, Brauneck/Schnei l in (Hg.) 1986, S. 986f (zit. als Lehmann 1986b). Vgl, auch im folgenden: »Tfheatralität] bezieht sich auf den gesamten Inszenierungstext minus den dramatischen oder sonstigen vorgegebenen linguistischen Text« (S. 986).
Qualität« von Texten 91 untersucht werden, was zur Unterscheidung von szenischer Theatralität und Texttheatralität führt: Während die dem traditionellen Verständnis entsprechende szenische Theatralität spezifische Eigenschaften des theatralen Kunstwerks bezeichnet, 92 die auf Grundprinzipien theatraler Kommunikation zurückführbar, wenn auch in ihrer konkreten Ausbildung historisch veränderbar sind, sollen als Texttheatralität diejenigen Qualitäten eines Textes gelten, die solch szenische Theatralität entweder implizieren oder durch Eigenarten sprachlicher Gestaltung nachempfinden. In einer Arbeit über Beckett, die in seinen Romanen theatralische Dimensionen erschließt,91 deutet sich - mit der für das Thema grundlegenden Einsicht in Möglichkeiten der »Grenzverwischung« zwischen den Gattungen, mit der Feststellung der engen Verwandtschaft zwischen Theatralität und (zumal poetischer) Sprache -94 eine Perspektive von »Theatralizität« als einer Qualität der Sprache an. Diese wird nicht konsequent durchgehalten, da später vor allem nach der Behandlung von Körper, Stimme, Bild, Raum, Zeit und Perspektive in Beckctts Texten gefragt wird und damit eine Ausrichtung mehr an inhaltlich-thematischen denn an sprachlichen Phänomenen erfolgt. Tatsächlich wird die »Theatralizität« in Becketts Romanen (dem Untersuchungsgegenstand angemessen) hauptsächlich als implizite szenische Theatralität verstanden, wobei kein dramatischer Begriff von Theatralität, sondern - mit Gespür für die Autoreflexion bei Beckett - Finters Begriff
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Keim 1995, S. 41. In Anlehnung an Helmar Schramm, insbes. an »Theatralitäl und Öffentlichkeit: Vorstudien zur Begriffsgeschichte von »Theater« (Ästhetische Grundbegriffe: Studien zu einem historischen Wörterbuch, hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius u. Wolfgang Thierse, Berlin/DDR, 1990, S. 202242) eröffnet Keim drei »Suchfelder« für Theatralität als »metaphorisches« und »rhetorisches Modell« sowie als »schöne Kunst« und versucht, diese auch für die Suche nach Theatralität in den späten »Dramen« Heiner Müllers nutzbar zu machen: Keim 1995, S. 9^40, »Theatralität des dramatischen Textes«. Es sei nochmals betont, daß die vielfältigen Schattierungen des Theatralitätsbegriffs als eines »interdisziplinären Diskurselements«, die Schramm (1993a) beschreibt, in der vorliegenden Arbeit nur interessieren, sofern sie sich im Kunstwerk {Text oder Aufführung) niederschlagen. Beate Zeller: Theatraüzitüt in Becketts Romanen, Magisterarbeit [unveroff.], München, Univ., 1995. Die Begriffsbildung >Theatralizität< für das theatralische Potential im Text - analog zu ähnlichen Termini wie Dialogizität, Ästhetizität etc. - wird eingangs gerechtfertigt mit einem Querschnitt durch gängige Definitionen von >TheatralitätTheater der Bilden, im Performance-Theater und im Tanztheater, Versteht man mit Schramm Theatralität als historische, also veränderbare Größe, so müssen semiotische Überlegungen zur Spezifität theatraler Bedeutungsproduktion oder Signifikantenpraxis immer auf eine konkrete Ausprägung von Theater zurückbezogen werden und erscheinen so zwangsläufig als historisch und kulturell bedingt. 95 96
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Keim 1995,5.83. Ibid. S. 42.
Die Frage nach der Art der impliziten Theatralität zeitgenössischer Theatertexte führt in Anlehnung an Finter97 dazu, neben oder anstelle der traditionellen Theatralität dramatischer Theatertexte (Dramatizität), die »im Hinblick auf [ihre] möglichen Botschaften oder die Referenten [ihrer] Zeichen zu fassen«98 sind, in den zeitgenössischen Theatertexten eine autoreflexive, »analytische« Theatralität zu vermuten, die nicht mehr binnenfiktional (durch Interpretation der szenisch präsentierten Vorgänge im inneren Kommunikationssystem und der Form ihrer Darstellung) zu begreifen ist. Vielmehr muß sie - mit Hilfe des Verständnisses von Theatralität als eines vom jeweiligen »Rezeptionsrahmen« abhängigen »Wahmehmungsmodus« 99 - im äußeren Kommunikationssystem, im Spiel-Raum zwischen Bühne und Zuschauerraum, situiert werden. Diese Notwendigkeit begründet die eingangs erwähnte methodische Berücksichtigung der theatralen Zuschauerperspektive, die als dynamische, gegenwärtige, unumkehrbare Wahrnehmung beschreibbar ist, welche sich angesichts einer PluraÜtät synchroner Codes selbst organisieren muß. 100 Als wesentlich für das avantgardistische wie für das postrnodeme Theater wurde oben die Abkehr von der problematisch gewordenen Repräsentation angeführt. Finters Begriff der »konventionellen« Theatralität ist in der Lage, eben diese repräsentationale Ausprägung der Theatralität zu erfassen, die lange Zeit als ihre einzige verstanden wurde. Was Finter mit Bezug auf szenische Theatralität die »Rhetorik einer Präsenz der Integration von visueller und akustischer Ordnung« 101 nennt, schlägt sich im Theatertext als seine konventionelle Theatralität nieder, die unter Rekurs auf den weiter unten eng definierten Dramenbegriff {vgl. 2.2.4) auch als dramatische Theatralität bzw. Dramatizität des Textes benannt werden kann. Diese resultiert 97
Vgl. Helga Finter 1994. Finters Betrachtungen über zeitgenössische Theaterästhetik werden hier auf Ästhetik und Wirkungsprinzipien der Theatertexte übertragen, was umso zulässiger erscheint, als Finter selbst stets (auch) das »Texttheatralische« im Auge hat, 99 Mit dieser Formulierung zitiert Schramm (1993a, S. 102) Elizabeth Bums: Theatricality; A study of convention in ihe theatre and in social life, New York, 1976. a °° »Au theatre, il va bien falloir que le spectateur cadre, organise sa perception [...]«, beschreibt Anne Ubersfeld diese Bedingung theatraler Rezeption, welche sie von der Rezeption eines Films unterscheidet, der durch die Kameraführung die Blickrichtung weitgehend vorschreibt (Anne Ubersfeld: L'ecole du spectateur, Paris, 1981,5. 303). 10i Finter 1994, S. 184. 98
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aus dem Verständnis des Theaters als Ort der dramatischen Repräsentation (vergegenwärtigenden Darstellung). Postmodernen Theaterformen weist Finter nun eine analytische Theatralität zu. Diese Formulierung trägt der Tatsache Rechnung, daß dieses Theater mit der von der historischen Avantgarde eingeforderten nicht-repräsentationalen Theatralität die Neuorganisation des Verhältnisses zwischen Bühne und Publikum verwirklicht: Theater ist heute nicht länger fraglos Raum der Repräsentation (Dar-Stellung), sondern kann stattdessen als Ort der kritisch-analytischen Auseinandersetzung mit ihren Mechanismen und Voraussetzungen genutzt und so »als Imaginations- und Beziehungsraum neu [definiert]«102 werden. Theatrale Bedeutung wird für den Zuschauer dann als Prozeß einer Konstruktion (Her-Stellung) von Sinnbezügen erfahrbar. Ähnlich erkennt Wirth mit Bezug auf Robert Wilsons Theater im Paradigmenwechsel vom »interpretativen« zu einem »hermeneutisehen« Theater, das Perzeptionsfreiräume eröffnet, eine neue Freiheit für den Spieler und den Zuschauer, der den Raum der >linearen< Lektüre verläßt und sich in den Raum der freien Reflexivität begibt, die durch die Kinetik und den Rhythmus der Performance inspiriert ist. Die Produktion des Sinnes wird zu einer Sache des Zuschauers und schließt endlose, gleichwertige Lektüren ein. 103 Theatralität ist somit im postdramatischen Theater weniger ein Bündel von Eigenschaften der dargestellten Geschichte und der Strategien ihrer szenischen Vermittlung als Fabel, sondern vielmehr eine Qualität des kognitiven Erlebnisses in der Aufführungssituation: ein Wahrnehmungsmodus. Wenn Finter von analytischer Theatralität spricht, betont sie besonders die ästhetischen, autoreflexiven Qualitäten desjenigen »Fragments«104 der Theatralität, das wir hier untersuchen: Theater als Kunst bedient sich nicht nur der Theatralität, sondern reflektiert auf sie und damit auf sich selbst.105 Somit wird Theater zur Stätte szenischer »Analysen« der spezifischen Funktionsweise theatraler Kommunikation, und das bedeutet neben der Autorefiexion theatraler Signifikantenpraxis (Theaterkunst als Entgrenzung der theatralen
102 103
1(M
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Horst Turk (Hg.): Theater und Drama, Tübingen, 1992, Einleitung S. XVI. Andrzej Wirth: »Theaterkonzepte der Gegenwart«, Floeck (Hg.) 1988, S. 1-6, Zitate S. 5f. Schramm 1990, S. 235: »Eine prinzipielle Gegenstandsbegrenzung des Theatralischen im Rahmen einer systematischen Theorie ist zur Zeit nicht absehbar, eher ein langer Marsch durch die Fragmente«, Zur Autoreflexion als Merkmal der »ästhetischen Botschaft«: L?mberto Eco: »Die ästhetische Botschaft«, Einfiihrung in die Semiotik, München, ^1994, S. 145-167.
Sprache) auch Autoreflexion der kognitiven Prozesse (wo Theatralität als Wahrnehmungsmodus verstanden wird). Betrachtet man zeitgenössische Formen des Theaters mit Hilfe eines Theatralitätsbegnffs, der als wandelbarer heute neben seiner weiterbestehenden dramatisch-konventionellen Ausprägung auch in einer seibstbezüglichen, analytischen Ausprägung existiert und als solcher die veränderten Bedingungen menschlicher Wahrnehmung und Bedeutungsproduktion reflektiert, so steht nichts gegen die Annahme, auch fürs Theater geschriebene Texte könnten statt der dramatischen solche nichtdramatische Theatralität implizieren. Zahlreiche zeitgenossische Texte lassen, wie postdramatische Formen des Theaters auch, das Drama als fiktionaie, repräsentationale Gattung hinter sich und entwerfen damit ein postdramatisches Theater. Die Analysen werden zeigen, daß die »dramatische« Gestalt der Texte nicht zwingend an eine Nutzung konventioneller Theatralität gebunden ist, sondern daß die Struktur des Dramas vielmehr von dieser ablösbar ist. 2.2.4 Drama und dramatische Form Parallel zur Unterscheidung zwischen konventioneller und analytischer Texttheatralität werden als >Dramen< hier solche Theatertexte bezeichnet, welche konventioneile Theatralität in der »dramatischen« Geschichte (dem Dargestellten) und ihrer Umstrukturierung zur Fabel (der Darstellung) wirksam machen und sie somit als intrafiktionale Texttheatralität konstituieren. Drama wird hier also definiert als die Darstellung einer sich in Raum und Zeit erstreckenden Geschichte von Figuren, und damit als repräsentationalfiktionale Gattung neben anderen. Pfister stellt nämlich fest, daß eine »Geschichte«, die er mit Hilfe ihrer Strukturelemente Figur, Raum und Zeit definiert, Substrat sowohl des dramatischen als auch des narrativen Textes sei und als Gattungskriteriurn maximal Dramatik wie Narrativik einerseits, die er beide als fiktionaie Gattungen voraussetzt, von argumentativen und deskriptiven Texten andererseits scheiden könne. 106 Das Drama unterscheidet 106
Pfister 51988 [1982] S, 265. Hier schließt er offensichtlich an Kate Hamburgers Logik der Dichtung an, die epische wie dramatische Dichtung unter dein Oberbegriff der »fiktionalen oder mirnetiscnen Gattung« im Gegensatz zur lyrischen Dichtung zusammenfaßt und die Abgrenzung der Dramatik von der Epik mit Hilfe der »strukturellen Tatsache« vornimmt, daß aufgrund des »Fehlens der Erzählfunktion« (bei Pfister: des vermittelnden Kommunikation.ssystems) »die Gestalten dialogisch gebildet sind«: Hamburger 1987 [1957], S. 174, 47
somit von erzählenden fikiionalen Texten tatsächlich nur seine Bestimmung fürs Theater und damit die Übernahme der vermittelnden Funktion durch das Medium des Theaters,107 was seinen Niederschlag vor allem in strukturellen Merkmalen des Dramas findet: Die Geschichte (Fiktion)108 wird nicht erzählt, sondern in sprachlichem (Dia- oder Monolog) und nichtsprachlichem Handeln der Figuren szenisch dargestellt, wobei das Drama Plurimedialität und Gegenwärtigkeit der Aufführung in Rechnung stellt und damit die symbolische Repräsentation durch ikonische Elemente der Bühne erweitert, die es zwar nicht besitzt, aber impliziert. Dies führt inhaltlich zur Forderung nach Dramatizität des Dramengeschehens (der Umstrukturierung der Geschichte zur dramatischen Fabel) und strukturell zum Vorhandensein zweier Textschichten. Die Begriffe der Figuration und der Narration sollen im folgenden die Strukturmerkmale des Dramas bezeichnen, seine dramatische Form, die sich aus dem »In-Rechnung-Stellen« der referentiellen Illusion im repräsentationalen Theater ergibt: Schauspieler werden in ihrer ikonischen Funktion als Darsteller von Figuren in Rechnung gestellt (Figuration), und auch das Raum und Zeit umfassende Bühnengeschehen wird in ikonischer Funktion zur Repräsentation eines in fiktionaler Zeit und fiktionalem Raum situierten fiktionalen Geschehens genutzt (Narration). Daraus leiten sich auch die beiden Erscheinungsformen der Sprache im Drama ab: als figurengebundener Haupttext (Mono- oder Dialog: direkte Rede) und als Nebentext, welcher die szenisch erzählende Funktion der Bühne in Rechnung stellt. Anders als die Definition des Dramas läßt diese Bestimmung der dramatischen Form offen, ob ein Theatertext der Darstellungsästhetik folgt, und bezieht sich nur auf sein äußeres Erscheinungsbild. Formal dramatische Theatertexte werden erst dann als Dramen beschreibbar (und analysierbar), wenn sie zugleich ihre theatrale Wirkung aus dramatischer, intrafiktionaler Theatralität beziehen. Die Krise des Dramas ist dann nichts anderes als ein Fortbestehen dramatischer Form unter Aufgabe intrafiktionaler Theatralität, denn die so definierte dramatische Form ist nun freilich auch gelöst von ihrer ursprünglichen Funktion verwendbar, Fiktion szenisch zu »erzählen«. Verdeutlichen 107
Das epische Theater und seine Texte nutzen bewußt die Tatsache (und machen sie zugleich explizit), daß das vermittelnde Kommunikationssystem im Theater nicht verschwindet, sondern daß die szenische Darstellung, die der Text impliziert, diese vermittelnde Funktion übernimmt. lös Ungeachtet der Existenz historischer und dokumentarischer Dramatik wird hier >Fiktion< als Synonym für >Geschichte< (in Pfisters Sinne) verwendet.
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mag dies wiederum ein Vergleich mit der bildenden Kunst. Hier entspricht dem Begriff der dramatischen Form etwa derjenige der Gegenständlichkeit, des figurativen Kunstwerks im Gegensatz zum abstrakten, konkreten, ungegenständlichen. Nun umfaßt gerade im zwanzigsten Jahrhundert, wo nach einer Phase der Abstraktion gegenständliche Kunst gleichberechtigt neben ungegenständlicher wieder Einzug hält, der Begriff der Gegenständlichkeit unterschiedliche, ja gegensätzliche Richtungen, welche die wiedergewonnene Gegenständlichkeit verschieden funktionalisieren: Während etwa Narrative Art und Figuration libre sich bewußt als erzählerische Malerei definieren und Pop An oder der Neue Realismus den Gestus des Zeigens von Realität betonen, ist Thema des Fotorealismus in seinen hyperrealistischen »Darstellungen« gerade die Möglichkeit, Realität durch photographische Technik zu manipulieren. 109 Ebenso vielfältig wie die Fimktionalisierung der seit der Abstraktion nicht mehr selbstverständlichen Gegenständlichkeit in der bildenden Kunst sind nun aber die Spielarten der Nutzung dramatischer Form vom Fernsehrealismus bis zur Dekonstruktion des Dramas. Das Vorliegen struktureller Merkmale des Dramas (Figuration, Narration) allein macht einen Theatertext also noch nicht als Drama versteh- und analysierbar. Ebenso wie die Gegenständlichkeit muß die dramatische Form weder notwendigerweise noch primär oder ausschließlich an eine repräsentationale Darstellungsästhetik gekoppelt sein. Dramatische Form geht nicht automatisch einher mit intrafiktionaler Theatralität und der Funktion der Fiktionsdarstellung, die aber gerade strukturalistische Dramentheorie fraglos voraussetzt. Vielmehr kann dramatische Form auch in den Dienst einer Wirkungsästhetik genommen werden, die sich kritisch gegen eben diese Funktion wendet, kann Theatertext in dramatischer Form das Drama als dramatische Fiktion dekonstruieren und kritisieren, wodurch die Frage nach dem Dargestellten zweitrangig oder irreführend wird. Nicht alle Theatertexte, welche die dramatische Form nutzen, sind als Dramen verstehbar, so sind nach unserer Definition etwa Theatertexte Becketts, die miteinander sprechende Figuren auf die Bühne bringen, dramatisch der Form nach, aber eben nur der Form nach: Beckett nutzt die dramatische Form kritisch. Das dritte Kapitel wird an Beispielen ausführlich verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit der dramatischen Form vorstellen: Zeitgenössische Theatertexte können die dramatische Form problemlos nutzen, sie können aber auch diese Nutzung einer ungleichzeitigen Form des Theatertextes kritisch reflek109
Nach Karin Thomas: Bis Heule: Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert, Köln, 91994, bes. S. 265-330: »Wiedergefundene Wirklichkeit«.
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tieren, indem sie die Form dekonstruieren und mit nichtdramatischer Texttheatralität kombinieren. Schließlich sind sie auch in der Lage, die dramatische Form zu überwinden und neue Formen des Schreibens fürs Theater zu erproben. Dieser Befund, der an einem Querschnitt durch die zeitgenössische Theatertextproduktion gewonnen wird, spiegelt die vielfältigen Möglichkeiten des Theaters als einer autonomen Kunst heute: Auch hier bestehen die problemlose Inszenierung klassischer Modelldramen, ihre Dekonstruktion in kritischen Inszenierungen und schließlich Experimente mit Theaterformen ohne Text nebeneinander. 2. Die Herangehens weise an die einzelnen Stücke folgt einem wirkungsästhetischen Ansatz. Als »einer der wichtigsten Paradigmenwechsel der neueren deutschen Geisteswissenschaft«110 darf die Aufwertung der Rezipientenseite in der Ästhetik gewertet werden. Wenn »die Reduktion fiktionaler Texte auf eine diskursive Bedeutung« seit Anbruch der Moderne »als eine historische Phase der Interpretation« betrachtet werden kann,''' so ist dafür nicht mehr ausschließlich die Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule verantwortlich - deren Erkenntnisse konsequent auch auf Dramatik anzuwenden im übrigen versäumt wurde.112 Führt das semiotische Zeichenverständnis ohnehin zu einer Konzeption des offenen Kunstwerks (Eco), dessen >Inhalt< oder >Bedeutung< unabhängig vom Rezipienten gar nicht mehr beschreibbar ist, so ist die Berücksichtigung der Rezeption im Bereich des Theaters umso unverzichtbarer, als hier das dialektische Verhältnis von Produktion und Rezeption mit Händen zu greifen ist, Sowohl der Theatertext als auch seine Inszenierung entstehen als ästhetische Objekte erst durch ihre Konkretisation in der Aufführung und deren Wahrnehmung durch das Publikum, 113 Für das Feld der Inszenierungsanalyse hat sich eine semiotische Herangehens weise durchgesetzt, gleiches muß nun aber auch für die dramaturgische Analyse der Theatertexte eingefordert werden. Ein Problem stellt dabei die verdoppelte Rezeptionssituation im Theater dar: Die Regie114 ist 110
Hiß 1993, S, 19. ' Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. München, 3 1990, S. 23. 112 Frühe Ansätze für eine Einbeziehung der Zuschauerrolle in die Dramenanalyse liefern immerhin Volker Klotz (Dramaturgie des Publikums, München, 1976) und, für unser Thema ergiebiger, Hans Christoph Angermeyer (Zuschauer im Drama: Brecht - Dürrenmatt - Handke, FfM, 1971). 113 Vgl. hierzu Pavis 1988. 114 Abkürzend soll im folgenden das Team der verschiedenen >Theatermacher< (Regisseur, Dramaturg, Bühnen- und Kostümbildner etc.) mit dem Begriff >Regie< bezeichnet werden. 1!
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zugleich (primärer) Rezipient des literarischen Theatertextes und Produzent eines szenischen Textes, der als Lektüre dieses Theatertextes gelten kann. Diesen szenischen Text wiederum rezipieren die Theaterzuschauer, die damit zugleich (primäre) Rezipienten des szenischen Textes und (sekundäre) Rezipienten des in der Inszenierung vermittelten literarischen Textes sind. Eine Berücksichtigung der im Theatertext enthaltenen möglichen Zuschauerrollen (sekundäre Rezeption) gehört zu den Grundvoraussetzungen einer wirkungsästhetischen Analyse ebenso wie die Erarbeitung von theatralischem Potential aus dem Text für die Inszenierung (primäre Rezeption), Irn Mittelpunkt des Erkenntnisinleresses steht dabei aber, im Gegensatz zu empirischer Zuschauerforschung, nach wie vor der Text, dessen performatives Potential erschlossen werden soll. 3. Nicht nur die Rezeption, auch die Artikulation der Signifikanten hat wesentlichen Einfluß auf die Erzeugung von Sinnpotentialen. Das den Strukturalismus dynamisierende Verständnis von Kunst als Prozeß der Bedeutungskonstitution wendet den Blick vom Kunstwerk, seinem Inhalt und/oder seiner Form, auf die Funktionsweise seiner Signifikantenpraxis. Hier liegt die Chance für ein Verständnis des Kunstwerks als Prozeß auch der Dialektik von Form und Inhalt, das die Unterscheidung in einen Zweck (Inhalt, Aussage) einerseits und seine Mittel (Form, Gestaltung) andererseits auch und gerade angesichts der Einsicht in die Autoreflexion der ästhetischen Botschaft hinfällig macht. An die Stelle einer Form- oder Inhaltsanalyse tritt somit die Funktionsanalyse des Textes, der als Textmaschine verstehbar wird. 115 Mit dem sinnlichen und dynamischen Element der Erfahrung bedürfen somit auch die pragmatische Dimension der Aufführung, deren Wahrnehmung durch den Zuschauer als »Konkretisation einer Konkretisation« den Theatertext als ästhetisches Objekt erst konstituiert, 116 und ihre spezifisch theatralen Möglichkeiten der Artikulation der Einbeziehung. Der Theatertext wird so als Entwurf eines in Raum und Zeit situierten, kommunikativen Textgeschehens verstanden, dessen Mechanismen - und nicht: dessen diskursive Bedeutung - die Analyse zu erschließen hat, soweit dies aus dem Text möglich ist. Dies muß keineswegs eine Reduktion auf die Beschreibung oberflächlichen, selbstgenügsamen Spiels der Signifikanten bedeuten. Es wird zu zeigen sein, daß sich gerade aus den Funktionsentwür115
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An dieser Stelle danke ich meinem Lehrer und directettr de mmlrise JeanFran9ois Peyret, der bei der Behandlung von Texten Heiner Müllers unzählige Male ermahnte, nicht nach der Bedeutung zu suchen, sondern zu fragen »comment & fonctionne«. Pavis 1988, S. 19^-8 (Kapitel 1.1.2: »Rezeption und Konkretisation«). 51
fen der Texte und ihrem Experimentieren mit kontingenten Formen der Signifikantenpraxis ihr Sinn (wenn auch nicht ihre Bedeutung) gewinnen läßt. 4. Zum Thema der Historizität wurde eingangs schon deutlich, daß das Selbstverständnis dieser Arbeit einen überhistorischen, universalen Geltungsanspruch ausschließt. Wenn hier scheinbar selbstverständliche Gattungskriterien und Fragen der Dramenanalyse durch ihr Versagen vor zeitgenössischen Theatertexten als historisch bedingt - und somit der Bereich ihrer sinnvollen Applikation als begrenzt - gekennzeichnet werden, so impliziert dies, daß auch die hier erarbeiteten Kriterien der Gattung und ihrer Analyse nicht zeitlos gültig sind.117 Die einführend vorgenommene Revision des als zu eng erkannten neuzeitlichen Dramenbegriffs wird somit auch bewußt nicht als seine Ersetzung, sondern als seine Erweiterung in Richtung eines pragmatischen und dynamischen Oberbegriffs von Theatertext vorgenommen, innerhalb dessen keine neuen Hierarchien aufgebaut werden sollen. Darüberhinaus müssen die Versuche der Einzelanalysen, den Sinn der Texte zu bestimmen, immer unter der bereits erwähnten Voraussetzung des gegenwärtigen sozialen Kontexts gesehen werden. Gerade die aufführungsbezogene Analyse, die sich ja immer auf eine konkrete historische (hier: die gegenwärtige) Theaterpraxis bezieht, ist dem historischen Wandel besonders unterworfen. Die Einzelanalysen sind nach allem, was oben zum semiotischen Verständnis der Texte gesagt wurde, lediglich als »Lektüren«,118 als Vorarbeiten im Sinne einer Freilegung der Funktionsmechanismen der Texte zu verstehen, die der Konkretisation durch Inszenierungen in historischen Situationen und sozialen Kontexten bedürfen. 5. Eine letzte methodische Vorentscheidung betrifft den Umgang mit dem Paradigma der sogenannten postmodernen Ästhetik. Das Auffinden >postmoderner< Elemente bzw. Merkmale in den Texten hat an sich noch keinen Erkenntnischarakter, zumal mit dem Etikett >postmodern< heute allzu viele, durchaus auch gegensätzliche Eigenschaften bezeichnet werden, und bedürfte somit ohnehin noch der Ergänzung durch eine Untersuchung ihrer Funktionalisierung. In Anbetracht der Tatsache, daß die Perspektiven postmodemer Ästhetik noch heftig diskutiert werden (die Möglichkeit einer klaren Unterscheidung von der ästhetischen Moderne, von deren Definition diejenige der Postmoderne substanziell abhängt, ist ebenso umstritten wie 117
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Zur Historizität von Gattungen: Klaus W. Hempfer: Gaftungsthearie, München, 1973. Zum Verständnis der dramaturgischen Analyse, die der Lektüre näher steht als der Interpretation, vgi. Kapitel 4.
die Zugehörigkeit einzelner Künstler zum einen oder anderen Bereich), wird Postmodeme hier mit Lehmann als »veränderter Blick auf die Moderne« 119 verstanden und als Hilfskonstruktion möglichst sparsam eingesetzt. Für unser Thema und aus semiotischer Sicht nutzbar erscheinen aus der Diskussion um die Postmoderne ohnehin vor allem Ansätze, die in der Postmoderne einen »Einbruch der avantgardistischen Problematik in die Kunst der Moderne« vermuten, 120 so daß sich eher eine Bezugnahme auf die Ästhetik der Avantgarde anbietet. Das gemeinsame Merkmal postmoderner und avantgardistischer Ästhetik, das in der »Suche nach neuen Modellen des Zeichengebrauchs« liegt, die zu einer »Emanzipation des Signifikanten« und dadurch zur »Suspension des Sinns« führt 121 - ein Phänomen, das Krislevas Befund von der »Revolution der poetischen Sprache«122 entspricht -, wird sich auch für unsere Untersuchung als zentral herausstellen. Auf eine durchgehende Nutzung der Avantgarde-Ästhetik als Vergleichshorizont wird hier zwar verzichtet, die Einbeziehung von Helga Finters Überlegungen zur Theatralität, die von Avantgardetheater und postmoderner Regie gleichermaßen ausgehen, trägt aber dieser Verwandtschaft Rechnung. Daß die vorliegende Arbeit sich mit Theatertexten des letzten Jahrzehnts beschäftigt, soll also nicht den Blick darauf verstellen, daß die leicht als postmodern zu qualifizierenden Erscheinungen weniger bahnbrechende Neuerfindungen darstellen als vielmehr die (oft durchaus bewußte) Wiederaufnahme, Fortführung und Radikalisierung von Ansätzen der historischen Theateravantgarde. Der Bereich des postmodernen Denkens, Bewußtseins und Welterlebens dagegen, der mit den Schlagworten von der Ästhetisierung der Lebenswelt, von der Simulationsgesellschaft, der Hyperrealität und der Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion (durch Verdopplung des Realen) nur angedeutet werden kann, und für den das Phänomen des Weltverlustes durch das Wissen urn die Reproduzierbarkeit der Realität zentral ist, bildet als »sozialer Kontext« (Pavis) den epistemologischen121 Hintergrund, der liy 120
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Lehmann 1985, S. 251. So Peter Bürger in Postmoderne: Allrag, Allegorie und Avantgarde, hg. v. Christa u. Peter Bürger, FfM, 1987, S. 11. Vgl. dazu auch: Avantgarde und Postmoderne, hg. v. Erika Fischer-Lichte u. Klaus Schwind, Tübingen, 1991, sowie Fischer-Lichte 1992. Lehmann 1985,5.250. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, FfM, 1978. Im Sinne von Foucaults Begriff der episteme als Fundament für das in ihren verschiedenen Diskursen sich manifestierende Wissen einer Epoche (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, FfM, ' 2 1994 [ 1974]).
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(auch ästhetisches) Erleben beeinflußt und ändert und insofern auch Eingang in die hier angestellten Betrachtungen finden wird.124 Im folgenden sollen nun zunächst mit Überlegungen zur Ästhetik des zwanzigsten Jahrhunderts und zum gewandelten Verhältnis von Theater und Text die Bedingungen des Schreibens fürs Theater heute umrissen werden, ehe mit der Revision des Dramenbegriffs und der Definition der hier verwendeten Terminologie Grundlagen für die anschließenden Analyseversuche geschaffen werden.
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Das hier zugrundegelegte kulturhistorische Verständnis der Postmoderne verdankt sich insbesondere dem von Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe herausgegebenen Band Postmoderne: Zeichen eines kulturellen Wandels (Reinbek, 1986). Informationen über weitere eingeflossene Positionen zur Postmodeme sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen.
3.
Theatertext heute: Möglichkeiten des Umgangs mit der dramatischen Form
Zunächst soll also in einer Bestandsaufnahme ein Überblick über Formen zeitgenössischen Schreibens fürs Theater gegeben werden. Dabei wird eine Systematisierung der Formenvielfalt zeitgenössischer Theatertexte notwendig. Angesichts des bestehenden Durcheinanders von Dramentypologien, welche die unterschiedlichsten Texte einmal nach formalen bzw. strukturellen, dann wieder nach inhaltlichen oder historischen Aspekten ordnen,1 wobei vielerlei Überschneidungen auftreten, und von denen keine in der Lage ist, nichtdramatische Theatertexte zu erfassen, ist die Vorstellung von der Möglichkeit einer umfassenden, zeitlos gültigen Typologie verschiedener Theatertexte verlockend. Allerdings erscheint ein solches Unterfangen nicht nur als unrealisierbar, sondern auch als gar nicht wünschenswert, da heute mehr denn je jedes Kunstwerk seine eigenen Gesetze entwirft - vorschnelle Klassifizierungen und Etikettierungen behindern nur die Sicht darauf. Eine aus Gründen der Übersichtlichkeit freilich notwendige Systematisierung der Theatertexte wird hier also bewußt als Hilfskonstruktion ex negativo mit ihrer Einteilung in verschiedene Varianten des Umgangs mit der dramatischen Form versucht. Die Art und Weise des Umgangs mit der traditioneilen, als historisch erkannten Form des Dramas als Kriterium einer vorläufigen Systematisierung ist notwendig, um auch jüngste, nichtdramatische Texte fürs Theater zu erfassen zu können, die von herkömmlichen Dramentypologien versiändlicherweise noch nicht berücksichtigt werden. Dieses zugegeben grobe Raster, das lediglich der Orientierung dient, trennt nämlich im wesentlichen zwei große Gruppen: Es gibt Texte, welche die dramatische Form nutzen - diese Gruppe ist hier nochmals differenziert in problemlose und kritische Nutzung der dramatischen Form -, und solche, die sich von ihr gelöst haben. Zwischen beiden stehen die Gruppe monologischer Theatertexte, die als Sonderfall behandelt wird, sowie Texte, die als 1
Beispiele liefern Artikel zum Drarna in einschlägigen Lexika, die unter diesem Begriff unterschiedslos Tragödie, Komödie, Charakter-, Ideen-, Schicksals-, Situations-, Tendenz-, Monodrama usw. aufzählen.
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Mischformen formal dramatische mit nichtdramatischen Elementen kombinieren. Das besondere Interesse dieser Arbeit gilt vor allem Texten, welche die dramatische Form kritisch nutzen oder sich ganz von ihr gelöst haben. Der Frage nach Möglichkeiten, solche Theatertexte zu analysieren, wird in den folgenden Einzelanalysen anhand der konkreten Beispiele nachgegangen, im darauffolgenden vierten Kapitel werden diese Möglichkeiten der dramaturgischen Analyse dann zusammengefaßt und systematisiert. Die Ergebnisse werden zusammen mit den Vorüberlegungen zu nicht-repräsentationaler Ästhetik und Theatralität auch ein Manko der hier getroffenen Systematisierung zu überwinden helfen: Sie werden nichtdramatische Theatertexte und solche, die dramatische Form kritisch nutzen, jenseits des (negativen) Bezugs auf das Drama beschreibbar machen als konkrete und analytische Theatertexte, Ein Überblick über die vielfältigen Arten der problemlosen und kritischen Nutzung dramatischer Form soli im ersten Teil gegeben werden. Tatsächlich vollzieht sich die Nutzung der traditionellen dramatischen Form heute nur in den wenigsten Fällen wirklich problemlos, zumeist wird sie umfunktioniert oder von innen heraus dekonstruiert (etwa durch selbstbezügliches Spiel mit der dramatischen Form, Irreführung der Rezipienten oder Verlagerung des Interesses auf die poetische Funktion der Sprache), wodurch die Konventionalität der Form und die Unangemessenheit des Repräsentationsprinzips zur künstlerischen Bewältigung von Welt, wie wir sie heute erleben, bewußt gemacht werden. Die Meta-, die Wirkungs- und die Materialebene rücken in den Vordergrund, treten gleichwertig neben die im Drama zentrale Ebene des Dargestellten oder verdrängen sie. Diese Tendenzen sind zur Vollendung gebracht in verschiedenen Varianten der Überwindung der dramatischen Form, die auf die konventionellen Elemente des Dramenbaus (Dialog, Figur, Situation) nun ganz verzichten und uns mit gänzlich neuen Formen des Theatertextes konfrontieren. Zwischen beiden steht als Sonderform der monologische Theatertext: In seiner figurativ-situationalen Ausprägung stellt er eine Variante der Nutzung dramatischer Form dar, in seiner abstrakten oder konkreten Ausprägung jedoch kann er der Überwindung der dramatischen Form zuneigen. In einem kurzen Einschub werden außerdem Mischformen behandelt, die Passagen der dramatischen Form mit nichtdramatischen Elementen kombinieren. Man sieht sich insgesamt einer Formenvielfalt gegenüber, der gerecht zu werden sicher nicht einfach ist. Tatsächlich existiert alles »zwischen der völligen Zersetzung der dramaturgischen Grundbegriffe< [.,.] und ihrem scheinbar unproblematischen Weiterbestehen«. In Anlehnung an Brechts 56
Bestreben, das Experimentelle als die definitive Funktion des Theaters zu bestimmen, sollte man die im folgenden vorgestellten, sehr verschiedenen Formen von Teatertexten nicht als Versuche betrachten, »zu einer endgültigen Form zu kommen«: »Endgültig sollte nur die Verschiedenheit der Formen sein«.2 Die Systematisierung stellt somit zwar verschiedene Stufen der Radikalität im Umgang mit der dramatischen Form dar, ist aber keinesfalls mißzuverstehen als Ausdruck einer einsinnigen Entwicklung - dagegen sprechen schon Fälle, wo die dramatische Form einmal konsequent verabschiedet und dann wieder genutzt wird, wie etwa bei Gisela von Wysocki, die mit Der Erdbebenforscher* und Im Land des Himmeis4 nach AbendLandleben^ und Schauspieler Tänzer Sänge ri«6 zur dramatischen Form zurückkehrt, oder bei Eifriede Jelinek, die auf den nichtdramatischen Theatertext Wolken.Heim.1 mit Totenauberg6 und Raststätte^ zwei Stücke folgen läßt, welche die dramatische Form - wenn auch kritisch - nutzen. Die Möglichkeiten des Umgangs mit der dramatischen Form sind als verschiedene, durchaus gleichberechtigte Dramaturgien zu verstehen, die von einer postmodern-pturalistischen Theaterpraxis, welcher »die verschiedensten Genera der Tradition grundsätzlich reaktualisierbar erscheinen«,10 kontrovers oder spielerisch gegeneinander gesetzt, aber auch innerhalb eines Werkes kombiniert und gemischt werden können. Einer eindeutigen Abgrenzung und Klassifizierung fester Typen entzieht sich die zeitgenössische Textproduktion ebenso wie der Konstruktion einer einsinnigen, unumkehrbaren Entwicklung im Schreiben fürs Theater, Allerdings macht gerade die ins Positive gewendete Verfügbarkeit historischer Bau- und Strukturformen die Frage nach der Funktionalisierung, Umwertung und eventuellen Unterwanderung der nun auch spielerisch genutzten, nicht mehr zwingend aus dem 2
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Bertolt Brecht, Brief vorn August 1946 an Eric Bentley. Bertolt Brecht: Briefe, hg. u. kommentiert v. Günter Gtaeser, FfM, 1981, S, 531-534, Zitat S, 532. Spectaculum 57, FfM, 1994, S. 249-269. Ausführliche Daten zu den zitierten Fassungen der Theatertexte und ihrer Uraufführung sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. FfM [BMJ, 1991. Abendlandleben oder Appollinaires Gedächtnis: Spiele aus Neu Glück, FfM; New York, 1987. TH, H. 6/1988,5.22-32. Göttingen, 1990. Reinbek bei Hamburg, 1991. Raststätte oder Sie machens a lie, , H. 12/1994, S. 40-51, Ulrich Schulz-Buschhaus: »Dario Fos Revuetheater«, Floeck (Hg.) 1988, S. 69-83, Zitat S. 70.
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Inhalt sich ergebenden, ja mit diesem sogar zuweilen unvereinbaren dramatischen Form höchst notwendig. Sind auch Antitraditionalismus und die Ästhetik des Innovationszwangs, welche die Moderne und besonders die Avantgarde prägten, heute einem Bekenntnis zur Formenvielfalt und zur Pluralität der Ausdrucksmöglichkeiten gewichen, so bedeutet dies doch in keinem Fall Beliebigkeit. Vielmehr wird im Extremfall neben der Art ihrer Nutzung auch die Wahl der konkret genutzten, reaktualisierten Form aus dem immensen Repertoire der Tradition selbst bedeutsam. Das mag auch erklären, warum das schon vor Jahrzehnten totgesagte »absolute« Drama heute noch lebt - im Idealfall im Bewußtsein der eigenen Ungleichzeitigkeit, vergleichbar dem »nachmodernen Denken in den Bahnen einer >sich von sich selbst distanzierenden Vernunft«·!, 1 '
3.1. Zur Auswahl der Stücke Der Anspruch, einen repräsentativen Querschnitt durch die zeitgenössische Textproduktion zu bieten, macht es notwendig, etwas über die Kriterien zu sagen, nach denen die Auswahl der untersuchten und der analysierten Texte erfolgte. Die Vorentscheidung für deutschsprachige Texte des letzten Dezenniums (1985-1995) reagiert auf Befunde, die Klärungsbedarf zur zeitgenössischen »Dramatik« anmelden, und versteht sich als Bekenntnis zur Verantwortung, die Theater und Wissenschaft für den Bereich zeitgenössischer Theatertexte tragen. 1985 ist dabei sicherlich nicht als historischer Einschnitt in der (deutschen) Theatertextgeschichte zu verstehen. Angesichts der Notwendigkeit einer zeitlichen Begrenzung bot sich jedoch bei der vorliegenden Problemstellung das Jahr der Erstveröffentlichung und Uraufführung von Heiner Müllers Bildbeschreibung12 an, denn mit diesem Text vollzieht sich ein wichtiger und vieldiskutierter Schritt des Theatertextes fort vom Drama. Daraus ergibt sich der in diesem Rahmen noch überschaubare Zeitraum von etwa 10 Jahren mit Schwerpunkt auf den Jahren um 1990, Die Uraufführung eines Theatertextes findet in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle in der 11
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Dietmar Voss: »Metamorphosen des Imaginären - nachmodeme Blicke auf Ästhetik, Poesie und Gesellschaft«, Huyssen/Scherpe (Hg.) 1986, S. 219-250, ZitatS. 220. Erstveröffentlichung: Sinn und Form, 37 (1985), H. 5, S. 1042-1047. UA: 6.10.1985, Vereinigte Bühnen Graz (Steirischer Herbst 1985), Regie: Ginka Tscholakowa.
Sprache der Originalfassung statt, und so wird auch unser Untersuchungsgebiet von Sprachgrenzen, nicht von politischen Ländergrenzen abgesteckt. Unterschiede zwischen den einzelnen Nationalliteraturen mögen bestehen, wenn auch politische Grenzen zugunsten regionaler Bezüge in der Literatur zunehmend an Gewicht verlieren. Es sollte aber nicht als »Eingemeindung« 11 Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz mißverstanden werden, wenn diese Unterschiede nicht gesucht werden, sondern die Texte als homogene Gruppe dessen aufgefaßt werden, was deutschsprachigen Theatern zur Uraufführung vorliegt. Gerade mit Blick auf die gemeinsame Zukunft der ehemals zwei deutschen Staaten und ihrer Theaterkultur erschien es wünschenswert und notwendig, auch DDR-Dramatik der Jahre von 1985 bis 1990 in die Untersuchung miteinzubeziehen. Wenn unter den analysierten Beispielen dennoch kaum Texte aus der DDR zu finden sind, so ist der Grund dafür vor allem in den bereits erwähnten Veröffentlichungen Reicheis14 zu suchen: Die hier bereits vorliegende Dokumentation und Synthese von Formenvielfalt und Tendenzen in Dramaturgien der achtziger Jahre muß nicht wiederholt werden. Wichtiger erschien es, auf bisher unbestelltem Gelände ähnliches zu leisten. So fanden zahlreiche Theatertexte aus der DDR zwar Eingang in die Untersuchung, werden aber nicht ausführlich besprochen. Der Vergleich der hier erarbeiteten Ergebnisse mit Reicheis Darstellungen zeigt im übrigen, daß die Probleme, die Theatertexte der späten achtziger Jahre durch neue Ästhetiken aufwerfen, beinahe unabhängig von der politischen Grenze zwischen beiden deutschen Staaten existieren. Die meisten Befunde sind übertragbar, und das mag auch daran liegen, daß mit Brecht und Beckett, wenn auch unter je unterschiedlichem Vorzeichen der staatlichen Förderung oder Diskreditierung, auf beiden Seiten die großen Vertreter der klassischen Moderne, das epische und das absurde Theater, richtungsweisend wirken - und derjenige Autor, der in beispielhafter Weise diese beiden Stränge miteinander und mit einer neuen, postdramatischen Theaterästhetik verknüpft: Heiner Müller. Natürlich sind die Sonderstellung des Theaters und eine eigene Entwicklung der Ästhetik in der DDR nicht zu leugnen. Gerade die zeitgenössische Dramatik hatte als Gattung dort eine gesellschaftliche Stellung inne, die sie 13
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Frank Trommler: »Auf dem Weg zu einer kleineren Literatur: Ästhetische Perioden und Probleme seit 1945«, Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur, hg. v. Thomas Koebner, Stuttgart, 1984, S. I-I06, Zitat S. 20 und 25. Insbesondere Reiche! 1989a und 1989b, aber auch die Nachworte zu den Textsammlungen. 59
im Westen nie erreichte, erfüllte das Theater doch eine »Ersatzfunktion« als »letzter öffentlicher Ort, an dem noch Meinungsverschiedenheiten ausgetragen wurden«, 15 Die eingangs erwähnte Voraussetzung eines gemeinsamen sozialen Kontextes für zeitgenössische Theatertexte erscheint also zumindest mit Blick auf die DDR fraglich. Untersuchungen zum Theater der letzten Jahre der DDR allerdings zeigen, daß »die Phase der gesellschaftspolitisch getrennten Aufarbeitung von Kunst und Ästhetik« in beiden deutschen Staaten (und damit die These von den »zwei deutschen Literaturen«) bereits 1984 »selbst ein Stück Geschichte geworden« ist.16 Bereits seit Mitte der siebziger Jahre ist ein Verlust des politischen Primats in der Dramatik der DDR festzustellen und damit eine »Verschiebung vom Politischen zum Literarischen«,17 bald zeichnet sich auch eine Erweiterung des Realismusbegriffs ab. Infolgedessen halten Subjektivierung und Privatisierung - nicht nur der Themen, sondern auch als »subjektive Formfindung« 18 - zunehmend Einzug in das dramatische Schaffen auch der DDR. Zweifellos unterscheiden sich die Voraussetzungen für theatrale Produktion und Rezeption auch in den achtziger Jahren gravierend von denen im Westen Deutschlands. Daß trotz alledem gerade ein DDR-Autor wie Heiner Müller der Inbegriff postdramatischen Schreibens fürs Theater und der Exponent einer Aneignung des Regietheaters durch die Autorinnen werden konnte (durchgesetzt freilich erst durch seine Rezeption im Westen), zeigt, daß künstlerische Entwicklungen auch durch diese politische Grenze schwerlich etikettierbar sind. Dies erklärt, warum die (unterschiedslose) Einbeziehung von Theatertexten aus der DDR, deren Aussparung 1977 (in Positionen des Dramas) noch gerechtfertigt war,19 heute durchaus möglich und sinnvoll ist. Tatsächlich findet man gerade im hier untersuchten Zeitraum ab 1985 mehr Gemeinsamkeiten, als man vielleicht erwarten mag - schon bei den problematischen Voraussetzungen innovativen Schreibens fürs Theater. Für Ost wie West gilt: Der Förderung in Werkstätten, Arbeitskreisen und bei 15
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Jurek Becker: »Wiedervereinigung der deutschen Literatur«, Liitzeler (Hg.) 1991, S. 23-35, Zitat S. 24. Trommler in Koebner (Hg.) 1984, S. 17. Wolfgang Schivelbusch: »Dramatik in der DDR«, Hinck (Hg.) 1980, S, 482488, Zitat S. 482. Die folgenden Ausführungen orientieren sich außerdem auch an Peter Reicheis Veröffentlichungen, an Ernst Schumacher: »Theater und Alltag in der DDR«, Floeck (Hg.) 1988, S. 193-207, sowie an einschlägigen Beiträgen in TH und TdZ. Reiche! 1989b, S. 47. Arnold/Bück (Hg.) 1977. Die Aussparung der DDR-Dramatik wird auf S. 5 begründet.
Theaterfesten entspricht, zumindest da, wo mit neuen Formen experimentiert wird, keine kontinuierliche Spielplanpräsenz zeitgenössischer Theatertexte. Uraufführungsdünkel und Scheu vor Experimenten bestimmen weitgehend die Theaterpraxis, Autorinnen und Theater driften auseinander, wobei allerdings in der DDR noch relativ mehr Autorinnen im Theater eingebunden sind oder zumindest praktische Theatererfahrung vorweisen können. Erwartungshaltungen der Theater und des Publikums führen bei unkonventionellen Texten zu Mißverständnissen und Enttäuschung auf allen Seiten. Als Konsequenz aus dieser schwierigen Lage eint die Forderung nach einem »Autorentheater«, in der BRD vor allern von Florian Felix Weyh vertreten, in Ostdeutschland Autorinnen wie Baierl, Buhss, Hacks, Kein, Liebmann, Heiner Müller und Trolle.20 Auch die Symptome der Stückproduktion (Selbstreflexion und Dekonstruktion des Dramas, vgl. 2.1.4) erweisen sich als großteils deckungsgleich, wenn auch die aktuellen Gründe dafür aufgrund der nicht zu leugnenden »Wechselwirkung zwischen ästhetischer Formulierung und sozialer Praxis«21 je unterschiedlich sein mögen. In Ost wie West treten insgesamt die Präsentation einer Kunstebene als eigener Wirklichkeit (statt Repräsentation) und das Theater als Kommunikationsprozeß in den Vordergrund auch da, wo noch Lebenswirklichkeit abgebildet wird. 22 Darüberhinaus ist festzustellen, daß zahlreiche Texte der jüngsten DDR-Generation zu finden sind, die sich herkömmlicher Ästhetik und Theatererfahrung ganz entschieden verweigern, neue Strukturen für ihre Vermittlung brauchen, eine ganz umgewandelte Bereitschaft der Zuschauer, sich ihren Überraschungen und Verstorungen zu stellen.23
Konventionelle Theatralität wird auch hier nicht mehr fraglos vorausgesetzt. Daß im Teil 2. l, der sich mit dem Verhältnis von Theater und Text befaßt und die Bedingungen des Schreibens fürs Theater im Zeitalter postdramatischer Inszenierungspraxis darstellt, weitgehend die westliche, vom nordamerikanischen Theater maßgeblich beeinflußte 24 Entwicklung zugrundege20 21 22
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Schumacher in Floeck (Hg.) 1988, S. 203. Arnold/Bück (Hg.) 1977, S. 5. Vgl. hierzu besonders Hartmut Krug: »Aufbruchsstimmung, Morgenluft? Aspekte jüngerer DDR-Dramatik«, 77/, H. 13/1988, S. 52-59, sowie Reiche! 1989a. Christoph Funke: »Theater und neue Dramatik: Eine Art Zwischenbilanz«, TdZ, H. 8/1989, S. 12f.. Zitat S. 13. Vgl. Wirth 1980.
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legt wird, die für den Bereich der DDR sicher nicht unmittelbar auf die Stückproduktion wirkte, liegt in der Orientierung der vorliegenden Arbeit an Zukunftsperspektiven begründet und darin, daß bei der »Wiedervereinigung« auch im Theaterbereich im wesentlichen BRD-Verhältnisse dominieren und auch die Zukunft bestimmen werden.25 Die postmoderne Inszenierungspraxis, in der BRD zu weiten Teilen in produktiver Auseinandersetzung mit Künstlern der Vereinigten Staaten entstanden und gefestigt, ist vielleicht der Bereich, in dem die größten Unterschiede zwischen DDR und BRD bestanden. Doch auch hier zeigt sich, daß die Unterschiede geringer sind, als gemeinhin angenommen. So entwickelte etwa der junge Autor, Regisseur und Schauspieler Jo Fabian noch zu DDR-Zeiten neben postdramatischen Texten auch eine ganz eigene Bühnenästhetik, die an Wilsons Frrühwerk und »postmoderne« westliche Theaterästhetik gemahnt, obwohl er beteuert, weder von Bob Wilson noch von Jan Fabre je Bühnenarbeiten gesehen zu haben, 26 Auch in diesem Bereich ist die Vermittlungsfunktion Heiner Müllers, der Robert Wilson in künstlerischer Zusammenarbeit verbunden war, wohl nicht zu unterschätzen. Die Notwendigkeit neuer Wege der Analyse lag also auch in der DDR offen zutage. Reichel konstatiert die Unzulänglichkeit thematischer Analysen angesichts veränderter Wirkungsstrategien junger DDR-Stückeschreiber: Die Tendenz, daß sich die »Autorabsicht« zunehmend »in der Komplexität des Kunstwerks und seiner spezifischen Strukturierung« realisiere, führe dazu, daß »eine vornehmlich ^stoffliche Betrachtung< (Jarmatz)« die ästhetischen Qualitäten der Texte verfehle.27 »Wirklichkeitsverhältnis, Schreibweisen und Rezeptionsproblematik in Texten junger Stückeschreiber« (so der Untertitel von Reicheis Signaturen und Lesarten) stimmen also zumindest in den letzten Jahren der DDR weitgehend mit denen ihrer westlichen Kolleginnen überein, und dies ist trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen verständlich, wenn man Reichel glaubt, daß ein an Heiner Müller orientierter Literaturbezug der Autorinnen, der auch irn Westen wirksam wird, einer Distanzierung von der national unterschiedlichen Theaterpraxis gegenübersteht.28 Auch hier gilt; Ein Vergleich der beiden Entwicklungen müßte den Schwerpunkt der Untersuchung auf Unterschiede legen und würde dabei auch zweifellos fündig. Die hier unternommene Untersuchung prinzipieller 25 26
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Diese Einschätzung nach Jurek Becker in Liitzeler (Hg.) 1991, S, 23-35. Stellvertretend für diverse Beiträge zu diesem Phänomen: Christoph Müller: »Die Gegenwart der Vergangenheit«, TH, H. 12/1994, S. 55. Reichel I989a, S. 258. Reichel 1989b, S. 72.
Möglichkeiten, heute fürs Theater zu schreiben, betont dagegen stärker die Gemeinsamkeiten, so daß die unterschiedslose Einbeziehung einiger Texte aus der DDR möglich wird. Was aber einen Überblick über Theatertexte aus der DDR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre betrifft, sei insbesondere auf Reicheis Signaturen und Lesarten verwiesen, eine »erste Sichtung der dramatischen Produktion junger Stückeschreiber der DDR«, 29 im wesentlichen seit 1985. Seine Wertungen scheinen zwar nicht immer unproblematisch, doch die gewissenhaft zusammengetragenen und zu Tendenzen ausgewerteten Fakten zeigen so viel Gemeinsamkeiten mit westdeutschen Entwicklungen, daß bei den folgenden Betrachtungen die DDR-Dramatik auch der jüngeren Generation fast immer mit gemeint ist, ohne daß die bei Reichel bereits aufgeführten Autorinnen und Texte nochmals explizit untersucht werden müßten. Um dem repräsentativen Anspruch des Überblicksaspekts gerecht zu werden, wurden zunächst innerhalb der zeitlichen wie der Sprach-Grenzen vor allem solche Stücke berücksichtigt, die im Zusammenhang mit Literatur- und Dramatikerpreisen (v,a. mit dem alljährlichen Mülheimer Dramatikerwetlbewerb) oder Stücke mark ten, durch Abdruck in einschlägigen Fachzeitschriften, Anthologien und Reihen oder durch überregional beachtete Uraufführungen auf sich aufmerksam gemacht hatten und damit für das letzte Dezennium als prägend gelten können. Entsprechend der skizzierten Forschungslage wurde eine wichtige Einschränkung schon dieser ersten Auswahl mit dem Postulat der »Neuheit« vorgenommen: Es wurde weitgehend auf Texte solcher Autoren verzichtet, die sich auf den Bühnen bereits einen festen Platz erobert haben und auch (literatur)wissenschaftlich bereits breit behandelt werden. Namen wie Botho Strauß und Heiner Müller, Thomas Bernhard und Volker Braun, Peter Handke, Ulrich Plenzdorf, George Tabori, Tankred Dorst, Herbert Achternbusch oder Franz Xaver Kroetz findet man nicht unter den hier Behandelten. Auf der einen Seite sollte damit der Überfülle des Materials aus dem Weg gegangen werden, das zu diesen Autoren bereits vorliegt, von dem für unser Thema jedoch nur in beschränktem Rahmen Nutzbringendes zu erwarten war. Abkürzende Ungerechtigkeit, die schon bei den gewählten Theatertexten nicht immer zu vermeiden war, wäre in jedem Fall ohne diese Einschränkung unumgänglich gewesen. Diese erscheint insofern nicht nur aus pragmatischen Gründen notwendig, sondern auch vertretbar, als zu den etablierten Autoren bereits versierte Einzelstudien vorliegen. Da die Texte gerade der genannten Autoren aber als Wegbe29
Ibid. S. 10.
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reiter deutlich die zeitgenössische Produktion prägen, bilden sie freilich den wohl spürbaren Hintergrund auch dieser Untersuchung, Darüberhinaus wird auf einige besonders hilfreiche Beiträge zu Heiner Müller ebenso zurückgegriffen wie auf Positionen, die Peter Handke bereits Ende der sechziger Jahre für zeitgenössische Dramaturgien erstritt. Für das Postulat der »Neuheit« gibt es aber noch einen weiteren Grund: Die vorliegende Arbeit stellt sich bewußt der Herausforderung, die Matthias Müller angesichts der Krise gegenseitiger Wahrnehmung von Drama und Theater, angesichts aber auch des Fehlens eines akademischen Diskurses über zeitgenössische Theatertexte formuliert. Diese Herausforderung besteht darin, gegen den Teufelskreis, in dem nur auf den Bühnen bereits durchgesetzte Autorinnen und Stücke Eingang in akademische Untersuchungen finden, »eine zweite, parallele Rezeption zu eröffnen«.30 Daß erfreulicherweise kaum einer der untersuchten Theatertexte mittlerweile mehr seiner Uraufführung harrt, spricht nicht gegen diese Vorüberlegung - denn leider bleibt es eben oft bei der Uraufführung, und die Literaturwissenschaft nimmt, wo überhaupt, mit so erheblicher Verzögerung Notiz von den Stücken,31 daß sie den Theatern im Moment keinerlei Hilfe oder gar Ermutigung für den Umgang mit ihnen an die Hand geben kann. Großzügiger wurde dieses Kriterium übrigens auf ostdeutsche Autorinnen angewandt: Neben dem jungen Oliver Bukowski (Jhg. 1961), der erst nach der »Wiedervereinigung« fürs Theater zu schreiben begann, werden bewußt auch etablierte Vertreter der mittleren DDR-Autorinnengeneration behandelt, so etwa Werner Bubss (Jhg. 1949), Irina Liebmann (Jhg. 1943), Christian Martin (Jhg. 1950) und Lothar Trolle (Jhg. 1944), wo sie ästhetisch innovativ sind, auch um solche Autorinnen, die sich in der DDR während der achtziger Jahre gerade durchgesetzt hatten, nicht in der »Wiedervereinigung« untergehen zu lassen. Daß die Genannten 1988 noch zur jungen Generation der DDR-Autorinnen gerechnet werden,12 signalisiert übrigens eine ungenügende Rezeption auch zu Zeiten der DDR. Vernachlässigt wird bei diesem Engagement für die Älteren im Bereich der DDR die Generation der heute 30- bis 45-jährigen, von denen - um nur einige Namen anzugeben - Hartmut Krug schon Kerstin Hensel (Jhg. 1961), Peter Dehler (Jhg. 1963) und Sewan Latchinian (Jhg. 1960) nennt. 30 31
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M. Müller 1992, S. 408. Die Aufnahme eines Beitrags über Werner Schwab ins KLG (51, Nlg., Oktober 1995) etwa ist wohl allein der traurigen Tatsache zu verdanken, daß er, wiewohl zeitgenössisch, nicht mehr zu den lebenden Autoren gehört. Krug in W, H. 13/1988, S. 52.
Davon abgesehen, rücken mit dem Kriterium der »Neuheit« zahlreiche jüngere Autorinnen ins Blickfeld, auch wenn die Koppelung ans Alter der Autorinnen durchaus nicht zwingend ist - so hat beispielsweise Marlene Streeruwitz erst relativ spät begonnen, fürs Theater zu schreiben, Ausnahmen von der Regel der »Neuheit« wurden gemacht, wo sich bei etablierteren Autorinnen (wie Elfriede Jelinek und Peter Turrini) Neues in der Gestaltungsweise abzeichnet, das sich als (Parade-)Beispiel für auch anderweitig gesichtete Tendenzen nutzen läßt und sich zugleich stark vom bisherigen Schreiben der betreffenden Autorinnen unterscheidet. Ihre Stücke werden vornehmlich unter diesem spezifischen Gesichtspunkt betrachtet, das jeweilige Gesamtwerk kommt aber insofern zur Sprache, als es diese Dramaturgien vorbereitet oder zu ihnen kontrastiert. Was Elfriede Jelinek betrifft, so kommt hinzu, daß innerhalb der Forschungsliteratur zu ihrem Werk Theatertexte nach wie vor noch keine ihrer Bedeutung angemessene theaterwissenschaftliche Rezeption erfahren. Die Entscheidung, mehrere Stücke Jelineks zu behandeln, ist ebenso wie das Interesse für Stücke Gisela von Wysockis als Bemühung darum zu verstehen, Versäumnisse der Theater und der Forschung gerade im Bereich weiblicher Autorinnen wiedergutzumachen, deren Stücke für die Theater »unbequem« sind. Die endgültig ausgewählten und im folgenden behandelten Stücke sind repräsentativ für zeitgenössische Theatertexte nur insofern, als Vertreter aller Gruppen untersucht werden. Nicht repräsentativ dagegen ist ihr zahlenmäßiges Verhältnis zueinander. Verständlicherweise verhalten sich Quantität und Innovationspotential umgekehrt proportional zueinander, so daß auf dem Markt der Bühnenvorlagen unzähligen Texten der dramatischen Form eine relativ begrenzte Anzahl von nichtdramatischen Theatertexten gegenübersteht. Nun ist die Bestandsaufnahme in dieser Arbeit ja kein Selbstzweck, sondern steht im Dienst der übergeordneten Fragestellung, die sich vor allem auf Texte richtet, die den Rahmen des Dramas sprengen.
3.2 Nutzung der dramatischen Form Die meisten der fürs Theater geschriebenen Texte weisen auch heute noch die strukturellen Merkmale des Dramas auf und nutzen damit die dramatische Form. Karl Riha stellt zur Kunst und Literatur der 80er Jahre im allgemeinen fest, daß es sich hierbei »nicht eigentlich um eine Phase eminenter
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Neuerfindungen« handle 1 So bieten auch die meisten Theatertexte der 80er und beginnenden 90er Jahre keine originär neuen formalen Gestaltungsweisen, ihre Neuheit liegt allenfalls in der neuartigen Nutzung bzw. Funktionalisierung der traditionellen dramatischen Form zur Erzeugung nicht konventioneller Theatralität und in der Fortführung innovativer Tendenzen der historischen Avantgarde und klassischen Moderne. 3.2. l Problemlose Nutzung der dramatischen Form Die problemlose Nutzung der dramatischen Form, also die Nutzung nicht nur der spezifischen Struktur des Dramas, sondern auch der dramatischen (intrafiktionalen) Theatrahtät findet man heute noch in verschiedenen thematischen Bereichen. Ob die Bühne als Medium zur Darstellung gegenwärtiger oder historischer Wirklichkeit genutzt wird oder zur Projektion einer künftigen Lebenswelt, ob dies eher realistisch in Form von (Boulevard-)Komödie, Zeitstück oder Volksstück (auch der kritischen Tradition) geschieht, oder ob man sich gleichnishafter Formen wie der Lehrparabel oder des Märchenstücks bedient - wesentlich ist, daß die Theatertexte neben der dramatischen Form auch intrafiktionale Theatralität nutzen: Sie stellen die referentielle Illusion des Theaters in Rechnung, mit deren Hilfe ihre Fiktion szenisch erzählt wird. Die Verständigung mit dem Publikum beruht wesentlich auf der traditionellen Theaterkonvention des »als ob«. Simpler Widerspiegelungsreaiismus ist hierbei kein Muß, Fernsehrealismus zur Darstellung der Lebenswirklichkeit auf der Bühne wird häufig zu Recht kritisiert. Neben »journalistischem« Stil, der Zeitstücke oft in die Nähe der Kolportage rückt, findet man beispielsweise bei Texten, die in der Tradition des kritischen Volksstücks stehen, oft eine (meist an den Dialekt angelehnte) Kunstsprache. Gerade wo die Sprache der Figuren sich von der realistischen Wiedergabe der Dialoge poetisch entfernt, finden sich auch künstlerisch durchaus überzeugende Verknüpfungen aktueller Themen mit traditioneller dramatischer Form und Theatralität. Natürlich reicht es nicht aus, das unproblematische Fortbestehen der dramatischen Form trotz der festgestellten Ungleichzeitigkeit des Dramas mit ihrer Legitimierung durch die postmoderne Haltung des anything goes zu begründen. Von Interesse ist die Untersuchung der Bedingungen, unter denen solche Nutzung heute möglich ist, und ihrer möglichen Funktionen. Karl Riha: »Zur Literatur der achtziger Jahre: Ein Situationsbericht«, Kreuzer (Hg.) 1989, S. 225-24J, Zitat S. 240. 66
Daß es auch nach der Krise des »absoluten« Dramas Möglichkeiten gibt, unter weitgehendem Verzicht auf die »Absolutheit« figurativ erzählende, szenisch-dialogische Texte (also Dramen im hier verwendeten weiteren Sinne) fürs Theater zu schreiben, legt ja schon Szondi dar, wenn er Versuche zur Rettung des Dramas und zur Lösung der Widersprüche beschreibt. J4 Tatsächlich sind es weitgehend dramaturgische »Tricks« oder in den Dienst des Dramas gestellte episierende Elemente, die dazu beitragen, daß auch totgesagte dramatische Formen weiterleben. Was bei Szondi als Flucht aus der aktuellen in eine historisch oder sozial andere Gegenwart unter dem Stichwort >Naturalismus< abgehandelt wird, leisten heute neben den Volksstücken auch viele Stücke mit historischen Themen. Die Verabsolutierung des Dialogs in Konversationsstück und wellmade-play sind heute ebensowenig problematisch wie die Verabsolutierung einzelner Teile des »absoluten« Dramas unter Verlagerung der Spannung aus dem zwischenmenschlichen Bezug in die Situation, für die bei Szondi der Einakter angeführt wird, der heute auch und vor allem in der zugespitzten Form des Monodramas weiterlebt (vgl. 3.3). Auch auf den dramaturgischen Trick, in Situationen der Enge einen Mikrokosmos zu erzeugen, innerhalb dessen sich das Drama entfalten kann, und den Szondi unter der Überschrift »Enge und Existentialismus« abhandelt, wird immer wieder zurückgegriffen. Man kann fast sagen, daß die Beschränkung auf einen solchen Mikrokosmos einer künstlich erzeugten Gemeinschaft wie etwa die Passagiere eines Dampfschiffs (Engelmann: Hochteitsfahrt)^, die Bewohner eines Asylbewerberheims (Langhoff: Transit Heimat)^ oder die Gaste einer Silvesterfeier (Elfriede Müller: Glas)*1 heute weitgehend zur Regel geworden ist, ohne daß die Autorinnen dies als Notlösung zur Rettung des Dramas empfinden, Elfriede Müller bekennt zu Glas ganz offen: »Mein Stück hat keine Auf- und Abtrittsdramaturgie. Der Ort ist das einzige, was die Figuren zusammenschweißt« und fügt hinzu, daß sie diese stoffliche Beschränkung auch formal in einer »Dramaturgie des Rondo« spiegelt. Dabei ist es selbstredend durchaus möglich, daß ein solcher Mikrokosmos über sich selbst hinausweist und als »banales Exempel« für »gesellschaftliche Befunde« dient. Gleiches gilt für das konventionelle Familien drama: Der private Rahmen wird oft nur vordergründig beibehalten. 38 Umfassendere, 34 35 36 37 38
Vgl. hier und im folgenden Szondi 1963 [ 1956], S. 83-161. Zürich;FfM, 1986. TH, H. 3/1994, S. 45-52, Spectaculum 5l, FfM, 1991, S. 137-182. So auch ein Befund Reicheis (1990, S. 458). 67
große Themen, die sich im Rahmen eines solchen Mikrokosmos eigentlich nicht abhandeln lassen, werden dann durch den Griff zu Parabel, Metapher oder die Bearbeitung überlieferter Mythen wieder künstlich auf einen solchen (nun metaphorisch für größere Zusammenhänge zu verstehenden) Mikrokosmos reduziert. Diese Formen sind - wohl aufgrund der stärker verankerten Tradition - vor allem in der DDR-Dramaük zu finden, wobei Reichel, unter Hinweis auf die Vielzahl »unverschlüsselter« Gegenwartsstücke der 80er Jahre, betont, daß zumindest bei DDR-Dramatik dieser Zeit die Motive für solche Verschlüsselung nicht mehr in »Selbstzensur« zu suchen sind.39 Schließlich können die von Szondi als »Lösungsversuche« aufgeführten verschiedenen Spielarten der Episierung ja durchaus nicht nur zur Distanzierung der Zuschauer, sondern auch zur Stützung der Fiktion eingesetzt werden. Die »Absolutheit« des Dramas, Szondis normative Prämisse, mag damit durchbrochen werden, doch die dramatische Form kann problemlos weiterbestehen. Gerade die von Szondi erkannten Neuerungen im modernen Drama, die dessen Absolutheit durchbrechen, sind es, die das Drama jenseits der Absolutheit überlebensfähig machen - nämlich da, wo sie in den Dienst der Fiktion gestellt werden. Epische Ebenen werden gerade in Anlehnung an Techniken des Films (Rückblende, Montage, Schnitt) eingesetzt, ohne daß die Geschlossenheit der dargestellten fiktionalen Welt dadurch aufgebrochen würde. Als hörbar gemachte Gedanken zu verstehende (»innere«) Monologe und eingeschobene, perspektivisch geprägte, teils erinnernde Szenen unterstützen im Gegenteil die Fiktion oft unter Rekurs auf die Zuschaugewohnheiten eines von der Filmästhetik geprägten Publikums. Ähnliches gilt für phantastische oder absurde »Ausbrüche« aus einer sich zunächst realistisch präsentierenden Stückfiktion, wenn sie die konventionelle Kommunikationssituation nicht durchbrechen, sondern unterstützend wirken. Es werden nun ausgewählte Theatertexte dieser ersten Kategorie, der problemlosen Nutzung der dramatischen Form, vorgestellt. Dabei geht es nicht um eine Deutung der Stücke, die allesamt mit Hilfe der traditionellen Dramenanalyse erschließbar sind, sondern vielmehr darum, einen Eindruck von der formalen Vielfalt innerhalb dieser Gruppe zu geben und die dramaturgischen »Tricks« deutlich zu machen, die ein Fortbestehen des Dramas trotz seiner »Ungleichzeitigkeit« ermöglichen.
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Reichel 1989b, S. 69.
Spiegel der Gegenwart Zeitstück, Kolportage, Komödie, Konversationsstück und kritisches Volksstück machen den Hauptteil der Dramentypen aus, die heute genutzt werden, um im Theatertext die gegenwärtige Lebenswelt darzustellen. Als Exponenten eines als Spiegel der Gegenwart verstandenen Dramas können Texte von Klaus Pohl gelten. Klaus Pohl ist einer der meistgespielten zeitgenössischen Autoren deutscher Sprache. Seine Stücke Karate-Billi kehrt zurück und Die schöne Fremde40 sind kolportagehafte Zeitstücke, »die Kriminal fälle verhandeln«, 41 bühnenwirksam und lebensnah, zur Zeit ihres Erscheinens von hohem Aktualitätsgrad, und daher auch vielfach nachgespielt. Der Erstveröffentlichung 199l 42 folgt 1993 eine Neufassung, die Bühnenerfahrungen in die Texte einarbeitet. Im Fall von Karate-Biüi sorgen beispielsweise kleine sprachliche Korrekturen sowie dramaturgische Striche und Umstellungen dafür, daß Sprech- und Spielbarkeit des Textes verbessert und der Handlungsverlauf konzentriert und dynamisiert werden. Dieses beim gelernten Schauspieler und auch Regie führenden Pohl durchaus übliche Verfahren unterstreicht, daß er seine Stücke eher als »Gebrauchsware« fürs Theater versteht, dessen Gesetzen sie im Probenverlauf angepaßt werden, denn als literarische Werke. Damit entsprechen sie ganz den Ansprüchen des Autors: Als einen Dichter, der womöglich Stil hat oder prägt, will Pohl sich nicht sehen.43 Die Handlung der beiden Dramen läßt sich kurz zusammenfassen: Karate-Billi spielt im Sommer 1990 in einer Stadt in Sachsen. Analytisch werden die Hintergründe enthüllt, die Jahre vorher den Protagonisten Billi Kotte, damals DDR-Spitzensportler, an der Olympiateilnahme gehindert, ins Gefängnis und schließlich in die Psychiatrie gebracht haben. Nach der »friedlichen Revolution« von 1989 aus der Psychiatrie entlassen, kehrt Billi 40
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Karale-Billi kehn zurück. Die schöne Fremde: Zwei Stücke, FfM, Neufassung 1993[ 1 1991]. Günther Erken: »Klaus Pohl: Das Alte Land«., Weber (Hg.) 1992, S. 65-86, Zitat S. 79. Ich beziehe mich auf den Stückabdruck in TdZ, H. 6/1991, S. 70-86; bemerkenswert ist, daß die ebenfalls 1991 erschienene Erstausgabe im Verlag der Autoren zwei Jahre später durch eine »Neufassung 1993« ersetzt wird, also am Text auch noch Änderungen vorgenommen werden, wenn er in Buchfassung vorliegt. Pohl im Gespräch mit Andres Müry: >»Wir sind, was wir träumem: Ein Gespräch mit Klaus Pohl in New York«, TH, H. 6/1994, S. 18-23.
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zurück und sucht nach den Schuldigen. Die schöne Fremde zeigt, wie eine amerikanische Jüdin deutscher Abstammung auf einer Deutschlandreise in einem kleinen Hotel menschenverachtend brutale Fremdenfeindlichkeit beobachten und schließlich am eigenen Leib erfahren muß. Nachdem sie auf legalem Wege keine Gerechtigkeit erlangt, kehrt sie nochmals zurück und nimmt auf ihre Art Rache. Das Geschehen der Stücke ist jeweils etwa in der Zeit ihrer Entstehung situiert (wobei Die schöne Fremde auch allegorisch über die Gegenwart des dargestellten Einzelfalls hinausweist) - und nur, wenn sie zusammen mit Das Alie Land als Deutschiand-Trilogie aufgefaßt werden, können sie wohl über den aktuellen Gebrauchswert hinaus ein Bleiberecht im Repertoire erlangen. Der »wirklichkeitssüchtige« 44 Fohl findet seine Stoffe im Zeitgeschehen, vielfältige Recherchen gehören zur Vorbereitungsarbeit für seine Stücke. Er steht für ein figuratives, narratives Theater, wobei der Stil seiner Dramen je nach Thema durchaus variieren kann: »Mich interessiert ein Stoff, und dem rnöcht ich etwas abgewinnen«. 45 In den zwei hier besprochenen Texten sind die Figuren nicht nur gekonnt plastisch angelegt, es wird auch auf Natürlichkeit der Repliken (im Sinne von Sprechbarkeit) großer Wert gelegt. Die Sprache nimmt als Äußerung der Figuren je verschiedene Prägung an, ist individuell (je nach regionaler und sozialer Herkunft, Bildungsgrad, Beruf etc.) und auch abhängig von der dramatischen Situation (je nach psychischer und emotionaler Verfassung der Sprechenden, nach Gesprächspartner etc.) verschieden. Detaillierte Regieanweisungen in meist ganz sachlichem, neutralem Berichtsstil, die den Schauplatz und das szenische Handeln der Figuren beschreiben, betten die Dialoge in eine eigenständige fiktionale Welt ein. Pohl setzt intrafiktionale Theatralität dramaturgisch sicher ein, das macht seinen Erfolg aus. In seinen Stücken versucht er außerdem, aus dem immensen Repertoire der Dramengeschichte den Dramentypus und die Art der Gestaltung dem jeweiligen Stoff angemessen auszuwählen. Für Karate-Billi stellt ein Kritiker folgerichtig fest: »Kolportage ist die Story auch, aber welche Stasi-Story wäre das nicht?«.46 Dabei geht die Darstellung bei Pohl für Momente auch über reine Widerspiegelung hinaus, wenn etwa in Die schöne Fremde eine Regieanweisung zum Ende des 4. Aktes das Streitgespräch der Brautleute in eine heitere Gesellschaft tanzender Paare auflöst 44
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Andres Müry über Klaus Pohl, ibid.
Pohl, ibid. S. 20. Martin Linzer: »Go, Ossi, go!«, TdZ, H. 6/1991, S. 72f.
und damit die Szene abschließt. Doch dieses Bild für den Zwiespalt, in dem die Protagonistin und ihr Mann stehen, durchbricht die Fiktion nicht. Es erscheint dem Zuschauer aus der Figurenperspektive, ähnlich wie dies in einem Film ein Kameraschwenk oder Schnitt auf den Ballsaal leisten könnte; So wird die an sich glückliche Situation in Kontrast zu der auf der Braut lastenden bösen Erinnerung und ihrem Durst nach Gerechtigkeit gebracht. Damit wird der Einbruch des Schrecklichen in ein ganz normales, heiteres Leben, der die gesamte Szene (und weite Teile des Stücks) inhaltlich prägt, zusätzlich sinnlich - in einem Bild - erfahrbar. Fohl ist stolz darauf, daß seine Stücke kontroverse Diskussionen anregen. Er will schockieren und provozieren, Fragen aufwerfcn und beunruhigen Theater ist für ihn weniger Medium der Kunst als vielmehr der gesellschaftlichen Kommunikation, Die Nutzung des konventionellen Kommunikationssystems schafft eine große Nähe zum Publikum, und da das Material in beiden Stücken aus der deutschen Gegenwart stammt und genaue Recherchen den Anschein von Authentizität ermöglichen, können die Zuschauer das Dargestellte unmittelbar auf ihre Lebenswelt beziehen. Ähnlich wie Fohl nutzen auch andere Autorinnen die traditionelle dramatische Form in weitgehend realistischer Weise, um brisante gesellschaftliche Probleme unmittelbar repräsentational darzustellen. Mit Anna Langhoffs umstrittenem Transit Heimai/Gedeckte Tische, Gundi Ellerts Jagdzeit41 und Hansjörg Schertenleibs Rabenland4^ seien nur drei Beispiele für Texte genannt, die eines der drängendsten Problemfelder in der BRD der beginnenden neunziger Jahre, den Umgang mit Fremden, auf diesem Weg thematisieren. Berechtigter Kritik ausgesetzt ist der Einzug eines unrcflekticrtcn Fernsehrealismus ins Theater, wo damit der weitgehende Verlust der poetischen Dimension in den Texten, aber auch der Nutzbarmachung des besonderen sozialen Charakters theatraler Kommunikation verbunden ist. Auch wenn Theater, zwischen einem Selbstverständnis als schöner Kunst und reiner Unterhaltung, als Medium der Kommunikation wichtige gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen hat: Die Konkurrenz mit Film und Femsehen kann das Theater nur verlieren, wenn es darum geht, Lebenswirklichkeit täuschend echt darzustellen.49 47 48 49
Theater Theater: Aktuelle Stücke 4, FfM, 1994, S. 7-87. Theater Theater: Aktuelle Stücke 3, FfM, 1993, S. 329-378. Allerdings muß auch darauf hingewiesen werden, daß beispielsweise Gundi Ellerts Jagdzeit sich gerade in der Sprache poetischer präsentiert, als die Uraufführung ahnen ließ, deren Strichfassung vor allem »Spielbarkeit« berück-
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Bewußt nutzt dagegen Oliver Bukowski den authentischen Charakter der Sprache in seinem als »Klischee« bezeichneten Theatertext Die Halbwertzeit der Kanarienvögel,50 da die Sprache seiner Protagonistin exakt die Befindlichkeit eines ganzen Menschenschlags vor und während der »Wiedervereinigung« der beiden deutschen Staaten wiedergibt. So kann die Kritik dann auch lobend von einem »präzise erstellten Psychogramm einer Kleinbürgerin« sprechen, das »vor allem durch einen messerscharfen Realismus« beeindruckt. 51 Die das Stück dominierende Monologform, wenn auch durch die Situation (eine Frau am Kranken- und Sterbebett ihres Mannes) motiviert, und ihre finale Auflösung in einen Polylog liefern ein Gegengewicht zum Realismus der sprachlichen Darstellung. Auch die teils kontrastive Verbindung von Mitteln des Theaters und solchen der Filmästhetik wird genutzt, so in Christian Martins Jugendstück Amok,52 vom Autor »ein szenischer Report« genannt: Zwischen die 12 Szenen, welche die Geschichte des Jugendlichen Daniel im Umbruch der DDR auf konventionelle Weise in Dialogen (und einem Schlußmonolog) erzählen, sind drei vom Autor ausdrücklich als filmartig beschriebene stumme Szenen gesetzt. Die ersten beiden (Szene 4 und 9) sind jeweils viergeteilt (wobei die vier Teile je als eine Szene zusammengefaßt, somit teilweise auch simultan vorstellbar sind) und verfolgen »wie ein Stummfilm schwarzweiß« (so die Regieanweisung) die Lebenswege nicht nur Daniels, sondern auch seiner Klassenkameraden, deren Werdegang in schlaglichtartiger Beleuchtung typischer Situationen ihres Lebens angedeutet wird. In der letzten dieser »Film«Szenen schließlich (Szene 13) wird Daniel mit zweien seiner Freunde bei Protesten an der Berliner Mauer verhaftet. Während die traditionellen Theaterszenen vor allem den zwischenmenschlichen Bereich, nämlich Gespräche Daniels mit seinen Eltern, Freunden und dem Jugendpfarrer sowie sein Verhör darstellen, dienen die filmartigen Sequenzen dazu, die so dargestellte individuelle Geschichte in den gesellschaftlichen Zusammenhang einzubetten und überindividuelle Entwicklungen (aufkommender Rechtsextremismus, Flüchtlingswelle etc.) darzustellen. In der 13. Szene findet die
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sichtigte. Ähnliches scheint Anna Langhoffs Stück widerfahren zu sein. Während ich die Strich fassung der Uraufführung von Jagdzeit selbst untersucht habe, berufe ich mich für Transit Heimat auf Peter von Becker: »Das Geheimnis von Trauer«, TH, H. 3/1994, S. 40-44, Zitat S. 44, Berlin [BM], o.J. [1990]. So ein Kritiker in der Kölnischen Rundschau, zit. in Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb (Hg.): Oliver Bukowski: Fünf Stücke, Berlin, o.J. [1993?] [Gustav Kiepenheuer Bühnen Vertriebs GmbH: Informationen]. TtfZ, H. 2/1990, S. 58-61.
Konfrontation dieser beiden Ebenen ihren szenischen Niederschlag. Die episch erzählenden Zwischenszenen, der Filmästhetik entlehnt, sind auch hier wieder in den Dienst der dramatischen Fiktion gestellt: Sie liefern den Hintergrund für das dargestellte individuelle Schicksal, Von filmischen Mitteln beeinflußt ist auch die Technik der Rückblende, wie sie beispielsweise Elfriede Müller in ihrem »Wende-Stück« Goldener Oktober,5^ einem als Auftragswerk entstandenen Zeitstück, einsetzt. Wenn Silke sich (im ersten »Streifen« des ersten Teils, S. 89-9154) während ihrer Striptease-Nummer an den Kaufhausdiebstahl erinnert, wird dies durch die szenische Sirnultaneität des Ungleichzeitigen dargestellt: Die Szene, die sie am Vormittag mit ihrer Mutter in der Umkleidekabine des Kaufhauses erlebt hat, bricht in die abendliche Gegenwart der Bar ein. Dieses Parallelgeschehen ist eindeutig perspektivisch gekennzeichnet, nur für Silke existieren beide Realitätsebenen gleichzeitig, in ihrer Person werden sie auch kontrapunktisch miteinander verknüpft (Gegenläufigkeit des An- und Ausziehens, Aufnahme von Äußerungen des Conferenciers wie »Immer mehr« und »Die Sache ist Gold wert« in den Dialog mit der Mutter). Die Überwindung von Raum* und Zeitgrenzen findet im Bewußtsein der Figur statt, worauf die Regieanweisung »Silke erinnert sich an den Vormittag im KaDeWe« (S. 89) hinweist; die Rückblende erfüllt, indem sie ein wichtiges Stück Vorgeschichte nachliefert, eine traditionelle Funktion der dramatischen Exposition. Wenn solche Informationen in »absoluten« Dramen durch Dialog oder Monolog geliefert wurden, besteht heute die Möglichkeit, auf zusätzliche epische Mittel zurückzugreifen. Der Text betont die Parallelität der beiden Handlungsebenen - Silke gezwungen zum Stehlen / Silke gezwungen zum Striptease - durch das Ineinanderblenden, wobei auch diese Deutung als perspektivisch bedingt zu verstehen ist: Wieder ist es für den Zuschauer vor allem Silkes Bewußtsein, das diese Verknüpfung schafft. Daß El friede Müllers Theatertext trotz solchen Einsatzes »epischer« Mittel als 53
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Die Bergarbeite rinnen. Goldener Oktober: Zwei Stücke, FfM, 1991. Abgesehen vor» der hier behandelten Rückblende lassen auch Müllers Arbeit mit »Gesprächsverschnitten« und das Gegeneinanderschneiden der einzelnen, bezeichnenderweise »Streifen« genannten Akte filmische Einflüsse deutlich erkennen. Zur Bedeutung der Ästhetik von Film und Tanziheater für Müllers Dramaturgie: Katja Scheid: Die Theaterstücke der Elfriede Müller, Magisterarbeit [unveröff,], München, Univ., 1995. Die Seitenangaben im Text beziehen sich im vorliegenden Kapitel jeweils auf die im Literaturverzeichnis unter »l. Primärtexte« angeführten zitierten Textausgaben und werden nur bei der Gefahr von Uneindeutigkeit durch Anmerkungen ergänzt.
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»naturalistische Kolportage«55 bezeichnet werden konnte, mag verdeutlichen, daß mit eben diesen Mitteln hier nicht Distanz geschaffen, sondern die vom Film gewohnte Rczeptionshaltung bedient wird. Die Darstellung der Gegenwart in problemlos genutzter dramatischer Form findet auch in Komödien statt, beispielsweise in Florian Felix Weyhs Komödie Litdwigslust™ die altgewordene »Achtundsechziger« mit der Generation ihrer Kinder konfrontiert, oder in einer Reihe von Dramen, welche die Verhältnisse im Westen und im Osten Deutschlands nach der »Wiedervereinigung« in unterschiedlicher Weise spöttisch beleuchten, wie etwa Gert Heidenreichs »Farce nach Henrik Ibsen« Der Wechsler,57 Bernd Schirmers Weinverkostung5S oder Oliver Bukowskis »Hardcore-Schwank« Londn LA. - Lühbenau.^ Auch der Typ des Konversationsstücks ist, wie gesagt, selbstverständlich geworden. Meisterhaft genutzt wird diese Form von El· friede Müller in Glas und Brautbiner^ wo die Autorin die satirische Entlarvung gesellschaftlicher Rederituale jeweils an die gnadenlose Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft knüpft. In beiden Fällen macht ein geschickter dramaturgischer Griff die Gespräche doppelbödig: In Brautbiiier ist es die Kreuzung zweier Handlungsstränge, einer Trauer- und einer Hochzeitsgesellschaft, in Glas der Gastgeber, der trotz seiner physischen Abwesenheit das Spiel heimlich, als »Katalysator«, 61 zu lenken scheint. Das kritische Volksstück lebt ebenfalls fort, erfährt aber auch spürbare Veränderungen. Kerstin Spechts Lila^2 ein Text, dessen Geschehen weitgehend noch kolportagehafte Züge trägt, während der Stückschluß eher zur Groteske tendiert, und Das glühend Männla,^ ein Drama an der Grenze zu einer modernen Familientragödie, stehen in der Tradition dieser Gattung. Die Tatsache, daß Specht in ihrer eigenen Inszenierung des formal gelungeneren Theatertextes Das glühend Männla die 33 extrem knappen Einzelszenen - Momentaufnahmen, von denen nur eine mehr als zwei Figuren gleichzeitig präsentiert - nicht etwa realistisch, sondern stilisiert auf die Bühne 55
Linzer, TdZ, H. 6/1991, S. 72.
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Theater Theater: Aktuelle Stücke i, FfM, 1991, S. 263-299. München; Zürich, 1993. TdZ, H. 3/1993, S. 78-88. DDB, H. 1/1993, S. 44^9. 77/.H. 9/1993, S. 37-^6. Manuel Brug: »Schmetterlinge, aufgespießt«, SZ, 18.6.1990. Lila. Das glühend Männla. Amiwiesen: Drei Stücke, FfM, 1990. Ibid.
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brachte,64 verdeutlicht den auch im Text spürbaren Abstand zum sogenannten Wohnküchen-Realismus der 60er und 70er Jahre. In der VolksstückTradition steht auch Klaus Hoggenmüller, wenn er in Wendels Heimat^ Mondenquarz66 oder Hasentötefi1 Gegenwärtiges und jüngste Geschichte darstellt. Bei Hoggenmüller verleiht eine mystische Ebene dem Geschehen eine zusätzliche Dimension, innerhalb derer dann auch in der Sprache Poesie (meist an »verrückte« oder unter Drogeneinfluß stehende Figuren gekoppelt), in der Handlung Phantastisches und Groteskes zum Tragen kommen, während die Darstellung sonst weitgehend realistisch ist. Das Volksstück zeigt insgesamt die Tendenz, die selbst gesetzte Realität in Richtung phantastischer und grotesker Gestaltung zumindest momentweise zu überschreiten. Man denkt an Kroetz1 Nicht Fisch nicht Fleisch: Auch der Großmeister des kritischen Volksstücks fand in der phantastisch-grotesken Schlußsequenz dieses Stücks 1981 einen Ausweg aus seinem »Wohnküchen-Gasherd-Realismus, der ja schon immer eine Tendenz zum Naturalismus hatte«, den er 1980 noch selbst beklagt. 68 Peter Turrinis Text Die Minderleister vereint ebenfalls den Wohnküchen-Realismus mit surrealen und grotesken Momenten. Diese Ausflüge auf eine andere Realitätsebene bleiben allerdings an das Innenleben der Figuren gebunden (in bezug auf Kroetz wird von »psychosymbolischer Darstellung«gesprochen), 69 durchbrechen also wiederum nicht das innere Kommunikationssysteni, sondern sind binnenfiktional motiviert. Sie geben gewissermaßen eine Innensicht des Dargestellten aus der Perspektive eines oder mehrerer Protagonisten. Seinen endgültigen und expliziten Umschlag in die Groteske hat das Volksstück bei Harald Kislinger vollzogen, der behauptet: Wer heutzutage sogenannte gesellschaftskritische dramatische Texte anbringen will, der muß sich halt ganz auf das Groteske ausrichten. [...] Die Realität ist nur mehr als Groteske erfahrbar. 70
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Vgl, Manuel Brug: »Lady Macbeth der Wohnküche«, TH, H, 2/1992, S. 63. FfM[BM], 1990. 6e > FfM [BM], 1992. 67 FfM [BM], 1994. 68 In Michael Skasa: »Der stramme Max: Zur Essener Uraufführung des neuen Kroetz-Stückes«, TH, H, 7/1980, S, 20f, Zitat S. 20. 69 Lothar Schwab: »Wildnis der Meere. Zum Genrewechsel in Nicht Fisch nicht Fleisch von Franz Xaver Kroetz«, Weber (Hg.) 1992, S. 51-64, Zitat S. 59. 70 Theater Theater: Aktuelle Stücke l, FfM 1991, S. 114. 65
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Aus dieser Motivation heraus wird »aus dem Abbildungsrealismus [„.] der Absprang gesucht in den monströsen Alptraum«. 71 Von diesem Phänomen wird am Ende dieses Kapitels noch zu sprechen sein. Darstellung von Historic und Mythos Auch beim Rückgriff auf historische Stoffe variiert die konkrete Gestaltung. Harald Kuhlmanns personenreiche »Komödie« Engelchens Sturmlied72 beispielsweise, ein dramatischer Text um den Geheimbund der Illuminaten im Zeitalter des Übergangs von der Aufklärung zur Romantik, der einerseits historische Persönlichkeiten des ausgehenden 18. Jahrhunderts auftreten läßt, sich andererseits mit der Figur des Andreas Hartknopf auf den Protagonisten des gleichnamigen Romans von Karl Philipp Moritz 73 bezieht, gibt vielfältige Etappen des Geschehens an unterschiedlichen Schauplätzen wieder, wobei sich die Bemühung um Authentizität des dargestellten historischen Geschehens auch in der Sprache der Figuren niederschlägt. Philipp Engelmanns »realistisch-phantastischem Schauspiel« (so der Verlag) Die Hochzeitsfahrt dagegen verleiht mit dem 28.6.1914, dem Tag der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand, die zum Auslöser des Ersten Weltkriegs werden sollte, zwar ein historisches Datum den Rahmen, die Figuren aber stehen mit diesem Vorfall in keiner Verbindung, sind nicht historisch, sondern frei erfunden. Die Art der Darstellung - sieht man von der Übersteigerung des Schweizerdeutschen in einen Kunstdialekt einmal ab - scheint zunächst die private Lebenswirklichkeit nahezu realistisch abzubilden. Durch die Anwesenheit der mit sprechenden Namen ausgestatteten drei Herren von Schlag, Tonnerre und Tempesta, die als »Verwaltungsräte und Aktionäre von großen Schiffahrtsgesellschaften aus Deutschland, Frankreich und Norditalien« (S. 12) jeweils als Personifikation einer Nation fungieren und in ihrer weltmännischen Konversation gleichsam eine binnenfiktionale Kommentarebene zum familiären Geschehen bilden, wird das Stück im weiteren Verlauf jedoch mehr und mehr für eine parabolische Lesart geöffnet. Als binnenfiktional motivierte Kommentarebene wirkt auch die monologisierende Großtante Rosa in ihren Selbstgesprächen und den lange 71
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Siegfried Kienzle: »Die Austro-Berserker«, DDE, H. 9/1992, S. 12-15, Zitat S. 12. Spectaculum 55, FfM, 1993, S. 103-143. Erschienen in zwei Teilen: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie (1786) und Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790).
Zeit ungehört verhallenden kommentierenden Einwürfen, vor allem, wenn sie klare metadrarnatische Züge tragen (Szene 16): Sie kommt sich vor »wie im Theater« (S. 106), parallel is iert das Geschehen mit der Geschichte der »Ophelia« (S, 107) und spricht von »Rollen« (S. 109), Die Grenze zum Phantastischen überschreitet endgültig die Schlußszene, in der von Schlag, Tonnerre und Tempesta laut Regieanweisung »als krächzende Todesengel mit zerzausten Flügeln« und »Geier Gottes«, Federn lassend, in der Luft schweben (S. 127f). Hier und im »Nachspiel im Pavillon« wird das Schiffsunglück deutlich als Metapher für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gekennzeichnet. Durch solche phantastische Erweiterung der sonst realistisch dargestellten Fabel wird klar, daß die Hochzeitsgesellschaft der vordergründigen Familiengeschichte zugleich auch ein Gesellschaftspanorama gibt. Christoph Heins Passage,14 ein »Kammerspiel in 3 Akten«, bezieht sich zwar auf historisch konkrete Emigrantenschicksale - den Selbstmord Walter Benjamins auf der mißglückten Flucht vor den Nazis 1940 in den Pyrenäen und die in dem Roman Transit autobiographisch erzählte Geschichte Anna Seghers - und behandelt diese als Parabel, doch zielt Hein trotz der Deutlichkeit dieses Bezuges keineswegs nur auf historisierende Darstellung: »Heins Punkt des Interesses an der Geschichte sind nicht die Fakten, sondern die Folgen«.75 Der Autor begrenzt Dramenpersonal und Handlung durch die dramaturgische Einengung der Situation auf das Hinterzimmer eines Cafes, hält so den Theatertext in den Dimensionen eines Konversationsstücks - eines »Kammerspiels« - und vermeidet Historismus der Szenerie. Stattdessen werden, von der Enge provoziert, Rededuelle ausgetragen, ganz wie Szondi es für die Dramatik der Existentialisten nachweist. Doch auch hier gewährt der Stückschluß einen Ausblick über die unmittelbar dargestellte (historische) Welt hinaus in Gestalt von fünfzehn - im Text zwar nur erwähnten - jüdischen Greisen, die in ihrem Gottvertrauen wie unberührbar, wie einer anderen Welt zugehörig erscheinen. Auch ihnen haftet das Phantastisch-Märchenhafte an,76 und so, wie sie geschildert werden, muß ihre Erscheinung im Nazideutschland und im besetzten Frankreich auch grotesk wirken: Sie verkörpern das Unmögliche, die Logik des Dennoch, die 74 75 76
Darmstadt, 1988. Peter Reiche!: »En passant«, TdZ, H. 5/1987, S. 50-53, Zitat S. 51. In Hansgünther Heyrnes Essener Uraufführungsinszenierung (25,10.1987) wurde dieses Element des Phantastischen szenisch umgesetzt in ein surrealistisches Schlußbild, in Dresden (28,1 L1987) öffneten sich in Klaus Dieter Kirsts Version am Ende die Raumgrenzen und ließen einen Sternenhimmel sehen.
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Zuversicht, die sich der Realität der unmenschlichen Verhältnisse entziehen. Wenn die Vernunft einem verbietet, das zu tun, was man tun muß, dann muß eben auf Unmögliches zurückgegriffen werden, wie Hirschburg feststellt: »Aber kann uns Vernünftiges helfen? Sagen Sie. Dann muß uns etwas Dummes helfen« (S. 71). Nach all dem Reden über die Unmöglichkeit des Handelns tauchen diese Gestalten, unbeirrt in ihrem Tun, einfach auf und veranlassen auch andere zum Handeln: Hirschburg, der bisher vor allem seine deutschnationale Gesinnung betont hat, läßt sich nun von seinem jüdischen Glauben leiten und führt die Gruppe über die Berge, der Bürgermeister faßt endlich den Entschluß, sich der Resistance anzuschließen. Deshalb ist die Frage nach der »Wahrscheinlichkeit« dieser Geschichte77 auch gar nicht zu stellen, zumindest nicht im Hinblick auf binnenfiktionale Motivierungen. Das Auftauchen Deutschmanns und seiner Freunde sowie der Plan Hirschburgs, mit ihnen über die Pyrenäen zu gehen, scheint jenseits jeder Wahrscheinlichkeit. »Es kann nicht sein«, es ist »das Dümmste«, »unmöglich«, »unvorstellbar«, »es kann nicht gut gehen«, so wird ihr Unternehmen im Stücktext kommentiert, und dennoch: »Sie werden es schaffen« (S. 73). Tatsächlich beruft Kein sich für diese Episode, welche die Kritik zu dem Vorwurf veranlaßte, er sei zugunsten einer Legende »aus der realistischen Konzeption ausgebrochen«,78 auf Dokumente, er besteht darauf, daß es sich beim Auftauchen der jüdischen Greise urn eine historische Tatsache handle: »Ich hätte diese Geschichte nicht erfinden wollen«.79 Anders als in den letzten Szenen von Engel man ns Hochzeitsfahrt ist hier kein wirklicher Bruch der Fiktionsebene festzustellen, zumal die Greise eben nur in subjektiven Beschreibungen (des Bürgermeisters und Hirschburgs) evoziert, jedoch nicht selbst auf der Bühne dargestellt werden. Doch die bislang suggerierte historische Authentizität und Stimmigkeit werden zumindest durch Unwahrscheinliches arg strapaziert - und so schwenkt die Perspektive um von der Betrachtung der Einzelschicksaie auf die grundlegenden Lebensentwürfe und Maximen, die sich hinter diesen Schicksalen verbergen: von Rekonstruktion und Dokumentation auf die von vornherein angelegte exemplarische, darüber hinaus aber auch metaphorische Absicht der Darstellung:
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Peter Reiche! sucht nach Gründen dafür, daß der Autor im Schlußteil »so eklatant jeder Wahrscheinlichkeit zuwider handelt«: TdZ, H. 5/1987, S. 53.
Klaus Hammer: »>Dialog ist das Gegenteil von BelehrenBumout< ist ein psychologischer Fachterminus für das »Ausbrennen« durch Erfolgsdruck, eine Krankheit, die aus psychischen und sozialen Wechselwirkungen am Arbeitsplatz (Streß) entsteht und vorwiegend in helfenden Berufen auftritt. Zu den Symptomen gehören neben geistiger Ermüdung, Angst und Depression auch Realitätsschwäche. Ira Gustav Kiepenheuer Bühnen vertrieb (Hg.): Oliver Bukowski: Fünf Stücke, Berlin, o.J. [1993?] [Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH: Informationen], 86
vielmehr Dohmühls Wahnvorstellungen immer mehr als einzige Realität. Die Infragestellung dramatischer Gmndkategorien wie Sprache, Figuren und Raum geht hier bis an die Substanz des Dramas und provoziert einen befremdeten Blick auf das Bühnengeschehen, der dem befremdeten Blick des Golem auf Dohmühls Leben ähneln mag. Die siebte Szene markiert den Umschlag in die gänzlich groteske Partyszene, an deren Beginn eine Anspielung auf Kafkas Verwandlung steht: Dohmühf ähnelt jetzt einem Käfer, Damit wird der subjektiv erfahrenen Welt Priorität vor einer empirischen Realität eingeräumt. Jeder Mensch, so wird klar, lebt in seiner eigenen Realität, Golem ist nur ein extremes Beispiel dafür. Eine Verständigung über die Grenzen des Subjektiven hinaus ist wiederum gezwungen, auf eine Sprache zurückzugreifen, deren Basis, die Verknüpfung von Bezeichnetem und Bezeichnendem, auch nur konventionalisiert ist. Auf diese Problematik verweisen binnenfiktional Golems anfängliche Stummheit und seine verknappte Sprache, welche Signifikanten ohne Wissen um ihre Signifikate verwendet, ebenso wie der absurde Dialog zwischen Dohmühl und Ina in der Partyszene (S. 27), die einzige Form, in der sie - wenn auch nur kurzfristig - einander wirklich nahe zu sein scheinen. Irina Liebmann: Berliner Kindl In Irina Liebmanns Berliner Kindl104 unterstützt die grotesk-phantastische Figur des »Quatschfressers« die ansonsten weitgehend milieugetreu realistisch in Anlehnung an den Typus des Stationendramas gestaltete Stückfiktion. Ähnlich wie es bei der Technik der Rückblenden der Fall war, ist der »Quatschfresser« - wenn auch nicht mehr so eindeutig und ausschließlich dem (Unter)Bewußtsein einer konkreten Figur zuzurechnen. Er läßt sich zumindest in seiner Entstehung binnenfiktional erklären als sichtbar und handlungsfähig gemachte Konkretisation (»Kopfgeburt«) 105 von Pauls anarchistischem »aller i?go«,106 das einerseits eng an seine Kindheitserinnerungen, andererseits an Berlin und seine Geschichte gebunden ist. Liebmanns Text geht dabei aber über eine entschlüsselbare Parabel hinaus. Brüche und unmotivierte Wendungen prägen das Geschehen, vielfältige Motive überschneiden sich. Familiendrama, Gesellschaftskritik, Volksstück, Phantastik 104 105
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Quatschfresser: Theaterstücke, FfM, 1990, S. 89-143. Eva Pf ister; »Irina Liebmann, zu entdecken«, DDB, H. 5/1993, S. 47^9, Zitat S. 48. Martin Linzer: »Gewidmet: Brecht«, TdZ, H. 4/1988, S. 42-45, Zitat S. 43.
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- »das Stück hat lauter unausgeführte Ansätze«.107 Der »Quatschfresser« stiftet im Lauf des Stücks nicht nur binnenfiktional Verwirrung und Chaos, bringt nicht nur das Berliner Mauerwerk ins Wanken: Am Ende wanken auch die dramatischen Grundfesten (die Einheit der Figur), wenn der Quatschfresser Paul auffrißt und mit dessen Stimme weiterspricht. Irina Liebmann geht in ihrer ausgesprochen freien, spielerischen Nutzung des Grotesken und poetisch Absurden auch in anderen Theatertexten an die Grenzen der problemlosen Nutzung der dramatischen Form, Denn Formen des Grotesken und Absurden sind, wo sie verselbständigt, ohne Unterordnung unter die Repräsentation einer Stückfiktion auftreten, die sie in ihren Dienst nimmt, der kritischen Nutzung der dramatischen Form zuzurechnen: Die Groteske, in der literarischen Moderne »zu einem die Weltsicht strukturierenden Prinzip« geworden108 und Grundlage auch des absurden Theaters, trägt in sich per deßnitionem einen Stolperstein für die Basis des Dramatischen, die Repräsentation, denn sie will kein Abbild geben, sondern ein Zerrbild,
3,2.2 Kritische Nutzung der dramatischen Form Die dramatische Form kritisch zu nutzen, bedeutet, sie sich nicht als selbstverständliche Konvention des Theaters dienstbar zu machen, sondern sich ihrer als einer heute fragwürdigen (»ungleichzeitigen«) Vereinbarung zwar zu bedienen, sie dabei jedoch als solche zugleich bewußt zu machen, von innen heraus zu hinterfragen, zu demontieren. Die Prozesse theatraler Fiktionsdarstellung werden in einem Akt der Dekonstruktion thematisiert, in Frage gestellt oder gestört, die referentielle Illusion wird dabei zum Werkzeug gegen sich selbst.109 Auf den ersten Blick unterscheidet diese Texte nichts von jenen, welche die Dramenform problemlos nutzen, auch sie haben eine figurative und narrative Struktur, und es gibt Grenzfätle, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen, die je nach Lesart als problemiose oder kritische Nutzung der dramatischen Form aufgefaßt werden können. Bei den eindeutigen Fällen der kritischen Nutzung ist das in dramatischer Form konstituierte figurativ-narrative innere Kommunikationssystem allerdings nur 107 108
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Reichet I989b, S. 132. Jens Malte Fischer: »Groteske«, Moderne Literatur in Grundbegriffen 1987, S. 296-299, Zitat S. 170. Mit dieser Formulierung wird Angermeyer (1971, S. 87) zitiert, der sich auf Brechts episches Theater bezieht. Die Parallele wird im folgenden ausgeführt.
scheinbar funktionsfähig, in Wahrheit ist es zutiefst verunsichert oder gar aufgebrochen und hat seine Stellung als Sinnträger längst verloren. Die Theatralitat solcher Texte ist nicht intrafiktional, ihr Sinn liegt nicht in ihrer »Bedeutung«, denn die dargestellte Geschichte ist zweitrangig oder aber gar nicht mehr eindeutig zu erschließen, da die vom Text in Rechnung gestellten szenischen Signifikanten bewußt mehrdeutig oder leer gelassen werden. Die Ebene der dargestellten Fiktion tritt zugunsten der theatralen Wirkungsoder der Materialebene in den Hintergrund, Hier handelt es sich um eine De(kon)struktion des Dramas von innen, oder, um es mit einem Bild zu beschreiben, um »neuen Wein in alten Schläuchen«. Die im folgenden vorgestellten Spielarten der kritischen Nutzung bewirken die Dekonstruktion des Dramas durch Selbstbezüglichkeit (der dramatischen Form, der von ihr implizierten konventionellen Theatralitat, der Sprache), weshalb sich zunächst die Bezeichnung >Metadrama< anzubieten scheint. Tatsächlich gibt es Überschneidungen zwischen dem, was hier kritische Nutzung der dramatischen Form genannt werden soll, und dem, was sich seit der Veröffentlichung von Lionel Abels Metatheatre: A New View of Dramatic Form vor mehr als zwanzig Jahren (New York 1969) als >meiatheatremeiaplay< oder >meiadrama< - im deutschsprachigen Raum als Metadrama oder Metatheater - etabliert hat. Auf diesem Gebiet sorgt aber die Gleichsetzung und Vermischung von Drama und Theater für erhebliche Verwirrung. Ein kurzer Exkurs soll daher verdeutlichen, warum die Bezeichnung >Metadrama< hier für einen ganz engen Bereich, der als Thematisierung der dramatischen Form in 3.2.2.1 vorgestellt wird, reserviert bleiben soll. Metadrama und Metatheater Erkenntnisse der Semiotik darüber, daß die Selbstbezüglichkeit (Autoreflexion) - die im allgemeinen als Bestimmungskriterium für Metadrama angeführt wird - 110 Merkmal der ästhetischen Botschaft schlechthin ist, 111 110
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Hier und im folgenden stütze ich mich außer auf Lionel Abels Einführung des Begriffs von >metatheatre< bzw. >metaplay< als Gattung, welche die Tragödie durch einen neuen Blick auf die dramatische Form ablöst, vor allem auf Richard Hornby (Drama, Metadrama, and Perception, Lewisburg [u.a.], 1986), auf die Dissertation von Karin Vieweg-Marks (Metadrama und englisches Gegenwart sdrama, FfM [u.a.], 1988), insbesondere auf die Einleitung und Teil I (»Metadrama - Theorie und Tradition«), sowie auf Brüster 1993. Insbesondere Eco 81994 [l972], S. 145-167, 89
untermauern Richard Hornbys These, in gewissem Sinne sei jedes Drama (auch) Metadrama." : Diese Feststellung ist allenfalls noch einzuschränken auf Oi'dmcnkunsT, Jeder Theatertext, der in dramatischer Form als ästhetische Botschaft konzipiert ist - und das unterscheidet ihn von einem Drehbuch für eine Vorabendserie ebenso wie von einer Textvorlage für Sketche, eben von »Gebrauchsware« - enthält metadramatische Elemente und bezieht sich so auf seine eigenen Bau- und Wirkungsprinzipien. Bei dieser Formulierung aber gilt es schon einzuhalten, müßten doch als Objekte der Autoreflexion bei einer strengen Definition des Mtladramas an sich Elemente des Dramas vorausgesetzt werden. Tatsächlich reflektieren, wenn man einmal Vieweg-Marks' Typologie zum Ausgangspunkt nimmt, 113 das episierende Metadrama das Prinzip der Narration und das figurale Metadrama dasjenige der Figuration. 114 Fiktionales und adaptives Metadrama dagegen reflektieren den fiktionalen Status des Dargestellten und sind damit im Grunde dem weiten Feld der Metafiktion zuzuordnen: Objekt ihrer Reflexion ist das Drama als fiktionale (und das impliziert eben: als figurative und narrative) Gattung. In all diesen Fällen kann die Autoreflexion sehr unterschiedliche Funktionen zugewiesen bekommen, fiktionsunterstützende ebenso wie fiktionsdurchbrechende. Das »thematische Metadrama« dagegen (definiert als »Drama, das das Theater selbst zu seinem Gegenstand macht«) 115 reflektiert ebenso wie diejenigen Fälle des fiktionalen Metadramas, deren zweite Fiktionsebene keine Traumeinlage, sondern Theater auf dem Theater darstellt, mit der Welt des Theaters und der Aufführung schon eigentlich nicht mehr ein Element des Dramas und wäre somit besser als Form des »Metatheaters« bezeichnet, die in den Drarnentext Eingang findet.
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Hornby 1986, S. 31. Es scheint erwähnenswert, daß die von Vieweg-Marks angeführten Formen des Metadramas sich untereinander nicht ausschließlich durch das Objekl der Reflexion unterscheiden, sondern auch (und in manchen Fällen ausschließlich) durch die verwendeten Mittel: So unterscheiden etwa »diskursives« und »thematisches Metadrama« den Niederschlag der Selbstreflex i on in sprachlichen Äußerungen der Figuren einerseits und in inhaltlichen Elementen des Theatertextes andererseits. Brüster erkennt diese Inkohärenz und reduziert entsprechend die Typologie zu einem Analysekonzept, das nur noch drei metadramatische »Techniken« (figurales, fiktionales und adaptives Metadrama) umfaßt. Gerade das figurale Metadrama ist im 20. Jahrhundert weit verbreitet, da es als Reflexion eines ästhetischen Rollenspiels soziologisches Rollenspiel der Lebenswelt spiegelt (Brüster 1993), Vieweg-Marks 1988,5. 19.
A]s »thematisches Metadrama« wären dann vielmehr Theatertexte zu bezeichnen, die das Drama als literarische Form selbst zum Thema haben und damit nicht eigentlich die Problematik der Aufführungssituation (das Theater) reflektieren, sondern Konstruktions- und Funktionsprinzipien des dramatischen Textes, und die damit eine kritische Perspektive auf das Verhältnis zwischen erlebter Wirklichkeit und ihrer dramatischen Darstellung und auf die Angemessenheit des repräsentationalen Prinzips einführen. Eben solche Theatertexte, und nur solche, die das Drama insgesamt (und nicht einzelne Strukturelemente oder die Aufführungssituation) explizit thematisieren, sollen hier als Metadrama bezeichnet werden, wobei diese Metadramen verständlicherweise zur kritischen Nutzung der dramatischen Form nur dann eingesetzt werden können, wenn ihre Funktion nicht (nur) auf der binnenfikttonaien Ebene, sondern (auch oder ausschließlich) im äußeren Kommunikationssystem definiert ist. 1 ' 6 Ausgehend von der Feststellung, zeitgenössische englische »Dramen« tendierten dazu, »sich sowohl formal als auch inhaltlich mit dem eigenen Medium, dem Theaier, auseinanderzusetzen«, 117 folgt Vieweg-Marks in ihrer Typologie des Metadramas dem Ansatz einer Arbeit, deren Subklassifikation des Metadramas sich an »Elementen des Dramas«1™ orientiert, und untersucht auch das von ihr gewählte fiktionale Metadrama, das Spiel im Spiel, indem sie im wesentlichen die für das Drama als konstitutiv erachteten Elemente als Beschreibungsparameter nutzt. 1 1 4 Die Ungenauigkeit im Umgang mit den Begriffen Drama und Theater, folglich auch die Konfusion zwischen Metadrama und Metatheater, geht zurück bis auf die Einfuhrung des Begriffs >metatheatre< durch Lionel Abel, der ihn als Gegenbegriff zu tragedy, entwickelte und damit vor allem Dramen über die Unmöglichkeit der Tragödie bezeichnete. Einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte des Begriffs >Metadrama< gibt Vieweg-Marks, 120 ohne allerdings die eingangs konstatierten Probleme der Terminologie (metadrama, metaplay, Metatheater) hinsichtlich des Spannungsverhältnisses Drama/Theater zu klären, und unter völliger Mißachtung der sechsten Spielart des Metadramas bei 1 !6
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Dies entspräche in der von Vieweg-Marks verwendeten Terminologie einer »dramentranszendenten« (im Gegensatz zur »dramenimmanenten«) Funktion: Vieweg-Marks 1988,5.73, Vieweg-Marks 1988, S. 3, Herv. G.P.. Ibid. S. 11, Herv. G.P.. Ibid, S. 45. Ibid. S. 7-13, vgl. auch die allerdings äußerst knappe Einführung Hornbys in die Problematik (Hornby 1986, S. 13). Einen aktuellen und ausführlichen Überblick über die Forschungstage gibt Brüster 1993 {S. 17-27). 91
Hornby. Dieser nämlich benutzt >drama< (und folglich auch >metadramaMeta-Theater-Text< oder >metatheatralisches Drama< erscheint somit angemessener als der Begriff >MetadramaDenkstils< umfaßt konsequenterweise Theater und Sprache. 99
zwischen problemloser und kritischer Nutzung der dramatischen Form ist durchlässig, wo Mittel des Absurden, Grotesken und Phantastischen eingesetzt werden. Da (im weitesten Sinne) metatheatrale Elemente häufig, sozusagen als Signale für die Rezeption, die kritische Nutzung der dramatischen Form begleiten, kann in Zweifelsfällen ihr (massiver) Einsatz die Zuordnung erleichtem. Aus der Dichte metatheatraler Signale erklärt sich die Aufnahme der zwei im Anschluß besprochenen Texte in den Abschnitt zur kritischen Nutzung: In beiden Fällen werden Drama, Theater und Theatralität ausdrücklich auch thematisiert.
El friede Müller: Die Bergarbeiterinnen Vordergründig stellt Elfriede Müllers Theatertext Die Bergarbeiterinnenni autobiographisch die Geschichte einer jungen Frau dar, die aus Frankfurt zu ihrer Familie aufs Land zurückkehrt. Allerdings wird - ähnlich wie in Liebmanns Berliner Kindl - der eigentlichen narrativ-figuraüven Fiktionsebene eine zweite, »überreale« 134 Ebene aus Traumszenen zur Seite gestellt, die im Stückverlauf zunehmend an Autonomie gewinnt. Sicher lassen sich diese Ausflüge ins Phantastische aufs (Unter)Bewußtsein der Protagonistin Kali beziehen und als dessen Versinnlichung verstehen - so die Erscheinungen des Intendanten und Herbertas (S. 31 und 66) und die Szene, in der rund urn Kali in einer Art Vision die Schlafzimmer der Paare aus drei Generationen erscheinen (S. 49/50), aber auch die stumme Szene am Ende, in welcher die Menschen vom Wind erfaßt und von der Bühne geweht werden (S, 79), sowie die parallel zu Kalis Heimreise am Anfang gesetzte Erzählung der Sage vom Ritter Maldix durch Adele (S. 1/2). Kali ist zerrissen zwischen Heimat und Großstadt, Herkunft und Zielen. Erinnerungen, Pläne und Träume »geistern durch Kalis Gedanken« 135 und schlagen sich in ihren Visionen nieder, allerdings nicht - wie bei Liebmann - personifiziert in einer phantastischen Figur, sondern in einzelnen Szenen, die Kalis Obsessionen spiegeln. Das wird deutlich, wenn eine solche Vision aus einem Selbstgespräch Kalis erwächst (S, 66) und von Kali selbst anschließend als »eine Fantasie« bezeichnet wird (S. 67). Auch die Sequenz mit dem aufkommen133 134 135
FfM, 1992. Anke Reeder (Hg.): Autorinnen: Herausforderungen an das Theater, FfM, 1989,8,74. Dramenlexikon: Jahrband 1987, hg. vom deutschen Theatermuseum, München, 1988, S. 36.
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den Wind, der die Menschen erfaßt, hatte Kali ihrer Schwester ja schon als ein Traumbild geschildert: Ein ungeheures Tor öffnete sich. Ein großer, harter Wind kam und fegte sie alle zum Tor hinaus. Einen Augenblick war Stille, nur der Raum und der Wind. Da erwachte in mir die Sehnsucht, ich rief, und unerwartet wurden sie alle zurückgetrieben, einen Zentimeter über den Boden glitten sie dahin. Aufrecht und mit verzerrten Gesichtern klatschten sie an die Wand. (S. 25)
Gerade in der Schlußszene wird allerdings die Hterarchisierung der Fiktionsebenen (als dargestellte Realität einerseits und Phantasie einer Figur andererseits) fragwürdig, werden die Grenzen verwischt. Kalis Traum, von dem sie oben gesprochen hatte, bricht jetzt in die Lebenswelt ein. Die Regieanweisung lautet: Während der Gesang anschwillt, kommt ein Wind auf. Die Menschen werden von der Buhne gefegt, kurz darauf werden sie wieder zu rück geweht. Sie klatschen an die Bühnenwand {.,.]. (S. 79)
Zwar ist auch diese stumme Szene durch eine einleitende Regieanweisung, welche Kali als Tagträumerin zeigt, die im Arbeiten innehält und in die Luft starrt, als subjektive Vision gekennzeichnet, doch im Gegensatz zu den früheren Erscheinungen, bei denen Kali immer alleine ist, sind nun die anderen Figuren sowohl Zeugen als auch Objekte ihrer Phantasie - oder »Utopie«, urn mit der Autorin zu sprechen,136 So endet der Theatertext nach dieser stummen Szene auch nur auf der vordergründigen Ebene mit dem - ohnehin nur angedeuteten - Bericht von der Vergiftung des Großvaters durch seine Frau (S. 79). Im Anschluß daran stehen noch einzeln, ja vereinzelt, die Schlußsätze der Familienmitglieder, die jeweils ihr Verhältnis zur Wirklichkeit formulieren. Subjektiv verschieden sind nicht nur die Bewertungen, sondern auch die Wahrnehmungen dessen, was man gemeinhin als Realität bezeichnet, und da jeder Mensch in seinen eigenen Wünschen, Träumen und Vorstellungen gefangen ist, bleibt er darin letztlich allein - ob das nun Heinrich ist, der in einen Traum flieht, dessen Realisierung er verpaßt hat {»nach Kanada«), oder Thea, die sich in der scheinbaren Sicherheit eines materialistisch erfolgsorientierten Lebens wiegt (»So wie es aussieht, so ist es. Es gewinnt, wer daran glaubt, das ist die Devise«), oder Adele, die sich am immergleichen Alltag festhält (»Der Tag hat vierundzwanzig Stunden. Über die Runden, über die Runden,..«), eine Strategie des Duldens, die noch zwei Generationen später wieder auf130
El friede Müller [o,T.] über Die Bergarbeiterinnen, Nachrichten der dramaturgischen Gesellschaft, H. 3/4 1988, S. 9-12, Zitat S. I I .
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genommen wird von Margit (»Bescheidene vierundzwanzig Stunden, jeden Tag, jeden Tag«), Selbst die starrköpfige Haltung des Großvaters, der immer nur das wahrnimmt, was er sehen will, wird referiert (Margit: »Er hat es nicht einmal gemerkt. Das ist das Schlimmste, so dumm zu sterben. Nicht einmal den Schmerz begreifen, um etwas zu lernen«). Den Ansatz einer Überwindung dieser Vereinzelung spürt man lediglich in der gemeinsamen Traurigkeit von Sonja (Mutter) und Kali (Tochter), wenn Kali vom »Eis« spricht, »das in die Augen steigt und dort langsam schmilzt« (S, 80). Die Ebene der Traumbilder, Stimmungen und Visionen steht gleichberechtigt neben dem vordergründigen Stückgeschehen und dient nicht nur zu dessen Illustration. Der Theatertext arbeitet wesentlich mit der Spannung zwischen diesen Ebenen, die der inhaltlichen »Spannung zwischen Flugsehnsucht und Beharrungsbedürfnis, zwischen Träumen und Wissen, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen dem Damals und dem Heute«,137 dramaturgisch Ausdruck verleiht. »Realität und Traurn stehen unter dem Gesetz ein und derselben Fiktion«, 138 und die ist ohnehin stark subjektiv, da autobiographisch geprägt. Daß dem Rezipienten beides auf gleicher Ebene angeboten wird, auf der Bühne, die zugleich und unterschiedslos Schauplatz eines objektiven Geschehens und Spielort einer möglichen Welt ist, impliziert Zweifel an der klaren Trennbarkeit von beidem. Dieser »Schwebezustand« 139 zwischen Wirklichkeit und Traum, die durch die Figur des wunderlichen Herberta, eines zwischen beiden Welten wandernden »Sonderlings« (S. 8), zusätzlich verknüpft werden, manifestiert sich im Text nicht nur in den phantastischen Einschüben. Auch der unvermittelte Stilwechsel mancher Figuren vom Dialekt in die Hochsprache, der sich innerhalb einer Replik vollziehen kann (so Adele: S. 9, der Alte: S. 11; bei Kali hingegen ist der ständige Wechsel von Dialekt und Hochsprache motiviert), und die doppelte Beschreibung des Ortes der Handlung, der zunächst als »die Bühne« und dann erst als fiktionaler Schauplatz eingeführt und schließlich mit dem Kommentar versehen wird: »Es ist eine Welt, in der Idylle möglich wäre« (S. 8), weisen auf das Verschwimmen der Realitätsgrenzen hin. Die zahlreichen metatheatralen Signale schließlich, die binnenfiktional dadurch erklärbar sind, daß Kali Schauspielerin ist, können angesichts dieser Vielschichtigkeit auch als Hinweise darauf verstanden werden, daß die dramatische Form hier kritisch genutzt wird, indem keine Fabel erzählt, sondern ein 137
138 IS9
Gerhard Jörder: »Einmal Heimat, hin und zurück«, TH, H. 4/1988, S. 29f., Zitat S. 29. Dramenlexikon: Jahrband 1987, München, 1988, S. 36. Wolfgang Hobel: »Menschen ohne Aussicht«, SZ, 24.2.1988.
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perspektivisch gebrochenes »Zeitbild« 140 produziert wird. Die Fiktion läuft so letztlich leer, die »Handlung« bleibt am Ende ungewiß - und den Figuren ergeht es ähnlich wie den Menschen in Kalis Traum: Menschen gingen umher, als wären sie verloren gegangen in einem Theaterstück. Dann aber verwandelten sie sich, oder ich erkannte sie. Wir waren es, unsere Familie. Sie wollten anfangen, sich zu erklären, als hätten sie plötzlich die Sätze parat, die alles lösen würden. Aber sie begannen alle gleichzeitig, und jeder ging im anderen unter. (S. 24)
So ist dieser Theatertext, ähnlich wie Liebmanns Berliner Kindl, für zwei verschiedene Lesarten offen - je nachdem, ob man die verschiedenen Fiktionsebenen nierarchisiert oder nebeneinanderstellt.
Oliver Bukowski: Inszenierung eines Kusses Während sich bei Elfriede Müller und Irina Liebmann die Sabotage herkömmlichen dramatischen Verstehens eher nebenbei und relativ unauffällig durch zunehmende Autonomisierung einer zweiten, überrealen Fiktionsebene vollzieht, betreibt Oliver Bukowski in Inszenierung eines Kusses1*1 doch recht offensiv die Verunsichcrung der Rezeption durch Mittel des absurden Theaters und durch eine Überlagerung der Darstellungs- durch die Wirkungsfunktion. Dieser Theatertext kann zumindest auch als kritische Nutzung der dramatischen Form betrachtet werden, selbst wenn sich Bukowskis Stücke aufgrund ihres oben erläuterten Zwittercharakters einer eindeutigen Zuordnung zumeist entziehen. Inszenierung eines Kusses, laut Untertitel eine »Farce« und nach Worten des Autors ein »Verwirrspiel, welches einen halben Meter über den (so realen) Bühnenbrettera schwebt«, 142 löst augenscheinlich die zunächst gestiftete Verwirrung in der Schlußpointe auf, wenn das Geschehen des zweiten Aktes als inszeniertes Rollenspiel entlarvt wird, mit dem einsam-gelangweilte Erfolgsmenschen ihrem Leben einen momentanen Kitzel verschaffen wollen, »um sich einen Moment lebendig zu fühlen«. t 4 i Wenn sich das formal dramatische Stück in dieser Pointe erschöpfte, wäre es nur eine beson140 141 142
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E. Müller in Roeder (Hg.) 1989, S. 70. Berlin [BM], Fassung Oktober 1992. Zit. in: Dieter Kranz: »Sex and crime im Eigenheim«, TH, H. 11/1992, S, 53f., Zitat S. 53. Oliver Bukowski: »Zum Stück«, Werkraum Heft l / 84. Spielzeit (1994/95), hg. v. Münchner Kammerspiele [- Programmheft zur Inszenierung der Münchner Kammerspiele/ Werkraum, Premiere 5.11.1994], S. 4. 103
dere Ausprägung bzw. Umkehrung der traditionellen Komödienform, bei der - anders als üblich - der Zuschauer der einzige ist, der am Ende überrascht wird: Birmenfiktional gibt es bei Bukowski keine Figur, die ebenso ahnungslos wäre wie der Zuschauer, Schon das hat hinsichtlich des äußeren Kommunikationssystems beachtenswerte Konsequenzen: Der Zuschauer findet sich unversehens in die Position eines Voyeurs gedrängt, in welcher er sich durchaus amüsieren kann, da der Theatertext durch Übersteigerung ins Groteske sogar Gewalt und Mord eine gewisse Komik abzugewinnen vermag. Eine durchaus nicht untypische Publikumsreaktion, die sich am Ende einstellen kann, wenn das Ganze als doch reichlich perverse »Inszenierung eines Kusses« entlarvt ist (nicht umsonst lautete der Originaltitel Porno), beschreibt ein Kritiker der Münchner Inszenierung: Nun haben wir fast ein schlechtes Gewissen, daß wir uns bei diesem Spiel {...] durchaus auch vergnügt haben. [,..] So amüsieren wir uns eben zu Tode. Das Erschrecken darüber war dem Premierenpublikum anzumerken. 144
Die Opfer dieser Komödie, die Düpierten, befinden sich nicht auf der Bühne, sondern im Zuschauerraum. Die Schlußpointe klärt nun beileibe nicht alle Merkwürdigkeiten des Stückes auf, befremdlich bleiben vor allem der in der Tradition des absurden Theaters stehende erste Akt mit den Archetypen A, B und C, welche die Prinzipien des wissenschaftlichen Intellekts, des poetischen Sentiments und des rein körperlichen Triebes verkörpern. Sie werden vom Autor in einer anfänglichen Regieanweisung als »Penner und Spanner« {S. 1), in einer anderen, am Ende des Stücks, als »gedungene Schauspieler« (S. 38) bezeichnet. Ob man nun diese beiden Angaben dahingehend harmonisiert, daß man unterstellt, Conrad habe die Penner als (Laien)Darsteller engagiert, wie es der Text nahelegt, ist letztlich gleichgültig: Es handelt sich bei ihnen nicht um Charaktere mit unverwechselbaren Identitäten, sondern um Typen und Funktionsträger, worauf auch die Tatsache hinweist, daß sie keine Namen tragen. Gerade im ersten Akt gibt es im Gespräch wie in der Handlung zahlreiche Hinweise auf Themen wie Sinn- und Identitätsverlust sowie das problematische Verhältnis von Wahrnehmung und Realität, die als metatheatralische Signale gewertet werden können. Am auffälligsten ist dieser Bereich thematisiert in B's Bericht von seiner Begegnung mit Lisa [sic],l4S 144 145
Thomas Thieringer: »Warten auf den Nervenkitzel«, SZ, l. \ l .1994. Die Großschreibung des Buchstaben I im Namen der Protagonistin ist nach Auskunft des Lektorats ein - auf der Bühne freilich nicht unmittelbar zu ver-
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in deren Verlauf er das Gefühl hatte, ihm komme seine körperliche Existenz abhanden (S. 12/13), Auf die Vielschichtigkeit von »Realität« verweisen aber auch das Spiel mit dem Opernglas, das Distanzen schwinden und wachsen läßt (S, 8), oder A's Bericht von seinen Beobachtungen des Geschehens »unten« nach C's Sprung und angeblichem Tod (S. 8-10), dem C's Wiedererscheinen (S, 10) widerspricht. In eine ähnliche Richtung zielen Bemerkungen wie »sie messen ihr glück an der tragik des Sturzes« (S. 9) oder die Zitate »Ich weiß, daß ich nichts weiß« und »Der hat gut gelebt, der sich gut verborgen hat« (S. 7), die ebenfalls menschliche Erkenntnisfähigkeit problematisieren bzw. relativieren. Explizit thematisiert wird die Position, Wirklichkeit konstituiere sich durch Wahrnehmung, von B·, »die weh, zu ihrer existenz braucht ein drittes, einen gott, einen beobachter, einen spanner« (S. 9), Eingebettet sind all diese Überlegungen in eine Auseinandersetzung der Prinzipien Kopf, Herz und Leib, welche A, B und C verkörpern. Auf die Unzulänglichkeit der Ratio beim Erfassen der Wirklichkeit verweist B, der Poet, im Streit mit A; und ohne in dieser Figur ein Sprachrohr des Autors sehen zu wollen, kann man sein Plädoyer für »die geschulte empfmdung« (S. 4) doch auf mehr als nur auf die binnenfiktionale Situation beziehen: B: f...] sie versuchen zu VERSTEHEN und wollen nicht verstehen, daß sie nicht verstehen sollen, sondern.,. A: sondern? B; nicht länge mal breite mal hohe, geben sie sich mit jeder faser hin, tauchen sie ein, tätscheln sie ihr ego; empfinden sie gewissermaßen »läbreihöh«! (S. 4)
Mit Berufung auf die Prinzipien des poetischen Empfindens (B) respektive des wissenschaftlichen Denkens (A) liefern sich die beiden anschließend ein Duell in der Überwindung physikalischer Gesetze, wenn B als »schwebende Kugel« schwingend in der Luft verharrt und A alle drei »kopfüber in die Höhe« reißt (S, 6) - eine Auseinandersetzung, die unentschieden bleibt, da C sie mit der Demonstration seiner körperlichen Überlegenheit beendet. Es kann hier nicht darum gehen, aus den einzelnen Bemerkungen und Handlungselementen unterschiedlicher Figuren zu rekonstruieren, was der Autor - jenseits der vor allem im zweiten Teil offensichtlichen Kritik an unserer »Erlebnisgesellschaft«, die Leben inszeniert, statt es zu leben - nun »sagen will«. Gerade dies, die Vermittlung einer eindeutigen Botschaft, scheint der Theatertext im Gegenteil zu verhindern. Der Sinn, am Ende von anschaulichender - Seitenhieb des Autors auf das von ihm so bezeichnete »Beton-Feministinnen-I«, 105
Conrad beschworen, wird nur auf dem Theater und nur zum Schein wieder hergestellt. CONRAD (noch unsicher): und jetzt? jetzt hat alles, alles wieder seinen Sinn? LlSA: so wahr, wie ich hier vor dir stehe, hier, vor dir. in diesem räum. (Breitet die Arme nach ihm aus.) küß mich. In der anschließenden finalen Regieanweisung heißt es: Nahem sich umständlich katapultiert einen Regen Traum-Paar; der Raum Musik. Bevor die Lippen
zum Kuß. Das Sinnlose gibt einen Laut von sich und Güldenglanz-Konfetti in die Lichteffekte über dem leuchtet rot auf. Dröhnende Holly wood- Happyendsich berühren, geht das Licht aus. (S, 39)
Lisas abschließende Replik ist für die Zuschauer doppelbödig, hat sich doch im Verlauf des Theatertextes das dargestellte Leben als Simulation, das Bühnengeschehen als Spiel im Spiel und somit als Simulation einer Simulation enttarnt. Was also heißt in diesem Zusammenhang »so wahr, wie ich hier vor dir stehe«? Der Kuß, der ihre Aussage besiegeln soll, wird der Wahrnehmung des Publikums entzogen - oder findet er gar nicht statt? Das letzte »Wort« hat »das Sinnlose«, laut Bühnenanweisung »ein faszinierendes, aber nicht-definierbares Gerät« (S. 17), welches Glück und Freude wiederum nur in vorgefertigten Klischees und in Nachahmung der Simulation von Glück auszudrücken vermag: in Konfetti, Lichteffekten und Musik wie am glücklichen Ende eines Hollywood-Streifens. »Sinnlos« enden auch die verschiedenen Handlungsstränge des ersten Teils: Mit den Worten »so sinnlos!« verleiht B seiner Enttäuschung nach dem simulierten Liebesakt Ausdruck - es bleibt unklar, ob er Lisas Selbstbefriedigung meint, den Orgasmus, den die drei Spanner beim Beobachten »erleiden«, oder beides (S. 15). Sinnlos ist darübcrhinaus das Auftreten der GESTALT, die nun selbst einen Ziegelstein wirft, was sie bisher zu verhindern trachtete. Sinnlos ist schließlich die »Finsternis«, die das Black am Ende des ersten Aktes darstellt, denn sie wird binnenfiktional von niemandem wahrgenommen: Die auf sie gewartet haben, ihre Beobachter A, B und C, sind gerade gegangen (S. 16). Die rückwirkende Entlarvung weiter Teile des Dramas als Spiel im Spiel verunsichert die Grenzen zwischen den verschiedenen Fiktionsebenen; die streckenweise Verselbständigung der Stückfiktion, die weder analog zur Erfahrungswirklichkeit des Zuschauers nachvollziehbar noch als Metapher entschlüsselbar ist, weist auf Grenzen der rationalen Bedeutungskonstitution hin. Bukowskis Absicht ist es sicherlich, »das Publikum an der Nase herum-
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zuführen«, 146 doch diese Wirkungsabsicht ist nicht Selbstzweck, sondern spiegelt die auch inhaltlich thematisierte Sinn- und Haltlosigkeit der menschlichen Existenz in Zeiten der Theatralisierung des Lebens, in einer Welt der Simulationen, wo die Sucht nach Erfahrung authentischen Erlebens die perversesten Blüten treibt - und dennoch im Grunde unbefriedigt bleiben muß. Somit erscheint eine Lesart, die diesen Theatertext einer bewußt kritischen Nutzung der dramatischen Form zurechnet, gerechtfertigt, wenn auch das verunsicherte Zusammenspiel der beiden Kommunikationssysteme auf der Basis theatraler Repräsentation am Ende scheinbar wiederhergestellt wird. 3.2.2.1 Thematisierung der dramatischen Form im Metadrama Als erstes Verfahren der kritischen Nutzung soll die Thematisierung der dramatischen Form im Metadrama untersucht werden, das oben als Theatertext definiert wurde, der Konstruktions- und Wirkungsprinzipien des Dramas und damit das Prinzip der theatralen Repräsentation explizit zum Thema macht. Wie wir an der Übernahme epischer Verfahren aus der Filmtechnik, die mit Vieweg-Marks als Verfahren des »episierenden Metadramas« beschreibbar werden, bereits gesehen haben, kann dramatische Selbstbezüglichkeit auch in den Dienst einer Aussage gestellt werden, die mit der kritischen Thematisierung von Drama und Theater, Wahrnehmung und Bedeutung nichts oder nur am Rande zu tun hat. Sie kann sogar fikdons- und illusionsunterstützend genutzt werden. Ausschlaggebend für das, was hier als erste Spielart kritischer Nutzung der dramatischen Form ihre Thematisierung genannt wird, ist die Tatsache, daß die Unzulänglichkeit der dramatischen Prinzipien von Figuration und Narration zur Erfassung und Darstellung von Wirklichkeit selbst zum wesentlichen Thema des Theatertextes wird. Diese Aporie kann prinzipiell durch die Thematisierung der dramatischen Form entweder im Metadrama selbst explizit formuliert werden oder aber, was häufiger der Fall ist, durch andere Verfahren der kritischen Nutzung (implizit) erfahrbar gemacht werden, wobei in solchen Fällen nicht selten metatheatrale Signale auf die implizite Kritik an der nurmehr oberflächlich genutzten dramatischen Form hinweisen. Im Metadrama, wie es hier verstanden wird, macht die Kritik an der dramatischen Form und an ihren Implikationen (insbesondere am Prinzip der Repräsentation) den eigentlichen Inhalt des Theatertextes aus. Der im Zusammenhang mit Weyh 146
Dieter Kranz, TH, H. 11/1992, S. 53.
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und Bukowski bereits angesprochene Prozeß der bewußten Wahl bestimmter Dramentypen kann dann, verallgemeinert zur bewußten Wahl der dramatischen Form überhaupt, selbst zum Thema des Stücks oder wesentlich für seine Deutung werden. Dadurch wird das Wissen um den problematischen Charakter der dramatischen Form heute dem Publikum mitgeteilt. Anders als bei Brecht, bei dem distanzierende Verfremdungen den kritischen Blick auf das Dargestellte schärfen sollten, gilt hier der kritische Blick der Form der Darstellung selbst. Zeitgenössische Inszenierungen hinterfragen anhand der szenischen Dekonstruktion eines traditionellen Dramenlextes häufig nicht nur die spezielle Aussage des benutzten Textes als problematisch, sondern auch das Repräsentationstheater schlechthin, wiewohl sie seine Prinzipien nutzen, und bereiten damit einem neuen Theater den Weg. Ebenso kann auch der formal dramatische Theatertext die Darstellungs- und Wirkungsprinzipien der dramatischen Form und damit das von ihr vorausgesetzte traditionelle thcatralc Kommunikationssystem durch Autoreflexivität bewußt und durchschaubar machen und problematisieren. Als Stammvater solch de konstruktiven Einsatzes von Metadrama kann Luigi Pirandello gelten, der mit Sechs Personen suchen einen Autor die traditionelle Spiel-im-Spiel-Technik, ursprünglich ein dramaturgischer Griff zur Affirmation des dramatischen Theaters, in ein Instrument zu dessen Infragestellung umkehrte: Auf der einen Seite befaßt die Stückhandlung sich thematisch mit der Unzulänglichkeit traditionell dramatischer Repräsentation zur Darstellung komplexer Wirklichkeit(en), was Pirandello auf der anderen Seite formal darin spiegelt, daß die zwei Spielebenen eng miteinander verwoben sind und es - wie im Vexierbild - unmöglich gemacht wird, eine der beiden als »eigentliche«, reale zu definieren. 147 Die Vielschichtigkeit der »Wirklichkeit« wird zum Problem des Dramas, und mit der Verbreitung von Freuds Theorie des Unbewußten wird im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert das »fiktionale Metadrama«, dessen »wichtigste Konkretisation« 148 zwar das Spiel-irn-Spiel darstellt, das aber als Potenzierung der Fiktionalität eine Metaebene ebensogut in Passagen höherer Subjektivität, etwa in Traumsequenzen, etablieren kann, 149 zunehmend entgrenzt und dadurch zur Verunsicherung des Publikums über die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit eingesetzt.150 Folgt man Hornbys Argumentation, so ist das sogenannte absurde Theater im Grunde nichts anderes als eine solche ent147 148 149 150
Hornby 1986, S. 43f. Vieweg-Marks 1988,5.23. Hornby 1986. S. 31-48, Brüster 1993,8.22.
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grenzte Form des metatheatre, der den »Rahmentyp«, in welchem eine traumartige, zentrale Metaebene von einer dramatischen Ebene gerahmt wird, weiterentwickelt. Somit Öffnet das absurde Theater das »fiktionale Metadrama« auf den Komplex »Drama und Wahrnehmung«. Wo die Erfaßbarkeit der subjektiven erlebten Wirklichkeit durch das »objektive« Medium des repräsentationalen Theaters und damit des Dramas zum Thema gemacht wird, setzt sich diese Linie fort, hier werden auch theatrale Alternativen erprobt. Die Ungleichzeitigkeit des Dramas, nicht aber des Theaters, ist ein wichtiges Thema in Friederike Roths Das Game ein Stück,]5i einem Theatertext, der schon durch seinen Titel auf die zentrale Bedeutung des Metadramatischen hinweist. Angesichts der Auflösung hierarchisierbarer Fiktionsebenen in eine »Dramaturgie des Dazwischen« mit gleichberechtigten Reflexionsebenen, angesichts also der Reflexion theatraler Kommunikation durch Entgrenzung des »fiktionalen Metadramas«, wie sie Hornby und Vieweg-Marks übrigens auch in anderen Theatertexten dieses Jahrhunderts konstatieren, bezeichnet Lisa Hottong diesen Text, den sie in ihrer Arbeit exemplarisch für Roths Dramaturgie ausführlich analysiert, als »reines Metatheater«. 152 Hottongs ausführliche und gewissenhafte Studie zu Das Ganze ein Stück unter dem Gesichtspunkt einer neuen Dramen- und Theaterästhetik erübrigt eine eingehende Untersuchung dieses Theatertextes als Prototyp sowohl des Metadramas als auch der kritischen Nutzung der dramatischen Form schlechthin. Obwohl aber Hottong mit Friederike Roth eine exemplarische Vertreterin der kritischen Nutzung dramatischer Form behandelt und ihre Ergebnisse somit hier Eingang finden können, sind sie dem monographischen Ansatz entsprechend - doch nur zum Teil übertragund verallgemeinerbar. Sie sollen daher im folgenden knapp zusammengefaßt und, wo für unseren Zusammenhang nötig, ergänzt werden. Zusammen mit der Analyse einzelner metadramatischer Passagen aus Roths Erben und und mit Betrachtungen zu Thomas Braschs Frauen. Krieg. Lust151 152
153
FfM. 1986. Hottong 1994, S. 80 und 184, Hottong setzt sich zwar nicht mit der Forschung zu Metadrama und -theater auseinander, doch gibt ihre Untersuchung, die ausdrücklich Dramen- und Theaterästhetik Friederike Roths zum Thema hat, wertvolle Anstöße zu diesem Thema, Die einzige Referenz, die Hottong zum Thema Metatheater und Spiel-im-Spiel angibt, ist tnteressanterweise ein Aufsatz von Rolf Breuer, der sich wiederum auf Hornby beruft. Roif Breuer: »Rückbezüglichkeit in der Literatur«, Die erfundene Wirklichkeit, hg. v, Paul Watzlawick, München, 1981, S. 138-158. FfM, 1992. 109
4
einem Text, der durch die Thematisierung des Theaters und die Reflexion eines Prototyps des dramatischen Textes implizit die Auseinandersetzung mit dramatischer Theatralität fordert, sollen die Betrachtungen zu Das Ganze ein Stück verdeutlichen, wie Theatertexte die dramatische Form nutzen, zugleich jedoch das Drama als fiktionale Gattung und das Prinzip theatraler Repräsentation kritisch thematisieren können.
Friederike Roth: Das Ganze ein Stück. Erben und Sterben DIE FRAU: Ich habe das Stück überhaupt nicht begriffen. (Das Ganze, S. 10l}1" DIE LiBRETTlSTIN: Macht euch keine Sorgen wegen der Geschichte. Die ist nur Anlaß für Szenen [,,,]. Die Geschichte selbst ist egal. {,.,] (Erben, S, 46)
Friederike Roth weist in ihren Theatertexten wiederholt auf die Unzulänglichkeit dramatischer Repräsentation hin, deren grundlegende Elemente und Prinzipien sie kritisch nutzt. Kritiker, die Roths Texten mangelnde Dramati zi tat vorwerfen, 156 haben insofern recht, als nicht Dramati z ität Roths Texte, die eben nur noch der Form nach dramatisch sind, zu Theatertexten macht, sondern eine neue Form von Texttheatralität. Hottongs Arbeit zeigt, daß Roths Dramaturgie seit Die einzige Geschichte (1985) und insbesondere in Das Ganze ein Stück die verschiedenen Verfahren der kritischen Nutzung vereint: die Thematisierung der dramatischen Form im Metadrama, ihre Umfunktionierung durch Strategien der Zuschauerverunsicherung (»Ästhetik des Verwirrspiels«) 157 und den Entwurf einer traumartigen, eigengesetzlichen Welt sowie die Unterwanderung der dramatischen Form durch Verlagerung der Theatralität (Hottong spricht von »Dramatik« bzw. dem Dramatischen) in die Sprache, mit deren »Ereignishaftigkeit« 158 gearbeitet wird. Hottong beschreibt ausführlich Friederike 154 155
FfM, 1989.
Hier und im folgenden wird, wo nötig, der Titel des Textes, auf den sich die Seitenangabe jeweils bezieht, abgekürzt in die Klammer aufgenommen: Das Game (für Das Ganze ein Stück) oder Erben (für Erben und Sterben). (56 Ygi die Kritikermeinungen, die Hottong (1994) zitiert, bes. S. 186, sowie Lucinda Renntson: »»Dramatisches Talent hat sie nicht, doch viele schöne Worte Frau< und >Die AUe< sollen zeitweilig identisch werden mit Frauen aus dem Kunst-Verbund« (S. 7), bezieht sich wohl auf diesen Teil. Urnso bedeutender werden hier die Äußerungen der Alten in ihren Monologpartien, die parallel zu dieser metadramatischen Sequenz verlaufen (W{4 und 16 sowie III/2 und 5). Eine davon (11/14) wird bei Hottong richtig als Moment erkenntnis- und sprachkritischer Reflexion erkannt. Aber auch die Replik der sechzehnten Szene (S. 47), deren herausgehobene Position auf der Buchseite nahelegt, sie parallel zur Replik der Librettistin (S. 46) zu lesen, die auf der gegenüberliegenden Seite beinahe wie ihre Spiegelung erscheint, verweist mit dem viermal wiederholten Wort »Maskenball« thematisch auf das Motiv der Verstellung und des Rollenspiels: Die ganze Nacht nicht geschlafen, dauernd das Telefon, ob hier Maskenball sei. Maskenball, Maskenball, sag ich, was, Maskenball, das ist lang vorbei. (S, 47}
»Lang vorbei«: Die Absage der Alten an diese Form des »Theaters« der Verdopplungen, den Maskenball, entspricht der Absage der Librettistin an die »Geschichte« im Theater - auch dieser Begriff wird innerhalb der kurzen Replik dreimal wiederholt: Macht euch keine Sorgen wegen der Geschichte. Die ist nur Anlaß für Szenen Eifersucht Liebe und Glück und Elend und so. Die Geschichte selbst ist egal. Die fällt zusammen im Lauf der Geschichte, (S. 47)
Als linguistisches Scharnier verbindet der Begriff >Geschichte< darüberhinaus diese Replik mit den vorangehenden Überlegungen der Alten zum Erzählen (S. 45) und mit dem Versuch der Librettistin, ihr Projekt vorzustellen (S,43f,). Nach einer Passage, in welcher die Alte mit der Ungleichzeitigkeit ihres Zeiterlebens in einer Welt der Beschleunigung wiederum einen wesentlichen Aspekt der Realitätserfahrung zur Sprache bringt (HI/2), wird in der letzten ihrer Repliken, die zwischen zwei Spiel-im-Spiel-Szenen steht (HI/5), schließlich das Thema des Traums angeschlagen. Damit wird eine alternative Form der Bedeutungskonstitution thematisch eingeführt, die in ihrer chaotischen, anarchistischen Struktur beunruhigt: [...] Träumen darf jeder, bloß nicht so Ungereimtes, so Wirres, da kommt keine Wirtschaft drin vor. Träumen darf jeder, wenn aber schon, dann regelrichtig.
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Was träumst du denn so, fragt er, und schon fange ich an zu stottern, meine Träume erzählen ist ja schon fast, als würd ich mein Leben, kommt also nichts als Gestottertes ein Mal, ein paarmal sogar, dann aber andererseits wieder, und doch ab und zu, eigentlich oft, fast beinahe immer: Es war was mit Glück, bloß weiß ich es hinterher nicht, was es eigentlich war, {..,] (S. 53)
Die Diktion der Alten, die bei dem Versuch, ihre Träume zu erzählen, ins Stottern gerat, gemahnt an die stockende Rede der Librettistin bei dem Versuch, eine Inhaltsangabe von ihrem Theatertext zu geben: Das Thema war immer schon klar. Jetzt habe ich auch den Rahmen, Die Geschichte hab ich inzwischen. Endlich. Der Ablauf steht fest - im Groben zumindest. Abläufe stehen ja nie richtig fest, Einzelheiten weiß ich zum Teil. Jetzt kann ich an die Kleinarbeit. Die Geschichte jedenfalls steht. Endlich steht die Geschichte. Später dann ist die Geschichte unwichtig, natürlich. Die Frau also, du erinnerst dich: Da war eine Frau... Ich wußte nie so recht, was ich anfangen sollte mit ihr in meiner Geschichte. [..,] (S. 44)
Wieder verspannen auch linguistische Scharniere die Replik der Alten mit dem, was im »Kunst-Verbund« diskutiert wird: Im Traum der Alten »war was mit Glück« (S. 53); »Szenen mit Glück« erwartet auch die Pianistin vorn Werk der Librettistin (S. 63). Viel später, angesichts der zahnmedizinischen Ausführungen des »schweigenden Gastes« in der Mäzenatengesellschaft (IV/3), die in keinem Zusammenhang mit dem Geschehen stehen, wird übrigens die Librettistin, während die übrigen Gäste Unruhe zeigen, »immer vergnügter« und sagt schließlich: »Das könnte ich im Traum nicht erfinden« (S. 77). Ungereimtes, Wirres geschieht genug in der Lebenswirklichkeit. Die Librettistin schlägt im inneren Kommunikationssystem vor, was die Autorin Roth im äußeren bereits praktiziert: »Wir sollten die ganze Meute auf eine Bühne setzen und einfach bloß zusehen und zuhören« (S. 77). Anschließend passiert genau das auch binnenfiktional, womit die Fiktion potenziert wird: »Die mäzenatische Abendgesellschaft verwandelt sich langsam in ihr eigenes Objekt.« Die fiktive Wirklichkeit ist zu fiktiver
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Kunst, ist absolut künstlich geworden und verwandelt sich zuletzt in eine verkitschte Schneekugel. Erben und Sterben vermittelt also nicht nur die Botschaft, daß es sich bei allen Bemühungen um ein erfülltes, glückliches Leben immer nur um unzählige Variationen eines vorgegebenen, fatalen Themas handelt, das stetig wiederkehrt: der Gegensatz zwischen Mann und Frau und das Scheitern der Liebe. Die autoreflexive Thematisierung des Mediums verweist hier konkret auch auf den unlösbaren Zusammenhang von Inhalt und Form. Die Gründe dafür, daß es sich im Entwurf der Librettistin nicht mehr um Figuren mit Geschichte handelt, sondern daß »immer ein anderer Mann und eine andere Frau« (S. 63) auftreten, die einfach die Prinzipien Mann und Frau darstellen, daß es nicht mehr möglich ist, eine einfache Geschichte zu erzählen oder darzustellen173 - sie liegen in den erkenntniskritischen Positionen, die Roth an dieser Stelle in die Repliken der Alten einfließen läßt. Und so laßt sich auch Roths »Dramaturgie des Dazwischen«, entwickelt aus der Verbindung der »Sehnsucht nach der einen Geschichte« mit der »Erkenntnis des Disparaten und Gesprengten«,174 als eine Reaktion auf zeitgenössische Welterfahrung begreifen, wie Hottong ausführlich darlegt. Roths Theatertexte, die »Spiele von Themen, nicht von Personen«175 sind und als »Bewußtseinstheater«176 das mimetische Prinzip umorientieren von der materiellen Realität auf Prozesse der Wahrnehmung und Bedeutungskonstitution, haben das »problematische Verhältnis von Realität, fiktionalisierter Realität und Kunstrealität« nicht nur »explizit zum Thema«,177 sondern machen es gerade durch diese Thematisierung auch zum bestimmenden theatralen Wirkungsprinzip. Die Grundlagen für die dramatischen Prinzipien von Figuration und Narration lösen sich in der Reflexion über Voraussetzungen dramatischer Repräsentation auf. Thematisiert wird die dramatische Form hier im Zusammenhang mit den heute nicht mehr gegebenen Voraussetzun173
174 175 176 177
Roths 1983 erschienener Theatertext Die einzige Geschichte, in denn das Sterben als »die einzige Geschichte« bezeichnet wird, stellt ja gerade diese Geschichte nicht dar, sondern nutzt die dramatische Grundsituation des Sterbens einer Frau, die nicht auf der Bühne präsent ist, um wiederum den Geschlechterkampf - hier unter Figuren, die auf den Tod der Frau zu warten scheinen, vielleicht aber auch Ausgeburten ihres erinnernden Bewußtseins im Todeskampf sind - zu thematisieren, was wieder nicht zur Konstitution einer Geschichte, sondern zu in Rondoform verknüpften, fragmentartigen Szenen führt. Roth in Roeder(Hg.) 1989, S. 43. Georg Hensel: »Lärm im Vorzimmer des Todes«, FAZ, 19.6,1985. Mielke, KLG (24. Nlg, 1986), S. 9. Hottong 1994,8.79.
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gen dramatisch-theatraler Kommunikation. Das dramatische Theater zu zitieren, heißt bei Roth immer auch: sich von ihm distanzieren.
Thomas Brasch: Frauen. Krieg. Lustspiel Auch Thomas Brasch arbeitet in seinem Theatertext Frauen, Krieg. Lustspiel mit einer Potenzierung der Fiktionsebenen durch Rollenspieie, Daiüberhinaus findet man zahlreiche metadramatische Signale wie die markiert intertextuelle Bezugnahme auf Troilus und Cres$ida,ns die besonders deutlich den 2TeiI »Troja Theater Tod« prägt, oder das Auftreten eines Souffleurs, der explizit die Theatersituation thematisiert und sich auch ans Publikum wendet. Die allgegenwärtige Spielmetapher (Schachspiel, Rollenspiel, Liebesspiel, Theater) verweist auf den Grenzbereich zwischen Realität und Fiktion. Im Zusammenhang mit der dominierenden Kriegsthematik macht sie beispielsweise die Gefahr zum Thema, Gewalt und Krieg als Kinderspiel zu betrachten. Dies wird im Scblußmonolog deutlich, als die Darstellerin der Klara von ihren Beobachtungen bei der Räumung eines Schlachtfelds berichtet: was sol! ich erklären, ich hab hingesehen, wie sie alles eingesammelt haben, die mit den roten und die mit den grauen hosen, und plötzlich waren alles leere bilder. nichts anderes mehr, nur leere bilder wie im kino. mein köpf die leinwand und die manner Hampelmänner auf dem Jahrmarkt, die toten und die, die sie wegtrugen [...] (S. 61/62) Dem hier formulierten Verschwimmen der Grenzen von Fiktion und Realität im Bewußtsein der Frau angesichts der Sinnlosigkeit des Krieges entspricht im dritten Teil eine Verunklarung der Handlung und der Rollen, nachdem schon in den ersten beiden Teilen mit verschiedenen Fiktionsebenen, mit Raum, Zeit und Identitäten spielerisch jongliert wird, Weber interpretiert das zentrale Anliegen des Textes auch als Umdeutung (Verallgemeinerung) des Konflikts aus Troilus und Cressida zum Widerstreit zwischen (weiblicher) Phantasie und (männlichem) Verharren in der Realität, 179 wobei sich thematische Bezüge auf Theater, Gesellschaft und Politik überlagern. Im folgenden soll allerdings an erster Stelle die selbstbezügliche Dimension dieses »Lustspiels« interessieren, die kritische Auto reflexion des repräsentationalen Prinzips in Drama und konventionellem Theater. 178 179
In Bearbeitungen des Stoffes von Shakespeare bis Stefan Schütz, Richard Weber: »Cressida hinter den Spiegeln: Versuch über Frauen, Krieg. Lustspiel von Thomas Brasch«, ders. (Hg.) 1992, S. 319-338, Zitat S. 324. 121
Das figurative Prinzip der dramatischen Form wird in Frauen. Krieg. Lustspiel nur unter Vorbehalten übernommen: Die Hauptfiguren des Stücks sind laut Text nicht nur Rosa und Klara - wenn sie sich gegenseitig mit Namen anreden oder voneinander sprechen -, sondern die »Darstellerin der Rosa« und die »Darstellerin der Klara«. So erscheinen sie als beides, als Schauspielerinnen und Stückfiguren, ebenso wie sie im ersten Teil zugleich Schachspielerinnen und -figuren (im »mannshohen Schachspiel«) sind. Sie sind Darsteller und dargestellte Figur in eins; das ist das uralte Paradox in der Schauspielkunst, die unlösbare Einheit von Kunstproduzent und -produkt auf der Bühne. ITO
Die Vereinbarung des Als-ob wird bereits im ersten Teil auf der Bühne thematisiert: Die Darstellerinnen sprechen ihren Text im Rolienspiel und als Zitat (die Darstellerin der Rosa leitet ihre ersten Repliken in diesem Spiel mit »Ich sage:,,.« ein), wobei sie neben ihrer eigenen Rolle auch noch fremde Rollen annehmen: die von Rosas Mann, Johannes (gespielt von der Darstellerin der Klara), die eines Polizeisoldaten (wechselseitig gespielt von beiden) und die einer Prostituierten (gespielt von der Darstellerin der Rosa). Das Sprechen von Regieanweisungen und Kommentaren (Darstellerin der Klara: »Ich antworte nicht [,.,] Ich sehe mit leeren Augen in den Himmel [...] Weil ich tot bin«, S. 15) verweist ebenso auf den Spielcharakter des Dargestellten wie Ausbrüche aus der Vereinbarung: DARSTELLERIN DER KLARA: Ich will nicht mehr tot sein. Ich will nicht mehr Johannes sein, der Mann aus der Wäscherei, der Mann im Schützengraben, der Mann, dem du den Ring vom Finger ziehst, (S. 20/21)
Die Fiktion des Rollenspiels wird nicht immer durch so ausdrückliche Verweigerung durchbrochen, man findet auch mehrdeutig-spielerische Hinweise auf die Doppelung der Stückfiktion, wenn etwa auf eine Äußerung der Darstellerin der Klara in der Rolle eines Soldaten, eine Frau sei »doch kein Kumpel oder sowas wie man selber«, folgt: DARSTELLERIN DER ROSA: Wie wer DARSTELLERIN DER KLARA: Wie man selber DARSTELLERIN DER ROSA; Wer soll n das sein Man selber DARSTELLERIN DER KLARA: Fragstn da DARSTELLERIN DER ROSA: Biste doch wer anders (S. 25) Die Bereitschaft, auf die Spielregeln dramatischen Theaters einzugehen, sind unterschiedlich. Wie Weber zeigt, lassen sich die Rollenspiele als 180
Ibid. S. 326.
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(scheiternder) Versuch zweier Schauspielerinnen lesen, eine neue, ganz andere Art des Theaters auszuprobieren. 181 Das Rollenspiel stellt in einer Kreisbewegung das Schicksal von Johannes Gabler, der als Soldat im ersten Weltkrieg fällt, und seiner Frau Rosa nach: Ausgehend von dem Moment, da die in Begleitung ihrer Freundin Klara an die Front nachgereiste Rosa ihren Mann tot auf dem Schlachtfeld liegend findet, werden Szenen aus dem Lazarett, Rosas Verhaftung und, in einem Bruch der Chronologie, Johannes' Besuch irn Bordell und sein anschließender Tod gespielt. Die Abfolge der Szenen und Themen scheint weniger den kausallogischen Erfordernissen der Repräsentation der Geschichte zu folgen, sie ergibt sich vielmehr, einer eher als musikalisch oder poetisch zu bezeichnenden Logik folgend, aus einer Eigendynamik der verschiedenen Motive und ihrer Verknüpfungen untereinander: Der König des Schachspiels verweist auf Johannes (S. 13/14), das Auto auf das Ausfahren der Wäsche (S. 19) und Rosas Fahrt ins Feldbordell auf Johannes' Besuch dort. Am Schluß des Spiels ist Johannes, gespielt von der Darstellerin der Klara, wieder tot - »endlich. Wie am Anfang« (Darstellerin der Rosa, S. 29): Die Erfahrung des Todes erscheint als Anfangs- und Endpunkt eher einer erinnernden Bewegung, die in konzentrischen Kreisen Erlebtes um dieses Zentrum anordnet, als Beginn und Ende eines »Dramas«. Es folgt das Zwischenspiel »Troja Theater Tod«, Sttuiert zwischen der Geschichte um Troilus und Cressida im Trojanischen Krieg einerseits und der zeitgenössischen Situation schwarzer Söldner, die auf ihre Hinrichtung wegen Fahnenflucht warten, andererseits, darf es als zeit- und ortloser Kommentar zum immerwährenden Krieg verstanden werden. Es ist somit nur thematisch, aber weder personell noch durch die Handlung unmittelbar mit den beiden anderen Teilen verknüpft und damit in die Textstruktur eingegliedert wie eine gedankliche Assoziation in den Denkvorgang. Wieder ähnelt die Textstruktur dem nicht streng logisch arbeitenden, sondern Bewußtes mit Unbewußtem mischenden Denken. Anschließend kommt es nun im dritten Teil, »Wut tut gut«, in einer Gegenbewegung sowohl zum ersten geordneten Bericht über die im Rollenspiel des ersten Teils nur angedeuteten Geschehnisse und ihre Zusammenhänge als auch zur endgültigen Verwirrung der Rollen: In einem langen Monolog spielt die Darstellerin der Klara die Rosa, während sie die ebenfalls anwesende Darstellerin der Rosa mit dem Namen >KIara< anspricht. Der Monolog dient ihr dazu, sich auf ein Verhör wegen Kindsmordes vorzubereitet, zu dem sie glaubt, in Kürze ab181
Ibid. S. 326-329.
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geholi zu werden. Sie plant ihre Taktik und übt die Rolle ein, in der sie sich vor Gericht als unzurechnungsfähig präsentieren will. Dabei erzählt sie (als Rosa) ihre ganze »Geschichte« in Form eines Lebenslaufs aus ihrer Perspektive und chronologisch von Beginn an (S. 48-56), was für die Spiele des ersten Teils rückwirkend einen Handlungszusammenhang herstellt. Die folgende längere Replik der Darstellerin der Rosa dagegen (S. 59), welche die ursprünglichen Identitäten wiederherstellt, entwirft ein ganz anderes Bild: Jetzt sind Rosa und Klara verwaiste Schwestern aus besseren Verhältnissen, von denen die eine, Klara, die andere mit ihren irren Phantasien (ihrem »überschnapp«: S. 59) tyrannisiert, zu denen auch das Nachspielen des Tagebuchs ihrer Großmutter gehört.182 Damit wird auch zeitlich ein ganz anderer Rahmen behauptet, nämlich derjenige der Gegenwart. Die abschließende Antwort der Darstellerin der Klara, wieder in der Rolle der Rosa, bekräftigt nochmals die erste Variante: »ich bin rosa und du hast den schaden im gehira« (S, 60), wobei sie allerdings für Momente Rosa in der zweiten Person anspricht - es bleibt ungewiß, ob sie sich selbst meint oder die Darstellerin der Rosa (S. 60/61). Der Theatertext läßt die Frage, welche der beiden Frauen nun lügt oder verrückt ist, offen. Die letzten Worte (aus dem Mund der Darstellerin der Klara) sind: jetzt mach ich die tür auf und wir werden sehen, wer hier recht hatte, du oder ich und die ändern auch, wer wir sind und wann, jetzt geh ich zur tür und öffne und dann steht die Wahrheit da. deine oder meine. (S. 64)
Daß die Erwartung einer Auflösung nicht erfüllt wird, gehört mit zum »Spiel« und zum Wirkungsmechanismus. Keine dramatische Geschichte präsentiert Brasch hier, sondern Variationen über das Thema: »Frauen Krieg - Lustspiel«. Schon das anfängliche Schachspiel der beiden Frauen ist ein Bild für den Krieg ebenso wie für die Konkurrenz der zwei Freundinnen im Kampf um Männer. Darüberhinaus steckt in Rosas Frage: »Kann der Mensch nich zweimal überlegen« (S. 11) und, nachdem Klara ihr eine Korrektur ihres fatalen Zuges nicht zugesteht, in ihrer heftigen Reaktion auf ihre Niederlage im Spiel - sie »wirft alle Figuren um« (S. i 2) -, schon die Sehnsucht danach, auch im Leben mehr als nur einen Weg zu gehen, mehrere Möglichkeiten und vielleicht auch Identitäten auszuprobieren. Durch das Umwerfen des Schachspiels werden die beiden Protagonistinnen frei für ihr
182
Hier scheint die ursprüngliche Fassung dieses Stoffes als Toter Mann - Höhe 304 durch (UA 1984, B rial mon t-Theater Brüssel), vgl. Weber: »Cressida hinter den Spiegeln«, 1992, S. 322.
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Rollenspiel,18 Das aus der Lehrstücktradition kommende Spiel mit Rollen und Haltungen, das Durchexerzieren verschiedener Handlungsmöglichkeiten und Wirklichkeilsdeutungen, die sich in der Realität gegenseitig ausschließen würden, ist aber bezeichnend für Braschs Theater,184 und auch in Frauen. Krieg. Lustspiel präsentiert er ein Angebot möglicher Geschichten, Variationen über sein Thema - nicht eine einzige Handlung, Der Text entfernt sich deutlich vom traditionellen Drama. Er gibt eher Schichten eines Bewußtseinsstroms und ihre Bewegungen wieder, die verschiedene Wirklichkeiten konstruieren, als ein gerichtet verlaufendes Stückgeschehen. Man findet vielfältige dramaturgische Scharniere, die vorwiegend im gesprochenen Text zu finden sind, da Brasch sich hinsichtlich der Regieanweisungen auf das Nötigste beschränkt. Es handelt sich dabei um echte »linguistische Scharniere« im Sinne Hottongs, also um Signal- und Stichwörter, aber auch um leitmotivartig wiederkehrende Themen und Bilder, die nicht zwingend an eine bestimmte stereotype sprachliche Formulierung gebunden sind. Diese linguistischen Scharniere dienen vor allem der im Titel ja schon ausgestellten Vernetzung von Liebe, Krieg und Spiel, »Krieg iss Krieg« - diese Aussage parallelisiert etwa die Gesetze des Schachspiels (S. 11) mit jenen, die im Krieg herrschen (S. 23). Die Formel »so gehts (aber) nich« (S. 9), mit welcher sich die Darstellerin der Klara auf die Regeln im Schachspiel beruft, verwendet auch die Darstellerin der Rosa, leicht abgewandelt als »So geht das nicht« (S. 11). Sie kehrt wieder, als Johannes bei der Prostituierten gegen den Zeitdruck protestiert, also, wenn man so will, die Einhaltung der Regeln beim Liebesspiel fordert (S. 27) und, wiederum leicht abgewandelt in »so wirds überhaupt nichts« (S. 60), im letzten Teil, als Klara sich auf die Regeln des Gerichts-Spiels besinnt. Ais Scharnier dient auch das Lied vorn Sofiechen, das zuerst den Übergang vom Schach- zum Rollenspiel markiert und dann im letzten Teil die Ausführungen der Darstellerin der Klara strukturiert. Aus diesem Lied stammt auch die These vom Krieg als »Kinderspiel« (S. 52). Das Zwischenspiel dagegen steht ausschließlich durch Motivwiederholung und -abwandlung irn Zusammenhang mit den anderen Teilen: Die Allgegenwart des Krieges, die Liebe im Krieg und als Krieg, die Frau im Krieg als Soldatenhure, der Soldat wiederum als Hure der Macht, die Distanz zwischen theatraler Rolle und Sprecher, hier gespiegelt in der Distanz zwischen Soldaten- und Privatexistenz der fünf »Neger·«, das Erinnern, Pandarus als 183 184
Weber: »Cressida hinter den Spiegeln«, 1992, S. 325. Ibid.S. 3S9. 125
»Spielführer« und das Motiv der Blindheit 185 (Pandarus ist blind, den fünf »Negern« sind die Augen verbunden) - die Bezüge des zweiten Teils zur Rahmenhandlung sind ebenso unzählbar wie im Ungefähren belassen. Das Zwischenspiel dient aber gerade dadurch der Lösung des Blicks von einer konkreten Geschichte und lenkt ihn auf die Geschichte schlechthin als stete Wiederholung derselben Kriegsspiele. Auch der Refrain im Chor der »Neger« nimmt das Thema der Undurchsichtigkeit der Charaktere aus den Rollenspielen zuvor auf und verweist auf die Verwischung der Grenzen zwischen scheinbaren Identitäten: Ja, der Tod macht den Menschen kenntlich, wie das Leben ihn undeutlich macht. Darum ist der Mensch auch endlich und sich selbst sehr unverständlich [,..] (S. 36)
Nur Johannes, der am Schluß des ersten Teils »endlich tot« ist, ist auch fürs Publikum »kenntlich« - insofern, als seine Biographie nicht in Frage gestellt wird. Auch Requisiten fungieren als Scharniere (auch wenn von ihnen nur gesprochen wird), so etwa der Ring und das Auto, und wenn man zwar von »Scharnieren durch bestimmte theatrale Figuren«186 oder »durch den theatralen Raum« 187 angesichts der Auflösung dieser dramatischen Kategorien bei Brasch nicht sprechen mag, so stellen doch die verschiedenen Rollen und die imaginierten Schauplätze sicherlich solche Verbindungs- und Schahstellen dar. Die Rolle der Soldatenhure etwa ist es, welche Rosa im nachhinein den letzten Erlebnissen ihres Mannes annähert, und im Moment ihrer Ankunft im Feldbordell vollzieht sich der chronologische Sprung zurück zu dem Moment, als Johannes an der selben Stelle stand (S. 25). Mit der Rolle des Polizei Soldaten hingegen wechselt auch die Rolle der Spielmacherin von einer Frau zur anderen (S. 17, S. 22). Hure und Vertreterin der Ordnung — mit diesen beiden Rollen spielen die Frauen auch im letzten Teil. Die Waschküche schließlich, in welcher der letzte Teil spielt, visualisiert nur ein Motiv, das im Dialog beinahe von Anfang an präsent ist, nämlich das Thema des Befleckens und Weißwaschens, Bild für Schuld und Unschuld.
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186 187
Zum Motiv der Blindheit, das häufig als rnetatheatrales Signal eingesetzt wird, vgl. 3.2.2.2. und Hornbys CW/pwj-Lektüre im Kontext des Komplexes »Drama and Perception« (Hornby 1986, S, 121-132). Hottong 1994,5. 145. Hottong 1994, S. 142.
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Thomas Brasch verwendet nurmehr isolierte Teilelemente des traditionellen Dramas, ohne daß diese bestimmend würden: Es gibt zwar Figuren, doch sind zwei von ihnen nur »Darstellerinnen«, welche die niemals greifbar werdenden Figuren Rosa und Klara spielen. Die anderen Figuren verschwinden ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht sind. Die Repliken, scheinbar Dialoge, sind weitgehend nichts als Zitate, Sprache aus zweiter Hand. Die Angaben zum Schauplatz des Geschehens sind minimal und beschreiben nur im dritten Teil einen fiktionalen Ort, die Waschküche, Diese Dekonstruktion des Dramas verknüpft der Autor mit einer Autoreflexion des dramatisch-repräsentationalen Theaters, wie Webers Lektüre des Stücks als Widerstreit unterschiedlicher Theaterkonzeptionen belegt. Webers Schlußfolgerung, Brasch zeige nicht nur den Wunsch nach einem anderen Theater, sondern auch dessen Scheitern, ist auf inhaltlicher Ebene sicher berechtigt. Auch wenn Brasch jedoch keine Alternative darstellt, so praktiziert er sie doch in seinem Theatertext. Der »Rückzug in die Schädelnerven«, lss den Weber als Braschs Konsequenz aus der Unzulänglichkeit des Dramas konstatiert, ist nicht nur ein »Theater, dessen Ort der Kopf des Autors ist«, 189 sondern auch eines im Kopf der Zuschauer. Es kann also bei einer Aufführung nicht darum gehen, diesen Theatertext, der eine Theatralität jenseits des Dramas sucht, durch »dramaturgische Eingriffe« erst spielbar im Sinne einer dramatischen Spielbarkeit zu machen. lyo Die Tatsache, daß dieser Text in enger Wechselbeziehung mit dem Theater entstand, wobei die Entwicklung der Textfassungen von Eindeutigkeit zu Unscharfe führte, 191 belegt ebenso wie die explizite Thematisierung und Problematisierung des Repräsentationsprinzips: Die Haken und Ösen, die Täuschungen und Enttäuschungen, die Wiederholungen und Unklarheiten, die Kreisbewegungen und Sackgassen der Rezeption sind nicht Fehler des Textes, die man ausbügeln müfite, sondern gehören zu einer Wirkungsstrategie des Dazwischen und der Übergängigkeh. Sie können vom Theater günstigenfalls aufgegriffen, gespiegelt oder potenziert werden, was George Tabori bei der Uraufführung (die zusätzlich in den Text eingriff, Teile umstellte und veränderte) offensichtlich gelang: Die Suche nach neuen Formen des Theaterspiels, wobei in kühnen Bildern und beharrlichen Wiederholungen von Worten, Sätzen, Szenen der Sinn erst langsam, gemeinsam gefunden wird, ist nichts für Femseh-Gucker, die nach zwei IS8 IM 190 191
Weber: »Cressida h inter den Spiegeln«, 1992, S. 337. Ibid. S. 336. Michael Töteberg: »Thomas Brasch«, K LG, 36. Nlg. (Stand 1.8.1990), S. 6. Weber: »Cressida hinter den Spiegeln«, 1992, S. 322, 127
Minuten über alles informiert sein, über alles mitreden wollen. Weshalb wird man in der pausenlosen Zweieinhalb-Stunden-Auffuhrung immer wacher? Weil jede Sicherheit schwindet, weil der Zuschauer zum Mit-Denken verfuhrt wird. [...] War hier nicht etwas zu ahnen von einer neuen Bühnenkunst zwischen Erfindung und Zitat, Bildersinn und Sprach Verliebtheit? 192
Die andere (und wohl die größere) Seite der Kritik hielt Frauen. Krieg. Lustspiel für »kopflastig«, »konfus«, »formal verbrämt«, »intellektuell aufgemotzt« und »symbolisch überfrachtet«,193 doch die meisten dieser Vorwürfe gehen offensichtlich von der darstellungsästhetischen Prämisse aus und erwecken so den Eindruck, der Autor habe versucht, einer präexistenten Geschichte eine modernistische Form überzustülpen. Es ist wahr: Die Stringenz, mit der Form und Inhalt hier verknüpft sind, ist nicht restlos überzeugend, vor allem wohl, weil Brasch in einem beträchtlichen Kraftakt versucht, ein sehr komplexes Geflecht wahrnehmungs- und theaierästhetischer Fragen mit einer individuellen Geschichte zu verspannen, die - so rudimentär und verstellt sie auch vorliegt - doch ins Zentrum des Interesses drängt. Doch wenn für Brasch gilt, daß »nicht der Erfindung eines neuen Stoffs« sein Interesse gilt, »sondern der neuen, zeitgemäßen Formgebung«,194 sollte man zur Grundlage seiner Bewertung nicht ein Verfahren machen, das die Botschaft des Theatertextes mit Hilfe der Frage nach dem Dargestellten ermitteln möchte. Einer Dramaturgie, die Rezeptionsprozesse ins Zentrum stellt und darauf durch die Thematisierung der genutzten dramatischen Form deutlich verweist, sollte auch der Kritiker zuerst als Zuschauer begegnen und sich auf diese Prozesse einlassen: auf die neuartige Verantwortung, aus einem vieldeutigen Theatertext und einer Inszenierung, die es wagt, Fragen offen zu lassen, seine eigene Inszenierung zu erstellen. 3.2.2,2 Umfunktionierung der dramatischen Form: Zuschauerverunsicherung und Eigengesetzlichkeit der Fiktion Am Beispiel der Texte von Roth und Brasch war zu sehen, daß ihr Unbehagen an Prinzipien des Dramas der genutzten dramatischen Form neue Funktionen und Wirkungsprinzipien zuweist, die nicht mehr zuerst im Bereich der Darstellung (Repräsentation) zu suchen sind. Autoreflexive Tendenzen des Dramas weisen aber auch da, wo sie nicht »pures Metatheater« konstituieren, sondern nur als vereinzelte metatheatrale Signale auftreten, häufig auf 192 m 194
Rolf Michaelis: »Hilfe, ich lebe!«, Zeit, 20.5.1988. Zitiert nach Töteberg, KLG (36, Nlg. 1990), S. 6. Weber: »Cressida hinter den Spiegeln«, 1992, S. 321.
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einen kritischen Umgang der Autorinnen mit der dramatischen Form hin. Folgt man solchen Hinweisen, so stößt man nicht selten auf eine Umfunktionierung der dramatischen Form im Sinne einer Aufwertung der Wirkungs- vor der Darstellungsfunktion. Die neue Wirkungsstrategie äußert sich dabei in gezielter Verunsicherung der Rezeptionsprozesse im äußeren Kommunikationssystem, die gekoppelt sein kann an eine Betonung der Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion, des inneren Kommunikationssystems. 195 Diese Phänomene sind uns schon bei Roths Das Ganze ein Stück begegnet: als »Ästhetik des Verwirrspiels« und als Setzen einer Bühnenwirklichkeit, deren Szenen nicht mehr durch eine fiktionale Fabelebene zeitlich, räumlich oder logisch verknüpft sind, sondern nur durch das Prinzip der Übergängigkeit, das vor allem im Bewußtsein des Rezipienten eine binnenfikttonal nicht begründbare Vernetzung bewirkt. Solche Verfahren können die dargestellte Welt auch implizit als gemachte kennzeichnen und damit distanzierend wirken, selbst wenn die dramatische Form nicht explizit zum Thema wird. Durch den teils kaum merklichen, teils unübersehbaren Einbau von Stolpersteinen und Hindernissen für die verstehende Rezeption, etwa die Mehrdeutigkeit von Figuren oder Handlung, wird das grundlegende dramatische Prinzip der Repräsentation sabotiert. Die Konventionalität dramatischer Theatralität wird bewußt gemacht und auf sich selbst zurückgewendet. Die Umfunktionierung der dramatischen Form besteht darin, daß die Autorinnen sich weigern, eine Geschichte zu erzählen und stattdessen nur Ansätze, Spuren und Fragmente vorschlagen, mit deren Bedeutungsvieifalt das Publikum alleingelassen wird. Es kommt zum Leerlauf des Dramas als einer fiktionalen Gattung, In der Wirkung der Theatertexte auf den Rezipienten, nicht in der Bedeutung des Dargestellten, ist der Sinn dieser Texte zu suchen, womit eine hermeneutisch-literaturwissenschaftliche Analyse der Texte, welche die spezifische Wirkung des theatralen Vermittlungsvorgangs nicht berücksichtigt, von vornherein zu kurz greift. Unbestreitbar prägt freilich die Wirkungsfunktion dramatische Texte aller Epochen auf ganz unterschiedliche Weise, doch baut die dramatische Wirkung traditionell auf der ihr zugrundeliegenden Darstellungsfunktion auf, weshalb die dramatische Form als narrativ beschrieben werden konnte: Zur Das Bewußtsein der Trennung zwischen realer Welt und Btihnenwelt ist selbst in illusionistischen Theaterformen stets vorhanden (vgl. Ubersfelds Begriff der deneganon), doch wird die Eigengesetztichkeit bei kritischer Nutzung der dramatischen Form vom Theatertext bewußt und deutlich akzentuiert und funktionalisiert, während das Drama die Grenze zu verwischen sucht oder ignoriert. 129
Erzielung der angestrebten Wirkung - ob Furcht oder Mitleid, politische Aktivierung, Empörung oder Versöhnung der Affekte - ist im dramatischen, also figurativ-narrativen Theater das vornehmste Mittel die Fabel, deren Botschaft durch die Form maximal unterstützt oder akzentuiert werden kann. Bei der kritischen Umfunktionierung der dramatischen Form aber scheint der Akzent deutlich verschoben, ja das Verhältnis umgekehrt. Über die Geschichte, die erzählt wird, bleibt der Zuschauer nicht selten im unklaren, seine traditionellen, an der horizontalen Perspektive196 orientierten Rezeptionsprozesse kommen dem Bühnengeschehen nicht mehr bei, werden enttäuscht und müssen ständig revidiert werden. Dies führt, negativ formuliert, zur Verwirrung der Zuschauer, kann aber auch ms Positive gewendet und als »Differenzierungsangebot« 197 behandelt werden, wenn die Demonstration der Unzulänglichkeit von Repräsentation und der Versuch, andere theatrale Formen für das Nichtreprä'sentierbare zu finden, selbst zum Thema des Theatertextes und seiner impliziten Inszenierung werden. Die Infragestellung des konventionellen Wahrnehmungsmodus scheint vornehmtiches Ziel solcher Theatertexte zu sein, die auch binnenfiktional (unmittelbar oder metaphorisch vermittelt, z.B. im Auftreten blinder Figuren) die Fragwürdigkeit menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit thematisieren. Das Problem der Ungleichzeitigkeit des Dramas in Zeiten der Entwirklichung der Realität spiegelt sich irn Theatertext in kritischen Spielen mit den Voraussetzungen des Dramas. Die Verknüpfung dramatischer Form mit neuen Wirkungsstrategien kann beim Zuschauer den Wahrnehrnungsmodus konventioneller Theatralität, der Wahrnehmung und Bedeutungskonstitution auf der Basis referentieller Illusion unproblematisch miteinander verknüpft, entautomatisieren, bewußtmachen und verunsichern. Für die Deutung solcher Theatertexte wird eine Betrachtung ihrer Wirkungsstrategien, also der durch das Stück in seiner Aufführung (potentiell) ausgelösten Rezeptionsprozesse, und ihrer Funktionsprinzipien, also der impliziten Theatralität, unverzichtbar. Erst durch eine Analyse von Form und Strategie der Darstellung, welche die theatrale Situation (äußeres Kommunikationssystem) be196
197
Beckerman prägte für die Lektüre von Theatertexten das Gegensatzpaar »horizontal/vertikal«, Ubersfeld konkretisiert den Begriff der perception horizontale unter Berufung auf Demarcy als »essentiellement diachronique, oü le suspense! l'attentejouent un röle decisif« (1981, S. 319). Wolfgang Welsch stellt der bloß Indifferenz erzeugenden »Pseudo- Post moderne« die »wirkliche Postmoderne« gegenüber, welche »die Auflösung des Ganzen nicht als Verwirrungslizenz, sondern als Differenzierungsangebot praktiziert«; Kemper (Hg.) 1988, S. 31.
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rücksichtigt, wird der Sinn des Theatertextes erhellt, der sich mit dem Sinn des Dargestellten (inneres Komm um kationssy stem) nicht länger deckt. Die Dimensionen der linearen Zeit, welche die Rezeption in Reihenfolge und Geschwindigkeit festlegt (horizontale Perspektive), zugleich aber auch der Punktzeit sinnlicher Erfahrung des theatralen Moments als absoluter Gegenwärtigkeit (vertikale Perspektive), dürfen dabei nicht unberücksichtigt bleiben. Die folgenden Beispiele für die Umfunktionierung der dramatischen Form haben zwei Schwerpunkte: das Verfahren der Zuschauerverunsicherung, das an Peter Turrinis Alpenglühen1^ demonstriert wird, und die radikalisierte Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion, auf welcher die Theatertexte der Marlene Streeruwitz basieren. Die Verunsicherung der Zuschauer kann sich als Wirkungsstrategie selbst in äußerlich konventionell dramatische Theatertexte kaum merklich einschleichen, wie wir am Beispiel von Hürlimanns DerGe$andtem sehen werden. Die Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion sprengt dagegen die Grenzen der problemlosen Nutzung des Dramas deutlich, wobei die Perspektive der Zuschauer häufig nicht nur verunsichert wird, sondern ihnen eine (utopische) Alternative zu den so verunsicherten herkömmlichen Prozessen der Kognition angeboten wird. In jedem Fall werden durch solche Verfahren die konventionelle theatrale Kommunikation und der Platz, der darin dem Text zugewiesen ist, als heute problematische Vereinbarung bewußt gemacht. Die binnenfiktionale Ebene des Dargestellten wird zu diesem Zwecke unvollständig gelassen, verrätselt, perspektivisch gebrochen oder als Collage vielfältiger disparater — auch widersprüchlicher - Wirklichkeitspartikel dargeboten, wobei eine klare Hierarchisierung voneinander unterscheidbarer Fiktionsebenen unmöglich wird, so daß es auf die Frage »Was ist dargestellt?« keine eindeutige Antwort mehr gibt. Mit dem selben Resultat wird auch die besondere semiotische Qualität des Theaters umfunktioniert: Wenn auch die Signifikanten des Theaters mit denen der Lebenswelt identisch sind, so gehorcht ihr syntagmatisches Zusammenspiel doch nicht den Gesetzen, die für die Lebenswelt gelten. Scheinbar unumstößliche Regeln für Raum, Zeit, Identität und Kausalität können so auf der Bühne als kontingent entlarvt werden. Durch das Stolpern der konventionellen Rezeptionsvorgänge wird das Ziel des Verstehens hinterfragt bzw. unmöglich gemacht. Aufgabe des Theatertextes ist nicht mehr vorrangig, Wirklichkeit zu repräm 199
Hamburg; Zürich, 1992. Zürich, 199 L
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sentieren, selbst wenn er dies vordergründig noch leistet. Er konfrontiert den Zuschauer mit einer sich verselbständigenden, in Analogie zur Lebenswirklichkeit nicht mehr restlos entschlüsselbaren Bühnenrealität mit eigenen Gesetzen und unauflösbaren Paradoxien, die im rationalen Denken üblicherweise keinen Platz haben. Ansatzweise waren Tendenzen zur Verselbständigung der Stückfiktion schon bei der Betrachtung phantastischer und grotesker Elemente in den »Grenzfällen« festzustellen, wo durch die Erweiterung einer weitgehend realistischen Grundstruktur um absurde, phantastische und groteske Elemente die dramatische Darstellungsfunktion schon an ihre Grenzen geführt wurde. Wenn die ausdrückliche Konstituierung einer eigenen Bühnenrealitäi die Verselbständigung des inneren Kommunikationssystems indes bis zu dessen Undurchschaubarkeit steigert, bedeutet dies mehr als nur Verzicht auf Illusion und damit einen anderen Modus szenischen Erzählens: Das konventionelle Zusammenspiel des inneren Kommunikationssystems mit dem äußeren wird empfindlich gestört, ein »Verstehen« im herkömmlichen Sinne wird unmöglich. Die Beziehung der Nichteindeutigkeit zwischen Werk, Künstler und Konsument, laut Eco charakteristisch für jedes moderne Kunstwerk,200 wird so betont und bewußtgemacht, Nicht-repräsentationale Ästhetik setzt schon lange die »Kunst des Nichtverstehens« voraus. So kann Hans-Thies Lehmann unter Berufung auf Adornos Ästheiische Theorie von der neueren Entwicklung der Künste sagen: Ihr repulsives Verhältnis zum Begriff schmälert die Bedeutung des Verstehens als Moment ästhetischer Erfahrung. Gehört zu ihr der >Ausdruck von Unverstehbarkeit< - auch und nicht zuletzt im neuen Theater -, >so stürzt die überkommene Verstehenshierarchie zusammen, Ihren Platz okkupiert die Reflexion des Rätselcharakters der Kunst.< 201
Dieser »Rätselcharakter der Kunst« hält Einzug auch in Theatertexte. Sie restlos verstehen zu wollen, ist also der falsche Weg. Stattdessen liegt die Betonung auf dem freien Spiel der möglichen Bedeutungen ihrer impliziten Inszenierungen. Nicht die Mitteilung, der Prozeß der Rezeption selbst wird bedeutsam. Ähnlich wie im postmodernen Performance-Theater ist der Sinn - von Bedeutung läßt sich hier kaum mehr sprechen - solcher Theatertexte durch den Versuch, die Signifikate der theatralen Signifikanten zu erkennen, die sie in Rechnung stellen, nicht mehr erschließbar. Er liegt vielmehr in der Polysemie der aus der eindeutigen Zuordnung zu einem Signifikat emanzi200 201
Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, FfM, 1973. Lehmann 1994, S. 426.
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pierten theatralen Signifikanten, in der Mehrdeutigkeit und Übergängigkeit des Bühnengeschehens. In diesen Theatertexten schlägt sich die von Brecht zwar geforderte, im epischen Theater jedoch noch stark eingeschränkte koproduzierende Freiheit des Zuschauers in letzter Konsequenz nieder. Daß die Repräsentationsfunktion des Theaters, da es sich ja um eine wenn auch kritische - Nutzung der dramatischen Form handelt, zumindest äußerlich beibehalten wird, kann zu Mißverständnissen in der Rezeption führen. Ohne Einbeziehung der von diesen Theatertexten implizierten Prozesse theatraler Kommunikation läuft auch eine Analyse in die Irre - oder, nicht selten, ins Leere. Peter Turrini: Alpenglühen Mit der Verunsicherung der Rezeption arbeitet Peter Turrinis Alpenglühen, ein Theatertext, der auch thematisch um die Unzuverlässigkeit von Wahrnehmung und ihrer Deutung kreist. Turrini nimmt in Alpenglühen mit der Rollenhaftigkeit des Lebens, mit Erkenntnis-, Sprach-, Medien- und Zivilisationskritik und mit der unerfüllbaren Sehnsucht nach unverfälschter Liebe Themen auf, die seit seinem Erstling Rozznjagd (1971) immer wieder in seinen Stücken anklingen. Das Motiv des Identitätswechsels, des Annehmens und Ablegens von Rollen, taucht etwa im Bild des Schauspielers oder als rein soziologisches Rollenverhalten auf. Auch die Problematik der RealitätsWahrnehmung, ihrer Darstellung durch die Medien und ihrer Ungleichzeiiigkeit mit dem individuellen menschlichen Verstehen und Empfinden fließt in viele von Turrinis Theatertexten ein, besonders in die jüngeren.202 Meist geschieht das in Form von surrealen Elementen (die beispielsweise in Die Minderleister stark an Hans' subjektive Wahrnehmung gekoppelt sind)203 aber auch in expliziter Thematisierung, so in der Figur des Journalisten Peter Paul Sänger in Tod und Teufel. Neu ist in Alpenglühen einmal der zentrale Stellenwert dieser Fragestellungen, die nicht am Rande einer »Geschichte« einfließen, sondern jetzt als Probleme zeitgenössischen Bewußtseins selbst im Zentrum des Interesses stehen. So steht die Liebe zwar augenscheinlich im Mittelpunkt von Alpen202
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Für seine frühen Theatertexte bedient sich Turrini noch des »Verismo [...] als Vehikel seiner engagierten Sozialkritik«: Paul Kunrotad: »Ein ArbeiterFaust?«, TH, H. 7/1988, S. 15f, Zitat S. 15. So die fünfte, die »Horrorfilm«-Szene im Personalbüro, und die siebte Szene, das Eindringen des Femseh-Quizmasters ins Wohnzimmer von Hans und Anna, 133
glühen, doch ist sie nur insofern wichtig, als diese letzte Möglichkeit authentischen Erlebens neben Schmerz und Gewalt (vgl. »Der Schmerz ist echt. Keine Imitation«, S. 83) in den Augen des Autors ein Mittel ist, um »hinter die Bilder, hinter die Fiktion« 204 zu gelangen. So ist der kurze Moment unverstellter Liebe zwischen Jasmine und dem Blinden zugleich der Moment ihrer Ehrlichkeit, in dem alle Konstruktionen, Lügen, Illusionen und Bilder vor der Realität des Augenblicks verschwinden, in dem sich keiner von sich oder vom anderen ein Bild macht, JASMINE: Weißt du eigentlich, wen du gerade umarmst? DER BLINDE (zärtlich): Eine etwa fünfzigjährige, verrückte Frau, eine völlig erfolglose Schauspielerin mit einer ziemlich unförmigen Figur. Stille DER BLINDE: Und du? Weißt du, wen du umarmst? JASMINE: Ja. Einen alten Mann. Verlogen, blind und impotent. (S, 77/78)
Bezeichnenderweise mündet diese Szene in ein gemeinsames Schweigen, in dem keiner dem anderen optisch oder akustisch ein Bild von sich vermittelt, sondern man schlicht nebeneinander sitzt: »Die beiden schauen in den Sfernenhimmel. Es ist vollkommen still« (S. 78). Auch andere vordergründige Themen in diesem Theatertext lassen sich auf diese Grundproblematik beziehen: Die Thematisierung des Journalismus, in Tod und Teufel noch deutlicher in konkreter Gesellschaftskritik verwurzelt, verweist hier auch auf die prinzipielle Untrennbarkeit von Fiktion und Realität. Der Beruf des Journalisten eignet sich nach Turrints Ansicht am besten für diese Demonstration, da unter allen Menschen die Journalisten »die weltlosesten von allen«205 sind. Auch das Thema des Ausverkaufs der österreichischen Heimat durch den Tourismus206 interessiert hier vorwiegend als ein weiteres Beispiel für einen Lebensbereich, in den mediale Vermittlung, Entfremdung und Imitation Einzug halten, während er als Inbegriff authentischer Erfahrung gilt. Nicht zuletzt geht die zentrale Bedeutung der Problematik entwkklichter Wirklichkeit auch aus dem Titel hervor, belegt doch die Bezeichnung »Alpenglühen« für den Widerschein der unter204
205 206
Karin Kathrein; »Die Welt ist mir abhanden gekommen: Ein Bühne-Gespräch mit Peter Turrini«, Bühne, H. 2/1993, S. 8-11, Zitat S. 10. Turrini im Gespräch mit Kathrein 1993, S. 10. Dieses Thema wurde von Turrini schon früher in essayistischer Form abgehandelt, so z.B.: »Die Deutschen und die Ösferreicher - Chronik einer touristischen Begegnung«, Mein Österreich: Reden, Polemiken, Aufsätze, Darmstadt, 1988, S. 137-147 [Erstveröffentlichung leicht gekürzt unter dem Titel »Die touristische Bananenrepublik« in Spiegel, H. 46/1986].
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gegangenen Sonne auf Eis und Fels die Täuschung durch einen sinnlichen Eindruck, welcher der Mensch unterliegt. Geändert hat sich mit Alpenglühen die dramaturgische Vorgehensweise. Wurden bisher solche (Selbsi)Täuschungsspiele der Figuren nur dargestellt, so werden sie jetzt grundlegendes Element einer Wirkungsästhetik, die nicht nur Figuren, sondern auch und vor allem die Zuschauer als Objekte von Täuschungen und Verunsicherungen begreift. Auffällig ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Protagonisten die unterschiedlichen Geschichten des jeweils anderen hinnehmen, ohne die Widersprüche jemals zur Diskussion zu stellen. So kommen die jeweiligen »Richtigstellungen« auch jeweils aus eigenem Antrieb der Figuren in Form langer, monologartig geschlossener Repliken. Verwundert ist dabei, so scheint es, einzig der Zuschauer. Auch Turrinis erste Stücke sind wirkungsorientiert - wenn sie auch eine andere Art der Wirkung anzielen: den Schock zur Vermittlung einer eindeutigen Botschaft. Erst mit dem »neuen Realismus« in Josef und Maria vollzieht der Autor »einen entscheidenden Schritt in [seinen] Bemühungen, von der diffusen Wirkung, die das theatralische Schockerlebnis auf das affektive und kognitive Verhaken des Rezipienten ausübt, wegzukommen«. 207 Bezeichnend ist hierbei, daß diese Wendung zu mehr Realismus nach mehrjähriger Bühnenabstinenz und Arbeiten im Medium Film erfolgt. Daß Theater sich bei Turrint der Repräsentation zwar bedient, sich aber nicht in ihr erschöpft (am nächsten ist dem puren Repräsentationstheater wohl sein prompt als Schlüsselstück verstandener und wenig erfolgreicher Theatertext Die Bürger), hat zur Folge, daß Surreales und Groteskes immer wieder in die dargestellte Welt einbrechen. Mit Alpenglühen greift die Verunsicherung auf die externe theatrale Kommunikation über. Dem Rezipienten wird nicht länger die Verzerrung der Realitätswahrnehmung bei den Figuren des Stücks vorgespielt, er selbst wird in das Spiel mit einbezogen und erfahrt eine Verunsicherung der Wahrnehmungsvorgänge und der Bedeutungskonstitution. Schon das innere Kommunikationssystem ist in Alpenglühen inhaltlich gespickt mit Themen und Motiven, welche die Relativität von Wahrnehmung und Bedeutungskonstitution betreffen. So werden auf der Bühne die Verdrängung authentischen Erlebens durch medial vermittelte Wirklichkeit und die Ersetzung echter Natur durch Tierstirnmenimitation thematisiert. Vorgefertigte Idealbilder (so die archetypischen Liebenden Romeo und Ju207
Jutta Landa: »Die frühen Dramen«, Peter Titrrini: Texte, Daten, Bilder, hg. v. Wolfgang Schuch u. Klaus Sibiewski, FfM, 1991, S. 7!-83, Zitat S. 80. 135
Ha) werden als Meßlatte fur eigene Ansprüche an das Leben und die Liebe angelegt, die man als Rollenspiel auffaßt, und auch der Einfluß der Sprache aufs Bewußtsein wird vorexerziert. Nicht zuletzt weisen die zwei umfassenden Metaphern des Theaters und der Blindheit stark auf diesen Bereich hin. Die Blindheit des Alten ermöglicht es, auf der Bühne das Auseinanderklaffen zwischen »realer«, das heißt objektiv wahrnehmbarer, und subjektiv erlebter Situation anschaulich zu machen. Wo beide kraß auseinanderklaffen, so in den Szenen 4, 11 und 13, wo der Bünde immer wieder »Was geht hier vor?« fragt, verweist diese Unsicherheit immer auch auf die prinzipielle Unzulänglichkeit unserer Wahrnehmung und die Doppelbödigkeit aller Äußerungen. Diese Unzulänglichkeit ist im übrigen auch Thema in den nachgespielten Szenen aus Romeo und Julia: ob Nachtigall oder Lerche, Tageslicht oder Mondschein, Verstellung oder Offenheit, Wahrheit oder Lüge - eine Fehldeutung kann verhängnisvoll sein. Seine eigentümliche Wirkung erlangt das Stück aber nicht durch das Dargestellte, sondern nur in Verbindung solcher inhaltlicher Elemente mit der Darstellung. Eine reine Inhaltsangabe geht an der ästhetischen Botschaft dieses Theatertextes weit vorbei, die eben nicht zu trennen ist vorn konkreten zeitlichen Ablauf der Rezeption, von Konstruktion, Zerstörung und Kombination verschiedener alternativer Illusionen, von den Sprüngen und Kehren der Vermittlung. Hier kann der Rezipient sich »an nichts mehr halten«;208 die theatrale Übereinkunft, ein Schauspieler stelle eine individuelle Figur mit einer konkreten Geschichte dar (die zwar über Strecken des Stücks dem Zuschauer unbekannt sein mag, aber deren rätselhafte Identität spätestens zum Schluß eindeutig aufgelöst wird), weicht ständigen Wandlungen und Verwandlungen ohne Endpunkt, vergleichbar dem wechselhaften Wetter in den Bergen, das in Alpenglühen den Hintergrund für das Stückgeschehen bildet.209 Die Form der Vermittlung ist somit selbst zum Inhalt geworden: Es wird gezeigt, daß es in der Welt der Bilder, in der wir leben, keinen Halt durch Wirklichkeit mehr gibt. Und das Theater eignet sich für die Vermittlung dieser Botschaft wie kein anderes Medium aufgrund der spezifischen Oszillation zwischen Objekt- und Zeichencharakter seiner szenischen Signifikanten: Die Doppelbödigkeit der theatralen Repräsentation arbeitet von Haus aus mit Illusion und Desillusion gleichermaßen. 208 209
Kathrein, Bühne, H. 2/1993, S. 9. Diesen Vergleich zieht Franz Wille in seiner Rezension der Uraufführung: »Die Illusionen wechseln wie das Wetter in den Bergen.« (»Heimatdichters Himmelfahrt«, TH, H. 4/1993, S. 15-] 8, Zitat S, 16),
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Das ist ja das Wunderbare am Theater, es gibt den ganzen Schwindel: zu, wül gar nichts anderes .sein als Fiktion und Öffnet damit das Tor zur Wirklichkeit. Gerade weil sie wissen, daß ihnen da oben etwas vorgespielt wird, glauben sie, es sei wirklich. 210
In Alpenglühen wird Theater als das entlarvt, was es ist: als Ort der Verwandlungen, des Als-ob, der stetigen Interferenzen zwischen Realität und Fiktion. Indem Turrini sich der dramatischen Form gleichzeitig bedient und konventionelles Verstehen ins Leere laufen läßt, wird die »objektive« Wirklichkeit als Konstruktion und Simulation entlarvt, und die »subjektive«, authentische Erfahrung als nicht-repräsentierbar gezeigt. »Alpenglühen ist auch ein Stück über die Ungleichzeitigkeit von Geschwindigkeiten«, so meint Turrini in bezug auf die immense Beschleunigung der virtuellen (Medien)Realität gegenüber der Geschwindigkeit menschlichen Bewußtseins, 211 und er hat diese Ungleichzeitigkeit und den mit ihr einhergehenden Weltverlust nicht nur zum Thema (besonders in den Repliken des Blinden, dessen verlorenes Augenlicht als Metapher für den Verlust des unmittelbaren Weltbezuges zu verstehen ist), sondern auch zum Wirkungsprinzip des Theatertextes gemacht. Ein Indiz für die Konstruktion des Theatertextes als Folge von Wahrnehmungsvorgängen und Bedeutungskonstitutionen durch den Rezipienten und ihre Enttäuschung ist darin zu sehen, daß die Regieanweisungen weitgehend aus der Sicht der Zuschauer geschrieben sind. Der Autor »gibt den ganzen Schwindel zu«: beschrieben werden Bühnenvorgänge und ihre Wahrnehmung - nicht ein fiktives Geschehen, die Repräsentation - nicht das Repräsentierte, der sichtbare (in Rechnung gestellte) szenische Signifikant, nicht das Signifikat — denn letzteres, so vor allem die »wahre« fiktionale Identität der Protagonisten, ist ungewiß und muß es bleiben. Die »Personen dieser Geschichte« sind im Personenverzeichnis minimal charakterisiert. Bis auf den Namen Jasmines und die Blindheit des Alten sind die Eigenschaften, die ihnen der Autor im Personenverzeichnis mitgibt (Geschlecht und ungefähres Alter), äußerlich erkennbar und können auch als Besetzungsempfehlung, also auf die Darsteller bezogen, gelesen werden, statt als explizit-auktoriale Charakterisierung fiktionaler Figuren. 212 Über Charakter, Beruf, Befindlichkeit oder Geschichte der »Figuren« sagen sie nichts aus. Diese werden zwar eingesetzt wie traditionelle Dramenfiguren, 210 2M 212
Turrini im Gespräch mit Kathrein 1993, S. 11. Gedächtnisprotokoll vom Publikurnsgespräch am Burgtheater Wien, 5.3.1995. Zu Techniken der Figurencharakterisierung vgl. Pfister 51988 [1982], S. 250264. 137
sind aber entweder substanzlos, leere Gefäße für immer neue Geschichten, die sie durch ihr Sprechen selbst erfinden (der Blinde und Jasmine), oder sprachlos und damit weitgehend rätselhaft: Was man über den Jungen sprachlich erfährt, erfährt man vom Blinden, dessen Äußerungen alles andere als zuverlässig sind. Die Bühnensprache dient nicht, wie im Drama üblich, der Charakterisierung einer als präexistent gedachten fiktiven Figur durch Eigen- oder Fremdkommentar, sondern macht vielmehr autoreflexiv diesen Vorgang der Konstruktion verschiedener fiktionaler Figuren als HerStellung bewußt, statt Darstellung zu suggerieren. Sie ist gespielt, eingeübt, angelernt, auswendig aufgesagt und somit ohne wesenhaften Bezug zur Figur, die sich ihrer bedient. Die Sprechweise des Alten ist »etwas theatralisch« (S, 38), wie er selbst bemerkt, sie strotzt in den Naturbeschreibungen der zehnten Szene nur so von Klischees. Jasmines Sprache bekommt mit jeder Identität, die sie annimmt, eine neue Färbung. Einzig im Verhalten, in den Gesten, Blicken und Handlungen des Jungen finden sich Spuren von Identität. Seine weitgehende Sprachlosigkeit ist durchaus auch als positives (wenn auch utopisches) Signal der Unvermitteltheit und also Unverfälschtheit gegenüber einer zivilisatorischen Anpassung von Empfinden und Erleben an ihre Repräsentation in der Sprache zu verstehen. Sein Schweigen meint immer auch die Abwesenheit von Lüge und Verstellung. 21 · 1 Der Junge in Alpenglühen ist dem Rollenspiel der beiden anderen nicht gewachsen, kennt die Täuschungen und Finten, die Macht der Repräsentation in Sprache, Bildern und Rollcnspiel noch nicht. »Er versteht nichts von Verwandlung, von Interpretation, von Imitation. Er hat keine Ahnung vom Theater« fS. 63), und mit dieser Ahnungslosigkeit muß er in der heutigen Welt, die auf nichts anderem als auf Repräsentation beruht, untergehen. Wahr sind also im Text nicht die Geschichten oder die Figuren, wahr ist lediglich, und darauf verweisen die zahlreichen metadramatischen und metatheatralen Elemente, daß auf der realen Bühne der impliziten Inszenierung reale Schauspieler stehen und ein Bild (oder besser: Bilder) von Wirklichkeit entwerfen. Der Autor weiß über den Realitätsgrad der einen oder der anderen Fiktion nicht viel mehr als sein Publikum, die erzeugte Unklarheit über den Inhalt ist selbst »Inhalt« dieser ästhetischen Botschaft. Besonders deutlich wird die wirkungsästhetische Ausrichtung der Regieanweisungen
Parallelen zum jungen Heiner Schneider in Die Bürger sind hier nicht zu übersehen, auch wenn dessen Schweigen mehr die bewußte, aktive Verweigerung markiert. 138
am Beginn des Stücks, wo sie sich wie die Beschreibung eines Wahrnehmungsvorgangs lesen: Alles ist finster da oben, man kann überhaupt nichts erkennen. Finster und s t i l l . Nach einiger Zeit beginnt sich das Auge des Zuschauers an die Finsternis auf der Bühne /.u gewöhnen und nimmt erste Konturen wahr; Da liegt ein Mensch in der Mitte der Bühne, auf dem Boden, unbeweglich, nackt. {...] Es wird eine kleine Spur heller (oder haben sich die Augen der Zuschauer an die Finsternis gewöhnt?). Der nackte Mensch in der Mitte der Bühne ist ein dünner, alter Mann [...]. (S. 9)
Der Mensch, dessen Anblick hier beschrieben wird, nimmt unter dem Blick der Zuschauer erst nach und nach Gestalt an, dem entspricht seine Benennung im Text der Regieanweisungen: Er wird zunächst als »ein Mensch«, dann als »der nackte Mensch«, »der nackte alte Mann« (S. 9), »der alte Mann« (S. 10) und schließlich als »der Blinde« (S. 12) bezeichnet, als welcher er sich mit seiner ersten Replik, wenn er im hellsten Sonnenlicht Finsternis konstatiert, zu erkennen gibt. Ebenso verfährt Turrini mit Regieanweisungcn, die sich auf Jasmine beziehen: Sie ist zunächst, von der Decke verhüllt, »auch ein Mensch« (S. 9), erst mit der Benennung durch den Blinden und dem Heben der Decke wird sie zur »Frau« (S. 12/13), und mit »die Frau« werden auch ihre ersten Repliken markiert bis zu dem Zeitpunkt, da sie sich namentlich vorstellt (S. 20) und zu »Jasmine« wird (S. 21). Der Junge unterscheidet sich wieder durch seine »Identität«: Vom Autor eingeführt als »ein junger Bauernbursche« {S. 12), tritt er ausnahmslos als »der Junge« auf. Er ist, als was er erscheint. Auch im folgenden wird in den Regieanweisungen immer wieder formuliert, wie etwas wirkt, erscheint, aussieht. Was nicht unmittelbar sichtbar ist, wird oft als Vermutung oder Eindruck formuliert, so etwa, wenn Jasmine sehr verändert »wirkt« (S. 35, S. 39) bzw. »aussieht« (S. 66). Selten wird etwas behauptet, was nicht unmittelbar wahrnehmbar ist. So informiert die Regieanweisung nach Jasmines erstem Identitätswechsel, dem Abschminken, schlicht: »Sie sieht abgeschminkt ganz anders aus« (S. 38) - mehr ist für den Zuschauer in diesem Moment auch nicht festzustellen. Der Theatertext beschreibt somit nicht eine vom Theater szenisch zu erzählende Geschichte, sondern entwirft ein Spiel von z.T. mehrdeutigen szenischen Signifikanten. Fragen und Zweifel werden offen gelassen, auch den tödlichen Unfall (Selbstmord) des Jungen am Ende muß der Zuschauer sich selbst aus wenigen akustischen und optischen Hinweisen selbst konstruieren, wobei der Moment des Unglücks selbst durch Schließen des Fensters ausgeblendet wird und der anschließend zwischen den Felsen wahrnehmbare »Widcr-
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schein eines Feuers« als »kleines Alpenglühen« bezeichnet wird (S. 76), Mißtrauen gegenüber dem Deckungsverhältnis von Darstellung und Dargestelltem ist angebracht, und genau diese Unsicherheit entspricht dem zeitgenössischen »Weltverlust«, 214 wie ihn der Autor selbst beschreibt: Ich weiß einfach nicht mehr, was wahr ist und was nicht wahr ist. [.,.] Maske und Gesicht wachsen ineinander, das Wahre und das Unwahre bilden einen Brei, das Wirkliche und das Fiktive sind nicht mehr auseinanderzuhalten
U].2'5
Das geht so weit, daß selbst die Blindheit des Alten, vom Autor als eine der ganz wenigen Sicherheiten im Stück bezeichnet (mit der Begründung, für so viele Verunsicherungen müsse es zumindest eine - wenn auch minimale sichere Basis geben216), im Text bis zur 12. Szene angezweifelt werden kann und soll. Darauf verweisen doppeldeutige Regieanweisungen, die den Blinden immer wieder als Schauenden beschreiben, und auch auf der binnenfiktionalen Ebene bleibt seine Blindheit nicht zu jedem Zeitpunkt unangezweifelt, ja der Blinde selbst provoziert Zweifel mit seinen Bemerkungen, er imitiere vielleicht nur Schicksal, Gang und Kopfhaltung eines Blinden (S. 66 und 68). An dieser Stelle wird die Frage bewußt in der Schwebe gelassen, der Blinde nimmt seine Brille nicht ab. Erst in der 12. Szene, als Jasmine das tut, sieht man »seine weißen Augäpfel, ohne Pupillen, [...] Die Augen sind tot« (S. 74). Es ist wiederum gerade der mimetäsche Impuls, der Turrini dazu bringt, Theaterkonventionen, die im Dienst der Repräsentation stehen, zu verletzen. Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr schreibe ich Theaterstücke, und immer wieder versuche ich die Welt, in der ich gerade lebe, mit den Mitteln des Theaters einzufangen. Aber ähnlich wie meine Figuren weiß ich im Augenblick überhaupt nicht, in welcher Weit ich mich eigentlich befinde. 217
Im Alpenglühen unmittelbar vorausgehenden Stück Tod und Teufel2^ schreit am Ende der Journalist Sänger, nachdem er sein Gesicht im Blut des erschossenen Rudi gebadet hat: »Journalismus heißt, an der Wirklichkeit dran sein. Total an der Wirklichkeit dran sein«. Zum Publikum sagt er:
214 215 216 217 218
Turrini im Gespräch mit Kathrein 1993, S. 10. Turrini, ibid. S. 9. Gedächtnisprotokoll vom Publikumsgespräch am Burgtheater Wien, 5,3.1995. Turrini im Gespräch mit Kathrein 1993, S. 9. Peter Turrini: Tod und Teufel: Eine Kolportage, FfM, 1990.
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Ich weiß, Sie finden diese Art des Journalismus entsetzlich. Ich auch. Glauben Sie mir, mich widert diese zynische Berichterstattung, diese Kolportagegeschichten über Mörder und Opfer schon die längste Zeit an, 219
Im Untertitel nennt Turrini das stark groteske Züge tragende Stück, dem diese Replik entstammt, selbst »eine Kolportage«, In diesem Ausbruch der Journalisten-Figur gegen die gängige Medicnpraxis kann man somit auch einen Ausbruch des Autors gegen die gängige Dramenpraxis vermuten, Die kritische Nutzung der dramatischen Form in Alpenglühen beinhaltet nicht Kritik am mimetischen Konzept des Theaters im weiteren Sinne - Turrini geht es durchaus um die Lebenswirklichkeit. Nur ist er sich selbst dieser Wirklichkeit nicht mehr sicher, sie ist ihm »abhanden gekommen«, und das bedeutet konsequenterweise Kritik an überholten Vorstellungen von Mimesis als Repräsentation. Wo statt Welt Weltverlust erfahren wird, kann es nicht um Nachahmung, also Darstellung einer »Realität« gehen, Stattdessen rückt vermehrt ins Blickfeld, was »Welt« im menschlichen Bewußtsein erst konstituiert: Theater nähert sich von rezeptiven Prozessen der Wahrnehmung und der daran geknüpften Bedeutungskonstitution her dem Welterleben. Es wird hier also keineswegs nur durch bewußtes Unterlaufen von Theaterkonventionen unter Beibehaltung der dramatischen Form der Verabredungscharakter der theatralen Veranstaltung betont, vielmehr zielt die Verunsicherung der Grundlagen repräsentationaler Theatralität auf ein prinzipielles In-Frage-Stellen repräsentationalen Denkens zur Erfassung von »Welt«. Sind wir diejenigen, als welche wir uns selbst definieren und darstellen, oder diejenigen, als welche andere uns sehen? Wie verläßlich ist »Realität«, wenn sie sich erst im wahrnehmenden Bewußtsein konstituiert? Produzieren oder reproduzieren (repräsentieren) die Medien Wirklichkeit? Und was passiert mit dem Menschen und seinen Gefühlen angesichts der möglichen Vervielfachung, Fragmentarisierung, Beschleunigung und Simulation »realer« Vorgänge heute? Diese Fragen und mehr stellt Turrinis Alpenglühen, deshalb kann C.B.Sucher dieses Stück »ein Turrini-Alters werk in Baudrillard-Nachfolge« nennen. 220 Ob der abwertende Unterton dieser Bemerkung gerechtfertigt ist, muß hier nicht entschieden werden. Wesentlich ist, daß diese »Baudrillard-Nachfolge« sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal niederschlägt. Es handelt sich dabei weder um altbekannt metadramatisches Rollenspiel noch um »undurchdringlichen Chimärenschleier«, wie 219 220
Ibid. S. 85. C.Bernd Sucher; »Claus Peymanns kleine Komödien«, SZ, 5.2,1993, 141
Franz Wille richtig bemerkt,221 sondern um eine Ingebrauchnahme und Funktionalisierung der schlichten Feststellung, daß »die Wahrheit [...] auf dem Theater nur eine Illusion [ist]«.222 Damit bedient die Dramaturgie sich des ureigensten theatralen (nicht dramatischen) Prinzips, statt es als Paradox zu überwinden zu suchen, und zeigt, indem sie dramatische Form mit gegen den Strich gebürsteten theatralen Wirkungsprinzipien koppelt, daß Wahrheit und Wirklichkeit längst nicht mehr nur auf dem Theater illusionär sind. Bereits 1982 äußert Turrini in einem InterviewTheater hat [...] die letzte Chance, nichtorganisiertes Bewußtsein vorzuführen. Ich beginne das Theater deshalb zu verteidigen, weil es mir wie der letzte Ort der Freiheit vorkommt - und Freiheit entsteht ja immer aus Spiel und Ausprobieren. 223 War diese Aussage auch damals offensichtlich noch auf den Bereich der theatralen Produktion gemünzt, so hat die Freiheit - denn als solche kann man, positiv gewertet, die Verunsicherung der Zuschauerperspektive auch sehen - mit Alpenglühen die Rezeption erreicht. Frei räum für Koproduktion durch die Zuschauer schafft dabei das wiederholte Innehalten im Handlungsverlauf, das durch eine Gliederung in dreizehn Abschnitte erwirkt wird, welche nicht aus szenischen Notwendigkeiten erwächst: Es gibt keine Ortswechsel, Auftritte und Abgänge fallen nicht systematisch mit den Einschnitten zusammen, die zumeist an Momente der Stille gekoppelt sind und eine bewußte Zäsur oft auch setzen, indem zu Beginn des neuen Abschnitts die letzten Worte des vorangegangenen wiederholt werden. Das Innehalten hat offensichtlich die Funktion, dieser Freiheit des Spiels Raum zu geben und sie zugleich bewußtzumachen. Die Dramaturgie der Zuschauerverunsicherung und der Offenheit führt dazu, daß Bühnenvorgänge nicht mehr als Äe-Präsentation einer präexistenten, vom Zuschauer definitiv aufklärbaren (fiktionalen) »Wirklichkeit« zu verstehen sind, sondern daß der Prozeß dieses Verstehens als eigenverantwortliche Konstruktion von »Wirklichkeit« reflektiert wird, wobei sich der Zuschauer im Ideal fall selbst beobachtet. Diese Dramaturgie findet sich unterschiedlich funktionalisiert. So behandelt Oliver Czeslik in Heilige Kühe224 22! 222 22i
224
Wille, //, H. 4/1993, S. 16. Ibid. S. 17. Heinz Sichrovsky: »>Das Theater ist wie eine nie realisierte Hoffnung«: Gespräch mit dem österreichischen Autor Peter Turrini«, DDB, H, 1/1982, S. 12f, ZitatS. 13, neater Theater: Aktuelle Stücke 2, FfM, 1992, S. 43-79.
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ein zeitgenössisches Problem unserer Gesellschaft, den Rechtsradikalismus und seine Darstellung in den Medien, und Thomas Hiirlimann thematisiert in Der Gesandte die unrühmliche Haltung der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges. In diesen beiden nächsten Beispielen liegen einer ähnlichen Wirkungsstrategie grundverschiedene formale Dramentypen zugrunde: Bedient sich Oliver Czeslik einer offenen Form mit kommentierenden Monologszenen, so ist Der Gesandte ein formal streng geschlossenes Einortdrama, das lediglich am Ende der letzten Szene eine zeitliche Öffnung erfährt. Diese formal unterschiedlichen Dramaturgien ähneln sich jedoch in ihrem Funktionsprinzip, einer wirkungsästhetischen Ausrichtung, die im Zuschauer bei Czeslik die Kategorien gut/böse, Freund/Feind verunsichern, bei Hürlimann das Problem der Objektivität historischer Urteile stellen soll. Beide arbeiten zu diesem Zweck mit Strategien der Zuscbauerverunsicherung, die das dargestellte Stückgeschehen perspektivisch gebrochen, flirrend und fragwürdig erscheinen lassen und jeden Versuch, das »wahre« Geschehen hinter dem Dargestellten zu finden, als reine Hypothese entlarven. Thomas Hürlimann: Der Gesandte
Die geschlossene Dramenform in Der Gesandte, von einem Kritiker als »antiquiert« abqualifiziert, 225 mag zunächst den Blick vornehmlich auf das Dargestellte lenken, zumal metadramatische Hinweise fehlen. Hier scheint die dramatische Form konventionell genutzt zu werden, um die Heimkehr des Gesandten Zwygart aus Berlin zu seinem Vater Oberst Zwygart und seiner Schwester Regine am Kriegsende darzustellen. Der junge Zwygart steht dabei für die historische Persönlichkeit Hans Frölicher, den Gesandten der Schweiz in Deutschland von 1938 bis 1945. Eine kurze Inhaltsangabe stellt das Stück wie folgt vor: In einem straff und konzentriert auf den dramatischen Peripetie-Punkt zulaufenden Stück - es spielt vom Nachmittag des 8. Mai bis zum Morgen des 9. Mai - führt Hürlimann vor, wie Zwygart nach seiner Rückkehr verraten und von seinem Freund im Bundesrat, Lukullus, mundtot gemacht wird, Er demonstriert so, wie schmal die Grenze zwischen Neutralität und Kollaboration ist. 226
225
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Carlo Bemasconi: »Bürgerliches Theater der Antiaufkiärung«, TdZ, H. 8/1991, S. 34. Pia Reinacher: »Thomas Hürltmann«, KLG, 42. Nig. (Stand 1.8.1992), S. 4. 143
Vordergründig korrekt, täuscht diese Zusammenfassung eine Eindeutigkeit des Dargestellten vor, die das Stück gerade vorenthält. Eben dadurch aber zielt der Theatertext auf die Unsicherheit im Unterscheiden von Wahrheit und Lüge. Die Verrätselungstechnik kennt man schon aus früheren Stücken Hürlimanns, sein ganzes Werk ist geprägt von der »unerbittlichen Suche nach Wahrheit«. 227 Bruno Hitz beschreibt Hürlimanns Großvater und Halbbruder, einen Theatertext, der ebenfalls die Haltung der Schweiz (hier allerdings am Modell eines Dörfchens und seiner Bewohner) im Zweiten Weltkrieg beleuchtet, als Beispiel für eine »induktive« Dramaturgie, die nicht von einer darzustellenden Geschichte ausgeht, sondern »vom Allerversprengtesten«, und so Identitäten der Figuren und Lauf der Handlung im unklaren beläßt, die um den »Punkt der verläßlichen Wahrheit« nur kreist, ohne ihn je zu erreichen.228 Diese von Hitz produktionsästhetisch als eine Spielart induktiver Dramaturgie eingeordnete Eigenschaft des Textes läßt sich aus der Perspektive der Rezeption als Strategie der Zuschauerverunsichening beschreiben, welche Hürlimann also bereits in früheren Stücken praktizierte. Das Arbeiten mit Unbestimmtheitsstellen, Unklarheiten und nicht auflösbaren Zweifeln macht dabei gerade in bezug auf eine Biographie wie die des Protagonisten Zwygart 229 Sinn, denn sein Leben und Tun wird durch politische Ereignisse und Intrigen über Nacht völlig umgedeutet und -bewertet, was zum Verlust aller bis dahin verläßlich geglaubten Gewißheiten führt. Schon binnenfiktional findet man Hinweise auf diese Problematik: Moralische Kategorien sind nicht mehr zeitlos gültig, auf ihre Umwertung verweisen im Text Erwähnungen und Zitate Nietzsches, durchaus auch an exponierter Stelle (S. 44, 68, 78). Der Mensch ist in dieser Welt ohne Halt verloren, wer keine Stellung bezieht und neutral bleiben wiü, kann manipuliert werden - schnell wandelt sich Zwygarts Anklage: »Schon wird der, den ihr für einen Verräter haltet, zum Verräter« (S. 43) in sein Geständnis: »Ich war der, für den sie mich hielten. Ich war ein Verräter« (S, 77), Auch historische »Fakten« sind wandelbaren Deutungen unterworfen, das Problem der Objektivität wird gestellt, doch ohne Lösung gelassen. Auch hier kann man, wie in Alpenglühen, die Erblindung des Vaters als Metapher für ein gestörtes Verhältnis zur Wahrnehmung der Welt nehmen. So betrachtet, bekommt 227
Ibid. S. 2.
228
Hitz 1992, bes. S. 62-72.
229
Hier wird stets nur die Stückfiktion diskutiert, nicht die historischen Fakten. Der Gleichsetzung seiner Figur Zwygart mit ihrem Vorbild Frölicher entzieht sich der Autor selbst schon durch die Namensgebung.
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auch die Vermutung des Obersten, sein Sohn werde »wissen, was das heißt, im Finstern zu hocken Tag und Nacht« (S. 10), jenseits des unmittelbaren Bezugs auf Aufenthalte Heinrichs im Luftschutzraum einen tieferen Sinn, Liest man den Text aufmerksam, so fallen wiederholt Bemerkungen auf, die für das Thema der Wahrnehmung sensibilisieren, wenn etwa der Oberst sagt, Regine und er seien »durch [seine] verfluchten Augen ans Haus gefesselt« (S. 52), oder wenn Regine berichtet, ihre Mutter habe als Tote nochmals die Augen geöffnet (S. 67). In der externen theatralen Kommunikation wird über zahlreiche Einzelheiten keine endgültige Klarheit geschaffen, Zwygarts Monologe etwa, in denen er über Abhörvorrichtungen Lukullus anzusprechen glaubt, bleiben ohne Reaktion. Zwar weist für den Zuschauer vielerlei darauf hin, daß tatsächlich Wanzen installiert wurden und eine Intrige gegen Zwygart betrieben wird, ebensogut könnte alles aber auch mit dessen Nervosität begründet werden, auf die er wiederholt selbst hinweist (Szene IV, S. 41 u. 45), die aber auch von Regine formuliert wird: »Du bist krank. Die Firma hat dich krank gemacht. Uns alle« (S. 72). Der Autor jedenfalls vermeidet eine Festlegung von auktorialer Seite, so enthält er sich in der Personenbeschreibung der beiden Elektriker jeden Kommentars darüber, ob sie wirklich der »Firma« zuzurechnen sind. Zwar blenden zu Beginn der sechsten Szene Scheinwerfer auf, was Zwygart als Anrücken der »Firma« interpretiert, doch bleibt dies ein leerer Signifikant, der erwartete Lukullus zeigt sich nicht. Andererseits scheint die Telefonleitung wirklich tot zu sein, der bestellte Wagen kommt nicht. Unwahrscheinlich scheint dem Zuschauer dagegen zumindest Zwygarts Vermutung, das Augenleiden des Vaters sei von der »Firma« inszeniert worden, hat man den alten Oberst doch in der ersten Szene als Blinden agieren sehen, obwohl keine andere Figur ihn beobachtete. Auch ob es sich bei dem Wachtmeister, der in der vierten Szene auftaucht und wenig später ebenso plötzlich wieder verschwindet, um eine Bedrohung oder eine Schutzmaßnahme handelt, wird nicht geklärt. Regine wird zumindest entgegen der Warnung ihres Bruders nicht erschossen, als sie das Haus verläßt, statt des erwarteten Schusses hört man Vogeigezwitscher (S. 68). Das Stück erzählt nicht eine in sich stimmige Geschichte, sondern legt Fährten für mögliche Geschichten, Objektivität wird nicht hergestellt, das ganze Stück erscheint vielmehr als eine gegenseitige Durchdringung subjektiver Wahrheiten, allen voran die Perspektive Zwygarts, die den Text zwar bestimmt, aber doch nicht jederzeit beherrscht. Binnenfiktional ist diese Unvereinbarkeit unterschiedlicher Perspektiven gespiegelt in kleinen 145
Mißverständnissen zwischen den Figuren: Als der Oberst die Bemerkung seines Sohnes, man könne nie mehr ins Dorf gehen, auf seinen eigenen Gesundheitszustand und bevorstehenden Tod bezieht, während Zwygart seine eigene verzweifelte Lage meint, klärt sich das Mißverständnis erst auf, als Zwygart deutlich wird: »Pünktlich zu den Frühnachrichten muß ich mich erschossen haben« (S. 55), Gleich darauf interpretiert die eintretende Regine die Stimmung im Raum verkehrt, indem sie diese nur auf sich selbst bezieht (»Habt ihr gerade über mich gesprochen?« S. 56). Die Männer schließlich verstellen sich, als Regine die Tränen des Vaters bemerkt, und behaupten, Tränen gelacht zu haben. Die Sprache dient den Figuren insgesamt häufig mehr zu Täuschungsmanövern als zum Klären von S ach verhalten, so daß sich ein prinzipielles Mißtrauen gegenüber allen Äußerungen einschleicht. Entgegen der dramatischen Konvention, nach welcher der durch das situative Kriterium2·10 definierte Monolog den Bühnenfiguren Gelegenheit zu unverstelltem Sprechen fern aller Verstellung gibt, sind schließlich selbst die »Monologe« Zwygarts in den Szenen IV und VI doppelbödig: Zwygart wendet sich, obwohl er alleine ist, über die Abhöraniage an die »Firma«, an Lukullus - zumindest glaubt er es - und spielt so wieder nur verschiedene Rollen. Im Schlußbild öffnen sich die Zeitgrenzen, bei Hürlimann ein Bild für Tod,231 und die Parallele zwischen Sterben und Vergessen werden wird von Regine gezogen: Über Nacht war Zwygart vergessen. Und er blieb vergessen. Denn aus dem Vergessen der Menschen, sagt der Dichter, kehrt keiner je zurück, sowenig wie aus der Ewigkeit. (S. 76)
So wird eine unaufgeklärte Episode aus der Geschichte verdrängt. Die Wahrheit bleibt dabei auf der Strecke, und daß es schwierig (wenn nicht unmöglich) ist, sie zu ermitteln, gehört zur Botschaft dieses Theatertextes und seiner kritischen Beleuchtung der Zuverlässigkeit von Repräsentation. Das Erkenntnisproblem ist hier freilich geknüpft an die historische Begebenheit und damit auf eine konkrete Epoche Schweizer Geschichte bezogen, welche Hürlimann schon in Großvater und Halbbruder thematisiert hat. Die Eidgenossenschaft, so Hürlimann, hat sich nach dem Krieg der offenen Auseinandersetzung über ihre damalige Haltung gegenüber Deutschland entzogen, so daß nach Kriegsende auch kein wahrer Friede einkehren konnte. Um das Bild aus Der Gesandte zu verwenden, das Shakespeare zitiert: 230 231
Vgl. Pfister 5 i988 [1982], S. !80ff. Retnacher, KLG (42, Nlg. 1992), S. 2.
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Nach dem »Winter unseres Mißvergnügens« (S. 18) kehrt kein sanfter Frühling ein, sondern »Kopfwehföhn«, vor dem man besser die Türen verschließt (S, 10), und der bald schon wieder in den Winter des letzten Bildes mündet. Hürlimann spricht aus Anlaß der Züricher Jugendproteste 1982 von einer oberflächlichen Scheinordnung, die schon zur Konformität mit dem Dritten Reich beigetragen habe. Unter dieser Scheinordnung rumore es zwar, doch werde dies in »einer Art doppelter Buchführung« nicht wahrgenommen.232 Vielleicht spiegelt die strenge Form seines Stücks gerade diese Scheinordnung, ist Der Gesandte auch nur mit Blick auf diese »Doppelung« zu verstehen: Es gilt eben, das Rumoren unter der Oberfläche wahrzunehmen. So ist es wohl eine Fehlleistung der Kritik, von einem Absturz der Geschichte »in die Innerlichkeit, mehr noch, in die zum Brechreiz fuhrende Weinerlichkeit« zu sprechen und festzustellen: »So geht das schon lange nicht mehr auf dem Theater«.233 Denn es geht in diesem Theatertext nicht um eine Rehabilitierung Frölichers, wie vermutet wird, sondern darum, die völlige Umwertung der eigenen Biographie und des persönlichen Selbst Verständnisses, wie sie Zwygart erfahren muß, nachvollziehbar - das heißt nicht entschuldbar, sondern erfahrbar - zu machen,234 Die Orientierungslosigkeit, die der Protagonist erfahrt, kann auch im Zuschauer andeutungsweise erzeugt werden, und die Uraufführungsinszenierung scheint diese Wirkungsabsicht des Textes auch spürbar gemacht zu haben: Kritiker sprechen von »Beunruhigung« 235 und von »Schraubendrehungen in immer tiefere Schichten: des Ausgestoßenseins, des Verfolgungswahns, des Hasses«, die »auf beklemmende Weise spürbar werden«.236 Wer aber fragt, weshalb der Autor »Zwygart/Fröücher derart unwidersprochen Sermone absondern läßt, die nichts anderes offenbaren als eine Haltung zwischen Anpassung und Widerstand« und zumindest von der Regie erwartet, die Widersprüche herauszuarbeiten,237 geht von einer puren Darstellungsästhetik aus und entmündigt den Zuschauer. Tatsache ist, daß 232
233 234
235 236 237
Michael Skasa: »Es sitzen nicht mehr alle im gleichen Boot«, 77/, H. 1/1982, S. 2-7. Zitat S. 2f. Bernasconi, n/Z, H. 8/1991, S. 34. Hier handelt es sich im übrigen um eine Thematik, die sich auf andere historische Situationen übertragen läßt und gerade angesichts der »Wiedervereinigung« der beiden deutschen Staaten an deutschen Theatern interessieren dürfte. Peter Iden; »Alte Lasten, wie Berge«, FR, 6.6.1991. m.v.: »Geschichte in Parabelform«, NZZ, 16.5.1991. Carlo Bernasconi, TdZ, H. 8/1991, S. 34. 147
Zwygart nicht nur unwidersprochen redet, sondern überhaupt ohne Antwort bleibt und noch dazu in die Ungewißheit hinein spricht, ob er tatsächlich einen Zuhörer hat. Lukullus ist »niemals zu greifen« (S. 62), und wo Zwygart in Hoby ein Gegenüber findet, will der Gesprächspartner, obwohl ebenso schuldig wie Zwygart, gar nichts wissen von seinen Motivationen, Zweifeln oder Ansichten - hoffnungslos sind Zwygarts Vorstöße gegen Hobys Schweigen und kurzangebundene Förmlichkeit in der zweiten Szene, Die Gesellschaft feiert lieber den Frieden und verbannt den (fraglos mitschuldigen) Zwygart in die (Schnee)Wüste. Der Drahtzieher aber, sein Auftraggeber Lukulius, bleibt. Zwygarts Haltung und die Verantwortung seiner Hintermänner werden nicht diskutiert, sondern totgeschwiegen und mit der Lüge von der »siegreichen Armee« überdeckt - und das steht im Zentrum des Theatertextes. Das Stück stellt sowohl inhaltlich als auch formal die Objektivität einer Geschichtsschreibung in Frage, die historische Fakten weniger berichtet und deutet, als vielmehr selbst produziert. Verloren sind in diesem Theatertext die Zuschauer ebenso wie die Figuren, Mißtrauen gegen den Anspruch der historischen Wahrheit auf Objektivität ist ebenso geboten wie Mißtrauen gegen die scheinbare Objektivität der dramatischen Gattung und ihrem Prinzip der Repräsentation.
Oliver Czeslik: Heilige Kühe Deutlicher tritt das Mißtrauen gegenüber scheinbarer Objektivität in Czesiiks Heilige Kühe zutage, wobei hier vor allem die Rolle der Medienberichterstattung im Mittelpunkt der Kritik steht, »Nichts ist klar«:3-18 Die Verunsicherungen in diesem Theatertext sind unübersehbar. Der Plot klingt wie aus einem Zeitstück: Ein linker, jüdischer Dokumentarfilmer mit dem sprechenden Namen Karl Klementi begibt sich mit seiner Videokamera in eine Ostberliner Zentrale der rechtsradikalen Skinhead-Szene, um einen Beitrag über sie zu drehen, wird dort von den Skins festgehalten und gequält und soll am 20. April, dem Führergeburtstag, als »Judenopfer« (S. 56) in Dresden hingerichtet werden. Die Videoaufzeichnungen, die mit seiner eigenen Kamera von seinen Torturen gemacht werden, »sollen die ersten Geschichtsdokumente des neuen Deutschlands sein«, so Ulli, die SkinheadFrau (S. 56).
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So beginnt Michael Merschrneier seinen Artikel über Czeslik und sein Stück: »Jenseits von Gut und Böse«, TH, H. 4/1992, S. 42f.
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Doch schon an dieser Stelle stockt eine Inhaltsangabe, denn es ist nicht sicher, ob Ulli die Skinhead-Frau ist, als die sie anfangs erscheint und als die sie auch im Personen Verzeichnis geführt wird. In der neunten Sequenz stellt sie sich im Gegenteil als Friederike Kummer vor, eine Tem/w-Redakteurin, die sich wie Klementi auf der Jagd nach Dokumentarmaterial undercover bei den Skins eingeschlichen hat. Doch auch diese Identität bleibt fraglich: Obwohl Gero sie als »Verräterin« enttarnt (S. 64), behält er sie weiterhin an seiner Seite, und kurz vor Schluß, mit Klementi allein, zieht sie sich selbst wieder auf die Skinhead-Identität zurück. Außerdem kommt es zum geplanten Transport nach Dresden gar nicht, am Ende der 18. Sequenz konstatiert Ulli: »Ich werde die Papiere für die Überstellung nach Dresden vernichten. [...] Die Deportation hat schon stattgefunden!« (S. 78). Das Stückgeschehen ist voller metadramatischer und -theatraler Signale, die auf die Inszenierung von Wirklichkeit für und durch die Medien hinweisen und auf die Entwirklichung der Realität, die sich daraus ergibt. Gero und Uili spielen bereits in der ersten Sequenz vor der laufenden Kamera, von Klementis Nachfragen unterstützt, die Skinhead-Rollen, von denen sie meinen, die Presse erwarte sie von ihnen. Nach Klementis Festsetzung kommt Gero auf die Idee, den Reporter selbst den Moment filmen zu lassen, in dem ihm der Fuß zerschossen wird (6. Sequenz). In der Folge, als die Skins sich der Kamera bemächtigt haben und mit der Entscheidungsgewalt darüber, »was zu sehen ist«, auch die Macht übernommen haben,2^9 werden die Qualen, die sie Klementi zufügen, jeweils für die Kamera inszeniert. Dabei tritt Gero in unterschiedlicher Verkleidung als Arzt (7. Sequenz), Wehrmachtsoffizier ( I I . Sequenz), Rekrut (14. Sequenz), Richter (16. Sequenz) und schließlich selbst als Häftling (18. Sequenz) auf, das ganze Stück scheint zuweilen nichts als ein gigantisches Rollcnspiel zu sein. Die Grenzen von Fiktion und Realität verschwimmen schon auf der binnenfiktionalen Ebene zusehends. So scheinen die Skinheads von Anfang an in einer größtenteils eingebildeten Welt des Kampfes zu leben, in einer simulierten Wirklichkeit. Gegen Geros Lagebeschreibung wendet Klementi schon ganz zu Anfang ein: »Aber da kommt niemand!« (L Sequenz, S. 48). Ulli bleibt übrigens in der Verwirrung von Realität und Schein auch gefangen, als sie sich als Friederike Kummer zu erkennen gibt. Mehrmals bezeichnet sie (als Friederike) das ganze Unternehmen als »Spiel« (S. 56, S. 61). Die Videobänder als Stoff für ihre Reportage sind ihr nicht nur wichtiger als Klementis Schmerz (S. 62/63), sondern, so wörtlich, auch 2 19
·
Hartmut Krug: »Schlachtfest in Berlin«, DDB, H. 8/1992, S. 32. 149
»realer als banale Nahrungsaufnahme« (S. 68). So spricht sie auch nur in der 12. Sequenz persönlich zu Klementi, ansonsten hat sie zwischen sich und ihn die Videokamera geschaltet und legt auch ihr Bekenntnis, sie sei eine Freundin, in seine Kamera hinein ab. Abgesehen vom Realitätsverlust der Skinheads scheint die Verwirrung der Reaiitätsebenen binnenfiktional vor allem durch Klementis Perspektive motiviert, dem seine eigene Identität abhanden gekommen zu sein scheint. Mit den simplen Dualitäten gut-böse und rechts-links wankt nach dem Zerfall der großen Ideologien sein Selbstbild. In seinen Monologsequenzen, die nur zum Teil (etwa als Fiebcrtraum) situational motiviert sind und vor allem episch-kommentierende Funktion haben, taucht dieses Problem immer wieder auf: »Ich bin als Linker bekannt. Ich weiß aber nicht mehr, was das ist: ein Linker« (S. 49). Auch seine Fieberträume drehen sich um dasselbe Thema: Ich war Sozialist, Marxist, Kommunist, Stalinist - umziehen - schon wieder umziehen - [...] Ich stehe auf einer riesigen Bühne und muß beteuern, ich bin kein Marxist mehr. Ich glaube an die verschiedenen Schöpfungen von Lebensstilen [...] Jemand schreit: Der Niedergang der großen Erzählungen ist auch eine große Erzählung, bevor er erschossen wird. (S. 55)
Im selben Monolog thematisiert eine Metapher aus der Filmästhetik den Verlust einer verläßlichen, einheitsstiftenden Wahrnehmung und Weltcrfahrung: »Totale ist zersplittert in Totälchen« (S, 55). Hier taucht auch wieder das Motiv des verlorenen Augenlichts auf: »mein Gott - ich seh ja nichts mehr, Wüstensand in meinen Augen« (S. 55),-4Ö Die Augen sind aber auch im weiteren Verlauf bedeutsam. In einem weiteren Schlüsselmonolog, in dem er seine Selbstentfremdung durch Geld, Erfolg und die Identifikation mit den Medien beschreibt, stellt Klementi wenig später fest: »Meine Augen sind zwei Kameras« (S. 67). Im Verlauf des Stückgeschehens wird er vom Voyeur zum Opfer, wird die professionelle Distanz zwischen ihm und dem Geschehen, die in der Kamera versinnbildlicht ist, schmerzhaft aufgehoben. Anstatt fremde »zerschossene Körper« mit der Kamera zu »betasten« (S. 54), filmt er die eigene Verstümmelung, Gero reduziert ihn in der 16, Sequenz schrittweise auf einen Torso und auf sein Gesicht, das als letztes, was von ihm sichtbar ist, durch Beleuchtung und die Übertragung auf den Monitor noch hervorgehoben wird. Während 240
Die Erwähnung des Wüstensands in diesem Zusammenhang mag angesichts des Entstehungsdatums von Heilige Kühe an den Golfkrieg gemahnen, der seinerseits zu Diskussionen über die Rolle der Medien bei der Inszenierung, Mediatisierung und Simulation von Kriegsgeschehen geführt hatte.
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Gero ihn knebelt, löst Utli zwar das Klebeband wieder von seinem Mund, sticht ihm jedoch die Augen aus. In dieser Blindheit bietet der nun als Gefangener gekleidete Gero Klementi an, sein Augenlicht, seine Kamera zu sein. Diese Annahme einer fremden Perspektive macht die Orientierungslosigkeit vollkommen. Auf die Frage: »Wo sind deine Augen?« antwortet Klementi: »Am Rande einer ungeheuren Ebene, wo kein markanter Punkt ihrem hilflosen Irren Ruhe spendet« (S. 78), In dieser Schlußsequenz sind Karl, der aus der von Gero zerstörten Box wie neugeboren aufersteht, und Gero, der ihm zu guter Letzt auch die Augenbinde abnimmt, einander so angenähert, daß man Täter und Opfer, Freund und Feind nicht mehr auseinanderzuhalten vermag, Gero hat problemlos die Rolle des Bewachers mit derjenigen des Befreiers vertauscht, den Feind hat er Klementi als ein Klischee beschrieben: Kin typisch deutsches Wesen. Magere Beine in Armeehosen und Springerstiefeln. Schmierbauch, aber kräftige Schultern. Ein grobes Hemd, das am Hals offensteht, muskelbepackte Arme. Ein Gesicht, das unter den Schild seiner Armeekopfbedeckung gestopft ist. Wäßrige kleine Augen voller Grausamkeit. Das Gesicht eines Satans! Sein Wort muß furchtbar sein, nicht, weil es alles tut, um ungerecht zu sein, sondern weil es allmächtig ist. Unanfechtbar. Ewig. Das ist ein Mensch, der nur in Gut und Böse einteilt. (S. 78}
Genau in dieser Beschreibung aber ist die Eigenschaft des »Feindes« spürbar: das Einteilen in Gut und Böse. Gefangen sind beide Seiten in ihrer Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen. Der Kampf gegen die »Feinde«, der Krieg, »dient als Vorwand, etwas zu erforschen, das in weiter Ferne liegt, so daß es uns mikroskopisch erscheint«, wie Klementi sagt: das eigene Ich (S. 77). Und das ist niemals eindimensional, niemals nur gut oder nur schlecht. »Ein freier Mensch werden, heißt, gegen sich selber Verdacht schöpfen« - diese Klementi unverständliche Botschaft, die ihm ein Soldat in seiner Vision von der Befreiung mitgibt (S. 75), kann auch als Botschaft der binnenfiktionalen Handlung gelesen werden, Der binnenfiktionalen Verunsicherung Klementis darüber, wer Freund und wer Feind ist, entspricht im äußeren Kommunikationssystem die Unklarheit, in der auch das Publikum belassen wird. Die Rollenwechsel der Figuren verunsichern auch beim Zuschauer - parallel zur binnenfiktionalen Entwicklung Klementis - Kategorien wie Gut und Böse, Freund und Feind, die so klar nicht (mehr) zu trennen sind.241 Doch die Verunsicherung von 241
Darauf weist neben den Schlußszenen auch der ursprungliche Titel dieses Theatertextes hin, den Czeslik anfangs Feindbrüder nennen wollte: Merschmeier, TW, H. 4/1992, S. 42. 151
Wahrnehmung und Bedeutungskonstituiion zielt nicht nur auf die konkrete Kritik an medialer Schwarzweißmalerei, sondern stellt auch prinzipiell die Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmung und das, was wir »Wirklichkeit« nennen, in Frage. So weist eine Regieanweisung am Anfang des Textes darauf hin, daß durch die Installation des Monitors frontal zum Publikum das gefilmte Geschehen für die Zuschauer immer gleichzeitig auf der Bühne und auf dem Bildschirm zu sehen ist. Doppelt mit Informationen bedient - mit der Bühnen Wirklichkeit und ihrer medialen Reproduktion -, wird dem Publikum doch in entscheidenden Momenten die »Wahrheit« vorenthalten, indem das Bühnengeschehen nur suggeriert, nicht dargestellt wird. So endet die 6. Sequenz, nachdem man auf dem Monitor eine Großaufnahme von Klementis Fuß gesehen hat, mit einem Schuß, was man im Dunkeln aber nur hört, und in der 16. Sequenz, dem »ABC-Assoziationsspiel«, wird bei jeder »Bestrafung«, also Verstümmelung Klementis, nicht nur die Kamera ausgeschaltet, es wird auch dunkel. Der Zuschauer ist gezwungen, sich selbst ein Bild zu machen. Bei Czesliks Heilige Kühe handelt es sich um politisches Theater, nicht nur aufgrund des vordergründig vermittelten Inhalts, sondern auch und vor allem durch die Wirkungsweise einer Dramaturgie, die sich der dramatischen Form kritisch bedient und damit ein Theater schafft, »das seine vornehmste Aufgabe heute nicht in Information über Fakten, sondern in der Irritation von verfestigten Wahrnehmungsgewohnheiten sehen muß«,242 Czeslik »schlachtet die heiligen Kühe der Zeitstücktradition«,243 aber er greift mit seiner Infragestellung der Objektivität mehr an als nur einen bestimmten Dramentypus, er stellt die Möglichkeit des Dramas als Gattung »objektiver« Repräsentation prinzipiell in Frage. Die von ihm kombinierten Themen Rechtsradikalismus und Medienzeitalter sind untrennbar miteinander verknüpft. Das Bindeglied heißt Entwirklichung der Realität, denn gerade die zunehmende Entfremdung des Menschen von unmittelbarer Welterfahrung läßt das Gewaltpotential besonders bei Jugendlichen rasant ansteigen. So sind auch Form und Inhalt dieses Theatertextes untrennbar. Wenn die Uraufführung »alle Eigenheiten und wirklich verstörenden Momente weggebürstet« hat und durch Herstellung von »Authentizität« die Bühne zum Ort eines »Dokumentar-Feature« gemacht hat,244 ist die dem Theatertext eigene Wirkungsästhetik der Zuschau242 243 244
Ibid. S. 43. Ibid. S. 42. Michael Merschmeier: »Schwester Helena, Bruder Hein«, TH, H. 6/1992, S. 34f., Zitat S. 35.
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erverunsicherung und damit die inhärente Kritik an der wohl genutzten dramatischen Form daher offensichtlich nicht erkannt worden. In den bisher angeführten Beispielen für die kritische Nutzung der dramatischen Form liegt der Schwerpunkt der Zuschauerverunsicherung auf dem Unterbrechen und Negieren der vom Bühnengeschehen anfänglich ausgelösten konventionellen Prozesse der Bedeutungskonstitution durch die Mehrdeutigkeit szenischer Signfikanten. Durch die Paradoxie eines Nach- und Gegeneinanders sich wechselseitig ausschließender Informationen über Figuren und Stückgeschehen, deren Widerspruch ungelöst bleibt, wird das Entstehen einer eindeutigen Fabel im Kopf des Zuschauers be- und verhindert, Narration und Figuration werden zitiert, aber nicht durchgehalten. Irn folgenden werden Theatertexte vorgestellt, die eine konventionelle Rezeption zusätzlich dadurch erschweren, daß sie für das Bühnengeschehen demonstrativ eine Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion reklamieren, die sich einer Paralielisierung zur Lebenswirklichkeit entzieht und mit klassischer Logik nicht restlos auflösbar ist. Wo phantastische, groteske, paradoxe und surreale Elemente zum bestimmenden Prinzip des Theatertextes werden, wird seine narrative Funktion - ähnlich wie im absurden Theater - ausgehöhlt: Diese Dramaturgie des Irrealen versucht, Bewußtseins- und Unbewußtseinsprozesse zu erfassen, die im traditionellen Drama prinzipiell nicht darstellbar sind,245 Deutlicher als in den bisherigen Beispielen wird dabei mit den Prinzipien von Narration und Figuration gebrochen, wird die referentielle Illusion repräsentationalen Theaters denunziert. Die Signifikanten der Bühne werden nicht nur als mehrdeutige, sondern auch als leere Zeichen verwendet, die auf ihre Materialität verweisen und deren Kombination in der Kunstwelt der Bühne nicht den Gesetzen lebensweltlicher Logik gehorcht. Marlene Streeruwitz: New York. New York, und andere Texte Die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz praktiziert in ihren seit 1986 entstandenen Stücken konsequent ihre ganz eigene Dramaturgie, weshalb diese Schreibweise hier in der Gesamtheit ihres Gegenentwurfs betrachtet wird. Dabei werden sowohl mehrere Stücke exemplarisch betrachtet (vor allem wird auf New York. New York. Bezug genommen, aber auch Waikiki-Beach,, Sloane Square., Elysian Park., Ocean Drive, und Tol245
Eine Ausnahme macht hier traditionell der Monolog, von dem im Kapitel 3.3 noch zu sprechen sein wird. 153
mezzo.246 dienen als Hintergrand der folgenden Überlegungen) als auch die poetologischen Positionen der Autorin einbezogen. Alle Theatcrtexte der Streeruwitz verbinden im Produktionsprinzip der Montage Sequenzen eines zumeist recht alltäglichen Rahmens mit (zumindest in diesem neuen Zusammenhang) phantastisch-surrealen Elementen, die zum Teil metafiktional sind, da sie Zitate aus Literatur, Film und Theater darstellen. Bezeichnend ist dabei die gegenseitige Kontamination und Durchdringung der verschiedenen Schichten, welche bis in die vervielfältigten »Identitäten« der Figuren vordringt. Auch die Verunsicherung der Zuschauer, die schon mit der Diskrepanz zwischen den (exotische Orte evozierenden) Stücktiteln und dem jeweiligen Schauplatz beginnt, kann man als Wirkung all ihrer Texte bezeichnen, wobei etwa in Elysian Park. die Strategie, den »wahren« Charakter der Figuren und ihrer Handlungen im nachhinein zu enthüllen und dabei doch Unklarheiten zu belassen, an die Wirkungsstrategie Turrinis erinnert. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen wird aber die Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion stehen, für welche Streeruwitz' Theatertexte als Beispiel dienen sollen. Die darstellende Funktion dieser in den verschiedenen Stücken mehr oder weniger konsistenten Rahmenhandlung darf in keinem Fall überbewertet werden. Der dramatische Rahmen kann zumindest teilweise den Blick auf die Autonomie der Phantastik versperren, die beispielsweise in New York. New York, entfesselt vorliegt, wo sie in der Gestalt - oder besser in der Schimäre - des »Herrn Prometheus« selbst den Rahmen, in diesem Fall das nächtliche Geschehen in einem unterirdischen Wiener Pissoir, erfaßt. Nur zum Teil werden bei Streeruwitz die Einbrüche des Phantastischen noch binnenfiktional motiviert, wenn etwa in Waikiki-Beach, Helenes Bewußtsein erinnernd und imaginierend das Bühnengeschehen der Szenen 11 bis 16 bestimmt. Grundsätzlich wird aber nicht durch surreale Elemente ein »eigentliches« dramatisches Geschehen verfremdet oder aufgebrochen, vielmehr stehen die verschiedenen Elemente (Szenen und Szenenteile) gleichwertig nebeneinander. In der Spannung und Übergängigkeit zwischen den so vereinten verschiedenen »Wirklichkeiten«, welche die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft setzen, liegt das theatrale Wirkungsprinzip dieser durchaus nicht »neuen« Dramaturgie, deren Wurzeln die Autorin selbst 246
Marlene Streeruwitz: New York. New York.. Elysian Park.: Zwei Stücke, FfM, 1993. Ocean Drive.: Ein Stück., FfM, 1991. Tolmeno.: Eine symphonische Dichtung,, FfM, 1994. Waikiki-Beach.. Shane Square.: Zwei Stücke., FfM, 1992.
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in der historischen Avantgarde sieht. 247 Dramaturgische Scharniere dieser Übergangigkeit finden sich bei Streeruwitz vor allem in nichtlinguistischen Zeichen des Theaters. Daß der sinnlichen Wirkung der theatralen Vorgänge vorrangig Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, anstatt die rahmende Fabel (den »Inhalt«) zu privilegieren, geht aus zahlreichen Äußerungen von Streeruwitz hervor. Der Inhalt, so die Autorin, sei ohnehin immer »das Leben«, »die Rettung ins befreite Besondere ist nur über die Form möglich«. 248 Eigene Regieerfahrungen bestärken sie dabei in der Überzeugung, durch Verzicht auf »sentimentale Psychologisiererei« könne man »besondere, überraschende Wirkungen erzielen«.249 Der Sinn ihrer Stücke besteht nicht losgelöst von deren Form und der daraus erzielten Wirkung in dem, was sie »erzählen«. Jede Inhaltsangabe muß Ins Leere gehen, da die Hierarchisierung der Fiktionscbencn nicht mehr möglich und auch nicht sinnvoll ist. »Wozu Handlungen nachahmen, wenn das Drama die Handlung selbst sein kann?« fragt die Autorin, und mit Hinweis auf die koproduktive schöpferische Mitarbeit der Zuschauer nennt sie das Theater den »letzten Ort der Befreiung«, an dem die Sinne spontan und gegenwärtig (und durchaus »auch ganz sinnlos«) angesprochen werden. 250 Anstatt die nie zu gewinnende Konkurrenz bei der Reproduktion von Wirklichkeit mit dem Fernsehen aufzunehmen, sollte das Theater den Mut aufbringen, »sich einfach zu einer Setzung zu bekennen«. 251 Dieses Bekenntnis zur »Setzung«, die Wirklichkeit herstellt statt sie t/arzustellen, ist natürlich auf mitschaffende Rezipienten (Theatermacher und Zuschauer) angewiesen, die sich von der Darstellungsästhetik lösen und sich auf eine Wirkungsästhetik einlassen, die mit der »Priorität der Erfahrung vor dem Verstehen«252 arbeitet. 247
248 249
250 251 252
»Das meiste, was heute im Richtigen Theater zu sehen ist, behandelt das Inhalt-Form-Problem in schlichter historisierender Dualität. Der Inhalt stellt die Form her. Der historische Inhalt eine historisierende Form, Kaum je wird ein dialektischer Prozeß zwischen Form und Inhalt in Gang gesetzt. Kein Formwille löst auf, reißt aus dem Zusammenhang in ein neues Verständnis, stellt andere Verständigung her. Die nicht einmal neu wäre. Zu Beginn dieses Jahrhunderts konnte man das schon. Und in den 60em auch. Oder?«: Marlene Streeruwitz: »Passion. Devoir, Kontingenz, Und keine Zeit.«, TH, H. 13/1992 (Jahrbuch), S. 28-31, Zitat S. 31. Streeruwitz, TH, H. i 3/1992, S. 29. Streeruwitz im Gespräch mit Michael Merschrneier: »Schrecklich. Schön.«, TH, H. 8/1993, S. 34-37, Zitat S. 36. Streeruwitz, TH, H. 13/1992, S. 31. Streeruwitz im Gespräch mit Merschrneier 1993, S. 36. Lehmann 1994,8.427. 155
Hier wird die Parallele zu postdramatischem Theater überdeutlich, denn das Herrschen ganz eigener Raum- und Zeitgesetze auf der Bühne, das Erweitern der Bewußtseins- und Erfahrungsgewohnheiten des Publikums, das Produzieren befremdlicher Bilder, die jeder Rezipient mit subjektiven Inhalten anfüllt, ist zuerst einem Theater möglich, das auf den Text, der eine Fabel erzählt, verzichtet. So führt Hans-Thies Lehmann in seinem Essay »über die Wünschbarkeit des Nichtverstehens« als Beispiele dieser neuen Wirkungsästhetik, die auf dem »Rätselcharakter von Kunst« (Adorno) basiert und im Theater als »Paradigma ästhetischer Erfahrung« verstärkt ihren Niederschlag finden muß,253 Regisseure und Choreographen wie Klaus Michael Grüber, Jan Fahre, William Forsythie, Robert Wilson und Pina Bausch an.254 Streeruwitz' Texte arbeiten nun ganz ähnlich mit den perforrnativ setzenden Möglichkeiten einer Bühne, die Wirklichkeit nicht nachahmt, sondern erfindet und die szenischen Zeichensysteme entgrenzt. Sie setzen auf die floüierende, »gleichschwebende Aufmerksamkeit« (Freud)255 des Zuschauers und auf dessen Assoziationen: »Was als Signifikanz auftaucht, muß [..,] als Spur erfaßt werden, die [...} allein als multiple Lesemöglichkeit zu erfahren ist«.256 Wie postdramatische Bühnenkünstler arbeitet Streeruwitz mit Verlangsamung und Beschleunigung der Bühnenvorgänge, mit Zitaten aus der bildenden Kunst,257 mit mechanisierten Bewegungsabläufen, 258 Wiederholung einzelner Sequenzen und der Dissoziation von Körper und Stimme. Wenn nun der Theatertext selbst auf grundlegende Prinzipien des Dramatischen verzichtet und mit ähnlichen Wirkungsprinzipien arbeitet wie das postdramatische Theater, so muß sich seine Struktur grundlegend ändern. Behält er die dramatische Form - so wie hier - äußerlich bei, so fällt auf, daß das Verhältnis von Haupt- und Nebentext sich ändert, ja fast umkehrt. 2
" Ibid. S. 426. Als einziger Autor wird, wie gesagt, Heiner Müller erwähnt. 255 Zit. in Lehmann 1994, S. 430. 256 Ibid. 257 In den Regieanweisungen zitiert sie durch eingeforderte Körperhaltungen der Figuren ikonographische Archetypen wie die Pietä (Waikiki, S. 70) und das Selbdritt-Motiv (Sloene, S. 111 und New York, S. 24), aber auch Rodins Denker (New York, S. 74). - Hier und im folgenden wird wiederum der Titel des Textes, auf den sich die Seitenangabe jeweils bezieht, abgekürzt in die Klammer aufgenommen. 258 Neben zahlreichen ständig wiederholten Vorgängen und Tätigkeiten vor allem der Strotterfiguren etwa der »choreographierte« Kampf zwischen Horvath und Chrobath (New York, S. 57) und der Barrikadenbau der Frauen, der »automatisch« geschieht (Sloane, S. 108). 254
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Die Textvorlage liefert vor allem szenisches Spielmaterial. Neben den sprachlichen Zeichen der Bühne (Mono- und Dialoge) sind in dieser Art des Theatertextes auch ihre übrigen Zeichen als wesentlich für die theatrale Bedeutungskonstitution bereits festgelegt. In ausführlichen Regieanweisungen werden vom Theatertext daher alle Bereiche des theatralischen Codes259 erfaßt. Didaskalien legen nicht nur das Erscheinungsbild der Schauspieler in Maske und Kostüm und ihre Aktionen (in Angaben zu kinesischen, mimischen, gestischen und proxemischen Zeichen) fest, sondern auch die Zeichen des Raumes, zu denen neben Bühnenraum, Dekoration und Requisiten auch das Licht gehört, und nonverbale akustische Zeichen wie Geräusche und Musik. Während bei Dramen weitgehend davon ausgegangen wird, die Regieanweisungen seien, anders als der Haupttext, nur als unverbindliche Empfehlungen zu betrachten, über die sich der Regisseur hinwegsetzen könne, tragen hier die entworfenen Bühnen Vorgänge wesentlich zur Wirkung bei. Die Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion manifestiert sich gerade in den Regieanweisungen, die daher besonderer Aufmerksamkeit bedürfen und zwar nicht, weil sie »einen eigenen erzählerischen und dramatischen Wert«260 erhalten, sondern weil sie als konsumtiver Bestandteil des Theatertextes seine impliziten Inszenierungen beschreiben und weil sich in ihnen die Autoreflexion der theatralen Signifikantenpraxis als analytische Theatralität dieser Texte manifestiert. Wie schon bei Turrinis Alpenglühen, so weist auch hier die sprachliche Formulierung der Regieanweisungen häufig auf die Schwerpunktverlagerung von der Darstellungs- zur Wirkungsästhetik hin. So erfährt man in Sloane Square von den Schwarzen Frauen nur, wie ihr Auftritt »wirkt«, nämlich »opernhaft-pathetisch« (Sioane, S, 87), so daß im Zuschauer der Wunsch geweckt wird, »Die Schwarzen Frauen blieben stehen und stimmten einen überirdisch schönen Chor an« (Sioane, S. 88), Wer sie aber sind, darüber verrät der Text nichts, weil es für die befremdliche Wirkung wesentlich ist, daß dieser szenische Signifikant leer bleibt - und somit vom Bewußtsein jedes Rezipienten angefüllt werden kann mit Bedeutungen, die aus Assoziationen, Stimmungswerten oder Erinnerungen entstehen. Da das Bühnengeschehen nicht mehr primär von den dramatischen Kategorien Figur und Handlung bestimmt wird, sondern seine Prägung durch Rhythmen, Stimmungen und Bilder erhält, muß auch eine die horizontale 259
260
Im folgenden nach Erika Fischer-Lichte: Das System der theatralischen Zeichen (Semiotik des Theaters; Bd. 1), Tübingen, 21988 [1983], Michael Merschmeier: »Wiener. Blut.«, TH, H. 6/1990, S, 36f, Zitat S. 37.
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Perspektive privilegierende Interpretation Platz machen für eine vertikale Perspektive der Analyse. Dies scheint umso angebrachter, als die Figuren Brüche und Wandlungen erfahren, die jenseits jeder psychologischen Begründbarkeit liegen. Mal schreiten sie problemlos von einer Fiktionsebene in die andere, mal frieren ihre Handlungen ein; sie altern innerhalb von Minuten um Jahre, wechseln Sprache und Sprachstil, schwatzen vertraut mit Wildfremden, die sie anschließend wieder völlig ignorieren, und so fort. In New York, New York, stellt die Horvath als »die einzige Person, die eine eindeutige Identität durchhält« (Personenverzeichnis, New York, S. 8), eine Ausnahme dar. Außerdem gehört es mit zum Gestaltungsprinzip, daß immer wieder befremdliche Gestalten auftauchen - meist als Chor oder stumme Gruppe -, deren Zusammenhang mit der Situation binnenfiktional nicht einmal mehr oberflächlich zu klären ist. In Elysian Park, erfindet Streeruwitz mit dem »Papageiensucher«, der in regelmäßigen Abständen die Bühne überquert, sogar eine eigene Figur, die ausdrücklich in »keinem dramatischen Zusammenhang« mit der Handlung steht - ebensowenig wie Licht, Projektion und Geräusche: All diese Elemente »laufen jeweils ausschließlich an sich selbst orientiert ab« (Elysian, S. 890- Schließlich verbietet der Verlust eines unmittelbaren Zusammenhangs von Rede und Figur die traditionelle horizontale Perspektive. Schon die unverkennbar durch Punkte zerhackte, verknappte Sprache mit dem unverbundenen Nebeneinander der einzelnen Worte und Satzfetzen spiegelt das Gestaltungsprinzip der Desartikulation, das auch auf der Ebene der Szenen dominiert: Sprachliche (symbolische) wie szenische (ikonische) Repräsentation werden unterlaufen, indem mit dem syntagmatischen Zusammenhang der Signifikanten auch ihre Lesbarkeit als Zeichen gestört wird. Die Figuren sprechen nicht nur eine in sich zerhackte Sprache, sie geben auch fremde Rede wieder, sprechen playback oder live Texte aus dem abendländischen Kulturfundus (von Shakespeare, Goethe, Gryphius und Rilke bis hin zu Opemarien und Spielfilmrepliken) und nehmen mit Rollen (etwa als Quizmaster, Arzt oder Psychoanalytikerin) auch deren Diskurse an. Der Sinn solcher Repliken liegt nicht in ihrem Beitrag zu »horizontalem«, binnenfiktionalem HandlungsZusammenhang oder Figurenzeichnung, sondern in ihrem »vertikalen« Ausdruckswert, ihrer spezifischen Qualität innerhalb eines Signifikantenzusammenhangs, im Kontrast mit den sie unmittelbar umgebenden Szenen. Häufig gekoppelt an Musik, Licht und Bewegung im Raum, verliert die Sprache der Zitate, ähnlich wie objets trouves in der bildenden Kunst, durch die Verwendung in neuem ästhetischem Zusammenhang ihre ursprüngliche Bestimmung (Bedeutung), an die 158
sie allerdings noch vage erinnert. Abgesehen von dem rein parodistischen Effekt (beabsichtigt etwa bei der zitierenden Verfremdung von Shakespeares »männlich besetzten Sptetmustern«) 261 drückt diese Umcodierung auch ein »antiautoritäres Schreiben gegen einen bestimmten ästhetischen Zugriff auf die Welt«262 aus, ist Dekonstruktion dramatisch-repräsentationaler Theatraiität, die Streeruwitz selbst auf die Kurzformel bringt: »Auf Inhalt Beschränktes wird dialogisch dargestellt«. 261 Dieses Prinzip wird auch von ihr als unglcJchzcitig mit einer Welterfahrung abgelehnt, die mit der Gleichzeitigkeit des Diachronen und Ungleichwertigen konfrontiert ist, mit der Entwirklichung der Realität und der Auflösung des Individuums, das nur noch »Rollenemanationen und Zeiträume, aber .sicherlich keine Biographien« mehr erlebt.264 Ästhetische Bewältigung dieser Welterfahrung sind letztlich ihre Texte, die natürlich jeweils einen gewissen thematischen Schwerpunkt haben: die alltägliche Gewalt und unsere Abstumpfung gegen sie, die Brutalität des Geschlechterkampfes, die Oberflächlichkeit menschlicher Beziehungen, unter welcher verborgene Abgründe liegen, der Umgang mit Fremden und Kranken oder das Weiterleben faschistoider Tendenzen. Dahinter aber, und das schlägt sich in der Form der Stücke nieder, geht es um das, was unseren Umgang mit all diesen Bereichen heute ausmacht, um die Unmöglichkeit, im Wirrwarr aus Fakten, Informationen, Erinnerungen, Assoziationen und vorgefertigten Klischees noch etwas wie Wirklichkeit zu erkennen und darauf zu reagieren, um den Verlust unmittelbarer Erfahrung durch mediale Vermittlung. Genau das macht die Wirkung auf den Rezipienten aus: »eine irritierende Unscharfe, eine chaotische Gleichzeitigkeit, wie sie bereits in uns selbst, in unserem von Außenreizen und Erinnerungen zugeschütteten Bewußtsein vorgegeben ist«,-65 genau das klingt aber auch binnenfiktional immer wieder thematisch an. Ob japanische oder deutsche Touristen: Die Wirklichkeit wird nurrnehr durch die Linse eines Foto- oder Videoapparates erfahren. Ob in »Wildwest-Männcr-Tragik« (Waikiki, S. 74) oder als »KingKong« (New York, S. 26): Männliche Rollen sind medial vordefiniert, 261
262
26i 204 265
Marlene Streeruwitz, zit. in: Lothar Los: »Es ist genug Unglück für alle da«, Bühne, H. 6/1992, S. 72-74, Zitat S. 73. Diese Formulierung, die Streeruwitz auf ihre Lyrik und Prosa bezieht (zitiert: ibid.), gilt sicherlich für ihre Theatertexte ebenso. Streeruwitz, TH, H. 13/1992, S. 29. Ibid. Siegfried Kienzle: »Die Austro-Berserker«, DDB, H. 9/1992, S. 12-15, Zitat S. 15.
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ebenso Paarbeziehungen. Selbstverlust, meist formuliert von Frauenfiguren,266 kommt ebenso zur Sprache wie Unzuverlässigkeit und Verlust der Wahmehmungssinne,- 67 die Strotterfiguren und Chöre spiegeln als Beobachter und Kommentatoren auf der Bühne die Zuschauer im Saal, und schließlich findet sich ja in Waikikt-Beach, eine ganze Szene (die fünfte), die selbstreflexiv und -parodistisch in den kunsttheoretischen Betrachtungen der »Drei Dicken Frauen« das Verschwimmen der Grenzen zwischen reprasentationaler Kunst und Realität thematisiert. Daß die Verfahren seiner wiederholenden (re-präsentierenden) Abbildung und Betrachtung bedeutsamer sind als das Dargestellte selbst, belegt eine Passage aus Streeruwitz' Originalbeitrag für das Programmheft der Münchner Uraufführung von New York. New York.: 30 Jahre später beschränkt man sich nicht damit [sie!], das erledigte Opfer abzubilden. Es wird schon währenddessen dokumentiert. Der Film ermöglicht Abläufe festzuhalten. [.,.] Da ist den Opfern endgültig ein Denkmal gesetzt. Zu ihrer ewigen Folterung. Und jedes Ansehen wiederholt den Vorgang. Der Adler fliegt ein und wühlt in der Leber. Prometheus im Medienzeitalter. Objekt den Peinigern und als Gepeinigter Objekt des Zuschauens. Der ultimate Mißbrauch ist endgültig gelungen. Die Verwesung als Medienereignis. Eins von allen. Und weil es wirklich ist, so akzeptabel. Weil die wirklichen Leichen im TV so unwirksam sind, bestätigen wieder die Bilder die Macht der Täter,268
Die Oberfläche dieser Theatertexte ist hyperrealistisch und, ebenso wie die Stücktitel und der meist realistisch-konventionelle Einstieg, eine Falle - wie Roths »Trick« des Realismus. Die Chance des Theaters besteht darin, Realität in den Köpfen der Zuschauer - und mit ihrer Hilfe - herzustellen, nicht darzustellen und dadurch wirksam zu machen. Eine »Stückhandlung« entsteht nur noch hier, im Kopf des Zuschauers, der die disparaten Partikel und Splitter zu einem schillernden (Vexier-)Bild zusammensetzt, das sich im Verlauf der Rezeption ständig verändert. In den Theatertexten der Streeruwitz verbergen sich viele verschiedene »Bilder«, die untereinander in Wechselwirkung stehen. Jeder Reztpient wird dabei völlig andere Bilder entwik266 Beispielsweise von Helene (Watkiki, S. 14) und Frau Marenzi (Shane, S. 101), aber auch von Chrobath (New York, S. 58). 267 yg] jn ftew ^ jje Figur des Taubstummen und die Blendung Professor Chrobaths, in Waikiki den Chor blinder alter Männer, in Ocean die Blendung Percevals u.a. 268 Marlene Streeruwitz: »Während der Verwesung. Über den postfaschistischen Prometheus.«, Werkraum Heft l / 82. Spielzeit (1992/93), hg. v. Münchner Kammerspiele [- Programmheft zur Uraufführung der Münchner Kamrnerspiele/Werkraum, 30.1.1993}.
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kein, abhängig auch davon, wie gut er mit dem zitierten abendländischen Kulturgut und -schrott vertraut ist, welche Vorgänge der Bedeutungskonstitution also in seinem Bewußtsein durch Zitat und Anspielung ausgelöst werden. »Wer die Anspielungen finden will und versteht, hat seinen Metaspaß. Wer nicht, schaut einfach dem Spiel zu«,169 In der Möglichkeit, selbst Bedeutung zu (ko-)produzieren, Hegt die Freiheit des Theaters, das Streeruwitz als »Stätte des Kunstwerks« 270 proklamiert - und die grundlegende Eigenschaft des Kunstwerkes ist, so Eco, seine Offenheit. Marlene Streeruwitz, die gegen die Tatbestände von Kitsch und Lüge, die sie im traditionellen Drama zumeist erfüllt sieht, 271 mit ihrer Dramaturgie einen Weg findet, schonungslos »der Synchroneität entfremdeter Konstellationen Ausdruck zu verleihen«, 272 vermittelt durch den Inhalt ihrer Stücke Beunruhigung, Hoffnungslosigkeit, ja Abscheu. Ihr Blick auf die Welt ist schonungslos, kalt und oft zynisch. Das utopische Moment, das sie proklamiert, wenn sie das Theater als »letzten Ort der Befreiung« 271 bezeichnet, liegt nicht auf der binnenfiktionalen Ebene, sondern in der Nutzung der externen theatralen Kommunikation, im Entwurf einer Theatralität, die Repräsentation zugleich nutzt und analysiert. Gegen die alltägliche Gewöhnung an Gewalt und Unmenschlichkeit durch ihre Repräsentation in den Medien stellt sie mit New York. New York, einen Theatertext, der unterschiedliche Formen von Gewalt auf die Bühne bringt. Obwohl Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion und Fiktionsdurchbrechungen keine Illusion im üblichen Sinne aufkommen lassen, bewirkt die Nutzung der dramatischen Form im Theater, dem Medium der Gegenwärtigkeit, dennoch eine bis ins Unerträgliche schmerzhafte Nähe des Publikums zur dargestellten Gewalt, Bei der Münchner Uraufführung sah man sich veranlaßt, dem Programmheft einen Zettel beizulegen, auf dem man einräumt, daß es »kein Vergnügen ist, diese Szenen anzuschauen«, und begründet, warum die Gewalt dennoch »aufs Theater gehört«. Das Theater als Ort der unvermittelten Präsenz wird von Streeruwitz aber nicht nur zum schockierenden Aufrütteln (durch Präsenz der Gewalt) genutzt, sondern zugleich für spielerisch-phantastische, assoziative und, in immer neuen Überraschungen, durchaus vergnügliche Verfahren der Bedeutungskonstitution, welche die theatertypische Oszillation zwischen 269
Michael Merschmeier, TH, H. 6/1990, S, 37. Streeruwitz im Gespräch mit Merschmeier, TH, H. 8/1993, S. 34, 271 Streeruwitz, TH, H. 13/1992, S. 29. 272 Ibid. S. 31. *» Ibid. 270
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Zeichen- und Materialcharakter der szenischen Signifikanten nutzen. Dadurch kritisiert sie nicht nur die medial vermittelten, technisierten kognitiven Prozesse, sondern eröffnet alternativ dazu andere, anarchische, kreative Wege der Rezeption, die gegen »Emphaseverbote« und »Ekstaseverbote«274 die Lust der gegenwärtigen Koproduktion und die Erfahrung der materiellen Qualitäten des Wahrgenommenen setzt. Die Utopie liegt hier in der Möglichkeit einer anderen Wahrnehmung, die zugleich Zweck und Mittel des Theaters ist. Das utopische Moment des autonomisierten Bühnengeschehens kann auch deutlicher hervortreten und sich zusätzlich als konkrete Utopie im Inhalt niederschlagen. Oft als »weibliches Schreiben« bezeichnet, dient dieses Verfahren (etwa bei Wysockis Der Erdbebenforscher} nicht selten zur Kritik am herrschenden Diskurs unserer rationalistischen Zivilisation und setzt dagegen, wie bei Roth, eine »synthetische Wirklichkeit«, 275 in der kausallogische Gesetze und die Linearität von Raum und Zeit durch eine Logik des Unbewußten und des Traums durchbrochen oder außer Kraft gesetzt werden. Oft bleibt dabei die Oberfläche realistisch, wird gerade »mit Elementen der Wirklichkeit die Logik der Wirklichkeit durchbrochen«,- 76 um eine Kunstwirklichkeit zu erzeugen. Wer, anstatt die »reale« Lebenswelt nur zu repräsentieren, darunter oder daneben andere »irreale« Welten erfahrbar macht, verweist auf das Heterogene, auf »ungedeutete und ungelebte Phantasien«, 277 auf »Gegenenlwürfe«, 278 auf die prinzipielle Möglichkeit des anderen - und damit zugleich auch auf ein Erncuerungspotential für die Veränderung der bestehenden Verhältnisse, Dies ist aber sowohl eine Weiterführung surrealer und absurder Ansätze (im Sinne von Bewußt sei nstheater) als auch eine Radikalisierung des epischen Theaters, dessen Ziel es ja war, die Veränderbarkeit der Welt deutlich zu machen - mit Heiner Müller gesprochen: Die wichtige politische Funktion des Theaters liegt heute in einer 274 275
Ibid.
Dieter Kafitzi »Bilder der Trostlosigkeit und Zeichen des Mangels«, Floeck (Hg.): Tendenzen des Gegenwartstheaters, Tübingen, 1988, S. 357—176, Zitat S. 169. 276 Reichet 1989a,S.207. -77 Eine Formulierung Gisela von Wysockis aus der Vorbemerkung zu Die Fröste der Freiheit: Aufbruchphantasien, FfM, 2 1981 [1980], S, 7. 278 Ygj e j n e Äußerung Gerlind Reinshagens: »Ich möchte dieses pragmatisch ausgerichtete Leben nicht noch einmal auf der Bühne wiederholen. Aus einem politischen und soziologischen Verständnis heraus will ich zwar die Realität unseres Lebens darstellen, aber gleichzeitig den Gegenentwurf. Das muß möglich sein auf dem Theater.« Roeder (Hg.) 1989, S. 34. 162
Infragestellung der Wirklichkeit durch Herstellung einer »anderen Wirklichkeit, die Theater gegen den Zwang oder die Forderung nach Abbildung, nach bloßer Reproduktion von Realität behaupten muß«,279 Untersuchungen zur Dramaturgie von Autorinnen haben in jüngster Zeit den Blick darauf gelenkt, daß gerade Frauen, indem sie »Wirklichkeit anders erfahren und reflektieren«,280 das Theater mit neuen, experimentellen Texten konfrontieren. Das selbstbewußte Bekenntnis vieler weiblicher Autorinnen zum anderen Denken und zum »anderen Blick«281 sowie die Anerkennung der Tatsache, daß neue Theaterästhetiken als »Herausforderungen an das Theater«282 heute oft von Frauen entworfen werden, sollten nicht die Sicht darauf versperren, daß durchaus auch männliche Autoren mit diesen Mitteln arbeiten. Die Paradigmen des »Männlichen« und »Weiblichen« werden heute in der feministischen Theorie weitgehend zur Bezeichnung unterschiedlicher Arten des Zugriffs auf die Welt bezeichnet, ohne notwendigerweise auf das biologische Geschlecht bezogen zu sein. Dies sollen die folgenden Betrachtungen zeigen, die nach Gisela von Wysockis Der Erdbebenforscher auch Wolfgang Maria Bauers In den Augen eines Fremden2^ zum Thema haben. Mit Matthias Zschokke wird abschließend ein weiterer Autor behandelt, der in seinen Theatertexten PhantasieweUen gegen die übliche Erklärungssucht klassischer Logik entwirft und dabei auch die sinnliche Qualität des theatralen Moments betont.
Gisela von Wysocki: Der Erdbebenforscher Gisela von Wysocki, die bereits 1987 mit Abendlandleben oder Apollinaires Gedächtnis; einen Theatertext veröffentlichte, der »sicherlich [...] in die Reihe der Dekonstruktionen der dramatischen Struktur«284 gehört, und 1988 auf die dramatische Form in Schauspieler Tänzer Sängerin ganz verzich279
Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2, FfM, 1990, S. 47. 280 yrsu[a Ahrens: »Vorwort«, Dramaturgische Gesellschaft (Hg.): Frauen im Theater (FiT) Dokumentation 1986/87: Autorinnen, Redaktion: Ursula Ahrens, Barbara Scheel u. Anne Schöfer, Berlin, 1988, S. 5. 281 Vgl. Roeder (Hg.) 1989, bes. S. 7-26: »Der andere Blick«. 2g2 So im Titel bei Roeder (Hg.) 1989. 2 « Theater Theater: Aktuelle Stücke 3, FfM, 1993, S. 51-90. 284 Ulrike Haß: »Reisen durch den Text. Das Spiel: Essay zu den Theatertexten von Gisela von Wysocki«, Zentrum Bundesrepublik Deutschland des ITI (Hg.): Die Sprachen des Theaters und die Frauen, Dokumentation des Internationalen Symposiums in Berlin, 26-30. Juni 1991, Redaktion Barbara Scheel, Berlin, 1992, S. 92-105, Zitat S. 94. 163
tete, nutzt in ihren späteren Texten, von denen hier Der Erdbebenforscher interessieren soll, die dramatische Form wieder. Narration und Figuration werden jedoch nicht primär dazu funktionalisiert, Figuren und ihre Geschichten darzustellen. Ähnlich wie schon in Abendlandleben bildet die Bühne auch in Der Erdbebenforscher nicht ein dramatisches Geschehen ab, sondern versucht, den Tiefenschichten menschlichen Bewußtseins nachzuspüren. Dabei unternimmt Wysocki nicht so sehr die suggestive Repräsentation einer Traumwelt als vielmehr die durchschaubare Produktion bzw. Konstruktion befremdlicher Momente und Abläufe auf der Bühne, die sie durch eine Kombination konsequenter Nutzung der Eigengesetzlichkeit der Stückfiku'on mit distanzierend autoreflexiven Verfahren erzielt: Weit davon entfernt, den Traum als »stream of sub/consciousness« realistisch abzubilden, das träumende Ich in einem inneren Monolog zum Sprechen zu bringen, macht Gisela von Wysocki ihre Figuren auch hier kenntlich als das, was sie sind: Konstrukte. 285
Ist es in Abendlandleben »Apollinaires Gedächtnis«, das stellvertretend für die typisch männlichen Denk- und Erfahrungsmuster (»Spiele«) unserer Zivilisation seziert wird, so geht es in Der Erdbebenforscher um die verschütteten Schichten in der Psyche der modernen Erfolgsfrau, die unter ihrer oberflächlichen Erscheinung als »weibliches Präzisionswerk« (S. 249) irrt Unterbewußtsein stets präsent sind und schon beim geringsten Anlaß hervorbrechen können. Sowohl inhaltlich als auch formal geht es Wysocki hier wieder um den Entwurf einer anderen (auch Selbst-) Wahrnehmung, eben darum, »zu sehen, wie die Dinge wirklich sind und sich nicht weiter von den Illusionen der Augenwelt bewegen zu lassen«.-86 Insofern hat die in diesem Theatertext hergestellte Eigen Wirklichkeit utopischen Charakter: Das Ausbrechen des Dramas aus linearer Zeit, logischer Verknüpfung, streng unterscheidbaren Fiktionsebenen, überhaupt aus jeder Eindimensionalitä't, spiegelt das Einbrechen des beunruhigenden Unterbewußten, der echten und ungestümen Gefühle, die dem »rabaukenhaften Naturkind« (so die Mutter, S. 262) schon frühzeitig ausgetrieben wurden, in die glatte, kalte, saubere und oberflächliche Wohnzimmerwelt der »guterzogenen Person« (S. 262) Michaela Sesselmann. Man findet zwar in Der Erdbebenforscher, wesentlich deutlicher als in Wysockis oben erwähnten Theatertcxten, Spuren einer Geschichte von in285 Ursula Keiler: »Ein Spiel, ein Toben, eine Turbulenz (Originalbeitrag), Spectacuium 57, FfM, 1994, S. 286f. 286 Wysocki in Roeder (Hg.) 1989, S. 137. 164
der
Kräfte*
dividuellen Figuren (Besuch der Freundin Hannelore Seligenfeld, die beim morgendlichen Verlassen der Wohnung durch eine Verkettung unglücklicher Zustände eine Gasexplosion auslöst, in welcher Michaela Sesselmann umkommt) und der Vorgeschichte (Erinnerungen der alten Frau Sesselmann an Michaelas Kindheit, Michaelas Berichte von Urlaubserlebnissen), doch liegt auch hier der Sinn des Theatertextes nicht so sehr im Dargestellten als vielmehr in Form und Strategien der Präsentation. Der Zuschauer wird erst nach und nach in die Lage versetzt, sich diese Handlung, die nicht linear erzählt wird, zusammenzureimen. Zunächst ist das Geschehen für ihn ähnlich wie für die Träumende - befremdlich und rätselhaft, und manche Elemente bleiben es bis zum Schluß. An die Stelle der Repräsentation tritt wieder die Produktion von Wirklichkeiten. Im »virtuellen Raum« 287 des Traumes der Michaela Sesselmann, den das Theater konstruiert, werden die Zuschauer Zeugen (und Koproduzenten) von Bewußtseinsschichten, die in einer multiperspektivischen Dramaturgie von zwei Seiten, vom Vorher und vom Nachher, auf den Moment der Explosion zulaufen. Dabei schafft die Bühne als geträumte Bewußtseinslandschaft die Simultaneität des Ungleichzeitigen und stellt das Wohnzimmer der Michaela Sesselmann sowohl vor als auch nach der Explosion dar. Immer wieder unterbrechen (so die Regieanweisungen) plötzliche Blackouts den Fluß des Geschehens. Diese Dramaturgie der vielfach gebrochenen Perspektiven, die einen »mehrstimmigen mentalen Raum« 288 herstellt, weist Ähnlichkeiten mit Verfahren der Kubisten in der bildenden Kunst auf289 und dekonstruiert herkömmliche Vorstellungen von rationaler Erfaßbarkeit der Vorgänge und vom Menschen als geschlossener Persönlichkeit. Nicht nur die Figuren erscheinen dabei als Konstruktion, sondern auch die »Handlung«. Wie im Traum tauchen die Figuren unvermittelt auf und nehmen einen Platz im Geflecht der Beziehungen ein, das ein Unterbewußtsein konstituiert. Michaela Sesselmann sträubt sich besonders am Anfang gegen die aufdringlichen Besucher und versucht, die Gestalten ihres Traumes, die sie als »Ableger [ihres] Traumlebens« {S. 252), »Traurnwesen« (S. 253) und »Phantasieproduktfe]« (S. 260) bezeichnet, auf ihren Platz zu verweisen. Obwohl innerhalb der Traumebene ständig Funktion und Status dieser Gestalten bewußt reflektiert werden, läßt die Protagonistin sich un287
Haß 1992,5. 104. Ursula Keller 1994, S. 287. 289 Von einer »kubistischen Relation, die zwischen uns, dem Rahmen, den Figuren und den Objekten verläuft« spricht Ulrike Haß (1992, S. 105) in bezug auf Abendlandleben. 288
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willkürlich auf Gespräche mit ihnen ein, kann sich ihrem Traum nicht wirklich entziehen, oszilliert somit - dem Theaterzuschauer vergleichbar - zwischen unterschiedlichen Ebenen der »Realität«. Zwar verlangt sie unter Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit, aufwachen zu dürfen, und fordert »die Einhaltung gewisser Regeln allgemeiner Prinzipien des Unterbewußtseins« (S, 265), doch Logik, Wille und Verstand sind ohnmächtig gegenüber den eigenen Gesetzen des Unterbewußten, das, zu lange verschüttet, sich ihrer jetzt bemächtigt. Dramaturgische Scharniere verbinden das Geschehen an der Oberfläche mit den Bewegungen im Unterbewußtsein, ähnlich wie reale Einwirkungen auf einen Schlafenden (etwa Geräusche, Temperaturschwankungen, Gerüche etc.) sich im Traum - in umgewandelter Form - niederschlagen können. So findet sich das Klingeln, das die dritte Szene einleitet, als Auslöser der Explosion erwähnt (S. 262). Vor allem aber verknüpft das Motiv des Erdbebens die verschiedenen Bereiche, so daß im Erdbebenforscher, der einzigen Traumfigur, die nicht aus Michaela Sesselmanns Lebenswelt stammt, geradezu eine Scharnierfigur gesehen werden kann. Nicht zufällig vergleicht die alte Frau Sesselmann Michaelas Erziehung mit der »Stillegung eines Vulkans« (S. 266), bezeichnet Michaela selbst die übliche Erscheinungsform ihres Unterbewußten als »unterirdisches Gemurmel« (S. 253). Ebenso wie die Explosion durch das unsichtbar ausströmende Gas verursacht wird, sind die Auslöser für Michaelas Unruhe im Kopf (S. 265), das Erdbeben »auf der rein geistigen Ebene« (S. 258), nicht wahrnehmbar, medizinisch nicht lokalisierbar: Der Arzt untersucht erfolglos ihren Körper, Sie entstehen jedoch offensichtlich aus der Konfrontation mit sonst vermiedenen, unvermittelt und unverfälscht physischen, sinnlichen, natürlichen Formen des Lebens. Wo ständiges Tätigsein dazu dient, sich dem Unterbewußtsein zu entziehen, kann ein Innehalten, »ein Augenblick unvorstellbarer Stille«, zur Katastrophe werden - wie am Ende des Stücks, Obwohl Wysocki wesentlich stärker mit der (hier dialogischen) Sprache arbeitet als daß sie ikonische Zeichen des Theaters in Rechnung stellt, fällt doch wieder die Bedeutung der Regieanweisungen und damit der szenischen Komponente auf. Die meisten in den Didaskalien beschriebenen Vorgänge (seismographische und medizinische Untersuchungen, Frühstück und Toilette, Telephonat und Wohnungsputz...) bilden im Zusammenhang mit den Repliken kein kausallogisch erklärbares Geschehen, keine dramatische Sprechsituation ab, sondern konstituieren eher eine zusätzliche, vom Gespräch der Figuren teilweise unabhängige (ja ihm an manchen Stellen diametral entgegengesetzte) Ebene der impliziten Inszenierungen. Das pausen166
lose geschäftige Tun der Michaela Sesselmann trägt wesentlich zur Konstitution der befremdlichen Traumlandschaft auf der Bühne bei, ebenso wie das Ordnen und Schichten von Papieren durch Dr. Schaffner »nach einem nur für ihn begreiflichen System« (S. 257), sein sorgfältiges Zerlegen und neues Anordnen der Bücher (S. 261, S. 264), das mehrfach auftretende Knistern des Windes und die bereits erwähnten plötzlichen Dunkelheiten. Wysocki verweist explizit darauf, daß es sich bei Michaela Sesselmanns Aktionen um regelmäßig wiederkehrende Automatismen handelt (»Jeden Tag [...]«, S. 251) und hebt sie schon rein sprachlich über eine konkrete Beschreibung anekdotischen, an eine einmalige Situation gebundenen Handelns hinaus, indem sie etwa für diese Regieanweisungen unpersönliche Passivkonstruktionen oder die Form des »man« benutzt. Diese sprachliche Form wirft wieder die Frage nach der Umsetzbarke i t solcher Di das kauen auf, auf die im vierten Kapitel zurückzukommen sein wird - für die Uraufführung entschloß man sich dazu, sie im Programmheft abzudrucken: »Wir wollen sie nicht ganz unterschlagen, dazu sind sie zu schön«.290 Durch die Desartikulation von Repliken und Sprechsituation ermöglicht das Theater auch hier ein der Traumlogik angenähertes Erleben und erzeugt Eindrücke, die als Repräsentation von Welt nicht restlos erklärbar sind. Binnenfiktional dokumentiert Hannelore Seligenfelds Spurensuche mit dem Fotoapparat auf den Trümmern den Versuch repräsentationalen Zugriffs auf das nicht Repräse n tierbare. Die Bühne schreibt dabei keineswegs nur in der »Wohnzimmerwelt« ihre eigenen Gesetze. Auch die »Trümmerfeld-Frauen«, obwohl sie nicht, wie die »Wohnzimmer-Personen«, unmittelbar dem Hirn der Träumenden entsprungen zu sein scheinen, sind weniger Figuren am Schauplatz des Geschehens als vielmehr Verkörperungen von Bewußtseinsströmen. Ihr Redefluß folgt assoziativen Verknüpfungen und plätschert (bis auf eine Ausnahme, als Hannelore Seligenfeld die Mutter aus dem Bild weist) ohne Ansprechpartner monologisch dahin. Die Synchronie der beiden Welten, die gleichermaßen von der durch Geräusche und Licht erzeugten traumhaften Atmosphäre erfaßt werden, entwirklicht das gesamte Bühnengeschehen, Wie bei »Apollinaires Gedächtnis« handelt es sich bei Michaela Sesselmanns Traumwelt um einen »Schauplatz, der die Optik ver-setzt, neu ein-
290 Martina Aschmies (Red,): Btrgitta Linde Inszenierung: »Der Erdbebenforscher« von Gisela von Wysocki, Programmheft zur Uraufführung, FfM, Künstlerhaus Mousonturm, 6.7.1993, S. 3. 167
stellt. Was man sieht, ist durch sein Medium gegangen, durch den Kopf eines Archetypus. 29l Wolfgang Maria Bauer: In den Augen eines fremden Wolf gang Maria Bauers In den Augen eines Fremden spielt in einem »vergessenen Badeort am Meer«, »von Sonnenuntergang bis Tagesanbruch« (S. 52). Klingt im Titel schon das Thema der Wahrnehmung - des fremden Blicks - an, so weisen Orts- und Zeitangabe auf Erinnern und Vergessen, Nacht und Traum hin. Bauer, selbst Schauspieler, schreibt neun Dialoge, zwei Monologe und eine stumme Szene, die durch den Ort, durch die sechs auftretenden Figuren und durch verschiedene wiederkehrende Motive miteinander vernetzt werden, ohne daß eine nacherzählbare Geschichte entstünde. Die Figuren tauchen plötzlich und unvermittelt aus dem Nichts auf und verschwinden ins Nichts; manches Mal bleibt der Angesprochene in der Dunkelheit verborgen, so daß nicht klar wird, ob er nicht nur der Einbildung des Sprechenden entsprungen ist. Der Geheimnisvollste unter den sechs Protagonisten ist sicherlich Pinon, an dessen Identität auch die anderen Figuren zweifeln, obwohl - oder gerade weil - seine Geschichte am ausführlichsten in den Dialogen besprochen wird. Doch scheinen auch die Geschichten der übrigen Personen nicht festzustehen. Die Figuren sind vielmehr selbst auf der Suche danach, wie es Sebastian formuliert: Ich erzähle dir alle Geschichten, die ich kenne, und dafür sagst du mir, welche die meine ist. [...] Ich glaube nämlich, daß die Geschichte, die ich habe, - sie kann nicht die meine sein. {...] Aber welche ist die eigentliche? Du sollst es erraten. (S. 77)
Sebastian spricht in diesem Moment mit einem nur vorgestellten Partner, so daß sich in der impliziten Aufführungssituation der Zuschauer selbst (zumindest auch) als Adressat der Rede fühlt. Dieser Effekt wird in Veras Monolog der zweiten Szene noch verstärkt, wenn sie äußert, sie fühle sich von dem Unbekannten, zu dem sie spricht, beobachtet; Was Sie da tun, gehört sich nicht! Sie setzen sich in die Dunkelheit und - starren! {,..] Und sagen Sie nicht, ich sei Ihnen noch zu fremd, schließlich betrachten Sie mich schon eine ganze Weile, Sie sind jeder meiner Bewegungen gefolgt. Ich habe Ihre Blicke auf meinem Kleid gespürt. Tastend, wie Hände, Na, Sie werden schon wissen, was Sie mit Ihren Augen machen. (S. 58f)
291
Gisela von Wysocki: »Transparenz statt Opulenz«, TH, H. 13/1987, S. 64.
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»In den Augen eines Fremden«, also auch in denen des Theaterzuschauers, bleiben die Figuren widersprüchlich und rätselhaft - und das müssen sie auch, da die Vorstellung vom Individuum zugunsten der Einsicht in die Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit der Persönlichkeit (welche in letzter Konsequenz sogar sich selbst zürn Rätsel wird) korrigiert werden muß. Diese Position verweist auf Pirandello, den Bauer (neben Handke und Koltes) als Vorbild nennt 292 und dessen Sechs Personen suchen einen Autor unverkennbar im Hintergrund seines Theatertextes steht. Auch hier sind sechs Personen auf der Suche nach ihrer/nach einer Geschichte, die sich ihnen und dem Zuschauer jedesmal nur einen (dunklen) Spalt weit öffnet, doch das Geheimnis (der Figuren, der vielen möglichen Vorgeschichten) nie ganz preisgibt, 29 - 1
Einige Regieanweisungen weisen ausdrücklich darauf hin, daß die Zuschauer im unklaren bleiben sollen (darüber, wer schuld an Pinons Sturz von den Klippen ist: S. 88) und daß ihre Erwartungen enttäuscht werden (wenn sie am Schluß vergeblich auf Sebastians neuerlichen Auftritt warten: S. 90). Eine stimmige und lückenlose Geschichte werden sie sich nicht zusammensetzen können. Als Spiel von der Unmöglichkeit, sich selbst und anderen über die jeweilige Biographie (»Geschichte«) näherzukommen, insistiert dieser Theatertext vielmehr auf dem Wen des gegenwärtigen Augenblicks und auf einem Wahrnehmungsmodus, der das offensichtlich ungenügende Symbolische mit Imaginärem konfrontiert und beides über die Repräsentation hinaus entgrenzt. Die im Text entworfenen szenischen Bilder schaffen Atmosphäre, viele Motive werden angespielt, ohne zur Durchführung zu gelangen; Stimmungen, Assoziationen, Poesie und Rhythmus der Szenenfolge sind wichtig, »das übliche Wie und Warum« bleibt »dabei ganz gleichgültig«. 294 Der Sinn dieses Theatertextes liegt in der Suche, nicht im Fündigwerden, im Erleben, nicht im Erkennen. Es geht nicht ums Entschlüsseln und Verstehen, sondern um die Anregung der Zuschauerphantasie, die den Spuren folgen und sich ihr eigenes Bild machen soll - so wie Vera, die sich wiederholt berichtende Informationen mit dem Hinweis auf ihre eigene Vorstellungskraft verbittet. Wieder wird Theater »als Paradigma ästhetischer Erfahrung« genutzt, ist »die Relativität des Verstehens, die Priorität der Erfahrung vor dem Verstehen offenkundig«. 295 292
293 294 295
Peter von Becker: »Die Unvernünftigen sterben nicht aus«, TH, H. 5/1993, S.30-35. Ibid., S. 34. Ibid. Lehmann 1994, S. 427.
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Bauers Art, die Zuschauer und ihre Rezeptions Vorgänge zu verunsichern, die märchenhaft-abgründige Traumlogik, die das Stück beherrscht, ist wesentlich weniger offensiv als die Strategien der bisher betrachteten Beispiele. Die äußere dramatische Form, die durch begrenztes Personal, Beschränkung des Zeitrahmens auf eine Nacht und die annähernde Konzentration auf einen Ort zusätzlich als geschlossene erscheint, kaschiert dabei nur Brüche und Abgründe, die unter einer Oberfläche verlaufen, welche die Figuren so vollkommen »plastisch und präsent« erscheinen läßt, daß die Kritik wiederum von einem »Trick« spricht.:% Das Funktionieren dramatischer Repräsentation wird vorgetäuscht, die scheinbar dargestellte Fiktion aber entzieht sich dem beobachtenden Bewußtsein immer wieder. Damit dekonstruiert der Text die nur oberflächlich genutzte konventionelle Theatralität und arbeitet wesentlich mit der Reflexion (Analyse) des Theatralischen, die produktiv genutzt werden will. Wenn Peter von Becker sich für Bauers Stück als Regisseur Klaus Michael Grüber wünscht, 297 liegt der Grund dafür vielleicht darin, daß dieser (laut Lehmann) wie kein anderer die Kunst des Nichtverstehens im Umgang mit Texten beherrscht: Im Theater Grübers [wird] der inszenierte Text am Ende rätselhafter sein als zuvor. Hier ist es nicht darum zu tun, den Text auszubuchstabieren, seine Bedeutung zu verstehen, sondern seinen Resonanzraum zu erkunden [...].298
Eine Inszenierung aber, die versucht, »die >Löcher< im Stück [...] zu füllen«, 299 wird dem Text nicht gerecht - die Uraufführungsinszenierung in der Regie Leander Haußmanns wurde 1994 trotz Nominierung von Bauers Theatertext nicht zu den Mu'lheimer Theatertagen eingeladen. Matthias Zschokke: Brut Als letztes Beispiel für die Umfunktionierung der dramatischen Form sei hier noch kurz Matthias Zschokke mit seinen Theatertexten erwähnt, wobei exemplarisch Brut*00 betrachtet wird. Zschokke bricht bereits in seinen Ro-
296
Becker, TH, H. 5/1993, S. 34. Ibid. -^ Lehmann 1994, S. 427. 299 Peter von Becker: »Abgrund, ein Meter tief: Die Münchner Uraufführung von Wolf gang Bauers Sn den Augen eines Fremden: auf den ersten und zweiten Blick«, TW, H. 5/1994, S. 42. 300 FfM , 1991.
297
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manen-101 virtuos Erzählperspektiven, stiftet Verwirrung, verknüpft und vermengt Fiktionsebenen bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander und läßt innerhalb der Romane die literarischen Gattungen miteinander reagieren. Andererseits kennt er als ehemaliger Schauspieler das Theater von innen und setzt sich in seinen Werken mit Theaterbetrieb und Schauspielberuf auseinander: Er schreibt Texte für ein Theater in der Krise, dem er eine Sauerstoffkur wünscht·102 und das er als Institution für »reaktionär« hält, »als kreativen Vorgang« des Miteinanderspielens aber schätzt.101 Die bewußt kritische Nutzung nicht nur der dramatischen Form, sondern - in den Romanen - auch des Erzählens schlechthin, die autorefiexive Aufwertung der Darstellungsverfahren vor dem Dargestellten, der Einsatz von Repräsentation als Trick, nicht als Ziel, all das ist durchgängig bestimmend für Zschokkes Werk. Ebenso wie bei ihm »das Buch als Fiktion einer klar konturierten raum-zeitlichen Entität [...] ad absurdum geführt« ist, wie Samuel Moser hinsichtlich des erzählerischen Werks feststellt, 304 verhält es sich auch mit dem Drama, dessen äußere Form genutzt und das zugleich von innen heraus dekonstruiert wird. Die unkritische Nutzung konventionell dramatischer Gestaltung würde nämlich einem Theater zuarbeiten, das ais »letzter Hort der Illusion und Übereinstimmung«·105 den in Zschokkes Augen falschen Glauben an eine geordnete, verstehbare Welt befördert. Mosers Schluß läßt sich ebenfalls von den Romanen auf die Theatertexte übertragen: Das große Drama wäre nach Zschokke jederzeit mühelos zu schreiben, aber es kommt darauf an, es nicht zu schreiben, denn »die Kunst ist es, das andere zu suchen, sich zu entziehn, das Machbare nicht zu machen«,·106 Es ist die Grenze zwischen Kunst bzw. Literatur und Leben, die Zschokke interessiert. Die Verunsicherung über die Trennlinien zwischen Realität und Spiel, Leben und Traum, Original und Fälschung gehört zur Wirkungsstrategie seiner Texte, auf deren romantische Traditionen zu Recht hingewiesen wird. Aus dem Steinbruch der Realität, die nie Vorlage ist, immer nur Material liefert, birgt Zschokke Requisiten, Figuren, Sätze, BegegMax (München, 1982), Prinz Hans (München, 1984), ErSieEs (München, 1986), Piraten (FfM, 1991). 02 Matthias Zschokke: Brief an seine Verlegerin vom 24.2.1987, Abdruck in THt H. 13/1987 (Jahrbuch), S. 51. " epf.: »Filigranes über Seeräuberei«, Der Bund (Bern), 29.11.1988. 04 Samuel Moser: »Matthias Zschokke«, KLG, 40, NIg. (Stand 1.1.1992), S. 6. 05 Matthias Zschokke: *. München: List, 1982,5. 108. 6 Matthias Zschokke: »Amateure Autodidakten Dilettanten Ich« (Essay), HerzWwf, Katalog zur Ausstellung, 2.9.-8. . 987, Zürich (Museum für Gestaltung), 1987, S. 12-15, ZitatS. 13.
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nungen, Geschichten und setzt sie neu zusammen zu einer eigenen Kunstund Traumwirklichkeit der Buhne. Dabei arbeitet er mit den hier als Zuschauerverunsicherung und Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion beschriebenen Techniken der Umfunktionierung und nutzt auch rnetadramatische Elemente zur Thematisierung der dramatischen Form. Während sein erstes, bereits 1983 erschienenes Stück Elefanten können nicht in die Luft springen, weil sie zu dick sind - oder wollen sie nicht noch mit der Spiel-äm-Spiel-Technik arbeitet, erfolgt die Thematisierung der dramatischen Form und die damit verbundene Verschmelzung von Spiel und Wirklichkeit (»Poetisierung der Welt«307} in den späteren Stücken subtiler. Die Alphabeten zeigt Figuren, die an der Rollenhafügkeit ihrer Existenz leiden, und steilt mit der Dichterin Serval und dem Kritiker Dr. Seet zugleich die Literatur ins Zentrum. Brut, das seinerseits durchaus als triviales, ein wenig märchenhaft-romantisches Piratenstück mißverstanden werden kann,30S ist andererseits ebenso verstehbar als Fiktion zweiten Grades nicht erst mit Blick auf Zschokkes Roman Piraten, der im wesentlichen von einer Schauspieltruppe handelt, die (vergebens) ein Stück mit dem Titel Brut aufzuführen versucht. Schon im Theatertext selbst finden sich - besonders am Anfang - metadramatische Hinweise, die andeuten, daß es sich hier immer (auch) »um Theater über das Theater handelt«: 309 Das beginnt mit der Figur des Dichters Sloop - dessen Rolle im Roman Piraten bezeichnenderweise der Erzähler selbst übernimmt — der, obwohl von Nunez als »Epiker« bezeichnet (S. 7), sein »Geniedrama« Sardar preist und mit Avanti offensichtlich ein weiteres Theaterstück geschrieben hat (S. 25), und setzt sich fort mit der mehrfachen (teils indirekten) Thematisierung der Schauspielerei. Wenn auch das dominierende metadramatische Element, Selkirks Veri07
Michael Buselmeier: »Mörderspiele, Märchenspiele«, TW, H. 13/1987 (Jahrbuch), S. 58/59, Zitat S. 58. 308 j)jes W unde in der Bonner Uraufführung laut Frank Busch - und in seinen Augen irrtümlicherweise - durch die Plazierung auf der Werkstattbühne zu verhindern versucht: »Piranhas und Piratinnen«, TH, H. 2/1989, S. 43f, Zitat S. 44. 309 Busch, TH, H. 2/1989, S. 44. Es sei hier angemerkt, daß die Namen Sloop und Tristana möglicherweise auf die Figuren Dr. Slop und Tristram aus Laurence Sternes »Metaronnan« The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (erseh. 1759-1767) verweisen, ebenso wie der melancholische Grundton und einige Einzelmotive ihre Entsprechung bei Zschokke finden. Diese Parallelen zu einem »Roman frustrierten Erzählens«, der das Erzählproblem auf die Spitze treibt (Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur: Ein neues Paradigma, Opladen, 1990, S. 158-168), können die vorgebrachten Thesen zusätzlich untermauern.
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kleidung als Mann, durchaus auf soziologisches Rollenspiel verweist (an anderer Stelle schreibt Zschokke die Geschichte eines Mädchens, das Männerkleider anlegt, urn das Gefühl loszuwerden, nur ihrer weiblichen Schönheit wegen geschätzt zu werden·110), und wenn auch die Piratenfiguren als Projektionen von Wunschidentitäten verstanden werden können, so weist der Theatertext doch über solch konkrete Bedeutungen der metadramatischen Elemente hinaus. Das Problem der Identität im Rollenspiel des Lebens ist (wie übrigens auch in Die Alphabeten) nur eine Äußerungsform des um sich greifenden Verlusts von Realitätsbezug und -gewißbeit, der vor allem auf falschen Erwartungen ans Leben beruht, »Sie denken, leben tun wir sowieso, und wollen mehr. - Halten zu Gnaden, mir scheint, das ist falsch« (S. 60), so bringt die Fürstin Elmal auf eine Formel, was sich bei Selkirk in einer vagen Sehnsucht äußert, die dazu führt, daß er alles nur als Simulation und Nachahmung (»Leben, wie vom Leben geschrieben!«) empfindet und sich beklagt: Mir geschieht — eigentlich auch nichts - grundsätzlich - nichts - ich hab noch nie - überhaupt irgendwas - erlebt - gar nichts - das verblüfft - nun selbst mich. (S, 320311
Solche Erwartungen ans Leben werden von den traditioneil fiktionalen Formen (Brut zitiert sowohl Piratenfilme und -heftchen als auch die Robinsongeschichte) unterstutzt, welche ganze, geradlinige Geschichten vorspiegeln, während doch das Leben gerade »keine Geschichte« ist, »immer schief« läuft, und man »die seltenen Momente, in denen sie [gemeint sind Leben und Geschichten] sich kreuzen, verpaßt [...], weil sie immer schon vorbei sind«, 112 Für den einzelnen können solche Sehnsüchte unter Umständen eine -110 Matthias Zschokke: »Die Erdbeertorte«, Texte ans dem Aargau, hg, v. Aargauische Kantonalbank, Aarau, 1987, S. 59-67. Das »Hauptmärchen« dieses Textes, das die Geschichte des Mädchens Anna erzählt, die sich als Mann Selkirk verkleidet, wird in dem Roman Piraten (S. 30f.) vom Autor selbst wieder zitiert. 311 Auffällig sind parallele Äußerungen in bereits besprochenen Theatenexten von Wysocki und Streeruwitz: Michaela Sesselmann in Der Erdbebenforscher (»Mir ist [,..] noch nie etwas wirklich Schlimmes passiert«, S. 262), Helene in Sioane Square. (»Ich war bisher schon nicht so wirklich sicher, daß es mich gibt. Aber jetzt. Also. Jetzt gibt es mich sicher nicht mehr.«, S. 14), Frau Marenzi in Sioane Square. (»Manchmal habe ich das Gefühl, daß es mich. Gar nicht gibt. Nie gegeben. Eigentlich.«, S. 101), Chrobath in New York. New York. (»Sie wissen gar nicht, wie das Nichts im Kopf weh tut. Und sich selbst nie erreichen.«, S. 60). 312 Zschokke: Piraten, S. 43.
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zerstörerische Wirkung haben, was im Lied der Bordkapelle ihren Ausdruck findet: Ach, wir zerschellen an uns, zerbersten, zersplittern am Traum, halten uns nieder im Wunsch, sehnen,sehnen, sehnen, und kein Leben. (S. 59) Die Suche nach Auswegen aus dem quälenden Zustand des Sehnens äußert sich vor allem in Gewaltanwendung (körperliche und seelische Grausamkeit, Mord und Selbstmord), Die Kunst- und Traumwelt, in der das Unmögliche möglich wird, verkörpert durch die Fürstin Etmal, und die Liebe, zu der sich Glaser nach langem Sträuben bekennt, bleiben angedeutete, unerfüllbare Utopien. Das Stück selbst verweigert dem Zuschauer die Geschichte und enttäuscht »geradezu besessen [...] die Sehnsucht nach Zusammenhängen«,31·1 indem es dem Publikum entscheidende Informationen vorenthält. So geschieht die Ermordung Etrnals in schwärzester Nacht, Daß Hallwax sie erstochen hat, ist wahrscheinlich, doch nicht sicher. In Brut wird die Unmöglichkeit thematisiert, sich durch Planen und Handein, Denken und Berechnen eine Geschichte zu erstellen, solange man sie außerhalb von sich selbst sucht und unzugänglich ist für die »einfachen Dinge« (S. 63), für die grundlegendsten Wahrnehmungen - »zum Beispiel: nur hören« (S. 63), Im äußeren Kommunikationssystem entspricht dem wiederum eine Aufwertung des theatralen Moments (vertikale Perspektive) gegenüber der linearen »Handlung« (horizontale Dimension), 314 Hierbei ist auf die Rolle der Musik in Zschokkes Theatertexten hinzuweisen - besonders in Brut, einem Text, der im Untertitel ausdrücklich als »Schauspiel mit Musik« bezeichnet wird. Die musikalischen Nummern der Bordkapelle, binnenfiktional in die »Handlung« eingebunden, stellen im äußeren Kommunikationssystem Momente des Innehaltens dar, in denen die latente Stimmung von Sehnsucht und Melancholie mit Hilfe der Musik zu höherer Intensität geführt wird. Der »dramatische« Textaufbau vermittelt dagegen Ruhelosigkeit und wenig koordinierte Simultaneität: Zwischen die zwei rahmenden Totalen im »Basisi13 314
epf.: »Filigranes über Seeräuberei«, Der Bund, 29.11.1988, Verstärkt kommt dieses theatrale Wirkungsprinzip übrigens in Die Alphabeten zum Tragen, wo Zschokke durch den Einsatz vielfältiger Schauplätze, die sich in Dimension und Atmosphäre stark voneinander unterscheiden, als Autor den Zugriff nicht nur auf nonverbale akustische Zeichen, sondern auch auf die Zeichen des Raumes wagt.
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lager« (I. Bild) und auf dem Schiff (10. Bild) ist eine Reihe von kurzen Szenen gespannt, die in stetem Kommen und Gehen zwischen den einzelnen Orten an Deck - »Beim Steuer«, »Vorne«, »Beim Mastkäfig«, »Oben«, »Oben vorne« und »Hinten« - meist nur zwei bis drei Figuren aufeinandertreffen lassen. Dabei läßt der Zusammenschluß von bis zu zehn solcher durch ihre unterschiedlichen Schauplätze getrennten, sonst aber nicht gekennzeichneten Szenen zu durchnumerierten größeren Einheiten (Bilder), die sich durch Zeitangaben voneinander absetzen, entsprechend den jeweiligen Bühnenmöglichkeiten eine simultane Darstellung aller an Bord befindlichen Schauplätze ebenso zu wie etwa ein schlaglichtartiges Aneinanderreihen der Szenen. Nur für wenige Momente vereint die Anwesenheit der Fürstin die gesamte Besatzung: bei der Ankunft Etmals (S. 52-55) und nach ihrer Ermordung (S. 65-67), wo sich Selkirk der Gemeinschaft bereits entzieht. Die Dynamik dieser Dramaturgie der Begegnungen - bei allen Unterschieden denkt man an Botho Strauß - ermöglicht nicht nur eine Darstellung von Gruppenprozessen und -Spannungen. Da ihr ein Ziel fehlt, auf das die Szenen zulaufen, da die Splitter zusammengesetzt keine wirkliche Handlung ergeben, entspricht der Bau einem ziellos schweifenden Blick, der wie zufällig das Aufeinandertreffen der Figuren in immer neuen (und dabei immer gleichen) Konstellationen und Situationen erfaßt und dabei vor allem eine lastende Grundstimmung der ziellosen Suche und Unzufriedenheit vermittelt. Die Kontinuität von Zeit und Ort wird dabei zwar äußerlich (etwa in den Regteanweisungen) behauptet, verliert aber durch die Tatsache, daß das Schiff im Kreis fährt und daß alle Zukunftspläne dem Dasein nicht die Trostlosigkeit des immer schon Erlebten nehmen können, an Substanz, Die Verweigerung einer Geschichte entspringt auch hier, wie oben schon angedeutet, dem mimetischen Impuls: Die Geschichte, die sie [die Kapitänin] mit ihnen [den Piraten] durchlebt, ist kaum als solche zu bezeichnen - verästelt bis ins Feinste, Und doch gibt es drei Tote, als sei es das deftigste Drama. [...] Alles findet auf der Bühne statt, genauer, es nimmt seinen Weg über die Bühne. Im Grunde genommen, wo wir's am liebsten nehmen, ist es pures Leben, nur eben zufälligerweise ohne vierte Wand. 115
So kann Zschokke auch behaupten, Brut sei ein ideales, hieb- und stichfest gebautes Bühnenstück mit linearer Erzählung: »Die Brechung, die steht davor«,316 nämlich in der Diskrepanz zwischen der Illusion sinnhaften Handelns und seiner Unmöglichkeit, die in der Diskrepanz von Zuschauerer• 1I5 Zschokke L Piraten, S. 57. 316 Zschokke, zit. in Frank Busch: »Z - wie Zauberer«, Zeit, 24.11.1989.
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Wartung und Strategie des Theatertextes nur gespiegeh wird. »Versagen ist nicht dramatisch«, heißt es in Piraten (S. 207) - und an ihren Ansprüchen scheiternde Piraten, die Aktionen nur noch zerreden, sind es ebensowenig. Die Qualitäten von Zschokkes Texten sind nicht in der Dramatizität des Dargestellten zu suchen, sondern in der Theatralität der Figuren, ihrer Sprache und der Situationen, in die sie gestellt sind - und in den Phantasien, die seine Bilder im Zuschauer freizusetzen vermögen. Der mehrdeutige Titel »Brut« weist unter anderem auf eine schwere, brütende, lastende Atmosphäre, deren Herstellung für die Wirkung des Stücks wichtiger ist als die Vermittlung eines »roten Fadens« der Geschichte. Immer wieder scheitern in den kleinen Szenen die Figuren daran, Gründe, Erklärungen, einen Sinn zu finden. Nur die Fürstin Etmal, die weder den Gesetzen der Schwerkraft noch der sehnsüchtigen Grundstimmung unterworfen zu sein scheint, und vielleicht der blinde (!) Steuermann Azor, der die Mechanismen des Lebens immerhin zu durchschauen scheint, aber vor ihnen resigniert hat, stehen bei diesem Spiel außerhalb, ohne es deshalb aufhalten zu können. Brut ist nur oberflächlich eine Seeräubergeschichte, wirksam werden vor allem die aneinandergereihten »Situationen der Verdrossenheit und Ziellosigkeit, die ein Metaphernnetz verwirrspielerisch verknüpft und poetisch zappeln läßt«.^ 1 7 Diese flirrende Atmosphäre herzustellen und das Publikum dazu zu verleiten, sich selbst aus seinem Leben in die Möglichkeiten der Phantasie zu befreien, muß Ziel des Theaters im Umgang mit BrM sein. Das utopische Potential der spielerischen Phantasie, das im Elefanten-Slück noch thematisch wird, freizusetzen, ist hier Sinn und Wirkungsprinzip des Theatertextes. Dabei eröffnen vor allem die poetische Sprache, aber auch die Möglichkeit, die exotischen, phantastisch-romantischen Bilderwelten der Piraterie und das ständige Durchschimmern der Theatermetapher zu nutzen, Spiel-Räume im Wortsinn. So kann die Kritik am dramatischen Theater durch gleichzeitiges Anbieten eines Gegenentwurfs konstruktiv werden und »zu einer neuen Art von verzauberndem und höchst vergnüglichem Theater« 318 führen.
•"7 Andreas Rossmann: »Seeräuberpistole«, FAZ, 22.12.88. 318 Klaus Völker: »Ein Abenteuer gegen die Ödnis des Lebens«, Tsp, 28.9,91.
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3.2.2.3 Unterwanderung der dramatischen Form: Sprache als Hauptdarsteller Eine weitere Variante der kritischen Nutzung dramatischer Form besteht darin, die Darstellungsebene (und damit die intrafiktionale Theatralität) nicht zugunsten ihrer Autoreflexion auf der Meta- oder der szenischen Wirkungsebene, sondern zugunsten der Theatralität des sprachlichen Materials selbst und damit zugunsten der im weitesten Sinne »poetischen« Wirkung der Sprache zurücktreten zu lassen. Nach der strukturalistischen Schule ist die poetische Funktion der Sprache zu bestimmen als Entautomatisierung der Zuordnung von Bezeichnendem (signiflani) und Bezeichnetem (signiße), der sprachliche Signifikant erhält also Eigenwert vor seinem rein kommunikativen »Gebrauchswert« zur Bezeichnung eines Signifikats, das sprachliche Zeichen wird im ästhetischen Gebrauch autoreflexiv, was zum Phänomen der Mehrdeutigkeit solcher Sprache führt. »Unterwanderung« der dramatischen Form soll diese Variante deswegen genannt werden, weil radikaler als in den bisherigen Beispielen - die Prinzipien von Narration und Figuration nicht nur verunsichert, sondern trotz ihrer formalen Beibehaltung schlicht zur Nebensache gemacht oder ganz vernachlässigt werden. Autorinnen solch poetischer Theatertexte schreiben diese oft in bewußter Distanz zu Theaterpraxis und -konvenüonen, manchmal sogar ausdrücklich gegen das bestehende, dramatische Theater: Unter dem Schutz der formal beibehaltenen dramatischen Form vollzieht sich ein Zurückdrängen der Fabel zugunsten der Sprache, die gleichwertig neben, ja sogar über (bzw. »vor«) Figuren und Handlung rangiert. Analytische Theatralität konstituiert sich hier nicht als Autoreflexion des konventionell-theatralischen, ikonisch-repräsentationalen Prinzips szenischer Theatralität, sondern als autoreflexive Entgrenzung des symbolisch-repräsentationalen Systems der Sprache selbst unter Nutzung der Mehrdeutigkeit und Materialität sprachlicher Signifikanten, deren performatives Potential als Texttheatralität fürs Theater nutzbar gemacht wird. Bisher haben wir gesehen, wie am Problem der fiktionalen »Wirklichkeit« durch ihre Thematisierung und Umfunktionierung auch die lebensweltliche Realität und alltägliche Prozesse der Bedeutungskonsiitution hinterfragt werden. Dabei steht der Rezipient als wahrnehmender Beobachter und Mit-Spieler innerhalb der theatralen Kommunikationssituation im Mittelpunkt, in seinen Augen werden Zuverlässigkeit und Verständlichkeit des Dargestellten fragwürdig, und zwar im wesentlichen durch szenische Vorgänge, zu denen auch Dialoge gehören, die meist ganz konventionell der 177
sprachlichen Verständigung zwischen Bühnenfiguren dienen. Setzt man die Nutzung der Sprache als dargestellte Figurenrede, als Repräsentation fiktionaler Sprechakte von und zwischen fiktionalen Figuren voraus, so wird man die Repliken vorrangig im Hinblick auf ihre Funktion im inneren Kommunikationssystem betrachten, als Mittel binnenfiktionaler Kommunikation, das im NormalfalP 19 nur mittelbar auch im äußeren Kommunikationssystem der Verständigung (zwischen Autor und Publikum) dient. Wenn aber, wie etwa bei Roth oder Streeruwitz zu sehen war, Situations- und Subjektbindung der Repliken gestört werden können, darf die Sprache im Theatertext offensichtlich nicht mehr auf ihre Funktion als dargestellte Figurenrede reduziert werden. Die Problematisierung nicht nur von Wahrnehmung, Bedeutung und Realität, sondern auch der schwindenden Subjektbindung und zunehmenden Verselbständigung der Sprache (Diskurstheorien, Poststrukturalismus) ermöglicht und erfordert in der Tat einen anderen, zusätzlichen Blick auf die Verwendung der Sprache: Wenn das dezentrierte Subjekt dem Diskurs nachgeordnet ist und von ihm dominiert wird, so ist Sprache nicht mehr durch Bezug auf sein Aussagesubjekt als Mittel der Kommunikation zu verstehen, sondern besitzt einen Eigenwert. Wo es möglich ist, daß das Subjekt »gesprochen wird«, 320 verdrängt die Sprache den Menschen aus dem Zentrum des Interesses. Zur Figuration im szenisch dargestellten Dialog, einer der Grundlagen des Dramas, ist diese Sprache allerdings nicht mehr tauglich, die dialogische Form wird allenfalls äußerlich als Scheindialog beibehalten. Im folgenden soll an ausgewählten Texten gezeigt werden, daß die Sprache als das einzige den Theaterautorinnen für ihre Kunst unmittelbar zur Verfügung stehende Material durchaus auch vom Mittel zum Zweck der theatralen Veranstaltung werden kann. Postdramatisches Theater ist dann nicht mehr in erster Linie ein Ort der szenischen Analyse repräsentationaler Theatralität, sondern wird als poetisches Theater zu einem Ort, wo im Sprechen das repräsentationale Prinzip des symbolischen Systems der Sprache analysiert wird: das »Theater als oralische Anstalt«, wie Ginka Steinwachs es formuliert. 331 Während in den bisherigen Beispielen vor allem auf die 319 320
i21
Ais Ausnahme müssen Wendungen ans Publikum gelten. So eine gängige Formulierung poststrukturalistischer Diskurstheorie, gerne angewandt bei der Besprechung etwa von Heiner Müllers Texten der späten Werk phase, und auch von Hottong in ihrer Studie zu Friederike Roths Werk gebraucht. In Roeder (Hg.) 1989, S, 119.
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Entkoppelung von innerem und äußerem Kommunikationssystem hingewiesen wurde, wird bei der Unterwanderung der dramatischen Form das innere Komrnunikationssystem nicht nur im äußeren bewußt gemacht, verunsichert oder verrätselt, sondern es wird - gegenüber seinem Material, der Sprache sekundär, Die »Funktionen der Sprache im Thcaterschauspicl« sind, wie schon Roman Ingarden für das Drama feststellt, prinzipiell doppelt, sind im inneren Kommunikationssystem »anders gerichtet« 322 als im äußeren, gleichen sich ansonsten jedoch wesentlich in ihrer Poly funktional i tat: 323 Die grundlegenden Funktionen der sprachlichen Kommunikation (bei Pfister in JakobsonNachfolge als referentiell, expressiv, appellativ, phatiscb, melasprachlich und poetisch bezeichnet) werden von dramatischer Figurenrede in den beiden einander überlagernden Kommunikationssystemen gleichermaßen genutzt - einzig die poetische Funktion ist im Normal fall nur für das äußere Kommunikationssystem relevant, nicht aber für die binnenfiktionale Kommunikation der Figuren. 324 Das heißt aber, daß die Betonung der poetischen Funktion der Sprache gekoppelt ist an ein Vordrängen der externen theatralen Kommunikation, während die Bühnenvorgänge im inneren Kommunikationssystem beliebig werden, puren Spielcharakter bekommen und teilweise gar nicht mehr als »Kommunikationssystem« beschreibbar sind. Die Formen sind dabei vielfältig, ob nun, wie bei Ginka Steinwachs (auf deren Theatertexte hier nur verwiesen werden kann), das Zusammentreffen von Symbolischem und Imaginärem in der Stimme als »Magie« der Sprache positiv besetzt 125 oder aber, wie wir bei Schwab sehen werden, als Qual empfunden wird, ob die Sprache in ihren heutigen, dem Individuum entfremdeten Formen als Spiel der Diskurse, als nahezu körperlose Kommunikation oder als ganz persönliche, hörbar gewordene Gedanken ihre Eigendynamik entwickelt. Ihre Bestimmung fürs Theater losen solche Texte dadurch ein, daß sie zusätzlich in Didaskalien ein szenisches Geschehen entwerfen, oder indem sie, und sei es in der Negation, mit körperlichen, räumlichen und zeitlichen Dimensionen der Sprache arbeiten, die über rein akustische Phänomene, die ja auch im Hörspiel zu produzieren sind, hinaus-
322
Roman Ingarden: Das literarische Kunsnverk. Mi! einem Anhang zu den Funktionen der Sprache im Theaterschattspiel, 3., durchges. Auflage, Tübin-
323
Vgl hierzu und im folgenden auch Pfister 5 1988 [1982], S. 149-179.
324
Pf ister 5 1988 [1982], S. 166.
325
Roeder(Hg.) 19S9, S. 119.
gen, 1965 [1931.], S. 41 l,
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gehen. Andernfalls nähern sich Hörspiel und Theatertext zusehends einander an. Der Grad der Verhaftung mit der dramatischen Form ist in den folgenden Beispielen bewußt unterschiedlich gewählt: Während Werner Schwabs Stücke, die er selbst ja ah Fäka.\itndramen und Königskomödien bezeichnete, mit Fabel, Figuren und Situationen noch die wesentlichen Merkmale der dramatischen Form aufweisen, stellen dagegen die Bezeichnung der Sprecher und die minimalen Angaben zu Raum und/oder Zeit in Rainald Goetz' »Theaterstücken« Festitng™ nurmehr Rudimente der dramatischen Form dar. Trotz dieser Unterschiede ist den Theatertexten von Werner Schwab, Rainald Goetz und Elfriede Jelinek eines gemeinsam: der zentrale Stellenwert, den die Sprache innehat, und zwar in erster Linie nicht als dargestellte Rede fiktionaler Figuren, sondern als autoreflexiv genutztes Medium der ästhetischen Kommunikation im äußeren Kommunikationssystem. Wert und Wirkung der Sprache lassen sich nicht mehr aus ihren binnenfiktäonalen Funktionen, etwa als Sprechhandlung oder Ausdruck einer Figurenbefindlichkeit, beurteilen - und auch nicht mehr aus Funktionen im äußeren Kommunikationssysteni, die der dramatischen Repräsentation zuarbeiten wie etwa Figurencharakterisierung und Sympathielenkung. Vielmehr ist der Sprache ein theatraler Eigenwert im äußeren Kommunikationssystem zuzuerkennen - auch, wo Bühnenfiguren (und damit eine binnenfiktionale Kommunikation) dazwischengeschaltet sind. Ebenso wie Licht, Farben, Bilder, Musik und andere nonverbale Zeichen der Bühne kann auch die Sprache sich von ihrer traditionellen Darstellungsfunktion emanzipieren. Statt als dargestellte Rede fiktionaler Figuren ein fiktionales Geschehen zu transportieren, kann die Sprache als polyphoner Diskurs oder als Mono- bzw. Solilog durch ihren bloßen Materialwert als gesprochene, verkörperte Sprache selbst im Mittelpunkt der theatralen Veranstaltung stehen, die damit zur »Sprechoper« tendiert. Der Frage, was dabei die theatrale Dimension der Sprache ausmacht, soll schon hier ansatzweise nachgegangen werden, wenn auch der Versuch ihrer Beantwortung sinnvollerweise erst nach der Betrachtung von monologischen und schließlich von nichtdramatischen Theatertexten unternommen wird, welche die Verdrängung des inneren Kommunikationssystems noch radikaler praktizieren.
326 pfM 1993. Die Bezeichnung als >Theaterstücke< stammt aus der Vorbemerkung, S. 2: »Festung ist ein Buch aus drei Bänden: die Theaterstücke Festung', die Materialien 1989; und die Berichte Kronos.« 180
Die Nutzung des Materialwerts der Sprache ist keine Erfindung der hier vorgestellten Autorinnen. Gemeint ist damit nicht nur, was Pfister als »Abweichungsdimension« 327 der dramatischen Sprache von der normalsprachlichen Äußerung bezeichnet: ihre poetische Dimension, die ja vornehmlich zur Unterstützung der dramatischen Darstellung eingesetzt wird und dank theatraler Konventionen auch die repräsentationalen Prinzipien der Narration und Figuration nicht wirklich stört. Was hier gemeint ist, geht über die traditionelle »Abweichungsdimension« hinaus, es geht um eine Dominanz der poetischen Funktion. Dabei muß einmal mehr darauf verwiesen werden, daß die Merkmale dieser »postmodernen« Ästhetik (Sprachspieie, Montage von Zitaten, Betonung des Diskurscharakters und des Materialwerts der Sprache) ihre Vorläufer in der historischen Avantgarde (man denke nur an den Umgang mit Sprache in Dadaismus und Futurismus oder bei Gertrude Stein und Stephane Mallarme) und in den ersten Nachkriegsjahrzehnten (konkrete Poesie) haben. Symptome in der Dramenproduktion, die als Reaktion auf zunehmende Sprachskepsis bereits früher die dramatische Figurenrede problematisierten (wie etwa der Einzug der Konversation anstelle des dramatischen Dialogs, die Notation auch des Schweigens der Figuren, die Verknappung, Scheindialogisierung oder Monologisierung der Figurenrede) stehen meist im Dienst der dramatischen Repräsentation und enthalten kritisches Potential maximal gegen Szondis »absolutes« Drama. Anders verhält es sich mit Handkes Verzicht auf Scheindialogisierung in seinen Sprechstücken und mit der »automatischen Sprache« (lonesco) in den meisten Stücken des absurden Theaters, wo bereits mit dem Eigenwert der Sprache - jenseits der Zeichnung von Figuren und ihrer sozialen Prägung gearbeitet wird. Seither sind es, wie Elfriede Jelinek treffend feststellt, »hauptsächlich Frauen [...}, die das Theater mehr als sprachliche Anstalt sehen und sprachlich innovativ arbeiten.«328 In Anke Roeders Gesprächen mit Gegenwartsautorinnen wird immer wieder deutlich, daß in ihren Theatertexten Sprache »nicht mehr Ausdruck der Befindlichkeit von Figuren, sondern eigenständige Wirklichkeit« ist.329 Jelinek nennt als Beispiele neben Ginka Steinwachs und sich selbst (zwei Autorinnen, denen auch Roeder »die extremsten Positionen in diesem Spektrum« bestätigt)330 noch Gisela von Wysocki so327
Pfister 5 1988 [1982], S. 150. 328 Eifriecje Jelinek im Gespräch mit Kathrin Tiedernann; »Das Deutsche scheut das Triviale«, TdZ, H. 6/1994, S.34-39, Zitat S. 35. 329 Roeder (Hg.) 1989,5.20. 330 ibid. 181
wie Ria Endres und bezeichnet alte als Autorinnen, die »eigentlich immer eher verachtet oder eben nicht ernstgenommen worden« seien.331 Wenn im folgenden nun neben Jelinek (deren Totenauberg geradezu paradigmatisch für dekonstruktiven Umgang mit der Sprache erscheint und hier stellvertretend für zahlreiche Texte anderer Autorinnen steht) mit Schwab und Goetz zwei männliche Autoren näher besprochen werden, so handelt es sich dabei um Autoren, die - übrigens nach Thomas Bernhard, in dessen Werk sich die obsessive Sprache bereits teilweise von ihrer Darstellungsfunktion emanzipiert hat und musikalische Qualitäten besitzt - in den vergangenen Jahren dazu beigetragen haben, innovative Tendenzen auf dem Gebiet der Sprache im Theater durchzusetzen. Dies würdigt übrigens auch Jelinek: Ich glaube ja schon, daß es jetzt mehr Autoren gibt [...], die sich mit der Sprache stärker auseinandersetzen als mit den szenischen Gegebenheiten des Theaters. [...] Den entscheidenden Schub, finde ich, hat das Theater durch die Arbeiten von Werner Schwab bekommen, [...] Und dann der Rainald Goetz. Ich finde, diese beiden relativ jungen Männer haben es geschafft, die experimentellere Sprechweise - was auch Jandl z.B. nicht gelungen war mit seinen Stücken - diese Art des Sprechens am Theater zu etablieren.-1-*2
Jelineks bitterer Verweis, daß auch Schwab auf bereits Vorhandenes aufbaue und sein Umgang mit Sprache so revolutionär nicht sei, wie er von der Kritik dargestellt wird, ist weniger gegen ihn selbst als vielmehr gegen ein nach wie vor männlich dominiertes Theater gerichtet: Da mußte natürlich ein junges Männergenie kommen {...], und dann war plötzlich offenbar die Zeit reif für sprachlich innovatives Theater.-TO
Die Wahl von Schwab und Goetz erklärt sich vor allem aus ihrer prägenden Rolle für das deutschsprachige Theater im behandelten Zeitraum, aber auch daraus, daß sich an ihren Texten der poetische Einsatz theatraler Sprache über den feministischen Ansatz der Dekonstruktion patriarchalischer Diskurse hinaus, zu dem bereits Untersuchungen vorliegen, in seinen unterschiedlichen Spielarten verdeutlichen läßt. Wichtig erscheint es gerade angesichts der Schwab-Rezeption, aber auch angesichts der immer noch spärlichen Rezeption poetischer Theatertexte von Autorinnen sowie der Aneignung solcher Hyperfunktion der Sprache durch Nachwuchsautorinnen (etwa durch den schon allgemein »Schwabinek« genannten Thomas Jonigk), den neuen Stellenwert der Theatersprache als ein vielgestaltiges Phänomen zu erkennen, das im Gefolge der Einsicht in den Prozeßcharakter von !
Jelinek im Gespräch mit Tiedemann, TdZ, H. 6/1994, S, 35. Ibid. » Ibid. 2
182
»Bedeutung« die Aufmerksamkeit auf die Theatralität der Sprache lenkt und damit Dimensionen für Theatertexte jenseits des Dramas eröffnet, da die Rückbindung der Sprache an Figuren und Situationen zunehmend nur noch formalen Charakter hat. Sprache ist also nicht mehr primär als Sprechhandlung der Figuren »ein Element der im Theaterschauspiel dargestellten Welt«314 und darin örtlich, zeitlich und handlungslogisch situiert. Dieses Phänomen deutet sich ja bereits an: in den als Symptome der Stückproduktion beschriebenen Tendenzen zur chorischen Gestaltung und zum Zitat oder auch zur Bezeichnung der (Schwund)Figuren mit Allerweltsnamen, typisierten Berufsbezeichnungen, Nummern oder Buchstaben. Auch diese Form der kritischen Nutzung läßt sich wiederum als Fortführung sowohl »absurder« als auch episierender Tendenzen des Schreibens fürs Theater verstehen. Ob im epischen Theater, entgegen theatralen Konventionen, die doppelte Funktion der Sprache im inneren und äußeren Kommunikationssystem durch gestisches Sprechen und Zitierhaltung bei Schauspielern (Dissoziation von Figur und Sprache) gezielt bewußtgemacht wird, ob im absurden Theater die binnenfiktionale Kommunikation sich als Sprachspiel im Kreise dreht und als Aneinandervorbei- und Vorsichhinreden leerläuft - in beiden Fällen rückt das äußere Kommunikationssystem in den Vordergrund, und es wird klar, daß nicht die Sprache im Dienst der Figuren steht, sondern daß es sich genau umgekehrt verhält. Damit wird auf die Teilnehmer der »eigentlichen« ästhetischen Kommunikation verwiesen: auf Produzenten (Autorinnen und Theatermacher) und Rezipienten (Zuschauer) des Textes und seiner szenischen Konkretisation. In der Nachfolge dieser Entwicklungen stehen Varianten der kritischen Nutzung der dramatischen Form heute, in denen Sprache nurmehr formal Äußerung unterscheidbarer Bühnenfiguren ist, wesentlich aber als mediale Kommunikation, Sprachspiel, Diskurs oder hörbar gemachter Gedankengang auftritt. Darin kann das sprachliche Material eine solche Eigendynamik entwickeln, daß Handlung und Figuren zweitrangig werden, da sie ihr nachgeordnet sind. Wo das traditionelle Verhältnis zwischen dargestelltem Gegenstand und Darstellung aber auf diese Weise umgekehrt wird, ist die völlige Verabschiedung der dramatischen Form, die hier nurmehr als Vehikel »miß«braucht wird, nicht mehr weit, wie die anschließenden Kapitel zeigen werden.
334
Ingarden 3 1965[193I],S.404. 183
Werner Schwab: VOLKSVERNICHTUNG und andere Texte Werner Schwabs Theatertexte sind formal dramatisch. In grob skizzierten alltäglichen Situationen und Konstellationen (Parteien eines Mietshauses, Stube einer Gastwirtschaft, Beisammensein von Pensionistinnen, Garten einer Lehrersfamilie, Theaterprobe, Tonstudio..,), hetzt der Autor Figuren aufeinander, bei denen es sich zwar weitgehend um typisierte und klischierte Karikaturen handelt, die aber immerhin voneinander unterscheidbar und meist auch sozial situiert sind."5 Der Handlungsverlauf endet meist tödlich für einen oder mehrere der Beteiligten, Mit ESKALATION ORDINÄR,™ einem Stück in Stationentechnik, und den Bearbeitungen von Faust und Troilus und Cressida finden sich in Schwabs Nachlaß schließlich auch Versuche, die einmal gefundene Form (von Franz Wille gar als »neues Genre« der »(Tragi-)Klomödie« bezeichnet)337, die in PORNOGEOGRAPHIE und dem nicht vollendeten Stück ANTIKLIMA!I bis zuletzt noch bedient wird, weiterzuentwikkeln, zu öffnen, vielleicht zu überwinden. Doch die Betrachtung dieser Theatertexte als Dramen kann kaum die Faszination erklären, welche Schwabs Stücke in den vergangenen Jahren auf die Theater ausübten. Die Stoffe sind banal, alltäglich, widerwärtig - und sie sind beliebig. Das Leben liefert mit seinen Situationen nur den »Anlaßfall« für Theater,"8 es ist, so Schwab, »erstaunlich gleichgültig, wovon ein Theater ausgeht, handelt und sich fortnabelt«.339 Ausgehend von einer simplen Vorgabe, beispielsweise einer Situation in der Wirtsstube eines Gasthauses, ergeben sich wie von selbst »Subzusammenhänge«,340 entsteht also ein Handlungsgerüst. In einem Portrait wird behauptet, die Story der Stücke ergebe sich »mehr oder weniger durch Zufall«, und man zitiert Schwab selbst: Das einzige Problem, das ich beim Schreiben habe, ist nicht das Material, der Stoff, die Geschichte, sondern die sprachliche Bewältigung. [...] Man könnte in h den Schritt von den Unterschicht-Kleinstbürgem der Fäkaliendramen (Graz; Wien: Droschl, 21993 [1991]) zu Bildungsbürgerturn, Mittelschicht und Kulturwelt der Königskomödien (Graz; Wien: Droschl, 1992) - ein Kontrast, der sich schon innerhalb des Personals etwa von ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM und VOLKSVERNICHTUNG findet, 336 Zu Erscheinungsort und -datum der einzelnen zitierten Texte Schwabs vgl. das Literaturverzeichnis. 337 Franz Wille: »Zwischen Requiem und Klomödie«, TH, H, 11/1992, S. 6-16, ZitatS. 14. 338 Werner Schwab: »Vorwort«, Fäkaliendramen 21993 [1991], S. 9f., Zitat S, 10. 339 340
Ibid. Ibid,
184
einem Wörterbuch blind auf ein oder zwei Wörter hintippen, da sind unzählige Geschichten drinnen.· 141
Der Sprache-U2 bescheinigen viele Kritiker, sie rette die Texte vor Belanglosigkeit. Ohne diese schon bald als »Schwabisch« bezeichnete Kunstsprache seien Schwabs Theatertexte »nur trickreich aufgebrochene, dabei glatt abbildungsgetreue moderne Volksstücke«.*43 Tatsächlich ist die Sprache bei Schwab mehr als eine kunst- und kraftvolle Draufgabe, sie ist der (un-) heimliche Hauptdarsteller, nicht nur kunstvolles Mittel zur dekorativen Verpackung banaler Inhalte, sondern selbst Zweck des Schreibens fürs Theater. Zu VOLKSVERNICHTUNG merkt der Autor an, altes sei »ein Sprachprobiemstellungskommando...«,544 und auch in seinen anderen Theatertexten werden der Umgang mit Sprache und das Leiden an ihr, die Funktionalisierung des Sprechens zum Instrument der Qual, wiederholt thematisiert. Die (in Schwabs Texten geradezu pathologische) Sprache wird damit zugleich Protagonist, Form und Inhalt - allerdings oft verdeckt hinter anderen, vordergründigen Themen und Stoffen. Nicht die Gefahr des »Formkitsches«345 bedrohte diese Texte von Anfang an, sondern der Autor erlag der Gefährdung des Zuviel oft in bezug auf den Inhalt, wodurch die Sprache der späteren Stücke, vom Zweck zum Mittel verdrängt, erst in »Manierismus«346 abgleiten konnte. Die Faszination und zugleich die Gefahr dieser Dramaturgie liegt im Prinzip der Unterwanderung der dramatischen Form. Das Drama wird - anfangs in der besonderen Ausprägung des kritischen Volksstücks - genutzt, obwohl Schwab selbst dessen Prinzipien für uninteressant und anachronistisch hält. Die Figuration ist Mittel zum Zweck des (Sprach)Spiels, dynamisiert die Sprachkaskaden zusätzlich - aber sie ist nicht wirklich notwendig. Die Figuren, der Sprache »ausgeliefert«, sind pure »Vehikel, die man benül341
342
343
344 345
346
Lothar Lohs: »Es ist alles unmöglich, solange man am Leben ist« (Portrait), Bühne, H. 12/1991, S. 94-97, Zitat S. 96. Schwab behält die traditionelle Zweiteilung in Haupt- und Nebentext bei, wobei die Sprache der Regieanweisungen - anders als die der Repliken - durchwegs in konventionellem Hochdeutsch gehalten ist. Alle Betrachtungen zur Sprache beziehen sich ausschließlich auf die Figurensprache. Michael Merschmeier: »Kommunion der Kannibalen«, , H. 3/1991, S, 4547, Zitat S. 47, Herv. im Orig. Schwab: Fäkaliendramen 21993 [1991], S. 124. So Merschmeier, TH, H. 3/1991, S.47.
Thomas Thieringer über die Sprache in ENDLICH TOT ENDLICH KEINE LUFT MEHR: »Ach, wie alt ist doch das Neue«, SZ, 26.9.94, und »Absurdistische Normalität«, TH, H. 12/1994, S. 26f., Zitat S. 27. 185
zen muß, um die Sache in Gang zu halten«. 347 Sie bilden nur das notwendige (dramatische) Gerüst, an dem die Sprache festgemacht werden kann. Als Schwab sich an seinen Schreibtisch setzte, hatte er den Traum von der Musikerkarriere aufgegeben, das Studium der Bildhauerei abgebrochen. Aber Worter wie sound und Skulptur waren aus seiner Vorstellung nicht mehr wegzudenken. Er nahm die Sprache als Material für Sprachskulpturen [...]. Schwab sah bald ein, daß er mit Prosa und experimentellen Stücken [,..] nicht überleben konnte, und beschloß, den Erwartungen entgegenzukommen, Er schrieb nicht mehr >Stimmen·; für >Sprecher»Seltsame SchleifenSchauenSehenBHck< und >Büd< deuten in Totenauberg als dramaturgische Scharniere linguistischer Art auffallend häufig auf den (zunehmend mediatisierten) visuellen Bezug zur Außenwelt. Hier sind Ansätze vorhanden, mit dem »schönen Schein« der Bilder des Theaters und des Films ebenso dekonstruktiv zu verfahren wie mit dem der Sprache, die Bilder also sich selbst entlarven zu lassen. Jelinek nutzt die Bühne vor allem als Ort, auf dem Sprache hörbar wird, doch gerade angesichts der Entfremdung der Wahrnehmung durch Medien wird die Bühne auch als Bildraum wichtig, 471 Raststätte (1994) stellt die Problematik medial vermittelten Erlebens, hier vor allem der Sexualität, in den Mittelpunkt. Die Bühne - nicht als dreidimensionaler Schauplatz eines fiktiven Geschehens, dessen vierte Wand mühelos hinzuzudenken ist, sondern als frontal zu betrachtende »AnbHckfläche«, 472 deren eingestanden einziger Zweck es ist, gesehen zu werden - fordert deutlich den Zuschauer als Koproduzenten, auch wenn Jelinek wiederholt betont, sie stelle sich beim Schreiben keinen Rezipienten vor. In Totenauberg wird das Publikum nicht nur durch die Cheerleaderinnen angefeuert (S. 60), auch die mannigfaltigen Aufforderungen »Hören Sie!«, »Schauen Sie!«, »Sehen Sie!«, die binnenfiktional verhallen, haben schließlich als einzigen Empfänger das Publikum, dessen Wahrnehmung von dieser Art des Theaters gefordert ist. Theater wird produktiv strapaziert 470 471
472
Werner Fuld: »Heidegger endet im Skihotel«, FAZ, 23.7.1991. Vgl. hierzu und im folgenden Ulrike Haß; »Grausige Bilder. Große Musik: Zu den Theaterstücken Elfriede Jelineks«, Elfriede Jelinek (Text + Kritik N D 117). Redaktion: Frauke Meyer-Gosau, München, 1993, S, 21-29. Ibid. S. 28.
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in seinen grundlegenden Funktionen als »Ort der Sprache, Ort der Bilder«:471 Da diese Sprache und diese Bilder nicht die »Wirklichkeit« abbilden, die wir alltäglich wahrzunehmen glauben und die uns von den herrschenden Diskursen und Medien vermittelt wird, ist es ein Theater, das beim Publikum neue Wege nicht nur des Denkens und Sprechens, sondern auch der Wahrnehmung freizulegen versucht.
Rainald Goetz: Festung Sechs Jahre nach Erscheinen von »Krieg«474 legt Rainald Goetz mit »Festung« 1992 wiederum eine Trilogie vor, die als Fortentwicklung und Radikalisierung seiner ästhetischen Methode aus »Krieg« gelten kann, wobei »Festung« deutlich die auto-intertextuellen Relationen beider Trilogien durch markierte Intertextualität etwa in Zitaten aus dem früheren Text, Anspielungen und strukturellen Entsprechungen zu »Krieg« herstellt, die Gerneinsames und Trennendes verdeutlichen. Schon Heiliger Krieg, der erste Teil der Trilogie von 1986, wurde zunächst für unspielbar gehalten und wegen seines Verzichts auf eine Gesamthandlung, auf Szenenanweisungen und individuelle Charakterisierung der Figuren einerseits, wegen des epischen Charakters der zahlreichen Akt- und Szenentitel andererseits, auch nach der Uraufführung noch als »Nicht«Slück bezeichnet. 475 Die beiden übrigen Teile von »Krieg« bereiteten der Tageskritik weniger Schwierigkeiten, schienen doch mit Schlachten ein Familien- und mit Kolik ein Monodrama (Monolog eines Trinkers) vorzuliegen, die in der Tradition eines Thomas Bernhard beziehungsweise Samuel Beckett stehen. In »Festung« hat der Autor nun die Möglichkeiten dafür, daß seine Theatertexte als Dramen (miß)verstanden werden, von vornherein reduziert, er fährt da fort, wo »Krieg« geendet hatte, verzichtet auf 47i 474
475
Brigitte Landes: »Zu Elfriede Jelineks Stück Krankheit oder Moderne Frauen«, Fürs Theater schreiben, Bremen, 1986, S. 89-95, Zitat S. 92. Die Titel »Festung« und »Krieg« werden hier in spitze Klämmerchen gesetzt, wo von der Trilogie als ganzer die Rede ist, im Unterschied zu ihrem zweiten bzw. ersten Teil Festung und (Heiliger) Krieg. Außerdem wird zur Bezeichnung der einzelnen Textabschnitte die Gliederung in Akte, Szenen und Bilder übernommen, die in Fesiung selbst eingeführt wird (S. 204). Die einzelnen Textabschnitte werden mit Ziffern bezeichnet, deren erste (römische) den Akt, die zweite die Szene und die dritte das Bild angibt. Dieter Gerber: »Die Welt ist ein Dreck, es lebt einzig der Tod«, Bonner General-Anzeiger, 12.10.1987. 211
»dramatische Ablenkungen«. Das Wort selbst ist zum Akteur geworden.476 Dadurch werden für die Analyse Ergebnisse einer eingehenderen Beschäftigung mit »Krieg«*11 interessant, die ergeben haben, daß Goetz' Theatertexte als »Sprechereignisse« behandelt sein wollen, deren Sprache Sinn nicht transportiert, sondern ist, daß Goetz seine Stücke nicht nach dramatischen Prinzipien aufbaut, sondern die Gestaltung seines Materials ästhetischen Methoden der Musik und der bildenden Kunst (Pop Art, Konzeptkunst) nachempfindet, wobei er expressiv-vitalislische Ansätze durch die Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien und formale Strenge ausbalanciert - und daß die einzelnen Teile keinesfalls den Blick auf den »Integraltext« der Trilogie und auf den »Veröffentlichungszusammenhang« 478 (für »Festung«: die drei Bände 1989 und Kronos) verstellen dürfen, auf dessen »abstrakter« Ebene sich erst »Sinn« erschließt.479 Als Radikalisierung von »Krieg« stellt »Festung« einen Extremfall der kritischen Nutzung dramatischer Form dar. Auf Regieanweisungen und durchgehende Handlung wird völlig verzichtet (in der Fernsehshow aus Festung läßt sich maximal ein Rahmen erkennen), die ersten beiden Texte, Kritik in Festung und Festung, sind nach Vorbild von Heiliger Krieg durch ein nun perfektioniertes System von Titeln strukturiert, der monologische Textblock Katarakt ist nur durch Ziffern und die jeweilige Anführung des Sprechenden {»Alter«) in elf Abschnitte gegliedert. Der traditionelle »Nebentext«, durch das konsequente Fehlen von Regieanweisungen4SO auf Titel, Orts- und Zeitangaben sowie Personenverzeichnis und Sprecherbezeichnungen reduziert, liefert nur Rudimente des Dramas. Er ist unkonventionell, irreführend, zeitweise fast parodistisch eingesetzt und erfüllt seine ursprüngliche Funktion kaum mehr. Tatsächlich sind etwa die Namen und damit die Figuren in Festung zumindest teilweise »auswechselbar, obwohl nicht belie-
476
Hubert Winkels:»The Texas Chainsaw Textmassacre«, TH, H. 13/1988, S. 6167. 477 Zu »Krieg«: Richard Weber: >»...noch KV (kv)< Rainald Goetz: Mutmaßungen über Krieg«, ders. (Hg.) 1992, S. 120-148, sowie Winkeis 1988. 47 s Weber: »>...noch KV (kv)c Rainald Goetz,..«, 1992, S. 125. 479 Dietz-Rüdiger Moser (Hg.): Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, aktualisierte Ausgabe, München, 1993, S. 402f. 480 In markierter Intertextualität wird ajf diese Entwicklung hingewiesen, wenn im letzten Bild des ersten Teils (das mit dem Titel »Eos« den Beginn des Neuen kennzeichnet und ausdrücklich zu Festung überleitet) demonstrativ Regieanweisungen aus Kolik und Schlachten dem Text der Repliken einverleibt werden: Kritik in Festung IH.5.3, S. 92,
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big«:481 teere Masken, die nicht für wirkliche Menschen stehen, sondern so hohl sind wie ihr Gerede, welches als Zitatcoilage weniger die Stoffe denn die Formen des öffentlichen Sprechens in den Medien liefert (vgl. auch 1989). Auch für Kritik in Festung ist nicht sicher, ob die noch vor den »drei Brüdern«, der »Schwester« und dem »Alten« genannten »Stimmen und Gesichter« (S, 12) die Chore am Anfang und Ende des Theateitextes (S. 15 und 91 f.) beschreiben, oder ob damit bedeutet wird, daß die nur scheinbar individuellen Familienmitglieder auch als anonyme Stimmen und Gesichter der Chöre in Erscheinung treten. Die Ungewißheit der Identitäten (vgl. das Bild »Phobia Phobia«, 1.1.9, S. 31), die verstärkt bei den drei gleichermaßen mit «Bruder« bezeichneten Figuren zum Tragen kommt und die Suche nach Rollenfiguren aussichtslos macht, die jenseits der Besetzung mit unterschiedlichen Schauspielern und des rein musikalischen Effekts der Mehrstimmigkeit Bestand hätten, wird im Text selbst formuliert: In Anspielung auf einen Darsteller der Bonner Uraufführung von Krieg wird der Wunsch geäußert, die drei Brüder sollten einfach die Namen der Schauspieler tragen, welche sie darstellen (111.4,2, S. 85/S6).482 Die wenig später folgende Differenzierung der drei Brüder, die durch Abstrakta charakterisiert werden (S. 87), bezeichnet konsequenterweise eher Prinzipien des Denkens und Sprechens als Rollen im herkömmlichen Sinne. In Katarakt schließlich wird mit der Bezeichnung des Protagonisten als »Alter« bewußt die Frage offengelassen, ob damit (figurativ) >der Alte< gemeint ist (wie man ihn aus den ersten beiden Teilen der Trilogie kennt), oder aber (abstrakt) >das Alten als Allegorie (vergleichbare Gestalten wie »Daheim«, »Haß« oder »Vergessen« finden sich in Festung)4^ oder schließlich >alterandereegoAlter< sind zahlreich: Schon im Titel (der/die Katarakt) wird mit der Polysemie des vom Artikel isolierten
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Wie die Rudimente der Figuration, so sind auch raumzeitliche Situierung und Reste einer rahmenden Handlung nicht im dramenüblichen Sinne eingesetzt. Katarakt verzichtet auf jegliche Rudimente auch der Narration: Regieanweisungen und eine raumzeitliche Definition fehlen völlig, die Sprechsituation bleibt abstrakt. In Kritik in Festung und Festung stellen die Titel und Untertitel der Stücke, die einführenden Hinweise zu Ort und Zeit (S. 12 und 98) sowie die Mottos keine Schauplätze oder Themen im gewohnten Sinne vor - eine wörtliche Lesart der Anweisungen läßt sich kaum durchhalten -, sondern etablieren vielmehr nach Art dramaturgischer Scharniere Bezugssysteme, Assoziaüonsfelder und Stoffbereiche und legen so Spuren, die im weiteren Verlauf der Texte systematisch von anderen historischen Daten und Plätzen, von Begriffen und Zitaten ergänzt und gekreuzt werden, bis ein mehrdimensionaler Referenzraum entsteht, in welchem die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Kombination des Unzusammenhängenden und Paradoxen neue Perspektiven öffnen, die mit einem eindimensionalen Zeichenbegriff nicht mehr erfaßbar sind. Dies geschieht sowohl im Text der Repliken als auch durch das dichte Geflecht aus Titeln der einzelnen Akte, Szenen und Bilder, welches diese Texte strukturiert und einen zusätzlichen »Text« erzeugt, der über oder hinter den gesprochenen Repliken liegt. Dabei sind die Titel sowohl mit dem Text der einzelnen Szenen als auch untereinander verknüpft, durchaus über die Grenzen der verschiedenen Ebenen, der Akte, ja der Stücke hinweg. Es kann nicht darum gehen, den »Bedeutungen« der verschiedenen Konstituenten dieses Referenzraums und ihren Verbindungen im einzelnen nachzugehen. Versuche, von den Worten auf das Bezeichnete zu schließen, müssen scheitern: Zu komplex ist das Geflecht aus philosophischen, ästhetischen, historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Anspielungen und Zitaten, die in Kritik in Festung noch verschlüsselter eingesetzt sind als in Festung und die Themenfelder vom Krankheitsbild der Schizophrenie bis zu philosophischen Theorien (wobei Hegel, Adorno und Luhmann nur Schwerpunkte darstellen), von Medienpraxis und Kunsttheorie bis zu äußerst privaten Erlebnissen anreißen. Ebenso wie die oben bereits erwähnte Vielzahl an Figuren in Festung, die zumeist prominente Namen aus den Bereichen Medien, Wissenschaft, Philosophie, Kunst/Kultur, Politik und Wirtschaft trasprachlichen Zeichens gespielt, die Figur »Alter« wird neben »der Alte« bereits in Festtmg (I.Akt) eingeführt, und in der Passage über Katarakt m Kronos, vermeidet es der Autor peinlich, von »dem Alten« oder »ihm« zu sprechen und ersetzt statt dessen die »erfundene Figur« »Alter« ausschließlich durch weibliche Pronomina (Kronos S, 37 If)· 214
gen, wirft diese schier unerschöpfliche Flut von Verweisen auf mögliche Bedeutungen die Frage auf, ob und wie diese sernantische Fülle auf dem Theater noch vermittelbar oder funktionalisierbar ist. Tatsächlich ist eine Analyse, welche die semantischen Referenzen der Sprache verfolgt, maximal ein erster Schritt auf dem Weg zum »Verständnis« von »Festung«. Wie oben erwähnt, ist es unerläßlich, jenseits der Einzelteile in der Trilogie »Festung« einen »Integraltext« zu erkennen. Nur durch ihre Funktion hinsichtlich dieses Integraltextes sind die einzelnen Stücke zu verstehen,485 so daß die Annäherung ans Gesamtkonzept einer Detailstudie einzelner Szenen und Bilder vorzuziehen ist. Der Zusammenhang mit ästhetischer Theorie und Praxis anderer Bereiche der Kunst kann hier nur angedeutet werden, es sei aber ausdrücklich - wie es auch der Autor in seinem Text immer wieder tut - auf die Künstlergruppe um Albert Oehlen, deren Maierei man wohl als »kritische Nutzung« der Gegenständlichkeit bezeichnen darf, und Begleittexte486 verwiesen, insbesondere auf einen Aufsatz Diedrich Diedrichsens, der 1992 deren Ästhetik als »chaotisches Bedeutungstheater« charakterisiert, und dessen Befunde verblüffend problemlos und gewinnbringend auch auf Goetz' Texte zu beziehen sind, so etwa seine Formulierungen vom »Zusammenbrechen der Semantik« unter dem Druck des »übervölkerten semantischen Raums« und seine Feststellung, diese Ästhetik sei zugleich ausgesprochen hermetisch und unmittelbar zugänglich. 487 Folgt man Spuren, die der Autor quer durch alle drei Teile der Trilogie legt (hier wurde ausgehend von Niklas Luhmann, auf dessen Systemtheorie 485
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Die Einbindung in den Veröffentlichungszusammenhang mit den drei Bänden der »Zeitmitschrift« 1989 und mit Kronos beschränkt sich hier, bedingt durch die Fragestellung, auf wenige Verweise, insbesondere auf die KVwios-Texte seit 1985/86, als Goetz während seines Berlin-Stipendiums mit der Arbeit an Fesjung begann. Hinweise auf den engen Zusammenhang gerade dieser Texte mit der Trilogie geben u.a. die Verwendung der (Unter-)Titel »Kronos«, »Kadaver« und »Kosmos« auch in Festung, »Angst« in Kritik in Festung und das Auftauchen der Überschrift »Ästhetisches System« aus Kronos im Text \onKatarakl (S. 259). Insbesondere die gleichnamigen Publikationen zu den Ausstellungen von Werner Büttner, Martin Kippenberger und Albert Oehlen (»Wahrheit ist Arbeit«, Essen: Museum Folkwang, 1984 und »Malen ist Wahlen«, Kunstverein München, 1992), zu denen Goetz jeweils einen Text beisteuerte, sowie Peter Pakeschs Beitrag: »Im Widerstreit von Ideen« in Albert Oehlen. Der Übel, Graz, 1987, Umschlaginnenseite. Diedrich Diedrichsen: »Virtueller Maoismus: Das Wissen von 1984«, Malen ist Wahlen, München, 1992, S. 31-38. 215
»Festung« deutlich in allen drei Teilen verweist, besonders den Begriffen Kommunikation, Blindheit/blinder Fleck und Latenz nachgegangen), so läßt sich mit Bezug auf den Integraltext feststellen, daß der Kern der Trilogie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Material, der Sprache, ist. Es geht (wie so oft bei Goetz, dem der Widerspruch von Wort und Wirklichkeit auch im Prosawerk zentral ist)488 um die Erkundung der Möglichkeiten, die verschiedenen Pole des >logos< - Denken, Rede, Schrift, und damit Vorsprachliches, gesprochenes und geschrieben Wort - zur Deckung zu bringen oder einander zumindest maximal anzunähern, um Wirklichkeit zu erfassen. Es geht, kurz gesagt, um die »Belagerung der Festung Wahrheit«489 mit den Mitteln der Sprache. Da Goetz sich dieser Fragestellung autoreflexiv über die Frage der Sinnkonstitution auf dem Theater annähert, trägt der Text stark metatheatralische Züge, was verständlich wird, wenn man von der Modellfunktion des Theaters als Ort semiotischer Praxis ausgeht. Goetz, der immer wieder ausdrücklich die Position des Komrnunikationspessimismus (im traditionellen Sinne von Kommunikation als zwischenmenschlicher Verständigung) vertritt, beschreibt das »Problem der Sprache« in seinem für das Verständnis von »Festung« zentralen Text »Kadaver«490 als das Problem »der Ferne, die die Schrift trennt von der Rede«: Was also spricht die Sprache, die das Fleisch spricht, spricht die Rede wirklich mit dem Mund, der im Aussprechen des Arguments weniger das Argument des Arguments, als die Schönheit des wirklich Augenblicklichen des Aussprechens der Rede selbst ausspricht. Sind also Resultate des von einem Him gedachten Denkens mündlich in der Rede mirteilbar, so daß sie in das Denken des in einem zweiten Him gedachten Denkens rein vermittelt werden können als ein diesem Denken fremdes, Resultat des Denkens eines ersten Hirns, und dennoch zugleich gleiches, nämlich Denken. 491
Als unbefriedigende Reaktionen auf das Anliegen, Denken unmittelbar von einem Hirn in ein zweites zu vermitteln, werden im folgenden angeführt: Zitat der Schrift (»ich habe auch schon mal in einem Buch ein Wort aus Buchstaben gelesen«), Abwehr (»AngstAngst«) oder Ausweichen (»erzählt noch einen Witz«).492 Einzige Möglichkeit, das Problem der Sprache zu überwinden, ist laut »Kadaver« ein Absehen von der referentiellen Funktion der Rede und ein Genießen ihrer rein klanglichen Qualitäten als Stimme 488
489 490 491 492
Rainer Kühn: »Rainald Goetz«, KLG, 32. Nlg. (Stand 1,4,1989), S, 2,
Rainald Goetz, zii. in: Deutsches Schauspielhaus in Hamburg (Hg.): Festung (Programmheft), Hamburg, 1994,5, 14. Goetz: Kronos, FfM, 1993, S.229-244. Ibid. S. 235. Ibid.
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lebender Menschen, was natürlich zur traurigen Folge hat, daß sich die Partner für Gespräch, Argumentieren und Gedankenaustausch auf »Leichen [...], die als Bücher um den Schreibtisch sitzen« reduzieren, also auf die »stumme Rede, Schrift, das Toteste«.49i Die Formulierung »AngstAngst« aus diesem 1987 erstmals erschienenen, durch die Veröffentlichung in Kronos aber in engen Zusammmenhang mit Festung gestellten Text evoziert den ersten Teil der Trilogie, wo man diese Formel unter anderem in der griechischen Übersetzung »Phobia! Phobia!« als Motto wiederfindet. 494 Angst als »Textangst«, 49i als (im Extremfall pathologische) Angst vor dem Scheitern an dem unüberbrückbaren Unterschied zwischen Denken und Sagen bzw. Schreiben, ist der Ausgangspunkt dieser Trilogie, die im Theater Wege zu erkunden sucht, diese Angst zu überwinden. Kritik in Festung und Festung lassen dem Rezipienten über weite Strecken durch Dekontextualisierung von Gesprächsfetzen und konsequente Verweigerung erkennbarer externer Referenzen der Sprache gar keine andere Wahl, als nur auf klangliche Qualitäten der Sprache zu hören, was zwar ästhetischen Genuß bereiten kann, aber zu unbefriedigender Sinnleere führt. Sinnleere wird auch vom unaufhaltsamen Gerede produziert, das eine vom Rezipienten nicht mehr zu bewältigende Überfülle von Referenzen aufruft. Demgegenüber steht eine andere Form der Sprache, die vor allem im (auch für die Gesarnttrilogie) zentralen dritten Akt von Festung zu Wort kommt und sich vor dem Hintergrund der Taikshow abhebt: nicht nur als monologisches Sprechen - monologische Partien gibt es in Festung als Berichte, Statements, Selbstdarstellungen auch auf der Ebene der Fernsehdiskussion -, sondern auch als Form nicht gebundener Rede - die übrigen Texte sind nach Art eines Prosagedichts rhythmisiert - und, durch ihren Sprachduktus, vor allem als Schriftsprache im Gegensatz zum Gerede. Solche Prosatextblöcke markieren in Festung auch außerhalb des dritten Aktes als Beschreibung von Träumen und Visionen oder in ausgesprochener Autoreflexion immer Brüche im Fortgang der Fernsehshow und werden stets von Figuren vorgebracht, die mit dem Medienbereich nicht unmittelbar zu tun haben (neben der Figur des Mnemopath: der britische Mathematiker Roger Penrose sowie der »Schriftführer« und Peter Weiss). Gegen die Rede wird so das Prinzip der (»toten«) Schrift gesetzt. 4W 494
495
Ibid. S. 236. In Kritik in Festung taucht der Begriff >Angst< außerdem in zwei Titeln des ersten Aktes (1.1.10 und 1.1.12, S. 31 und 33) auf und betitelt als »Phobia« ein weiteres Bild (1.1.9, S. 31). Rainald Goetz: »Angst«, Kronos, 1993, S. 299.
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Die hervorgehobene Position dieses Aktes - als Zentrum des mittleren Teils und damit auch des Integraltextes - wird nicht nur durch seine besondere sprachliche Gestaltung, sondern auch vom Autor selbst akzentuiert. Der autoreflexive Monolog der Figur Rainald zu Beginn des zweiten Aktes lenkt nämlich das Augenmerk auf den dritten Akt, indem er ihn mit dem Begriff des Nichts in Verbindung bringt: das würde ja fast keinem auffallen wenn beispielsweise der dritte Akt so brutal und superdicht verdichtet wäre daß da nach dem zweiten nicht nur fast nichts stünde oder wirklich überhaupt tatsächlich nichts sondern daß der ganze dritte Akt ganz weg wäre was das hieße für das Ganze in der Mitte Leere also wirklich nichts konstruktiv gesehen inhaltlich egal (S. 157).
Es fällt auf, daß im dritten Akt nach Filip Müller, der als nun seiner Anonymität entledigter »Zeuge« aus dem zweiten Akt überleitet, ausschließlich Allegorien, also Personifikationen von Abstrakta (»Faktor Zeit«, »Sommer«, »Daheim«), die ausgesprochen persönlichen, in Ich- und Wir-Form gehaltenen Texte sprechen. Wenn auch auf der Bühne nur schwer (etwa durch technische Vermittlung der Texte unter Verbannung des menschlichen Körpers von der Bühne) zu realisieren, muß doch die Tatsache betont werden, daß dadurch die Abwesenheit des »Ich« hervortritt, die der Abwesenheit der von Filip Müller zitierten Toten korrespondiert, und daß diese Leere eine Erklärung findet in den Titeln dieses Aktes, die allesamt unmittelbar auf die Vemichtungsmaschinerie der Konzentrationslager anspielen. Ergänzt werden diese Texte von Erscheinungsformen der Musik: von »Lied«, »Plattenspieler« und »Flügel«, die gegen Ende (III.3), dominant werden, während sich zugleich Syntax und symbolische Ordnung des Prosatextes auflösen zugunsten einer expressiv zerrissenen, unvollständig bleibenden, Sinn maximal noch über Konnotationen und die assoziative Ergänzung der Lücken durch den Rezipienten vermittelnde Sprache, Auf eine Poetik des Integraltextes bezogen läßt sich feststellen, daß hier, im Zentrum der Trilogie, versucht wird, die Unzulänglichkeiten der sprachlichen Vermittlung, die im ersten Teil deutlich ausgestellt werden, durch Abstraktion der Spree he rinstanz und Wendung zur Schrift zu bewältigen, deren Strenge und Unbelebtheit durch Ergänzung um musikalische Elemente aufgelockert erscheinen.
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Wie noch zu zeigen sein wird, steht mit Katarakt am Schluß der Trilogie ein Versuch, quasi vorsprachliches (»latentes«, unbewußtes) Denken hörbar zu machen und den direkten Weg zwischen zwei Hirnen über den Monolog jetzt als (lebendige) Rede, nicht als tote Schrift zu finden. Übrigens finden sich schon in Kritik in Festung und Festung Anklänge an dieses unmittelbar zur Sprache gebrachte Denken, so scheinen in den Monologen des Alten (im zweiten Akt von Kritik in Festung, besonders deutlich in II.2.2, wiederum einem zentralen Bild) immer wieder auch typische Sprachfiguren des »Alter« durch, und der erste Monolog der Figur »Alter« findet sich, ganz im tfö/arafo-Sprachduktus, bereits in Festung (Festung 1.3.2, S. 124-128). Daß dieser Versuch, Denken in seiner Entstehung darzustellen, sich seinem Ziel allenfalls annähern kann, liegt in dem Paradox begründet, daß das Material doch immer die Sprache bleibt (zumal Goetz auf die Gestaltung nichtsprachlicher Zeichen der Bühne in Regieanweisungen völlig verzichtet) und daß, wie es in einer Passage aus Festung heißt, die sich offensichtlich auf Katarakt bezieht, die Worte herrschen über alles was aus Worten ist wie wörtliche Gedanken und der Geist des Wortbenutzers der den Worten unterliegt die ihn benutzen nicht er sie (IV.2, l, S, 181).
Daß die größtmögliche Annäherung aber gelingt, ist der Umfunktionierung dieses traditionellen Materials, dem konsequent assoziativen, poetischen und autoreflexiven Einsatz der Sprache in »Festung« (als mehrdimensionales intertextuelles Verweissystem, als Musik, als Rede unter Nutzung ihrer serniotischen Qualitäten) zu verdanken. Das Ergebnis ist in Katarakt ein zur Sprache gebrachtes Denken im Moment seiner Entstehung, unmittelbar aus der »Dunkelkammer«, in welcher die Worte »rumtasten im Augenblick /ihrer Entstehung /in den Nichtwortweiten [...]« (Festung IV.2.1. S, 181). Dieses Sprechen erreicht durch seine weitgehende Befreiung von den Konventionen der informationsvermittelnden Kommunikation höchstmögliche »Wahrheit« der Rede, die, auf der Bühne gesprochen, vor allem sie selbst ist, Rhythmus, Klang, Atem, Hirnströme: eine Musik des Denkens. Damit hat das Sprechen die Sprache, hat die Musik die Bedeutung, hat das Mitschwingen das Verstehen abgelöst. Auch dieses poetische Prinzip ist bereits im ersten Teil der Trilogie formuliert, wenn der Alte im Bild »What is noise« (!), das die »Theoretisches Theater« betitelte zweite Szene des zwei-
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ten Aktes beschließt, in einem Sprachduktus, der schon auf Katarakt verweist, sagt: KUNST [..,] das ist doch ganz einfach ist Irritation die genau nicht irritiert sondern Mitschwingen mitbringt praktisch automatisch weil man alles kennt was sie derart in sich birgt und variiert bewegt So wird aus dem dramatischen Theater ein theoretisches, abstraktes,496 das nun tatsächlich ausschließlich im Zwischenbereich von Produktion und Rezeption existiert. »Festung«, so der Autor über die Trilogie, »spielt im Theater und ist Kommunikation« (S. 2). Dieser scheinbar banale Befund faßt Wesentliches zusammen: »Festung« stellt nichts dar, sondern ist Kommunikation, und zwar - durch den expliziten Hinweis aufs Theater betont - vor allem ästhetische, externe theatrale Kommunikation, Binnenfiktional ist die »Kommunikation« über weite Strecken der ersten beiden Teile nur formal als dialogische Form vorhanden. Die Texte lesen bzw. hören sich wie Stimmen einer musikalischen Partitur, weniger dialogisch als polyphon, immer wieder unterbrochen von Passagen in monologischer Form, bis im dritten Teil schließlich nur noch Monolog herrscht. Durch das daraus resultierende Scheitern traditioneller Verstehensabsichten und durch die dichten metatheatralen Hinweise vor allem im einführenden ersten Teil wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten umorientiert und geöffnet für eine andere Art der Kommunikation, die auf den Prinzipien von Suggestion, Evokation und Musikalität aufbaut. 497 496
497
Diese Begriffe bemüht Goetz selbst mehrfach in »Festung« (besonders im ersten Teil, den er ja als »abstraktes Familienstück« kennzeichnet) auf verschiedenen Textebenen, so beispielsweise im Szenentitel »Theoretisches Theater« (Kritik in Festung II.2, S. 49) und im Sprechen des Alten über Theater (Kritik in Festung H.3.3, S, 67); aber auch in Festung wird festgestellt, es handle sich um ein »abstraktes Bild« (so auch der Titel dieses Bildes: S. 223), »gemacht aus Worten«: V.4.3, S. 227, Hierin vergleichbar der poesie pure moderner Lyrik, wie sie Niklas Luhmann und Peter Fuchs beschreiben: »Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte: Zur Ausdifferenzierung der modernen Lyrik«, Reden und Schweigen, FfM, 1989, S. 138-177.
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Luhmann zufolge498 sind Kommunikationen für das soziale System das, was Gedanken für das System des Bewußtseins sind: Als Ereignisse bilden sie - und nicht die menschlichen Individuen - die basalen Elemente, aus denen sich die jeweiligen Systeme konstituieren. Kommunikation als nichtlineares Zusammenspiel dreier gleichberechtigter Selektionen (Information, Mitteilung und Verstehen)499 wurde in der archaischen Gesellschaft noch ausschließlich als direkte persönliche Begegnung (face-to-face interaction) vollzogen und somit als Identität von Interaktion und Gesellschaft erlebt. Mit der zunehmenden Differenzierung zwischen unmittelbarer Interaktion einerseits, die auf der Zeitgleichheit von Sprache und Wahrnehmung besteht und im Verlauf der sozialen Evolution weitgehend in den familiären Bereich zurückgedrängt wurde,500 und repräsentationaler Gesellschaft bis hin zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft andererseits, löst sich die Kommunikation zunehmend vom Menschen. Dabei wird die Unterscheidung von (sachlicher) Information und (sozialer) Mitteilung konstitutiv. Gesellschaft ist für Luhmann - und hier ist wohl das Zentrum von Goetz' Interesse an Luhmanns Übertragung der Systemtheorie auf die Soziologie anzusiedeln - als dauernder Versuch interpretierbar, das Problem der Unmöglichkeit absoluter Verständigung zu lösen; ein Versuch, der sein eigenes Problem in Form seiner Elemente (Kommunikationen) ständig reproduziert. Für die Aufrechterhaltung (Selbstreproduktion, Autopoiesis) der Gesellschaft wird bedeutend, daß Kornmunikation sich selbst mit Hilfe der Zuschreibung (Attribution, d.i. Setzung einer Sender-Empfänger-Relation) als Handlung beschreibt (»beobachtet«) und dadurch die »Daueranregung« des sozialen Systems »durch Sinnüberflutung« 501 in eine handhabbare Form bringt: als Prozeß von Anschlußhandlungen mit definierten Verantwortlichkeiten, Kommunikation alleine dagegen, also ohne ihre Selbstbeschreibung als Handlung, »hält alles in der Schwebe; man kann zurückfragen, zögern, 498
499
500 501
Luhmanns Übertragung der Systemtheorie auf die Systeme Bewußtsein, Gesellschaft und auf Kunst als Subsystem des sozialen Systems im folgenden nach Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur: Ein neues Paradigma, Opladen, 1990; Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, FfM, 1990 (zit. als Luhmann 1990b); ders.: »Weltkunst«, Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Bielefeld, 1990, S. 7^16 (zit. als Luhmann 1990a). Peter Fuchs/Niklas Luhmann: »Blindheit und Sicht: Vorüberlegungen zu einer Schemarevision«, Reden und Schweigen, FfM, 1989, S, 178-208 (zit. als Fuchs/Luhmann I989a). Vgl. auch Schwanitz 990, S, 76-82. Schwanitz 1990,5, 119-122: »Interaktionsgrenzen«. Schwanitz 1990,5.77.
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langsam begreifen, und solange diskutiert wird, ist nichts entschieden«. 502 Kommunikation ist in der Systemtheorie aiso unabhängig von einem »Informationen übertragenden Mitteilungshandeln« als autopoietisches, also selbstreferentielles Geschehen begreifbar,503 und diesen radikalen theoretischen Ansatz scheint Goetz in ästhetische Praxis umzusetzen: Nur in diesem Sinne ist »Festung« Kommunikation, wobei der gesellschaftliche Mechanismus der Attribution sich im problematisierten Prinzip der Figuration besonders in Festung spiegelt. Die Chance, welche die Kunst angesichts dieser Kommunikationspraxis heute bietet, liegt darin, daß Kunstwerke »Kommunikationsprogramme« 504 sind und kontingente Wege der Kommunikation (im Sinne Luhmanns) erkunden können. Dabei kann die als unzureichend empfundene Kommunikation nicht nur durch Selbstreferenz i al it at des Dramas reflektiert werden,505 vielmehr kann ein postdramatischer Theatertext, wie jede andere Form von Kunst auch, »Weltkontingenz herstellen«, 506 kann also die Normalrealität mit noch offenen Möglichkeiten konfrontieren, die im Falle von »Festung« Alternativen der Sinnkonstitution durch Nutzung von Sprache und Theater jenseits ihrer Repräsentationsfunktion sind. Botschaften werden durch den Text nicht transportiert, sondern eigentlich erst erzeugt,507 Der Sinn des Integraltextes ist somit auch durch akribische Detailanalysen nicht zu erschließen, soweit sie auf Verstehen von Bedeutung abzielen und etwa die körperliche, die semiotische Dimension, den Ereignischarakter und den für die suggestiv-musikalische Wirkung und für den »Sinn« des Textes bestim-
502 503
Ibid. S. 78.
Fuchs/Luhmann 1989a, S. 200. Schwamtz 1990, S. 254. 505 Djes konstatiert Schwanitz (ibid.), der den Repräsentationscharakter als Wesen des Dramas voraussetzt und unzulässig das solchermaßen eng definierte Drama mit Theater gleichsetzt. 506 Ibid. S. 253. 507 Pe(er Gendoila nennt Goetz in einer Reihe mit Raymond Roussel und Franz Kafka als Vertreter einer Literatur, die durch das Material ihrer Nachricht selbst und »zunächst ganz unabhängig von ihrer Bedeutung, oder sogar weil diese nicht gleich erkannt werden kann«, gewisse Reaktionen (in Gendollas Beispielen Schmerz) hervorruft: Peter Gendoila: »>Der übrige Körper ist für Verzierungen bestimmte Über die Kunst der Einschreibung und den Sinn der Nachricht (Raymond Roussel, Franz Kafka, Rainald Goetz)«, Schönheit und Schrecken: Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien, hg.v. Peter Gendoila und Garsten Zelle, Heidelberg, 1990, S. 145-66, Zitat S. 145. 504
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rnenden Faktor Zeit508 - der nicht umsonst in »Festung« immer wieder thematisiert wird, Reden und Denken strukturiert und sogar zu Wort kommt außer acht lassen, und mit ihnen die Komponente des Nichtverstehens, der Leerstellen, der Desorientierung, die der Rezeptionssituation im Theater wesentlich ist. Sinn als das gemeinsame »Programm« psychischer und sozialer Systeme wird in der Systemtheorie definiert als »Alterität«, als die Wahrnehmung von alternativen Möglichkeiten, und besitzt - im Unterschied zur Information - eine zeitliche Dimension und prozessualen Charakter. Die Leerstellen werden in Festung von »Mnemopath« und »Obdachlose« vielfach thematisiert, sind als Nicht-Gesagtes, Nicht-Gehörtes, Nicht-Gedachtes und Nicht-Gesehenes aber auch in Begriffen wie >StilleRuheVergessen< und >Leere< sowie in den zahlreichen Satzabbrüchen und Sinnlücken in allen drei Teilen präsent. Das Anfüllen dieser Lücken ist dabei durch die Prinzipien der Assoziation und Evokation radikal an den einzelnen Rezipienten delegiert. Wie schon in »Krieg«, so ersetzt auch hier das deliberative Prinzip das narrative, verhindert der Autor durch paradoxe Konstruktionen Entscheidungen für eine bestimmte Lesart, »so daß Linearität und Narrativität auch nicht von außen herantragbar sind«.509 Stattdessen ist die Form, sind Sprache (als Kommunikation, als Rede, als Schrift), Struktur, Programm des Textes selbst die Botschaft: Fehlende, im Flimmern paradoxer Konstruktionen ungreifbare oder in ihrer Häufung nicht mehr erfaßbare außersprachliche Referenzen werden durch Autoreflexion ersetzt. Somit geht eine Analyse, die versucht, jenseits der Form der Darstellung ein Dargestelltes zu erschließen, in die Irre: Die Unterscheidung von Mitteln und Zweck wird hinfällig, die Differenz von Form (Selbstreferenz) und Inhalt (Fremdreferenz) ist in der systemtheoretischen Ästhetik der »Zwei-SeitenForm«; aufgehoben, da die Form als Grenze, als Markierung einer Differenz, Welt nicht sichtbar macht (repräsentiert), sondern erzeugt (produziert: präsentiert). Welt aber ist, so Luhmann, zu verstehen als »der blinde Fleck aller Beobachtungen, also das, was man nicht sehen kann, wenn man das, was man beobachtet, mit Hilfe einer bestimmten Unterscheidung bezeichnet«. 510 »Die Funktion von Latenz«, nach Luhmann also die Funktion der von den Kognitionswissenschaften marginalisierten, in der Kunst jedoch zentralen »Möglichkeit, zu beobachten und zu beschreiben, was andere nicht be508
Zum engen Zusammenhang von Zeit und Sinn bietet die Systemtheone interessante Ansätze, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann, vgl. Schwanitz 1990, bes. S. 7!-76. 509 Weber: >»...noch KV (kv)< Rainald Goetz.,.«, 1992, S. 131. 510 Luhmann 1990a,S. 20. 223
obachten können« 51 ' - nämlich Welt -, wird taut Vorbemerkung des Autors Goetz im einführenden »abstrakten Familienstück« Kritik in Festung untersucht, und zwar »in der Maske an der Rolle der Sprache« (S. 2). Wieder müssen die Begriffe vor dem Hintergrund der Systemtheorie betrachtet werden: Der »Äquivalenzfunktionalismus« bezeichnet die Methode, ausgehend von Problemen ihre verschiedenen möglichen Ursachen zu vergleichen. So wird der Begriff der Kausalität, der eine »einlinig gesetzmäßige Beziehung« zwischen Ursache und Wirkung bezeichnet, durch den der Funktion ersetzt, die als regulatives Vergleichsschema nur noch entweder Ursache oder Wirkung invariant hält und somit entweder »verschiedene mögliche Ursachen unter dem Gesichtspunkt einer problematischen Wirkung« oder aber verschiedene äquivalente Mittet zur Lösung eines Problems vergleichbar macht. 512 Wenn also Kritik in Festung die »Funktion von Latenz« untersucht, bedeutet dies, daß die Latenz (das Unbeobachtbare, die »Welt«) das Problem darstellt, für welches hier verschiedene Ursachen und/oder verschiedene Lösungen vergleichbar gemacht werden sollen. Dies geschieht »an der Rolle der Sprache«, womit als Untersuchungsfeld das Material des Theatertextes abgesteckt ist, was zur (erwartbaren) Paradoxie führt, daß der Text die Latenz, die ihm Anlaß und Thema ist, aufheben soll.513 In Kritik in Festung werden Formen der sprachlichen Äußerung daraufhin untersucht, wie sie das zentrale Problem der Nichtdarstellbarkeit von Welt (der Latenz) abbilden oder aber bewältigen können. Das führt dazu, daß in diesem Text so heterogene Motive anklingen wie psychische Krankheitsbilder, die sich in der Diskrepanz von Mitteilung und Information manifestieren (z.B. Schizophrenie),5'4 wie das »Rauschen« der - Authentizität suggerierenden oder authentisch wiedergegebenen - alltäglichen Kommunikation, wie der Traumbericht, wie das pathologische und das egozentrische Monologisieren, wie das Aneinandervorbeireden, wie schließlich die ganz auf Lautfolgen reduzierte Sprache jenseits der Verständlichkeit - und daß der Text immer wieder das Theater selbst reflektiert. Ausgehend also von dieser am Anfang stehenden Verbindung von Sprache und Latenz, erscheint es ratsam, im gesamten Text gerade den Bedeutungslücken der Sprache nachzugehen (dem Nichts, der Stille als dem 511 512 5L1
514
Luhmann I990b, S. 89. Seh w an Uz 1990, S. 38ff, Zitate S. 39. Schwanitz führt dieses Paradox am Beispiel des Erzählens aus: Schwanitz 1990, S. 179f. und 183. Die Psychoanalyse arbeitet gezielt mit der Vermutung latenter Bedeutungen hinter dem manifsten Textsinn, vgl. Fuchs/Luhmann 1989a.
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»blinden Fleck der Wortewelten / Rätsel der Logik«), 515 für die der erste Teil sensibilisieren will. Damit wird auch das »Reden über den deutschen Beschluß zur Vernichtung der Juden« (S. 2) vom Thema zum Anlaß von Festung. Im Kontext herkömmlicher Dokumentarliteratur der 50er und 60er Jahre, wurde vergleichend herausgestellt, daß Goetz hier nicht historische Fakten vermittels ihrer Spuren dokumentiert, sondern daß vielmehr die Art und Weise ihrer medialen Vermittehheit sein Thema ist, die Öffentliche diskursive Praxis ihrer Deutung - eben das »heutige Reden« darüber (zu ergänzen wäre freilich: und die Wahrnehmung dieser medial vermittelten Wirklichkeit). 516 Wie die gesamte Trilogie, so befaßt sich auch der Mittelteil vor allem selbstreflexiv mit den Grenzen des Sag- und Denkbaren, mit dem Ort des Denkens und der Logik der Worte, mit Möglichkeiten der Interaktion und Grenzen von Kommunikation - denn unüberwindliche Kommunikationsschranken werden da errichtet, wo sich die »Beobachter« durch Überwindung der Latenz auf unterschiedliche Ebenen (Reflexionsniveaus) differenzieren, wenn »ein Beobachter beobachten kann, was ein anderer nicht beobachten kann«, 517 Die mörderische Eigendynamik gesellschaftlicher Kommunikation, die durch pausenloses Reden und Scheinreferenzialität die Wahrheit nur noch verbirgt, bildet Goetz durch geschicktes Arrangieren und Collagieren authentischer und Authentizität vortäuschender Sprachpartikel hyperbolisch nach, deren Echtheit als Wirklichkeitszitate in der Fiktion zugleich behauptet und durch ihre offensichtliche Konstruktion vernichtet wird. Ihr wird neben dem subtilen, in der Zeit situierten Verweisungsspiel einzelner Begriffe, das dem Denken Freiräume schafft, ein von außersprachlichen Referenzen möglichst emanzipierter, poetischer, musikalischer Gebrauch der Sprache entgegengesetzt. Der potentielle Ort der Wahrheit liegt nicht im traditionell kommunikativen zwischenmenschlichen Umgang - etwa im 515 Sln
517
Der Alte, Kritik in Festung 11.3.2, S. 64. Hans-Edwin Friedrich: »Dokumentarliteratur in den 90er Jahren. Walter Kempowski, Das Echolot, und Rainald Goetz, Festung«, München, Institut für deutsche Philologie, 24.7.1995, im Rahmen der Ringvorlesung »Deutsche Gegenwartsliteratur« (Gedächtnisprotokoll). Dieser Vortrag wies auch nach, daß das offensichtliche Gestaltungsprinzip der Selbstreferenz sich nicht nur theoretisch aus der Systemtheorie Luhmanns speist, sondern auch Anregungen aus Autoreflexion in der ästhetischen Praxis zeitgenössischer Musik aufnimmt, worauf diverse Textstellen verweisen, die als Zitate aus Texten der HipHopund Rave-Musik identifizierbar sind. Luhmann 1990b,S. 502.
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»heutigen Reden über den deutschen Beschluß zur Vernichtung der Juden« (S. 2) -, sondern im Reich der Logik. Der dunkle Ort des reinen Denkens im Bewußtsein des einzelnen, für Goetz einzig verläßliche Realität, 518 ist Zentrum und Ziel von »Festung«. Eine Möglichkeit, die Spannung zwischen unaussprechlichem Denken des Hirns und »rasendem Geplapper« der Rede aufzuheben, deutet der Autor in seinem Text »Soziale Praxis« an: Am besten müßte man vermutlich für Bedingungen sorgen, unter denen diese gegensätzlichen Zustände in einer vernünftigen Frequenz oszillieren. S|t>
Die Möglichkeit zur Realisierung solcher Bedingungen besteht im Theater. Mit der spezifisch theatralen Zeitgleichheit von Information, Mitteilung und Verstehen verfügt der Autor hier über eine Nische der Interaktion520 im Kommunikationszeitalter: Der Theatertext oszilliert zwischen Schrift und Rede. Im Theater wird durch die zeitlich festgelegte einmalige Rezeptionssituation außerdem eine Oszillation der Wahrnehmung zwischen Beobachtung erster und zweiter Ordnung, also zwischen naiver, direkter, authentischer Erfahrung und reflexiver Selbstbeobachtung dieses Prozesses, geradezu erzwungen. Beide Ebenen, die der Unmittelbarkeit und die der Universalität, gehören nach Luhmann zur Erfahrung des Kunstwerks. 521 In »Festung« wirft Goetz auf der Suche nach ästhetischer Erfaßbarkeit der Wahrheit die Frage nach einer Vermittlung von Schrift und Rede auf, nach einer Versöhnung von der Lust an der Schönheit, Strenge, Unerbittlichkeit des Arguments und der »Lust am direkten Gesang der Rede, den jede Rede singt«. 522 Er macht sie anschaulich, diskutiert sie und entwirft auf dem Theater mögliche Antworten. Daß diese nicht (oder zumindest nicht restlos) diskursiv beschreibbar, wohl aber sinnlich erfahrbar sind, macht ihren Charakter als Theatertexte aus - und erzeugt zugleich eine Aporie der Analyse, die längst aus anderen Bereichen der Kunst bekannt ist. 523 Was Oehlen provokativ über die Malerei formuliert, 3äßt sich auch auf Goetz' Schreiben fürs Theater beziehen, das nicht Sprache, sondern Sprechen schreibt:
518 519 520
521 522 523
Weber: »»...noch KV (kv)< Rainald Goetz...«, 1992, S. 145, »Soziale Praxis«, Kronos, 1993, S. 331-364, Zitat S. 339. Eine weitere Nische der Interaktion stellt die Familie dar, was erklären mag, weshalb Kritik in Festung als - wenn auch abstraktes - Familienstück fungiert, Luhmann 1990a, S. 23-25: »V, Was tun Teilnehmer an Kunst?« »Kadaver«, Kronos, 1993, S. 229-248, Zitat S. 242. Vgl. Fuchs/Luhmann 1989b,S. 169ff.
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ERKLÄRUNGEN ZUR MALEREI abzugeben, ist gerade dann besonders schwachsinnig, wenn der Maler die These vertritt und die Malerei die These belegen soll, daß die Malerei denselben Gesetzen gehorcht, wie die Sprache, der man sich bekanntlich bedient, um Erklärungen abzugeben.524
In der Schrift sind Antworten nicht zu geben, im Theater - auf der Grenzlinie zwischen Schrift und Rede, Symbolischem und Imaginärem - kann man sie hör- und sichtbar machen und hat zu diesem Zweck zusätzlich die Mittel der Musik (der Rede) und der Anschauung (der Bilder) zur Verfügung. Deshalb brauchen diese Texte, obwohl nur »Rudimente von Tamdrama«525 über den Argumenten, das Theater: als oralische Anstalt und als Ort der Bilder. Hier entwickeln sie in der Grenzüberschreitung zwischen Schrift, Rede und Bild ihre Kraft, die als Macht definiert ist, »das nichts der Grenzenlosigkeit des nichts, das Sagbares getrennt vom Sichtbaren getrennt fest hält, als Nichtsvernichter zu vernichten«,526 und hier entfalten sie in der Grenzüberschreitung zwischen Wort, Gesang und Tanz ihr dionysisches Potential, das aus dem »peinlichsten Ort der Welt« zugleich einen »endlos faszinierenden« macht: einen Ort »nichttoter Kunst«.527
3.3 Sonderfall monologischer Theatertext Mit dem letzten Teil der Festungs- logic liegt ein Theatertext vor, der einem einzigen Sprecher (»Alter«) zugeordnet ist. Es erscheint notwendig, solche monologischen Theatertexte in einem gesonderten Kapitel zu behandeln, da sie hinsichtlich unseres Kriteriums der Nutzung der dramatischen Form eine Sonderstellung innehaben: An monologischen Theatertexten läßt sich nicht nur die ganze Breite von Möglichkeiten kritischer Nutzung der dramatischen Form nachweisen, sie stehen auch an der Schwelle zwischen Nutzung und Überwindung der dramatischen Form, wie zu zeigen sein wird. 528 524 525 526 527 528
Albert Oehten. Der Übel, Graz, 1987, S. 5. Analog zu Goetz' Formulierung »Rudiment von Tarnerzählung« (»Kadaver«, Kronos, 1993,5.239). Goetz: »Kadaver«, Kronos, 1993, S. 232. Goetz: »Drei Tage«, Kronos, 1993, S. 258. Bestimmung des Monodramas im folgenden nach: Sybille Demmer: Untersuchungen zu Form und Geschichte des Monodramas, Köln; Wien, 1982 und Egi! Törnqvist: »Monodrama: Term and Reality«, Essays on Drama and Theatre, Amsterdam [u.a.], 1973, S. 145-158. 227
Entsprechend der Unterscheidung zwischen Drama und Theatertext soll auch der Begriff monologischer Theatertext< als Oberbegriff verwendet werden, der u.a. das Monodrama als seine figurativ-narrative und fiktionale Ausprägung umfaßt. Der Begriff >Monodrama< wurde Ende des 18. Jahrhunderts geprägt, in seinem Zentrum stand ursprünglich weniger die (weitgehend dominierende) monologische Textstruktur, als vielmehr die in ihnen angelegte Verbindung deklamierter Sprache mit unterstützender Instrumentalmusik zum Zwecke des Seelenausdrucks der Hauptfigur.529 Mit realistisch gestalteten Ein-Personen-Stücken namhafter Dramatiker des ausgehenden 19, und beginnenden 20. Jahrhunderts etablierte sich das Monodrama um die Jahrhundertwende als Ein-Personen-Stück, das als Verselbständigung des Dramenmonologs (durchaus auch als »Rettungsversuch« im Sinne Szondis)530 zu verstehen ist, wobei die Bindung an Musik dabei weitgehend schwindet. Als Sonderfall propagiert zur selben Zeit Nikolai Evreinov programmatisch und in eigenen Stücktexten den an symbolistische und subjektiv-expressionistische Projektionen des Innenlebens gemahnenden Entwurf eines »Monodramas« im Sinne einer mehrfigurigen dramatischen Repräsentation psychischer Vorgänge und individuellen Weiterlebens.S3t Diese weder nach strukturellem noch nach situativem Kriterium monologische Form532 ist allerdings mit den Begriffen >Ich-Drama< oder subjektives Drama< treffender bezeichnet,533 In Anschluß an realistische Monodramen bezeichnet man als >Monodrama< auch heute noch im allgemeinen ein »für einen einzigen handelnden und sprechenden Darsteller und eventuell stumme Nebenrollen konzipiertes
529 Ygj die synonym verwendeten Bezeichnungen >MelodramadeklamierteOperMonodramas< durch die Hereinnahme des Kriteriums intrafiktionaler Theatralität (und damit auch von Figuration und Narration) freilich eher präzisiert denn verändert wird, da im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff >Monodrama< zumeist ohnehin impliziert, daß der Darsteller des Monodramas eine Figur verkörpert, die szenisch in einer fiktionalen Welt situiert ist - dem entspricht auch die überragende Mehrzahl der Texte. Tatsächlich hat sich das Monodrama im Lauf dieses Jahrhunderts zu einer anerkannten Variante des Dramas entwickelt. Neben nicht zu leugnenden pragmatischen Gründen ist vor allem eine über die Jahrhunderte hinweg konstante Grundeigenschaft für den Erfolg des Monodramas und die zunehmende Monologisierung der dramatischen Form535 heute verantwortlich: die Möglichkeit, in der »objektiven« Gattung des Dramas Subjektives darzustellen - eine Eigenschaft des Monologischen, die auch der Monolog innerhalb des Dramas gerne nutzt. Das Monodrama bietet somit Auswege aus den Aporien des Dramas, die sich aus der Skepsis gegenüber zwischenmenschlicher Kommunikation, aus der Erfahrung der Vereinzelung und Entfremdung des Subjekts sowie aus der Entdeckung der Strukturen und Wirkungsmechanismen des Unterbewußten ergeben. So ist seit Entstehung der ersten realistischen Monodramen zu beobachten, daß die anfangs noch an ein (stummes oder imaginiertes) Gegenüber adressierte Ich-Aussprache einer Figur geöffnet wird zu ihrem hörbar gewordenen inneren Monolog, der dann auch sprachlich freier gestaltet werden kann, und zu zunehmend abstrakten Sprach- und IchExperimenten einer Figur auf der Suche nach eigener Identität und nach Möglichkeiten, diese in Worte zu fassend36 Diese Entwicklung ermöglicht mit zunehmender Situationsabstraktheit und Allgemeingültigkeit in letzter Konsequenz auch den monologischen Theatertext jenseits der dramatischen Form. Der von inhaltlichen Kriterien wie Handlung und Konflikt gelöste Dramenbegriff scheint in der Lage, im Bereich des Monodramas scheinbare Widersprüche zu lösen und damit der monologischen Form, bislang weitge534
So Bernard Poloni im Theaferlexikon, hg. v. Manfred Brauneck u. Gerard Schneilin, Reinbek bei Hamburg, 1986, S. 594, 535 Der Monolog ist zur »dramatischen Grund Struktur der Gegenwart« geworden, so Bernd Balzer [u.a.]: Die deutschsprachige Literatur in der Bundesrepublik Deutschland, München, 1988, S. 499. 536 Demmer 1982, S. 121 ff.: »Das Monodrama im 20. Jahrhundert«. 229
hend als Ausnahme im Feld der »Dramatik« nur toleriert, auch theoretisch den festen Platz im Bereich der Theatertexte einzuräumen, den sie dort in der Praxis schon längst eingenommen hat. Daß heute der Monolog »in die Mitte moderner dramatischer Gestaltung, zugleich jedoch auch an die Grenzen der dramatischen Form« gerät,537 erscheint ebenso wie der Begriff des Monodramas selbst als ein paradoxes Phänomen nur, solange man an herkömmlichen Definitionen der Dramatik festhält. Mit der episch-berichtenden oder lyrisch-expressiven Funktion des Monologs, seiner Neigung zur Statik, der Vereinzelung der Figur und der Dominanz der Subjektivität ändert das Monodrama als fiktionale Gattung nur die Blickrichtung der Repräsentation von der Oberfläche der Erscheinungen nach innen und stellt statt der äußeren Erscheinungsweise menschlicher Lebenswelt nun subjektives menschliches Fühlen und Erleben szenisch dar, darin dem Wechsel der Erzählperspektive von Außen- zur Innensicht vergleichbar. Die Sprache bleibt auch im Monodrama Äußerung einer Figur, die sogar mehr als im Mehrpersonendrama im Mittelpunkt des Interesses steht. Tatsächlich steht einer relativen Schwächung der Narration (Statik oder Unbestimmtheit von Raum und Zeit sind möglich) eine Intensivierung der Figuration gegenüber: Die Charakterisierung einer fiktionalen Figur - ihrer Lebenssituation, ihrer Psyche, ihres Selbstverständnisses - ist Zweck des Monodramas, und wo ihre äußere Situation nebensächlich wird, entspricht dem auf der anderen Seite eine genauere Sicht auf ihre innere Befindlichkeit. Repräsentation und damit intrafiktionale Theatralität können Ziel des Dramas auch in seiner monologischen Ausprägung bleiben - wenn auch nicht mehr als Darstellung zwischenmenschlicher Ereignisse, so doch als Repräsentation ihrer (»dramatischen«) Wirkungen, der in der Figur ausgelösten Empfindungen, 538 oder als Repräsentation menschlicher Entscheidungsprozesse. Intrafiktionale Theatralilät und monologische Form schließen sich also nicht aus. Dennoch kann von einer besonderen Position des Monodramas hinsichtlich unserer Fragestellung gesprochen werden, da die Nutzung der dramatischen Form im Monodrama gerade heute fast immer zugleich auch eine kritische Auseinandersetzung mit ihr bedeutet. Für die Suche nach der Funktionsweise zeitgenössischer Theatertexte jenseits der Dramatizität erscheint die Untersuchung von Monodramen besonders geeignet, da diese Form, wie in der Literatur stets betont wird, die Gattungsgrenzen auslotet s
" Ibid. S. 131. Ibid. S. 64.
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und den Gesetzen des »Dramatischen« per se widerspricht. Ebenso wie dem epischen und dem absurden Theater wohnen auch dem modernen Monodrama, das deren Ansätze weiterführt, kritische Impulse gegen die dramatische Form inne, wie sie geht es nicht in der repräsentationalen Funktion auf. Diese Eigenschaft kann freilich im theatralen Spiel von Illusion und Desillusion mit Hilfe der Theaterkonventionen auch überspielt werden. Die latent kritische Tendenz des Monodramas seiner dramatischen Form gegenüber - eine problemlose Nutzung wird nur durch höchste Konventionalität ermöglicht - erscheint in unserem Zusammenhang aber umso bedeutsamer, als Demmer zufolge das Monodrama stets in unmittelbarem Bezug zum zeitgenössischen Drama steht, jenes sowohl spiegelnd als auch experimentell transzendierend."9 Im Unterschied zum Drama an keinen präexistenten abstrakten Idealtypus gebunden, situiert an der Grenze zu epischer und lyrischer Dichtung, bietet das Monodrama einen Freiraum für Experimente, der gerade heute zur »Suche nach der Essenz der theatralischen Mittel«1140 genutzt wird. Insofern kann man die kritische Autoreflexion des Dramas, die man heute auch in nichtmonologischen Theatertexten findet, in Wesenszügen des Monodramas vorweggenommen bzw. gespiegelt sehen. Implizit führt das Monodrama immer schon sowohl zur Thernatisierung als auch zur Umfunktionierung und Unterwanderung der dramatischen Form und damit zur Infragestellung seiner grundlegenden Prinzipien. Die Tendenz zur Thematisierung der dramatischen Form liegt darin begründet, daß durch das Verschwinden der binnenfiktionalen Kommunikation unwillkürlich die äußere hervortritt. Zu Recht wird daher das Monodrama als prinzipiell episierende Form bezeichnet,541 stets rückt es Autor und Publikum in den Vordergrund und stellt die Autonomie der Fiktion in Frage - diese Eigenschaft kann nur unterschiedlich stark betont, nicht aber ganz geleugnet werden. Wird im realistischen Monodrama zugunsten der Wahrscheinlichkeit häufig ein stummer Adressat auf die Bühne gestellt, um den Monolog plausibel zu machen und so diese Klippe zu umschiffen, so nutzen heute viele Monodramen diese episierende Tendenz ganz bewußt, indem sich der Protagonist explizit ans Publikum wendet. So wird aber die im Monodrama zweifellos intensivierte und individualisierte Figuration unmerklich wieder zurückge539 540 541
Ibid. S. 2, vgl. auch ibid. S. 14. Ibid. S. 4. Bronnens Ostpolzitg (Berlin; Weimar, 1926) etwa wurde trotz der expressionistischen Nutzung traditioneller Einfühlungsdramatik sowohl von seinem Autor als auch von Brecht als frühe Form des epischen Theaters verstanden: Knaurs Großer Schauspielführer, München, 1988, S. 122. 231
nommen, da der Autor hinter seiner fiktiven Figur hier deutlicher hervortritt als im Mehrpersonendrama, Ebenso unleugbar ist der Ansatz zur Umfunktionierung der dramatischen Form im Sinne der Zuschauerverunsicherung im Monodrama, da die Subjektivität der Selbstaussprache einer Dramenfigur hier nicht durch die Positionen anderer Figuren oder durch ihr Handeln relativiert werden kann. Es gehört zu den Grundeigenschaften des Monologs, daß »die Diskrepanz von Sein und Schein [...] durch keine Gegenstimme >von außen< korrigiert [wird]«,542 und dies führt da, wo der Monolog sich vom Teil des Dramas zum Monodrama verselbständigt, unweigerlich zu Unbestimmtheitsstellen, wie Demmer an zahlreichen Beispielen nachweist. Sie werden auch im realistischen Monodrama bewußt genutzt, wo sie als Versteckspiel der Bühnenfigur vor sich selbst psychologisch motiviert werden können, führen aber in jedem Fall zur Verunsicherung der Zuschauer über den Objeküvitätsgrad des Gesagten, zu Zweifeln, Täuschungen und Ent-Täuschungen und damit zu höherer Bewußtheit der Vermitteltheit. Demmers Beobachtung, das Monodrama ermögliche »Auffächerungen« der Figur in verschiedene mögliche Ichs,543 laßt unwillkürlich an die »Auffächerung« der Protagonisten in Turrinis Alpenglühen denken. Das Monopol solcher Auffächerungen liegt heute nicht mehr im Monodrama, wie Demmer noch mit dem Hinweis behauptete, im Drama »würde jeder Behauptung sogleich die Korrektur durch das Gegenüber folgen«, 544 Eben diese Korrektur findet, wie gesehen, in Texten der kritischen Nutzung, welche Strategien der Zuschauerverunsicherung nutzen, nicht mehr statt. Die Auffächerungen lassen sich dann aber nicht mehr binnenfiktional (figurenpsychologisch) hinreichend erklären, sondern erfordern eine wirkungsästhetische Untersuchung. Oft läßt das Monodrama, hier nahe der »Ich-Dramatik« und dem absurden Theater, die Subjektivität aber auch im Bühnengeschehen wirksam werden und akzentuiert damit die zweite Variante der Umfunktionierung, die Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion, wenn auch noch gefiltert durch die Subjektivität der Bühnenfigur: Die Gestaltung der Bühnenweli (Naturgewalten, Geräuschkulisse elc., aber auch Aufhebung von linearer Zeit) ist im Monodrama bereits seit dem 18. Jahrhundert - und hier in der Musik ganz wesentlich - auch als Projektion der Innenwelt des Protagonisten zu sehen. Wo das Monodrama derart mit einem »abstrakten Bühnenverständnis« 545 arbeitet und das Geschehen auf den 542 543 544 545
Demmer 1982, S. 12. Ibid. S. 194. Ibid. S, 193. Ibid. S. 113.
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Schauplatz eines Bewußtseins verlagert, tritt ebenfalls die Wirkungsfunktion zugunsten der Darstellungsfunktion in den Vordergrund. Die letzte Variante der kritischen Nutzung dramatischer Form schließlich, die Unterwanderung der Repräsentation durch Aufwertung des sprachlichen Materials und seiner poetischen Eigenschaften gegenüber seiner Bezeichnungsfunktion, ist ebenfalls im Monodrama bereits angelegt. Weitgehend befreit von der binnenfiktionalen Kommunikationsfunktion (eine Ausnahme bildet hier wieder das realistische Monodrama), tritt an der Sprache im Monodrama die poetische Funktion besonders hervor. Ob dies nun, wie im Monodrama des 18. Jahrhunderts, zur Akzentuierung des Lyrischen führt, oder ob, wie im 20. Jahrhundert, das Sprechen die »ständig kreisende Denkbewegung«^ 46 nachvollzieht, die sinnentleerten Wiederholungen und Assoziationsketten des Bewußtseins - das Material Sprache wird im Monodrama tendenziell vom Sprechhandein entlastet und autoreflexiv eingesetzt. Damit wird es aber, da die Sprache als innerer Monolog nicht zuerst Kommunikation, sondern (Unter)Bewußtsein darstellt, zunehmend den Gesetzen der Symbolisation enthoben, befreit für ein Sprechen, das dem Semiotischen als Modalität der Sinngebung mehr Platz einräumt. Als Beispiel solcher Unterwanderung des Monodramas, das die Figur nurmehr als Hülle für ein nicht individuelles, einer konkreten Situation entsprungenes, sondern für ein allgemein menschliches (sprechendes) Denken nutzt, wird nochmals von Goetz' Katarakt zu sprechen sein. Monodramen Betrachtet man die Formen der Nutzung des Monodramas im Untersuchungszeitraum, so läßt sich feststellen, daß das gesamte Spektrum der Möglichkeiten, dramatische Form zu gestalten, wie es oben entwickelt wurde, auch hier in nuce anzutreffen ist. Im - unter Einsatz höchster Konventionalität - problemlos genutzten Monodrama, in dem eine sich selbst charakterisierende Figur, ergänzt durch Regieanweisungen, die dramatische Situation exponiert, wird der Monolog aus einem aktuellen oder vorausgegangenen Geschehen motiviert. Dies geschieht, wie bei Kerstin Spechts Amiwiesen547 und Bukowskis Die Halbwertzeit der Kanarienvögel, durch eine stumme Nebenfigur (hier das entführte Kind bzw. der sterbende Gatte und die Krankenschwester) und/oder 546 547
Balzer [u.a.l 1988, S. 499f. FfM, 1990.
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durch pathologische Züge des vereinsamten Subjekts, wodurch das Selbstgespräch einem hörbar gemachten inneren Monolog angenähert wird, wie etwa in Klaus Pohls Selbstmord in Madrid5^ und Lothar Trolles Ein Vormittag in der Freiheit,549 An den Beispielen läßt sich zeigen, daß hier das Monodrama als fiktionale Gattung genutzt wird: Neben den dargestellten Charakteren werden deren fiktionale Situation und Vorgeschichte entwickelt, der Monolog entfaltet sich in einer dargestellten Zeit an einem fiktionalen Schauplatz, Bei Specht endet das Stück, das als verselbständigter letzter Akt einer (von der Frau referierten) dramatischen Handlung gesehen werden kann, mit dem Näherkommen der Suchtrupps, wodurch die Bewegungslosigkeit der Flüchtigen von der Dynamik der Außenwelt eingeholt wird. Bei Bukowski führt der Text über den Tod des Mannes schließlich zum Tod der Protagonistin, ihr Monolog wird in einen Polylog des Sprechens über sie aufgelöst. Pohls Monodrama endet mit dem Selbstmord des Protagonisten,550 Trolles Text damit, daß Lehrnann seine Fassung (und wohl auch seinen Verstand) verliert. Steht im Mittelpunkt der Monodramen auch nicht diese äußere Situation, sondern jeweils der Lebensrückblick eines Menschen, so ist die Situation doch Ausgangs- und Bezugspunkt des Berichts. Dasselbe gilt bei Specht und Bukowski für den jeweiligen Ansprechpartner, und auch wenn in den beiden letzten Beispielen ein Adressat der Rede (der Kollege und Konkurrent Schröder bzw. die Nachbarn) nur zeitweilig und imaginär vorhanden ist, so sprechen die in sich gespaltenen Protagonisten doch zumindest sich selbst auch mit »du« an und konstituieren so ein strukturell dialogisches, wenn auch situativ monologisches Sprechen. Regieanweisungen und Deiktika innerhalb der Monologe situieren die Protagonisten räumlich an einem konkreten Ort und in linearer Zeit. So vermitteln in Amiwiesen wachsender Hunger, Wetterwechsel oder das Ertönen der Fabriksirene ebenso den Eindruck fortschreitender Zeit wie in Selbstmord in Madrid das Klingeln des Weckers, Weckwerts Auftritte und vor allem der von Wassermann imaginierte parallele Verlauf des Silvesterdiners und schließlich das Silvesterfeuerwerk. In Die Halbwerizeit der Kanarienvögel wird besonders das Vergehen von Zeit zwischen den einzelnen Abschnitten 548
549 550
Reinbek bei Hamburg [BM], 1993. Dieser Text kann m,E, der trotz der kurzen Dialogpassagen aufgrund der dominanten monologischen Struktur als Monodrama betrachtet werden. TdZ, H. 7/1991, S. 84-91. Das »Post-Production-Script« vom 1.12.1993 vereindeittigt den Ausgang des Stücks gegenüber der früheren Fassung, die den Realismus am Ende, in Anlehnung an Kafkas Verwandlung, surrealistisch-grotesk aufhob.
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des Textes thematisiert, während in Ein Vormittag in der Freiheil der Akzent auf der quälend langsam vergehenden Zeit des Sprechens liegt. Daß die Merkmale der so konstituierten fiktiven Welt auch symbolischen Wert haben, lädt den Text zusätzlich mit Bedeutung auf, ohne die Fiktion zu beeinträchtigen. Die episierende Tendenz des Monodramas wird durch auf der Bühne präsente angesprochene Figuren möglichst eingeschränkt, das Publikum wird nicht explizit angesprochen, 5Sl und in den Texten wird die offensichtliche Subjektivität der Hauptfiguren bzw. ihre Auffächerung in mehrere Ichs in den Dienst der Figurencharakterisierung und nicht der Zuschauerverunsicherung gestellt. All dies rechtfertigt es wohl, von problemloser Nutzung der dramatischen Form zu sprechen, da die in der Gattung Monodrama angelegten kritischen Impulse deutlich ungenutzt bleiben. Kritische Nutzung des Monodramas Häufiger findet man Texte, welche diese Tendenzen betonen und instrumentalisieren. Die Publikumsansprache, oft verbunden mit Elementen des Metadramas, macht die Theatersituation bewußt, womit meist unmittelbare {auch politische) Wirkung angestrebt wird. In Christoph Kellers Der SitzgottS5dem Monolog des Stuhlfabrikanten Kugler, der sich gegen Vorwürfe verteidigt, waffenfähiges Material in Krisengebiete zu liefern, wird das Publikum vom Adressaten der Verteidigung Kuglers zum Mitschuldigen, wenn Kugler am Ende nicht nur sich, sondern »uns« freispricht und das Kreuz über das Publikum schlägt (S. 42). Der Form nach dramatisch, liefert der Text sowohl genaue Angaben zum Lebenszusammenhang der Figur als auch zur räumlichen und zeitlichen Situation, doch erschöpft er sich nicht in der Darstellung, sondern Öffnet die dargestellte Welt bewußt in Richtung aufs Publikum, wozu auch der Einsatz von Musik dient, mit deren Erklingen jeweils eine Ebene jenseits des Dargestellten evoziert wird. Daß Kugler diese Ebene seines Unbewußten verschreckt abwehrt, verweist ebenso wie die Plädoyerforrn seines Monologs darauf, daß seine Darstellung des Problems von konkreten Interessen geleitet ist, und macht mißtrauisch gegenüber der scheinbaren Objektivität der Bühne.
5
552
Eine Ausnahme macht Trolles Stück (Einführung und Ende), das insofern auch als Grenzfall betrachtet werden kann. FfM[BM], 1991. 235
Deutlicher noch werden in Robert Schneiders Monodrama Dreck™ Rollenspiel, Publikumsanrede, Verunsicherung der Zuschauer über Wahrheit und Lüge und die Projektion subjektiven Bewußtseins auf der Bühne instrumentalisiert, um den Zuschauer, statt ihm eine Geschichte darzustellen, dazu zu bewegen, sich selbst einen Reim auf das Dargestellte zu machen. Der Monolog stellt weniger ein individuelles Schicksal dar als vielmehr die anonyme Macht der (hier fremdenfeindlichen) Diskurse aufs Bewußtsein des einzelnen. Aber der Text stellt groteske Verzerrungen und Verwirrungen des Denkens und Argumentierens nicht nur dar, er produziert sie auch. Auf den ersten Blick handelt es sich um den Monolog eines illegal in Deutschland lebenden Irakers, bevor er zu seiner allabendlichen Runde aJs Rosenverkäufer aufbricht, doch Figuration und Narration sind hier im Gegensatz zu den bisher besprochenen Texten stark zurückgedrängt. Der Autor liefert keine Angaben über raumzeitliche Situierung, ja nicht einmal über seinen Protagonisten Sad, den er in den Didaskalien (ein Personen Verzeichnis fehlt) nur mit »einer« bezeichnet, und dessen Namen, Alter und Geschichte das Publikum ebenso wie seine Situation nur von der Bühnenfigur selbst erfährt. Auf diese Informationen ist allerdings, darauf weist Sad bald schon selbst hin, kein Verlaß. So sind auch die verblüffenden Wendungen dieses Textes von Selbstbehauptung zu Selbstanklage und -zerfleischung, von bescheidenen Integrationsversuchen zu an Mimikry gemahnender Aggressivität gegen alles Fremde nicht hinreichend erklärbar, wenn man sie darstellungsästhetisch-psychologisch deutet als Ausdruck der Verinnerlichung rassistischer Positionen durch einen Ausländer in Deutschland, des erschreckenden Persönlichkeitsverlustes eines um Anpassung bemühten Menschen, der autosuggestiv seine Gedanken kreisen läßt. Die Unbestimmtheitsstellen bezüglich des Protagonisten verdeutlichen die Universalität des Problems, abgelöst von einer Einzelbiographie; die zyklische Struktur, die in leitmotivartiger Variation wiederkehrender Themen und in ihrer Musikalität an Thomas Bernhards Bühnenmonologe erinnert, suggeriert die Unabsehbarkeit einer Lösung. Es scheint, daß dieses unauflösbare Verwirrspiel mit Wirklichkeit, Täuschung, Identitäten und Rollen, daß die Delegation der Sinngebung (und damit der Verantwortung) ans Publikum auch die letzte Konsequenz in der Auseinandersetzung mit einem Thema ist, in der oft entweder zu schnell eindeutige Antworten gegeben werden oder man sich kontroverser Diskussion überhaupt verweigert. Die Botschaft dieses Theatertextes ist die Verweigerung der einen Wahrheit: 553
Leipzig, 1993,
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Glaubwürdig ist weder das eine noch das andere - erst wer sich selber ganz und gar und bis in die letzte Abseite erkundet, kann wenigstens die eigene Wahrheit kennen. Wenn schon sonst keine,-S54
Die untrennbare Mischung aus Vorurteilen, Fremd- und Selbstbild, Biographie, verinnerlichten Standpunkten und spontaner Gefühlsäußerung fordert eine aktive Rezeption heraus, in welcher sich der Zuschauer selbst als geprägt von Ressentiments und Vorurteilen erfährt. Der Autor nutzt bewußt das Fehlen einer objektivierenden Instanz, um vom Publikum im Spiel mit Wahrheit und Täuschung eine Auseinandersetzung mit eigenen Standpunkten zu fordern, mit der »Fremdheit im Eigenen« und dem »Eigenen im Fremden«, wie es ein Kritiker auf den Punkt bringt.5-" So werden Spekulationen über Sads »wirkliche« Identität von Unbestimmtheitsstellen des Textes angeregt, welche die Uraufführung durch die bewußte Besetzung mit einem deutschen Schauspieler und durch seine nur andeutende, nicht illusionistische Maske sowie sein betont distanziertes Spiel noch potenzierte. Am Ende dieses Monodramas wird auch die Abstraktion der Bühnenwelt genutzt, wenn ohrenbetäubender Lärm Sads Worte übertönt: Die Bühne weitet bzw. verengt sich definitiv vorn Außen- zum Innenschauplatz. Das Phänomen der Unterwanderung dramatischer Form in Monodramen, also der Autoreflexion der Sprache gegenüber Figuration und Narration, die als Rudimente nur noch Vorwand sind für die Präsentation von und die Auseinandersetzung mit Sprache, haben wir bereits bei Werner Schwabs weitgehend monologischem Text MEIN HUNDEMUND festgestellt. Steht bei Schwab noch die Auseinandersetzung des einzelnen Menschen mit der Sprache im Mittelpunkt, so treten bei Schneiders Dreck mehr die unterschiedlichen Diskurse hervor, die den einzelnen beherrschen und aus ihm sprechen. Einen Schritt weiter in der Abstraktion der Rede geht Rainald Goetz mit Katarakt, einem Text, der an der Grenze vom Monodrama zum nichtdramatischen monologischen Theatertext steht.·''56
554 Michael Laages über Dreck in seinem Porträt Robert Schneiders: »Ein ganz normal verstörtes Kind«, DDB, H. 1/1994, S, 36-39, Zitat S. 39. 555 Michael Laages zur Hamburger Uraufführung: »Sehnsuchtsvoll, hoffnungslos«, TSp, 14.1.1993. 556 In der ungekürzten Fassung dieser Arbeit wurde an dieser Stelle mit Michael Roes' Aufriß (Bad Homburg [BM], i 990) ein Beispiel für das Monodrama als »Ich-Dramatik« der Linie Evreinov-Beckett vorgestellt.
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Rainald Goetz: Katarakt Es wurde bereits im vorigen Kapitel darauf hingewiesen, daß mit der Sprecherbezeichnung »Alter« in Katarakt nur vordergründig eine Dramenfigur, nämlich ein alter Mann, gegeben ist, und daß die unterschiedlichen Facetten dieses Begriffs (der Alte, das Alter, Alter als alter ego) es nahelegen, auch dieses Rudiment der Figuration weiter aufzulösen in eine abstraktere Sprecherinstanz. Ähnlich wie bei Beckett, so scheint auch hier der Ort des Sprechenden sein eigenes Gehirn zu sein, einiges spricht dafür, daß mit »Alter« (ego) hier auch das Unbewußte spricht. Eine Spur bei Luhrnann557 bekräftigt den Verdacht, Goetz - als ehemaliger Psychiatriearzt - werde mit der Bezeichnung >Alter< zumindest auch den Bereich des Unbewußten (oder, folgt man Luhmann, den des Inkornmunikablen) meinen. Obgleich von der Kritik weitgehend als »Monolog eines Alten« aufgefaßt, vermittelte sich Katarakt in der preisgekrönten Uraufführung doch als in Bernhard- und BeckettTradition stehende Verinnerlichung und Abstraktion des Monologs: Die Kritik sah »ein Hirn, allein«, 558 »das Undarstellbare eines Menschen mit seinem Durcheinander aus Denken, Fühlen und Zweifeln, die Halden an Unverstandenem und Angedachtem«, 559 das »Kopfinnenbild eines älteren Menschen«,560 und der Darsteller Jürgen Holtz spricht vom »Monolog eines Sterbenden, der in seinem eigenen Gehirn spazieren geht«.561 Im Grunde handelt es sich dabei auch nur um eine Akzentverschiebung, spricht doch im modernen Monodrama ohnehin meist das Unbewußte aus der Figur, was im Wort vom inneren Monolog, das unmittelbare Teilnahme am Bewußtseinsstrom des Sprechenden suggeriert, schon ausgedrückt ist. Doch geht Goetz hier einen Schritt weiter, da er uns das »Ego« weitgehend vorenthält, die Figuration eines Subjekts hinter seinem Denken zurücktreten laßt, so daß
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In einem Luhmann-Aufsatz (Fuchs/Luhmann 1989a), in dem versucht wird, Paradoxien der Psychoanalyse zu überwinden, indem man ihre Leitdifferenz »bewußt/unbewußt« ersetzt durch die zum Begriffspaar >manifest/latent< ebenfalls filiale Unterscheidung >kommunikabel/inkommunikabelAlter< (im Kontrast zu >EgoDiskursinstanz< {»das Ich in der dramatischen Rede«) und > Verlautbarungsinstanz« (die »personale Instanz, der die dramatische Rede außerhalb der dramatischen Rede [...] zugeordnet ist«) tragen der Abschaffung der Rollenfigur begrifflich Rechnung. Mit ihrer Hilfe lassen sich hier die Bühnenwesen, von denen man sich den Text gesprochen vorstellen soll, von den ursprünglichen Autoren der als Zitate ausgewiesenen Passagen zu unterscheiden.
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pen virtuoser (Musik-) Theaterdarsteller, als zu verallgemeinernde Exemplare des Mythos Schauspieler bzw. Sängerin. Der Tänzer hat zwar mit Nijinski nur eine historische Referenz., doch auch von ihm sprechen die Zitate, ebenso wie von der Sängerin und vom Schauspieler, vor allem im verallgemeinernden Modus. Von Figuration kann also kaum die Rede sein. Auf der Bühne stehen ein Schauspieler, ein Tänzer und eine Sängerin, die jenseits ihres materialen Seins keine Figuren darstellen oder bedeuten. Sie stehen für die im allgemeinen als »darstellend« bezeichneten Bühnenkünstler schlechthin, sind (wenn man die Aktionstexte ins Auge faßt) bewegliches Dekor und (wenn man von den Zitatpartien ausgeht) Thema zugleich, haben also Objektcharakter: Die Bedingungen und Regeln ihres Funktionierens sollen untersucht werden. Bei der Reduktion von Dramenfiguren auf ihre Darsteller bleibt der Text nämlich nicht stehen. Die Bühnenwesen interessieren nicht als ganze Menschen, sondern sind auf ihre Funktionen (»Instrumente«) reduziert. Wysocki selbst spricht von dem »Versuch, den Künstler aus seiner Mythengestalt herauszulösen, in seine Elementarteile zu zerlegen, auf den Strukturgehalt zurückzuführen«. 642 So interessiert an der Sängerin der Virtuositätsaspekt in der Handhabung ihres »Instruments«, es handelt sich bei den angeführten historischen Konkretisationen der »Sängerin« vor allem um Koloratursopranistinnen des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende. Der Tänzer wird reduziert auf seinen Köper, den er mit Hilfe von Bewegung im Raum durch Muskelkraft zu Tanz macht. Was bedeutet aber nun beim Schauspieler die Reduktion auf sein Zeichenarsenal: Sprache, Mimik, Gestik und Bewegung im Raum? Der Schauspieler unterscheidet sich von den beiden anderen: Einerseits vereinigt er in seinem Arsenal auch ihre Kunstmittel, die Stimme und den bewegten Körper, andererseits geht aber beim Schauspieler die Künstlichkeit der Zeichen von Stimme und Körper, bei Sängerin und Tänzer durch deren Isolierung erwirkt, verloren, da Stimme und Körperbewegung beim Schauspieler im abendländischen Repräsentationstheater, auf das der gesamte Text Bezug nimmt, nur dem Zweck dienen, den Schauspieler zum ikonischen Zeichen für einen Menschen zu machen. Wenn man so will, können Sängerin und Tänzer durch Ausstellung ihrer jeweiligen Funktion den Rezipienten dazu veranlassen, von ihrem menschlichen Erscheinungsbild zugunsten ihrer Funktion als »Koloratur-« oder »Tanzma-
« Wysocki in Roeder (Hg.) 1989,5. 137. 263
scbine«643 zu abstrahieren, doch der Schauspieler bleibt auch und gerade in der Ausstellung seiner Virtuosität Menschendarsteller. Diese Sonderstellung des Schauspielers wird im Text reflektiert durch die Anordnung der Zitattexte, Seine Funktion als »menschenmäßig aufgemachter Mensch«, irgendwo zwischen »Mensch Fälschung Zerrbild Double oder Maschinist« (S. 22), wird bereits in der ersten Szene als Frage aufgeworfen, während die Funktionen der beiden anderen von Anfang an thetisch präsentiert werden. Hervorgehoben wird diese programmatische Passage durch die Ichform, die als referenzloses Pronomen - in den ausgewiesenen Zitaten ist ihre Diskursinstanz und damit die Referenz des Ich in der Fußnote angeführt - nur in den ersten beiden Szenen und in der 15. Szene vorkommt. Das Ich weist sich als aufmerksam untersuchender Beobachter aus und vertritt damit das Erkenntnisinteresse des Textes, das offensichtlich darin liegt, »Zusammenhänge« und »Artähnlichkeiten« (S. 31) zwischen den drei Darstellertypen zu erkennen und so eine Spezies auszumachen, welche die enttäuschenden »Maße des Menschen« (S. 22) überschreitet. Am Tänzer werden vor allem die physischen Bedingungen seiner Kunst und die Technik Nijinskis beschrieben, der den Körper zum Instrument fuktionalisiert und durch Nutzung »unnatürlicher« Bewegungen bewirkt, daß die Differenz zwischen dem Tänzerkörper als »kinetischer Konstruktion« (S, 25) und dem Menschen hervortritt. Die Passagen zur Sängerin betonen die Dissoziation zwischen der individuellen Person und der ihr fremden, zugleich beängstigenden und faszinierenden Stimme, die säe sich nur durch harte Arbeit gefügig machen kann. Was den Schauspieler betrifft, ist die Sache komplizierter: Während die Zitattexte in den Szenen 3-6 isoliert die Produktion proxemischer und gestischer (Szene 3), linguistischer und paralinguistischer (Szene 4 und 6) Zeichen und das körperliche Erscheinungsbild des Schauspielers in Maske und Körperhaltung (Szene 5) beschreiben, vollzieht sich in der Mitte des Textes (Szenen 7 und 8) ein Wandel, eine »Begradigung« (so der Titel der 8. Szene): Nicht mehr als Zeichenarsenal wird der Schauspieler nun beschrieben, sondern als Menschennachahmer, so daß die mimischen Zeichen nicht nur in ihrer Produktion, sondern zugleich als Darstellung menschlichen Ausdrucks beschrieben werden, nicht als Zeichen an sich, sondern als Zeichen für etwas: »Sein Gesicht ist eine Fabrik: die Geister erzeugt« (S, 27). Bezeichnenderweise wird in dieser zentralen Szene Diderot zitiert, 643
Peter von Becker: »Drei Grazien«, TH, H, 6/1988, S. 18-21, Zitat S. 18. Der Begriff >Koloraturmaschine< geht auf Thomas Bernhards Der Ignorant und der Wahnsinnige zurück.
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der eben diese Differenz zwischen einfühlender Verkörperung einer Figur und »kalter«, rational gesteuerter Arbeit an den verfügbaren Darstellungsmitteln behandelt und die Unterscheidung zwischen der Technik des Schauspielers und dem mit ihrer Hilfe Dargestellten, das den größtmöglichen Eindruck von Natürlichkeit erzeugen soll, als Paradox der Schauspielkunst bezeichnet. An zentraler Stelle findet sich hier also eine Szene, die fast ausschließlich vom Schauspieler spricht, und nicht zufällig handelt es sich bei den zitierten Darstellervirtuosen des 18, und 19, Jahrhunderts um Wegbereiter eines realistisch-illusionistischen Darstellungsstils, der eben dieses Paradox vergessen zu machen sucht: Die Reformen Garricks, Le Kains und Talmas ebneten einem der Natürlichkeit verpflichteten Darstellungsstil den Boden, der sich im 19. Jahrhundert mit dem Historismus der Meininger (Wysocki nennt einen von ihnen, Josef Kainz, in der 7. Szene) durchsetzte, als Idee von der »vierten Wand« bis weit ms 20, Jahrhundert wirksam blieb und in perfektionierter Form heute die gängige, d.h. repräsentationale Schauspielästhetik (auch im Film) prägt. Damit ist aber der Schauspieler wieder in genau jene »Maße des Menschen« (S. 22) verwiesen, die zu sprengen anfangs das Ziel war. Im weiteren Verlauf der Zitatpartien stellt man fest, daß der Mythos vom Schauspieler in der 11. Szene durch den zitierten Text von Roland Barthes, der dessen Funktion in verschiedene gleichberechtigte theatrale Zeichen gliedert, die zusammen mit anderen den polyphonen Text der Auffuhrung ergeben (S. 28), wieder zu demontieren versucht wird. Die in dieser Szene zitierten Anekdoten über Frederic Lemaitre, können in diesem Zusammenhang als Hinweise darauf gewertet werden, daß die Identität der vom Schauspieler verkörperten bzw. gestellten theatralen Signifikanten mit ihrem Signifikat (menschliche Figur und »natürliche« Rede von Bühnenfiguren) nicht alternativlos sind. Das kaum auflösbare Paradox des Schauspielers tritt jedoch wieder zutage bei der Beschreibung seiner Stilisierung von Bewegungen mittels Verlangsamung und Übertreibung (Szene 12) und seiner Möglichkeiten der Stirnmodulation, die in einem Textelement Ausdruck finden, das als mehrmals wiederholter Absatz (»die >zerrissene< rede die >eingeschobenen< Interjektionen [...]« etc.) den ganzen Text durchzieht: Gerade die höchste Künstlichkeit im Gebrauch seiner Mittel nutzt der Schauspieler zur Erzeugung der Illusion. So kommt es, daß er auch am Ende, wiewohl er sich als »Figur« auf der Ebene des Aktionstextes erschießt, als Objekt der Rede im Mittelpunkt der Zitatebene steht, im Fluchtpunkt der zentralperspektivischen (also illusionistischen) Wahrnehmung: »im Schnittpunkt der Diagonalen: so schön ist hier die Natur« (S. 32), Von 1867, also 265
mitten aus der Phase des bürgerlichen Realismus, datiert der letzte Zitattext, der sich aufs Schauspiel bezieht (S. 32),644 Ausgehend von der Frage nach dem jenseits der Figuration zu suchenden Prinzip, welches den Aufbau der Montage ordnet, rückt die zentrale Stellung der Repräsentation im abendländischen Theater ins Zentrum, Die optisch und akustisch wahrnehmbare Materialität der von den Theaterkünstlern (als Koloratur-, Tanz- oder Bewegungs- und Sprechmaschine) produzierten »Zeichen« im polyphonen Text der Aufführung steht inhaltlich im Zentrum dieses Textes, der zugleich die paradoxe Stellung des Schauspielers unter diesem Aspekt beleuchtet. Mit der weitgehenden Lösung des Signifikanten von einem Signifikat (Abstraktion) entwirft der Text eine Theatersprache, die mit Prinzipien des nicht-repräsentationalen »postdramatischen Theaters« arbeitet, und beansprucht eine »Neuordnung der kommunikativen Bedingungen von Theater«.645 Damit erscheint aber auch die Gesamtstruktur des Theatertextes als wesentlich für die Sinnkonstitution: Die Form wird Inhalt. So wie der aus Zitaten montierte Text das Funktionieren der einzelnen Mitwirkenden, so untersucht der Gesamttext das Funktionieren des Theaters als einer »kybernetischen Maschine« zur Erzeugung »einer regelrechten Polyphonie von Informationen«, wie der Text Barthes zitiert (S. 28f.), sucht also nach Möglichkeiten des Theaters jenseits der Repräsentation. Zur Form gehört wesentlich die bisher nur angedeutete Gestaltung des schriftlichen Textes,646 die das Programm dieser »Maschine« als Entwurf in sich trägt. Die verschiedenen Diskurse über Bühnenkunst und -künstler sind als »Sprachbänder« auf mehrdeutige Art miteinander und mit den anderen Textebenen verschlungen. Ein visueller Hintergrund, vor dem man sich die Zitatmontage vorzustellen hat, ergibt sich aus den Aktionstexten, die keineswegs einfach mit Regieanweisungen gleichzusetzen sind. Faßt man die 644
Die Quelle dieses Textes auszumachen, war mir leider nicht möglich. Angesichts der zweimaligen Nennung des Datums und der Beschreibung des Dekors, das mit Hitfe äußerster Künstlichkeit und perspektivischer Perfektion höchsten Illusionismus erzeugt, erscheint der konkrete Bezug jedoch nicht so bedeutend wie das hier zitierte epochenprägende Prinzip der Illusionserzeugung. 6 « Vogel sang 1992,5.353. 646 ygj jm folgenden Vogelsang 1992, auf dessen gründliche Analyse der Textgestalt diese Betrachtung aufbaut, sowie, für die Auswertung und Deutung dieser Ergebnisse hinsichtlich der Theatralität des Textes, Keims Analyse der Theatralität in Heiner Müllers Theatertexten, vor allern ihren Betrachtungen zu Hamletmaschine (Keim 1995, S. 47-87), insbesondere zu den typographischen Besonderheiten dieses Textes (S. 55-59).
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»Aktionstexte« aller 16 Szenen, geordnet nach den Protagonisten, zusammen, so ergeben sich folgende »Aktionen«: Der Tänzer bewegt sich auf einer schiefen Ebene, unter ständiger Wiederholung und Vervollkommnung choreographischer Studien, um dem toten Kaiser Früchte zu bringen, wobei sein Körper von einer Art Montur umschlossen ist, die auf der Brust eine offene Stelle aufweist. Die Sängerin erscheint in einer sich verwandelnden surrealistischen Szenerie, die der Logik des Traumes zu gehorchen scheint und Motive aus den Romanen Roussels verarbeitet: zunächst in einem gefüllten Bassin, in welchem sie das Wasser zum »Singen« bringt (Szene 14); dann mit einer Rose in der Hand, die Stimmwerkzeuge sichtbar, in der Halle eines »Hotel de l'Europe«, zu der das Bassin geworden ist, wo sie auf den Greis trifft, der ihr einen Brief überreicht und sie ins Hotel führt, als sie sich an der Rose sticht und über »das Blut und die Schrift auf dem Briefumschlag« (S. 26) erschrickt (Szene 5-8); schließlich in einem Zimmer des nun als gläsernes Haus erscheinenden Bassins mit einem Säugling (Puppe? Leichnam?) auf dem Schoß und an der Seite des Greises, mit dem sie der als Priester auftretende Vaihu an den Händen mit Hilfe eines Schraubstocks zusammenklemmt (Szene 9-16). Der Schauspieler schließlich wird anfangs nur »als BILD« (S. 23) beschrieben, wobei sich die Aufmerksamkeit auf seinen Kopf, das von einer Narbe in der Mitte geteilte Gesicht und vor allem die Augenpartie konzentriert (Szene 1-9), bis er beginnt, nach dem Vorbild von Modellen aus verschiedenen Materialien Möbelstücke zu schaffen, die zu einem »Herrenzimmer« (S. 13), einer künstlichen Welt werden, in der er sich am Ende mit einem Revolver, Produkt seiner Arbeit, erschießt. Mit diesen Texten wird schrittweise, verlangsamt durch ständige Unterbrechung, der Wahrnehmungsvorgang des allmählichen Verfertigens dreier kaum miteinander zu vereinbarender Bilder beschrieben. Dabei tritt neben der Oberfläche des Sichtbaren vor allem die lediglich vermutende Qualität des Verstehensprozesses hervor, in dessen Verlauf das neu Erkannte in einer Endlosschleife stets auf das bereits Gesehene zurückwirkt und damit die immer nur vorläufige Aufladung wahrgenommener Signifikanten mit Bedeutung aktualisiert. Damit materialisiert dieser »Aktionstext« den Unterschied zwischen Sehen, Wahrnehmen und Verstehen, erforscht den »subjektiven Raum« zwischen Auge und dargestellter Wirklichkeit und analysiert die Modalitäten des Imaginären.647 Es handelt sich also nicht etwa nur um eine 647
Diese Formulierungen lehnen sich an Ftnters Analyse des Theatralischen bei Roussel an, an dem sich Wysocki ausdrücklich orientiert. Vgl. Finter 1990a, S, 169-2SO: »Roussels Glorie - Die Inszenierung der Lust und des Schreckens der Sprache«. 267
(pantomimisch dargestellte) fiktionale Handlung, die so auf der rahmenden Ebene das Prinzip der Narration installieren würde, sondern um den simultanen Entwurf lebender Bilder von mechanisch anmutender Bewegung und mit dem Charakter von Traumsequenzen, die nicht restlos entschlüsselbar sind. Der Tänzer stellt dar, was er tut, wenn man in Anlehnung an Handke formuliert;648 die rätselhaften Bilder, in denen die Sängerin erscheint, lassen vielfältige Deutungen zu; der Schauspieler wird vom puren Objekt der Zuschauerwahrnehmung zum Produzenten einer sekundären Welt, was mit seinem Tod endet. Vom Versuch möglicher Deutungen dieser im »Aktionstext« entworfenen Bühnenvorgänge wird hier bewußt abgesehen, urn - mit dem Text - auf Wahrnehmung, nicht auf Verstehen zu insistieren. Wie das »reine Sehen« scheinen diese Vorgänge einer Logik der Assoziation zu gehorchen, keinem (repräsentationalen) Zweck,649 und dekonstruieren so die konventionelle Verknüpfung von Sehen und Verstehen, wie sie in der Lebensweit und im dramatischen Theater erfahren wird, Die Montageform des gesamten Textes dekonstruiert entsprechend die Einheit aus Imaginärem und Symbolischem, da ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Textebenen nicht gegeben, sondern nur als dynamischer Bezug ahnbar ist. Gegliedert wird die Gesamtheit aus Zitatmontage und »Aktionstexten« durch Numerierung der Szenen und durch Titel, die wiederum dem Zitattext entnommen sind. Eine metatheatralische Klammer für dieses Ensemble konstituieren die beiden Vorspiele, die mit den letzten Szenen in Verbindung stehen: Dem Tod des Mannes im ersten Vorspiel, der durch seine Verkleidung und durch den Schein- und Darsteüungscharakter seines Tuns, der sprachlich mit dem mehrmaligen »wie« markiert ist, Qualitäten eines Schauspielers aufweist, korrespondiert der Selbstmord des Schauspielers im Aktionstext, und Vaihu, der am Ende des zweiten Vorspiels auf der Tribüne Platz nimmt, hat bis zu seinem Eintreten ins Spiel in der 15, Szene potentiell eine Zuschauerposition inne. Diese Vorspiele ähneln im Schriftbild den Aktionstexten, unterscheiden sich aber von ihnen durch die fehlende Numerierung, durch die Abwesenheit der Protagonisten und durch den Charakter der Titel, die offensichtlich einen weiteren, akustischen und optischen Rahmen für den Gesamttext konstituieren. Außerdem unterscheiden die Vorspiele sich voneinander in ihrem Realitätsrnodus; 648
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In Das Mündel will Vormund sein wird die Tätigkeit der Katze eingangs mit folgender Regieanweisung beschrieben: »Wahrscheinlich wird sie beim Aufgehen des Vorhangs den Kopf heben und dann tun, was sie tut, so daß wir erkennen: sie stellt das dar, was sie tut.« Vgl. Finter über Roussels Les Impressions d'Afrique: Finter I990a, S, 220,
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Während im ersten Vorspiel das Theater explizit thematisiert wird und auch der Mord, mit Derrida als Ausgangspunkt des Theaters zitiert, irn Modus des »als ob« durch das mehrfach (auch in der Überschrift) erscheinende und besonders markierte »wie« deutlich als gespielt und als an einem verkleideten Mann (Schauspieler) vollzogen präsentiert wird, erscheint im zweiten Vorspiel der »wiederkehrende« Kaiser Vaihu ohne solche Hinweise auf den Vereinbarungscharakter der theatralen Veranstaltung. Auch der vorher >»wie< tot« liegengebliebene Mann (Schauspieler) ist nun definitiv zum »Toten«, zum »Leichnam« geworden: Repräsentation wird zur Identifikation. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, stellen die Titel der beiden Vorspiele weniger konkrete Anweisungen für akustische und optische Zeichen der Bühne dar, als vielmehr Hinweise auf die Ästhetik des Gesarnüextes, In einer Anmerkung (S. 32) erwähnt Wysocki als Vorbilder für die hier beschriebene »Akustik« und die »Spielorte« ihres Theatertextes Raymond Roussels Romane Les Impressions d'Afrique (1910) und Locus Solus (1914), Texte, denen nicht nur die Orte, Objekte und Figuren der Vorspiele entliehen sind: Diese Romane650 werden als Vorläufer des Surrealismus betrachtet. Sie zeichnet ein experimenteller Umgang mit Textverfahren und Sprache aus (Veränderung von Bedeutung durch wechselnde und fehlende Kontexte), auf einen klaren narraüven Zusammenhang wird zugunsten einer entscheidenden Rolle des Unbewußten bei Produktion und Rezeption verzichtet. 651 Roussels nach poetischen, nicht nach darstellenden Prinzipien strukturiertem Schreiben wohnt die Utopie eines Performance-Theaters inne, das »alle existierenden und noch zu erfindenden theatralischen Signifikantensysteme an ihre Grenzen treibt, neu artikuliert und verbindet«. 652 Solchermaßen nicht-repräsentationales Theater befragt Theatralitat nach ihren Bedingungen und Funktionen. Versteht man somit diesen äußersten Rahmen von Schauspieler Tänzer Sängerin als Vorgabe des Programms einer Theatralität, die sich aus dem selbstreferentiellen und poetischen Einsatz der Bühnenmittel speist, und berücksichtigt man darüberhinaus den Artaudbezug der Ich-Instanz in der ersten Szene,65-1 die im übrigen gegen Ende 650
Beide wurden übrigens fürs Theater adaptiert: Les Impressions d'Afrique arbeitete Roussel selbst um, die Adaption von Locus Solus besorgte Pierre Frondaie, Vgl. Finter 1990a, S. 169-280, insbes. S. 206ff. 651 Lt. Kindlers neues Ltteraturlexikon, hg, v. Walter Jens, München, 1991, Bd. 14, S. 399-10]. 652 Finter 1990a,S. 231. 653 Auf dessen Bedeutung für den Entwurf des Programms, nach dem der Text funktioniert, weist Vogelsang hin: 1992, S. 344.
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des Textes (15. Szene) wieder erscheint und somit ebenfalls eine Rahmung bildet, so ergibt sich ein ziemlich klar umrissenes Konzept für eine Theatralität, die in diesem Text nicht nur autoreflexiv thematisiert, sondern zugleich als theatrale Praxis entworfen wird. Mit dem Bezug auf Roussel und Artaud, die Finter beide als Vorläufer eines Theaters des »subjektiven Raums« einordnet, das im postmodernen Theater seine Fortsetzung finde, wird eine Theaterästhetik aufgerufen, die das dramatische und textzentrierte Theater, ja die Festlegung des Theaters auf eines seiner vielfältigen Zeichensysteme überhaupt, als seinen Untergang verurteilt und gerade in der Polyphonic seiner Signifikanten die Chance der Theatralität sieht. Die Thealerutopien, die Finter als Theater des subjektiven Raumes beschreibt, stellen die Frage nach der Sprache. Artaud sieht die Aufgabe des Theaters darin, die »Ruhe der Sinne« aufzustören und das Unbewußte freizusetzen,654 die Bühne als »körperlichen, konkreten Ort« mit einer eigenen »konkreten«, »körperlichen«, »handfesten« Sprache, einer »Poesie für die Sinne«, »Poesie im Raum« zu nutzen,555 die sich notwendigerweise der symbolischen Ordnung codierter Sprache entzieht. Wenn Wysocki dies im Medium des Textes (der Schrift) tut, folgt sie nur einer Spur, die sich bei Artaud selbst schon finden läßt, der nur irrtümlicherweise als Vorkämpfer eines Theaters ohne Text betrachtet wird.656 Auch Artaud zielt auf eine Nutzung der (gesprochenen) Sprache als Kunstmedium jenseits der Bezeichnungsfunktion, also jenseits der symbolischen Modalität der Sinngebung. Bei dem Versuch, die konkrete »Sprache« der Bühne von der Verbalsprache zu unterscheiden, führt Artaud aus, der Unterschied bestehe in all dem, was die Bühne beschäftigt, in all dem, was auf einer Bühne in stofflicher Hinsicht sich manifestiert und ausdrückt und was sich zunächst einmal an die Sinne richtet statt gleich an den Geist wie die Sprache des Wortes.
Im gleichen Aternzug räumt er freilich ein: Ich weiß wohl, daß auch Wörter Möglichkeiten der Sonorisation haben, verschiedene Arten, sich in den Raum zu projizieren, die man Intonationen nennt. Und es gäbe noch viel zu sagen über den konkreten Wert der Intonation für das Theater, über die den Wörtern innewohnende Fähigkeit, Musik zu erzeugen je nach dem, wie sie ausgesprochen werden und unabhängig von ihrem konkreten Sinn, welche Fähigkeit sogar ihrem Sinn zuwiderlaufen kann -, unter der Spra654
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Antonin Artaud: »Das Theater und die Pest«, Das Theater und sein Double, FfM, 1989, S. 17-34, Zitat S. 30. Antonin Artaud: »Die Inszenierung und die Metaphysik«, Ibid., S, 35—50, Zitat S. 39f. Hierzu: Finter 1990b, bes. S. 93-97, und Teil 2.1 dieser Arbeit.
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ehe einen unterirdischen Strom von Eindrücken, von Entsprechungen, von Analogien zu erzeugen [...].657
Es ist nichts anderes als die semiotische Modalität der Sinngebung durch Sprache, die Artaud in diesem kurzen Exkurs beschreibt, den er gleich wieder abbricht, da diese Seite der Sprache durch den »dramatischen Autor«, falls überhaupt erkannt, maximal als Zugabe behandelt werde. Die Suche nach einer Musik der Sprache, die Erforschung der theatralischen (sonoren und raumschaffenden) Qualitäten der Stimme und schließlich die Entgrenzung der Sprache sind aber ebenso wesentlich für Artauds Theaterutopie wie die von der Artaudrezeption lange Zeit betonte Seite des Imaginären. Wysocki nutzt genau diese performativen Qualitäten der Sprache als Stimme und auch als geschriebener Text. Dadurch liefert Schauspieler Tänzer Sängerin aber neben der allgemein als Zentrum des Textes erkannten »Dekonstruktion des Mythos vom Theater« in seinem aktuellen Zustand658 auch einen Gegenentwurf, der in Artaud-Nachfolge dessen Theatralitätskonzept für und durch den schriftlichen Theatertext wirksam macht: Theater als dynamische »Performance des Denkens«, als »semiotisches Experiment«. 659 Das utopische Moment liegt hier allerdings nicht im Inhalt, sondern in der Form des schriftlichen Entwurfs: Dieses nicht-repräsentationale Theater ist konsequenterweise durch die symbolische Ordnung der Schriftsprache nicht fixierbar. Der Text entwirft, wie gesehen, verschiedene, durch Korrespondenzbezüge und gegenseitige Durchdringung ineinandergeschobene Textebenen oder -schichten, die intern nochmals differenziert werden durch die Gliederung in Absätze, die Verwendung verschiedener Schriftschnitte und - in den Zitatpartien - durch variable Abstände zwischen den Absätzen und zusätzliches Einfügen oder die Unterschlagung von Leerstellen. Angesichts dieser Textgestalt lehnt Vogelsang richtig sowohl den Begriff »Partitur« als auch die Behauptung einer Zweistimmigkeit ab und spricht stattdessen von einer »unspezifischen Mehrstimmigkeit«. Der Text signalisiere schon durch seine äußere Form ein gebrochenes Verhältnis zum Zeichensystem der Sprache und zu ihrer Strukturierung durch hierarchische Zusammenhänge.660 Die auffällige zweispaltige und unregelmäßige Anordnung der Zitatrnontage spiegelt in der Tat nur die oben behandelte, weitaus umfassendere Struktur des gesamten Textes, die ebenfalls Hierarchie und Ordnung (etwa in der 657
Artaud: »Die Inszenierung und die Metaphysik«, S. 40. Vogelsang 1992, S. 351. 659 Finter 199%, S. 92. 660 Vogelsang 1992, S, 341-344, Zitat S, 342. 658
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Unterscheidung verschiedener Realitätsebenen, in der Verwendung figuraler Repliken oder einfach in einer eindeutigen Kennzeichnung von Haupt- und Nebentext) verweigert. Das führt dazu, daß verschiedene Interpretationen selbst der von Vogelsang so selbstverständlich als »Haupt- und Nebentext« bezeichneten Ebenen möglich sind. Eine dramaturgische Analyse von Schauspieler Tänzer Sängerin hätte also zunächst zu entscheiden, welche Teile des Textes szenisch umgesetzt werden, welche zu Gehör kommen und durch wen diese gesprochen werden. Der Text selbst gibt keine Lösung definitiv vor, theoretisch ist alles möglich: eine von außen kommentierte, selbst stumm verlaufende Bühnenaktion (aus Aktionstext und/oder Zitattext) ebenso wie die Aufteilung des Zitattextes auf die drei Protagonisten, welche die sie jeweils betreffenden Passagen sprechen. Vorstellbar ist außerdem sowohl eine Verdopplung der Protagonisten, so daß Aktions- und gesprochener Text simultan nebeneinander ablaufen können, als auch eine Vermischung der beiden Ebenen. Angesichts einer solchen offensichtlich bewußt eingesetzten Vielzahl von szenischen Urnsetzungsmöglichkeiten kann es nicht darauf ankommen, die »richtige« Lösung zu finden. Wichtig erscheint es allerdings, die Sprache, die sich hier als Schrift-Bild präsentiert, als »Tauschwert« 661 für die szenische Umsetzung zu erkennen. Dabei ist sowohl ihrer musikalisch-rhythmischen Struktur und ihren sonoren Qualitäten als gesprochene Sprache Rechnung zu tragen, die sich etwa in leitmotivartig wiederkehrenden Passagen und in durch die Typographie markierten wechselnden Intensitäten und Tempi manifestieren, als auch dem räumlich-dynamischen Verhältnis der einzelnen Textblöcke zueinander, wie es sich auf der Druckseite etwa in der Rhythmisierung durch Leerstellen und im Wechsel von ausschließlich horizontaler Gliederung (Zusatztext) und zusätzlicher vertikaler Zweiteilung (Zitatmontage) niederschlägt. Die Transformation von Wysockis Dekonstruktion der symbolischen Ordnung der Schriftsprache in eine »Poesie der Sinne«, die mit Zeit und Raum die in der Textgestalt angedeuteten zusätzlichen Dimensionen der Bühne nutzt, die Übersetzung also von den in ihrer Materialität genutzten sprachlichen Signifikanten in die Materialität der Bühnensignifikanten, ist Aufgabe einer Inszenierung, die ebenso wie der Text das Prinzip der Repräsentation durch dasjenige der »Artikulation« 662 zu ersetzen hätte, Inszenierung bedeutete dann die Übersetzung auch des semiotischen »Überschusses« der Sprache im schriftlichen Text in akustische 661 662
Vogelsang 1992,5. 346. Vogelsang 1992, S. 350,
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und optische Zeichen der Bühne, die als vom Signifikat isolierte Signifikanten (also wie der Körper des Tänzers und die Stimme der Koloratursängerin) genutzt werden. Soweit dem einmal erkannten autoreflexiven »Sinn« des Theatertextes - als Entwurf einer autoreflexiven Signifikantenpraxis gegen das Repräsentationstheater und einer zum Dramatischen alternativen Theatralitat, damit zugleich einer zum repräsentationalen, zweiwertigen abendländischen Denken alternativen, mehrwertigen Logik - dabei Rechnung getragen wird, sind somit die unterschiedlichsten Fortsetzungen des vorn Text entworfenen Programmes mit den Mitteln der Bühne denkbar, insbesondere die Vervielfältigung, Wiederholung und Spiegelung einzelner Textteile und ihre variable Zuordnung zum optischen und akustischen »Text« der Bühne. Daß dies in der Uraufführung unter der Regie des kongenialen Axel Manthey offensichtlich gelang, zeigen Presseechos, die von ihr als einer »ungewöhnlichen Spiel- und Sehschule« 661 und einer »Phantasiewerkstatt« 664 sprechen und von einem Theaterabend, der den Zuschauer dazu bringe, sich »beim Zuschauen zu beobachten«.665 Wenn Verena Auffermann das Projekt als »Grenzüberschreitung, damit Grenzen sichtbar werden« bezeichnet,666 charakterisiert sie es als autoreflexive »Weltkunst« im Sinne Luhmanns. Vor dem Hintergrund der oben angestellten Betrachtungen zur adäquaten Transformation solcher nicht-repräsentationaler Theatertexte, die nun auch konkret genannt werden können (unter Rekurs auf Artauds Vorstellung von einer »konkreten« Sprache des Theaters und in Parallele zur bildenden Kunst, die das Paradox der sogenannten »abstrakten« Kunst elegant bewältigt, indem sie diese auch »konkret« nennt), erscheint eine Hierarchisierung der beteiligten Künstler, wie sie Helmut Schödel667 zugunsten der Regie vornimmt, allerdings kaum mehr vertretbar. Bei aller Hochachtung für die Leistung Axel Mantheys und seiner Darsteller: Die »Übung für Zuschauer«668 ist in Wysockis Theatertext, dem Schödel offensichtlich wenig Theatralität zubilligt, freilich (fast im Wortsinne) zwischen den Zeilen, bereits angelegt. Der Theatertext als Entwurf neuer, autoreflexiver Formen der als Wabrnehmungsmodus verstandenen Theatralität ist auf eine Regie angewiesen, die diesen Entwurf zur 663
Peter von Becker: »Drei Grazien«, TH, H. 6/1988, S. 18-21, Zitat S. 21. H, S.: »Theater-Phantasiewerkstatt: Schauspieler, Tänzer, Sängerin«, FR, 10.5.1988. 605 Helmut Schödel: »Der erste Blick«, Zeit, 13,5.1988, 666 »Das Abendland im Gepäck«, SZ, 10.5.1988. 667 Schödel: »Der erste Blick«, Zeit, 13.5.1988. 668 Ibid _ 664
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szenischen Praxis macht. Die Regie ihrerseits braucht, wo sie dem Theater bei der Erkundung von Theatralität das gesprochene Wort bewahren will, solche Texte. Beide brauchen schließlich die Bereitschaft des Zuschauers, sich auf solche Erkundungen der eigenen Wahrnehmungsmodalitäten einzulassen. Elfriede Jelinek: Wolken.Heim. 1987 heißt es über Elfriede Jelinek, wo das Theater zunehmend wortlose Bilder produziere, beharre sie »auf Sprache als einem wesentlichen Kunstmittel«.669 Wenig später670 liegt mit Wolken.Heim. ein Theatertext Jelineks vor, der die Ausschließlichkeit der Sprache als Kunstmittel in kaum zu steigernder Deutlichkeit hervortreten läßt. Obwohl ausdrücklich für die Bühne konzipiert, enthält dieser Text nichts von dem, was man gemeinhin als »szenischen Entwurf« bezeichnen würde. Der Text liegt frei von jeder Aufteilung in Repliken und Bindung an Bühnenfiguren (oder sonstige Verlautbarungsinstanzen) vor, an keiner Stelle ist er als Regieanweisung zu lesen. Mit außersprachlichem Bühnengeschehen und einer in Raum und Zeit verorteten Sprechsituation fehlen alle Elemente der Narration: Entweder wird für die Äußerungen von vornherein zeitlose Gültigkeit proklamiert, so in den Formulierungen »immer« und »seit Jahren und Jahren« (S. 9), oder aber Deiktika wie »jetzt« und »hier« bleiben ohne definierten Bezugspunkt wie schon in Begierde & Fahrerlaubnis. Selbst die so konkret anmutenden, immer wiederkehrenden Formeln für Heimat (wie »bei uns«, »daheim« u.a.) bleiben merkwürdig inhaltsleer, da sie sich auf eine Diskurs- oder Verlautbarungsinstanz beziehen, die sich keineswegs ausschließlich als »Wir« darstellt und unbestimmt bleibt. In einer Notiz informiert die Autorin darüber, daß weite Teile des Theatertextes auf namhafte Referenztexte (vornehmlich aus dem deutschen Idealismus) zurückgehen: Die verwendeten Texte sind unter anderem von: Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus den Briefen der RAF von 1973-1977. {S. 57)
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Regine Friedrich: »Nachwort« zu Elfriede Jelinek: Krankheil oder Moderne Frauen, hg. u. mit e. Nachwort von Reg ine Friedrich, Köln, 1987, S. 84-93, Zitat S. 92. Caduff weist darauf hin, daß der Anfang dieses 1988 uraufgeführten Textes bereits 1987 (allerdings unter Verwendung der 2. Person Singular) für die Komponistin Patricia Jünger geschrieben wurde, die ihn unter dem Titel »Heller Schein« vertonte: Caduff 1991, S. 267.
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Im Programmheft zur Hamburger Aufführung wird darauf hingewiesen, daß neben den hier ausdrücklich erwähnten Autoren noch weitere anklingen,671 was die Formulierung »unter anderem« in der Notiz ja bereits vermuten läßt. Wolken.Heim, ist also geprägt von markierter Intertextualität und völligem Verzicht auf Elemente der dramatischen Form, vom Einsatz der (über weite Teile bereits vorgefertigten, wenn auch veränderten) Sprache als eines anonymen und abstrakten Sprechens, das ausschließliches und einziges Kunstmittel des Theatertextes als Medium ästhetischer Kommunikation ist - unabhängig von binnenfiktionaler Kommunikation. Aufgrund dieses radikalen Bruchs mit den Gattungskonventionen wird Wolken,Heim, häufig die Zugehörigkeit zur »Dramatik« abgesprochen: »Auch kein Stück«, bemerkt ein Kritiker lakonisch,672 an anderer Stelle wird gar der Begriff »Unstuck« bemüht,673 und oft wird von einem Prosatext gesprochen, der szenisch realisiert worden sei. Auf der anderen Seite rücken der von den zitierten Hölderiingedichten geprägte Sprachduktus und die Gestaltung des Textes nach musikalischen Prinzipien ihn in die Nähe der Lyrik, was auch zu seiner Bezeichnung als »Prosagedicht«674 oder »hochartifizielle Versprosa«675 führt, und wo mit den Begriffen der Montage oder Collage die Machart bezeichnet wird, umgeht man die Gattungsfrage, Die Bezeichnung »Monolog«676 allerdings, die Einstimmigkeit suggeriert, führt in die Irre, da die Anzahl der Sprechenden offen bleibt und neben der unzweifelhaft vollzogenen Verschmelzung der Zitate zu einem Identität beschwörenden Gesang auch Mehrstimmigkeit angelegt ist: durch die Erwähnung der durchaus nicht allesamt einem einzigen Tenor zuzuordnenden Quellentexte am Ende und durch das den gesamten Text als »Generalbaß«677 durchziehende »Wir«, aus dem nur im Mittelteil (zuerst auf S. 26, 671
Tilman Raabke: »Ein Stück Deutschland; Zu Elfriede Jelineks Wolken.Heim.«, Deutsches Schauspielhaus in Hamburg (Hg.): Wolken.Heim. (Programmheft), Hamburg, 1993, S. 10-14. 672 Gerhard Stadelmaier: »Dialogallergie im Monologbunker«, FAZ, 26.10.1993. 67 3 - Karin Kathrein: »Und Mendel Krik hat Söhne in seinem Haus...«, Bühne, 674 675
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H. 5/1993, S. 42-45, Zitat S. 42. Christa Gürtler: »Hölderlin und RAF«, Falter (Wien), N° 26 (29.6.-5.7.J, 1990. Burkhardt Lindner: »Deutschland: Erhabener Abgesang. Eifriede Jelineks Spiegel-Verzerrung zur Selbsterkenntnis«, FR, 7.4.1990. Von einem »Theatermonolog« spricht Jürgen Berger in seiner Kritik zur Koblenzer Inszenierung, die Wolken.Heim, auch als solchen in Szene setzte {»Ein Wir, das raunt«, taz, 14.11.1990). Stadelmaier, FAZ, 26.10.1993. 275
zuletzt S. 46} unvermittelt ein sprechendes »Ich« ersteht, das zwischen Behauptung von Individualität und Sehnsucht nach Eingehen ins »Wir« zu schwanken scheint, ehe es sich wieder im »Wir« verliert. Auffällig ist ebendort die parallele Häufung des Begriffs »Mensch«678 - sowohl ein Teil des »Wir« als auch ein Gegenstück zu Volk und Gesellschaft bezeichnend - der vorher und nachher, abgesehen vom allerersten Abschnitt (S. 9f,), der als »Ouvertüre«679 auch dieses Thema anspielt, sonst nur ein einziges Mal auftaucht (S. IS). In der Tat ist auch die Diskursinstanz vielfach gebrochen und holt die beschworene Einheit niemals ganz ein: »Wir«, das sind, nach anfänglicher Unbestimmtheit, zunächst »all diese ursprünglichen Menschen wie wir, ein Urvolk, das Volk schlechtweg. Deutsche! Deutsche! Deutsche!« (S. 28), Doch urn die Frage, ob ein Volk unter Berufung auf nationale Mythen, auf sein »Gedächtnis des Bodens«,680 tatsächlich in der Lage ist, zu einem Monolog zusammenzufinden, scheint der Text gerade zu kreisen. Die Harnburger Aufführung teilte diesen Text auf sechs Schauspielerinnen auf, man sprach von »einem einzigen, wenn auch mit Rissen, Abgründen durchsetzten Monolog«, in dem offenbleibe, wer ihn halte und in dem »zuletzt die deutsche Sprache selbst« spreche.681 Sind schon für die Diskursinstanz verschiedene Deutungen denkbar, so enthält der Text durch seinen völligen Verzicht auf Figuration eine Antwort auf die Frage nach der Verlautbarungsinstanz ganz vor. Jelinek betont die Unpersönlichkeit dieses Sprechens, wenn sie den Text »aus einem kleinen Volksempfänger gesendet, wie von einer Maschine gesprochen« imaginiert 682 und über ihn (lobend) sagt, er sei »so abstrakt [...], daß sich kein Schauspieler mehr mit ihm identifizieren kann«, so daß er auch nicht durch die Konstruktion einer Figur erschlossen werden könne.683 Was bereits in Totenauberg an den Sprachflächen gezeigt wurde, ist hier in letzter Konsequenz durchgeführt: die Abkoppelung des Sprechens vom Sprechenden und damit das Hervortreten der Rede als eines unpersönlichen, überindividuellen Diskurses mit Eigendynamik, die Konstitution eines Spre678 679 680
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Auf den Seiten 25, 26, 28, 29, 34, 38, 40, 42 und 44. Vgl, weiter unten die Zusammenfassung der Analyse Kohlenbachs. Leonhard Schmeiser: »Das Gedächtnis des Bodens«, Tumult: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, H. 10/1987, S. 38-56. Dieser Text, den Jelinek in einer Vorbemerkung zu Woiken.Heim. erwähnt, spricht dem Boden eine repräsentationale (später von Denkmälern als Erinnerung an Schlachten übernommene) Funktion zur Bezeichnung der deutschen Nation zu. Raabke, Woiken.Heim. (Programmheft), Hamburg, 1993, S. 10-14. Jelinek in Roeder (Hg.) 1989, S. 156. Jelinek im Gespräch mit Tiedemann, TdZ, H. 6/1994, S. 36.
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chens, das, gleich einem Motor, »sich selbst spricht«, 684 Beide Theatertexte gehören auch inhaltlich eng zusammen, und die Autorin selbst beschreibt die unterschiedlichen Gestallungsweisen ihres gemeinsamen Themas (»Deutschland« / »Hier und Fremde«) wiederum mit musikalischen Begriffen, wenn sie Wolken.Heim, als ein »Fugenthema« bezeichnet und Totenauberg als dessen »kontrapunktische Verarbeitung«. 685 Mit ihrer Feststellung, sie habe »die großen klassischen Texte selbst sprechen lassen«, einmal »als Zitat« (in Wolken,Heim.) und einmal »als Verarbeitung« (in Toienauberg),^ benennt sie allerdings einen wesentlichen Unterschied: Wolken. Heim, arbeitet formal mit dem Zitieren, und der Sinn dieses Theatertextes ist ebensowenig von dieser Form zu lösen wie seine spezifische Theatralität. Zu diesem höchst komplexen Theatertext, der dem unmittelbaren Zugriff als »suggestiv und zugleich rätselhaft« 687 erscheint, liegen zwei detaillierte Untersuchungen vor, eine wissenschaftliche Studie und ein Essay,688 die seine Organisationsform und seine sprachlichen Verfahren, insbesondere des Zitierens, gewissenhaft beschreiben und versuchen, seinen Sinn zu bestimmen, wobei sie zu ausgesprochen unterschiedlichen Bewertungen gelangen. Im folgenden soll mit der Vorstellung der Ergebnisse beider Untersuchungen Grundlegendes zu Aufbau, Struktur und Strategie des Textes gesagt werden, um auf dieser Basis anschließend den Versuch einer dramaturgischen Analyse zu unternehmen, die mit den spezifisch theatralischen Qualitäten dieses Textes die Möglichkeiten seines »Funktionierens« im Theater untersuchen soll. Zunächst seien Margarete Kohlenbachs Betrachtungen knapp zusammengefaßt, die 1991 in einer Monographie über Jelinek erschienen und im Zusammenhang mit Beiträgen über sprachliche Verfahren der Satire auch in Jelineks erzählerischem Werk stehen: Kohlenbachs Analyse geht vom Titel »Wolken,Heim.« aus, dessen erster Teil auf die philosophisch-literarische Qualität des verwendeten Materials verweise, 684
Haß: »Grausige Bilder«, Elfriede Jelinek, München, 1993, S. 29, Jelinek im unveröff. Gespräch mit Reeder (»Ich mache Theater für Schuldige«, [1992]), S, l. 686 Ibid. 687 Lindner, FR, 7.4.1990, 688 Margarete Kohlenbach: »Montage und Mimikry: Zu El friede Jelineks Wolken. Heim.«, Bartsch/Höfler (Hg.) 1991, S. 121-153, Georg Stanitzek: »Kuckuck«, Gelegenheit. Diebe.: 3 Deutsche Motive, Dirk Baecker; Rembert Hüser; Georg Stanitzek, Bielefeld, 1991, S. 11-80, 685
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während der zweite Teil das Thema der Heimat als dessen Auswahl- und Organisationsprinzip ausweise. Die Aussparung des Mittelteils aus dem anklingenden Begriff >WolkenkuckucksheimReaIisierungUmsetzung(, >Konkretisierung< etc. vgl. im folgenden den Abschnitt 4.1.2 »Status des Zusatztextes«.
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bungspotenüale zu lesen, die sich aus nicht verbalsprachlichen Zeichen der Bühne ergeben, die der Theatertext voraussetzt {»in Rechnung stellt«), obgleich er sie nicht selbst besitzt. 8 Dabei ist einmal über den Status üblicherweise nicht als verbindlich betrachteter Regieanweisungen neu nachzudenken, was ja schon das eingangs angeführte Symptom der Theatertexte ohne »Haupttext« vermuten ließ. Andererseits ist der Theatertext durchaus nicht darauf beschränkt, die Zeichen der Bühne in Regieanweisungen diskursiv, also unter (ausschließlicher) Nutzung der symbolischen Sinngebungsmodalität der Sprache, zu beschreiben. Wenn der Theatertext als Transkription möglicher Aufführungen zu lesen ist, so gilt es auch und vor allem, die Modalitäten dieser Transkription zu verstehen, von denen symbolische Repräsentation nur eine mögliche darstellt. Pavis' Forderung, eine dramaturgische Analyse müsse notwendigerweise die konkreten Bedingungen der theatralcn Produktion präzisieren, 9 entfallt, wenn man den Begriff über die Vorbereitung einer Inszenierung hinaus auf ein prinzipielles Durchspielen möglicher impliziter Inszenierungen erweitert. Interessant wird vielmehr - unter Umkehrung der Blickrichtung - die Frage, welche theatralen »Spielregeln«, welches Funktionsmodell von Theater der Text selbst (implizit oder explizit) entwirft. Der »code de l'analyse« ist also, wie auch Pavis anmerkt, nicht etwa von vornherein gegeben und nur noch anzuwenden. 10 Es ist vielmehr gerade Aufgabe einer dramaturgischen Analyse, diesen Schlüssel zum Text erst zu finden, indem sie die im Text angelegten Semioseprozesse nachvollzieht und so mit den impliziten theatralen Kommunikationsstrukturen zugleich das Projekt der Sinnkonstitution durch den koproduzierenden Zuschauer erfaßt. Wenn die dramaturgische Analyse einen Theatertext auch hinsichtlich seiner einzelnen Komponenten systematisch untersucht, ihn dadurch strukturiert und überschaubar macht, so stehen doch, sobald die dramatische Form nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, a priori weder die Anzahl noch Natur oder Hierarchie dieser strukturellen Komponenten fest. Im Gegenteil: Ziel der Analysearbeit muß es gerade sein, die einzelnen Elemente des Theatertextes und ihren jeweiligen Status im Gefüge des Textes (als Textur) zu benennen, ihre funktionale Verknüpfung zu einer 8
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10
Zu dieser Präsuppositionsthese Horst Turks, die in Höfeies Theorie der impliziten Inszenierung einfließt, vgl. Kapitel 2.2. Pavis nennt als solche »les conditions de l'exercice de l'art theätra!: type de scene utilise, style de jeu, composition du public, implantation du theatre, etc.«: Pavis 1982,5.68. Ibid. S. 77.
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Text»masehine« zu erkennen und so den Theatertext als Entwurf eines theatralischen Programms zu verstehen.11 Das Programm dieser Textmaschine kann nun die hier als konventionell und intrafiktional bezeichnete Theatralität nutzen, die auf den Prinzipien dramatischer Repräsentation beruht, wie es bei Theatertexten der Fall ist, welche die dramatische Form problemlos nutzen. Es kann aber auch die von Finter »analytisch« genannte Theatralität implizieren, »den Zuschauer mitdenken«, was einer Verlagerung der Theatralität vom inneren ins äußere Kommunikationssystem gleichkommt. 12 Was dieses Mitdenken des Zuschauers bedeuten kann, war an Texten der kritischen Nutzung und Überwindung der dramatischen Form zu sehen, die traditionelle, auf szenischer oder sprachlicher Repräsentation beruhende Verstehensprozesse bewußt machen, sie des- und umorientieren, Unscharfen, Leerstellen und Paradoxien von »Bedeutung« nicht mehr ausgrenzen und stattdessen bewußt mit Gleiten von Sinn, mit Polyphonie und Polysemie sprachlicher und sprachlich entworfener szenischer Signifikanten arbeiten. Die Leistung einer dramaturgischen Analyse kann, statt in der Erschließung und Strukturierung einer Ebene des Dargestellten (Repräsentierten), auch auf einem anderen Reflexionsniveau angesiedelt sein, wenn mit Blick auf die externe theatrale Kommunikation die Strategien der Präsentation und damit die angezielten dynamischen Prozesse von Wahrnehmung und Sinnproduktion geklärt werden, die für die Konstitution analytischer Theatralität wesentlich sind. Anders als bei der traditionellen hermeneutischen Interpretation von Dramen kann also als Ziel der dramaturgischen Analyse nicht selbstverständlich das Verstehen des Theatertextes vorausgesetzt werden.
1
' Die Bezeichnung des Theatertextes als Maschine, die dem Prozeßcharakter der signifiance und damit der Bedeutungsproduktion durch Artikulation statt durch Repräsentation Rechnung trägt, ist spätestens seit Heiner Müllers Hamletmaschine in der Diskussion; so wird beispielsweise auch Gisela von Wysockis Abendlandleben in einer Rezension als »Textmaschine« vorgestellt (Christina Weiss: »Ich öffne Ihren Kopf, Monsieur«, 52, K/2.8,1987). Als »dioptrische Maschine, die Laut- und Bildvorstellungen produziert«, faßt Finter, auf deren Konzept analytischer Theatralität hier zurückgegriffen wird, den Theatertext auf (Helga Finter: »Audiovision: Zur Dioptrik von Text, Bühne und Zuschauer«, Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen, 1994, S. 183-192, Zitat S. 185), und auch Hottong unterstreicht für Roths Dramaturgie den kinetischen Charakter der Texte, der sich in zahlreichen ihrer Formulierungen (»Übergängigkeil«, »Scharniere«, »Bäckertransformation«) niederschlägt. 12 Diese Unterscheidung wird von Helga Finter entwickelt und sowohl auf einen »neuen nichtdramatischen Texttypus« als auch auf »postmodemes Theater« angewandt: Finter 3990 und 1994. 291
In der Literaturwissenschaft ist man im Zuge des Paradigmenwechsels der ästhetischen Moderne schon länger mit Vorbehalten gegen traditionelle Projekte der Sinnstiftung durch Interpretation konfrontiert, die in jüngster Zeit durch poststrukturalistische Theorien noch verschärft werden.13 Die Literaturwissenschaft versucht, der Herausforderung durch poststrukturalistische Theorien und neuartige literarische Praxis mit einem neuen Textbegriff und einer Theorie der Lektüre zu begegnen, die neueren Erkenntnissen über (zumal poetische) Sprache Rechnung tragen und die Bedeutung eines Textes nicht einmal mehr als - wenn auch unerreichbaren - Fluchtpunkt der Analyse akzeptieren, stattdessen seinen »Relationsaufbau« in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Auch für Theatertexte gilt, daß ihr Sinn gerade in der Unerschließbarkeit von Bedeutung zu finden sein kann, in den vom Text und seinen impliziten Inszenierungen ausgelösten vielfältigen, paradoxen, ungewohnten Sinngebungsprozessen, in der Erzeugung von Kontingenz beim Beobachter und in der Induktion seiner Selbstbeobachtung. In einem für unseren Zusammenhang beachtenswerten Aufsatz14 demonstriert Ulrich Gaier am Beispiel eines Jandl-Gedichts, wie Interpretation möglich ist als »Rekonstruktion von Lektüren«, die sich auf den Kommunikationsbezug zwischen Text und Leser richtet und so möglichst viele mögliche Lektüren eines Textes erarbeitet. So verstanden als rekonstruierte, analytische, »bewußt gemachte, kontrollierte, selbstkritische Lektüre«,15 lernt und lehrt Interpretation das Lesen: den Umgang mit literarischen Texten. Wenn auch die Anwendung der von Gaier hier exemplarisch durchgeführten »Rekonstruktion einer Erstlektüre«16 für längere Texte als das gewählte »Sprechgedicht« Jandl^falamaleikum, kaum vorstellbar ist, wenn auch der Schematismus des Verfahrens abschreckt und darüberhinaus bei Gedichten die Wahl der Erstlektüre als Basis der Interpretation sicherlich problematisch ist, so sind doch Anregungen aus diesem Ansatz für die dramaturgische Analyse nutzbar, zumal ein Sprechgedicht den »zeitlichen und tonlichen Vollzug des Hörens«, also die »Aufführungsbedingungen«, wie es Gaier selbst unter Rückgriff auf das Theatervokabular formuliert, in Rechnung
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Vgl. hierzu Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hg.v, Jürgen Fohrmann und Harro Müller, FfM, 1988. Ulrich Gaier: »Über Lektüre und Interpretation. Zu einem Gedicht von Ernst Jandl«, Dialogizitäi, hg.v. Renate Lachmann, München, 1982, S. 107—126. Ibid. S. 114. Ibid.
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stellt.17 Als Prä-Konstruktion möglicher Lektüren (durch potentielle Zuschauer impliziter Inszenierungen) hätte eine dramaturgische Analyse dann nicht mehr das Verstehen zum Ziel, sondern vielmehr das Begreifen der im Text entworfenen theatralischen Kommunikationsprozesse. Im Gegensatz zur Gedichtanalyse allerdings - und das macht dramaturgische Analyse zum kreativen Prozeß und verhindert Schematismen, wie sie bei Gaier auftreten muß ein Theatertext dabei zwei Ebenen der Rezeption im Auge haben: Für die »Lektüre« des Theatertextes durch den Zuschauer (die sekundäre Rezeption) ist ja immer die ihr vorgeschaltete szenische, »dargestellte«, »illustrierte« und »kollektive Lektüre« des Textes in der Inszenierung18 (die primäre Rezeption) bestimmend. Die Metasprache dieser dargestellten Lektüre besteht nun laut Pavis weitgehend aus nonverbalen Zeichen und etabliert neben dem symbolischen System der Sprache ein ikonisches, bewirkt somit in der Aufführung durch die Gleichzeitigkeit von Sehen und Hören ein Schielen (»Strabismuseffekt«)19 in der Wahrnehmung der Zuschauer und setzt einen »Dialog von Gesagtem und Gezeigtem«20 in Gang. Pavis nennt als Spezifikum dieses ikonischen, nonverbalen »Sprechens« über den Text in der Inszenierung die »Fähigkeit, zweideutige und polyvatente Semiotisierungen hervorzubringen«.21 Wenn nun aber, wie unsere Analysen ergeben haben, der Theatertext selbst mit Polysemie arbeitet und Symbolisierung unterläuft, sei es unter intensiver Nutzung (im Text verbal sprachlich symbolisierter) nonverbaler theatraler Zeichen, wie etwa bei Streeruwitz, sei es, indem er sich der Verbal spräche nicht ausschließlich und fraglos als eines geschlossenen symbolischen Systems bedient, wie etwa bei Jelineks Arbeit mit der »semiotischen« Sinngebungsmodalität, so gilt es, in den Texten eben dieses theatrale Potential, ihre spezifische Theatralität, ausfindig und damit für Inszenierungen nutzbar zu machen. Diese beruht im ersten Fall darauf, daß die Theatralität der pragmatischen Kommunikationssituation und ihrer szenischen Zeichen in Rechnung gestellt wird, während im zweiten Fall performative Dimensionen der Schrift und der sprachlichen Zeichen selbst erkundet und genutzt werden. Dem innerästhetischen Medienwechsel vom
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Ibid. S. 115. Zum Konzept der Inszenierung als dargestellte, illustrierte und kollektive Lektüre vgl. Patrice Pavis 1988 und ders.: »Die Inszenierung zwischen Text und Auffuhrung«, Z/S, 11 (1989), H. l, S. 13-27. Ibid. S. 20. Ibid. Ibid. S. 19.
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homogenen verbalsprachlichen Zeichensystem zum heterogenen Zeichensystem der Bühne entspricht also nicht in jedem Fall auch der Wechsel von symbolischer Repräsentation des schriftsprachlichen Textes zu ikonischer Bedeutungsfülle des szenischen »Textes«, sondern auch der Theatertext selbst kann Sinngebungsprozesse in Gang setzen, die nicht unter die Gesetze der Symbolisierung fallen. Die dramaturgische Analyse muß somit Texttheatralität nicht nur als in Rechnung gestellte (implizite) Theatralität der Bühnenvorgänge und der durch sie ausgelösten Rezeptionsprozesse untersuchen (4,1), sondern muß auch theatrales Potential im verbalsprachlichen Text selbst erschließen, etwa in der Materialität oder im intertextuellen Kraftfeld seiner sprachlichen Zeichen, und nicht nur in deren Bedeutungen (4.2). Bevor die Überlegungen zu Wegen der dramaturgischen Analyse nun anhand der Untersuchungsergebnisse konkretisiert und systematisiert werden, sei nochmals zusammenfassend das Ziel einer solchen Analyse charakterisiert: Die dramaturgische Analyse als Präkonstruktion möglicher (impliziter) Inszenierungen untersucht zunächst die in den Theatertexten angelegten theatralen »Spielregeln«, die mit dem Modus der entworfenen Kommunikation (implizite Theatralität) zugleich die Regeln der Analyse abstecken. Dieser erste Schritt sucht also das implizite theatrale Kommunikationssystem in der Makrostruktur des Theatertextes zu erkennen, das Programm, nach dem die Textmaschine auf dem Theater funktionieren kann, und das in Status und funktionaler Verknüpfung ihrer Elemente enthalten ist. Das Ergebnis dieses ersten Schrittes ist ausschlaggebend für die weitere Vorgehensweise, da es erlaubt, die Theatralität zu bestimmen, die der Text impliziert. Entwirft der Theatertext ein dramatisches Funktionsmodell von Theater, so wird er mit den Kriterien traditioneller Dramenanalyse, die das innere Kommunikationssystem zum Ausgangspunkt nimmt, hinreichend erschlossen. Die konventionell-intrafiktionale Theatralität solcher Texte entspricht im wesentlichen ihrer Dramatizität. Wo hingegen das dramatische Funktionsmodell von Theater im Text durch die behandelten Verfahren der kritischen Nutzung problematisiert und unterwandert oder gar verabschiedet wird, definiert sich der Sinn des Theatertextes nicht mehr durch das Dargestellte, sondern »denkt den Zuschauer mit« (Finter), liegt also im äußeren Kommunikationssystem: in der Fähigkeit des Textes, Sinngebungsprozesse in Gang zu setzen und bewußt zu machen. Das im Text entworfene analytisch-theatrale Funktionsmodell wird also in einer Bewegung der Autoreflexion selbst sinnstiftend, und zwar, folgt man Schramms Überlegungen zum Zusammenhang von Theatralität und Denkstil, als Spiegel neuer
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(dynamischer, nicht-repräseniationaler) Funktionsmodelle von Wahmehmungs- und Bewußtseinsprozessen.22 Da aber das Prinzip der Repräsentation nicht nur für die vom Text in Rechnung gestellten Zeichen der Bühne unterwandert und ersetzt wird, sondern auch die Funktionsweise linguistischer Zeichen statt auf ihrer referentiellen Funktion auf ihrer Materialität und ihrem intertextuellen Potential basieren kann, rückt in einem zweiten Schritt nach dem theatralischen Potential des verbalsprachlich symbolisierten Bühnengeschehens (Theater) die sprachliche Theatralität des Textes in den Vordergrund: das Potential theatraler Wirkungen auch der Organisation und Gestaltung der materiellen Seite der verbalsprachlichen Signifikanten selbst (neben und jenseits ihrer Bezeichnungsfunktion). Damit werden nicht nur Möglichkeiten einer szenischen Transformation erschlossen. Wie unsere Untersuchungen gezeigt haben, liegt gerade im Entwurf einer spezifischen Theatralität durch den Text oft auch sein (»metatheatralischer«) Sinn, der in Kritik an herrschender Sinngebungspraxis, aber auch im utopischen Potential der Erschließung anderer Erlebnis- und Betrachtungsebenen zu suchen sein kann. Die dramaturgische Analyse folgt also, indem sie als Horizont ihrer Lektüre die Funktionsweise des Textes in den durch ihn selbst entworfenen theatralen Kommunikationsprozessen wählt, der markiert und kritisch metatheatralischen, also selbstreflexiven Bewegung solcher Theatertexte, welche die dramatische Form kritisch nutzen oder überwinden und, in Anlehnung an Finters Begriff der analytischen Theatralität, auch als analytische Theatertexte benennbar werden. Vermeiden soll die dramaturgische Analyse somit den »Grundirrtum«, das »utopische Moment« von Kunst oder Literatur ausschließlich im Inhalt zu suchen und nicht »in der Form oder in der Formulierung«.23 In Anlehnung an Luhmanns Konzept einer »Weltkunst« läßt sich sagen: Theateitexte, welche die Fremdreferenz einer »Objektkunst« durch Selbstreferenz ersetzen (oder zumindest ergänzen) und damit die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt hinfällig machen, erzielen ihre Wirkung durch »Beobachtetweri/^««. »Formzwang« und »Beobachtungsanwei-
-- Auch Luhmiinns Konzept einer »Weltkunst«, die in der Herstellung von Kontingenz besteht, läßt sich auf die Verfahren dieser Theatertexte beziehen, die neue, »kontingente« Wahrnehmungs- und Sinngebungsprozesse auslösen. -1 Heiner Müller: »Der Weltuntergang ist zu einem modischen Problem geworden« (Gespräch mit Uwe Wittstock), Gesammelte Irrtümer; Interviews, FfM, 1986, S. 176-181, Zitat S. 180.
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sung«24 sind im Kunstwerk selbst enthalten; ihnen nachzuspüren, ist Aufgabe der dramaturgischen Analyse.
4,1 Funktionsmodell fürs Theater: Implizite Theatralität Da das Funktionsmodell konventioneller Theatralität nicht mehr fraglos vorausgesetzt werden kann, müssen die grundlegenden Koordinaten, innerhalb derer ein Thealertext auf der Bühne funktioniert, müssen Status und Funktion seiner einzelnen Elemente aus ihm selbst entwickelt werden. Die Fragen nach der Funktionalisierung von Figuration und Narration und nach dem Verhältnis der beiden Kommunikationssysteme zueinander klären das implizite Funktionsmodell eines Theatertextes und liefern so mit der von ihm implizierten Theatralität einen Schlüssel für mögliche Lektüren. So wird es möglich, Theatertexte, welche die dramatische Form gekoppelt an konventionelle Theatralität problemlos zur Fiktionsdarstellung nutzen, von solchen zu unterscheiden, die theatrale Darstellung dekonstruieren und neue Formen der Texttheatralität anbieten. Während bei dramatischen Theatertexten eine Dramenanalyse, die ihren Ausgangspunkt im inneren Kommunikationssystem (des Dargestellten) nimmt, als geeignetes Mittel erscheint, muß eine dramaturgische Analyse analytischer Theatertexte, ausgehend vom äußeren Kommunikationssystem, den Status der einzelnen Elemente bestimmen. Im Umgang mit konkreten Theatertexten, die nicht nur die dramatische Theatralität, sondern auch die äußere Form des Dramas ersetzen, wird offensichtlich, daß die Begriffe > Figur«, >Dia-< oder »Monolog* (>HaupttextNebentext< ersetzt werden müssen, es empfiehlt sich eine neue Sprachregelung. Hier wird vorgeschlagen, von Textträgern, Sprech- und Zusatztext zu sprechen,25 deren Status neu zu bestimmen ist, wobei mit Status sowohl die Stellung der einzelnen Komponenten im Gesamtgefüge des Theatertextes als auch ihre Funktion im äußeren Kommunikationssystern impliziter Inszenierungen gemeint sein soll. Es sei vorausgeschickt, daß (anders als Haupt- und Nebentext im Drama) Sprech- und Zusatztext sich nicht immer klar unterscheiden lassen. Probleme gibt es unter Umständen, wie zu zeigen war, in konkreten Theatertex24 25
Luhmann 1990a, S. 26. Auf Notwendigkeit, Schlüssigkcit und eventuelle Probleme der neuen Begrifflichkeiten wird in den einzelnen Abschnitten jeweils kurz eingegangen.
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ten, welche die fürs abendländische Drama typische Zweiteilung gar nicht aufweisen, und in Mischformen, die in mehr als zwei unterscheidbare Textschichten geteilt sind. So muß ein erster Schritt der Analyse eventuell klären, welche Teile des Theatertextes als Sprechtext in der Aufführung zu Gehör gebracht werden sollen und was als Zusatztext eine Transformation aus den linguistischen Zeichen des geschriebenen Textes in andere theatrale Zeichen als die der gesprochenen Sprache erfahren soll. Da die Frage nach Kriterien dieser Entscheidung zunächst zurückgestellt werden muß, soll dieser Analyseschritt hier noch ausgespart werden. Für die Fälle jedoch, in denen sich der Theatertext deutlich in Sprech- und Zusatztext teilt, also vor allem für Theatertcxte, welche die dramatische Form (wenn auch kritisch) nutzen, ist eine Betrachtung ihrer jeweiligen Funktion (auch in Abgrenzung zum Status von dramatischem »Haupt-« und »Nebentext«} hier schon möglich. Gestützt auf die Ergebnisse des Analyseteils, werden nun die in zeitgenössischen Theatertexten entworfenen Möglichkeiten für Stellung und Funktion von Sprechtext, Zusatztext und Textträgern sowie - zusammenfassend und unter ergänzender Berücksichtigung von Raum und Zeit - des Bühnengeschehens resümiert. Damit werden zugleich die Varianten impliziter Funktionsmodelle von Theater untersucht, die in groben Umrissen den Status auch der Rezeption und die Modalität der Sinngebung, also die Art der impliziten Theatralität festlegen. 4. l, l Status des Sprechtextes Der in der traditionellen Dramenanalyse als >Haupttext< bezeichnete Text der Repliken ist im Drama als Element der dargestellten Welt an Situation und sprechendes Subjekt gebunden und konstituiert durch einen (im Normalfall kausallogischen, jedenfalls mit Hilfe der Sprechakttheorie zu begreifenden) Zusammenhang zwischen den einzelnen Repliken »Sprechhandlung«. Als dargestellte Figurenrede stellt der Sprechtext im Drama den verbalsprachlichen Anteil binnenfiktionaler Kommunikation und trägt damit intrafiktionai die ganze Vielfalt an Funktionen, die Sprache auch im lebensweltlichen Kontext innehat. Zugleich ist der gesprochen zu denkende Anteil des Dramentextes allerdings immer auch Medium der äußeren Kommunikation, seine doppelte Gerichtetheit - als Medium im inneren (binnenfiktionalen) und im äußeren (ästhetischen) Kommunikationssystem - kann ihn etwa durch Stilisierung und Poetizität der Sprache von lebensweltlicher Kommu-
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nikation unterscheiden. Diese Nutzung der poetischen Funktion des Theatertextes wird im Drama allerdings ebenso wie das gelegentliche Auftreten von Repliken, welche die Grenzen des Binnenfiktionalen überschreiten (Beiseitesprechen, Monolog) im Rahmen von Konventionen genutzt, wodurch diese Phänomene wieder auf die Ebene des Dargestellten zurückbezogen werden. Das innere Kommunikationssystem ist also primärer Bezugspunkt des Spree htextes. Bei der Betrachtung von Theatertexten, welche die dramatische Form kritisch nutzen, ist nun aufgefallen, daß unter dem Schutz der formal beibehaltenen dramatischen Form sowohl die Subjekt- als auch die Situationsbindung der Repliken und damit ihre Verortung in einem inneren Kommunikationssystem fragwürdig werden. Wo der Sprechtext formal noch einzelnen Figuren als deren Repliken zugeordnet wird, was sich im Textbild in der traditionellen Aufteilung in »Haupt-« und »Nebentext« spiegelt, so ist diese Subjektbindung doch unter Umständen nur noch vordergründig. Ob die gesprochenen Passagen durch metadramatisehe Verfahren als (soufflierte oder auswendig aufgesagte) Theaterrepliken, durch Montage verfahren als Zitate aus Wirklichkeit oder Fiktion, durch Einsatz von »Sprachflächen« als Diskurse kenntlich gemacht werden, welche die Grenzen der Subjekte überschreiten, oder ob ausdrücklich Körper und Stimme dissoziiert werden (wie in den Playback-Szenen bei Streeruwitz) - der Sprechtext kann zumindest nicht mehr ausschließlich als dargestellte Figurenrede untersucht werden, sondern muß auch und vor allem hinsichtlich seiner Funktion im äußeren Kommunikationssystern interessieren. Auch aus der Situationsbindung ist der Sprechtext häufig gelöst. Gerade aus dem Kontrast zwischen Sprechsituation und Replik gewinnen manche Texte Sinneffekte (die sich freilich nicht mehr auf »Bedeutung« reduzieren lassen), so etwa bei Streeruwitz, wenn Zitate dekontextualisiert und, häufig mit parodistischer Absicht, in einen ganz neuen situationalen Zusammenhang gestellt werden. Theatertexte, die wie Alpenglühen oder Heilige Kühe dramatisches Verstehen desorientieren und mit der Zuschauerverunsicherung arbeiten, spielen außerdem metadramatisch mit der Tatsache, daß die fiktionale Sprechsituation für den Rezipienten ja ihrerseits erst durch Sprechtext hergestellt wird, und machen dramatisches Sprechen als Er-Sprechcn von fiktionaler Welt und Identität, Sprechen somit als Konstruktion von Wirklichkeit durchschaubar. Beim situationsabstrakten monologischen Theatertext fällt auf, daß ein Text, der nicht länger in einer fiktionalen Situation verankert ist, an sprachlichem Eigenwert gewinnt. Dieselbe Aufwertung der Materialität der Sprache, die auf diese Weise gleichermaßen zu Thema und Handlungsträger und 298
damit geradezu zum Protagonisten werden kann, ist in Texten zu beobachten, welche die dramatische Form unterwandern und dabei mit der Betonung der Signifikantenseite sprachlicher Zeichen zugleich deren binnenfiktionale kommunikative Funktionen zurückdrängen. Darüber darf auch Scheindialogisierung nicht hinwegtäuschen: Selbst wenn der Sprechtext auf mehrere »Figuren« aufgeteilt ist, kann statt dialogischer interner Kommunikation auch einfach ein mehrstimmiger Polylog, ein polyphoner Diskurs entstehen, für den der Dialog nur noch »Strukturmoment«26 ist Der Sinn des Sprechtextes liegt dann nicht in seiner die binnenfiktionale Situation kommentierenden oder verändernden Kraft als Sprechhandlung, sein theatrales Potential nicht in der Dramatizität des »Dialogs«, sondern der zu sprechende Text ist vor allem auf seine Wirkung im äußeren Kommunikationssystem hin zu betrachten.27 Hottong trägt dieser neuen Stellung des Sprechtextes Rechnung, wenn sie bei Friederike Roths Theatertexten »linguistische Scharniere« ausmacht, deren Funktion sie als »Referenzsignale«, weiche »die Interferenz verschiedener Textteile und [...] verschiedener Spielebenen anzeigen«,28 ausschließlich auf die Bedeutungskonstitution im äußeren Kommunikationssystem bezieht. Die einzelnen Möglichkeiten, unter Nutzung der verbalsprachlichen Zeichen des Theaters Sinngebungsprozesse beim Zuschauer anzuregen, werden weiter unten noch als Formen unmittelbarer Texttheatralität zu behandeln sein. Festzuhalten ist hier: Wo mit der konventionellen Theatralität das Abbüdungsverhältnis zwischen Bühne und Lebenswelt in Frage gestellt oder verabschiedet wird, kann Sprechtext nicht mehr hinreichend als Repräsentation kommunikativer Handlungen fiktionaler Figuren verstanden werden, sondern muß hinsichtlich der externen theatralen Kommunikation als autonomes künstlerisches Material analysiert werden, das ein eigenständiges sprachliches Geschehen mit theatralen Qualitäten konstituiert. Diese Untersuchung der Texttheatralität im Sprechtext wird ohnehin unumgänglich bei der Analyse konkreter Theatertexte, die ja auf die Errichtung eines inneren Kommunikationssysterns durch (eindeutige) Zuordnung des Sprechtextes auf »Figuren« von vornherein verzichten und damit dem zu sprachlicher Realisierung bestimmten Text eine Funktion 26 27
28
Hottong (1994, S. 183) über die Verwendung des Dialogs bei Roth. Von traditionellen, auch im Dratna genutzte Strategien der Gestaltung von Figurenrede mit Blick auf die Rezeption - beispielsweise zur Figurencharakterisierung oder zur Sympathielenkung - unterscheidet diese Verfahren die Tatsache, daß sie nicht im Dienst der Darstellung einer dramatischen Fiktion stehen. Hottong 1994, S, 126.
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zuweisen, die ausschließlich im äußeren Kommunikations system zu situieren ist.
4.1.2 Status des Zusatztextes Der Begriff >Zusatztext< löst nicht einfach die Bezeichnung >Nebentext< ab, um die im Begriffspaar >Haupt-< und >Nebentext< implizierte und als unzulässig erkannte Suggestion qualitativer und quantitativer Verhältnisse zu umgehen. Unglücklicherweise kann tatsächlich auch der Begriff >Zusatztext< die Mißdeutung nicht ausschließen, es handle sich bei diesem »zusätzlichen« Teil des Theatertextes um eine Draufgabe, deren Beachtung fakultativ sei29 - daß dem nicht so ist, wird zu zeigen sein. Noch ungünstiger erscheinen allerdings als Oberbegriff für diejenigen Teile des Theatertextes, die nicht ausgewiesenermaßen gesprochen werden sollen, die Begriffe >Regieanweisungen< 7 >Didaskalien< oder >szenische Anweisungen^ Diese sind schon als Synonyme für den dramatischen »Nebentext« äußerst ungenau, da sie genaugenommen nur einen seiner Teilbereiche bezeichnen, nämlich solche Passagen des Dramentextes, die mit Hilfe sprachlicher Zeichen, deren Übersetzung in nichtlinguistische Zeichen des Theaters vorausgesetzt wird, das Bühnengeschehen symbolisch repräsentieren. Wenn auch solche Didaskalien, zählt man das Personenverzeichnis hinzu, tatsächlich den bedeutendsten Teil dramatischen »Nebentextes« ausmachen, so stellt sich der Status des Zusatztextes jenseits des Dramas jedoch unter Umständen als wesentlich komplizierter dar, so daß mit »Zusatztext« eine Bezeichnung gewählt wird, die der konstatierten Multiplizität möglicher Funktionalisierungen des den Sprechtext ergänzenden, in Extremfällen ihn ersetzenden Textes gerecht wird. Der »Nebentext« des Dramas, dem traditionell neben Bühnenanweisungen, Personenverzeichnis und Anführung der Figurennamen zur Zuordnung der Repliken auch Titel, Untertitel, Gattungsbezeichnung und die Markierung von Szenen und Akten, - so sie vom Verfasser stammen - sowie eventuelle Widmungen und Vorworte zugerechnet werden, zeichnet sich Pfister zufolge dadurch aus, daß er in der Aufführung »nicht gesprochen manifestiert« wird, sondern »eine Übersetzung in reale Gegenständlichkeit«
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In diesem Sinne gebraucht Pavis den Begriff bei der Diskussion über den Status der Regieanweisungen, wenn er fragt: »Handelt es sich um einen Zusatztext, dessen Verwendung freigestellt ist?«: Pavis 1989, S. 17.
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erfährt.30 Diese Formulierung belegt, daß sich das Interesse bei Betrachtung des »Nebentextes« traditionell vor allem auf Didaskalien (Bühnen-/Regieanweisungen, Personenverzeichnis und Markierung der Sprecher) konzentriert, die als Informationen des Autors für die primäre Rezeption zu verstehen sind: für den Leser, der im Lektüreakt die plurimediaie Bühnenwirkung imaginieren soll, oder für ein Projekt theatraler Produktion, das bei der Transformation des schriftlichen in einen szenischen Text für den Sprechtext eine Verlautbarungssituation schafft, die der »Nebentext« in Grundzügen zu entwerfen beansprucht. Historisch ist diese Schicht des dramatischen Textes äußerst unterschiedlich ausgeprägt. Gerade auf Regieanweisungen kann ganz verzichtet werden, sie können aber auch, wie etwa im Drama des Naturalismus, als integraler Bestandteil des Dramentextes betrachtet werden und sogar an Umfang den Text der Dialoge übertreffen. Gerade an dieser Textschicht des Dramas hat sich früher häufig die Diskussion um die sogenannte »Werktreue« 31 entzündet; dieser Begriff wird zwar inzwischen von der Theatersemiotik als jeder Grundlage entbehrend verworfen,32 die Frage nach dem Verhältnis von Drama und Theater und nach den Modalitäten der Transformation von schriftsprachlichem in szenischen Text bleibt jedoch in der Diskussion, Da die weitaus meisten Beiträge zu diesem Problem die dramatische Form des Theatertextes fraglos voraussetzen, findet man wiederholt Äußerungen, die auf den fakultativen Charakter dieser {»Neben«-)Textschicht des Dramas hinweisen. Wenn Pavis etwa erklärt, Regieanweisungen seien im Rahmen einer Inszenierungstheorie unmöglich als »unumstößliche Anordnung für die Inszenierung und damit als ein Diskurs zu verstehen, der notwendigerweise seinen Niederschlag in der Aufführung findet«,33 entspricht dies dem allgemeinen Tenor theatersemiotischer Überlegungen zum Verhältnis von Drarna und Inszenierung. Man ist sich darüber einig, daß diese Relation in keinem Fall als schlichte »Realisierung« im Sinne einer Umsetzung im Maßstab l: l verstanden werden darf. Versuche, das Verhältnis zwischen Dramen- und Inszenierungstext mit Begriffen wie > Trans formation* (Fischer-Lichte), >Intertextualität< (Höfele) M
Pfister 5 I9&8[1982], S. 35. Einen Überblick über diese Diskussion gibt Bayerdörfers Beitrag »Regie und Interpretation oder Bühne und Drama« mit dem treffenden Untertitel: »Fußnoten zu einem unerschöpflichen Thema«, Literatur, Theater, Museum: Acta hing 1986, München, 1987, S. 118-143. 32 Fischer-Lichte: »Was ist eine >werkgetreue< Inszenierung?«, Das Drama und seine Inszenierung, Tübingen, 1985, S, 37-49, « Pavis 1989, S. 17. 31
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oder der Trias aus >KonkretisierungFiktionaIisierung< und >Ideologisierung< (Pavis) zu erfassen und damit das zwischen Theatersemiotik und Poetik des Dramas noch fehlende »Gelenkstück« zu liefern, um »die Ergebnisse füreinander fruchtbar zu machen«,34 setzen als Textgrundlage das Drama und damit die Trennung des Theatertextes in zwei klar voneinander zu scheidende Textschichten voraus, deren Verhältnis zueinander und deren jeweilige Funktion sich aus der Prämisse dramatischer Repräsentation ableiten. Nun ziehen aber Autorinnen heute durchaus Konsequenzen aus dem abnehmenden Gewicht des gesprochenen Wortes in einer Kultur, die zunehmend von visuellen Codes dominiert wird, und aus dem veränderten Status der Texte in der Theaterpraxis. Es wurde deutlich, daß der Status von »Regieanweisungen« prinzipiell einer Überprüfung bedarf, da ein großer Teil zeitgenössischer Theatertexte nicht oder nicht ausschließlich nach dem dramatisch-repräsentationalen Funktionsmodell arbeitet: Der Zusatztext, der wie der »Nebentext« im wesentlichen aus Bühnenanweisungen bestehen kann, möglicherweise aber auch ganz neue Textschichten konstituiert, bedarf einer eingehenden Untersuchung. Schon da, wo es sich beim Zusatztext um Bühnenanweisungen, Personenverzeichnis und Markierung der Zugehörigkeit von Repliken zu Figuren handelt, treten gelegentlich Probleme auf: Bei Verfahren der Zuschauerverunsicherung (paradigmatisch: Alpenglühen) kann die »objektive« Instanz eines all wissenden »Autors«35 fehlen, was dazu führt, daß Didaskalien nur noch die Signifikanten der Bühne beschreiben, aber nicht mehr ihre Signifikate. So gibt selbst das Personenverzeichnis u.U. keine definitive Auskunft über die Identität der »Figuren«, szenische Aktionen werden nur in ihrer sichtbaren Gestalt, nicht in ihrer substanziellen Bedeutung beschrieben. Ähnlich stellt sich das Problem dar, wo sich mit der Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion (paradigmatisch: Streeruwitz und Wysockis Der Erdbebenforscher} das szenische zunehmend vom sprachlichen Geschehen löst, Spreehund Zusatztext über Strecken dissoziiert werden, und die Bühnenanweisungen damit eine selbständige Ebene szenischer (neben der verbalen) Dramaturgie konstituieren, die alles andere ist als Illustration des gesprochenen 34
35
Horst Turk: »Soziale und theatralische Konventionen als Problem des Dramas und der Übersetzung«, Soziale und theatralische Konventionen als Probleme der Dramenübersetzung, Tübingen, 1988, S. 9-53, Zitat S, 9. Hier wäre an sich ein Begriff vonnöten, der dem »Erzähler« der narrativen Gattung entspricht, um Verwechslungen der »Autor-Rolle« (Weinrich) mit dem empirisch schreibenden Autor zu vermeiden.
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Wortes. Die solchermaßen im Zusatztext entworfenen theatralen Signifikanten werden in beiden Fällen nicht ,so sehr im Hinblick auf ihre darstellende (mit Schäfer: »ding-mimetische«) Funktion genutzt, als vielmehr hinsichtlich ihrer syntagmatischen oder »material-mimctischen« Funktion. Das hat aber weitreichende Folgen für das Verhältnis von Theatertext und Inszenierung: Solange ein durch sprachliche Zeichen entworfener Bühnenvorgang als szenischer Signifikant für lebensweltliche Aktion seinen festen Platz in einem dargestellten fiktionalen Geschehen hat, kann er durch äquivalente szenische Zeichen ersetzt werden, die in etwa dieselbe Bedeutung transportieren. Sobald aber nicht mehr klar wird, wofür die im Text symbolisierten Vorgänge stehen und was repräsentiert ist, sobald also szenische Signifikanten unter Nutzung ihrer Materialität, ihrer Polysemie und/oder ihrer syntagmatischen Dimension als mehrdeutige, »poetische« oder leere Zeichen (Signifikanten ohne Signifikate) genutzt werden - was ja in der postdramatischen Inszenierungspraxis, gerade im »Theater der Bilder«, gang und gäbe ist -, können sie auch nicht beliebig übergangen werden. Vielmehr müssen Sprech- und Zusatztext als gleichberechtigte Komponenten impliziter Inszenierungen verstanden werden, als deren »Ton-« und »Bildspur« 36 , die gleichermaßen vom Theatertext entworfen werden. Selbstverständlich ändert das nichts daran, daß die Inszenierung dem Theatertext immer zugleich voraus ist und ihn nie einholt, daß die Bühne im Verhältnis zum Theatertext »nie einfach reproduktiv« ist.37 Wie der Sprechtext, so stellt auch der Zusatztext nicht mehr als eine Basis für konkrete Inszenierungsarbeit dar. Nach wie vor realisiert die Regie den Zusatztext nicht, sondern übersetzt ihn in szenische Äquivalente. Nur: Diese Transformation erfolgt nicht mehr unter Rückgriff auf synonyme, also gleichbedeutende theatralische Zeichen, Die Kriterien, die Überlegungen über Alternativen und Ergänzungen zu im Theatertext entworfenen nichtsprachiichen Zeichen der Bühne leiten, dürfen sich nicht mehr (ausschließlich) auf deren referentielle Funktion beziehen, zumal die »Bedeutung« der in den Didaskalien symbolisch repräsentierten szenischen Signifikanten oft gar nicht mehr eindeutig erschlossen werden kann. Gerade durch ihre Mehrdeutigkeit werden die Bühnenvorgänge oft zu Auslösem von Sinngebungsprozessen, die eigentlich erst den »Sinn« dieser Theatertexte konstituieren - sei es, daß durch mehrdeutiges Bühnengeschehen »Verstehen« als Konstruktion von Wirklichkeiten bewußt gemacht wird, sei es, daß (wie vor allem in »weiblichen« Dramaturgien) Alternativen -16 Vgl. Finter 1994, -17 Bayerdörfer 1987, S. 132. 303
zu herkömmlichen Verstehensprozessen provoziert werden. Ebenso, wie bei der Übersetzung eines poetischen Textes in eine andere Sprache nicht nur die - durch den Kontext näher bestimmte - referentielle Funktion (»Bedeutung«) der Wörter, sondern auch und vor allem ihre poetische Funktion ausschlaggebend ist {ihre Möglichkeiten, über syntagmatische Wechselwirkungen und semiotische Effekte Sinngebungsprozesse in Gang zu setzen, die als »Bedeutung« gerade nicht zu erfassen sind), muß auch hier die Transformation die poetische Dimension der vorn Theatertext in Rechnung gestellten Zeichen der Bühne berücksichtigen: Rhythmus, Atmosphäre, Tempo, »Musik« der entworfenen szenischen Vorgänge und ihre potentielle Wirkung auf die Rezeption unter Berücksichtigung der vertikalen Perspektive sind dabei unter Umständen wichtiger als ihr Beitrag zur horizontalen Entwicklung der Narration - die Eingangsszene von Schwabs ANTIKLIMAX sei dazu ebenso nochmals in Erinnerung gerufen wie der Einsatz der Musik bei Zschokke oder Jelineks Nutzung der Bildspur als eines weitgehend autonomen Bühnengeschehens in Totenauberg. Nicht nur die im Zusatztext entworfenen szenischen Vorgänge können als poetische Zeichen (der Bühne) gehandhabt werden. Wiederholt sind die Stückanalysen auch auf »Regieanweisungen« gestoßen, deren Umsetzung aufgrund ihrer sprachlichen Formulierung als problematisch erscheint. Wo in den Zusatztexten selbst die poetische Funktion der Sprache genutzt wird, ist das Prinzip der Repräsentation nicht nur für die ikonischen Zeichen der Bühne, sondern bereits für ihre Symbolisierung durch Verbalsprache in Frage gestellt. Vor allem bei Roms Dramaturgie fällt die Poetizität des Zusatztextes ins Auge. Auch unsere Betrachtung von Der Erdbebenforscher hatte die Frage nach der Möglichkeit angemessener Urnsetzung poetisch formulierter »Bühnenanweisungen« aufgeworfen, und mit Schauspieler Tänzer Sängerin war schließlich der Begriff des »Tauschwerts< aufgetaucht. Diesem Begriff und der spezifischen Theatralität des poetisch genutzten Zusatztextes wird im zweiten Schritt der Analyse nachzugehen sein. In zeitgenössischen Theatertexten wird vermehrt ein Bereich des Zusatztextes aktiviert, der weder als Sprechtext noch eigentlich als Bühnenanweisung zu verstehen ist, sondern eher auf gleicher Stufe mit klassischen Bestandteilen des »Neben«textes wie Widmung, Epigraphie und Vorwort anzusiedeln wäre. Im Kapitel zur problemlosen Nutzung der dramatischen Form ist aufgefallen, daß schon die vom Autor gewählte Gattungsbezeichnung Sinneffekte produzieren kann, und auch die sinngebende Rolle der Titel wurde (etwa bei Alpenglühen und Af^T!KL!MAx) konstatiert. Dieses Phänomen lenkt die Aufmerksamkeit auf die aus der Deutung oft ausgeblende304
ten Titel und Untertitel von Theatertexten, auf Vorbemerkungen und Widmungen, aber auch auf Zwischentitel sowie Akt- und Szenengliederung. In diesen Bereich gehören auch z.B. Schwabs Gewohnheit, seinen Theatertexten Bemerkungen zu Sprache und Raum voranzustellen, Goetz' Vorbemerkungen zur FejiMrtgs-Trilogie und ihr Veröffentlichungszusammenhang, deren Studium der Analyse ebenso zuträglich war wie die nähere Betrachtung der Stück-, Akt-, Szenen- und Bildtitel, Jelineks Anmerkungen zu Totenauberg und Wolken.Heim.. Die Frage, ob und wie solcher Zusatztext auch dem Publikum zugänglich gemacht werden soll, oder ob er nur für die Modalität der primären Rezeption bedeutsam ist und durch die Inszenierung selbst transformiert werden kann, wird von Fall zu Fall zu entscheiden sein und wird uns noch beschäftigen. Vorläufig steht fest: Diese Textteile geben oft wertvolle Hinweise auf das dem Text zugrundegelegte Funktionsmodell von Theater, zumindest auf den Status einzelner Komponenten, und sollten daher sorgfältig beachtet werden. 4.1.3 Status der Textträger Der menschliche Schauspieler wird im Drama fast ausschließlich als »ikonisches Zeichen par excellence« (Esslin) zum Zweck der Figuration eingesetzt: als Mensch, der einen Menschen darstellt, eine Bühnenfigur, einen Charakter. Selbst, wo er nicht ausdrücklich eine menschliche Gestalt repräsentiert (sondern etwa ein Phantasiewesen oder, als allegorische Personifikation, ein Abstraktum), ist die Figur im Drama doch ein Subjekt mit menschlichen Zügen, Die dargestellte Rede wird im allgemeinen an diese Figur angepaßt,38 Sprechtext und Figur bilden eine Einheit. Diese kann zwar (zur Darstellung von Sprachverarmung, Entindividualisierung, Schizophrenie o.a.) gestört sein, doch das ändert nichts daran, daß die Figur und ihre Rede im äußeren Kommunikationssystem aufeinander bezogen werden -ja, nur so ist der Eindruck des nicht mehr sprachrnächtigen Subjekts überhaupt zu erzeugen. Die Figuren stehen im dramatischen Theater im Mittelpunkt des Interesses; ihr Schicksal, ihre Geschichte wird erzählt. Imaginäres und Symbolisches integrierend, bilden sie als Garanten der Einheit von Visuel38
Pfister spricht vom »induktiven Schluß des Rezipienten von der Sprache auf die Figur«, der in der »produktionsästhetischen Konzeption der Anpassung der Rede an die soziale und psychische Disposition der redenden Figur« seine Rechtfertigung habe. Diese Konzeption sei »noch von keiner Poetik des Dramas je völlig in Frage gestellt [worden]«: Pfister 51988 [1982], S. 171-176, ZitateS. 171. 305
lern und Akustischem den Fluchtpunkt in der Perspektive repräsentationalcr Theatralität. 39 Folgerichtig ist diese Einheit auch erstes Opfer der Dekonstruktion durch postmodernes Theater. Nicht umsonst dient als Synonym für »postmodernes« Theater neben der Formulierung vom »postdramatischen« (Lehmann) auch die vom »postfiguralen« 40 Theater. So wird in der Aufführungsanalyse heute die Forderung nach Relativierung des Stellenwerts dieser »uralten von der Dramen- auf die Aufführungsanalyse übertragenen Kategorie« als eine, aber nicht die »rezeptive Sinnklammer« laut, 41 Dasselbe muß für die dramaturgische Analyse von Theatcrtexten gelten, denn auch diese weisen den »Figuren«, sofern diese überhaupt noch zu den Elementen des Theatertextes gehören, einen veränderten Status zu. Metadrarnatische Tendenzen thematisieren und problernatisieren, wie gesehen, die Stellung der dramatischen Figur, stellen damit das Konzept des Subjekts in Frage und verweisen auf Rollenhaftigkeit der lebensweltlichen Existenz, auf Dezentrierung des Subjekts und seine Spaltung in multiple Rollensegmente. Dieses Vorgehen ist nicht neu; interessant wird es für unsere Fragestellung, wo es weniger die (dramatische) Theatralität menschlicher Lebenswelt im sozialen Rollenspiel anklagt und, postmoderncm Bewußtsein entsprechend, den Menschen als »plurale« bzw. »multiple Identität« 42 abbildet, als vielmehr (in Pirandello-Tradition) das dramatische Repräsentationsprinzip als unzureichend für die Darstellung vielschichtiger (subjektiver) Wirklichkeit(en) entlarvt. Diese Perspektivverschiebung ist bei Roth und B rasch zu spüren, aber auch bei metadramatischen Elementen in anderen Theatertexten (so in Alpenglühen, Heilige Kühe, In den Augen eines Fremden), welche die Figur als gesicherte dramatische Kategorie verabschieden. Das führt dazu, daß eine Roüenidentität nicht mehr konstmierbar ist, daß vielmehr ständige Wandlungen und Unbestimmtheitsstellen mit zum Bild der »Figuren« gehören, ebenso wie die Materialität der Darstellerinnen als Darstellerinnen. Dieser Entwicklung soll durch die Ersetzung des Be39
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Finter 1994, S. 188, Vgl. dazu im selben Band auch Hajo Kurzenberger, der feststellt, daß die Figur im abendländischen Drama »die theatralische Zentralperspektive« sei, »von der her sich die auf der Bühne dargestellte Wirklichkeit unserem Blick erschließt und ordnet«. (Hajo Kurzenberger: »Erzähltheater: Zur Theatralisierung epischer Texte von Franz Kafka und Marguerite Duras«, Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen, 1994, S. 171-181, Zitat S. 175.) Hiß; Der theatralische Blick, Berlin, 1993, S. 76. Ibid. Wolfgang Welsch: »Identität im Übergang«, Ästhetisches Denken, Stuttgart, 2 1991 [1990],S. I6S-200.
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griffs >Figur< durch >Textträger< entsprochen werden, der die Funktion der Schauspieler bezeichnet, wie sie im Theatertext entworfen ist - unabhängig davon, ob es Sprech- oder Zusatztext ist, der von den Schauspielern »getragen« wird und unabhängig auch davon, ob Verlautbarungs- und Diskursinstanz in eins fallen oder getrennt sind. 43 Wird das dramatische Prinzip der Figuration durch die Zuordnung des Sprechtextes zu Textträgem formal auch aufrechterhalten, wie dies in Theatertexten der kritischen Nutzung der Fall ist, so kann doch mit der dramatischen Theatralität auch ihr traditioneller Fluchtpunkt aufgegeben werden. Aus Figuren können Funktionsträger werden, die jenseits der Darstellung menschlicher Subjekte ganz auf ihre Funktionen als Träger theatralischer Zeichen (bewegter Körper, Stimme, Mimik) reduziert werden. Paradigmatisch für solche Funktionsträger sind der Papageiensucher in Streeruwitz' Elysian Park, und der behandschuhte Mann in Roths Das Game ein Stück, »Figuren«, deren Namen bereits darauf verweisen, daß sie weniger als Subjekte einer fiktiven Welt interessieren denn vielmehr als Träger einer Funktion. Diese Funktion thematisiert Roth im Stücktext selbst für den behandschuhten Mann: Er soll »eine irritierende Fremdheit« erzeugen.44 Es läßt sich ergänzen, daß auch durch die Dissoziation des Textträgers von seinem Sprechtext solche Fremdheit hergestellt werden kann. Textträger sind dann nicht durch ihre Funktion im inneren Kommunikationssystem (durch ihren Platz in einer »Figurenkonsteüation« oder durch ihren Beitrag zu einer fiktionalen Handlung) zu verstehen, sondern müssen als poetische Zeichen (bzw. Bündel von Zeichen) verstanden werden, die irn Hinblick auf das äußere Kommunikationssystem konzipiert sind, so wiederum poetischen und nicht referentiellen Prinzipien gehorchen und statt »Bedeutung« eher Rhythmus, Fremdheit oder Unbestimmtheitsstellen produzieren. Ähnliches gilt für die oben bereits erwähnten Brüche in der Figuration, wenn ein Textträger nacheinander oder wechselnd verschiedene Figuren darzustellen scheint, wobei das Fehlen klarer Hierarchisierung verhindert, daß man von einer Figur sprechen könnte, die Rollen spielt. Diese Auffächerung in verschiedene gleichberechtigte Masken, deren Hierarchie auch nicht durch einen »objektiven« Autor geklärt wird (man denke an die Unbestimmtheitsstellen der Figuration in Dreck), die Austauschbarkeit von »Identitäten« (etwa in Erben und Sterben und Frauen, Krieg. Lustspiel), die Mehrdeutig4S
44
Zu diesen bei Keirn (1995, S. 60) eingeführten Begriffen vgl. weiter oben (3.5, in der Analyse von Schauspieler Tänzer Sängerin). Roth: Das Ganze fin Stück, FfM, 1986, S. 102. 307
keit der Textträger, die als leere Gefäße für mögliche Figuren mit je eigenen Geschichten erscheinen, welche sie durch ihr Sprechen selbst konstituieren (Alpenglühen, Heilige Kühe, In den Augen eines Fremden), sind nicht so sehr als Darstellung unentwirrbarer Realität zu deuten als vielmehr hinsichtlich der dadurch erzeugten Irritation beim Zuschauer. Dessen Versuche, das Bühnengeschehen mit Hilfe des Konzepts vom Subjekt zu verstehen, müssen scheitern und öffnen damit das Denken für eine Erfahrung des Subjekts im Prozeß, für alternative Wege von Wahrnehmung und Bedeutungserzeugung: Der Theatertext schafft Kontingenz. Unter dem Stichwort »Unterwanderung« fiel besonders die Verdrängung der Figuren durch den Sprechtext auf. Paradigmatisch für ein solches »Theater von Stimmen statt Personen«, in dem der Diskurs sich vorn Subjekt löst und das Subjekt »gesprochen wird«, so daß die Personen als »bloße Träger eines Diskurses« fungieren, ist die Dramaturgie in den Theatertexten Heiner Müllers, besonders seit Hamleimaschine,^ aber auch Handkes Kaspar, eine auf die Funktion des (Nach)Sprechens von Sätzen reduzierte »Schwundfigur«, steht in der Linie der Vorläufer nichtfigurativer Dramaturgie. Die Trennung von Verlautbarungs- und Diskursinstanz, die Unterordnung der Textträger unter den Diskurs, gespiegelt in einer Theaterästhetik der Unterordnung von als »Sprachschablonen« und »Sprechmaschinen« betrachteten Schauspielern unter einen Text (Jelinek); die Tendenz zur Beliebigkeit der Zuordnung von Sprechtext und Textträger sowie das Bewußtsein, daß die Sprache die Menschen beherrscht (Schwab); die Verweigerung konsistenter Rollen, die Ungewißheit der Identitäten, das Überangebot prominenter Masken und schließlich die Ersetzung menschlicher Figuren durch Abstrakta als Textträger und der Versuch, das Denken zum Sprechen zu bringen und damit größtmögliche Allgemeingültigkeit zu erzielen (Goetz) - all das macht Textträger zur reinen Hülle für ein Sprechen, das vom Mittel zum Zweck der theatralen Veranstaltung wird. Die Textträger sind dem Text nachgeordnet, von der Figuration bleiben nur Rudimente. Im Zusammenhang mit »Festung« wurde deutlich, daß die Problemati s ieru n g der Figuration das Problem der Attribution von Kommunikationen in unserer Informationsgesellschaft spiegeln kann. Das Reduzieren der Textträger auf ihre Funktion als Verlautbarungsinstanz kann dabei sowohl der Kritik (Dekonstruktion) diskursiver Praxis und ihrer Ausgrenzungs45
Lehmann: »Müller / Hamlet / Grüber / Faust: Intertextualität als Problem der Inszenierung«, Studien zur Ästhetik des Gegenwartsthealers, hg.v. Christian W. Thomsen, Heidelberg, 1985, S. 33-45, Zitate S. 36. Vgl. dazu auch Keim 1995.
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mechanismen dienen als auch Raum schaffen für das Experimentieren mit Sprache, mit der Differenz von geschriebenem und gesprochenem Wort und mit von gesellschaftlichen Diskursen bisher vernachlässigten oder unterdrückten Modalitäten der Sinngebung. Auf Wysockis Schauspieler Tänzer Sängerin läßt sich zurückgreifen, um zu demonstrieren, welchen Status der konkrete Theatertext dem Textträger zuweist, sofern er ihn nicht - wie Wolken. Heim. - ganz ausklammert: Er kann Träger disparater, in ihrer Materialität »konkreter« theatralischer Zeichen sein, deren Gleichwertigkeit postuliert wird, bewegliches Dekor und Thema zugleich, neutraler Durchgangsort der Rede, Objekt statt Subjekt oder aber Objekt und Subjekt in einem. Wo dagegen selbst Rudimente der Figuration fehlen, ersetzt das Sprechen das sprechende Subjekt, das (so bei Jelinek) ohnehin nur als Folge vorläufiger Setzungen verstanden werden kann, die Ergebnisse von Sinngebungsprozessen sind, und das sich somit jeder Fixierung entzieht. Ein abstraktes Theater der Stimmen und der Sprachspektren trägt somit theoretischen Positionen des Poststrukturalismus Rechnung. Eine Dramaturgie repräsentierten zwischenmenschlichen Geschehens wird abgelöst von einer Dramaturgie konkreten innersprachlichen Geschehens - wo diese Texttheatralität zu suchen ist, wird noch zu behandeln sein. Die gerade bei Jelinek häufig wiederkehrende Problematisierung des Schauspielers als eines traditionell ikonisch gelesenen und damit unweigerlich in den Dienst der Repräsentation gestellten theatralischen Zeichens sowie die These, daß der Schauspieler nie reines (abstraktes) Medium der Übermittlung von Bedeutungen sein kann,46 weist auf die mögliche Schwachstelle der theatralen Umsetzung solcher Konzepte hin. Die physische Präsenz von Schauspielern (wenn auch u.U. nur als Verlautbarungsinstanzen) auf der Bühne ist von der dramaturgischen Analyse mitzudenken auch da, wo im Theatertext als einem puren Sprechtext keine Textträger ausgewiesen sind. Theater ohne Schauspieler stellt als Phänomen an der Grenze zum Hörspiel (bei ausschließlichem Einsatz technischer Verlautbarungsinstanzen) oder zur bildenden Kunst (inszenierte Räume) nach wie vor die Ausnahme dar. Allerdings desemandsiert postmodernes Theater auch den menschlichen Körper und bietet somit Alternativen zur ikonischen
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Fischer-Lichte: Die Aufführung als Text (Semiolik des Theaters; Bd. 3), Tübingen, 21988 [1983], S. 35. 309
Lektüre des Schauspielers als Zeichen für eine Rollenfigur.47 So stellt sich die Frage nach möglichen Funktionalisierungen des Schauspielerkörpers jenseits der Darstellung einer Rollenfigur, die sich etwa an den Möglichkeiten des Marionettentheaters orientieren kann, einer Perspektive, die ja bereits von Vertretern der historischen Avantgarde verfolgt wurde,48 Auch der menschliche Schauspieler kann durch entsprechende Nutzung seiner Mittel etwa als »Über-Marionette« (Craig), »akustische Maske« (Canetti) oder als mechanische Sprech- und Bewegungsmaschine, über die der Regisseur wie über die »Klaviatur eines Pianos«49 verfügt, seine ikonische Bedeutung in den Hintergrund treten lassen, wo der Theatertext dies nahelegt. Hinweise auf den impliziten Status der Textträger können sich aus dem Text selbst ergeben. Der Verzicht darauf, die Anzahl und den Status der Textträger explizit und eindeutig im Text festzulegen, bedeutet keinesfalls notwendigerweise, daß der Theatertext als körperloser Diskurs zu betrachten und ebensogut als Hörspiel aufzufuhren ist. Physische Dimensionen setner Verkörperung können dem Text selbst eingeschrieben sein oder aber als Kontrasteffekte in der Inszenierung gewonnen werden. Denkbar ist gerade heute - sozusagen als humanistisches Gegengewicht zur medialen Entfremdung - ein gezielter und damit effektvoller Einsatz der nicht mehr alternativlosen Koppelung von Körper und Stimme in der menschlichen Gestalt des Schauspielers, welche physische Präsenz (im Körper) und SymboHsierung des Abwesenden (in der Sprache) integriert - eine Dimension, welche die gesprochene Sprache der Schrift und somit das Theater dem Buch voraushat. Soll der Text dagegen von seinen Trägern dissoziiert werden, bietet postmoderne Inszenierungspraxis zahlreiche Anregungen, den Schauspielerkörper in der konkreten Materialität seiner einzelnen (dissoziierten) Zeichen zu nutzen.
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Vgl. dazu Kap. 2.1.3 und Fischer-Lichte: »Die semiotische Differenz: Körper und Sprache auf dem Theater - Von der Avantgarde zur Postmoderne«, Dramatische und theatralische Kommunikation, Tübingen, 1992, S. 123-140, Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: »Eindringlinge, Marionetten, Automaten: Symbolistische Dramatik und die Anfänge des modernen Theaters«, Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, hg, v. Viktor Zmegac, Königstein/Ts, 1981, S. 390-256. So Wirth über den Einsatz der Schauspieler in Bob Wilsons Theater: »Vom Dialog zum Diskurs«, . . 71980, S. 16-19, Zitat S. 18.
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4. t.4 Status des Bühnengeschehens, von Raum und Zeit Aus den Repliken und dem szenischen Handeln der Figuren, möglicherweise auch aus zusätzlichen Informationen zu Drarnenpersonal und Bühne, aus dem Zusammenspiel von Figuration und Narration jedenfalls, konstituiert das Drama im impliziten Bühnengeschehen Fiktion mit Hilfe der referentiellen Illusion: Auf der Bühne, die als Darstellungsraum aufgefaßt wird, soll eine Geschichte repräsentiert (szenisch »erzählt«) werden, und das Drama liefert dafür das Grundgerüst. »Das nachbildende Theater, das {.,,] eine Fiktion erzählt, funktioniert auf der Basis der Wirklichkeitsillusion«, 50 und dieses repräsentationale Prinzip dramatischer Gestaltung führt dazu, daß alles, was auf der Bühne gesagt und getan wird, einschließlich der Dimensionen von Raum und Zeit, einen doppelten Sinn und Charakter erhält. Es überlagern sich Realität und Fiktion, Elemente der Lebenswelt sind zugleich Zeichen für Elemente einer fiktionalen Welt.51 So ist insbesondere die Bühne selbst zum einen als empirischer Ort der Aufführung, zum anderen als dargestellter Schauplatz der fiktionalen Dramenhandlung zu verstehen. Als »Lebensraum« für die Figuren der Handlung bezeichnet denn auch Hintze diesen stets {wenn auch in sehr unterschiedlichem Grade) realitätsbezogenen »dramatischen Raum«, wie er den im Nebentext und auch im Text der Repliken - hier als »gesprochener Raum« (Kindermann) - entworfenen, dargestellten Raum nennt. 52 Ebenso überlagern sich in der realen Zeit der Theateraufführung dargestellte Zeit und Zeit der Darstellung, und es ließe
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Pavis 1988, S. 53. Dadurch, daß Pavis, bewußt einschränkend, nur »mimetisch nachbildendes« Theater, »das eine Realität symbolisiert« für seine Setnioiik der Theaterrezeption berücksichtigt, ist seine Theorie der Konkretisierung, Ftktionalisierung und Ideologisierung, die ausgerechnet die Fiktion als Bindeglied zwischen Text und Bühne betrachtet, für unsere Untersuchung nur eingeschränkt brauchbar. Wie Pavis zeigt, ist dieses »Theorem der Semiotisierung durch die Bühne« auch umkehrbar, und gerade das machen viele zeitgenössische Theatertexte bewußt. Das Rautnproblem im modernen deutschen Drama und Theater, Marburg, 1969, Zitat S, 3. Aus Hintzes Untersuchung historischer Erscheinungsformen von Raumkonzeptionen in Drama und Theater verdient in unserem Zusammenhang neben der zitierten »theoretischen Exposition des Raumproblems« {S. 1-8) besonders der letzte Teil (S. 192-234) Beachtung, der als eine der »gegenläufigen Tendenzen« zur »Wiederkehr des Realraumes« auch die Konzeption eines »autonomen theatralischen Raumes« (S. 194-206) betrachtet. 311
sich mit Blick auf die Zeit im Drama53 analog von »(Er)Lebenszeit« der Figuren sprechen, die ebenfalls nicht notwendigerweise naturalistisch oder realistisch behandelt werden muß. Diese Doppelung ist Horizont des Dramentextes, der für ein konventionelles, also intrafiktionales Funktionsmodell von Theater geschrieben ist: die Spaltung der pragmatischen Situation in zwei Kommunikationssysteme, von denen das innere als dargestellte Geschichte die Funktion der »Botschaft« im äußeren trägt, dessen Senderinstanz mit einer Autor-Rolle besetzt ist, welche der des Erzählers in narrativen Texten gleichkommt. Dieser Doppelung wird die strukturalisüsche Dramenanalyse gerecht, indem sie auf der einen Seite das dargestellte Geschehen untersucht - nach Pfister: die »Geschichte«, welche »vom Rezipienten aus der Darstellung rekonstruiert werden« kann und sich in einer Inhaltsangabe zusammenfassen läßt - und auf der anderen Seite die Strategien der Präsentation dieser Geschichte als »Fabel«, die durch Umgruppierung, Relationierung etc. die rein lineare temporale Verkettung der Vorgänge, wie sie in der Geschichte vorliegt, kausallogisch und nach Maßgabe dramatischer Wirkung (Spannung) akzentuiert.54 Ob die Organisation der Geschichte durch die Fabel dabei zu einem Drama der geschlossenen oder der offenen Form (Klotz) führt, ist für das repräsentationale Funktionsmodell nicht von Belang, bezeichnet diese Unterscheidung doch, wie Hitz treffend feststellt, nur »die äußere Bauart« der Theatertexte.55 Ebenso verhält es sich mit Szondis Kriterium der »Absolutheit«, denn gerade Formen epischer Vermittlung (übernommen aus dem Bereich des Films) können im Drama der Fiktion zuarbeiten, wo sie zur Perspektivierung des Geschehens führen, das nun aus dem Blick einer Figur erscheint. Auf diese Weise wird nur die auktoriale Erzählerinstanz (AutorRolle) durch eine Autor-Rolle mit figuraler Perspektive ersetzt oder ergänzt, wird im Extremfall Außen- durch Innensicht abgelöst, um hier nochmals in 53
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Die ein konventionelles, dramatisches Theatralitatskonzept fraglos voraussetzende gleichnamige Untersuchung von Peter Pütz (Die Zeit im Drama, Göttingen, 1970), blendet das Spannungsverhältnis zwischen Drama und Theater aus und beschränkt sich auf eine Beschreibung von Dramentechniken, welche die zeitliche Struktur nutzen (Sukzession, Vor- und Rückgriffe; der Untertitel tautet bezeichnenderweise »Zur Technik dramatischer Spannung«), ist in ihrer Anwendung konsequenterweise auf dramatische Theatertexte beschränkt und überzeugt auch nicht, wo sie beispielsweise mit Brecht, Beckett und Handke Texte der kritischen Nutzung behandelt. Vgl. Pfister 51988 [1982], S. 265-326: »Geschichte und Handlung«, bes. S, 265-268. Hitz: Der Streit der Dramaturgien, Zürich, 1992, S. 73.
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Begriffen der Erzähltheorie zu sprechen. Am subjektiven Monodrama und an der Perspektivierung des Geschehens bei Bukowski, Liebmann und Elfriede Müller war allerdings zu sehen, daß das Drarna sich unter Umständen von dieser Seite her der kritischen Nutzung nähern kann. Nun sind uns mit der Thematisierung und Umfunktionierung der dramatischen Form Falle begegnet, in denen deutlich die Rekonstruktion der Geschichte aus der Fabel durch den Rezipienten unmöglich gemacht wird, sei es durch Verunsicherung der Zuschauer mit Hilfe paradoxer Effekte der Selbstbezüglichkeit bzw. aufgrund bewußt gesetzter Unbestimmtheitsstellen, die mehrere Deutungsmöglichkeiten offenlassen, sei es durch die Eigengesetzlichkeit des Bühnengeschehens, das sich mit den Mitteln der klassischen Logik nicht in eine Geschichte rückübersetzen läßt, da die Gesetze von Raum, Zeit oder Kausallogik gebrochen und so Paradoxien produziert werden. Die Dekonstruktion des fiktionalen Prinzips kann sich in Theatertexten vollziehen, die von der erfolglosen Suche nach einer Geschichte handeln und »weiße Flecken« für die Rezeption im Bereich der Narration lassen (so bei Bauer und Zschokke). Sie kann auch im reinen Metadrama unternommen werden, welches die Vervielfältigung der Fiktionsebenen mit der Unmöglichkeit koppelt, diese klar zu hierarchisieren - ein Phänomen, das Hottong dazu veranlaßt, mit Bezug auf Roth von einer Dramaturgie der »Übergängigkeit« und »Vernetzung« zu sprechen. Sie kann sich auch darstellen als Außerkraftsetzen der Gesetze von Raum und Zeit in einer Dramaturgie der Traumlogik (bei Streeruwitz, und, besonders deutlich, in Der Erdbebenforscher) oder als Angebot mehrerer verschiedener, sich nach klassischer Logik (nach dem Gesetz des »ausgeschlossenen Dritten«) wechselseitig ausschließender Geschichten (Turrini, Hürlimann, Czeslik). Sinn und Wirkung solcher Verfahren können ebensogut die Erregung von Mißtrauen, Beunruhigung, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit beim Publikum sein, als auch das Angebot eines »Gegenentwurfes«: Anregung der Zuschauerphantasie und Eröffnung alternativer Wege der Kognition durch die Ermutigung zum Versuch, Paradoxien und »Unmögliches« zu denken oder das kausallogische Verstehen (Erkennen) durch alogische Erfahrungen (Erleben) zu ersetzen. In solchen Fällen, in denen bereits der traditionell erste Schritt der Drameninterpretation, die Inhaltsangabe, problematisch wird, muß der Status des Bühnengeschehens neu bestimmt werden. Die Bühne, als Bild- und Handlungsraum der dramatischen Fiktion Mittelpunkt der theatralen Veranstaltung, wird abgelöst vom theatralen Raum des selbstreferentiellen Zusammenspiels von Produktion und Rezeption, der Bühne und Zuschauer313
räum umfaßt: als ein »atmosphärischer und operativer Ereignisraum [...], der, unter Einschluß des Rezipienten, sich selbst genügt«. 56 In ihm werden nicht (in »Fremdreferenz«) Geschichten dargestellt, sondern durch Umfunktionierung der dramatischen Form Wahmehmungs- und Bewußtseinsprozesse erzeugt, die selbstreflexiv gerade die Unmöglichkeit oder aber die Kontingenz des üblicherweise als »Verstehen« bezeichneten Rekonstruktionsvorgangs eriebbar machen, der nun als Konstruktion (und damit als »auch anders möglich«) bewußt wird. Dieselbe Funktion haben metadramatische Signale, sofern sie für das kritisch genutzte und damit in seinen Bedingungen »analysierte« Modell intrafiktionaler Theatralität sensibilisieren (und so eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung installieren), und »reines Metatheater«, das die Kritik an dieser Theatralität und den Entwurf einer dazu alternativen, analytischen Theatralität selbst zum Thema macht. Wie die Formulierung »operativer Ereignisraum« schon vermuten läßt, bekommt auch die Zeit hier eine neue Funktion zugewiesen, die der von Pavis festgestellten Bedeutung des Rhythmus im Theater57 auf neue Weise Rechnung trägt. Das kinetische Moment des Erlebens, Wahrnehmens und Verstehens als Prozeß der Bedeutungskonstitution - und damit die innere, subjektive Zeit - wird ausdrücklich genutzt, so daß Fluchtpunkt der horizontalen Perspektive auf das Bühnengeschehen anstelle des Handlungsverlaufs der theatrale Wahrnehmungsprozeß der Rezeption sein muß. Wie eingangs schon erwähnt wurde, ist der zeitliche Verlauf und damit der Rhythmus nicht der Stückhandlung, sondern der impliziten Inszenierungen (und ihrer impliziten Zuschauer-Rollen) daher verstärkt in die Analyse einzubeziehen. Zugleich ist freilich die vertikale Perspektive stärker zu berücksichtigen. Dient die zeitliche Dimension im Drama (als sein »narrativer Rhythmus«) 58 vor allem der temporalen Strukturierung der Geschichte zur Fabel, wodurch 56
Als solchen charakterisiert Dietmar Voss - im Gegensatz zum traditionellen (repräsentationalen) »Bildraurn« - die »postmoderne Perspektive von Kunst«. Dietmar Voss: »Metamorphosen des Imaginären«, Huyssen/Scherpe (Hg,) 1986, S. 219-250, Zitat S. 239f. 57 Pavis 1988, S. 95-100: »Der Rhythmus der Inszenierung«. Pavis verwirft zwar die Hypothese eines dem Text inhärenten Rhythmus als wenig befriedigend, da sie mit der Intentionalität der Schrift die Existenz eines eindeutigen Sinns impliziere, doch geht er dabei von dramatischen Texten aus. Die hier vertretene These bezüglich analytischer Theatertexte postuliert weniger das Vorhandensein eines dem Text unveränderlich eingeschriebenen Rhythmus als vielmehr ein in der Textmaschine angelegtes Angebot als Tauschwert für die Konstitution möglicher Rhythmen der Inszenierung. 58 Pavis 1988, S. 97. 314
Spannung sowohl hinsichtlich des Ausgangs als auch hinsichtlich des Verlaufs erzeugt werden kann, so verliert sich bei kritischer Nutzung der dramatischen Form oft der unbewußt vorausgesetzte Zusammenhang von Chronologie und Kausalität. Was für Texte Heiner Müllers festgestellt wurde, trifft auch auf zahlreiche unserer Beispiele zu: Das Tableau hebt die lineare Zeit auf, die »akausale Zeit des Unbewußten« führt zur »Stillstellung« des Bühnengeschehens in einer »Raum-Zeit« von Landschaften^ 9 Damit wird aber die vertikale Dimension des Augen-Blicks besonders bedeutsam. Mehrfach wurde schon auf die Bedeutung des Syntagmatischen und des Zusammenspiels verschiedener Signifikantensysteme (mit je eigenem Rhythmus) für den Sinngebungsprozeß im Theater hingewiesen. Bedeutung im Theater ist als »Korrespondenzbedeutung« immer mehr als nur die Summe der Bedeutungen der Einzelbestandteile. 60 Theatertexte, welche die besondere Möglichkeit des Theaters, Korrespondenzbedeutung herzustellen, in Rechnung stellen, implizieren bereits die Kombination von visuellem und akustischem Code und deren je eigenem Rhythmus unter Berücksichtigung der raumzeitlichen Bedingungen ihrer Produktion und - vor allem - ihrer Wahrnehmung. Das Bühnengeschehen als Darstellung eines »eigenständigen« fiktionalen Kornmunikationssystems (ein Status, dessen extreme Ausprägung sich im Bild von der vierten Wand konkretisiert) verliert so an Bedeutung zugunsten einer Funktion der Bühnenvorgänge im äußeren Kommunikationssystem und zwar nicht nur, wie in Brechts epischem Theater (das ja ausdrücklich an der Fabel als dem Herzstück der theatralen Veranstaltung festhält), um die »epischen« Vermittlungsinstanzen des Theaters bewußt zu machen, sondern unter radikaler Delegation der Sinngebung an das Publikum. Dem Rezipienten bleibt nicht nur aufgrund der durch Verfremdung beobachtbar gemachten Vorgänge der theatralen Bedeutungsproduktion die distanzierte Bewertung, die Beurteilung der dargestellten Geschichte als kontingent (»auch anders möglich«, veränderbar) vorbehalten, sondern er beobachtet sich vielmehr selbst beim Beobachten und erfährt so die Vorgänge repräsentationaler Sinngebung überhaupt (und im Extremfall unabhängig von der zumindest fragmentarisch noch vorhandenen »Geschichte«) als kontingent. Das Bühnengeschehen kann also, anstatt ein fiktionales Geschehen darzustellen, durch metadramatische Verfahren die dramatische Darstellung und ihre Bedingungen, ihre Grenzen sowie alternative Formen von Theatralität zum 59 60
Lehmann 1987b, S. 187. Hiß 1993,5.24.
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Thema machen; es kann auf seiner Unverständlichkeit bestehen und durch das so erzeugte »Stolpern« der Rezeption (nicht länger metadramatisch, sondern metatheatralisch) Bedingungen, Grenzen und »blinde Flecken« klassischer Logik, die auf Repräsentation beruht, zum Thema machen und alternative Wege der Bedeutungskonstitution eröffnen. Erscheinungsformen des Phantastischen und Grotesken nähern sich gerade in diesem Punkt der kritischen Nutzung dramatischer Form. So sind auch Ansätze zur Eigengesetzlichkeit der Stückfiktion bereits in den Entwürfen eines »autonomen theatralen Raums« vorhanden, wie sie Hintze bereits bei Dorst, Hildesheimer und anderen Theaterautoren konstatiert, die er mit Formulierungen wie »Bühne des Bewußtseins«, »Raum des Fantastischen« und der romantischen Konzeption vom »poetischen Theater« zitiert.61 Hintze betrachtet diese Phänomene jedoch vor allem produktionsästhetisch, also als Her- und Darstellung kontingenter Wirklichkeiten, und nicht als Angebot an die koproduzierende Phantasie der Rezeption, die repräsentationalen Mechanismen dieser Darstellung zu analysieren. Phantastik und Groteske sind im Grenzbereich zwischen problemloser und kritischer Nutzung der dramatischen Form anzusiedeln, wo im Theatertext nicht deutlich Strategien zur Verunsicherung der Rezeption oder der programmatische Entwurf eines anderen Blickes auszumachen sind. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Beobachtungen von Bruno Hitz hingewiesen, der mit Ablösung der »deduktiven« durch eine »induktive« Dramaturgie einen Abschied vom Primat der Fabel62 zugunsten einer Dramaturgie des Fragments in Theatertexten bereits der 70er Jahre feststellt. Mit der Verlagerung von deduktiver auf induktive Vorgehensweise, so Hitz' vorwiegend produktionsästhetische Deutung, reagierten die Autorinnen auf den »Verlust von Gewißheiten« und auf zunehmende Zweifel an der »Sicherheit, das Ganze der Gesellschaft und Geschichte mit Hilfe wissenschaftlicher oder philosophischer Systeme erfassen und planen zu können«. 63 Als Darstellung eines neuen Bildes von der Wirklichkeit verstanden, stellt die induktive Dramaturgie des Fragments, des Paradoxen, der U n überschaubarkeit und Diskontinuität aber, wie Hitz richtig bemerkt, lediglich einen neuen Blick auf die Prinzipien von Figuration und Narration und auf das Drarna als 61 62
63
Hintze 1969, S. 194f. Hitz unterscheidet nicht, wie Pfister, Geschichte von Handlung. Das Primat der Fabel als eines kausal-logischen übergeordneten Handlungszusammenhangs begreift er in erster Linie als Primat des Ganzen über die einzelnen Teile. Hitz 1992, S. 79f.
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eine fiktionale Gattung dar: »Daß die Fabel nun nicht mehr >Herzstücke des Dramas war, hieß jedoch nicht, daß man aufgegeben hatte, von Menschen, ihrer Geschichte und Wirklichkeit zu erzählen«.64 Hitz erfaßt mit seinem Begriff der >induktiven Dramaturgie« und der produkiionsästhetischen Perspektive zwar Phänomene der kritischen Nutzung der dramatischen Form, die jedoch durch Wechsel der Perspektive von der Produktions- zur semiotisehen Wirkungsästhetik als Abkehr von eben dieser fiktionalen Funktion des Dramas, Geschichten zu erzählen, und als Entwürfe einer analytischen Theatraütät erkennbar werden. Das mag für Theatertexte der kritischen Nutzung nur eine Akzentverschiebung bedeuten. Unsere Beobachtungen betreffen jedoch auch Theatertexte jenseits der dramatischen Form, Texte also, die auf die Darstellung einer Fiktion, auf Figuration und Narration ganz verzichten und es damit sehr wohl aufgeben, »von Menschen, ihrer Geschichte und Wirklichkeit zu erzählen« - ob in problemloser oder kritischer Nutzung, ob in deduktiver oder induktiver Modalität, oder ob als Darstellung real möglicher oder phantastischer, grotesker, eigengesetzlicher und damit kontingenter »Wirklichkeiten«. Man erinnert sich: Das Bestimmungskriterium der dem Drama ebenso wie etwa dem Roman zugrundeliegenden Geschichte mit zeitlicher und räumlicher Dimension, die ihre »Makrostruktur« bestimmt, ist nach Pfister nicht geeignet, dramatische von narrativen Texten zu scheiden, sondern unterscheidet vielmehr fiktionale von argumentativen und deskriptiven Texten.65 Wo Theatertexte auf die Darstellung einer Geschichte verzichten, signalisiert der von Kritikern häufig bemühte Vergleich dieser Texte mit Essays,66 daß diese - ebenso wie zeitgenössische Prosa - nicht mehr restlos im Begriff der fiktionalen Gattung aufgehen und daß die Fiktion, beruhend auf Figuration und Narration (und damit auch auf Raum und Zeit), unverzichtbare Grundlage des Dramas, nicht aber des Theatertextes schlechthin ist. Unsere Analysen haben gezeigt, daß aus der repräsentationalen Dramenhandlung nicht nur durch Verunsicherung, Dekonstruktion und Autoreflexion von Figuration und Narration ein operativ zu verstehendes Bühnenge64
Ibid. S. 81.
6?
Pfister 51988 [1982], S. 265. Vgl. auch Kapitel 2.2.4. Von Goetz' Krieg schreibt Werner Schulze-Reimpell, dieser Text gehöre der Gattung des »essayistischen Theaters« an (»Revolution, Zwiebel, Theater«, S/Z, 12.10.1987), zu Wysockis Abendlandleben wird vermerkt, »der Schritt vorn Essay zum Theaterstück« sei »sehr klein« (Moser 1993, S. 1178), und Jelineks Tolenauberg nennt Daniela Castner einen »Theateressay« (»Hauptrolle Sprache«, Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, H. 12/1992, S. 361138, Zitat S. 1136).
66
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schehen werden kann, sondern daß neben dem Bühnengeschehen im herkömmlichen (also szenischen) Sinne eine neue Form theatralen »Geschehens« an Gewicht gewinnt. Gemeint sind Dramaturgien, die (besonders und ausschließlich in konkreten Theatertexten) Sprache in ihrem Prozeßcharakter als sprachliches Geschehen nutzbar machen. Wo der Theatertext nicht nur durch sein implizites Funktionsmodell Theatralität als Wahrnehmungsmodus nutzt und reflektiert, sondern mit performativen Dimensionen seines sprachlichen Materials selbst arbeitet, ist der Funktionsentwurf von Theater (auch) in der Texttheatraliiät der Sprache zu suchen. Vor diesem zweiten Schritt der dramaturgischen Analyse soll allerdings nochmals kurz das Funktionsmodell der analytischen Theatralität zusammenfassend charakterisiert werden, das alternativ zum Modell konventioneller, intrafiktionaler Theatralität durch das implizite Funktionsmodell der Theatertexte entworfen wird. 4.1.5 Funktionsmodell analytische Theatralität Die Unterscheidung des impliziten Funktionsmodells von Theater in dramatische oder analytische Theatralität wird wichtig, wo die Theatertexte nicht gleichzeitig mit dem Repräsentationsprinzip offen die dramatische Form verabschieden, sondern die dramatische Form formal beibehalten und kritisch nutzen. Neben der Untersuchung des Status der einzelnen Komponenten können besonders metadramatische und -theatralische Signale, wie etwa die ausdrückliche Thematisierung von Wahrnehmung (etwa im Motiv der Blindheit), Anhaltspunkte dafür geben, daß der Text nach dem Prinzip analytischer Theatralität funktioniert. Irn Gegensatz zu Texten, die vor allem intrafiktionale Theatralität in Rechnung stellen, die Theatralität also vor allem in der Dramatizitat der dargestellten (repräsentierten) Geschichte und den (vor allem spannungserzeugenden) Strategien ihrer Strukturierung als Fabel ansiedeln, nutzen und reflektieren analytische Theatertexte die szenische Theatralität der pragmatischen Aufführungssituation unter wesentlicher Einbeziehung der Rezeptionsprozesse, insofern sie das akustische und visuelle Bühnengeschehen nicht als Medium zur Übermittlung einer (ästhetischen) Botschaft, nämlich als Mittet zur Darstellung einer Fiktion einsetzen, sondern als ästhetische Botschaft selbst, die zum primären Zweck der Kommunikation wird.67 67
Hier und im folgenden nach Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München, 81994 [1972], S. 145-167: »Die ästhetische Botschaft«,
318
Somit stellen sie nicht nur die Zeichen der Bühne in Rechnung, sondern auch die Besonderheit theatraler Bedeutung als Korrespondenzbedeutung sowie den sich daraus ergebenden spezifisch theatralen Wahrnehmungsmodus - und, in einer autoreflexiven Bewegung, die Wahrnehmung des theatralen Wahrnehmungsvorgangs. Damit werden Theatertexte, welche die analytische Theatralität nutzen und also den Zuschauer mitdenken (was seine Berücksichtigung auch für die dramaturgische Analyse unerläßlich macht), den Erkenntnissen neuerer Sprach- und Kognitionstheorien gerecht, die besagen, daß weder unsere Sprache noch unser Bewußtsein die Welt einfach widerspiegeln, sondern daß sie nach operativen Prinzipien mit ihr verfahren, sie (so die extremsten Positionen etwa des radikalen Konstruktivismus) eigentlich erst konstruieren. Ebenso konstruieren Theatertext und Bühne im Zusamrnenspiel mit dem Publikum eine »Illusion« (verstanden im Sinne einer virtuellen Realität, unabhängig vom mimetischen Widerspiegelungscharakter), 68 und diese Illusion machen analytische Theatertexte als Konstruktion nicht nur der Bühne, sondern auch des beobachtenden Bewußtseins durchschaubar. Auch wenn das Prinzip der Repräsentation vordergründig noch genutzt wird, kann es durch Mehrdeutigkeiten der Signifikanten und die daraus folgende UnersehMeßbarkeit des Repräsentierten suspendiert oder durch Verdrängung des Repräsentierten durch den Materialwert der Signifikanten unterwandert werden. Die einzelnen Elemente der Aufführung, über die der Text verfügt, interessieren folglich nicht als (gegenständliche) Komponenten einer Geschichte - als Figur, Figurenrede und -handlung, Schauplatz, dargestellte Zeit -, da der gemeinsame Bezugspunkt einer dargestellten Fiktion im inneren Kommunikationssystem fehlt oder zumindest in seiner Mehrdeutigkeit nicht faßbar ist. Vielmehr wird die Repräsentationalität, mit der die konventionelle Theatralität operiert, suspendiert oder ersetzt. Die Funktion der theatralen Signifikanten wird nicht binnenfiktional, sondern hinsichtlich des äußeren Kommunikationssystems definiert, Bedeutung wird von ihnen nicht mehr dar-, sondern im ästhetischen Spiel-Raum zwischen Bühne und Saal hergestellt. Damit ist es aber nicht mehr die referentielle Funktion des implizierten Bühnengeschehens oder einzelner seiner Zeichen, die von einer Analyse geklärt werden muß, denn als ästhetische Zeichen arbeiten sie wesentlich mit »kontextueller Wechselwirkung« 69 (Mehrdeutigkeit) und dem Material68
69
Zu diesem Begriff der Illusion in der Kunst vgl. Hornby 1986, S. 105-114, der Susanne K. Langer (Feeling and Form, New York, 1953) zitiert. Eco s 1994 [1972], S. 147.
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Charakter (Autoreflexivität) der Signifikanten, sprechen bewußte und unbewußte Vorgänge der Wahrnehmung (in »kognitiven Codes« und »emotionalen Subcodes«)70 gleichermaßen an. Die gerade bei »weiblichen« Dramaturgien festgestellte Dissoziation und Dezentrierung der einzelnen Elemente, die »Bedeutung« nur noch als theatrale Korrespondenzbedeutung mit prozessualem Charakter herstellen, bedeuten eine Abkehr vom Prinzip der Repräsentation, wie sie in der postmodernen Regiekunst schon längst vollzogen ist. Analytische (»postdramatische«) Theatertexte verfügen über die Zeichen der Bühne in diesem Fall nach eben dem nicht-repräsentationalen Modus, nach dem das postdramatische Theater sie einsetzt: Sie nutzen die poetische Funktion der in Rechnung gestellten Zeichen der Bühne. Strategien der Zuschauerverunsicherung dagegen sind im wesentlichen als Dekonstruktion dramatischer Repräsentation zu verstehen. Gegen den Vorwurf der Beliebigkeit und des Ästhetizismus analytischer Theatertexte, die nun eben keine »Bedeutung« mehr transportieren, läßt sich, gestützt auf die untersuchten Texte ebenso wie auf Ecos Theorie der ästhetischen Botschaft, sagen, daß der inszenierte Theatertext als zweideutige, autoreflexive Botschaft nicht nur Emotionen beim Zuschauer erzeugt, sondern ihm auch als Instrument der Erkenntnis dient: zum einen hinsichtlich des theatralen Codes, der aufgrund der Parallelität zwischen Thcatralität und Denkstil auf das abendländische Denken schlechthin übertragen werden kann, da dieses ja wie das Drama auf Repräsentation beruht; zum anderen hinsichtlich seiner Referenten, mit denen, wie bei der Untersuchung von Theatertexten der kritischen Nutzung deutlich wurde, ganz unterschiedliche Ausschnitte der Lebenswelt mit Blick auf die Zuverlässigkeit unserer auf aristotelische Logik gestützten Urteile vernunftskritisch beleuchtet werden können. Es hat sich erwiesen, daß die Materialität und die Mehrdeutigkeit der theatralen Zeichen, sei es des gesamten Bühnengeschehens, sei es einzelner visueller oder nicht-linguistischer Zeichen der Bühne, in vielen Fällen an Gewicht gewinnen und daß das in Bühnenanweisungen entworfene szenische Bild zum gleichwertigen Bestandteil neben dem gesprochenen Wort des Sprechtextes werden kann, da unter Umständen erst beide gemeinsam Felder für die Interferenz von Bedeutung erzeugen. Solch szenisches Denken der Autorinnen, das mit dem theatralischen Potential der im Text symbolisierten Bühnenvorgänge die Theatralität impliziter Inszenierungen bzw. Aufführungen nutzt, tendiert in Extrernfällen (etwa bei Marlene Streeruwitz) 70
Ibid. S. 161.
320
dazu, mit allzu genauer Vorwegnahme der Möglichkeiten impliziter Inszenierungen die Grenzen zwischen Schreiben und Inszenieren aufzuweichen. Analytische Theatertexte, die bei traditionellem Gebrauch der Sprache im Theatertext Bühnenanweisungen nach wie vor hinsichtlich ihrer referentiellen Funktion als Mittel zur Beschreibung von Bühnenvorgängen nutzen, bedienen sich der symbolischen Repräsentationsfunktion linguistischer Sprache, während ihre impliziten Inszenierungen das Prinzip theatraler Repräsentation durch den Code der Bühne dekonstruieren. Anders verhält es sich, wo im Sprech- und/oder Zusatztext nicht nur die Zeichen der Bühne, sondern auch die linguistischen Zeichen des Theatertextes selbst als ästhetische, als poetische Zeichen genutzt werden. Die Prinzipien nicht-repräsentationaler Bedeutungserzeugung schlagen sich dann in der Verwendung des Materials des Theatertextes selbst als »Theater der Wörter« 71 nieder - und nicht nur im Umgang mit den Zeichen des Theaters, die er in Rechnung stellt. In diesem Fall hat man es nicht mehr nur mit vom Text implizierter szenischer Theatralität zu tun, sondern mit Theatralität als Eigenschaft der sprachlichen Gestaltung des Theatertextes selbst. Diese Texttheatralität als Bündel performativer Dimensionen des verbalsprachlichen Textes selbst, mit der aus verständlichen Gründen konkrete Theatertexte arbeiten müssen, die aber auch in zahlreichen Texten eingesetzt wird, welche die dramatische Form kritisch nutzen, ist Gegenstand des zweiten Schrittes einer dramaturgischen Analyse.
4.2 Performative Dimensionen im Text: Texttheatralität Die Spezifik des Theatertextes liegt in seinem doppelten Charakter: Er ist einerseits als aufzuführender Text verbalsprachliche Grundlage eines Theaterkunstwerks, dessen Zeichen der Bühne er (mehr oder weniger detailliert und bewußt) in Rechnung stellt, und er ist andererseits ein literarischer Text, der als Material ausschließlich Zeichen der Verbalsprache zur Verfügung hat. Der erste Schritt der dramaturgischen Analyse stellt den ersten Aspekt in den Vordergrund, wenn versucht wird, mit der impliziten szenischen Theatralität Potentiale theatraler Wirkungen in den Texten zu erschließen, die sich bei einer Aufführung als dramatische oder analytische Theatralität des Bühnengeschehens und seiner Lektüre durchs Theaterpublikum entfalten können. Schon bei Theatertexten, welche die dramatische Form kritisch 71
So Keim (1995, S. 87) über Heiner Müllers Hamletmaschine.
321
nutzen, stößt man allerdings gerade im Zusatztext auf Probleme mit ihrer sprachlichen Gestaltung, ihrer Mehrdeutigkeit oder ihrem literarischen Eigenwert, die ihre scheinbar selbstverständliche »Bezogenheit auf die Bühnenrealisierung, ihre Überselzbarkeit in die paralinguistischen und außersprachlichen Codes«72 deutlich stört. Will man diese Passagen nicht als dem Leser vorbehalten einstufen, steht man vor dem Problem ihrer Übersetzung in szenischen Text. Die Frage nach dem Verhältnis von Text und Theater jedoch, insbesondere nach den Möglichkeiten theatraler »Umsetzung« des Textes bzw., bei Umkehrung der Perspektive,7-1 nach den Modalitäten der »Transkription möglicher Aufführungen«, mit deren Hilfe der Theatertexi die Mittel der Bühne in Rechnung stellt, lenkt den Blick unweigerlich auf den zweiten Aspekt und damit von der Frage nach dem Entwurf impliziter szenischer Theatralität auf die Frage nach theatralischen Potentialen in der Zeichenpraxis des Textes selbst, nach performativen Dimensionen, die als Eigenschaften nicht mehr impliziter Inszenierungen, sondern des Theatertextes selbst beschreibbar sind - als Theatralität seiner sprachlichen Gestaltung. Unausweichlich wird diese Frage schließlich angesichts solcher konkreter Theatertexte, die wie Wolken.Heim. durch den vollständigen Verzicht auf den Entwurf einer »Bildspur« (Finter) und damit szenischer Theatralität ohnehin nur die Möglichkeit offenlassen, in der sprachlichen Gestaltung selbst nach Texttheatralität zu suchen. So muß die dramaturgische Analyse sich nach der szenisch-theatralen Dramaturgie der verbal-textuellen Dramaturgie zuwenden, um so als Textanalyse in der MikroStruktur der Theatertexte und ihrer textuellen Zeichenpraxis theatralische Potentiale aufzuspüren, die für die Theatralität szenischer Lektüren als Material oder Tauschwert dienen können. Wie die im Theatertext entworfenen theatralen Vorgänge, so können auch die Zeichen des Theatertextes selbst als ästhetische Botschaft eingesetzt werden, so daß Autoreflexion und Mehrdeutigkeit der Signifikanten auch im linguistischen Text ihre referentielle Funktion ergänzen, überlagern und er-
72
7i
Pfister {51988 [1982], S, 36) als Kriterium zur Unterscheidung »theater-funktionaler Bühnenanweisungen« von Bühnenanweisungen mit »literarischem Eigenwert in Hinblick auf eine rein literarische Rezeption«. In der Tat spiegelt dieses Problem genau die zentrale Frage theaterserniotischer Beschreibungstheorie nach einer Metasprache zur Beschreibung der Aufführung, die sich als Frage der »intersemiotischen Transkription eines bestimmten Systems (des audio-vtsuellen im Falle des Theaters) in ein anderes (symbolischer oder ikonischer Art)« stellt. Pavis 1988, S. 24.
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setzen können. Der Theatertext erscheint so als »Text« im Sinne Kristevas,74 in dem die Revolution der poetischen Sprache ihren Niederschlag findet und der mit der Sprache bewußt ein Signifikantensystem nutzt, das »erst im Prozeß der Artikulation und Rezeption zu möglichen Sinnpotentialen wird«. 75 In Theatertexten jenseits des Dramas bieten sich neue Dimensionen und Nutzungsmöglichkeiten für die poetische Funktion der Sprache dar; als Sprechtext, der nicht mehr primär Figurenrede darstellt und als Kommunikation ohne Attribution keinen traditionellen Handlungscharakter mehr besitzt, oder aber als Zusatztext, der sich als eigenständige poetische Textschicht etabliert und sich nicht mehr darauf beschränkt, in telegrammstilartigen Bühnenanweisungen eine fiktive Welt als Lebensraum von fiktiven Figuren zu entwerfen und so den Versuch zu unternehmen, der primären Rezeption eine Richtung für ihre imaginäre und szenische Phantasie im wörtlichen Sinne »vor-zu-schreiben«. So befreit - von der prinzipiellen Polyfunktionalität der Alltagskommunikation bzw. von der rein referentiellen Informationsübermittlung -, kann Sprache im Theatertext bevorzugt die poetische Funktion ihrer Zeichen aktivieren, deren Signifikanten nun ebensowenig Transportmittel für Bedeutung sind wie die Signifikanten der Bühne im postmodernen Theater. Mit der poetischen Funktion der Sprache rücken Prozesse der Zeichenpraxis und Bedeutungskonstitution des verwendeten Codes ganz allgemein ins Zentrum des Interesses. Der poetische Einsatz der Sprache ist als ihre Autoreflexion zugleich metasprachlich und metatheatral, da der moderne Text, der Welt nicht spiegelt, sondern im Zusammenspiel mit der Rezeption erst erzeugt, mil dem Repräsentationsprinzip auch die Grundlage des dramatischen Theaters in Frage stellt. Die Reflexion der Sprache als eines Zeichensystems ist damit im Theater ebenso metatbeatral wie die Reflexion der Wahrnehmung. Das Prinzip repräsentationaler Bedeutungserzeugung, das oben schon für den Makrobereich des theatralen Codes als nicht mehr alternativlos zu erkennen war, wird nun auch auf der Ebene der Mikrostruktur des Theatertextes durch andere Sinngebungsmodalitäten ergänzt und ersetzt. Der Theatertext muß also ebenso wie auch das Theater als Maschine zur Erzeugung von Bedeutung betrachtet und untersucht werden, die nicht mehr fraglos nach konventionellen (symbolischen) Programmen funktioniert. Analytische Theatralität, verstanden als »semiosekonsütuierender Prozeß«,76 der Sprachen entgrenzt 74
75 76
Ais eine der »Formen signifikanter Praxis« neben »Erzählung«, »Metasprache« und »Kontemplation«: Suchsland 1992, S. 98-107. Finter I990a,S. 2. Finter I990a, S. 80. 323
und so für den Prozeßcharakter der jeweiligen Zeichenspezifik sensibilisiert, wird somit von den Theatertexten nicht nur in Rechnung gestellt, sondern auch, als analytische Texttheatralität der Sprache und Schrift, auf Textebene genutzt. Es geht also im zweiten Schritt der dramaturgischen Analyse darum, Potentiale theatraler Wirkung zu bestimmen, die nicht erst durch die vom Theatertext implizierte Zeichenpraxis der Bühne entstehen, sondern in ihm selbst am Werk sind: in seiner Ordnung, Gestaltung und Funktionsweise als Textmaschine. Die dramaturgische Analyse kann mit den Mechanismen und Prinzipien der Sprach Verwendung das Programm der Textmaschine freilegen, das theatralisch insofern ist, als es durch Au tore flexion sprachlicher Zeichenpraxis das Funktionieren der Sprache bloßlegt77 und alternative Wege der Sinnkonstitution erforscht. Mit mittelbarer und unmittelbarer Texttheatralität gibt es zwei grundlegende Möglichkeiten, das Theatralische im Text wirksam zu machen. Bei der ersten handelt es sich um neuartige Modalitäten, die Zeichen der Bühne in Rechnung zu stellen. Durch den Einsatz der sprachlichen Botschaft des Theatertextes als einer ästhetischen, unter Nutzung also (auch) der Materialität (als Schrift-Bild) und Mehrdeutigkeit der schriftsprachlichen Signifikanten, bedient man sich anderer als der gewohnten Verfahren, um gedachte Aufführungen in Schrift zu transkribieren. Diese Verfahren sollen als erste behandelt werden. Ihre Bezeichnung als mittelbare Textheatralität signalisiert, daß die theatralischen Eigenschaften des Theatertextes, die aus diesem ästhetischen Einsatz der Sprache entstehen, als Tauschwert für eine szenische Theatralität der Aufführung zu betrachten sind, daß sie also von der primären Rezeption (Lektüre oder Regie) in Zeichen der (imaginären oder realen) Bühne zu übersetzen, zu konkretisieren sind. Als unmittelbare Texttheatralität werden anschließend theatralische Eigenschaften des Theatertextes behandelt, die in linguistischen Zeichen der Aufführung (zumeist als Rede im Sprechtext, aber auch als Projektion anderer Textschichten) wirksam werden können, die also in Passagen zu verorten sind, die der Text unmittelbar der sekundären Rezeption als sprachliches Geschehen und als Basis für Sinngebungsprozesse anbietet. Nicht um neuartige Modalitäten, die Zeichen der Bühne in Rechnung zu stellen, geht es also bei der unmittelbaren Texttheatralität, sondern um eine neue Funktionalisierung des zu verlautbarenden Textes. Diese Form der Theatralität wird in der Aufführung des Textes unmittelbar wirksam und kann von der Inszenierung, ihrer »Bildspur«, aber auch ihren paralinguistischen Zeichen, welche die Verlaut77
Vgl. Finter 990a, S. 278.
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barung des Textes als Rede der Schrift voraus hat, maximal unterstützt und ergänzt, aber auch ignoriert oder dekonstruiert werden. Sie nutzt ebenfalls die Mehrdeutigkeit sprachlicher Signifikanten und ihre Materialität, letztere allerdings als Klang des gesprochenen Wortes. Aus dieser Unterscheidung in mittelbare und unmittelbare Texttheatralität ergibt sich auch die Lösung der weiter oben angesprochenen Frage nach der Realisierung unklarer Textschichten in Mischformen und konkreten Theatertexten: Herrscht in diesen Textschichten die unmittelbare Texttheatralität vor, so erscheint es empfehlenswert, sie auch ohne weitere Vermittlung zu Gehör zu bringen (oder als Projektion lesbar zu machen), während eine Transformation in nichtlinguistische Zeichen der Bühne sich bei mittelbarer Texttheatralität anbietet. Die im folgenden knapp umrissenen Möglichkeiten des Theatertextes, die Theatralität der Sprache zu nutzen, fassen die Ergebnisse der oben durchgeführten Textanalysen zusammen, um anschaulich zu machen, in welcher Form theatralisches Potential in den Texten selbst angelegt sein kann. Damit soll kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Vielmehr geht es dem induktiven Ansatz und dem Überblicksaspekt dieser Arbeit entsprechend - darum, mögliche Bereiche der Texttheatralität zu erkunden, wie es die Theatertexte selbst ja auch tun, indem sie ihr eigenes Material, die Sprache, erforschen. Hinweise auf das Programm, nach dem die jeweilige Textmaschine funktioniert, sind wiederum in den meisten Fällen aus ihr selbst zu gewinnen. Visuelle und sonore Eigenschaften ihres Materials als Schrift und Rede, die Mehrdeutigkeit ihrer Signifikanten aufgrund des Wirksamwerdens von Intertextualität und semiotischen Sinngebungsmodalitäten sowie die verstärkte Einbeziehung von Raum und Zeit stellen solche Suchfelder dar, die im einzelnen erforscht werden müßten - unter Rückgriff auf Poetizitäts- und Intertextualitätstheorien, auf Musik und bildende Kunst, auf Kommunikations- und Informationswissenschaften sowie wiederum unter Berücksichtigung des unverzichtbaren Beitrags der koproduzierenden Leistung der »Rezeption«. In den einzelnen Analysen wurde versucht, von Fall zu Fall sich anbietende Hilfen unterschiedlicher Art zu nutzen - von Kristevas Konzept des Semiotischen bei Jelinek bis zu systemtheoretischen Ansätzen und Parallelen in der Konzeptkunst bei Goetz. Es erscheint unwahrscheinlich, daß eine Methode in der Lage ist, alle Theatertexte zu erschließen, auch wenn Kristevas Konzept des Textes als Erforschung des Sinngebungsprozesses, ihrer Auffassung der poetischen Sprache als Konfrontation des Symbolischen mit dem Semiotischen und vor allem ihrem Be-
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griff der Intertextualität sicherlich ein zentraler Stellenwert für das Verständnis des modernen Textes wie des Theaters zukommt, die beide nicht mehr Repräsentation von abgeschlossenen imaginären Universen sein [sollen], sondern potentielle Repräsentationen im Werden, die die Bedingungen ihrer Konkretisation erfahrbar und zugleich die singulare Beteiligung des Reztpienten bewußt machen. 78
Mit der methodischen Entscheidung für induktives Vorgehen und mit dem Anspruch, einen Überblick über unterschiedliche Formen des Schreibens fürs Theater heute zu geben, wurde in der vorliegenden Arbeit bewußt darauf verzichtet, eine Methode zur Analyse der Texttheatralität vorzugeben. Für die nähere Beschäftigung mit ihren Phänomenen liegen aber bereits wissenschaftliche Arbeiten vor, auf die hier verwiesen sein soll. Helga Finters Untersuchung des »Texttheatralischen« in den Werken Mallarmes, Jarrys, Roussels und Artauds, worunter sie »all die translinguistischen Phänomene« versteht, welche »die Codes übersteigen und die Materialität des Sprechakts indizieren«, 79 liefert wertvolle Anstöße vor allem bezüglich unmittelbarer Texttheatralität, Sie rückt das performative Element der Zeichenpraxis sowie die Stimme als Integration von Imaginärem und Symbolischem in den Vordergrund und versteht dieses utopische Theater einer »Lektüre in actu«&ü als Vorläufer postmodernen Theaters, das als performance den Text erst schaffe. Zentral ist ihr dabei die Problematik der Subjektkonstitution durch Sprache, so sieht sie etwa auch die gesellschaftliche Aufgabe des Theaters darin, im Spiel mit Identitäten und Präsenzen das Subjekt als Ergebnis eines Spiels mit Zeichen erkennbar zu machen. 81 Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit erschien diese Perspektive zu eng, um die Erschütterung nicht nur der Kategorie des Subjekts, sondern der Begriffe von Welt und Wirklichkeit insgesamt zu erfassen. Unsere Ergebnisse schließen an Finters Betrachtungen aber insofern an, als sie zeigen, daß die analytische Theatralität des postmodernen Theaters, dessen Ästhetik Finter in den Theaterutopien der historischen Avantgarde präfiguriert sieht, als Texttheatralität einen Platz im zeitgenössischen Theaiertext und seiner sprachlichen Gestaltung findet: Wenn das Performance-Theater den Ansatz der Avant-
78 79 80 81
Ibid. S. 26. Ibid. S. 3/4. Ibid. S. 6. Ibid. S. 5/6.
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garde weiterführt, »Theater als Schrift« zu erproben, so entwickeln konkrete Theatertexte konsequent »Schrift als Theater« weiter. 82 Aus der noch unveröffentlichten Dissertation Katharina Keims zur Theatralität in den späten Theatertexten Heiner Müllers, die Theatralität als »Qualität der Sprache«83 betrachtet, ist für unsere Fragestellung besonders die Analyse der Hamletmaschine von Bedeutung. Keim beschreibt mit Hilfe der Intcrtextualitätstheorie diesen Text Müllers als »Inszenierung der Sprache«, weist dabei auf die Bedeutung von rhythmisch-musikalischen Gestaltungsprinzipen des Textes sowohl als Schrift (visueller Rhythmus der graphischen Signifikanten) als auch als Klang (sonorer Rhythmus der lautlichen Signifikanten) hin und stellt fest, Müller lege durch sein Verfahren der »theatralen Präsentation der graphischen und phonetischen Materialität der sprachlichen Zeichen« den Repräsentationsanspruch bloß, welcher »der Sprache wie auch dem Theater« zugrunde liege.84 Ihre Arbeit bestätigt meine Ergebnisse und gibt besonders für das vorliegende Kapitel wertvolle und klärende Hinweise. Da Müllers Dramaturgie, wie mehrfach erwähnt, für die Ästhetik und Entwicklung zeitgenössischer Theatertexte jenseits des Dramas geradezu exemplarisch ist, liefert diese Arbeit methodisches Rüstzeug für die dramaturgische Analyse auch zahlreicher anderer Theatertexte. Auch Hottongs Studien zu Roths Dramen- und Theaterästhetik, die, ausgehend von Roths Wurzeln in der Konkreten Poesie und Sprachphilosophie, ihr Sprachverständnis zum Ausgangspunkt nehmen, entdecken in der Sprache von Roths Theatertexten Ansätze der Texttheatralität. Hottongs Bezeichnung solcher Eigenschaften der Sprache als »neue dramatische Qualitäten«8'' und eine »Dramatik der Sätze«86 öffnet die Analyse allerdings nicht auf eine neue Form der (nichtdramatischen) Theatralität, auch wenn der »>Kampf der Wörter um Bedeutung< im unendlichen Verweisungsbezug des intertextuellen Raumes« 87 mit Hilfe eines Intertextualitätskonzepts faßbar gemacht und die Verabschiedung der Repräsentation durch Roths Theater erkannt wird. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die von Hottong entwickelten Begriffe zur Beschreibung der Mechanismen, die in Theater82
Finter bezeichnet die Theaterutopien Mallarmes, Jarrys, Roussels und Artauds als den historischen Punkt, »wo die Schrift anfängt, den Rahmen des Buches zu sprengen, wo sie das Theater fordert, um räumlich zu werden, wo die Schrift als Theater und das Theater als Schrift erprobt wird« (Ibid. S. 6).
81
Keim i995, S. 42.
84
Ibid. S. 87. Hottong 1994, S. 184. Ibid. S. 85. Ibid. S. 86.
85 86 87
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texten am Werk sind, weitgehend brauchbar erscheinen, da sie in der Lage sind, das dynamisch-operative Prinzip der Text»programme« zu erfassen, Bei der Betrachtung einzelner Theatertexte besonders der Unterwanderung und Überwindung der dramatischen Form sind wir darüberhinaus schließlich immer wieder auf Einzelstudien gestoßen, die auf poetische, musikalische, serniotische oder visuelle Qualitäten in den Texten selbst hinweisen. 88 Diese Eigenschaften werden nun als Entgrenzung der Sprache und damit zugleich als ihre Texttheatralität beschreibbar. Angesichts der Einsicht in die Historizität von Theatralität steht zu erwarten, daß auch die Theatralität, welche die als Experimentierfelder für neue Wege der Sinnkonstitution verstandenen Texte konstituieren, als dynamischer Begriff verstanden werden muß, der neuen Entwicklungen offensteht. 4.2. l Mittelbare Texttheatralität: Tauschwert für szenische Theatralität Wird der geschriebene Text als Sprachkunstwerk und somit als ästhetische Botschaft betrachtet, so werden seine schriftsprachlichen Signifikanten in ihrer Poetizität, in ihrer Materialität und Mehrdeutigkeit wirksam. Bei der Betrachtung der mittelbaren Texttheatralität interessieren zunächst nur solche ästhetischen Dimensionen des schriftlich vorliegenden Textes, die scheinbar dem Leser vorbehalten sind: Aspekte der Textgestalt und des Schriftbildes sowie poetische Qualitäten in Passagen des Zusatztextcs, die offensichtlich als Bühnenanweisungen zu verstehen sind. Solche Eigenschaften des Theatertextes stellen das Problem des innerästhetischen Medienwechsels im Theater auf neue Weise, da sie durch konsequent ästhetischen Einsatz der Sprache deren Übersetzung in einen szenischen Text entautomatisieren. Wenn im Theatertext selbst bereits Bedeutung nicht dargestellt, sondern in einer Textmaschine durch kontextuelle Wechselwirkung und Autoreflexion der Signifikanten erst erzeugt wird, sucht die Sprache als poetische Sprache oder als Schrift-Bild Äquivalente einer szenischen Theatralität herzustellen, die im Zusammenspiel heterogener Signifikantensysteme Korrespondenzbedeutung und Rhythmus erzeugt. Poetischer oder imaginärer »Überschuß« der verbalsprachlichen Signifikanten steht damit für eine neue Modalität der Transkription gedachter Aufführungen. Solche Formen der Texttheatralität können nicht einfach »realisiert« werden, da sie entweder, wie moderne Formen der Poesie, die Materialität der Schrift (in Etwa Vogelsang 1992 zu Wysocki, Caduff 1991 zu Jelinek, Brandt 1992 zu Schwab und Winkels ]988 zu Goetz. 328
Sprech- und/oder Zusatztext) als Bild nutzen, wofür es auf der Buhne, will man nicht den Text projezieren, keine unmittelbare Entsprechung gibt, oder weil die poetische Formulierung von Didaskalien verloren geht, wo man sie nur als Handlungsanweisungen für Regie und Schauspieler liest. Sie sind, um einen Ausdruck zu verwenden, der sich im Zusammenhang mit Gisela von Wysockis Dramaturgie anbietet, als Tauschwert für szenische Poesie zu betrachten, die von der Regie erfunden werden kann und soll. Indern Autorinnen nicht, wie üblichen, mit Hilfe verbalsprachlicher Symbolisierung über die Zeichen der Bühne verfügen, sondern versuchen, für die Heterogenität, Räumlichkeit, Vieldeutigkeit, Ikonizität und das dynamische Beziehungsgeflecht theatraler Zeichen Entsprechungen in der Schrift zu finden, bestehen sie ebenso auf dem Charakter des Theatertextes als eines literarischen Kunstwerks, dessen Material aus sprachlichen Zeichen besteht, wie sie die Zeichen der Bühne in Rechnung stellen - nun allerdings nicht durch verbal sprach liehe Beschreibung imaginierter Bühnenvorgänge und -bilder, sondern durch Anverwandlung spezifischer Merkmale des theatralen Codes wie etwa der Raum- und ZeithaUigkeit und einer Poesie des Imaginären. Als zwei (von mehreren denkbaren) Spielarten der mittelbaren Texttheatralität, die bei den Analysen besonders aufgefallen sind, sollen die Poetizität des Zusatztextes und die Arbeit mit Aspekten des Schrift-Bildes resümiert werden. Wiederholt fiel auf, daß der Entwurf mehrdeutiger theatraler Signifikanten sich darin niederschlagen kann, daß Didaskalien in Frageform gehalten, als Vermutung formuliert werden oder schlicht als Beschreibung nicht der Signifikat- sondern nur der Signifikantenseite des theatralen Zeichens. Bei Roth und Wysocki ist darüberhinaus die Frage nach der Umsetzbarkeit von Didaskalien aufgetaucht, deren Formulierung über Regieanweisungen im Telegrammstil weit hinausgeht. Mit Hilfe poetischer Verfahren können Autorinnen im Zusatztext sonore und visuelle Eindrücke, die sie als Bühnengeschehen in Rechnung stellen, nicht nur sprachlich repräsentieren (beschreiben), sondern durch Nutzung der semiotischen Sinngebungsmodalität andeutungsweise in der Schrift schon erzeugen. So können etwa Rhythmus und Choreographie szenischer Vorgänge durch Besonderheiten der Interpunktion, Reihung, Wiederholung, Alliteration oder Sprachrhythmus im Zusatztext präfigurieit sein. Auch in Didaskalien kann also die sprachliche Form Informationen tragen: Anstelle (oder zusätzlich zu) der referentiellen Bedeutung von »Anweisungen« für Regie und Schauspieler bietet der Text mit der Poetizität von Passagen, die nicht als Sprechtext verlautbart werden sollen, einen Tauschwert für den szenischen Text der Aufführung an. Durch 329
Nutzung poetischer Verfahren, die paralinguistische Phänomene, Raum, Zeit, Bilder und Bewegung in der Sprache aktivieren oder evozieren, durch Ansprechen der »unteren Ebenen« der Kommunikation, die in der ästhetischen Kommunikation bestimmend sind,89 wird versucht, Räume für die Imagination des Lesers oder der Regie zu schaffen und Emotionen zu erzeugen. Der innerästhetische Medienwechsel vom homogenen sprachlichen zum heterogenen theatralen Zeichensystem entspricht in diesem Falle nicht mehr dem Wechsel vom Prinzip repräsentationaler (symbolischer) Sinngebung zu einem Zusammenspiel aus Symbolischem und Imaginärem, sondern dieses Zusammenspie] wird im Text selbst erprobt, der durch die »Revolution der poetischen Sprache«, durch den poetischen und damit autoreflexiven Gebrauch der Verbalsprache, das Prinzip der Repräsentation sprengt, die Sprache entgrenzt und Texttheatralität konstituiert. Solche poetischen Didaskalien erzeugen im Leser des Theatertextes dynamische Sinneffekte, visuelle und sonore Vorstellungen 90 und können auch nur von ihm, nicht vom Theaterpublikum, unmittelbar rezipiert werden, was in manchen Fällen dazu führt, daß poetische Didaskalien (als in der Aufführung »nicht realisierbar«) im Programmheft abgedruckt oder dem Sprechtext zugeschlagen werden. Angesichts der Tatsache aber, daß der kreative Vorgang, der vom Text zur Aufführung führt, mit dem Begriff der >Realisierung< ohnehin nicht erfaßt wird, verlangen solche Passagen des Theatertextes vielmehr nach szenischer Phantasie, die in der Inszenierung Wirkungspotentiale mit Mitteln des Theaters erschließt, die den im Text durch verbalsprachliche Poesie erschlossenen entsprechen. 91 Solche durch poetischen Sprachgebrauch eröffneten Felder von Texttheatralität als Tauschwert verfügbar /.u machen, ist Aufgabe der dramaturgischen Analyse. Nicht nur die Poetizitat der Sprache, auch die Materialität der Schrift kann im Thcatertext genutzt werden. Mit dem visuellen und räumlichen Erscheinungsbild des Schrift- bzw. Druckbildes kann im Theatertext (wie besonders aus poetischen Verfahren der Avantgardelyrik bekannt) ein zusätzliches Sinngebungspotential aktiviert werden. So können, wie bei Roths synchroner Dramaturgie in Erben und Sterben und bei Wy sock is Schauspieler 89 90
91
Eco 8 1994 [l972], S. 160. Hier bietet sich Finters Formulierung vom »subjektiven Raum« an, der allerdings, vermittelt durch eine Inszenierung, theatrale Wirklichkeit werden kann. Mit Peter Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten untersucht Astrid Buchler in ihrer Magisterarbeit (München, 1993) »Probleme der theatralen Umsetzung« eines Theatertextes, der ausschließlich aus literarisch durchgeformten »Didaskalien« besteht.
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Tänzer Sängerin, durch Leerstellen und durch das Nebeneinander von Druckspalten oder Szenen Tauschwerte für Raum und Zeit im Theater geschaffen werden. Außerdem können im gedruckten Text intertextuelle Prozesse durch eine visuelle Vernetzung von Textpassagen akzentuiert werden, etwa durch identischen Schriftschnitt oder gleiche Position auf der Druckseite. So werden durch die Organisation des schriftsprachlichen Matertals im Text Parallelisierungen, Kontrasteffekte und Interferenzen einzelner Textpassagen angeboten,92 was beispielsweise für die Deutung von Erben und Sterben nutzbar gemacht wurde. Bei Wysockis Schauspider Tänier Sängerin und Abendlandlehen trägt die Gestaltung des Text-Bildes den Entwurf des theatralischen Programmes bereits in sich: Rhythmus, der .sich aus dem Wechsel der Intensitäten und Geschwindigkeiten von Rede und szenischem Geschehen ergibt, Synchronie, Stocken und Pausen der theatralen Vorgänge, fortschreitende Vervollständigung der »Spiele«, Gliederung in Abschnitte und Rahmungen sind im Text präfiguriert durch Titel, Absätze, Spalten, Vielfalt der Textschichten, Schriftschnitte, fehlende Buchstaben, leere Abschnitte und Muster auf der Druckseite, die ein räumlich-dynamisches Verhältnis der Textblöcke zueinander konstituieren. Auch der Schrift werden also heterogene Seiten abgewonnen, auch in ihr wird das Symbolische mit dem Imaginären konfrontiert, so daß mit der Materialität der schriftsprachlichen Signifikanten ein Theater entworfen wird, das die Materialität der szenischen Signifikanten nutzt. Der konkrete Theatertext ist Text für konkretes Theater - aber er ist auch konkreter Text, der als Tauschwert für konkrete Theatralität textuelle Theatralität anbietet, die mit dem Materialcharakter der Schrift arbeitet. Die Möglichkeiten, solche textuellen Tauschwerte, einmal erkannt, in der Inszenierung aufzunehmen und zu verarbeiten, sind unterschiedlich. Strukturelle und materielle Besonderheiten des schriftlichen Textes können sich nicht nur im Sprechtext (durch paralinguistische Zeichen wie Tempo, Lautstärke oder Betonung) niederschlagen oder im einzelnen szenische Umsetzung erfahren (durch Entsprechungen in Choreographie, Raumgestaltung oder Synchronie von Vorgängen), sondern auch im Sinne einer »strukturellen« oder »globalen Transformation« 93 Eingang in die Inszenierung finden. 92
93
Den Einsatz der Typologie zur Parallelisierung (und dadurch gegenseitigen Erhellung) einzelner Textabschnitte in Alfred Jarrys »emblematischern Theater« behandelt Finter (I990a, S. 97-168, bes. S. 150-157). Keim untersucht Besonderheiten des Schriftschnittes als »typographische Markierung der Interferenz« (1995, S. 55-59). Nach Fischer-Lichte 1985. 331
Ist der Einsatz des Schrift-Bildes bei Wysocki unübersehbar, so kann seine Berücksichtigung doch auch in Fällen weniger auffälliger Nutzung hilfreich sein. Wenn mit dem Prozeßcharakter der theatralen Veranstaltung auch ihr Rhythmus an Bedeutung gewinnt, so werden zu dessen Markierung Zwischentitel ebenso jenseits ihrer referentiellen Funktion interessant wie die Gliederung des Textes in Akte, Szenen oder einfach in Absätze, Die rhythmisierende Funktion kann im übrigen auch von in identischem Wortlaut mehrfach wiederkehrenden Bühnenanweisungen (wie etwa »Stille« in Alpenglühen) übernommen werden. Da der Rhythmus, wie etwa in Wolken.Heirn., auch geradezu bedeutungstragend werden kann, sollte die dramaturgische Analyse gerade bei nichtdramatischen Texten, deren Gliederung ja nicht pragmatischen Notwendigkeiten (wie Auftritten, Abgängen oder Schauplatzwechseln) unterliegt, immer nach der Motivation gliedernder und rhythmisierender Elemente fragen,
4.2.2 Unmittelbare TexttheatraJität: Innersprachliches Geschehen Mit der unmittelbaren Texttheatralität wird die Mehrdeutigkeit und Materialität der Sprache nicht als Tauschwert für szenische Theatralität genutzt, sondern in autoreflexiven linguistischen Zeichen direkt wirksam gemacht als innersprachliches Geschehen. Die unmittelbare Texttheatralität ist also keineswegs dem Leser vorbehalten und bedarf auch keiner Transformation in nichtlinguistische theatrale Zeichen, sondern entfaltet sich im Gegenteil erst in der (imaginären oder realen) Aufführung des Textes als seiner performativen Konkretisierung vollständig. So liegt im Theatertext ein konkretes sprachliches Geschehen vor, das er, wie mehrfach konstatiert, nicht darstellt oder mitteilt, sondern ist, indem der Sprache selbst als einer »eigenständigen Wirklichkeit« 94 und einem »performativen Sprachakt«95 räumliche und zeitliche Dimensionen sowie Performance-Qualitäten abgewonnen werden. Damit wird auf der Ebene des Theatertextes eine Utopie der historischen Avantgarde weiterverfolgt, die auf der Bühne im Performance-Theater ihre Entsprechung hat: die Utopie eines Textes als einer Performance, »die, was sie sagen will, erst in der Präsenz des theatralischen Handelns schafft«. % 94 95 96
Roeder(Hg.) 1989,5.20. Eine Formulierung Finters angesichts der Sprach Verwendung Mallarmes (1990a, S. 68). Finter 1990a, S.4.
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Als »Hauptdarsteller« verdrängt die Sprache durch Unterwanderung der dramatischen Form die Figur aus dem Fluchtpunkt der theatralen Perspektive oder ersetzt sie gänzlich, wo mit der dramatischen Form auch das Prinzip der Figuration überwunden wird. Die Funktionalisierung der nun nicht mehr (vorrangig) in ihrer referentiellen Funktion genutzten Sprache kennt dabei zwei Schwerpunkte: einerseits das Theater als moralische Anstalt«, das Sprache in ihrer konkreten Materialität entweder als sonores und musikalisches Material (Gesang der Rede, Wortkonzert, Sprechoper) oder als Atem, d.h. als Kreuzungspunkt von Symbolischem (Sprache) und Imaginärem (Körper des Sprechenden) nutzt; andererseits das Theater als Austragungsort eines Sinngebungsprozesses, der mit sprachlicher Intertextualität arbeitet, die vor allem auf der Mehrdeutigkeit sprachlicher Signifikanten beruht, einen prinzipiell unabschließbaren Verweisungszusammenhang erstellt und punktuelle Bedeutung durch dynamische Effekte der Sinngebung ersetzt. Eine auf einem entgrenzten Textbegriff basierende Definition der Intertextualität würde es durchaus ermöglichen, diese beiden im folgenden getrennt angeführten Schwerpunkte unter einen weit gefaßten Intertextualitätsbegriff zu subsumieren, was einer weitgehenden Gleichsetzung von unmittelbarer Texttheatralität und Intertextualität gleichkäme. In der hier gewählten Verwendung soll der Begriff >Intertextualität< allerdings nur die Wechselwirkung zwischen latentem und manifestem Sinn des geschriebenen Textes bezeichnen, die durch die Polyvalenz sprachlicher Zeichen als »Kieuzungspunkt mehrerer Sinnebenen« (Suchsland), durch den Dialog von Text und Kontext und durch den Dialog von Semiotischem mit Symbolischem zustandekommt, soweit sie als Eigenschaft schon der Schrift vorliegt (und damit sowohl im Sprech- als auch im Zusatztext zu finden sein kann), während die Sinneffekte der gesprochenen Rede, die ihre Sonorität, Musikalität und ihre physische Dimension nutzen und damit ausschließlich im Sprechtext wirksam werden können, getrennt behandelt werden. Mit Intertextualität können neben Sprech- und Zusatztext insbesondere zusätzliche Textschichten arbeiten, deren Status unklar ist. So ist etwa das bei Goetz festgestellte System der Akt-, Szenen- und Büdtitel Teil eines mehrdimensionalen Referenzraumes und hat sowohl außerhalb des Sprechtextes als auch in Vernetzung mit ihm an einem subtilen intertextuellen Verweisungsspiel teil, das Räume für (mehrwertiges) Denken zu erschließen versucht. Wenn, wie bei Goetz, solch zusätzliche Textschichten offensichtlich nicht nur als Rhythmisierung der Stimmenmusik zur sonoren Gestaltung des sprachlichen Geschehens und als Rhythmisierung der szenischen Vorgänge zur Transkription szenischer Theatralität beitragen, sondern vielmehr auch 333
Intertextualität und damit unmittelbare TexttheatraHtät konstituieren, liegt die Einbeziehung ihrer sprachlichen Signifikanten (in hörbarer oder lesbarer Form, also durch Verlautbarung oder Projektion) in die Inszenierung nahe, da ja die durch sie ausgelösten Prozesse der signißance mit ihren Kurzschlüssen, Paradoxien, Rückkopplungseffekten und Assoziationsketten selbst als Ziel der theatralen Veranstaltung erkannt wurden.97 Die Materialität der Sprache als Stimme mit musikalischen und sonoren Qualitäten kann, wie vielfach festgestellt wurde, Berücksichtigung im Sprechtext finden, der als Klang, Geräusch, Rhythmus und Melodie sprachlicher Signifikanten nach musikalischen Gesetzen geradezu komponiert wird. Bereits die als »Symptom« konstatierte Rückkehr des Verses kann als solche Einschreibung der Stimme (des Atems) in den schriftlichen Text gewertet werden. Sofern sie die paralinguistische Ausgestaltung des Sprechtextes betreffen, können hierfür übrigens auch Verfahren der mittelbaren Texttheatraliiät genutzt werden: Pausen, Rhythmus, Intensitäten oder Polyphonie können auch in Schrift- und Druckbild präfiguriert sein. Insofern dient das Schrift-Bild des Sprechtextes in Schauspieler Tänzer Sängerin auch als Tauschwert für paralinguistische Zeichen der Bühne. Die Nutzung der Sprache als Rede mit musikalischen Qualitäten kann die Überdeterminierung der sprachlichen Form bis zum Verlust des außersprachlichen Signifikats und somit bis zur Unverständlichkeit treiben, wie in einigen Passagen bei Goetz, die, befreit von jeglicher Informationsübermittlung, Kommunikationen nur noch in Luhmanns Sinn sind. Solche Texte werden, hierin der Musik und dem Tanz vergleichbar, erst im Akt des Sprechens als »performance einer Signifikantenartikulation«98 lesbar und schaffen so Präsenz durch Betonung der Materialität des Hörbaren jenseits seiner Referentialität." Die Musikalität der Sprache kann aber auch neben ihre kommunikative Funktion treten, kann somit Sprache neu akzentuieren, so etwa (wie bei Jelinek) unter der Oberfläche symbol sprachlicher Zeichenpraxis ganz gezielt semiotische Eigenschaften der Sprache mobilisieren und reflektieren und damit als Katalysator für Intertextualität dienen. In der bewußten Nutzung der Unterschiedlichkeit von geschriebenem und gesprochenem Wort kann schließlich - so etwa bei Wolken.Heim. und in der Fes/wngstrüogie 97
98 99
Wieder ist ein Blick auf die bildende Kunst hilfreich: Mit fortschreitender Abstraktion gewinnt auch in der bildenden Kunst die Schrift (als Bildtitel oder, wie im Kubismus, als Bildelement) zunehmend an Bedeutung. Finter (199Oa, S. 81) über den Tanz als differentielle Signifikantenpraxis. Vgl. Finter 1990a, S. 14.
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auch ein Schlüssel zum Sinn des Theatertextes Hegen. Das gesprochene Wort fungiert bei Goetz als »Wahrheitsmelodie«, die ähnlich der Musik als reine (»schweigende«)100 Kommunikation ohne Handlungscharakter das Unaussprechliche sagbar macht, wobei das Nichtgesagte und die Sinnlücken den rezeptiven Vorgängen der Assoziation, Evokation und Konnotation besondere Bedeutung zuweisen. In Wolken.Heim. bilden die musikalischen Kompositionsprinzipien das Thema der sinnentstellenden Wiederholung ab, und das Semiotische in Toiencwberg dient dazu, die Macht der Diskurse auf menschliches Reden und Denken bloßzulegen. In jedem Fall wird mit dem Einsatz der Musikalität die Sprache entgrenzt, indem die Betonung der sonoren Materialität ihrer Signifikanten zu einer Entautomatisierung, Verunklarung oder einem Aufbrechen der Zuordnung von Signifikant und Signifikat führt. Abgesehen von der musikalischen Dimension, welche die Stimme einem Instrument vergleichbar macht, hat die Rede im Theater als Ort des Aufeinandertreffens von Symbolischem und Imaginärem im Körper des Schauspielers auch noch eine physische Dimension, Dieses Aufeinandertreffen, traditionell als Integration verstanden, kann nun auch als Desintegration beider Ordnungen zur Spannungserzeugung genutzt werden und so die Entfremdung von Mensch und Diskurs erfahrbar machen. Diese körperliche Dimension der Sprache nutzt beispielsweise Schwab, in dessen Texten das Geschehen weder ausschließlich dramatisch noch ausschließlich sprachlich ist, sondern seine Kraft und Dynamik aus der Reibung zwischen Wort und Körper bezieht. Durch die spürbare Entfremdung zwischen Diskurs- und Verlautbarungsinstanz, die zum Leiden an der (übermächtigen) Sprache führt, wird die Sprache zum Schauplatz eines Ringens um Wirklichkeit und Identität. 101 Gerade gegenüber dem zunehmend körperlosen Diskurs einer Informationsgesellschaft erscheint die Fähigkeit des Theaters, mit der körperlichen Seite ihrer Materialität die Präsenz der Sprache in der Stimme zu aktivieren, als interessante Perspektive. Die oben als Intertextualität bezeichnete Erzeugung von Mehrdeutigkeiten im Text, die den Text als Zeichenpraxis auf die Rezeption öffnet und damit auf kollektive und individuelle Prozesse der signifiance, wie sie ausgehend vom Theatertext in der Inszenierung und von den Zuschauern erfahren und geleistet werden, kann gerade bei konkreten Theatertexten zum 100 101
Luhmann über Musik; Fuchs/Luhmann 1989b, S. 171. Zur Stimme als »theatralisches Element par excellence« und zum Verhältnis von Wort und Körper vg!. Finter 1990b, 335
komplexesten Bereich der dramaturgischen Analyse werden. Die Perspektiven, die Kristevas Intertextualitätskonzept, das unlösbar mit ihrer Texttheorie und ihren Erkenntnissen über die poetische Sprache verknüpft ist, im Blick auf Theatertexte eröffnet, können hier, wie gesagt, nur angedeutet werden. Dabei stellt die markierte Intertextualität nur eine besonders auffällige Form der intertextuellen Qualitäten eines jeden (vor allem aber jedes poetischen) Textes dar, die sich aus der potentiellen Mehrdeutigkeit sprachlicher Zeichen im allgemeinen und poetischer Sprache im besonderen ergibt. Der mehrfach (so bei Wysocki und Jelinek) festgestellte Rückgriff auf bereits vorliegendes sprachliches Material im Verfahren der Zitatmontage lenkt in auffälliger Weise den Blick auf Bedeutungsverschiebungen in den zitierten Texten durch Artikulation und Kontextwechsel bzw. -verlust und macht damit Intertextualität explizit, die aber auch implizit wirkt. Als »Intertextualität« ist hier eine Qualität ästhetisch funktionalisierter Sprache ganz allgemein gemeint, die Polyvalenz eines Textes, die sich aus der Offenheit ästhetischer Zeichen ergibt, und aufgrund derer sich Sinn in einem unabschließbaren Prozeß immer erst als Effekt einer Beziehung zwischen Text und Leser herstellt. 102 Das Konzept der Intertextualität ersetzt die Vorstellung von feststehendem Sinn durch das Konzept eines dynamischen Prozesses der Sinnkomplexion, der semantischen Oszillation oder des Gleitens von Sinn durch Überlagerung, Artikulation und kontextueller Wechselwirkung verschiedener Textebenen und Sinngebungsmodalitäten. Phänomene der Intertextualität machen den Sinn eines Textes abhängig vom beobachtenden (»lesenden«) Bewußtsein, 103 und ihr bewußter Einsatz in poetischen Texten führt dazu, daß der Text Bedeutung oder Sinn weniger darstellt, als vielmehr die Prozesse ihrer Konstitution erforscht. Allerdings muß die dramaturgische Analyse auch hier die pragmatische Situation der Aufführung immer mitdenken, die neben der Mehrdeutigkeit des Textes besonders auch den zeitlichen Aspekt der signißance erfahrbar macht. Durch den üblicherweise einmaligen und gerichteten Vollzug des Textes im Theater (ohne die Möglichkeit, Rückkopplungen durch Zurückblättem zu überprüfen), der mit der vertikalen Perspektive das Moment des Erfahrene neben dem traditionell horizontal orientierten Verstehen zumindest gleichberechtigt etabliert, wird der intertextuellen Dezentrierung von Sinn außerdem Vorschub geleistet,
102
Vgl. Suchsland 1992, S. 79-84. 103 Ygj Susanne Holthuis: Intertextualität: Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen, 1993.
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was durch die zusätzliche Interferenz von optischen und akustischen Eindrücken in der Aufführung nochmals verstärkt werden kann. Die so verstandene Intertextualität ist damit der analytischen Theatralität vergleichbar, die mit den Funktionsmechanismen theatraler Korrespondenzbedeutung experimentiert. Im nichtdramatischen Theatertext kann sich das Experimentieren mit alternativer Sinngebungspraxis in radikal intertextuellen und damit poetischen Verfahren niederschlagen, die zugleich die Texttheatralität ausmachen. Der Begriff der Intertextualität wird von der Theaterserniotik bereits zur Bezeichnung des Verhältnisses von Theater und Text bemüht. 104 Die Tatsache, daß zeitgenössische Theatcrtexte jenseits des Dramas offensichtlich Intertextualität als eine für zeitgenössische theatrale Zeichenpraxis konstitutive Eigenschaft funktionalisieren, indem weniger die referentielle Funktion der sprachlichen Zeichen aktiviert wird als vielmehr ihre Artikulation, ihre Offenheit und ihre Fähigkeit, Sinngebungsprozesse anzustoßen, nähert Theater (als theatralen »Text«) und Text (als TextTheater«) einander an: In der performativen Dimension des Textes ist seine Theatralität angesiedelt.105 Damit bestätigt sich Kristevas Auffassung, der moderne poetische Text sprenge die Grenzen literarischer Gattungen. Wenn Intertextualität als theatralisches Potential von Texten anerkannt und vor allem nutzbar wird, können Textmaschinen verschiedener Gattungen, die mit intertextuellen Strategien arbeiten, als Theatertexte genutzt werden. Aus der Intertextualitätsforschung, gerade da, wo sie den engen literaturwissenschaftlichen Rahmen verläßt, zunehmend auch Linguistik, Semiotik, Kognitionswissenschaften oder Textverarbeitungsforschung einbezieht und vor allem Intertextualität weniger als Eigenschaft eines Textes, sondern vielmehr, unter Beteiligung der Rezeption, als »Relation« versteht106 (mit unseren Worten: als Programm der Text- und/oder Theatermaschine), lassen sich wichtige Impulse auch für die dramaturgische Analyse von Theatertexten gewinnen. Die Grenzen einer dramaturgischen Analyse freilich, sofern sie keine Konkretisation in einer Inszenierung erfährt, liegen darin, daß sie sich der wissenschaftlichen Metasprache bedient - »ausgesagt« werden kann sie im Grunde am besten mittels der Bühne. 107 Der »implizite Text«, i04
Bes. Höfele 1991. tos pavis weist darauf hin, daß schon Bachtin und Volochinov den Diskurs unter Verwendung des Theatermodells als Inszenierung der parole bezeichneten (Pavis 1988, S. 44f.). 106 So bei Holthuis 1993, Zitat S. 249. 107 Zur Inszenierung als »Aussagen (enonciation) der Lektüre und der dramaturgischen Analyse mittels der Bühne«: Pavis 1988, S. 28. 337
wie Lachmann den Ort der Interferenz von Texten nennt,108 den sie auch als »Ort der dynamischen pluralen Sinnkonstitution« bezeichnet, der »die ästhetische Kommunikation als Erschließung/Erweiterung des signalisierten Sinnpotentials - letztlich - durch den Rezipientcn programmiert«, 109 kann nicht systematisch wissenschaftlich erschlossen, sondern »nur annähernd bestimmt werden«. 110 Der »implizite Text« des Theatertextes ist dabei zweistufig zu denken: als implizite Inszenierung(en) und als der Prozeß ihrer Lektüre durch das Theaterpublikum. Um die Intertextualität des Theatertextes in seiner Aufführung wirksam zu machen, kann die dramaturgische Analyse mögliche sprachliche Unbestimmtheitsstellen und Strategien der Intertextualität als Programm der Textmaschine freilegen und den Text nach Markierungen dieser Intertextualität absuchen. Dabei können weiter oben bereits als Phänomene mittelbarer Texttheatralität vorgestellte Besonderheiten der Textgestalt (Schriftbild und -schnitt) ebenso als Markierungen für Intertextualität dienen - dies zeigt Keim für Hamletmaschine - wie die von Hottong auch als »marker« bezeichneten dramaturgischen Scharniere oder wie musikalische Qualitäten der Sprache (als Rede), die lautliche Ähnlichkeiten zwischen den Signifikanten für die Aktivierung von Intertextualität nutzen. In diskursiver Beschreibung ist Intertextualität allerdings ebenso wie die Musikalität der Rede nicht restlos zu erfassen. Unmittelbare Texttheatralität läßt sich nicht resümieren - die Texte müssen sich ereignen, um dieses Potential freizusetzen, das erst im Akt der Performance unter wesentlicher Beteiligung der Rezipienten entsteht, die zugleich auch Produzenten sind. Die Modalitäten, nach denen eine Inszenierung die Musikalität und die verbalsprachliche Intertextualität des schriftlichen Textes eventuell durch paralinguistische sonore Zeichen und durch Intertextualität polyvalenter theatraler Zeichen in einer Inszenierung ergänzt oder erweitert und nach denen diese wiederum vom Rezipienten »gelesen« werden, unterliegen der Kreativität und ästhetischen Kompetenz der Rezeption als einer »Lektüre in acfu« (Finter), die den eigentlichen Text erst schafft. Der dramaturgischen Analyse obliegt es, am Theatertext seine performativen Dimensionen und deren Spezifik sichtbar zu machen und gegebenenfalls ihre Funktionalisierung hinsichtlich eines thematischen Zentrums des Textes zu klären. Begreift man die Inszenierung als Lektüre in actu, so wird verständlich, daß die Intertextualität der Sprache bereits in einer richtig verstandenen 108
109 1)0
Renate Lachmann: »Ebenen des Intertextualitätsbegriffs«, Das Gespräch, hg.v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning, München, 1984, S. 133-138. Lachmann 1984, S. 138, Keim 1995. S. 53.
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Lektüre des Theatertextes als Mehrdeutigkeit auch der Schrift wirksam werden kann und daß die sonoren Qualitäten des verlautbarten Textes sich auch im Hörspiel oder in lauter Lektüre entfalten. Daß also Texte, die ausschließlich unmittelbare Texttheatralität einsetzen, der theatralen Aufführung nicht unbedingt bedürfen, um wirksam zu werden, spricht konkreten Theatertexten wie Wolken,Heim, aber genausowenig den Status eines Theatertextes ab, wie ein Drama zum Lesedrama erklärt werden kann, nur weil auch seine Lektüre dramatische Leseerfahrungen produziert. Die Beschränkung mancher Theatertexte auf unmittelbare Theatralität bedeutet weniger einen Mangel solcher Texte, sondern öffnet vielmehr den Blick für theatralische Qualitäten von Texten anderer Gattungen, die für das Theater nutzbar gemacht werden können, sofern sie als Text-Körper, als »Inszenierung der Sprache« 111 im Sinngebungsprozeß bzw. als »Literatur der reinen Interaktion, ohne interagierende Subjekte« 112 konzipiert sind. Und auch wenn (oder gerade weil) die unmittelbare Texttheatralität die nichtlinguistischen Zeichen der Bühne nicht ausdrücklich in Rechnung stellt, läßt sie Raum für szenische Phantasie, um die Theatralität des Textes durch szenische Theatralität der Bühnenvorgänge und -bilder zu illustrieren, zu ergänzen, (durchaus auch kontrapunktisch) zu akzentuieren oder sogar zu dekonstruieren. Dabei sollte allerdings die Vielfalt an möglichen individuellen Lektüren, die der autorefiexive und intertextuelle Gebrauch der Sprache im Theatertext freisetzt, und damit die kreativ koproduzierende Rolle der Rezeption auch im theatralen »Text« erhalten bleiben - zumal Unscharfe, Mehrdeutigkeit und die Unerschließbarkeit gesicherter Bedeutung als Konsequenz aus der einmaligen, unumkehrbaren Rezeption im Theater unlösbar zum Sinn des Theatertextes gehören. Wo Texttheatralität am Werk ist, sollten sowohl dramaturgische Lektüre als auch Inszenierung berücksichtigen, was Ulrike Haß schon früh über Jelineks Theatertexte schreibt: Diese Sprache ist ihre eigene Realität; sie spricht für sich selbst. Sie tut ihre Arbeit, indem sie gesprochen wird. Sie darf nicht zurückgebutiden werden durch irgend eine Form der Interpretation. 111
111 112 113
Keim 1995,8.83. Rudolf Burger über Jelineks erzählerisches Werk in Gürtler 1990, S. 17. Ulrike Haß: »Peinliche Verhältnisse: Zu den Theaterstücken Elfriede Jelineks«, Dramaturgische Gesellschaft (Hg.): Frauen im Theater (FiT) Dokumentation 1986/87: Autorinnen, Redaktion: Ursula Ahrens, Barbara Scheel u. Anne Schöfer, Berlin, 1988, S. 86-94, Zitat S. 92.
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4.2.3 Zusammenfassung: Texttheatralität Mit ihren performativen Dimensionen mobilisieren Theatertexte also schon in der Sprache selbst, sei es als Schrift oder als Rede, theatralische Modalitäten der signifiance. Diese können der Inszenierung entweder mittelbar als Tauschwert für szenische Theatralität oder aber unmittelbar als linguistische Zeichen der Bühne angeboten werden. So schreiben die Autorinnen konkreter Theatertexte nicht nur für eine Bühne, die Bedeutung nicht transportiert, sondern produziert, sondern sie tun dies auch unter poetischer Verwendung der Sprache, die gleichfalls Sinn nicht darstellt, sondern Sinngebungsprozesse herstellt. Das Prinzip der Repräsentation ist auch auf Tcxtebene nicht mehr konkurrenzlos, und so wird durch den Einsatz von Texttheatralität der Theatertext auch auf der Ebene der Verbalsprache - und nicht nur des impliziten theatralen Codes - zum Ort autoreflexiven Experimentierens mit der Grundlage konventioneller Theatralität. Die Entgrenzung der Sprache und die autoreflexive Erforschung von Einsatzmöglichkeiten der Materialität und Mehrdeutigkeit ihrer lautlichen und schriftlichen Signifikanten in konsequent ästhetischer (poetischer) Zeichenpraxis führen zur Des- und Umorientierung des traditionellen Sprachverstehens und machen es als Konstruktion erkennbar, die das Heterogene ausschließt. Die Transformation poetischer Sprache in ästhetische Zeichen der Bühne oder die performance des Textes im Theater werden so zur Erkundung semiotischer Vorgänge im Medium der Sprache jenseits symbolischer Repräsentation, ebenso wie die analytische Theatralität iheatrale Vorgänge der Wahrnehmung und Bedeutungskonstitution jenseits der dramatischen Repräsentation erkundet. Neue Textstrategien und analytische Theatralität ergänzen oder ersetzen gleichermaßen das Repräsentationsprinzip zugunsten »revolutionär« ästhetischer Zeichenpraxis, im Theatertext treffen beide aufeinander. Besonders bei der Untersuchung konkreter Theatertexte ist es Aufgabe der dramaturgischen Analyse, das theatralische Potential des Textes und seiner Sprache für eine Inszenierung zu erschließen. Indem man mittelbare von unmittelbarer Texttheatralität unterscheidet, lassen sich wertvolle Hinweise beispielsweise darauf gewinnen, wie Textpassagen, deren Status unklar ist, in die Inszenierung Eingang finden können. Die Untersuchung der musikalischen Gestaltung (Einstimmigkeit, Polyphonic, chorische Partien) und der Nutzung körperlicher Dimensionen der Stimme ermöglicht außerdem Erkenntnisse darüber, ob der Sprechtext auf mehrere Textträger aufzuteilen ist und ob er durch die Bindung an von der Inszenierung eventuell zu konstruierende Figuren eher gewinnt oder verliert. Wo die Analyse schließ340
lieh als bestimmendes Prinzip der textuellen Dramaturgie die Konstitution eines eigenständigen sprachlichen Geschehens erkennt, impliziert dies, daß die Inszenierung als Lektüre in actu den Text selbst erfahrbar machen sollte - und nicht seine »Bedeutung«, da sein Sinn gerade darin liegt, Bedeutungskonstitution als konstruktiven Vorgang und damit als kontingent erfahrbar zu machen. Reflexion von Wahrnehmung und Sprache durch seibstbezügliche Strategien der szenischen und textuellen Dramaturgie im Theatertext können als metatheatrale Verfahren bezeichnet werden; die Thematisierung nicht nur des Theaters, sondern auch kognitiver Prozesse hatten wir weiter oben als eine Form des thematischen Metatheaters erkannt. Gisela von Wysocki verbindet beides in Schauspieler Tänzer Sängerin, indem der Sprechtext das Theater thematisiert, im Zentrum des Zusatztextes aber die Wahrnehmung steht. Thematisches Metatheater in höchster Potenz liegt schließlich vor, wenn Rainald Goetz in seiner Trilogie Festung nicht nur Theatermaschinerie und Wahrnehmung thematisiert, sondern auch und vor allem die Sprache, ihre Wege der Bedeutungskonstitution und die Unzulänglichkeit ihrer traditionellen kommunikativen Funktionen ins Zentrum stellt. Hier geht die Dekonstmktion des Repräsentationstheaters einher mit dem Entwurf einer anderen Theatralität, einem Entwurf, der gerade bei Goetz zugleich ganz deutlich den Versuch darstellt, mit neuen Erfahrungsmodalitäten, mit einem neuen Denken zu experimentieren, das (in Katarakt] erst im Moment der Aufhebung linearer Zeit im Augen-Blick möglich wird.
4,3 Perspektiven der Anwendung Theatralität kann als wandelbare historische Größe verschiedene Akzentuierungen erfahren. In Theatertexten unterschiedlicher Epochen wird sich diese Variable also sicherlich auch in unterschiedlichen Formen der Texttheatralität niederschlagen, deren Voraussetzungen und Funktionsmechanismen die dramaturgische Analyse zunächst einmal zu bestimmen hat. An zeitgenössischen Theatertexten war zu zeigen, daß analytische Theatralität zunehmend die konventionelle, dramatisch-repräsentationale Theatralität verdrängt und überwindet und damit Vorgänge der Wahrnehmung und des Verstehens durch neue ästhetische {autoreflexive) Zeichenpraxis entautomatisiert. Diese kann sowohl in der impliziten szenischen Dramaturgie als auch in der verbal-textuellen Dramaturgie wirksam werden und damit so-
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wohl die »Dioptrik« theatraler Wahrnehmung als auch sprachliche Bedeutungsproduktion reflektieren. Der Regie und dem Publikum ist in solchen analytischen Theatertexten die Aufgabe zugewiesen, die eigene Zeichenpraxis als Konstruktion von Wirklichkeit und sprachlicher Bedeutung zu erforschen. Zeitgenössische Theatertexte nutzen, wie Formen zeitgenössischer Regiekunst, das Theater bewußt als »semiotische Anstalt«, 114 wobei sie das Spiel möglicher Bedeutungen im szenischen Text, das sie nur implizieren können, durch das intertextuelle Verweisungsspiel im linguistischen Text selbst präfigurieren, ergänzen oder ersetzen können. Die Tatsache, daß es neben »postdramatischen« auch »prädramatische« Theatertexte (wie etwa die Tragödie) gibt, die zwar offensichtlich die dramatische Form, aber nicht zwingend auch dramatische Theatralität nutzen, läßt vermuten, daß auch deren theatralisches Potential mit Mitteln der Dramenanalyse nicht erschöpfend erschlossen wird. Ziel dieser Arbeit war es, ausgehend von Problemen der Theaterpraxis sowie der Theater- und Literaturwissenschaft, Wege für die Analyse zeitgenössischer Theatertexte zu suchen, und nicht, eine Theorie der Analyse von Theatertexten ganz allgemein zu entwerfen. Es erscheint als Perspektive der Theaterwissenschaft, mit historischen Formen der Theatralität zugleich die Fragen zu entwickeln, die eine dramaturgische Analyse an die Theatertexte unterschiedlicher Epochen zu stellen hat. Die performativen Dimensionen im Text, die hier vor allem ausgehend von konkreten Theatertexten, Mischformen und Fällen der Unterwanderung dramatischer Form untersucht wurden, sind besonders als sonore Qualitäten des Sprechtextes sicherlich auch in dramatischen Texten wirksam zu machen. Die Regie eines Frank Castorf etwa tendiert auch bei Dramentexten zu Desemantisierung und Betonung der sonoren Materialität der Sprache, um dem Text Körperlichkeit, Musikalität und Polysemie abzugewinnen und so für verschiedene, dezentrierende Lektüren zu öffnen. Wo der Theatertext dramatische Theatralität impliziert, bleibt dieser Gestus de(kon)struktiv. Bei Unterwanderung dramatischer Form allerdings können formal dramatische Theatertexte wie die eines Werner Schwab (die man, um ein schönes Wortungetüm Albert Oehlens zu imitieren, »post-un-dramatisch« nennen
114
Vom Theater als von »einer Art semiotischer Anstalt« spricht Mennemeier im Zusammenhang mit den Theaterkonzeptionen Brechts und Artauds: Franz Norbert Mennemeier; »Zeichensprache, Körpersprache. Bertolt Brecht und Antonin Artaud: ein Vergleich«, Theatemesen und dramatische Literatur, hg. v. Günter Holtus, Tübingen, 1987, S. 359-378, Zitat S. 363,
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könnte) 115 durchaus ein Sprachgeschehen mit eigener Texttheatralität als zusätzliche (analytische) Ebene neben einem dramatischen Geschehen etablieren. Eine weitere Perspektive der Anwendung wurde mit der Einbeziehung von Jelineks Begierde & Fahrerlaubnis bereits genutzt: Auch Texte anderer literarischer Gattungen oder Texte, die sich bewußt außerhalb der Gattungen situieren, können als Theatertexte dramaturgisch analysiert und einer szenischen Lektüre zugänglich gemacht werden, sofern sie als Texte im Sinne Kristevas Sprache entgrenzen, Sinngebungsprozesse erforschen und damit Texttheatralität enthalten. Nicht nur Finters Untersuchung, die beispielsweise auch in den Romanen Roussels, den Hörspielen Artauds und in Mallarmes Igitur Theatralität lokalisiert, beschäftigt sich mit der Frage nach dem »Texttheatralischen«. Wenn in letzter Zeit vermehrt die Frage nach theatralischen Qualitäten von Texten gestellt wird, die nicht als Theatertexte geschrieben sind, so stellt dies nur die Reaktion auf eine Tendenz zeitgenössischer Tbeaterpraxis dar, die neben dem traditionell literarischen (»dramatischen«) Theater, das Theatertexte in Szene setzt, und dem Theater ohne (präexistenten) Text längst auch ein Theater kennt, das episches oder lyrisches Material verwendet und zur Aufführung bringt. 116 Gerade mit Blick auf eine Theaterpraxis, welche die Grenzen des triadischen Gattungsschemas überschreitet, was an sich zu begrüßen ist, aber nicht zu Beliebigkeit führen sollte, stellt die dramaturgische Analyse möglicherweise einen Prüfstein dar, der über Sinn und Unsinn der Inszenierung von Texten anderer Gattungen zu entscheiden helfen kann. Schließlich demonstriert Keims Dissertation, weichen Gewinn eine Aufführungsanalyse daraus ziehen kann, wenn ihr eine gewissenhafte Erschließung der Texte unter Erforschung ihrer spezifischen Theatralität vorausgeht. Für Aufführungsanalysen, die Formen des Texttheaters behandeln, kann die dramaturgische Analyse einen integralen Bestandteil darstellen.
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116
Albert Oehlen spricht von »postungegenstandlicher Maleret«: »Hirn mit Ei«, in Albert Oehlen. Der Übel, Graz, 1987, S. 30. Vgl. dazu etwa Hajo Kurzenberger: »Erzähltheater: Zur Theatralisierung epischer Texte von Franz Kaflca und Marguerite Duras«, Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, 1994, S. 171-181, oder die Magisterarbeit Beate Zellers zur »Theatralizität in Becketts Romanen«, 1995. 343
Ausblick
Zum Schluß soll der Blick nochmals auf die Theaterpraxis gelenkt werden mit der Frage nach möglichen Problemen, aber auch nach Chancen und Perspektiven innovativer, nicht mehr dramatischer Theatertexte auf dem heutigen Theater. Das Risiko des Scheiterns ist bei innovativen Theatertexten ungleich höher anzusetzen als bei anderen Gattungen, denn aufgrund der medialen Abhängigkeit vom Theaterbetrieb, der als ausgesprochen »sozialer Kunstort« (Lehmann) mit hoher Konventionalität arbeitet, haben Theatertexte, die radikal mit Konventionen brechen, wenig Chancen, überhaupt zur Aufführung zu gelangen, und, falls eine Uraufführung dennoch unternommen wird, wenig Aussicht auf Erfolg. Ein »gemeinsamer Bezugsrahmen« von Konventionen ist zur »prompten und nachdrücklichen Verständigung« vonnöten, 1 damit theatrale Kommunikation überhaupt stattfinden kann. Andererseits waren es im Verlauf der Theatergeschichte immer wieder zu ihrer Entstehungszeit als »unspielbar« geltende Theatertexte, welche die Entwicklung der Gattung und auch des Theaters vorangetrieben haben. Die Theater stehen in der Verantwortung, die Herausforderung durch neue Dramaturgien aufzunehmen. Wo diese eine Umstrukturierung der theatralen Kommunikation wagen, muß das theatrale Kunstwerk die »Beobachtungsanweisung« 2 mitliefern, damit der Zuschauer als Koproduzent irn Theater nicht nur gefordert, sondern auch gefördert wird.1 Viele Texte bauen Hilfen und Signale für die Rezeption selbst mit ein; darüberhinaus sind die Texte immer auf die vermittelnde Instanz der Theater angewiesen, die durch Spielplanpolitik, Inszenierungen und begleitende Angebote (wie Lesungen, Publikumsgespräche u.a.) vermittelnd und stilbildend wirken können. Dies ist eine nicht einfache, häufig undankbare, aber notwendige und wichtige Aufgabe. Wo sie konsequent verfolgt wird, entstehen unverzichtbare Stätten Volker Klotz: Dramaturgie des Publikums, München, 1976, S. 19. Luhmann I990a, S. 26. Theatrale Kompetenz vom Zuschauer nicht nur zu fordern, sondern zugleich bei ihm zu fördern, bescheinigt Hottong (1994, S, 160) Friederike Roths Das Ganze ein Stück.
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des Austausches zwischen schreibenden, spielenden und inszenierenden Künstlerinnen sowie ihrem Publikum. Es sollte klar geworden sein, daß die Kluft zwischen den Theatern und den »am Theater vorbei« schreibenden Autorinnen nur besteht, solange Theater als Stätte der Repräsentation gedacht wird. Die neben dieser traditionellen Ausprägung längst etablierten Formen postdramatischer, nicht-repräsentationaler Theaterpraxis gälte es im Sinne einer produktiven Wechselwirkung verstärkt zu nichtdrarnatischen Theatertexten in Beziehung zu setzen, so daß Text und Theater füreinander fruchtbar gemacht werden. Am deutlichsten treten Probleme wohl im Bereich der Schauspielkunst zutage, deren Selbstverständnis und Methode sich in deutlicher Abhängigkeit vom historisch sich wandelnden Theatralitätsbegriff fortentwickeln. Hier eröffnen sich aber zugleich auch Perspektiven einer produktiven Wechselwirkung zwischen postdramatischer Bühnenpraxis und innovativen zeitgenössischen Dramaturgien. Analytische und darunter vor allem konkrete Theatertexte erfordern unter Umständen Schauspieler, die nicht mehr als Menschendarsteller RoIIenfiguren repräsentieren, sondern als Textträger höchstmögliche Abstraktion der sprachlichen und/oder szenischen Signifikanten erzeugen sollen. Traditioneil ausgebildete Dramenschauspieler wehren sich nicht selten gegen solche Verdingiichung und finden zum Teil gar nicht den notwendigen Zugang zu einem Text, der auf Autoreflexion der theatralen und/oder sprachlichen Signifikanten mehr Wert legt als auf Handlungsentwicklung, auf diskursive Logik der Repliken und auf einen durch die Figurenpsychologie erschließbaren Subtext. Die Neuerungen im Status der Schauspieler als Sprech- und Bewegungsmaschinen dürfen aber keinesfalls als Abwertung ihres Beitrags verstanden werden. Sie erfordern zwar völlig andere technische Fertigkeiten von den Schauspielern, aber keineswegs geringere. Elfriede Jelinek behauptet sogar das Gegenteil: »Das Problem ist bei all diesen Autorinnen, die eben mit Sprache arbeiten, daß das nur die besten Schauspieler sprechen können,« 4 Reduziert auf seine »Instrumente« (Stimme, Körper und seine Bewegung im Raum, Mimik und Gestik), muß der Schauspieler diese umso perfekter beherrschen und zu ihrer Desartikulation fähig sein. Die Dekonstruktion der Rollenfigur und damit des dramatischen Selbstverständnisses der Schauspieler vollzieht sich in der Theaterpraxis bereits, seit die Theateravantgarde das fernöstliche Theater für sich entdeckt hat und mit Brecht die Forderung nach Elfriede Jelinek im Gespräch mit Kathrin Tiedemann: »Das Deutsche scheut das Triviale«, TdZ, H, 6/1994, S. 34-39, Zitat S. 35.
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dem Gestischen laut wurde. Wo heute Darsteller aus den Bereichen des Tanztheaters, des Theaters der Bilder oder des entschieden interkulturellen Theaters für die Besetzung zeitgenössischer Theatertexte gewonnen werden können, kann das zentrale Problem nicht-repräsentationalen Theaters, daß nämlich Schauspieler selbstverständlich als Zeichen für Menschen »gelesen« werden, unterlaufen werden. Sicherlich ist es wünschenswert (und zu erwarten), daß die Schauspielausbildung zunehmend die Vielseitigkeit der nicht mehr fraglos »darstellenden« Kunst fordert. Bereits heute aber werden Schauspieler in »postdramatischen« Theaterformen unter den Bedingungen der »Physikalisierung des Theaters«5 und der Aufwertung von Flexibilität und Ensemblearbeit als »Tasten« in der »Kommunikationsmaschine Theater« eingesetzt, »die auf eine arbiträre Weise von dem Spielleiter benutzt werden kann, um den gewünschten, orchestrierten Klang zu erzeugen«.6 Solche Errungenschaften des Theaters ohne Text wären für die Inszenierung zeitgenössischer Theatertexte nutzbar zu machen, in denen ein abstraktes Verständnis der Textträger vorliegt. Im Bereich der Regie gilt es, aus der traditionellen Konkurrenz zwischen Autor und Regisseur ein Bündnis der Koproduktion zu schmieden, in dem angesichts der Unterschiedlichkeit des jeweils genutzten künstlerischen Materials (Sprache und Schrift hier, Plurimedialität der Bühne da) beide Seiten gleichberechtigt ihren Beitrag leisten. Es gibt heute sowohl Regisseure, die sich als Autoren verstehen, als auch Autorinnen, die im Schreiben bereits Aufgaben der Regie übernehmen: In einer Veröffentlichung der Volksbühne Berlin heißt es über die Regisseure Castorf und Marthaler, daß sie die »Partituren« ihrer Inszenierungen selbst schreiben und fremde Textvorlagen maximal »sehr gewissenhaft mißbrauchen«.7 Andererseits haben wir gesehen, daß manche Autorinnen (etwa Marlene Streeruwitz) durch minutiöse Beschreibung der szenischen Vorgänge in Regieanweisungen nicht viel Gestaltungsspielraum für die Regie lassen, die sie damit quasi selbst zu übernehmen versuchen. Andere, vor allem konkrete Theatertexte bedürfen aber, mehr noch als Dramen, einer Komplettierung durch szenische Phantasie und Poesie, einer Aktivierung und Ergänzung der Texttheatralität durch theatralische Momente der Umsetzung auf der Bühne. Solche als sprachliches Material konzipierten Texte, vor denen Inszenierungshandwerk versagt, da sie sich gegen 5 6 7
Wirth: »Vom Dialog zum Diskurs«, THt H. 1/1980, S. 16-19, Zitat S. 19. Ibid. [N.M.]: »Tradition und Fort-Schritt: Gegenwartsautoren an der Volksbühne«, Leporello Volksbühne Berlin, Juni/Juli 1994.
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eine schlichte Bebilderung des Gesagten ebenso sperren wie gegen Dramatisierung, bieten viel Raum für Regisseure ais szenische »Ko-Autoren«. Das wird auch im bereits zitierten Beitrag des Volksbühnen-Leporellos erkannt, wenn man nach einem Abgesang auf das literarische Theater, das auch hier als erzählendes Medium verstanden wird, einräumt: Wenige Autoren wie Rainald Goetz und Elfriede Jelinek ziehen aus der Abgenutztheit der Sprache Konsequenzen. Ihre Theatertexte [...] lassen viel Platz für außersprachliche Vorgänge, 8
Solche Theatertexte verlangen eine phantasievolle, spielerische, respektlose, dabei jedoch gewissenhafte Regiekunst. Wo Vieldeutigkeit, Offenheit und Selbstreflexion integrale Bestandteile der Textmaschine sind, wird eine solche Regie den Text weder auszudeuten noch zu synthetisieren oder zu verdoppeln suchen, seine bewußt offengelassenen Unbestimmtheitsstellen weder unterschlagen noch durch vom Text vermiedene »totalitäre Sinngebung« 9 auffüllen, keine Geschichten erzählen und Befremdliches damit konsumierbar machen, sondern - wie der Text - den Prozeß der Sinnkonstitution und seine Reflexion durch den Zuschauer zum eigentlichen »Inhalt« machen. Solchermaßen als Rezeption und Produktion verstandene Regie ist (hierin der literarischen Übersetzung vergleichbar) ein »produktives Weiterdichten mit den Mitteln des Theaters«.10 Das Problem der angemessenen Vermittlung zwischen einer die Pluralität möglicher Sinnpotentiale unterschlagenden Vereindeutigung durch interpretierende (und dabei nicht selten dramatisierende) Regie einerseits und einem puren Hin- oder Ausstellen des Textes andererseits, das womöglich im Text vorhandene Restzusammenhänge noch zerstört, 1 ' ist theoretisch nicht zu lösen, sondern muß in konkreter Inszenierungsarbeit experimentell erforscht werden. Wo von Problemen und Chancen zeitgenössischer Dramaturgien auf dem Theater die Rede ist, darf schließlich ein Wort zur Zuschaukunst als einem unverzichtbaren Beitrag zum Gelingen theatraler Kommunikation nicht 8 9
10
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Ibid. Die Gefahr einer »erneuten totalitären Sinngebung aus einer bestimmten Sicht« sieht Ursula Dubois in Inszenierungen, die versuchen, Sprachbilder in den Texten Jelineks szenisch zu verdoppeln oder naturalistisch festzuhalten. Ursula Dubois: »Strukturen von Sprache und Dramaturgie deutschsprachiger Autorinnen«, Frauen im Theater (FiT) Dokumentation 1986/87: Autorinnen, hg. v. Dramaturgische Gesellschaft, Berlin, 1988, S. 8-20, Zitat S, 15. Hottong 1994, S. 174, So nach Auffassung einer Kritikerin geschehen in der Baseler Inszenierung von Wysockis Schauspieler Tänzer Sängerin, vgl. Christine Richard: »Die eitle alte Dame Theater« (TH, H, 12/90, S, 52). 347
fehlen. Die analytische Theatralität macht aus dem Theater eine Schule der Wahrnehmung, die den Zuschauer als Beobachter zweiter Ordnung fordert, der als »naiv-neugieriger Semiotiker [...] gleichzeitig mit den Inhalten die Formen >liestAm Theater sind wir der letzte DreckAutoren en suite 4< in der Berliner Volksbühne«. TdZ, H. 11/1987, S. 39f.
PETER TURRINI Burgtheater Wien und Thalia Theater Hamburg (Hg,): Peter Turrini: Alpenglühen, Programmbuch N° 105/75. Wien, 17.2.1993. Hahnl, Hans Heinz: »Der Abbruch des Sozialgebäudes: Über den Dramatiker Peter Turrint«. Bühne, H. 6/1988, S. 6. Löbl, Hermi: »Immer ein Voyeur der Wirklichkeit«. Bühne, H. 6/1988, S. 5-7. [Porträt] Nenning, Günter / Rd.: »Turrini, Peter«, Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, hg, v. Dietz-Rüdiger Moser, München, 1993, S.1098-1100. Peter Turrini: Texte, Daten, Bilder. Hg. v. Wolfgang Schuch u. Klaus Siblewski. FfM: Luchterhand, 1991. Turrini Lesebuch. Ausgewählt u, bearbeitet v. Ulf Birbaumer, Bd. 2. Wien [u.a.]: Europaverlag, 1983, Töteberg, Michael: »PeterTurrini«. KLG. 32. Ntg. (Stand 1.4.1989). Aufführungskritiken Friedl, Peter: »Prominenten-Party«. THt H. 3/1982, S. 37. [zu Die Bürger] Kunrotad, Paul: »Ein Arbeiter-Faust?«. TH, H. 7/1988, S. I5f. [zu Die Minderleister} Sucher, C.Bernd: »Claus Peymanns kleine Komödien«. SZ, 5.2.1993. [u.a. zu Alpenglühen] Weinzier], Ulrich: »Blut, Sperma, Weihwasser«. TH, H. 12/1990, S.48f. [zu Tod und Teufel] Wille, Franz: »Heimatdichters Himmelfahrt«. TH, H, 4/1993, S. 15-18. [zu Alpenglühen] Gespräche Kathrein, Karin: »>Die Welt ist mir abhanden gekommene Ein ßiVfc/t€-Gespräch mit Peter Turrini«. Bühne, H. 2/1993, S. 8-11. Sichrovsky, Heinz : »>Das Theater ist wie eine nie realisierte HoffnungDer Erdbebenforscher< von Gisela von Wysocki. Programmheft zur Uraufführung. FfM, Künstlerhaus Mousonturm, 6.7.1993. He,: »Gisela von Wysocki - Essayistin«. / , 14.4.1987. Michalzik, Peter: »Wysocki, Gisela von«. Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, hg. v. Dietz-Rüdiger Moser, München, 1993, S. 1177-1179. Buchrezensionen und Analysen Cramer, Sibylle: »Das Gedächtnis als Gesamtkunstwerk: Gisela von Wysockis Herausforderung des Theaters: Abendiandleben«. FR, 1.12.1987. Hass, Ulrike : »Reisen durch den Text. Das Spiel: Essay zu den Theatertexten von Gisela von Wysocki«. Zentrum Bundesrepublik Deutschland des ITI (Hg.): Die Sprachen des Theaters und die Frauen, Dokumentation des Internationalen Symposiums in Berlin, 26.-30. Juni 1991, Redaktion Barbara Scheel, Berlin 1992,5.92-105. Keller, Ursula: »Ein Spiel, ein Toben, eine Turbulenz der Kräfte« (Originalbeitrag). Spectaculum 57, FfM, 1994, S. 286f. [zu Der Erdbebenforscher] Vogelsang, Bernd: »Frauenzimmer Gesprächspiele: Schauspieler, Tänzer, Sängerin von Gisela von Wysocki«. Deutsches Drama der SOer Jahre, hg. v. Richard Weber, FfM 1992, S. 339-361. Waschescio, Petra: Vernunftkritik und Patriarchatskriük: Mythische Modelle in der deutschen Gegenwartsliteratur, Heiner Müller, Irmtraud Morgner, Botho Strauß, Gisela von Wysocki. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 1994. [Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 1991.] [u.a. zu Abendlandleben} Weiss, Christina: »Ich öffne Ihren Kopf, Monsieur«. SZ, 1./2.8.1987. [zu Abendlandleben] Aufführungskritiken zu Schauspieler Tänzer Sängerin Auffermann, Verena : »Das Abendland im Gepäck«. SZ, 10.5.1988. Becker, Peter von: »Drei Grazien«. TH, H. 6/1988, S. 18-21. dh.: »Theater«. WW, 25.10.1990. H.S.: »Theater-Phantasiewerkstatt: Schauspieler, Tänzer, Sängerin«. FR, 10.5.1988. Richard, Christine: »Echsen und andere Theatertiere«. Basler Zeitung, 19.10.1990. - »Die eitle alte Dame Theater«. TH, H. 12/90, S. 52. [zur Basler Inszenierung, Regie: Barbara Mündel und Veit Volkert] rkt.: »Verkünstelte Anatomie der Kunst«. NZZ, 23.10.1990, (zur Basler Inszenierung, Regie: Barbara Mündel und Veit Volkert] Schödel, Helmut: »Der erste Blick«, Zeit, 13.5.1988. Spiegel, Hubert: »Absteige Abendland«. FAZ, 23.10.1990. [zur Basler Inszenierung, Regie: Barbara Mündel und Veit Volkert] Thaler, Lotte: »Theater im Schilderwald«. FAZ, 13.5,1988.
375
Gespräche
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MATTHIAS ZSCHOKKE Busch, Frank: »Z - wie Zauberer: Michael Zochow und Matthias Zschokke: Zwei Stückeschreiber aus einer Generation in Wartestellung«. Zeit, 24.11.1989. [Porträt] Eichenlaub, Hans M.: »Ich möchte, daß das, was ich mache, verstanden wird«. Der Bund (Bern), 9. l. 1990. [Porträt] Kraft, Thomas: »Zschokke, Matthias«. Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, hg. v, Dietz-RÜdiger Moser, München, 1993, S. !I93f, Moser, Samuel: »Matthias Zschokke«. KLG. 40. Nlg. (Stand 1.1.1992). Reinacher, Pia: »Zusammenklang nach den dubiosen Regein der Empfindungswelt. Briefwechsel mit Autoren III: Über Matthias Zschokkes Piraten«. Basier Zeitung, 12.4.1991. Schauspiel Bonn (Hg.): Brut. Programmheft. Redaktion: Johannes Lomberg. Bonn, 18.11.1988. Völker, Klaus: »Ein Abenteuer gegen die Ödnis des Lebens«. TSp, 28.9.91. [Porträt] Aufführungskritiken zu Brut Achermann, Erika: »Piratenleben, wie es scheint«. Tages-Anzeiger (Zürich), 3,1,1990. [zur Züricher Inszenierung, Regie: Werner Gerber] Busch, Frank: »Piranhas und Piratinnen«. TH, H. 2/1989, S. 43f. [u.a. zu Brut] Draeger, Wolfgang: »Wenn die Schiffskapelle nicht mehr üben will«, Welt, 23.11.1988. epf.: »Filigranes über Seeräuberei«, Der Bund (Bern), 29.11.1988. Hennecke, Günther: »Phantastik am Rhein«, /VZZ, 24,11.1988. [u.a. zu Brut] Michaelis, Rolf: »Grübelnde Piraten, lebende Iren«. , . /1991, S, 33f, [u.a. zur Berlin-Hamburger Koproduktion, Regie: Matthias Zschokke] Rossmann, Andreas: »Seeräuberpistole«. FAZ, 22.12.1988. Ruf, Wolfgang: »Matthias Zschokke: Brut«. DDB, H. 2/1989, S. 22f. Schödel, Helmut: »Mein Pferd für eine Hose«. Zeit, 25.11.1988. [u.a. zu Brut] Stumm, Reinhardt: »Tod irn Traumboot der Sehnsucht«. Basler Zeitung, 25.11.1988, Wirsing, Sibylle: »Piraterie zwischen Sein und Nichtsein«. TSp, 10,10.1991. [zur Bertin-Hamburger Koproduktion, Regie: Matthias Zschokke] Weimann, Gundula: »Mehr Wort als Spiel«, TdZ, H. 12/1991, S, 37f. [u.a. zur Berlin-Hamburger Koproduktion, Regie: Matthias Zschokke] Aufführungskritiken und Buchrezensionen zu anderen Texten Burri, Peter: »Stadtneurotiker werden Stadthirschen«. FAZ, 5.7.1986. [zu Elefanten...]
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Kalberer, Guido: »Alles findet auf der Bühne statt«. Tages-Anzeiger, 7.8.1991. Moser, Samuel: »Preisverleihung im Himmel: Ein Schurke - herrlich!«. SZ, 29.9.3 994. [zu Alphabeten] Teuwsen, Isabell: »Mit zügelloser Phantasie gegen Mäusefurze«. Tages-Anzeiger, 27.6.1986. [zu Elefanten...} Wiesner, Herbert: »Lebensläufe kapern«. SZ, 11,712.5,3991. [zu Piraten]
ANDERE AUTORINNEN Becker, Peter von : »Das Geheimnis von Trauer«, 777, H. 3/1994, S. 40-44. [Zu Anna Langhoff] Müller, Christoph: »Die Gegenwart der Vergangenheit«. TH, H. 12/1994, S. 55. {Zu Jo Fabian]
3.
Sekundärliteratur zur Theorie
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Drama, Theater, Theatralität: Theorie und Analyse
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Register
Achtembusch, Herbert 63 Aristoteles 30 Artaud, Antonin 31; 33; 269-271; 326;343 Baierl, Helmut 61 Bauer, Wolfgang M. (In den Augen eines Fremden) 163; 168-170; 306; 308; 313 Bausch, Pina 156 Beckett, Samuel 5; 43; 50; 59; 95; 97; 211; 238; 256 Bernhard, Thomas 10; 14; 63; 182; 211; 236; 238; Brasch, Thomas (Frauen. Krieg, Lustspiel} 109; 112; 121-128; 306f. Braun, Volker 14; 63 Brecht, Bertolt 5; 59; 80; 95; 97; 108; 133; 194f,; 255f.; 315; 345 Buhss, Werner 61; 64; 256 Friedrich Grimm 256 Bukowski, Oliver 64; 72; 74; 84-87; 103-108; H4;233f.;313 Burnout 86f. Halbvterizeit 72; 85; 23 3 f. Inszenierung eines Kusses 103107;114 Londn - L.Ä. - Lübbenau 74; 84f, Canetti, Elias 310 Castorf, Frank 342; 346 Craig, Edward G. 310 Czeslik, Oliver (Heilige Kühe) 142f.; 148-153; 298; 306; 308; 313 Dehler, Thomas 64 Dorst, Tankred 63; 316
El l ert, Gun d i (Jagdzeit) 71 Endres, Ria 182 Engelmann, Philipp (Hochze iisfahr l) 67; 76-78 Evreinov, Nikolai 228 Fabian, Jo 62 Fahre, Jan 156 Fels, Ludwig 10 Foreman, Richard 11 Forsythe, William 156 Goetz, Rainald 180; 182; 211-227; 233; 238-245; 305; 308;325; 333-335;341;347 Festung 180; 2! 1-227; 239f.; 244;305;334; 341 Katarakt 233; 238-245; 341 Kolik 241 Krieg 241 Kritik in Fesimg 239; 243 Grüber, Klaus M, 156; 170 Hacks, Peter 61 Handke, Peter 4f.; lOf; 13f.;63f.; 169;181; 308 Kaspar 308 Haußmann, Leander 170 Heidenreich, Gert (Der Wechsler) 74 Hein, Christoph 61; 77-79; 83 Passage 77-79; 83 Die Ritter der Tafelrunde 79 Hensel, Kerstin 64 H i Idesheimer, Wolfgang 316 Hofmannsthal, Hugo v. 23 Hoggenmüller, Klaus 75; 86 Hasentöter 75 391
Mondenquarz 75 Wendete Heimat 75; 86 Hürlimann, Thomas 131; 143; 313 Der Gesandte 131; 143-148 Großvater und Halbbruder 144; 146 lonesco, Eugene 5; 181 Jand!, Ernst 182; 292 Jarry, Alfred 31; 326 Jefinek, Elfriede 57; 65; 180-182; 194-211; 245-255; 259f.; 274287; 293; 304f; 308f.; 325; 334; 336; 339; 343; 345; 347; Begierde & Fahrerlaubnis 195; 245-255; 260; 274; 343 Krankheit oder Moderne Frauen 197f.;207f.;245 Raststätte 5 7; 210 Totenauberg 57; 182; 194-211; 197;250;276f.;304f.;335 Wolken.Heim. 57; 194; 199f. 205; 245;255;260;274-287; 305; 309; 322; 332; 334f.; 339 Jon gk, Thomas 182 Kefler, Christoph (Der Sitzgott) 235 Kisiinger, Harald 75 Koltes, Bernard M. 169 Kroetz, Franz X. 10; 63; 75 Nicht Fisch nicht Fleisch 75 Kuhlmann, Harald (Engelchens Sturmlied) 76 Langhoff, Anna (Transit Heimat) 67; 71 Latchinian, Sewan 64 Liebmann, Irina (Berliner Kindf) 61; 64; 87 ; 100; 103; 313 Loher, Dea 79f. Leviathan 79f. Olgas Raum 80 Mallarme, Stephane 31; 181; 326; 343 Manthey, Axel 273 Marthaler, Christoph 346 Martin, Christian (Amok) 64; 72; 82
392
Müller, Elfriede 67; 73f.; 82; 100103;313 Die Bergarbeiterinnen 100-103 Brautbitter 74 Glas 67; 74 Goldener Oktober 73 f. Mueller, Harald 10 Müller, Heiner 4f.; 10-12; 40f.; 44; 58-64; 162;195; 197; 246; 249; 254-256;259; 308; 315; 327; Bildbeschreibung 58; 197; 246249; 254f.; 259 Hamletmaschine 259; 308; 327; 338 Zement 255 Pinter, Harold 93 Pirandello, Luigi 108; 169; 306 Plenzdorf, Ulrich 63 Pohl, Klaus 69-71; 82; 234 Das Alte Land 70 Karate-BiW 69-71 Die schöne Fremde 69-71 Selbstmord in Madrid 234 Roes» Michael (Cham) 257 Roth, Friederike 10; 12; 109-121; 128f.; 162; 178; 299; 304; 306f,; 313;327;329f. Die einzige Geschichte 110 Erben und Sterben 109f.;116121; 307; 330; 331 Das Ganze ein Stück 13; 109-116; 129;307 Roussel, Raymond 31; 269f.; 326; 343 Schertenleib, Hansjörg (Rabenland) 71
Schiller, Friedrich (Die Räuber) 256 Schirmer, Bernd (Weinverkostung) 74 Schneider, Robert (Dreck) 23 6f.; 307 Schwab, Werner 179f,; 182; 184194; 237; 304 ;308;335; 342 Antiklimax 184; 192; 304 Eskalation ordinär 184 Faust 184; 186f.
Mein Hundemund 193; 237 Mesalliance 186 Offene Gruben offene Fenster \ 91 Pornogeographie 184 Die Präsidentinnen l86 Troiluswahn 184 Volksvernichtung 184f.; 190; Shakespeare (Hamlet) 93 Sophokles 93 Specht, Kerstin 74; 86; 233f. Amiwiesen 233f. Das glühend Männla 74 Lila 74; 86 Stein, Gertrude 31; 181 Steinwachs, Ginka I 7 S f ; 1 8 1 ; Strauß, Botho 10; 13f.;63 Streeruwitz, Marlene 65; 112; 131; 153-162; 178; 293; 298; 302; 307; 313;320;346 ElysianPark 153f.; 158; 307 New York 153f., 158-161 Ocean Drive 153 Sloane Square. 153; 157 Tolmezzo. 154 Waikiki Beach. 15 3 f.; 159f,
Tschechov, Anton (Drei Schwestern) 80 Turrini, Peter 65; 75; 131; 133-142; 154;157;232;313 Alpenglühen 131; 133-142; 157; 232; 298; 302; 304; 306; 308; 332 Die Bürger 135 Josef und Maria 135 Die Minderleister 133 Rozznjogd 133 Tod und Teufel I33f; 140
Tabori, George 63 Tairov, Alexander 30 Trolle, Lothar 61; 64; 234 Ein Vormittag in der Freiheit 234f.
Zschokke, Matthias 163; 170-176; 304;313 Die Alphabeten 172f. Brut 170-176 Elefanten 172; 176
Weyh, Florian F. 61; 74; 84; 107 Ludwigslust 74; 84 Wilson, Robert 1 1 ; 21; 46; 156 Wysocki, Gisela von 57; 65; 162168; 181;257f.; 260-274; 287; 302; 309;329-332; 336; 341 Abendlandleben 57; 163f.;257259;331 Der Erdbebenforscher 57; 162168;302;304;313 Im Land des Himmels 57 Schauspieler Tänzer Sängerin 57; 163;258;260-274; 287; 304; 309; 331;334;341
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