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German Pages 377 Year 2005
DIETER H Ü N I N G (Hrsg.)
Der lange Schatten des Leviathan
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Schriften zur Rechtstheorie Heft 226
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Der lange Schatten des Leviathan Hobbes' politische Philosophie nach 350 Jahren Vorträge des internationalen Arbeitsgesprächs am 11. und 12. Oktober 2001 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel
Herausgegeben von Dieter Hüning
Duncker & Humblot • Berlin https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-11820-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706© Internet: http://www.duncker-humblot.de
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Vorwort Am 11. und 12. Oktober 2001 fand unter der Leitung Prof. Dr. Manfred Baums (Wuppertal) und des Herausgebers in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ein Arbeitsgespräch zum Thema „350 Jahre Leviathan" statt. Ermöglicht wurde dieses Arbeitsgespräch durch die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg, die sich bereit erklärt hatte, das Arbeitsgespräch in großzügiger Weise zu fordern. Die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius ermöglichte zudem die Drucklegung dieses Bandes durch die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Für beide Förderungen ist der Herausgeber der ZEIT-Stiftung zu großem Dank verpflichtet. Zu danken ist darüber hinaus der Herzog August Bibliothek, die in bewährter Weise ihre Infrastruktur zur Verfugung stellt. Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Friedrich Niewöhner, der die Initiative des Herausgebers vorbehaltlos unterstützt hat, sowie den Mitarbeitern der Herzog August Bibliothek für ihre organisatorische Unterstützung. Der 350. Jahrestag der Veröffentlichung von Hobbes' Leviathan war Anlaß, die Frage nach der Bedeutung einiger zentraler Lehrstücke des Werkes, seiner Rezeption in den darauf folgenden Jahrhunderten und schließlich seiner Bedeutung für das Verständnis von Recht und Staat in der Gegenwart zu diskutieren. In Deutschland ist die Rezeption von Hobbes' politischer Philosophie nach wie vor eng mit dem Namen Carl Schmitt verbunden. Den Teilnehmern des Wolfenbütteler Arbeitsgesprächs kam es u. a. darauf an, gegenüber dieser vor allem unter Politikwissenschaftlern und Juristen verbreiteten Rezeptionsperspektive einen Kontrapunkt zu setzen. Entsprechend lag der Schwerpunkt des Arbeitsgesprächs zum einen auf der Rekonstruktion der philosophischen Begründungsstrategien von Hobbes' politischer Philosophie und insbesondere ihrer verschiedenen Aspekte im Leviathan (die Entstehungsbedingungen, Anthropologie und Psychologie, die naturrechtlichen Grundlagen und die Staatslehre des Leviathan ), zum anderen auf der Untersuchung verschiedener Formen der Rezeption des Leviathan in der Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts.
Marburg, im Frühjahr 2005
Dieter Hüning
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Inhaltsverzeichnis L Die Entstehungsbedingungen des Leviathan Bernd Ludwig Lehrjahre im Exil? Zu einigen Wandlungen in Hobbes' Politischer Philosophie
11
IL Anthropologie und Psychologie im Leviathan Frank Grunert Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
31
Gideon Stiening Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan. Neue Anmerkungen zum sogenannten ,Strauss-Problem4
55
IIL Die naturrechtlichen Grundlagen des Leviathan Burkhard Tuschling Recht? Gerechtigkeit? Cicero, Karneades, Hobbes pro et contra ius naturae....
109
Manfred Baum Diskussionsbemerkung zur Rationalität im Naturzustand bei Thomas Hobbes Jeffrey Edwards Natural Right and Acquisition in Grotius, Seiden, and Hobbes
143 153
IV. Die Staatslehre des Leviathan Peter Schröder Die Heilige Schrift in Hobbes' Leviathan - Strategien zur Begründung staatlicher Herrschaft 179 Franz Hespe Die Erschaffung des Leviathan. Die Funktion des Gesellschaftsvertrags bei Thomas Hobbes
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201
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Inhaltsverzeichnis
Dieter Hüning Naturrecht und Strafgewalt. Die Begründung des Strafrechts in Hobbes' Leviathan
235
V. Die Rezeption des Leviathan Werner Euler Spinozas Kritik des Hobbesschen Staatsrechts
279
Merio Scattola „Ein Stein des Anstoses": Thomas Hobbes und die deutsche Naturrechtslehre des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
331
Klaus-Gert Lutterbeck Naturzustandstheorien im vorkantischen Naturrecht: Hobbesrezeption und die Kritik durch Rousseau
355
Verzeichnis der Autoren
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I. Die Entstehungsbedingungen des Leviathan
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Lehrjahre im Exil? Zu einigen Wandlungen in Hobbes' Politischer Philosophie
Von Bernd Ludwig
L Die Philosophen machen es den Philosophiehistorikern bisweilen nicht leicht. Möglicherweise aus Furcht davor, bei den Lesern Mißtrauen gegenüber der Tiefe und Reichweite ihrer Reflexion zu erwecken, verbreiten Sie in ihren späteren Werken gerne den Eindruck, sie seien seit der Zeit erster öffentlicher Äußerungen mit der Ausarbeitung eines durchweg konsistenten und kohärenten Systems befaßt. Dessen Teile gilt es dann nur noch sukzessive zu entwickeln und in - möglicherweise an die Auffassungsgaoe und das Interesse des jeweiligen Adressatenkreises angepaßten Schriften - dem erwartungsfrohen Publikum vorzustellen. Für Revisionen und Retraktionen ist in diesem Bild kein Platz, und für das Tagesgeschäft ist auch nicht recht einzusehen, warum der Philosoph selbst seine Leser damit behelligen sollte. Aber dem Philosophiehistoriker erwächst, wie gesagt, dadurch ein Problem: Hat Karl Popper wirklich schon 1930 bei der Abfassung der Logik der Forschung über alle die „Conjectures and Refutations" verfugt, die sein treuer Schüler Lakatos 40 Jahre später gegen Kuhn und Feyerabend ins Feld führte, um den kritischen Rationalismus gegen wissenschaftshistorische Einwände zu immunisieren? Und wenn ja, warum ist es so schwer, in den früheren Publikationen alles das zu finden, von dem der Autor in den späteren behauptet, er habe es schon immer gesagt? Nicht besser geht es bekanntlich auch dem KantForscher: erst nur eine, dann zwei, dann schließlich drei Kritiken. In der ersten, der Kritik der reinen Vernunft gibt es überhaupt nur eine Kritik, in der zweiten, der Kritik der praktischen Vernunft dann zwei, und in der dritten, der Kritik der Urteilskraft dann endlich den Beweis, das es genau diese drei geben kann und muß. Auch hier gibt uns unser Autor weder einen Hinweis darauf, daß er möglicherweise von früheren Vorstellungen Abschied nimmt, oder gar darauf, welche seiner früheren Äußerungen wir mit Vorsicht genießen müssen, wenn wir die späteren richtig verstehen wollen. Es eröffnet sich damit
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Bernd Ludwig
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ein weites Feld für die Kant-Forschung. Aber zumindest vor der ersten Kritik gab es in diesem Falle einen Bruch, über den wir freundlicherweise vom Autor selbst informiert werden, es ist der mit den vorkritischen Schriften: Hume und Rousseau waren die Autoren, die Kant nach eigenem Bekenntnis aus dem dogmatischen Schlummer erweckten. Nicht nur bei Kant, sondern auch bei zahllosen anderen Philosophen der älteren und jüngeren Vergangenheit ist eine inhaltliche Periodisierung der Schriften sinnvoll und üblich geworden, um der ganz unspektakulären Tatsache gerecht zu werden, daß auch Philosophen nicht nur hinzulernen, sondern bisweilen auch frühere Fehler korrigieren müssen (die - stets im Verdacht des Interpreten-Hochmuts stehende - Frage, ob sie andererseits durch ihr Nachdenken nicht auch bisweilen ihre ursprünglichen Einsichten wieder verschütten, sei hier ausgespart). Nehmen wir an, wir fanden in ein und derselben Schrift die beiden Sätze: „[...] in statu naturae, Iustum & Injustum non ex actionibus, sed ex consilio & conscientia agentium aestimandum est." ,Nomina iusti et injusti locum in conditione naturae non habent. Vis et dolus in bello virtutes cardinales sunt." Fraglos wären wir überfordert, uns darauf einen Reim zu machen, es sei denn, wir hätten ein starkes Argument dafür, daß unser Autor sich nicht entscheiden kann, was seine Termini eigentlich bedeuten sollen - bekanntlich ein erster Schritt auf dem Wege dahin, ihn nicht mehr ernst zu nehmen. Anders sähe es freilich aus, wenn zwischen den Schriften etwa 20 Jahre lägen. Wir müßten entweder annehmen, der Autor habe einige Neuorganisationen innerhalb seines Begriffssystems vorgenommen, und die durch die scheinbar einander widersprechenden Sätze vorgetragenen Aussagen seien tatsächlich doch miteinander vereinbar: Möglicherweise haben „iustum et injustum" im zweiten Textstück eine andere, eine spezifischere Bedeutung als noch im ersten. Angesichts der Tatsache, daß gerade diese Begriffe eine feste traditionelle Verankerung besitzen, wird man hier allerdings eher zu der Vermutung neigen, daß der Autor seine inhaltliche Position korrigiert hat. Zumeist wird in philosophischen Texten freilich eine schwer zu entwirrende Verbindung beider Arten von Veränderung vorliegen. Nun wird die Situation noch etwas komplizierter. Die obigen Sätze stammen bekanntlich aus den Schriften von Thomas Hobbes und zwar aus der zweiten Auflage von De cive (III, 27 Fn.) 1 von 1646 und aus dem Leviathan 1
Die englische Fassung des Leviathan wird zitiert nach folgender Ausgabe: Thomas Hobbes, Leviathan, ed. by Richard Tuck, Cambridge 1991 (zitiert mit Kapitel- und Seitenzahl). Hobbes' übrige Schriften werden grundsätzlich zitiert nach dem Text der Ausgaben von William Molesworth (ed.), The English Works of Thomas Hobbes of https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Lehrjahre im Exil?
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latinus von 1668 (Leviathan XII, 13). Der letztgenannte ist eine in den Jahren 1664-67 von Hobbes selbst diktierte und 1668 in den Opera latina erschienene Übersetzung des englischen Leviathan . Letzterer wurde seinerseits bereits 1650 verfasst, und genau zu dieser Zeit erscheint nun aber auch eine englische Übersetzung von De cive, die Philosophicall Rudiments Concerning Government and Society. Vergleicht man die fraglichen Sätze in den praktisch gleichzeitig verfassten englischen Schriften, so liest man: „[...] in the state of nature, what is just and unjust, is not to be esteemed by the actions but by the counsel and conscience of the actor. [...] every damage done to a man would be a breach of the natural law [...]." „The notions of Right and Wrong, Justice and Injustice have there [i. e. in the naturall condition] no place. Where there is no common Power, there is no Law: where no Law, no Injustice. Force, and Fraud, are in warre the two Cardinall vertues " 2 Ich gestehe, ich sehe keine Möglichkeit, diese beiden Behauptungen durch terminologische Verfeinerungen, die ihrerseits nicht wieder an zahllosen anderen Stellen zu unlösbaren Problemen fuhren, in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen. Dankenswerterweise fügt zumindest das gleichfalls im Jahre 1650 erschienene dritte englische Buch von Hobbes, die Elements of Law, keine weitere Stelle hinzu, die unsere Schwierigkeiten noch erhöhen könnten: Die Rudiments und die Elements kommen einander in diesen, wie auch in den meisten Passagen recht nahe. Ist Thomas Hobbes dennoch ein wirrer Autor, der zwar nicht in einem Buch, aber doch im selben Jahr derartige miteinander unvereinbare Sätze für die Publikation niederschreibt? Die Frage hat freilich eine falsche Präsupposition. Lange Zeit herrschte stillschweigendes Einverständnis dahingehend, daß alle drei englischen Bücher nichts anderes als verschiedene englische Versionen - der Leviathan und die Elements eine populäre, die Rudiments eine wissenschaftliche - ein und derselben Hobbesschen Lehre seien, jener Lehre nämlich, die im lateinischen De cive ihren adäquaten Ausdruck fand und findet. Es ist allerdings schon seit Tönnies allgemein bekannt, daß die Elements nur der Druck eines 1640 noch in England verfertigten Manuskripts sind, und seit einigen Jahren wissen wir auch, daß es 1650 von Fr. Bowman um eines schnellen Geschäfts willen und ohne Hobbes' Wissen, d. i. als Raubdruck, veröffentlicht worden Malmesbury, 11 Bände, London 1839-1845 [= EW; zitiert mit Band und Seitenzahl]. Für die Einzelnachweise aus den Elementa Philosophiae werden ausgabenunabhängig Kapitel (römisch) und Absätze (lateinisch) angegeben. Deutsche Übersetzungen sind den einschlägigen Ausgaben entlehnt. 2 Leviathan Xm, p. 90. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Bernd Ludwig
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ist. Erst in jüngeren Jahren, anläßlich der Warrenderschen Ausgabe in der Clarendon Edition der Hobbesschen Werke sind erstmals Zweifel an der Hobbesschen Autorschaft bezüglich auch der Rudiments laut geworden, und mittlerweile spricht definitiv alles, was wir über dieses Buch wissen, dafür, daß es tatsächlich eine Raubübersetzung war, die weder von Hobbes autorisiert noch überhaupt von ihm zur Kenntnis genommen wurde. 3 Elements und Rudiments dokumentieren somit nicht den Stand der Hobbesschen Philosophie während der Abfassung des Leviathan im Jahre 1650, sondern im Jahre 1640, und, was die in die Rudiments übernommenen Änderungen und Anmerkungen in der zweiten Auflage von De cive betrifft, des Jahres 1646. Die Rudiments wurden vom Dichter Charles Cotton mit mehr poetischer Meisterschaft als rechtsphilosophischem Verständnis angefertigt und vom anglikanischen Verleger Robert Royston publiziert, der damit die Monarchistische Partei unterstützen wollte. Dies geschah ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, als Thomas Hobbes selbst sich mehr oder weniger entschlossen hatte, Cromwells Revolution mit seinem Leviathan zu unterstützen - so wenigstens sah es Edward Hyde im Jahre 1676. Wie schon allein aus diesem publikationsstrategischen Detail hervorgeht, vertreten die Elements, die Rudiments bzw. De cive auf der einen Seite und der Leviathan auf der anderen Seite vermutlich nicht dieselbe politische Theorie in nur zwei verschiedenen Darreichungsformen. Es kommt der offenkundige Sachverhalt hinzu, daß der Leviathan wesentlich schärfere Töne in der Kirchenfrage anschlägt, was nicht zuletzt den englischen Klerus gegen ihn aufgebracht hat. Doch das sind möglicherweise nur Fragen der politischen Akzentuierung, die Hobbes auch in einer eigenen Übersetzung von De cive hätte ändern können. Warum also im Jahre 1650 eine gänzlich neue Darstellung der „politics in english" und nicht etwa eine Hobbessche Ausgabe der Elements oder eine Hobbessche Übersetzung von De cive? Hobbes' Zeitplan war zudem dicht gedrängt und die Manuskripte von De homine wie von De corpore (Bände I und I I der philosophischen Trilogie, deren III. Teil De cive ist) blieben erst einmal bis 1658 und 1655 liegen. Und umgekehrt: Warum nimmt Hobbes 1664 trotz angeschlagener Gesundheit noch selbst eine Übersetzung des Leviathan ins Lateinische in die Hand, nachdem bereits ein erster Versuch im Jahre 1655 am Ausstieg des Übersetzers Stubbe nach Kapitel V I I I gescheitert war. 3
Zu den Details und einzelnen Nachweisen siehe: Bernd Ludwig, Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Thomas Hobbes' Philosophischer Entwicklung von De cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640-1651, Frankfurt 1998, Einleitung; zur Person des Übersetzers Charles Cotton jetzt: Noel Malcolm, Aspects of Hobbes, Oxford 2002, Kap. 8. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Lehrjahre im Exil?
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Eine lange Zeit gängige Erklärung für die Abfassung des englischen Leviathan im Jahre 1650 ist angesichts der genannten Tatsachen der Publikationsgeschichte sicher nur noch ad hoc und damit obsolet: Daß nämlich De cive (und somit auch die Rudiments) die definitive wissenschaftliche, und der Leviathan dagegen bloß eine populäre englische Fassung ohne eigenständige wissenschaftliche Bedeutung darstelle. Wenn dem so wäre, dann käme nämlich zumindest ein weiteres befremdliches Detail hinzu: An das Ende der Schrift De homine stellt Hobbes 1658 das Kapitel X V über die Begriffe der Person und der Autorisierung, welches weitgehend mit dem Kapitel X V I des Leviathan übereinstimmt. Für die Staatstheorie des Leviathan ist dieses Kapitel unentbehrlich. In derjenigen Version, die De cive 1640 und 1646 vorstellt, spielt das, was in jenem Kapitel erörtert wird, jedoch überhaupt keine Rolle. Da der Inhalt andererseits aber ausschließlich für die Staatstheorie von Bedeutung ist, stellt sich die Frage: Kann und soll De cive tatsächlich Hobbes' letztes Wort zur scientia civilis sein? Auch beim einzigen Wiederabdruck nach gut zwanzig Jahren, in der Gesamtausgabe der lateinischen Schriften, hat Hobbes die Chance nicht genutzt, in dieser Rücksicht den Anschluß von De cive an De homine herzustellen. Statt dessen hat er sich lieber der Mühe unterzogen, den Leviathan in die Gelehrtensprache zu übersetzen, damit dieser in den Opera latina auf dem Kontinent erscheinen konnte. Hobbes hat sich nach 1650 vermutlich aus gutem Grund nicht mehr sonderlich für De cive interessiert. Ich kann es hier nicht im Detail ausführen, aber eine genauere Untersuchung der Ergänzungen zur zweiten Auflage von De cive verrät bereits terminologische Verschiebungen gegenüber (und vorsichtige Korrekturen von) Lehrstücken der ersten Auflage, die z. T. zu Ungereimtheiten im Zusammenspiel mit dem Haupttext fuhren und auf Diskussionen im Pariser Umfeld verweisen. Ich erwähne nur eine: In De cive I, 7 und II, 1 zitiert Hobbes zustimmend die traditionelle Äußerung, daß alles das, was der rechten Vernunft {recta ratio) nicht widerspreche, rechtens (iure factum) genannt wird. Und da ferner das, was unrecht sei, ein Gesetzesverstoß sein müsse, sei die rechte Vernunft nichts anderes als das „natürliche Gesetz" selbst. Dieser Name sei auch deshalb zutreffend, weil die Vernunft Teil der menschlichen Natur sei. In der 1646 hinzugefugten Fußnote zu Kapitel II, 1 heißt es dann ergänzend, unter rechter Vernunft sei aber keine „facultas infallibile", sondern bloß die „ratiocinatio vera" eines jeden einzelnen zu verstehen, und wahr sei nur das, was durch korrekte Schlußfolgerung aus wahren Prämissen gewonnen wird. Das paßt freilich nicht recht zusammen: Die „recta ratio" welche uns ein Gesetz gibt, welches „recht" und „unrecht" unterscheidet, ist schwerlich bloß jene Hobbessche „ratiocinatio", die aus wahren Prämissen Wahres schlußfolgert und - zumindest gemäß der Hobbesschen Willenstheorie - unser Hanhttps://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Bernd Ludwig
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dein bestimmt: Unrecht und Irrtum fallen nicht zusammen. Die recta ratio ist gerade bei jenen „omnes", die Hobbes im Haupttext als Gewährleute für seine Behauptung der normativen Kraft der Vernunft zitiert, vielmehr jene eigentümliche „facultas" die uns entweder (wie etwa bei Cicero) stoische Einsicht in das Naturgesetz oder (wie bei Thomas) christliche Teilhabe an der lex aeterna ermöglicht und auf diese Weise eine Erkenntnis vom natürlichen Gesetz als sittlichem Gesetz liefert. In einer weiteren Fußnote zu I, 10 löst Hobbes dann sogar die im Haupttext behauptete unmittelbare begriffliche Einheit von Naturgesetz und iniuria vollständig auf, indem er ausdrücklich die „violatio leges naturae" und das „peccatum in Deum" von der Jnjustitia erga homines" unterscheidet. Letztere gebe es nur dort wo es menschliche Gesetze gebe. Hobbes ist in den Fußnoten von 1646 offensichtlich bereits auf dem durch seine in Paris erarbeitete (und dann in De Copore I, 2 präsentierte 4) Lehre von der ratiocinatio als computatio erzwungenen Weg zur Position des Leviathan 5 Dort werden die Begriffe „recht" und „umecht" nämlich bereits in der Naturzustandslehre endgültig von dem der ratiocinatio sowie auch von den „moral rules", den traditionell so genannten Naturgesetzen abgelöst. Die recta ratio ist folglich spurlos aus dem Text verschwunden, und es heißt - geradezu wie ein trotziges Aufbegehren gegen eine De cive-Stelle - über die Natürlichkeit der Rechtsvernunft: „Justice, and Injustice are none of the Faculties neither of the Body, nor Mind. If they were, they might be in a man that were alone in the world, as well as his Senses, and Passions. They are Qualities, that relate to men in Society, not in Solitude a 6 1640 hieß es hingegen noch: „Was aber mit Unrecht geschehen ist, gilt als gegen ein Gesetz geschehen. Das Gesetz ist daher gleichsam die rechte Vernunft [est igitur lex quaedam recta Ratio], die (da sie ebensogut einen Teil der menschlichen Natur ausmacht wie andere Vermögen oder Zustände der Seele) auch die natürliche heißt."7 Hobbes macht ab 1650 dann auch in der Naturzustandstheorie durchweg ernst mit der Auffassung, die wir auch schon aus den späteren, staatsrechtlichen Passagen von De cive kennen, daß „recht und unrecht" nämlich ein Begriffspaar ist, das erst mit menschlichen Verträgen in die Welt kommt -
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Dazu Ludwig, Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts, Kap. I. In, Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts, Kap EX hatte ich die Anzeichen, welche in der zweiten Auflage von De cive bereits auf die konzeptionelle Veränderung im Leviathan hinweisen, noch nicht beachtet. Die Arbeit von Giamii Paganini, Hobbes, Gassendi and the Tradition of Political Epicureanism, HobbesStudies XIV (2001), pp. 3-24 hat den Anlaß zu einer erneuten Prüfung gegeben (s. u.). ö Leviathan Xm, p. 90. 7 De cive II, 1. 5
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Lehrjahre im Exil?
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oder durch göttliches Gebot. Doch da Gottes Wille in der „civill philosophy" sowenig Prinzipien ersetzen kann wie in der Geometrie, müssen beide ohne ihn auskommen. Daß sich dafür die Naturzustandstheorie gegenüber der von De cive und Elements ändern muß, läßt sich absehen. Daß sich dabei dann unter anderem bemerkbar macht, daß Hobbes seit etwa 1645 Gassendis Epikur-Studien im Manuskript gelesen hat, zeigt die gerade genannte Selbstkritik - und nicht zuletzt die eingangs zitierte Stelle: „Where there is no common power, there is no law, and where no law, no injustice."
II. Hobbes war anders lautenden Gerüchten zum Trotz nie ein „Denker im Bürgerkrieg". Aus Angst vor Übergriffen seitens der Parlamentsfraktion, die ihm den impliziten Royalismus seiner als Manuskript zirkulierenden Elements of Law verübelte, flieht er 1640 vor dem ersten Schuß und als einer der ersten ins Pariser Exil. Und er kehrt erst zurück, nachdem der Pulverdampf sich verzogen hat. Die Einwände gegen Descartes' Meditationen und die als Privatdruck erschienene Schrift De cive stellen seine Eintrittskarten für die kontinentale Gelehrtenrepublik dar. Hobbes pflegt sogleich Umgang mit dem Kreis um Mersenne, und sein engster Vertrauter wird Pierre Gassendi, dessen Lebenswerk die Wiedererschließung der Quellen des Epikureismus werden sollte. Für die Politische Philosophie Gassendis sind dessen Animadversationes in decimum librum Diogenis Laertii von 1649, ein 1000-seitiger Kommentar zum Epikur-Kapitel von Diogenes Laertius' Leben und Meinungen berühmter Philosophen, einschlägig und insbesondere der dritte Teil, die Ethik. Über die genaue Entstehungszeit der einschlägigen Teile der Gassendischen Ethik schweigen die Quellen. Jene Autoren, die Hobbessche Spuren in der Naturzustandstheorie Gassendis identifiziert haben, sind sich jedoch einig darin, daß Gassendi während deren Abfassung mit dem Text der ersten Auflage von De cive - sei es als Druck oder möglicherweise bereits zuvor als Manuskript - vertraut gewesen ist, und die Ethik irgendwann zwischen 1643 und 1645 verfaßt wurde. Wir wissen von Hobbes definitiv, daß er im Jahre 1644 in Gassendis Manuskripten gelesen hat (er lobt dessen Philosophie - und dessen Latein), und daß er auch später dazu Gelegenheit hatte, wird man nicht ausschließen wollen. Der Text der Animadversationes wird heute zumeist in jener Form rezipiert, in der er in das Syntagma Philosophicum eingegangen ist, jene Gesamtdarstellung' der Gassendischen Philosophie, die Sorbiere anläßlich der Herausgabe der Opera omnia 1658 aus gedruckten und ungedruckten Schriften Gassendis zusammengestellt hat. Das Syntagma macht die ersten beiden
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Bernd Ludwig
Bände dieser bis heute maßgeblichen Ausgabe aus, und die Ethik findet sich im letzten Drittel des zweiten Bandes. Ihr Text ist fast vollständig aus den Animadversationes übernommen. Gassendis Ethik selbst ist in drei Bücher unterteilt (Dt Felicitate, De Virtutibus und De Libertate, Fortuna, Fato ac Divinatione), wovon das - im folgenden allein interessierende - zweite Buch seinerseits in sechs Kapitel eingeteilt ist: Nach einer Betrachtung der Tugenden im allgemeinen (I) werden die vier Kardinaltugenden Klugheit (II), Stärke (III), Mäßigung (IV) und Gerechtigkeit (V) behandelt, ein weiteres Kapitel (VI) erörtert abschließend verschiedene Einzeltugenden (Frömmigkeit, Freundschaft, Dankbarkeit etc.). Speziell von Interesse sind in unserem Zusammenhang ein Unterabschnitt des Klugheits-Kapitels mit dem Titel ,De Prudentia Politica' (Animadv. 14621483 = Opera II, 745b-765a8) und das Kapitel ,De Iustitia, Iure ac Legibus' (Animadv. 1519-1569 = Opera II, 783a-808a); in beiden erörtert Gassendi die Grundlagen seiner - Epikureischen - Staats- bzw. Rechtsphilosophie. Es wurde in der Gassendi-Literatur bereits des öfteren darauf hingewiesen, daß beide Texte unter dem Eindruck der von Gassendi hochgelobten9 Schrift De cive verfaßt worden sein dürften. Neben zahlreichen inhaltlichen Anleihen spricht vor allem ein impliziter Hinweis auf diese Schrift dafür: Vom Naturzustand sei es „vor nicht langer Zeit beobachtet worden, daß man sich dort ohne Ende bekämpfen müsse" 10 , heißt es zu Beginn der ,prudentia politica', und aus dem Kontext, in welchem zuvor der Naturzustand als ein Zustand der ,libertas' gekennzeichnet und anschließend vom j u s in omnia' die Rede ist, geht deutlich hervor, daß das ,non multo ante' sich auf das Erscheinen von De cive bezieht.11 Gassendi übernimmt die Hobbessche Charakterisierung des Naturzustandes weitgehend, er zitiert sogar das „homo homini lupus" aus der Vorrede zu De cive, und wir brauchen uns für diese - jetzt wohlbekannte12 Richtung der Rezeption hier nicht weiter zu interessieren. Gassendi fuhrt
8 Die ,prudentia politica' endet genaugenommen bereits 762b, denn im Rest des Kapitels wird allein die Epikureische Vorschrift des zurückgezogenen Lebens erörtert. 9 Man denke nur an den Brief an Sorbière vom 28. 4. 1646, welchen dieser ohne Erlaubnis Gassendis dem zweiten Druck der zweiten Auflage von De cive vorangestellt hatte (in De cive [ed. Warrender], p. 73 und p. 279). 10 „Cum nempe ut non multo ante observatum est, digladiandum perpetuo foret" (IOpera II, 755). 11 Siehe dazu Oliver R. Bloch, Gassendi et la politique, in: Cahiers de littérature du XVIIe siècle Bd. 9 (1987) pp. 51-75, hier : p. 68; und Luisa T. Sarasohn y The Influence of Epicurean Philosophy on Seventeenth Century Ethical and Political Thought: The Moral Philosophy of Pierre Gassendi, Ann Arbour (UMI Diss.) 1979, p. 308. 12 Gianni Paganini , Hobbes, Gassendi et le De cive, in: Miguel Benitez, Antony McKenna, Gianni Paganini, Jean Salem (édits.), Materia Actuosa Antiquité, Âge Classique, Lumières. Mélanges en Honneur d'Olivier Bloch, Paris 2000, pp. 183-206.
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sodann, im Kapitel ,De Justitia 4 , eine weitere Diskussion des Naturzustandes an, die nun aber unübersehbar eine Hobbes-Kritik beinhalten soll: Der Naturzustand wird - so Gassendi - kaum in jener Form existiert haben, wie er von Hobbes (der wiederum ungenannt bleibt) beschrieben wurde. Im Anschluß an die ausführliche Zitation {Opera II, 791-794) aus Porphyrios' Abhandlung De Abstinentia ab Esu Animalium u hält Gassendi zwei Grundsätze Epikureischer Staatslehre fest: 1) Daß die Menschen in die Gesellschaft eintreten, Gesetze und Recht machen in der Aussicht auf gegenseitigen Nutzen. Und 2) daß solcherart Rechte nur unter jenen Völkern und Menschen möglich seien, die miteinander Verträge schließen können und wollen. Um dieses nun etwas weiter auszufuhren und um zu sehen, wie das Recht trotz seines künstlichen Ursprungs gleichwohl letztlich auf die Natur zurückgehe, sei der Mensch in zweierlei Hinsicht zu betrachten: „erstens gleichsam absolut, d. i. als er selbst und sofern er Mensch ist; zweitens im Vergleich oder wie er sich auf andere bezieht und wie er ein Teil der Gesellschaft ist oder zu sein anstrebt. Und in der ersten Weise wird er gleichsam als einsam und im reinen Naturzustand befindlich betrachtet."14 Die Betrachtung in der ersten Weise führt zum - ganz Hobbesianisch aufgefaßten - natürlichen Recht, welches zunächst nichts weiter ist als die ,facultas 4, alles Verfügbare zur eigenen Erhaltung zu nutzen. Betrachtet man sodann die mit einem solchen Recht ausgestatteten Menschen in Wechselwirkung, dann ergibt sich die bekannte Hobbessche ,conditio belli 4 : „wenn einer nämlich etwas begehrt oder [ein Ziel] verfolgt, dann werden ihm zahllose andere gegenüberstehen, die dasselbe begehren oder verfolgen, und daraus ergibt sich Streit, Raub, Haß, Verwundung und Totschlag."15 Ganz anders stellt sich die Situation allerdings dar, wenn man - und Gassendi suggeriert: einzig angemessen - den Menschen in der zweiten Weise
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Hobbes beschränkt erst seit dem Leviathan die Anwendung von Rechtsbegriffen konsequent auf das Verhältnis der sprachfähigen Wesen und charakterisiert das Verhältnis zu den Tieren prinzipiell als eines der »hostility'. Siehe XXVI, 12 und die explizite Klarstellung in den Questions Concerning Liberty, Necessity and Chance ([QLNC] EW V, p. 187): Die Macht über Tiere wird zu Unrecht ,dominion' genannt: Sie ist in Wahrheit schlicht „hostility" (der Randtitel De cive VIH, 10 lautete noch: ,»Dominium (!) in bestias iuris naturalis est"). Diese Neuerung könnte durchaus eine unmittelbare Konsequenz der Lektüre der einschlägigen De Abstinentia &c.-Passagen bei Gassendi sein. 14 „primum quidem absolute, seu secundum se, ac ut homo est; secundo vero comparate seu prout refertur ad alios, & pars quedam est esseve appetit societatis. Ac priore quidem modo spectatur quasi solitarius & in purae naturae statu." (Opera II, 794a). 15 „ut nempe uno concupiscente prosequenteque aliquid, nitatur in adversum alii, qui id pariter concupiscant & prosequantur ac inde enascantur rixae, rapinae, odia, vulnera, caedes" (Opera II, 795a). https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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betrachtet, sofern er ,sociabile est4. Dann ergibt sich nämlich ein gleichsam modifizierter Naturzustand, denn der Mensch will von Natur aus um des eigenen Wohllebens willen auf sein ,Recht auf alles4 verzichten (sofern es die anderen auch tun), um sich in Frieden jene Güter aneignen zu können, die er zum Leben braucht: ,£)er Mensch ist von der Natur als ein zur Gesellschaft tätliches Wesen gemacht worden. [...] Und nicht nur dies, sondern sie hat ihn auch so gemacht, daß er seine Bedürfnisse erkennt, sie hat ihn mit praktischem Geschick ausgestattet, damit er erfinderisch werde, und sie hat ihm eine Neigung zum Abschließen von Verträgen gegeben, durch die er sich mit anderen beraten und somit auf bequeme Weise in Gesellschaft begeben kann."16 Hier wird nun die Stoßrichtung gegen Hobbes (siehe etwa De cive I, 2) deutlich. Der Naturzustand ist (bzw. bleibt) bei Gassendi kein ,status belli 4 , sondern er ist ein Zustand einer vertraglichen Ordnung der Menschen, den diese - gleichsam von Natur aus - eingehen, weil sie, anders als die wilden Tiere, einsehen, daß der Zustand des primären Naturrechts (ius animale) durch den eines vertragsgenerierten sekundären Naturrechts (ius humanum) abgelöst werden muß. Das ,ius naturae primarium 4 , jenes ,right of nature 4, mit welchem auch Gassendi seine Argumentation beginnen ließ, welches uns bei Hobbes in De cive wie im Leviathan begegnet und sich dort als ein Recht auf alles zeigt, ist genau genommen nur ein , Vermögen' (facultas), wie Gassendi in der Retrospektive betont, ,non tarnen Ius dicendum censuisse4 (795b). Ganz Epikureisch daran festhaltend, daß es Recht sensu stricto - und vor allem Unrecht - nur dann geben kann, wenn es Verträge gibt, betont Gassendi dennoch, daß Recht und Unrecht Begriffe sind, die gleichsam aus der Natur entspringen, d. i. aus der natürlichen Neigung der Menschen zur Gesellschaft. Das ,ius secundarium' sei zwar vertraglich erzeugt, entspreche jedoch der Intention der Natur, denn ohne Verträge könnten die Menschen nicht das erreichen, was sie von Natur erstrebten (795a). Der offenkundige Gegensatz zu Hobbes besteht nun nicht etwa darin, daß es nur bei Gassendi Rechte und Pflichten im ,Naturzustand 4 (hier als Synonym für ,nicht-staatlicher Zustand4 gebraucht) geben kann (was schließlich auch bei Hobbes möglich ist, man denke an die bekannte Behauptung, man sei verpflichtet, dem Straßenräuber das versprochene Lösegeld auszuzahlen). Es geht auch nicht um die historische Frage, ob es jemals einen Naturzustand der Menschheit gegeben hat und wie dieser nun genau ausgesehen haben könnte (Hobbes wie Gassendi weisen diese Frage beide gleichermaßen als für ihre
10 „Factus ergo est homo a natura sociabile animal; [...] Neque vero hoc solum; sed etiam quae hominem fecit suae indigentiae intelligentem, fecit tum solertem ad excogitandum tum propensum ad ineundum pacta, quibus illi consuleret, ac in societate commode versaretur." (ebd.)
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Problemstellung uneinschlägig zurück). Der Unterschied zeigt sich vielmehr darin, daß Gassendi die Möglichkeit von Recht und Unrecht einzig an die Existenz von Verträgen knüpft, ohne die Frage nach einem Gesetzgeber oder nach einer staatlichen Gewalt, welche die Vertragseinhaltung sichert, zu stellen. Die an die Naturzustandstheorie sich anschließende Staatstheorie entwirft nämlich ein dreistufiges Schema der kontraktilen Staatserrichtung, welches der ,civitas* - durchaus noch im Sinne der ersten Auflage von De cive (wenn auch nicht unbedingt deren Intention gemäß) - eine juridische Eigenständigkeit gegenüber dem Souverän zuweist: Ein erster Vertrag (,prima pactio 1 ) schafft die Gütergemeinschaft ab und erzeugt die Unterscheidung von Mein und Dein mittels der Gesetze. Ein zweiter (sc. ,deindefc) Vertrag dient dazu, die Rechte der einzelnen auf die Menge (multitudo) zu übertragen, damit die Souveränität zu etablieren und die Gesetzesbefolgung durch Strafen sicherzustellen. Durch einen dritten Vertrag (,alia conventionek) wird schließlich die durch den zweiten Vertrag zustande gekommene Souveränität der Menge (sc. ,civitas*) auf eine einzelne Person übertragen. 17 Wie man leicht erkennt, ist bei dieser Konstruktion die ,multitudoein Rechtssubjekt und der Vertrag der Einsetzung des Souveräns entsprechend ein Delegationsvertrag, der durchaus mit Vorbehalten versehen sein kann. Der Gassendische Souverän ist folglich nicht absolut: „Ferner möchte die Menge bzw. das Volk, welches seine Macht an einen oder mehrere - seien es Magistrate oder Prinzen - übertragen hat, immerfort insofern uneingeschränkt bleiben, als sie nach jenen Verträgen und Gesetzen leben will, die sie selbst gemacht hat; das heißt, ihre Rechte genießen will, oder aber, wenn es den Prinzen notwendig erscheint, diese zu ändern, zu erweitern oder um etwas zu vermindern, davon zu erfahren und zuzustimmen."18 Es wird von denjenigen, die sich mit Gassendis politischer Philosophie beschäftigt haben, stets herausgehoben, 19 daß es kein Zufall ist, wenn man in dieser Theorie des dreifachen Vertrages eine Antizipation der Lockeschen Staatsphilosophie entdecken w i l l . 2 0 Ohne an dieser Stelle näher auf die Bezie-
17 Siehe Opera II, 795b f. Für eine mit den ausführlichen Zitaten unterlegte Darstellung siehe Bloch, Gassendi et la politique, p. 68 f. 18 „Trajisferens porro multitudo, sive populus, suam potestatem in unum, plureisve seu Magistratus seu Principes, integrum semper ibi esse voluit, iuxta pactiones, sive leges a se conditas vivere, hoc est, suis illis iuribus uti; aut si quid forte commutandum, detrahendum, addendum videretur Principibus, id cognoscere, inque id consentire" (796a). 19 Etwa Sarasohn , The Influence of Epicurean Philosophy, pp. 378 ff. und Bloch, Gassendi et la politique, p. 73. 20 Siehe etwa John Locke, Second Treatise, in: ders., Two Treatises of Government, ed. by Peter Laslett, Cambridge 1988, § 124 ff [sc. Law, Judge, Power]; vgl. §§ 95 ff und § 112.
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hung zwischen Gassendi und Locke einzugehen,21 sei hier nur der Hinweis angebracht, daß Locke Gassendi intensiv rezipiert hat. Bei seiner FrankreichReise im Jahre 1676 ist er mit dem Gassendi-Übersetzer François Bernier in Kontakt getreten und hat dessen gerade erschienenen Abrégé de la Philosophie de Gassendi , eine mehrbändige, auszugsweise Übersetzung des Gassendischen Syntagma , mit nach England zurückgebracht. Auch im holländischen Exil der achtziger Jahre scheint Lockes Interesse an Gassendi nicht geschwunden zu sein, denn er erwirbt zu jener Zeit ein Exemplar der Opera omnia 22 Aus der Perspektive desjenigen, der mit Hobbes4 und Lockes Politischen Philosophien auch nur im Ansatz vertraut ist, dürfte es höchst verwunderlich sein, daß eine Hobbessche Theorie des Naturzustandes letztlich zu einer Lockeschen Theorie der eingeschränkten Souveränität führt. Genau dieses jedoch scheint bei Gassendi vorzuliegen - und es dürfte daher nicht erstaunen, wenn Hobbes angesichts einer Kenntnisnahme der Gassendischen Theorie das Bedürfnis einer Überarbeitung seiner Darstellungen von 1640/41 verspürt hat. Daß gerade die Epikureische Lehre, welche auch Gassendi selbst zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt, hierfür das Grundgerüst liefert, dürfte die eigentliche Pointe des Unternehmens darstellen. Möglich war die Gassendische Vereinbarung von Epikureischer Rechtstheorie und stoisch-naturrechtlichem Axiom von der sozialen Natur des Menschen durch den grundlegenden Bezug auf den Menschen als vernunftbegabtes Wesen. Die individuelle Vernunft ist für Gassendi ein Ausdruck der Teilhabe an der allgemeinen menschlichen Vernunft (welche ihrerseits allerdings - und darin zeigt sich der durch die Renaissance der Skepsis ernüchterte Gassendi keine Teilhabe an der göttlichen ,lex aeterna4 darstellt wie etwa noch bei Grotius). Aufgrund der vernünftigen Einsicht in die Unerträglichkeit eines Zustandes des bloßen ,ius naturae primarium' schaffen die Menschen einen Zustand der vertraglichen Austeilung (,divisio 4 ) des Mein und Dein. In seinem Kommentar zum Epikureischen Lehrsatz X X X I I I (Iustitia) geht Gassendi sogar so weit, die ,lex naturalis 4 als ,consensus tacitus omnium hominum rationem audientium4 (Opera V, 159b) zu bezeichnen.23 Gassendi macht gleichsam den Epikureischen Utilitarismus als natürliches movens zum gesellschaftlichen Leben stark. 21
Neben dem Kapitel VIII in Sarasohn , The Influence of Epicurean Philosophy, und der dort verarbeiteten Literatur vgl. hier noch Rolf W. Puster , Britische GassendiRezeption am Beispiel John Lockes, Stuttgart 1991. 22 Siehe hierzu Sarasohn , The Influence of Epicurean Philosophy, p. 358 und p. 364. 23 Siehe zu der in dieser Passage implizit vorgetragenen Kritik an der ,homo homini lupus'-These aus der De cive-Widmung Paganini 2000. - Vgl. auch Locke , Second Treatise § 128. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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Hobbes aber hatte bereits in der ersten Auflage von De cive mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die menschliche Gemeinschaft nicht dadurch zustande komme, daß „die Menschen sich auf gewisse Verträge und Bedingungen einigten, die sie dann Gesetze nennen. Dieses Axiom ist jedoch trotz seiner weitverbreiteten Geltung falsch; es ist ein Irrtum, der aus einer oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur hervorgeht" 24, und in De cive XIV, 2 betont Hobbes erneut, daß insbesondere die (vermeintlich) Aristotelische Identifikation des Staatsgesetzes mit wechselseitigen Verträgen der Bürger untereinander ein grober Fehler gewesen sei, weil aus Verträgen erst dann Gesetze werden, wenn eine höchste Gewalt (summum imperium) hinzutritt, die deren generelle Befolgung sicherstellt. Genau jenen Fehler ,wiederholt' nun aber Gassendi, wenn er seine - oben angesprochene dreistufige Staatsgenese mit je einem Piaton- (Politeia 359al) und einem Aristoteles-Zitat (Politica 1280bll) einleitet, die beide besagen, daß Gesetze nichts anderes seien als Verträge (wobei freilich beide Autoren im - nicht zitierten - Kontext zu erkennen geben, daß dies nicht alles ist), und wenn er mit Berufung auf diese Zitate eigens betont, bereits die ,prima pactio\ die Einigung der einzelnen Menschen auf ein Mein und Dein, sei von den Griechen zu Recht nomos genannt worden. Erst der zweite Vertrag in Gassendis Rekonstruktion fügt die für Hobbes unverzichtbaren Bedingungen des Gesetzescharakters von Verträgen hinzu: Souveränität und Strafgewalt. Eine besonders charakteristische Konsequenz der Gassendischen Behauptung, daß die Errichtung einer Zwangsgewalt ein Schritt sei, welcher systematisch auf die Bestimmung des Mein und Dein durch die ,prima pactio' folge, ist, daß die Gesetzgebung durch die ,ci vitask bzw. den Souverän nicht etwa das Mein und Dein schafft, sondern daß - wie ähnlich dann auch bei Locke - sie es voraussetzt und durch die Strafgewalt sichert. Den zweiten Vertrag (welcher der ,multitude k die Vermögen der einzelnen übereignet) führt Gassendi mit der Bemerkung ein: „Ferner, weil es passiert, daß die Schwächsten und Unschuldigsten ihre Rechte [!] nicht wahrnehmen können, [...] weil die Stärksten und Gewalttätigsten ihre Kräfte zu ihrem eigenen Nutzen anwenden [...]fct2 5, und wenig später heißt es, die Übertragung der eigenen Vermögen auf die Menge diene dazu, „[...] durch die Übereinstimmung jene Gesetze unverletzlich zu machen, durch die das Seine eines jeden unberührbar bleibt." 26
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De cive I, 2. „Deinde, quia futurum erat, ut imbecilliores, ac innocentiores tueri sua iura, [...] si valentiores violentioresque quandam in ipsos facerent vim [...]." (Opera II, 795b) vgl. auch hier wieder Locke, Second Treatise § 128. 25
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Gassendi ist - so kann man nun aus der Perspektive des Leviathan behaupten - insofern inkonsequent, als er zwar, ganz und gar Epikureisch, die Begriffe von Recht und Unrecht an den Begriff des vertragsgenerierten Gesetzes knüpft, jedoch dabei übersieht, daß jene menschlichen Gesetze, die nicht nur bilaterale (gleichsam privatrechtliche) Verpflichtungen, sondern ein omnilaterales Mein und Dein stiften können, nur dann zustande kommen, wenn es einen irdischen Gesetzgeber gibt. Gesetze dienen, so Hobbes, nicht dazu, das angeblich dank der sozialen Natur - oder, epikureisch gedacht: des natürlichen Utilitarismus - des Menschen durch wechselseitige Verträge (im natürlichen Zustand) bereits eingeführte Mein und Dein zu sichern, sondern umgekehrt: Erst durch zwangsbewehrte Gesetze wird das Mein und Dein konstituiert. In der zweiten Anmerkung zu De cive Kap I, 2 von 1646 insistiert nun Hobbes nachdrücklich darauf, daß die Lehre von den durch ihre utilitaristische Vernunft natürlicherweise zum Kontraktieren zusammengetriebenen Naturzustandsbewohnern ein bloßes Ammenmärchen ist. Nicht um des Nutzens willen, sondern tatsächlich „[...] aus Furcht schützen sich die Menschen, und zwar durch Flucht und Verstecke [...] meist aber greifen sie zu den Waffen und anderen Verteidigungsmitteln, sie wagen sich dann hervor, um die Absicht des anderen zu erkennen. Mögen Sie dann kämpfen, oder sich gütlich einigen, aus dem Siege oder aus ihrem Vergleich erhebt sich der Staat." Und in der vorherigen, ersten Anmerkung hieß es: „Ja selbst wenn der Mensch von Natur bestimmt wäre, nach der Gesellschaft zu verlangen, so folgte doch nicht, daß er von Natur zur Eingehung der Gesellschaft auch geeignet sei, denn das Verlangen und die Fähigkeit sind zweierlei." 27 Vielleicht gibt es noch andere Adressaten dieser Kritik als Gassendi (die spieltheoretische Hobbes-Literatur des späten 20. Jahrhunderts, an die man hier denken mag, kommt freilich kaum in Frage, denn Hobbes kannte sie noch nicht), aber als Antwort auf Gassendi ergibt sie einen guten Sinn: Der „naturgeschichtliche" Anfang des Staates liegt in der Konfrontation einer Menge von Menschen (genauer freilich: von Haushaltsvorständen) mit deijenigen naturwüchsig entstandenen Macht, die den zukünftigen Souverän bilden wird, nicht aber in dessen vertraglicher Erzeugung durch utilitaristisch gesonnene Naturzustandsbewohner. 28 Die Geschichte des modernen Staates nimmt in der Gewalt ihren Anfang (sc.: »Commonwealth by Acquisition'). Der Souverän, der hingegen seine Legitimität im konsensuellen Gründungsakt des Common26
„communi consensu eas leges sanxit [!], quibus unicuique ius suum intemeratum maneret" (ebd.). 27 De cive I, 1 Anm. 28 Siehe dazu Paganini 2001, pp. 23 ff. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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wealth sucht (sc.: ,Commonwealth by Institution'), richtet dieses zugrunde CLeviathan , Review & Conclusion). Die sich hier zeigende, ganz traditionelle (weil fur das christliche Naturrecht selbstverständliche, weil konstitutive), logische Priorität des gewalthabenden Souveräns gegenüber dem Gesetz („Where there is no common Power, there is no Law [...]", Leviathan XIII, p. 90) und den einzelnen Rechten - und damit gegenüber der Gerechtigkeit („[...] where no Law, no Injustice", ebd. 29 ) - erhält im Leviathan ihren deutlichsten Ausdruck in einer neuen inhaltlichen Ausgestaltung der ,lex tertia': Während das in De cive an der korrespondierenden Stelle stehende Gesetz unter dem Titel „pactis standurn" nur noch einmal die Verbindlichkeit von Verträgen statuiert, lautet es im Leviathan schlicht: „Justice" und hat die Notwendigkeit der Einführung einer zentralen Zwangsgewalt zum Gegenstand, die die Einhaltung von Verträgen - durch den „terrour of some punishment" für den Vertragsbrüchigen sichert. Es bietet sich an, diejenige Passage, welche einerseits etwas gegenüber De cive völlig Neues anführt, und durchaus - auch - als eine Kritik an Gassendis dreistufigem Schema der Staatsgenerierung gelesen werden kann, hier ausgiebig zu zitieren:
„And
therefore where there is no Own , that is, no Propriety, there is no Injustice; and where there is no coerceive Power erected, that is, where there is no Commonwealth, there is no Propriety; all men having Right to all things: Therefore where there is no Common-wealth, there nothing is Unjust. So that the nature of Justice, consisteth in keeping of valid Covenants: but the Validity of Covenants begins not but with the Constitution of a Civill Power, sufficient to compell men to keep them: And then it is also that Propriety begins."30 Diese Neukonzipierung hat Konsequenzen: Ein deutliches Indiz ist eine grundlegende Änderung des Status der Staatsformenlehre. Die Erörterungen über die Priorität der Demokratie als einer notwendigen Vorstufe zu Aristokratie und Monarchie, wie wir sie u. a. aus De cive VII, 8 kennen, sind restlos entfallen. Dies hat seinen Grund in erster Linie darin, daß die den Souverän autorisierende Mehrheit der gedachten Versammlung ihrerseits nicht vom Einzelnen autorisiert wird und damit keine eigenständige demokratische' Zwischenstufe darstellt: Im Leviathan stellt sich erst mit der Existenz eines durch Institution oder Akquisition vertraglich autorisierten Repräsentanten die Frage nach dessen Form als Problem der Staatsform. (Siehe XIX, 1, vgl. XVI, 15). Im Kapitel über den institutionellen Souverän heißt es: ,Jt is manifest, that men who are in absolute liberty, may, if they please, give Authority to One man, to represent them every one; as well as give such Authority
29 Wer diesen Satz in der deutschen Ree lam-Ausgabe des ,Leviathan' sucht, wird ihn nicht finden. 30 Leviathan XV, p. 101.
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to any Assembly of men whatsoever; and consequently may subject themselves, if they think good, to a Monarch, as absolutely, as to any other Repräsentative."31 Deutlich abweichend davon - und sich in dieser Hinsicht noch ganz in den traditionellen, scholastischen Denkfiguren bewegend, behandeln dies die beiden früheren Schriften: In den Elements II, 2, § 1 zeigt sich die Priorität der Demokratie noch im Mehrheitsprinzip bei der die Delegierten bestimmenden Volksmenge; in De cive VII, 5-7 überträgt der Einzelne im Falle des institutiven Commonwealth sein Recht zunächst auf das Volk: „Jeder Bürger verspricht, seinen Willen dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen, unter der Bedingung, daß die anderen dasselbe tun." Und Aristokratie wie Monarchie leiten sich dann aus der so konstituierten demokratischen Gewalt des Volkes ab. Hierin zeigt sich Hobbes noch in enger Verwandtschaft mit den herkömmlichen, dualistischen Vertragstheorien, die systematisch zwischen einem - die civitas erzeugenden - pactum associationis und einem - den Regenten einsetzenden - pactum subiectionis unterscheiden. Davon ist im Leviathan jegliche Spur verschwunden: Es gibt nur einen Vertrag. Damit ist das kritische Potential, welches die Vertragstheorien vor Hobbes bisweilen gegen den Absolutismus entfalten sollten, im Ansatz eliminiert: Der Souverän ist kein Vertragspartner einer rechtlich eigenständigen Bürgerschaft. 32 Es herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß Hobbes' Theorie der Autorisierung eine der wichtigsten Innovationen im Leviathan darstellt. Und soweit ich sehe, sind Hobbes' Gründe für die Einführung der Autorisierungstheorie im Jahre 1651 bis heute mehr oder weniger verborgen geblieben. Ich denke, einer seiner Gründe liegt in der Zurückweisung der von Gassendi nahe gelegten Vorstellung, der Souverän - auch der institutive - ginge auch in einer Vertragstheorie des Staates aus einem fiktiven „Willen des Volkes" hervor. Wenn es aber keinen einheitlichen Willen des Volkes gibt, dann kann die Einheit des Willens des Staates nur darin bestehen, daß der Staatswille unmittelbar der Wille jedes einzelnen Bürgers ist: denn sonst bliebe der Wille des Souveräns nur der persönliche Wille eines solchen Feindes, vor dem zufälligerweise gerade einmal eine größere Zahl von Menschen kapituliert hat. Doch diese Identität des Willens des einzelnen mit dem des Souveräns ist eine juridische Fiktion, denn wir können heute nicht wollen, morgen etwas zu wollen, nur weil es ein anderer will. 3 3 Daher bedarf es jener Theorie der fikti31
Leviathan XIX, p. 130. Dazu jetzt Michaela Rehm, Begründung statt Begrenzung. Hobbes' Abkehr vom dualistischen Vertragsmodell, in: Mir A. Ferdowsi / Dietmar Herz (Hrsg.), Von himmlischer Ordnung und weltlichen Problemen. Festschrift für Peter J. Opitz, Paderborn: Fink 2003, S. 117-132. 33 ,3ut put the case, a man has a will to-day to do a certain action to-morrow, is he sure to have the same will to-morrow, when he is to do it? Is he free to-day, to choose to-morrow's will?" (QLNC, EW V, p. 402). 32
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ven Person, die wir zuerst im Leviathan und darauf dann auch in De homine finden. Die Behauptung, die neue Autorisierungstheorie des Leviathan sei in erster Linie eine Antwort auf Gassendis Versuch einer ,naturrechtlich-utilitaristischen Entschärfung 4 der Naturzustandstheorie von De cive, ist sicherlich nicht zu beweisen. Allerdings ist die abgeschwächte Behauptung zweifelsohne zutreffend, daß die neue Autorisierungstheorie (und damit die neue Darstellung des ,Commonwealth by Institution 4 ) neben allen Vorzügen hinsichtlich der theoretischen Geschlossenheit, gerade wegen ihrer Kontraktion der drei Momente der Staatskonstitution (sc. Schaffung des Mein und Dein, Vereinigung der einzelnen Subjekte zu einer ,Civitas 4 mit gesetzlicher Strafbefugnis, Delegation der Machtausübung an eine - juristische ode* natürliche - Person) in den einen Akt der vertraglichen Autorisierung eines Gesetzgebers, die Gassendische Aufweichung der Souveränitätstheorie unmöglich macht. Hobbes' Leviathan ist somit eine konsequente Ausformulierung jener Theorie, die sich 1640/41 in den Elements of Law und in De cive zwar ankündigt, sich aber noch nicht von zumindest zwei grundlegenden Elementen der stoisch-naturrechtlichen Tradition befreit hatte: Von der recta ratio als einer natürlichen Vernunft, die auch im Naturzustand einen Unterschied von recht und unrecht zu entdecken vermag, und der civitas als dem natürlichen Ursprung der staatlichen Autorität. Hobbes' Leviathan macht erstmals in der Neuzeit wieder mit dem epikureischen Grundgedanken ernst: Außerhalb der künstlichen menschlichen Gesellschaft, d. i. ohne Könige und Magistrate, sind die Begriffe von ,recht' und ,unrecht 4 für die Menschen gegenstandslos.34 Eine Bedeutung erhalten sie einzig durch die Stiftung einer menschlichen - und das heißt eben: künstlichen - Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Nur in einem Commonwealth ergibt es deshalb einen Sinn, die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen, d. i. als universelle Tugend einer menschlichen Gemeinschaft zu loben. Die Ciceronische Frage ,Cur iustitia laudatur? 4 {De finibus II, 52) kann man eben nur dann beantworten, wenn man im Auge behält, wann und wo die Gerechtigkeit tatsächlich gelobt wird: Im natürlichen Zustand wird sie niemand loben, denn dort sind nun einmal ,force and fraud 4 die eigentlichen Tugenden {Leviathan XIII, p. 90).
„,Die Männer, welche Gesetze und Ordnungsnormen schufen und die Königsherrschaft sowie die Behörden in den Staaten einsetzten, haben dem Leben zu großer Sicherheit und Ruhe verholfen und es von Wirrsal befreit; sollte es sich aber einer finden, der dieser Ordnung den Garaus machte, dann wird unser Leben dem der Tiere gleichen, und es steht zu befurchten, daß einer den anderen, der ihm in den Weg kommt, auffrißt.' So drückt sich [Epikurs Schüler] Kolotes wörtlich aus." (Plutarch, Moralia 1124d). https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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II. Anthropologie und Psychologie im Leviathan
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Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
Von Frank Grunert Die Literatur zu Thomas Hobbes ist - und das dürfte schon seit geraumer Zeit ein Gemeinplatz sein - kaum noch zu übersehen. Gleiches gilt für die Unzahl von Studien, die spätestens seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aus einem kulturwissenschaftlichen Interesse heraus mit Gedächtnis und Erinnerung im allgemeinen - meistens aber eher im besonderen - befaßt sind. Dennoch hat die Schnittmenge beider Interessensfelder nämlich die Hobbessche Gedächtnistheorie - bislang nur sehr sporadisch die wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregt. Das hat zweifellos Gründe. Zum einen wird Thomas Hobbes als ein Philosoph geschätzt, dessen politische Philosophie im Horizont systematischer Überlegungen auch mehr als dreihundertfunfzig Jahre nach dem Erscheinen des Leviathan nichts von seiner Relevanz eingebüßt hat.1 Was freilich die Vernachlässigung von Theoriestücken begünstigt, die - wie etwa seine materialistische Psychologie - zu dieser Relevanz nicht nur nichts beitragen, sondern im Gegenteil für definitiv überholt gelten.2 Und zum anderen hat Thomas Hobbes keine eigenständige Studie oder auch nur ein ausgearbeitetes Kapitel vorgelegt, die bzw. das exklusiv de memoria et reminiscentia handelte und so die Berücksichtigung von Hobbes' Überlegungen innerhalb der gedächtnistheoretischen Diskussion sichergestellt hätte. Von Gedächtnis bzw. Erinnerung ist bei Hobbes nur beiläufig die Rede, dennoch kann ein genauerer Blick auf die einschlägigen Textpassagen
1 Vgl. etwa Hans Blom, der in seiner Einleitung zu der 1996 zwischen Quentin Skinner und Yves Charles Zarka geführten ,»Amsterdam Debate" bündig feststellt: „Today, the political philosophy of Thomas Hobbes is arguably more relevant than it ever has been". Hans Blom, Introduction, in: Quentin Skinner, Yves Charles Zarka, Hobbes - The Amsterdam Debate. Edited and introduced by Hans Blom. Hildesheim, Zürich, New York 2001, p. 1. Ähnlich pointiert bemerkt Wolfgang Kersting: „ftobbes' Meisterwerk [ist] immer noch ein Schlüsseltext für unsere eigene politisch-philosophische Selbstverständigung". Wolfgang Kersting , Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, Berlin 1996, S. 1. 2 Vgl. Wolfgang Kersting, Hobbes zur Einführung, Hamburg 1992, S. 59 ff., S. 190.
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deutlich machen, daß Hobbes' Gedächtnistheorie tatsächlich einen basalen Stellenwert in seiner Erkenntnislehre einnimmt und von hier aus auch auf seine praktische Philosophie einwirkt. 3 Dieser genauere Blick muß freilich gedächtnistheoretisch angeleitet sein, d. h. vor dem Hintergrund der nicht zuletzt von der Antike herrührenden gedächtnistheoretischen Traditionen und Problemkonstellationen muß nach dem Begriff des Gedächtnisses und seinen Funktionen innerhalb der Hobbesschen theoretischen wie praktischen Philosophie gefragt werden. Um die theoretische Reichweite des Begriffs mit hinreichender Genauigkeit rekonstruieren und illustrieren zu können, muß dabei gelegentlich - um es in Hobbes' eigener Terminologie zu sagen begrifflich ,zurückgerechnet' werden, denn erst auf diese Weise ist es möglich, in der Analyse den Erinnerungskern oder wenigstens den Erinnerungsanteil einzelner Begriffe freizulegen. Zuvor aber sei eine kurze terminologische Klarstellung vorausgeschickt, die den semantischen Gehalt der Begriffe Gedächtnis und Erinnerung betrifft. Für die Unterscheidung und ihre Tradierung dürfte nicht zuletzt eine kleine Schrift einflußreich gewesen sein, die Aristoteles mit dem Titel De memoria et reminiscentia versehen und offenbar als Anhang zu De anima verfaßt hatte. Aristoteles differenziert hier zwischen einem als „eine Art Prägung" 4 begriffenen Gedächtnis, das als „Behalten" 5 auf die Speicherung einer Wahrnehmung angelegt ist, und einer Erinnerung, die als „bewußtes Suchen"6 auf die Wiedererlangung einer bereits einmal erworbenen Erkenntnis oder Empfindung abzielt. Hobbes war diese Unterscheidung geläufig, denn er differenziert zwischen „memory" und „remembrance" und reserviert letzteres - ausdrücklich und ganz im Sinne von Aristoteles - für ein aktives „Calling to mind"; erläuternd fügt Hobbes hinzu: „the Latines call it Reminiscentia, as it were a Re-conning of our former actions". 7 In der von Walter Euchner vorgelegten und von Iring Fetscher herausgegebenen Übertragung des Leviathan wird
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Die von Gideon Stiening im vorliegenden Band mit einiger Vehemenz erhobene Forderung, eine Analyse der Anthropologie des Leviathan müsse „deren Funktion für das rechts- und staatsphilosophische Ganze" darlegen, darf im vorliegenden Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. Hier geht es zunächst theorieintern um die Rekonstruktion einer Theorie, die in ihren Umrissen im ersten Teil des Leviathan, d. h. in dessen anthropologischer Grundlegung, entwickelt wird. Ihre Funktion für den zweiten Teil, der eigentlichen Staatsphilosophie, wird sich dann beinahe von selbst ergeben. Siehe Gideon Stiening, Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan. Neue Anmerkungen zum sog. Strauss-Problem, in diesem Band, S. 55-106. 4 Aristoteles, Über Gedächtnis und Erinnerung, in: Aristoteles. Kleine Schriften zur Seelenkunde. Herausgegeben von Paul Gohlke, 2. Auflage Paderborn 1953, S. 66. 5 Ebd., S. 63. 0 Ebd., S. 69. 7 Thomas Hobbes, Leviathan. Revised Student Edition. Edited by Richard Tuck, Cambridge 2000 (1996), p. 22. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
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„remembrance" mit „Erinnerung" 8 wiedergegeben, dagegen übersetzt Jutta Schlösser in der von Hermann Klenner herausgegebenen Edition den Terminus mit „Entsinnen", 9 was der mit dem lateinischen Begriff „reminiscentia" gemeinten Vorstellung eines aktiven Zurückrufens von etwas bereits Vorhandenem sicher näher kommt als die in dieser Hinsicht unspezifischere „Erinnerung", mit der zunächst ein Vorgang der Verinnerlichung gemeint war. Blickt man auf die gegenwärtige Verwendung der Begriffe Gedächtnis und Erinnerung, dann läßt sich - trotz aller Unübersichtlichkeit - doch feststellen, daß die von Aristoteles präferierte Vorstellung vom Gedächtnis (memoria) als einem statischen Aufbewahrungsort und der Erinnerung (reminiscentia) als einer aktiven Bewegung des Suchens und Findens von bereits Aufgehobenem in dieser Gegenüberstellung bzw. in diesem Entsprechungsverhältnis keine Rolle mehr spielt. Vielmehr hat sich in der modernen Psychologie, der Neurologie aber auch in den Kulturwissenschaften mittlerweile eine Konzeption des Gedächtnisses durchgesetzt, die letzteres als ein „konstruktives System" begreift, „das Realität nicht einfach abbildet, sondern auf unterschiedlichsten Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen filtert und interpretiert", 10 d. h. Gedächtnis ist nun kein statischer Speicherort mehr, sondern ein Vermögen, das durch dynamische und nicht zuletzt kreative Erinnerungsprozesse gekennzeichnet ist. Während lange Zeit, d. h. bis weit in das 17. Jahrhundert hinein, das Gedächtnis vorwiegend als ein seinen Inhalten gegenüber indifferentes Speicherorgan aufgefaßt worden war, wurde anschließend in einem - vor allem von Aleida Assmann skizzierten gedächtnistheoretischen Transformationsprozeß - das Augenmerk von dem „Verfahren des Speicherns" abgezogen und auf den „Prozeß des Erinnerns" hingelenkt. 11 Gedächtnis wurde nun nicht länger als ,ars\ sondern vielmehr als ,vis 4 begriffen, und das heißt, daß die Gedächtnistheorie durch einen Begriff von Erinnerung bestimmt wurde, der deren
8
Thomas Hobbes, Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner, Frankfurt am Main 1984, S. 21. 9 Thomas Hobbes, Leviathan. Aus dem Englischen übertragen von Jutta Schlösser. Mit einer Einführung und herausgegeben von Hermann Klenner, Hamburg 1996, S. 20. 10 Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002, S. 20; vgl. auch John Kotre, Der Strom der Erinnerung. Wie das Gedächtnis Lebenserinnerungen schreibt, München 1998, S. 52 f.; sowie die Hinweise von Siegfried J. Schmidt auf die Forschungen und Überlegungen von Peter Hejl und Humberto Maturana, in Siegfried J. Schmidt, Gedächtnis - Erzählen - Identität, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 379 ff. 11 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003, S. 29. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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konstruktive, auf intrapsychischen Transformationsprozessen Momente betont. 12
beruhenden
Im folgenden wird sich zeigen, daß Hobbes an dieser gedächtnistheoretischen Umbaumaßnahme nicht unbeteiligt war, auch wenn er - und das muß deutlich gesagt werden - zu einem von kreativen Erinnerungsprozessen bestimmten konstruktiven Gedächtnisbegriff nicht vorgedrungen ist. Dennoch: ein Gedächtnisbegriff, der nach traditionellen Vorstellungen das Gedächtnis als statischen Speicherort auffaßt, ist seinem materialistischen Konzept eines als Bewegung begriffenen Denkens zweifellos nicht mehr angemessen. So daß immer dann, wenn bei Hobbes von Gedächtnis („memory") die Rede ist, mentale Vorgänge und Prozesse gemeint sind, für deren Umschreibung der Begriff „Erinnerung" sich deswegen gut eignet, weil sich mit ihm die Vorstellung von Bewegung besser assoziieren läßt als durch den Statik zumindest nahelegenden Terminus „Gedächtnis". Es ist daher durchaus nicht falsch, wenn Walter Euchner „memoiy" in seiner Übersetzung in der Regel mit „Erinnerung" wiedergibt.
L Erinnerung als Einbildung Erinnerung wird im Leviathan gleich im zweiten Kapitel des ersten Teils eingeführt, und zwar zusammen mit dem Begriff „Einbildung" [„imagination"]. Vorausgegangen war im ersten Kapitel eine Definition des Begriffs „Empfindung" [„Sense"], mit dem eine aktuelle Vorstellung begriffen wird, die ein Erkenntnisobjekt durch Druck auf die Sinnesorgane eines Erkenntnissubjekts in letzterem erzeugt. Die unterschiedlichen Qualitäten eines Objekts, stellen dabei verschiedene Bewegungen [„motions"] dar, die auf die Organe des Erkennenden verschiedenartig drücken und sich in ihm wiederum als Bewegung fortsetzen. „Motion" - so heißt es in einer Parenthese - „produceth nothing but motion". 13 Demgegenüber ist die „Einbildung" [„Imagination"] das Bild, das im Erkennenden bleibt, wenn der aktuelle Sinneseindruck vergangen ist: „For after the object is removed, or the eye shut, wee still retain an image of the thing seen [...]. And this is it the Latines call Imagination , from the image made in seeing".14 Dieses zurückbleibende Bild stellt nicht einfach eine Fixierung der ursprünglichen Vorstellung dar, es ist gemessen an den Qualitäten der Empfindung von vornherein defizitär, es ist nämlich dunkler, „more obscure". Und diese Verdunkelung nimmt zu, denn „wird ein Objekt von unseren Augen entfernt, so wird, da gegenwärtigere Objekte nachfolgen 12 13 14
Vgl. Assmann, Erinnerungsräume. Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), I, p. 14. Ebd., II, p. 15.
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Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
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und auf uns einwirken, die Einbildung des vergangenen wie die Stimme eines Menschen im Tageslärm verdunkelt und geschwächt, obwohl der Eindruck bleibt, den es auf uns gemacht hat". 15 Die Einbildung ist also nicht nur selbst, d. h. von sich aus, in Bewegung, sondern wird durch die so gut wie andauernd nachfolgenden Einbildungen und damit auch von außen in Bewegung gehalten. Ihrer Tendenz nach ist diese Bewegung negativ, der fortschreitende Prozeß einer zunehmenden Verdunkelung der Einbildung stellt sich als ein Zerfall dar. Weil die Einbildung von der Empfindung ausgeht und ihre fortschreitende Verdunkelung darstellt, konstatiert Hobbes: „IMAGINATION therefore is nothing but decaying sense". 16 Für die theoretische Konzeption von memory ist nun ganz entscheidend, daß alles das, was soeben über Einbildung gesagt wurde, auch für Erinnerung gilt. Denn Erinnerung und Einbildung sind nach der Darstellung von Hobbes tatsächlich ein- und dasselbe, freilich in unterschiedlicher Hinsicht: „This decaying sense, when wee would express the thing it seif, (I mean fancy it seife,) wee call Imagination, as I said before: But when we would express the decay, and signifie that the Sense is fading, old, and past, it is called Memory. So that Imagination and Memory, are but one thing, which for divers considerations hath divers names."17 Einbildungen sind je nach Blickrichtung immer auch Erinnerungen. Daher erreicht der Mensch stets nur Erinnerungen, wenn er sich auf Einbildungen bezieht. Der Inhalt einer Einbildung ist insofern nur als ein Erinnerter vorhanden. Weil bei Hobbes jegliches Denken in letzter Konsequenz auf Sinneswahrnehmungen und Einbildungen zurückgeht, beruht es - nicht nur, aber immer auch - auf einer Gedächtnisleistung.18 Aus diesen vergleichsweise spröden Ausfuhrungen zur Einbildung lassen sich sogleich bemerkenswerte Folgerungen für eine Theorie der Erinnerung ableiten. Auf vier Aspekte sei an dieser Stelle hingewiesen: Erstens: Erinnerung ist nicht die womöglich abschließende Fixierung eines wahrgenommenen Datums, sondern sie ist eo ipso Bewegung. Und das heißt zweitens: Erinnerung ist nicht objektiv, sie ist nicht die ungeschmälerte Präsentation eines in der Vergangenheit wahrgenommenen Objekts; der in der Erinnerung gegebene Datenbestand ist der Veränderung unterworfen. Und diese Veränderung wird als Verlust verzeichnet. Der Verlust von Erinnertem ist aber Vergessen,
15
Hobbes, Leviathan (ed. Fetscher), S. 14. Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), II, p. 15. 17 Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), II, p. 16. 18 Siehe auch Bernd Ludwig, der zu Recht feststellt: „Ausgangspunkt jeder menschlichen Geistestätigkeit sind Sinneswahrnehmung und Gedächtnis, sie stellen eine unhintergehbare Instanz im menschlichen Erkenntnisprozeß dar". Bernd Ludwig, Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Tnomas Hobbes' philosophischer Entwicklung von De Cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640-1651, Frankfurt am Main 1998, S. 63. 10
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so daß sich drittens behaupten läßt, daß Erinnerung immer schon notwendig und von vornherein mit Vergessen verschwistert ist. Die eminente Beziehung, die bei Hobbes zwischen Erinnerung und seinem vorgeblichen Gegenteil, nämlich Vergessen sichtbar wird, ist die eines Aufeinander-Verweisens, das eine wird durch das andere bestimmt. Vergessen wird erst sichtbar, wenn zu verschiedenen Zeiten Erinnertes verglichen und ein Verlust konstatierbar wird, und Erinnerung, das in der Erinnerung Gegebene ist für Hobbes überhaupt nur als ein Moment in einer als Zerfall und damit als Vergessen charakterisierten Bewegung spezifisch. Die Bindung der Erinnerung an das Vergessen, an seinen als Verdunkelung aufgefaßten Zerfall, macht mit Nachdruck darauf aufmerksam, daß die vorsichgehende Bewegung in der Zeit stattfindet. Zeit und ihre Funktion im Erinnerungsgeschehen wäre schließlich der vierte hervorzuhebende Aspekt. Zeit spielt nämlich im Erinnerungsgeschehen eine doppelte Rolle. Einerseits wird primär durch den Erinnerungsakt in der Gegenwart Vergangenes vergegenwärtigt, und das heißt: der zeitliche Abstand zwischen Erinnerndem und Erinnertem wird eingezogen; Vergangenes wird in die Gegenwart geholt und kann dort wirksam werden. Allerdings wird dieser zeitliche Abstand zugleich auch wieder bestätigt, denn in der Regel dürfte dem Erinnernden klar sein, daß das Erinnerte der Vergangenheit angehört. Zeit wird hier in einem subjektiven Horizont tendenziell aufgehoben, denn im bewahrenden Akt der Erinnerung wird Zeit neutralisiert. Dagegen bringt sich die Zeit objektiv mit einer gegenläufigen Tendenz zur Geltung. Denn Zeit ist bei Hobbes insofern als Kategorie der Veränderung wirksam, als die konstatierte Verdunkelung als eine Funktion der Zeit beschrieben wird: die Einbildung bzw. die Erinnerung - so führt Hobbes aus - wird umso schwächer je mehr Zeit seit dem Sehen oder Empfinden eines Objekts verflossen ist: „the longer the time is, after the sight, or Sense of any object, the weaker is the Imagination. For the continuall change of mans body, destroyes in time the parts which in sense were moved: So that distance of time, and of place, hath one and the same effect in us." 19 Einer subjektiven zeitüberwindenden Bewahrung steht hier eine objektive und im Grunde zugleich ablaufende, in der und durch die Zeit sich vollziehende Bewegung des Zerfalls gegenüber.
IL Erinnerung als Klugheit Obwohl bei Hobbes sehr prononciert von Erinnerung als Bewegung und von der damit implizierten Veränderlichkeit von Erinnerung die Rede ist, verläuft die Veränderung - soweit es sich um eine selbsttätige Veränderung handelt immer nur in eine Richtung: Veränderung von Erinnerung meint fortschrei-
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Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), II, p. 16.
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tende Auflösung des Erinnerten. Ein Erinnerungskonzept, das ein produktives oder gar konstruktives Moment den Erinnerungen unterstellt, ist hier noch nicht greifbar, zumindest dann nicht, wenn damit - wie in der modernen Psychologie20 - eine intrapsychische Selbsttätigkeit gemeint ist, die der bewußten Kontrolle des Erinnernden entzogen ist, und sozusagen hinter dem Rücken des Erinnernden aus-dem Bestand seiner Erinnerungen selbsttätig neue Erinnerungen aufbaut, die sich auf kein wahrgenommenes Datum beziehen, intern aber als authentische Erinnerungen wahrgenommen werden. Produktiv werden die Erinnerungen - trotz ihres Verfalls - allerdings auch bei Hobbes, sie sind nämlich als Einbildungen elementarer Bestandteil eines gedanklichen Prozesses. Der produktive Stellenwert von Einbildungen - und damit von Erinnerungen - wird bereits in der Unterscheidung zwischen einfachen und zusammengesetzten Einbildungen [„simple imaginations" bzw. „Compound imaginations"] deutlich. Während die ersteren Bilder des „ganzen Objekts, wie es sich den Sinnen dargeboten hatte" vorstellen - Hobbes nennt einen Menschen oder ein Pferd als Beispiele werden bei den zusammengesetzten Einbildungen Inhalte der Erinnerung miteinander kombiniert. Dies ist der Fall, wenn - wie Hobbes erläutert - „wir einmal einen Menschen und ein andermal ein Pferd sehen und uns auf Grund dessen einen Kentaur vorstellen". 21 Eine solche zusammengesetzte Einbildung kann - und hier nimmt Hobbes eine weitere Differenzierung vor - aber auch eine bloße „Fiction of the mind" sein. Sie ist gegeben, „when a man compoundeth the image of his own person, with the image of the actions of an other man; as when a man imagins himselfe a Hercules , or an Alexander, (which happeneth often to them that are much taken with reading of Romants) it is a Compound imagination, and properly but a Fiction of the mind." 2 2 Eine Grenze zwischen bloßer Fiktion und einer zusammengesetzten Einbildung - auf die es Hobbes ganz offenkundig ankommt 23 - läßt sich im Einzelfall aber nicht immer mit hinreichender Eindeutigkeit ziehen. Zunächst scheint es, als lasse sich die Unterscheidung zwischen beiden Formen von Compound imagination auf die Einsicht in die relative Unwahrscheinlichkeit bzw. faktische Unmöglichkeit des Inhalts einer zusammengesetzten Einbildung zurückfuhren, so daß eine Beurteilungsinstanz darüber befinden müßte, welche Art der zusammengesetzten Einbildung im gegebenen Fall jeweils vorliegt. Bei einem durch die Lektüre von Abenteuerromanen [„Romants"] überspanntem Gemüt wird dieses Urteil von außen 20
Vgl. dazu etwa: John Kotre , Der Strom der Erinnerung. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt, München 1998; oder Welzer , Das kommunikative Gedächtnis (wie Anm. 10). 21 Hobbes, Leviathan (ed. Fetscher), S. 14. 22 Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), II, p. 16. 23 Ansonsten hätte Hobbes wohl kaum mit der Hilfe von zwei Beispielen die beiden unterschiedlichen Formen der Compound imagination erläutert. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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kommen müssen, im Nonnalfall wird das mit der Kombination verschiedener Einbildungen befaßte Subjekt selbst zu einem angemessenen Urteil in der Lage sein. Wobei ihm übrigens andere Erinnerungen eine entscheidende Hilfestellung leisten, Erinnerung ist dann als Erfahrung wirksam, denn nicht umsonst stellt Hobbes seinen Ausführungen zu den zusammengesetzten Einbildungen den folgenden Hinweis voran: „Much memory, or memory of many things, is called Experience" 2* Freilich wird die Erfahrung zur Beurteilung der Möglichkeit oder der Unmöglichkeit einer Kombination von Einbildungen nicht immer hinreichen. Denn der Kentaur, als das von Hobbes gewählte Beispiel für eine zusammengesetzte Einbildung, die keine „fiction of mind" ist bzw. sein soll, macht deutlich, daß das Spezifikum einer Komposition von Einzeleinbildungen die Herstellung einer neuen, d. h. bisher noch nicht gehabten Einbildung ist. 25 Um diese Produktivität zusammengesetzter Einbildungen aber geht es: die Komposition von Einbildungen ist inventiv. und zwar kann sie dies in einem so hohen Maße sein, daß die Erfahrung als Entscheidungsinstanz über die relative Unwahrscheinlichkeit oder die faktische Unmöglichkeit nur noch bedingt - und in extremen Fällen überhaupt nicht mehr - als Unterscheidungsmedium zwischen einer Compound ¿Imagination und einer bloßen fiction of mind fungieren kann. Im Hinblick auf die gedächtnis- bzw. erinnerungstheoretische Fragestellung kann an dieser Stelle festgehalten werden, daß zusammengesetzte Einbildungen im Augenblick ihres Entstehens Neubildungen sind, die tatsächlich aus Erinnerungen geschöpft werden. Die Kombination von Vergangenem läßt etwas Neues entstehen, wobei die Erinnerungen als das Material dieses Vorgangs in ihrer Komposition die zeitliche Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart überschreiten und damit produktiv werden können. Denn in der Gegenwart wird erinnernd über Vergangenes disponiert, d. h. Vergangenes wird kombiniert und kann - wie im folgenden zu zeigen sein wird - auf Gegebenes und auf Zukünftiges angewandt werden, so daß die Produktivität von
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Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), II, p. 16. Das mit Blick auf die von Hobbes beabsichtigte Unterscheidung zwischen fiction of mmd und Compound imagination nicht ganz risikolose Beispiel soll sicherstellen, daß durch die zusammengesetzte Einbildung etwas hervorgebracht wird, das zum Zeitpunkt seiner Zusammensetzung nicht genauso gut eine Erinnerung sein kann. Die Neuigkeit ist freilich einmalig, denn ist sie einmal gedacht, wird sie als ein einziges Datum erinnert, dessen Zusammensetzung sich dann nur noch analytisch erschließt. Nach dem Augenblick, in dem der Kentaur aus Mann und Pferd komponiert wurde, kann er als einfache Einbildung erinnert werden. Hobbes bewegt sich mit seinen knappen Hinweisen zur Neuigkeit von zusammengesetzten Einbildungen übrigens durchaus in traditionellem Rahmen, denn im ersten Teil seiner Summa theologica macht Thomas von Aquin auf eine Stelle bei Avicenna aufmerksam, wo aus der Vorstellung ,Gold' und der Vorstellung ,Berg' die Vorstellung ,goldener Berg4 geschaffen wird. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica. Pars I, qu. 78, 4. 25
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Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
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zusammengesetzten Einbildungen - und damit von Erinnerungen - auch praktisch zum Tragen kommen kann. Ausgeführt wird dies im dritten Kapitel des Leviathan , wo von der Reihenfolge der Einbildungen gehandelt wird. Diese Reihenfolge - „Consequence or Trayne of Imaginations" - ist als Folge vorausgegangener Bewegungen mitnichten einfach zufallig. Hobbes unterscheidet zwei Arten von Gedankenfolgen: Während die erste deswegen „unguided, without Designe, and inconstant" ist, weil ihr kein leidenschaftlicher Gedanke, d. h. kein spezifischer Trieb zugrundeliegt, der die ihm folgenden Gedanken lenkt, so daß die Gedanken assoziativ einander auslösen und aufeinander folgen, wird die zweite von Hobbes festgestellte Art der Gedankenfolge genau umgekehrt durch das Vorhandensein eines Verlangens strukturiert, das eine Kette ihm folgender Gedanken in Gang setzt und zielgerichtet steuert: „From Desire, ariseth the Thought of some means we have seen produce the like of that which we ayme at; and from the thought of that, the thought of means to that mean; and so continually, till we come to some beginning within our own power." 26 Und dieser durch Verlangen gesteuerte Gedankengang besteht seinerseits aus zwei unterschiedlichen Arten. Beide sind ganz wesentlich mit Erinnerung verknüpft, doch schlagen beide in der Bewegung ihrer Gedanken entgegengesetzte Richtungen ein. Während die eine Art des geregelten Gedankengangs der Vergangenheit zugewandt ist und immer dann vorliegt, „wenn wir nach den Ursachen einer eingebildeten Wirkung oder den Mitteln, die sie hervorbringen, suchen",27 ist die andere Art auf die Zukunft gerichtet. Sie ist nicht an den Ursachen einer wahrgenommenen Wirkung interessiert, sondern in umgekehrter Perspektive an den möglichen Wirkungen einer gegebenen Ursache. Diese zweite Art eines geregelten Gedankengangs ist auf eine potentiell zukunftsgestaltende Produktivität ausgerichtet. Nicht von ungefähr betont Hobbes, daß ein von Absicht geleiteter „Discourse of the Mind" nichts anderes darstellt, als »Seeking, or the faculty of Invention", 28 wobei kein Zweifel darüber bestehen kann, daß Hobbes insbesondere die zweite Art des geregelten Gedankengangs vor Augen hat, wenn er von der Fähigkeit des Erfindens spricht. Für die Suche nach der Ursache einer eingebildeten Wirkung verwendet Hobbes den bereits erwähnten Begriff „remembrance". Es handelt sich um ein in Schritten sich vollziehendes Rückerinnern („re-membrance", „re-miniscentia"), das eine gegebene Wirkung über die verschiedenen Stationen ihrer Genese auf eine Ursache hin zurückverfolgt. Erinnerungstheoretisch ist dies nicht sonderlich interessant, zumal sich Hobbes' Vorstellung von remem26 27 28
Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), m, p. 21. Hobbes, Leviathan (ed. Fetscher), S. 20. Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), im, p. 21.
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brance ziemlich genau mit dem von Aristoteles verwendeten Begriff „reminiscentia" deckt. 29 Anders verhält es sich dagegen mit der zweiten, inventiven Art des geregelten Gedankengangs. Es sind sein Zweck einerseits und die Komplexität seiner Operationen andererseits, die seinen erinnerungstheoretischen Reiz begründen. Hobbes beschreibt diese Suche nach den möglichen Wirkungen einer gegebenen Ursache folgendermaßen: „Sometime a man desires to know the event of an action; and then he thinketh of some like action past, and the events thereof one after another; supposing like events will follow like actions." Zur Verdeutlichung fügt Hobbes sofort noch ein Beispiel hinzu, bezeichnenderweise und sicher nicht ganz zufällig aus dem Bereich von Kriminalität und Strafrecht: „As he that foresees what wil become of a Criminal, re-cons what he has seen follow on the like Crime before; having this order of thoughts, The Crime, the Officer, the Prison, the Judge, and the Gallowes."30 Bei Lichte besehen besteht dieser Vorgang aus nicht weniger als sechs Einzeloperationen: 1. die Wahrnehmung eines Datums in der Gegenwart, 2. die Projektion dieses Datums in die Vergangenheit, 3. die Analogisierung des Gegenwartsdatums mit einem Datum der Vergangenheit, 4. die Beobachtung einer oder mehrerer Folgen in der Vergangenheit, 5. die Rückprojektion dieser beobachteten Folge in die Gegenwart bzw. gleich in die Zukunft und 6. die wiederum über eine Analogisierung hergestellte Behauptung der Gleichheit zwischen einem noch nicht bestehenden, aber möglichen, ja sogar wahrscheinlichen Datums der Zukunft und einem bestehenden Datum der Vergangenheit. In ihrem inhaltlichen erkenntnistheoretischen Kern werden diese Operationen von zwei Analogisierungen getragen und münden in eine durch Erinnerung angeleitete Annahme über ein mögliches Datum, das erfahrungsgemäß dann eintritt, wenn seine Entstehungsbedingungen denen eines zurückliegenden und bekannten Datums gleichen.31 Diese Vorausprojektion von Vergangenem ist eine „.Praesumtion of the Future ", die Hobbes mit Klugheit 32 identifiziert, sie ist „contracted from the Experience of time Past" 33 und gründet damit in Erinnerung, denn „memory" - und hier bekommt der bereits zitierte Satz seinen eminent praktischen Sinn - „or memory of many things, is called Experience ".34 Vergangenheit wird hier über die
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Vgl. Aristoteles, Über Gedächtnis und Erinnerung (wie Anm. 4), S. 67 ff. Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), m, p. 22. 31 Der Vorgang ist tatsächlich wesentlich bewußter und komplexer als dies Bernd Ludwig unterstellt, der in diesem Zusammenhang von einem „natürlichen, dem direkten menschlichen Zugriff weitgehend entzogenen Assoziationsprozeß" spricht. Bernd Ludwig, Womit muß der Anfang der Staatsphilosophie gemacht werden? Zur Einleitung des Leviathan, in: Wolfgang Kersting, Leviathan (wie Anm. 1), S. 63. 32 Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), m, p. 23. 33 Ebd. 34 Ebd., E, p. 16. 30
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Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
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Erinnerung, über die Erfahrung als dem Plural von Erinnerung, für die Gegenwart und die Zukunft fruchtbar gemacht. Erinnerung wirkt dabei als ein Erkenntnismittel, als ein Mittel zur Hermeneutik der Gegenwart und als Voraussetzung für zukünftiges Handeln. Indem auf diese Weise Erfahrung bzw. Erinnerung eingebracht wird, akkumuliert sich Kompetenz, die sich wiederum in erfolgreiches Handeln umsetzt.
I I I . Wissenschaft und/durch Erinnerung Die mit Hilfe der Erinnerung hervorgebrachte „Praesumtion of the Future" beruht zwar auf Erfahrungen, doch ist sie letztlich nur eine Annahme, deren Angaben über zukünftige Ereignisse notwendigerweise unsicher sind. Abgesehen davon, daß ein Blick in die Zukunft immer eine Fiktion bleibt, macht Hobbes mit dem Hinweis auf die Schwierigkeit, alle Umstände zu beachten,35 zusätzlich darauf aufmerksam, daß das entscheidende und letztlich nicht befriedigend zu lösende Problem die Triftigkeit der Analogiebildungen darstellt. Denn die Analogisierung kann ihre Erkenntnisfunktion nur dann erfüllen, wenn die Umstände der zu analogisierenden Daten einander so ähnlich sind, daß die Analogisierung - also die eigentliche Übertragung - überhaupt sinnvoll ins Werk gesetzt werden kann. Vollständig durchführbar ist dies jedenfalls nicht, denn die Beachtung tatsächlich aller Umstände ist in letzter Konsequenz unmöglich. Weil aber nicht wahrgenommene Abweichungen zu unerwarteten Folgen fuhren können, bleiben erfahrungsbasierte Annahmen stets unsicher. Hinzukommt, daß Erfahrungen - wie umfangreich sie auch immer sein mögen - notwendigerweise immer kontingent bleiben. Erfahrungen sind immer gemachte Erfahrungen, Erinnerungen immer spezifische Erinnerungen, sie sind daher gar nicht in der Lage, die vergangene Wirklichkeit völlig zu erfassen und in ihren Bezügen auszuschöpfen. Allerdings schafft ein Mehr an Erinnerung - also größere Erfahrung - auch größere Sicherheit: d. h. deijenige, der über einen reichen Erfahrungsschatz verfügt ist solcherart klüger und wird von seinen Erwartungen seltener getäuscht, als deijenige, dessen Erfahrungen entweder von geringerem Umfang, oder aber deswegen schlechterdings irrelevant sind, weil sie auf ganz anderen Handlungsfeldern erworben wurden. Dennoch kann auch der Klügste aufgrund seiner Erfahrung nur mutmaßen, völlige Sicherheit ist auch durch größere Erfahrung nicht zu erreichen, Klugheit bleibt letztlich immer unsicher. 36
35 Vgl. Leviathan (ed. Tuck), IE, p. 22. Siehe auch ebd. V, p. 37, wo es heißt: „Signes of prudence are all uncertain; because to observe by experience, and remember all circumstances that may alter the successe, is impossible." 36 Vgl. dazu Bernd Ludwig, der die Unsicherheit der erfahrungsbasierten Annahmen prononciert hervorhebt, indem er festhält, daß „die »Erfahrung' von Regelmäßig-
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Wäre Hobbes Aristoteliker, dann könnte er sich mit diesem Befund zufrieden geben, doch Hobbes geht es um mehr: sein anti-aristotelischer Impetus zielt auf eine wissenschaftliche Grundlegung der praktischen Philosophie, und d. h. auf sichere Regeln („certain rules"), die eine auf Vernunft gegründete Wissenschaft hervorbringt. Daß dabei weder Erinnerung noch Klugheit obsolet werden, wird sich im folgenden zeigen. Hobbes verleiht seinem Wissenschaftsverständnis genauere Konturen, indem er den Unterschied zwischen Empfindung, Gedächtnis, Erfahrung und Klugheit auf der einen Seite und Vernunft und Wissenschaft auf der anderen Seite möglichst scharf herausarbeitet. Schon der Ursprung der beiden (Er)Kenntnisformen kann unterschiedlicher kaum sein: während Empfindung und Gedächtnis als Voraussetzung von Erfahrung und Klugheit bei Hobbes dem Menschen angeboren sind, 37 wird Vernunft dagegen durch Lernen und Fleiß erworben: „first in apt imposing of Names; and secondly by getting a good and orderly Method in proceeding from the Elements, which are Names, to Assertions made by Connexion of one of them to another; and so to Syllogismes, which are the Connexions of one Assertion to another, till we come to a knowledge of all Consequences of names appertaining to the subject in hand; and that is it, men call SCIENCE." 38 Wissenschaft ist nicht wie die Erinnerung nur Kenntnis von vergangenen Tatsachen, „Science is the knowledge of Consequences, and dépendance of one fact upon another". 39 Insofern ist
keiten in der Vorstellungswelt (...) kein Erschließen, sondern bestenfalls ein Erraten erlaubt". Siehe Ludwig, Die Wiederentdeckung des epikuräischen Naturrechts (wie Anm. 18), S. 85. Die zugespitzte Entgegensetzung von „ E r s c h l i e ß e n " und „Erraten" stützt sich im wesentlichen auf das im englischen Text auftauchende Verb „to guess", mit dem Hobbes die erfahrungsbasierte Annahme durch die Art und Weise ihres Zustandekommens charakterisiert. Doch treibt Ludwig die Entgegensetzung zu weit, wenn mit dem,Erraten" die Beliebigkeit gemachter Annahmen unterstellt werden soll. „To guess" läßt sich auch mit „vermuten" oder „schätzen" übersetzen - im lateinischen Text ist mit ähnlicher Semantik von „coniectio" die Rede was viel deutlicher akzentuiert, daß die Mutmaßung sich einer Überlegung verdankt, bei der es sich tatsächlich (s.o.) um ein Schließen handelt, freilich nicht um ein kausales, sondern um ein mit Unsicherheiten behaftetes analogisches Schließen. 37 „There is no other act of mans mind, that I can remember, naturally planted in him, so, as to need no other thing, to the exercise of it, but to be born a man, and live with the use of his five Senses." Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), ID, p. 23. 38 Ebd., V, p. 35. 39 Ebd. Vgl. auch die Definition, die Hobbes von der mit Wissenschaft identifizierten Philosophie in De Corpore vorlegt: „Philosophie ist die durch richtiges Schlußfolgern gewonnene Erkenntnis der Wirkungen bzw. Phänomene im Ausgang vom Begriff ihrer Ursachen bzw. Erzeugungsweisen, und umgekehrt von möglichen Erzeugungsweisen im Ausgang von der Kenntnis der Wirkungen". Thomas Hobbes, Elemente der Philosophie. Erste Abteilung, Der Körper. Übersetzt, mit einer Einleitung und mit textkritischen Annotationen versehen und herausgegeben von Karl Schuhmann, Hamburg 1997, S. 16. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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Wissenschaft durch die Einsicht in kausale Zusammenhänge gekennzeichnet und erlaubt daher die Reproduktion dessen, was in seinem Kausalverhältnis untersucht und solchermaßen erkannt worden ist: „Denn sehen wir, durch welche Ursachen und auf welche Weise etwas zustande kommt, so sehen wir auch, wie wir die gleichen Ursachen veranlassen können, die gleichen Wirkungen hervorzubringen, wenn sie in unsere Gewalt kommen". 40 Die wissenschaftliche Erkenntnis zielt auf einen notwendigen und daher stabil reproduzierbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung, so daß sie schließlich zumindest dem Anspruch nach - genau das zu leisten vermag, was die bloß analogisch verfahrende und daher der Kontingenz unterworfenen Erfahrung nicht kann, nämlich auf der Grundlage von notwendigen Zusammenhängen die Wirkung von einer Ursache ableiten und damit das Eintreten eines Ereignisses unter gegebenen und erkannten Bedingungen voraussagen. Diese Voraussage ist allerdings keine Prophetie. Als Kenntnis von Folgen besteht Wissenschaft immer aus bedingtem und nicht aus absolutem Wissen, das als positives Tatsachenwissen nur über Gegebenheiten der Vergangenheit möglich ist. Die Kenntnisse der Wissenschaft beruhen auf der Einsicht in gegebene Bedingungsgefuge von Wenn-dann-Beziehungen: „but onely, that i f This be, That is; if This has been, That has been; i f This shall be, That shall be". 41 Dabei sind diese Kausalbeziehungen theoretischer Natur, d. h. es geht nicht auf einer unmittelbar sachlichen Ebene um die Folgen eines Dinges für ein anderes, sondern um die Folgen, die sich „aus dem Namen eines Dinges für einen anderen Namen desselben Dinges" 42 ergeben. Als Beispiel führt Hobbes wenig später den Kreis an: Jf the figure showne be a circle, then any straight line throught the Center shall divide it into two equall parts." 43 Weil im Wissenschaftsverständnis von Thomas Hobbes daher alles von Sprache, d. h. von Begriffen und ihren Definitionen, abhängt, erweist sich sein Konzept als nominalistisch, das nur dann nicht zugleich konstruktivistisch ist, wenn über die Benennung eine eindeutige Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant hergestellt wird. Erinnerung wird durch die Wissenschaft nicht einfach obsolet, eher im Gegenteil: die der Erfahrung und der Erinnerung zunächst geradezu entgegengesetzte Wissenschaft kann der Erinnerung unmöglich entgehen. Denn wenn letztere beschreiben will, was aus einer Tatsache für eine andere folgt, dann muß sie immer - wie logisch und formal ihr Schlußverfahren auch sein mag - Tatsachen bzw. Daten unterstellen, die sie letztlich aus der Erinnerung beziehen muß. Erinnerungen bleiben als Darstellung eines Objekts oder Sach-
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Hobbes, Hobbes, Hobbes, Hobbes,
Leviathan (ed. Fetscher), S. 36. Leviathan (ed. Tuck), VH, p. 47. Leviathan (ed. Fetscher), S. 49. Leviathan (ed. Tuck), IX, p. 60.
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Verhalts Grundlage und Material der Wissenschaft, allerdings nicht als bloße und - wie beschrieben - bewegliche Erinnerungen, sondern als sozusagen geronnene Erinnerungen, d. h. als Erinnerungen, deren natürlicher Zerfall aufgehalten wurde, indem die Erinnerungen in einen anderen Aggregatzustand überführt worden sind. Das Medium, mit dem dieser Transformationsprozeß bewerkstelligt wird, ist die Sprache, mit ihrer Hilfe wird die Erinnerung wissenschaftstauglich gemacht. Die Sprache ist - nach Auffassung von Thomas Hobbes, und freilich nicht nur nach seiner - „the most noble and most profitable invention of all other", 44 sie besteht aus Namen oder Benennungen und ihrer Verknüpfung und dient dem Menschen, seine Gedanken zu verzeichnen, sie in Erinnerung zu rufen, wenn sie vergangen sind und sie einander zu gegenseitigem Nutzen und zur Unterhaltung mitzuteilen. Sprache ist damit die conditio sine qua non der menschlichen Vergemeinschaftung: „without which, there had been amongst men, neither Common-wealth, nor Society, nor Contract, nor Peace, no more than amongst Lyons, Bears, and Wolves." 45 Als „Merk- oder Kennzeichen der Erinnerung" 46 ist Sprache ein Mittel der Stabilisierung und Konservierung von Erinnerungen. Indem die Sprache den Dingen und Sachverhalten Namen gibt, werden die Erinnerungen an die Dinge und Sachverhalte benennbar, damit reproduzierbar und kommunizierbar. Die Sprache schafft so die Voraussetzungen für eine Transformation der flüchtigen, d. h. der in Zerfall begriffenen Erinnerung in regelrechtes Wissen: sie hält die Erinnerungen durch Benennung fest und macht sie als Namen, mit denen die Wissenschaft aller erst beginnt, zur Grundlage der Wissenschaft. Insofern hat Wissenschaft auf dieser sachlichen Ebene in letzter Instanz mit ursprünglichen Erinnerungen zu tun, die freilich als Erinnerungen in einem anderen Aggregatzustand genaugenommen keine Erinnerungen mehr sind. Es handelt sich jetzt um Namen, mit denen die Vernunft rechnen kann. Aber auch in einer weiteren Hinsicht kann Wissenschaft bei Hobbes der Erinnerung nicht entgehen. Denn wer Wissenschaft betreiben will muß mit Namen und ihren Bedeutungen umgehen, und das heißt ganz trivial, er muß „sich notwendigerweise daran erinnern, was jeder Name, der von ihm gebraucht wurde, bedeutet",47 um ihn dann in seinem gedanklichen Arbeitsgang an die richtige Stelle zu setzen. Indem der Wissen-
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Leviathan (ed. Tuck), IV, p. 24. Ebd., p. 24. 46 Hobbes, Leviathan (ed. Fetscher), S. 25. „Markes, or Notes of remembrance". Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), IV, p. 25. In De Corpore definiert Hobbes Merkzeichen genauer als „sinnlich wahrnehmbare Dinge, die wir nach Belieben dazu verwenden, daß ihre Wahrnehmung uns Gedanken ins Bewußtsein zurückzurufen erlaubt ähnlich jenen, derentwegen sie verwendet wurden." Hobbes, Der Körper (wie Anm. 39), S. 26. 47 Ebd., S. 28. 45
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Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
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schaftler Namen und ihre Bedeutung erinnert, verdoppelt sich sozusagen das Erinnerungsgeschehen: er erinnert ehemalige Erinnerungen.
IV. Die Unverzichtbarkeit der Klugheit Erinnerungen bleiben also - wenn auch in verwandelter Form - in der Wissenschaft, und zwar als deren Basis, erhalten. Doch auch unverwandelt, sozusagen in ihrer reinen Form, spielen Erinnerungen weiterhin eine wichtige Rolle. Auch wenn die Klugheit nur Erkenntnisse 48 hervorbringt, denen als Vermutungen lediglich ein minderer epistemologischer Rang zukommt, macht die Wissenschaft die Klugheit doch nicht überflüssig. Bei aller Wertschätzung für die theoretisch leistungsstärkere Wissenschaft, wird der praktische Wert und die praktische Bedeutung der Klugheit von Hobbes nicht bestritten. 49 Dies wird bereits in der Gegenüberstellung von Wissenschaft und Klugheit deutlich, mit der Hobbes das fünfte Kapitel des Leviathan beendet. Aufschlußreich ist dabei ein Exempel, mit dessen Hilfe Hobbes die Differenz zwischen Klugheit als Reichtum an Erfahrung und Weisheit als Reichtum an Wissenschaft klarer herausarbeiten will. Er stellt dazu einen Schützen vor, „der eine hervorragende natürliche Anlage zum geschickten Gebrauch seiner Waffen besitzt" und kontrastiert diesen mit einem weiteren Schützen, „der zu dieser Geschicklichkeit noch die Wissenschaft hinzugelernt hat, auf welche Weise er in jeder Haltung oder Auslage treffen oder von seinem Gegner getroffen werden kann". Vergleicht man beide Fähigkeiten, so sind zwar beide „nützlich, aber die letzte ist unfehlbar". 50 Interessant ist das Beispiel nicht zuletzt deswegen, weil Hobbes hier ganz offensichtlich sowohl mit der Sache als auch mit der angemessenen Terminologie kämpft, wobei sich letzteres am undeutlichen Gebrauch des Begriffs „Weisheit" [„Sapience"] ablesen läßt. Zunächst hat es den Anschein, als wolle Hobbes vor allem die Defizite einer zwar nützlichen, 48
Vgl. dazu: Hobbes, Der Körper (wie Anm. 39), S. 16 f.; ders., De Corpore, in: Thomae Hobbes, Opera philosophica quae latine scripsit. Omnia in unum corpus nunc primum collecta studio et labore Gulielmi Molesworth, London 1839, Reprint Aalen 1961, p. 2. 49 Siehe dazu auch Donald W. Hanson, der entgegen der üblichen Lesart die Rolle der Wissenschaft für überbewertet hält und hinsichtlich der Klugheit feststellt: „there is nothing exalted about prudence. But it does not follow that it is unimportant". Donald W. Hanson, Science, Prudence, and Folly in Hobbes's Political Theory, in: Political Theory 21,4 (1993), S. 656. Dagegen behauptet Ulrich Weiß zweifellos zu Unrecht, daß Hobbes die Klugheit kaum ernstnimmt. Vgl. Ulrich Weiß, Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, S. 81 sowie die Fn. 306 auf S. 163, in der Weiß gleichwohl auf funktionale Analogien zwischen Vernunft und Klugheit aufmerksam macht. 50 Hobbes, Leviathan (ed. Fetscher), S. 37 f.; vgl. auch Hobbes, Leviathan (ed. Tuck) V, pp. 36-7.
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letzten Endes aber unsicheren Klugheit demonstrieren, doch macht das Exempel zugleich deutlich, daß erst die Kombination von erfahrungsbasierter Klugheit und theoretischer Wissenschaft den anvisierten Handlungserfolg unfehlbar eintreten läßt. 51 Wodurch an dieser Stelle - mindestens implizit - auf die Unzulänglichkeit einer bloßen Wissenschaft hingewiesen wird: für sich genommen - so belehrt das Beispiel - ist auch die Wissenschaft nicht so ohne weiteres zielführend bzw. erfolgreich. Dieser Eindruck verstärkt sich durch den Satz, mit dem Hobbes in seinen Ausführungen fortfährt, denn nun ist in Ergänzung zu dem Beispiel von jenen die Rede, die nur der „Autorität der Bücher" 52 vertrauen, und diese - so heißt es - „follow the blind blindly". 53 Bemerkenswert an dieser Stelle ist nun zweierlei: zum einen wird hier blindes Vertrauen kritisiert, das - gerade wegen seiner Blindheit - nicht zwischen den in den Büchern niedergelegten wahren und falschen Erkenntnissen unterscheidet, was zur Folge haben kann, daß der blindlings Vertrauende sich in Gefahr bringt - Hobbes führt in diesem Zusammenhang das Beispiel eines Fechters an, der blind den falschen Regeln seines Fechtmeisters folgt. Falls der blind Vertrauende in Anwendung der durch die Buchgelehrsamkeit gelieferten Erkenntnisse dennoch erfolgreich handelt, dann tatsächlich nur aus Zufall, nämlich deswegen weil die angewendeten Erkenntnisse zufällig richtig bzw. der Handlungssituation zufallig angemessen waren. Die Blindheit des Vertrauensseligen verhindert die Reflexion der buchgelehrten Erkenntnisse, so daß weder die Möglichkeit noch die Unmöglichkeit des Gelingens angemessen antizipiert werden kann. Hinzukommt aber - und das wäre der zweite bemerkenswerte Punkt der angeführten Textstelle - daß nicht nur der Vertrauensselige blind ist, sondern auch die Buchgelehrsamkeit selbst, und zwar ist sie dies von vornherein und ungeachtet ihrer bestehenden wissenschaftlichen Qualitäten, d. h. ohne Rücksicht auf die faktische Richtigkeit oder faktische Falschheit ihrer Aussagen. So ist die „authority of books" ganz unabhängig von ihrem tatsächlichen wissenschaftlichen Gehalt wegen der Haltung ihres Rezipienten blind. Insofern kann sie nur dann sehend, d. h. in einer gegebenen Handlungssituation erfolgversprechend und praktisch relevant werden, wenn sie durch ihren Rezipienten reflexiv eingeholt wird. Weil nun Hobbes' Überlegungen zur Begrenztheit der Buchgelehrsamkeit im Kontext der Unterscheidung zwischen Klugheit und Wissenschaft angestellt werden und sich direkt an das Beispiel mit den Schützen anschließen, mit dem Hobbes für eine Kombination von Klugheit und Wissenschaft eintritt, spricht alles dafür, daß die
51 Siehe zur Kombmation von Klugheit und Vernunft auch die vertragstheoretischen Ausführungen von Wolfgang H. Schräder, in: ders., Klugheit und Vernunft. Überlegungen zur Begründung der Hobbesschen Vertragstheorie, in: Philosophisches Jahrbuch 82, 1975, S. 309-322. 52 Hobbes, Leviathan (Fetscher), S. 38. 53 Hobbes, Leviathan (ed. Tuck) V, p. 37.
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Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
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Reflexion der - fur sich gesehen blinden - Buchgelehrsamkeit, d. h. ihre Transformation in relevante Wissenschaft nicht durch eine der Buchgelehrsamkeit korrespondierende theoretische und notwendigerweise abstrakte Wissenschaftlichkeit des Rezipienten bewerkstelligt wird, sondern durch dessen erfahrungsbasierter und praxisorientierter Klugheit. So ist es die Klugheit, d. h. der Reichtum an Erfahrung, der wiederum auf vielen Erinnerungen gründet, die der theoretischen Wissenschaft praktische Relevanz verschafft. Die bloße Wissenschaft mag theoretisch richtig sein, ohne Zutun der Klugheit bleibt sie blind, nämlich praktisch blind. Diese praktische Begrenztheit der Wissenschaft kommt auch an einer anderen Stelle des fünften Kapitels markant zum Ausdruck. Denn obwohl Vernunft als Erkenntnismedium der Wissenschaft immer rechte Vernunft ist, ist sie ungeachtet der sachlichen Richtigkeit ihrer Aussagen nicht imstande von sich aus, d. h. durch eine unmittelbar wirksame Evidenz ihrer theoretischen Sätze, ein hinreichendes Maß an praktischer Sicherheit zu schaffen: „Not but that Reason it seife is alwayes Right Reason, as well as Arithmetique is a certain and infallible Art: But no mans Reason, nor the Reason of any one number of men makes the certaintie". Die theoretische Gewißheit der Vernunft bzw. der Wissenschaft setzt sich nicht ohne weiteres praktisch um. Damit dies geschieht, damit theoretische Richtigkeit zu richtiger Praxis wird, sind die folgenden Vorkehrungen notwendig: „And therfore, as when there is a controversy in an account, the parties must by their own accord, set up for right Reason, the Reason of some Arbitrator, or Judge, to whose sentence they will both stand, or their controversie must either come to blowes, or be undecided, for want of a right Reason constituted by Nature". 54 Damit Vernunft praktisch zur Geltung kommt, wird ihr praktisch dazu verholfen. Dabei muß sowohl die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Vorkehrungen als auch die Einzelheiten ihrer Realisierung nicht notwendigerweise auf eine wissenschaftliche Erkenntnis zurückgeführt werden, sie können auch auf Erfahrung und damit auf Erinnerungen gegründet sein: erinnert würden in diesem Fall Konflikte sowie Lösungen und ihre Erfolgsaussichten und schließlich würden Mittel und Verhaltensweisen erinnert, die für eine erfolgreiche Lösung erforderlich sind. Erinnert würde hier in Rückprojektion und der oben beschriebenen doppelten Analogisierung ein Gerichtshof, der sich als Modell für Konfliktlösungen bewährt hat. Erst mit Hilfe dieser Erinnerungen, also durch erfahrungsbasierte Klugheit, wird die theoretische Gewißheit in praktische „certainty" überführt. Erinnerung erweist sich hier - ungeachtet ihres zunächst erkenntnistheoretischen Ursprungs - als eine eminent praktische Kategorie mit Katalysatorenfunktion für Theorie.
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Hobbes, Leviathan (ed. Tuck) V, pp. 32-3.
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Unverzichtbar bleibt Klugheit - und mit ihr Erfahrung und Erinnerung selbstverständlich auch auf jenen Gebieten, in denen die originäre Funktion der Erinnerung ganz unmittelbar zum Tragen kommt. So bringen sich Erfahrung und Erinnerung überall dort zur Geltung, wo Tatsachenwissen [„Knowledge of Fact"] eine Rolle spielt. Denn Tatsachenwissen ist im Unterschied zu der als Knowledge of the Consequence of one Affirmation to another" gekennzeichneten Wissenschaft nichts anderes als Empfindung und Erinnerung und daher ein Wissen, das typischerweise von einem Zeugen erwartet wird. Tatsachenwissen wird zu Geschichte, sobald es aufgezeichnet wird, und zwar zu ,rNatural History", wenn ihr Gegenstand Daten und Wirkungen der vom menschlichen Willen unabhängigen Natur sind, und „C/v/// History'% wenn von willentlichen Handlungen des Menschen im Staat die Rede ist. 55 Ob nun als historische Kenntnisse oder als Tatsachenwissen aufgrund eigener Erfahrung, die in Klugheit gebündelte Erinnerung setzt sich auf politischer Ebene in Regierungshandeln um und wird etwa - wie Hobbes ausführlich darstellt - durch die Erteilung von Rat eingebracht. Denn die Verwirklichung der Staatsaufgaben - innenpolitischer Friede und Schutz vor auswärtiger Aggression - setzt umfangreiche Kenntnisse voraus, die von der allgemeinen „disposition of Man-kind" über rechtliche und statistische Daten und Gegebenheiten bis hin zu außenpolitischen Einzelheiten reichen und ohne ein großes Maß an Erfahrung nicht aufgeboten werden können. 56 Umfang und Breite der notwendigen Kenntnisse erzwingen Spezialisierungen, so daß die Kenntnisse und Erfahrungen als Rat von Spezialisten nachgefragt werden müssen. Dieser Rat aber stellt die sprachliche Form dar, in der Erfahrungen kommuniziert werden, und Erfahrungen - Hobbes betont dies in seinem „Of Counsell" überschriebenen Kapitel noch einmal - ist nichts anderes „als die Erinnerung an die Folgen von gleichen, früher beobachteten Handlungen". 57 So daß Hobbes schließlich feststellen kann: „to the Person of a Commonwealth, his Counsellours serve him in the place of Memory, and Mentall Discourse." 58 Auf diese Weise wird recht undramatisch die in der Anthropologie des Leviathan entwickelte Erinnerungstheorie für die Staatsphilosophie fruchtbar gemacht.
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Vgl. Hobbes, Leviathan (ed. Tuck) DC, p. 60. Vgl. ebd., XXV, p. 180. Hobbes, Leviathan (ed. Fetscher), S. 199. Hobbes, Leviathan (ed. Tuck) XXV, p. 179.
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Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
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V. Schluß: Hobbes' Erinnerungstheorie und ihre Voraussetzungen Abschließend sind noch zwei eng miteinander verbundene Fragen offen, die einer wenigstens umrißhaften Antwort bedürfen: zunächst stellt sich die Frage nach den historischen Vorlagen, auf die sich Hobbes bei der Formulierung seiner eigenen gedächtnistheoretischen Position bezogen hat. Was dann sogleich zu der Anschlußfrage führt, inwiefern Hobbes' Beitrag zur gedächtnistheoretischen Diskussion eigenständig ist und worin - sachlich gesehen dieser Beitrag genau besteht. Weil die Erforschung der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen philosophischen Gedächtnistheorie über bemerkenswerte Ansätze,59 die allerdings vornehmlich der Gedächtniskunst gewidmet sind, bislang noch nicht hinausgekommen ist, ist das Feld für eine differenzierte Rekonstruktion der theoretischen Vorlagen und Voraussetzungen der Hobbesschen Gedächtnistheorie alles andere als gut bestellt. Dennoch fällt es nicht schwer, im Ausgang von Hobbes' Überlegungen eine Reihe von Referenztexten zu benennen, die zum klassischen Repertoire der gedächtnistheoretischen Diskussion gehören und deren Elemente sich - freilich in modifizierter Form - auch bei Hobbes wiederfinden lassen. Auf zwei Aspekte sei an dieser Stelle in aller Kürze hingewiesen: (1) auf die Verbindung zwischen Erinnerung und Klugheit und (2) auf die produktive Auseinandersetzung mit der Gedächtnistheorie von Aristoteles. Ad (1) Mit der Verbindung zwischen Klugheit und Erinnerung greift Hobbes einen Gedanken auf, der in der gedächtnistheoretischen Literatur bereits über eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition verfugt. Prägnant und wirkungsmächtig 60 hatte bereits Cicero in De inventione diese Verbindung hergestellt. Erinnerung ist bei ihm neben Einsicht (intelligentia) und Voraussicht (Providentia) ein Teil der Klugheit: Erinnerung holt das aus dem Geist hervor, was gewesen ist, die Einsicht erkennt, was ist, und mit Hilfe der Voraussicht sieht man kommen, was noch nicht geschehen ist. Hobbes scheint dem recht nahe zu sein, zumal der bei Cicero an dieser Stelle zugrundliegende Klugheitsbegriff - „Prudentia est rerum bonarum et malarum neutrarumque scienta"61 - die Klugheit als ein Wissen beschreibt, das norma-
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Siehe dazu etwa die wichtige und immer wieder zitierte Arbeit von Francis Yates, The Art of Memory, London 1966, dt. unter dem Titel: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 1999. Sowie Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hrsg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750, Tübingen 1993. 60 Vgl. Yates, Gedächtnis und Erinnern (wie Anm. 59), S. 55 ff. 01 Vgl. M Tullius Cicero, De inventione. Über die Auffindung des Stoffes, in: ders., De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. - De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern. Herausgegeben und übersetzt von Theodor Nüßlein, Düsseldorf, Zürich 1998, S. 320.
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tive Gegenstände zwar mitumfaßt, aber nicht auf sie beschränkt ist und daher sich durchaus mit Hobbes' Erfahrungsbegriff berühren mag, der für seinen Begriff von Klugheit konstitutiv ist. Doch so richtig der Eindruck sein mag, daß die von Cicero konstatierten Teile der Klugheit sowohl in Hobbes' Prudentiabegriff als auch in dessen Erinnerungstheorie insgesamt eine Rolle spielen, so aussichtslos dürfte der Versuch letztlich sein, die einzelnen Theorieelemente des einen Philosophen mit denen des anderen kurzschlüssig zu verbinden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß Hobbes theoretische Motive und vorphilosophische Einsichten aufgreift und im Kontext seiner Theorie mit einer neuen Semantik und einer neuen theoretischen Funktion versieht. 62 Auch wenn Erinnerung sowohl bei Cicero als auch bei Hobbes im wesentlichen als Bezug auf Vergangenes begriffen wird, so ist Memoria bei Cicero faktisch doch etwas anderes als ein Vorgang gleichen Namens, der Teil einer dezidiert materialistischen Psychologie ist. Daß die antike Philosophie dennoch ein reiches Anregungspotential für Hobbes bot, verdeutlicht allerdings auch ein Blick in die Confessiones von Augustinus. Denn hier werden - freilich ohne eine Beziehung zur Klugheit herzustellen - Imaginationen nicht nur produktiv verschränkt, sondern auch mit künftigem Handeln und dessen prospektiven Folgen verknüpft - und zwar genau so, wie dies später bei Hobbes zu lesen sein wird. Es heißt bei Augustinus: „Aus derselben Masse", nämlich aus der Masse von Gedächtnisinhalten, „knüpfe ich mir selber auch immer neue Bilder erlebter oder dem fremden Erlebnis - weil es meinem eigenen entsprach - geglaubter Dinge mit vergangenen zu einem Gefüge und erwäge auf Grund dessen schon künftiges Tun, wie es ausgehen mag, was sich hoffen läßt, und wiederum ist dies alles wie gegenwärtig vor meinem Geiste. ,Das und jenes will ich tun - das und jenes wird die Folge sein4; so spreche ich bei mir in der Meeresweite meiner Seele, wo alles voll von Bildern großer Dinge ist". 63 Mag man hier auch zunächst den Eindruck haben, als fände sich bei Augustinus der gedächtnistheoretische Kern von Hobbes' Erinnerungstheorie vorformuliert, dann betrifft dies doch nur die Oberfläche einer gedächtnistheoretischen Idee nicht aber ihre theoretische Herleitung und Ausführung. Weil hier ganz andere theoretische Voraussetzungen und Zielsetzungen zum Tragen kommen, kann es denn auch kaum verwundern, daß Hobbes für den gedächt-
62 Ganz ähnlich ist übrigens auch Thomas von Aquin vorgegangen, bei ihm finden sich Motive verbunden, die ursprünglich von Aristoteles, Cicero und Augustinus vorgeprägt wurden. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, Pars I M , qu. 47, 16; 48, 1 und 49, 1. 63 Augustinus, Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt am Main 1987, S. 507. Siehe dazu auch Thomas von Aquin, bei dem bereits eine Verbindung von Motiven vorliegt, die von Cicero bzw. Augustinus vorgeprägt wurden. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, Pars II-II, qu. 48, 1 und 49, 1.
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nistheoretischen Piatonismus von Augustinus ebensowenig Verwendung hatte wie für dessen (gedächtnistheoretischen) Subjektivismus, der sich emphatisch in Formulierung wie „ego sum, qui memini, ego animus" 64 artikuliert. Ad (2) Ungleich eindeutiger und wesentlich bestimmter ist Hobbes' Auseinandersetzung mit Aristoteles. Bernd Ludwig hat bereits zu Recht darauf hingewiesen, daß der von Hobbes immer wieder ostentativ vorgetragene Antiaristotelismus ihn mitnichten daran hindert, bis in Einzelheiten hinein den theoretischen Vorgaben des Stagiriten zu folgen. 65 Dies gilt auch für die von Aristoteles entwickelte Gedächtnistheorie - freilich bis zu einer gewissen Grenze, denn die zunächst relativ weitreichenden Gemeinsamkeiten werden schließlich durch markante Differenzen konterkariert, die sich nicht zuletzt auf wissenschaftstheoretischem Gebiet hervortun. Dabei ist folgendes bemerkenswert. Wenn Hobbes die Erinnerung auf der Sinneswahrnehmung basiert und Erfahrung als den Plural von Erinnerungen beschreibt, dann hält er sich sehr genau an die von Aristoteles in verschiedenen Schriften entwickelte Abfolge. Die Behauptung „much memoiy, or memory of many things, is called Experience" scheint sich - freilich mit einer leichten Modifikation - direkt an eine Formulierung anzulehnen, die in der Metaphysik zu finden ist: „Es entsteht aber den Menschen aus der Erinnerung die Erfahrung; denn viele Erinnerungen an ein und denselben Sachverhalt bewirken das Vermögen einer Erfahrung". 66 Und diese Erfahrung wird von der als Weisheit begriffenen Wissenschaft in genau der gleichen Weise abgegrenzt, wie bei Hobbes: Erfahrung ist auch bei Aristoteles im Unterschied zur Weisheit bzw. Wissenschaft ein Wissen von minderer epistemischer Qualität, sie weiß nur um das Faktum, aber nichts über dessen Ursachen: „die Erfahrenen wissen zwar das ,Daß\ doch das ,Weshalb4 wissen sie nicht", 67 dieses Wissen um die Ursachen aber ist spezifisch für das Wissen der Weisheit. Dennoch bedeutet Erfahrung bei Aristoteles nicht dasselbe wie bei Hobbes. Während Aristoteles der Erfahrung ganz ausdrücklich konzediert, eine Form des Denkens zu sein und sie daher im Unterschied zur Erinnerung für Menschen reserviert, ist Hobbes darum bemüht, die bloß sensuelle Erfahrung gegen die rationale Wissenschaft schärfer abzugrenzen: Weder Erinnerung noch Erfahrung unterscheiden den Menschen vom Tier,
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Ebd., S. 524. Vgl. Ludwig, Die Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (wie Anm. 18), S. 136 ff. Prägnant und sicher zu Recht spricht Yves Charles Zarka von einer „double relation de référence et d' opposition à la métaphysique d'Aristote". Yves Charles Zarka , La Décision Métaphysique de Hobbes. Conditions de la Politique, Paris 1987, S. 12. 66 Aristoteles, Metaphysik, 980 b. Hier herangezogene Ausgabe: Aristoteles, Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie. Übersetzt und herausgegeben von Franz F. Schwarz, Stuttgart 1984, 67 Ebd., 981a. 05
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erst durch die Sprache und schließlich die Methode gelangen die natürlichen Fähigkeiten Empfindung, Gedanke und Gedankengang auf ein Niveau, das den Unterschied zwischen Mensch und Tier begründet. Eine ganz ähnlich verlaufende Grenzlinie zwischen den Konzepten von Aristoteles einerseits und Hobbes andererseits ergibt sich, wenn man Hobbes' gedächtnistheoretische Überlegungen im Leviathan mit den Ausführungen vergleicht, die Aristoteles in Über Gedächtnis und Erinnerung anstellt. Zwar sind auch hier zunächst die Übereinstimmungen bemerkenswert, etwa die Erklärung des Gedächtnisses bzw. seines Inhaltes aus der Imagination oder die bereits erwähnten Parallelen zwischen der aristotelischen reminiscentia und der hobbesschen remembrance, doch macht sich gerade an dieser Stelle der oben beschriebene Unterschied wiederum bemerkbar. Denn Aristoteles hält ausdrücklich fest, daß das Sicherinnern deswegen ein exklusives Vermögen des Menschen ist, weil es sich um einen Schluß handelt: „wer sich erinnert, der schließt, daß er so etwas früher schon gesehen oder gehört oder sonst erlebt hat, und dies ist wie ein Suchen. Solches hat aber die Natur denen vorbehalten, denen auch die Gabe zuteil geworden ist, mit sich zu Rate zu gehen; auch dies ist ja eine Art des Schließens".68 Hobbes dagegen betont immer wieder, daß Erinnerung, Erfahrung und selbst Klugheit keine Spezifika des Menschen darstellen, 69 doch beschreibt er zugleich Erinnerungsvorgänge, deren Komplexität - verwiesen sei hier nur auf die oben dargestellte doppelte Analogisierung - einen vergleichsweise hohen intellektuellen Aufwand erfordern. Von daher wird Hobbes kaum in Abrede stellen, daß es Erinnerungsvorgänge gibt, die mit Denken und deren Ergebnisse mit Erkenntnissen zu identifizieren sind, 70 nur und auf diesem Unterschied muß er dann doch bestehen - gedankliche Prozesse sind ausschließlich dann menschlich, wenn sie sprachlich vermittelt und methodisch angeleitet sind. So läßt sich auch hier bei näherem Zusehen feststellen, daß trotz der bemerkenswerten Ähnlichkeiten die Differenzen zwischen Hobbes und Aristoteles schnell offenkundig werden, und am Ende ist dann doch alles anders: die Begriffe von Erfahrung, Klugheit und Wissenschaft ebenso wie die Psychologie und die Anthroplogie. Stellt man von hier aus die Frage nach der eigentlichen Besonderheit der von Hobbes entwickelten Gedächtnistheorie, dann wird man feststellen dürfen, daß Hobbes einen Erinnerungsbegriff stark macht, der als Element sowohl der Erfahrung als auch der Wissenschaft den Ausgangspunkt und das Material für alle mentalen Prozesse darstellt, die über die bloße Empfindung hinausgehen und Dauer beanspruchen. Erinnerung ist damit zu einer Basiskategorie des
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Aristoteles, Über Gedächtnis und Erinnerung (wie Anm. 4), 73 f. Vgl. etwa Hobbes, Leviathan (ed. Tuck), m, p. 23. 70 Vgl. Hobbes, Der Körper (wie Anm. 39), S. 16; ders., De Corpore (wie Anm. 48), S. 2. 69
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Erinnerung und Gedächtnis in der Anthropologie des Leviathan
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Denkens geworden und wird so vor der philosophischen Disqualifizierung bewahrt, die der Erinnerung in der Auseinandersetzung mit den überzogenen Ansprüchen einer technisch verselbständigten und theoretisch belanglosen Mnemonik zumindest zeitweilig drohte. 71
71
Vgl. dazu bereits die Vorbehalte von Michel Montaigne, die dieser 1580 in seinen Essais (De l 'Institution des Enfans) formulierte. Michel Montaigne, Essais. Texte établi et annoté par Albert Thibautdet, Paris 1950, S. 185. Siehe auch die Ausführungen zu Descartes' Kritik an der Gedächtniskunst bei Yates, Gedächtnis und Erinnern (wie Anm. 59), S. 340 f.
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Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan Neue Anmerkungen zum sogenannten ,Strauss-Problem'
Von Gideon Stiening
I. Einleitung Jede Behandlung des Themas „Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan " muß zunächst klarstellen, daß in ihrem Rahmen keineswegs eine abstrahierende Rekonstruktion der theoretischen und praktischen Anthropologie des Thomas Hobbes überhaupt erfolgen kann. Im Gegenteil muß betont werden, daß neben der Analyse und Interpretation der spezifisch anthropologischen Gehalte und Argumentationsbewegungen der Kapitel 1-12 des Leviathan deren Funktion für das rechts- und staatsphilosophische Ganze darzulegen ist. Weniger aus - in letzter Zeit erneut aktuell gewordenen1 - werkgeschichtlichen als vielmehr aus systematischen Gründen, die die Fragen nach einem begründungstheoretischen Verhältnis von Anthropologie und Politik 2
1
Vgl. hierzu Bernd Ludwig , Die Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts. Zu Thomas Hobbes' philosophischer Entwicklung von De cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640-1650, Frankfurt/M. 1998, zur Kritik an diesem Versuch vgl. u. a. Jürgen Sprute , Moralphilosophie bei Hobbes, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), S. 833-853, spez. S. 845 f. 2 Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Ich verwende den Begriff der „Politik" ausschließlich in jenem auch von Hobbes konturierten Verständnis von „Politica" als Rechts- und Staatsphilosophie (vgl. hierzu die auf S. 59 zitierte und in Anm. 12 nachgewiesene Passage aus De corpore ). Eine sich im 18. Jahrhundert mit diesem Terminus ereignende allmähliche begriffliche Verselbständigung im Hinblick auf eine spezifisch an Klugheit gebundene Praxis des Regierens (vgl. hierzu u. a. Merio Scattola , Politisches Wissen und literarische Form im Goldenen Spiegel Christoph Martin Wielands, in: Scientia Poetica 5 (2001), S. 90-121, spez. S. 96 ff. sowie Klaus-Gert Lutterbeck , Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht, StuttgartBad Cannstatt 2002) oder als eine von Kant sogenannte „ausübende Rechtslehre" (vgl. hierzu u. a. Volker Gerhard , Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Gerhard Schönrich u. Yasushi Kato (Hrsg.), Kant in der Diskussion der Moderne,
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Gideon Stiening
im allgemeinen betreffen, muß eine Auseinandersetzung mit diesem Textteil eine andere sein als die mit De homine. Zwar sind die Ausführungen zur theoretischen und praktischen Anthropologie in De homine mit denen im Leviathan sachlich weitgehend identisch, zudem stehen auch sie als Teil des Systems der Elementa philosophiae in einem funktionalen Zusammenhang; doch ist De homine eben nicht integraler Bestandteil von De cive, sondern als Anthropologie ein eigenständiges Werk. Hobbes' Ausfuhrungen zur Empfindung, zur Einbildungskraft, zur Vernunft und den Leidenschaften stehen 1651 unter der politphilosophischen Gesamtüberschrift Leviathan, 1658 aber unter dem anthropologischen Titel De homine\ es muß sich also die Frage nach einer ggf. unterschiedlichen begründungstheoretischen Funktion stellen.3 Die nachfolgende Beschäftigung mit dem ersten Teil des Leviathan zielt mithin soweit möglich auf die Beantwortung der Frage, ob - und wenn ja, in welcher Weise - den anthropologischen Ausfuhrungen des ersten Teils der Schrift eine konstitutive Funktion für die Begründungstheorie der Naturzustands-, Vertrags- und Staatskonzeption im Leviathan zukommt, und darüber hinaus, ob das Verhältnis von Anthropologie und Rechtsphilosophie in Hobbes' philosophischer Systematik überhaupt ein grundlegendes ist oder sein kann bzw. muß. Zur Erörterung dieser Frage wird es sich als ratsam erweisen, zwischen der subjektiven Ab- bzw. Ansicht des Thomas Hobbes über das Verhältnis jener Systemteile und den Gegenständen der ihnen entsprechenden Wissenschaften einerseits sowie dem in seinen Text ausgeführten objektiven Gehalt desselben andererseits zu unterscheiden. Die expliziten Aussagen Hobbes' zu diesem Sachverhalt verunmöglichen nämlich jenen einfachen Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik, nach dem „gilt, daß das Selbstverständnis des Autors den wichtigsten Zugang zu seinem Werk eröffnet". 4 Zwar scheint insbesondere durch die berühmten Passagen der Einleitung des Leviathan sowie deren Illustration durch das Titelblatt 5 zweifelsfrei geklärt, daß für Hobbes schon die physische Anthropologie das entscheidende
Frankfurt/M. 1996, S. 464-488) wird hier ausdrücklich mit diesem Begriff nicht verbunden. 3 Zu Recht schreibt Bernd Ludwig:' „Für das Verständnis des Leviathan wird [...] die Frage zu beantworten sein, warum Hobbes [...] am demonstrativen Charakter der ,Philosophie vom Staate' als einer auf die Ethik gegründeten Politik festhalten kann." Bernd Ludwig: Womit muß der Anfang der Staatsphilosophie gemacht werden? in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates [Klassiker Auslegen 5], Berlin 1996, S. 5581, hier S. 62. 4 So Wolfgang Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 22002, S. 67. 5 Vgl. hierzu die aufschlußreichen Erörterungen von Reinhard Brandt, Das Titelblatt des Leviathan, in: Kersting (Hrsg.), Thomas Hobbes (s. Anm. 3) S. 29-53. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan
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„Systemzentrum" 6 ausmachte, in dem die Begriffe, Kategorien und Grundsätze auch der Staatstheorie ermittelt werden: ,,For by Art is created that great LEVIATHAN call a COMMON-WEALTH, or STATE (in latine CIVITAS), which is but an Artificial Man; though of greater stature and strength than the Naturall, for whose protection and defence it was intended; and in which the Soveraignty is an Artificial Soul , as giving life and motion in the whole body; The Magistrates and other Officers of Judicature and Execution, artificial Joynts\ Reward and Punishment (by which fastned to the seate of the Soveraignty every joynt and member is moved to performe his duty) are the Nerves , that do the same in the Body Natural; The Wealth and Riches of all the particular members are the Strength ; Salus Populi (the peoples safety) is Businesses Counsellors , by whom all things needfull for it to know, are suggested unto it, are the Memory: ; Equity and Lawes , an artificiall Reason and Will\ Concord, Health ; Sedition , Sicknesse ; and Civil war , Death" 1 Das ist doch in aller etwas angestrengten Bildlichkeit eindeutig: die physische Anthropologie in Form der Anatomie dient hier nicht nur als Voraussetzung, sondern sie ist die Begriffs- und Kategorienlieferantin - mithin die Wissenschaft - für eine Bestimmung der Funktionszusammenhänge des Staates. Dennoch zeigt sich schnell, daß es Hobbes mit diesem Bild vor allem darum ging, den Begriff der Individualität und (künstlichen) Personalität 8, d. h. eine in sich differenzierte Einheit, auf den Staat applizieren zu können. Der hoch anschaulichen und einflußreichen Verknüpfung von natürlichem und künstlichem Körper kommt daher aufgrund der erheblichen Unterschiede in Logik und Systematik der genauen Gehalte der internen Organisation beider Körper ein rein metaphorische Status zu; sie hat letztlich rein illustrativen Charakter. Gut 130 bis 150 Jahre später wird ein spätaufklärerischer und romantischer staatstheoretischer Organizismus 9 diese enge Korrelation von 6
So die wichtigste These der einflußreichen Monographie von Ulrich Weiß, Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart 1980, S. 77-166, spez. S. 94 ff; vergleichbar auch Julien Freund, Anthropologische Voraussetzungen zur Theorie des Politischen bei Thomas Hobbes, in: Udo Bermbach u. Klaus-M. Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit. LEVIATHAN - Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, Opladen 1982, S. 107-122. 7 Thomas Hobbes, Leviathan, ed. by Richard Tuck, Cambridge 1991, Introduction, p. 9; die Seitenangaben werden zumeist im Text vermerkt. 8 Vgl. hierzu - wenngleich mit anderer Ausrichtung - Wolfgang Kersting, Der künstliche Mensch. Vertrag und Souveränität in der Hobbesschen Staatsphilosophie, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Der Leviathan, Baden-Baden 2000, S. 67-95; sowie Quentin Skinner , Hobbes and the purely artifical person of the state, in: ders., Visions of Politics Volume 3: Hobbes and Civil Science, Cambridge 2002, pp. 177-208. 9 Vgl. hierzu die Ausführungen von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Organismus, Organisation, politischer Körper [spez. VI-IX], in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1978, Bd. IV, S. 561-622; sowie die Arbeit von Ethel Matala de Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg 1999; zu Hegels https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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menschlichem Körper und Staat als begriffliche zu erfassen suchen - allerdings, und an diesem Vergleich läßt sich die Besonderheit der Hobbesschen Passage ablesen, basiert jene romantische Identifizierung von natürlichem Organismus und Staat nicht, wie bei Hobbes, auf einem allgemeinen Mechanismus, der natürliche wie künstliche Körper zu Erscheinungsweisen einer universellen, durch Kausalität determinierten Bewegung erhebt, sondern auf einem spezifisch - nämlich alles Mechanistische abstrakt ausschließenden organologischen Verständnis von Ganzheit; zudem kommt dieser Korrelation keineswegs, wie bei Hobbes, ein metaphorischer 10, d. h. ein rein illustrativer Status zu, sondern der eines normativen Begriffs - schon für Herder und Schiller, wie erst recht für Adam Müller soll der Staat einem natürlichen Organismus entsprechen. Nun wird allerdings die rein illustrative Identifizierung von Anthropologie und Politik, die schon im weiteren Verlauf der Einleitung des Leviathan präziser zu einem Verhältnis der Voraussetzung herabgestimmt wird, weil [who has] „to govern a whole nation must read in [...] mankind", ausgerechnet in De homine weitgehend zurückgenommen; denn in der Epistola dedicatoria schreibt Hobbes: sectione hac de Homine solvi tandem fidem meam. Habes enim Philosophiae mae qualiscunque in omni genere Elementa prima. Contigit autem sectione huic, ut duae partes ex quibus constat sint inter se dissimilliae. Est enim altera difficillima, altera ficillima; altera demonstrationibus, altera experientia constans; altera a paucis, altera ab omnibus intelligi poest. Itaque conjunguntur quasi ad praecipitium. Sed necessarium erat, ita scilicet postulante totius operis methodo. Homo enim non modo corpus naturale est, sed etiam civitatis, id est (ut ita loquar) corporis politici pars. Quamobrem considerandus erat tum ut homo tum ut civis; id est, ultima physicae cum principiis politicae conjungenda erant [...]."'11 ,ABSOLUTA
Mit einem der Argumentation aus der Einleitung des Leviathan geradezu entgegengesetzten Aussagegehalt scheint aber diese Passage ebensowenig Zweifel über das Verhältnis von (physischer) Anthropologie und Politik bestehen zu lassen: beide seien ungleichartig (dissimilis), ja sie seien gleichsam nur durch einen Abgrund (Praecipitium) verbunden.
Kritik an diesem romantischen Organismusverständnis vgl. Michael Wolff,\ Hegels staatstheoretischer Organizismus. Zum Begriff und zur Methode der Hegeischen ,Staatswissenschaft4, in: Hegel-Studien 19 (1985), S. 147-177. 10 Zur - gleichwohl problematischen, weil nicht vollständig reflektierten - Metaphorik des Vergleiches mit Hilfe von Körperbegriffen vgl. Horst Bredekamp , Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 16512001, Berlin 22003. 11 Hobbes Thomas , De homine, Epistola dedicatoria, in: Thomae Hobbes Malmesburiensis Opera philosophica quae Latina scripsit omnia. Studio et labore Guilielmi Molesworth, London 1839-1845, vol. II, p. IL https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan
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Hobbes hat sich noch an anderen Stellen seines Werkes und in anderen Zusammenhängen zu diesem Verhältnis von Anthropologie und Politik geäußert. So scheinen in De corpore (1655) die oben zitierten, sich widersprechenden Positionen zum Verhältnis beider Wissenschaften, die sich auf zwei Texte aufteilen und deren Widersprüchlichkeit damit ggf. entwicklungsgeschichtlich aufzulösen sind, in einem Werk vereint. Denn in Kap. I, 9 (De Philosophiae) heißt es ausdrücklich: „Philosophiae partes principales duae sunt. Corporum enim generationes proprietatesque quaerentibus duo corporum quasi summa genera maximeque inter se distincta sese offerunt. Unum, quod a natura rerum compaginatum, appelatur naturalem alterum, quod a voluntate humana conventionibus pactionibusque hominum constitutum, civitas nominatur. Hinc itaque oriuntur primo duae partes Philosophiae, Naturalis et Civilis . Deinde vero, quia ad cognoscendas civitatis proprietates necessarium est, ut hominum ingenia, affectus, mores ante cognoscantur, Philosophia civilis rursus in duas partes scindi solet, quarum es quae ingeniis moribusque tractat, Ethica , altera, quae de officiis civium cognoscit, Politica sive Civilis simpliciter nominatur."12 Nicht nur wird in diesen Eingangspassagen des naturphilosophischen Werkes über den Begriff des Körpers eine enge Verbindung zwischen den äußersten ,Elementen' der Philosophie, der Natur und dem Staat, hergestellt, es wird auch explizit ausgeführt, daß es „zur Erkenntnis der Eigenschaften des Staates notwendig ist, vorher die Sinnesarten, Affekte und Sitten der Menschen zu kennen", mithin theoretische und praktische Anthropologie eine notwendige Voraussetzung darstellen. 13 Im berühmten Methodenkapitel des gleichen Werkes (Kap. VI) führt Hobbes allerdings aus: ,,Philosophia civilis morali ita adhaeret, ut distrahi ab ea possit; cognoscuntur enim causae motuum animorum non modo ratioconatione, sed etiam uniuscujusque suos ipsius motus proprios observantis experientia. Atque ob eam rem non solum ii qui metjodo synthetica a primis Philosophiae principiis ad scientiam cupidatum perturbationumque animorum semel pervenerint, progrediendo eäm via incident in causas et necessitatem constituendarum civitatum, scientiamque acquirent juris naturalis officiorumque civilium, et in omni genere civitatis, quod juris ipsi debetur civitati, et caetera, quae philosophiae civilis propria sunt, propterea quod principia Politivae constant ex cognitione motuum animorum, cognitio autem motuum animorum ex
12
Thomas Hobbes, De corpore. Elementorum Philosophiae Sectio Prima. Édition critique, notes, appendices et index par Karl Schuhmann, Paris 1999, hier I, 9, p. 1721-32, dazu Ludwig, Anfang der Staatsphilosophie (s. Anm. 3), S. 55. 13 Vgl. auch die sachlich identische, berühmte Formulierung aus den Elements of Law I, 1 : „The true and perspicuous explication of the Elemets of Law, Natural and Politic, which is my present scope, dependeth upon the knowledge of what ist human nature, what is a body politic, and what it is we call a law." Thomas Hobbes, The Elements of Law, Natural and Politic. Ed with an Introduction by John C. A. Gaskin, Oxford/New York 1994, S. 21. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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Gideon Stiening scientia sensuum et cogitationum, sed etiam illi, qui priorem partem Philosophiae, nimirum Geometriam et Physicam non didicere, ad principia tarnen Philosophiae civilis methodo analytica pervenire possunt."14
Nun wird die zu Beginn dieser Passage behauptete (zumindest relative) Autonomie der Staatsphilosophie zwar in der weiteren Folge insofern erneut präzisierend abgeschwächt, als zwar die „Physik" und damit die theoretische Anthropologie, d. h. die Erkenntnislehre, ihres Voraussetzungscharakters für eine jede Staatstheorie verlustig geht, nicht aber die Theorie der „Gemütsbewegungen" d. h. die praktische Anthropologie der Affektenlehre, die für Hobbes auch in dieser Passage den Ausgangspunkt der Politik darstellt. In welchem Verhältnis stehen nun also nach Hobbes Anthropologie und Politik, sind sie durch einen Abgrund getrennt oder bilden sie das begründungstheoretische Verhältnis von notwendiger Voraussetzung und systematischem Resultat aus? Zur Beantwortung dieser Frage scheint es allerdings unzureichend, mithilfe eines - wenngleich komplexen - Rekurses auf die methodologischen Differenzierungen des Thomas Hobbes die unterschiedlichen Festlegungen des genannten Verhältnisses zu erläutern, so wie dies Bernd Ludwig versuchte, indem er die These von der relativen Autonomie der Politik als ein Produkt der Methodik erfahrungsakkumulierender Analysis bezeichnete. Nur der Ausgang der Politik bei einer Theorie des Menschen sei nach Hobbes mit dem Status einer der Wissenschaft fähigen, mithin demonstrativen Synthesis zu verknüpfen. 15 Doch verhält es sich sowohl in der oben zitierten zweiten Passage aus De corpore als auch in der Vorrede der zweiten Auflage von De cive selbst die Ludwig ausschließlich für die These der methodisch gewonnenen Unabhängigkeit aller Staatstheorie von der Anthropologie in Anspruch nimmt, durchaus anders: Zwar schreibt Hobbes schon 1647 ausdrücklich, „ut quae ordine ultima esset (nämlich die Staatsphilosophie des De cive), tempore tarnen prior prodierit; praesertim cum eam principiis propriis experientia cognitis innixam, praecedentibus indigere non viderem." 16 Doch wird diese scheinbare Unabhängigkeit der Politik von der Anthropologie durch eine vorhergehende Passage desselben Vorwortes konterkariert: „Nam ex quibus rebus quaeque res constituitur, ex iisdem etiam optime cognoscitur. [...] Ita in jure civitatis, civiumque officiis investigandis opus est, non quidem ut dissolvatur civitas, sed tarnen ut tanquam dissoluta consideretur, id est, ut qualis sit natura humana, quibus rebus ad civitatem compaginandam apta vel inepta sit, &
14
De corpore VI, 7 (s. Anm. 12), p. 6226-633. So Bernd Ludwig, Scientia civilis more geometrico - Die philosophische Methode als architektonisches Prinzip in Hobbes' Leviathan, in: Hobbes Studies VHI (1995), S. 46-87, spez. S. 72 ff; vgl. auch ders., Anfang der Staatsphilosophie (wie Anm. 3), spez. S. 71 ff. 16 Thomas Hobbes, De cive. The Latin Version. A critical edition by Howard Warrender, Oxford 1983, pp. 82-3. 15
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Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan
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quomodo homines inter se componi debeant, qui coalescere volunt, recte intelligatur." 17 Wenn man aber zur Bestimmung des Staates erkennen muß, „wie die menschliche Natur geartet ist", dann ist der der Politik „vorhergehende Teil", eben die ,Anthropologie', systematisch für die Staatsphilosophie unabdingbar. Bedarf es nun des „vorgehenden Teils" oder bedarf es seiner nicht? Widerspricht sich Hobbes also schon 1647 allein innerhalb eines Vorwortes?
IL Das sogenannte Strauss-Problem in der Forschung Nicht erst Ludwig hat mit seinem - mir unzureichend erscheinenden - Vorschlag, die offenbar gleichzeitige Behauptung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit zwischen Anthropologie und Politik sei durch die rein methodologische Differenzierung von erfahrüngsakkumulierender Analysis und demonstrativer Synthesis zu erläutern, auf diese in den Texten des Thomas Hobbes selbst verborgene Problematik reagiert. Die Forschung kennt dieses „klassische Problem" 18 und seine Lösungen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit erheblich differierenden systematischen Optionen seit längerem. Schon Leo Strauss - seit 1987 Namensgeber dieses nun sogenannten „Strauss-Problems" 19 - hatte unter Aufnahme eines werkgeschichtlichen Argumentes von Georg Croom Robertson 20 1936 festgestellt: „Nun ist nicht schwer zu sehen, daß diese [mechanistische] Psychologie keineswegs die notwendige Voraussetzung der Hobbes'schen Politik ist." 21 Das heißt allerdings nicht, daß Strauss der Überzeugung gewesen wäre, neben der hier angesprochenen theoretischen sei auch die praktische Anthropologie für die politische Theorie unerheblich gewesen; im Gegenteil war
17
Ebd. (s. Anm. 16), Praefatio, pp. 79-80. Bernard Willms , Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan, München/Zürich 1987, S. 244 f. 19 Ebd., zum Inhalt sowie dem forschungsgeschichtlichen und systematischen Stellenwert dieses sog. Strauss-Problems vgl. u. a. Michael Esfeld y Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von Thomas Hobbes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 285; Ludwig , Scientia civilis more geometrico (s. Anm. 15), S. 72-74; Ludwig , Anfang der Staatsphilosophie (s. Anm. 3), S. 77; Ludwig , Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1), S. 47; Kersting , Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 76. 20 Zu diesem Zusammenhang vgl. Ludwig , Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1), S. 47. 21 Leo Strauss , Hobbes' politische Wissenschaft in ihrer Genesis (1936/1965), in: ders., Hobbes' politische Wissenschaft und zugehörige Schriften - Briefe, hrsg. von Heinrich und Wiebke Meier [Gesammelte Schriften, Bd. HI], Stuttgart/Weimar 2001, S. 3-192, hier S. 15. 18
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Strauss der Ansicht, daß wichtige Elemente einer praktischen Anthropologie so unter anderem Todesfurcht und Selbsterhaltung - zur Formierung eines „moralischen Fundaments" von „Hobbes' Politik" 2 2 unerläßlich seien. Es ging Strauss vor allem darum, die politische Wissenschaft sowie Teile der praktischen Anthropologie von den metaphysischen, methodischen und methodologischen Ausführungen 23 des Hobbesschen Systems abzulösen und zwar - wie angedeutet - mithilfe entwicklungsgeschichtlicher Argumente, nach denen die mechanistische Ontologie aus De corpore erst nach der Politik entfaltet worden und deshalb für deren Begründungsleistung unerheblich sei. Bekannt ist die eigentlich weltanschauliche Ausrichtung der Ausführungen Straussens, die auf eine - auf religionsphilosophischen Gründen basierenden 24 - Kritik an der Autonomie und damit Haltlosigkeit der Hobbesschen Staatskonzeption abzielt. 25 Man kann sich von diesem aufklärungskritischen Widerlegungsgestus ebenso wie von den werkgeschichtlichen Instrumentarien verabschieden 26 und dennoch mit Strauss die allgemeine Frage nach der „Einheit von Hobbes' Philosophie" 27 konkretisieren als Frage nach dem Verhältnis der unterschiedlichen Systemteile seiner Philosophie - und genau dies ist seither getan worden. Dabei ist forschungsgeschichtlich zum einen die Infragestellung des begründungstheoretischen Verhältnisses von mechanistischer Ontologie und Psychologie insbesondere durch Bernard Gert einflußreich geworden, für den als ausgemacht gilt, „tliat Hobbes's psychology is almost completely independent of his mechanism" 28 , oder wie es nahezu 30 Jahre nach dieser Formulierung in einem neueren Text Gerts heißt: „In both works (Lev Ch. 6 and D. H. ch. 13), once Hobbes has the concepts of appetite and aversión, pleasure an4 pain, his account of the individual passions
22
Ebd., S. 42. Vgl. dazu ebd., S. 149 ff. sowie u. a. Kersting , Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 76. 24 Vgl. dazu Leo Strauss , Die Religionskritik des Hobbes. Ein Beitrag zum Verständnis der Aufklärung (1933/34), in: ders., Hobbes' politische Wissenschaft und zugehörige Schriften (s. Anm. 21), S. 263-373. 25 Vgl. hierzu jetzt Heinrich Meier , Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss, Stuttgart/Weimar 2003. 26 Was Strauss im übrigen hinsichtlich der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive offenbar selbst unternahm, wie Heinrich Meier , Einleitung, in: Strauss , Hobbes' politische Wissenschaft und zugehörige Schriften (s. Anm. 21), S. VÜ-XXXVIII, spez. S. XXI f., Anm. 37 belegen kann. 27 So die Formulierung bei Esfeld , Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 253-97, spez. S. 280 ff. 28 Bernard Gert , Hobbes and psychological Egoism, in: Journal of the History of Ideas XXVm (1967), pp. 503-520, hier.p. 503. 23
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completely ignores the relation between human behavior and his materialist philosophy. Diese These läßt sich allerdings widerlegen, 30 wie weiter unten vor allem in bezug auf den Leviathan zu zeigen sein wird; sie spielt auch im Rahmen der Forschungsdebatten eine untergeordnete Rolle. Kontroverser - wenn auch kaum je in offener Konfrontation 31 - wird zum anderen in der neueren Forschung die Frage nach dem begründungstheoretischen Verhältnis von Anthropologie und Politik beantwortet. Dabei wird die These einer konstitutiven Voraussetzung der Anthropologie für die systematischen Resultate der Rechts- und Staatstheorie ebenso explizit nachgewiesen wie auch die Gegenthese einer weitgehenden Unabhängigkeit der Staatsphilosophie von der Anthropologie ebenso ausdrücklich herausgearbeitet wird. Die Annahme Bernard Willms' aus dem Jahre 1987, das von ihm sogenannte „Strauss-Problem" habe sich mit der umfassenden Arbeit von Ulrich Weiß 32 „zugunsten eines engen Zusammenhangs von Methode und Politik in einer strikten Gesamtsystematik entschieden",33 erwies sich spätestens mit der Publikation von Geismann/Herb als verfrüht. 34 In seiner erweiterten und damit präzisierten
29
Bernard Gert, Hobbes's psychology, in: Tom Sorell (ed.), The Cambridge Compendium to Hobbes, Cambridge 1996, S. 157-174, hier p. 160. 30 Vgl. hierzu u. a. Tommy L. Lott, Hobbes's mechanistic Psychology, in: J. G. van der Bend (ed.), Thomas Hobbes. His View of Man, Amsterdam 1982, pp. 63-76; Christine Chwaszcza, Anthropologie und Moralphilosophie im ersten Teil des Leviathan, in: Kersting (Hrsg.), Thomas Hobbes (s. Anm. 3), S. 55-107, hier S. 91; sowie Jürgen Overhoff, Hobbes' Lehre von der Unfreiheit des Willens. Ihre innere Logik, ihr politischer Zweck und ihr historischer Kontext, in: Politisches Denken, Jahrbuch 2001, S. 105-133, hier spez. S. 106 ff und ders., Hobbes's Theory of the Will. Ideological Reasons and Historical Circumstances, New York/Oxford 2000, pp. 11 ff. 31 Ausnahmen bilden die Texte von Bartuschat und Cramer (s. Anm. 39 und Anm. 101) sowie Franz Hespe, Rezension von Wolfgang Kersting: Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 1992 und Dieter Metzger: Thomas Hobbes und die englische Revolution. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 48 (1994), S. 480-484; vgl. auch Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 320 ff. 32 Weiß, Das philosophische System (s. Anm. 6). 33 Willms, Thomas Hobbes (wie Anm. 18), S. 245. 34 Vgl. Georg Geismann u. Karlfriedrich Herb, Einleitung, in: Hobbes über die Freiheit. Widmungsschreiben, Vorwort an die Leser und Kapitel I-IH aus „De Cive" (lateinisch-deutsch). Eingeleitet und mit Scholien, hrsg. von Geismann, Georg und Herb, Karlfriedrich, Würzburg 1988; als spätester Zeitpunkt wird diese Publikation von 1988 angegeben, weil Geismann schon 1982 seine Thesen öffentlich machte; vgl. Georg Geismann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, in: Der Staat 21 (1982), S. 161-189. Zu Recht weist Geismann in seinen Publikationen (in allerdings zuweilen schwer erträglicher hagiographischer Manier) darauf hin, daß die von ihm entfaltete Position in ihren Grundzügen schon von Julius Ebbinghaus entwickelt wurde, vgl. Julius Ebbinghaus, Die Idee des Rechts, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Georg Geismann und Hariolf Oberer, Bonn 1988 ff., Bd. 2, S. 141-198. In https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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Form des in Frage stehenden Verhältnisses von Anthropologie und Politik ist das sogenannte Strauss-Problem des Verhältnisses von Methode und Politik in der Hobbes-Forschung seit den 1980er Jahren aktueller denn je. Auffällig ist dabei zunächst die terminologische Vielfalt, mit der die weitaus größere Fraktion der Voraussetzungsbefürworter die begriffslogische Dimension des von ihnen behaupteten engen Korrelationsverhältnisses fixieren: Da wird von „Voraussetzung", 35 „Grundlage" 36 oder auch von „Fundament" 37 bzw. „foundation" 38 gesprochen, die die Anthropologie der Politik bereitstelle, auch eine „anthropologische Basis" 39 der Politik wird angenommen. Hinter dieser terminologischen Vielfalt zeigt sich jedoch eine weit eindeutigere begriffliche Konstellation: gemeint ist jeweils, daß die Anthropologie notwendige Bedingungen für die Naturrechts- und Staatstheorie bereitstelle. Für Wolfgang Bartuschat besteht dieses Bedingungsverhältnis allerdings in beiderlei Richtungen, denn „Anthropologie und Politik verschränken sich wechselseitig".40 Christine Chwaszcza weitet das begriffslogische zu einem wissenschaftsdisziplinären bzw. -theoretischen Verhältnis aus, wenn sie ausführt: Die Anthropologie ist Grundlagenwissenschaft für die politische Philosophie.41 Und in der schon mehrfach zitierten Arbeit von Ulrich Weiß streift die Anthropologie gar ihren reinen Voraussetzungscharakter ab und wird zum eigentlichen Resultat erklärt: die Anthropologie des Thomas Hobbes wird in den Status eines „Systemzentrums" 42 erhoben. Der terminologischen und argumentationslogischen Vielfalt liegt allerdings eine geringere Breite damit verbundener systematischer Annahmen zugrunde.
seiner spezifischeren Variante des problematischen Verhältnisses von Anthropologie und Politik ist das sogenannte Strauss-Problem mithin in Wahrheit ein EbbinghausProblem. 35 Freund , Anthropologische Voraussetzungen (s. Anm. 6), passim. 36 Wolfgang Rod , Die Philosophie der Neuzeit 1. Von Francis Bacon bis Spinoza [Geschichte der Philosophie VII], München 21999, S. 165 u. S. 169. 37 Kersting , Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 101, Chwaszcza , Anthropologie und Moralphilosophie (s. Anm. 30), S. 83. 38 Simone Goyard-Fabre , Right and Anthropology in Hobbes's Philosophy, in: van der Bend (ed.), Thomas Hobbes (wie Anm. 30), S. 17-30, hier S. 18. 39 So Wolfgang Bartuschat , Anthropologie und Politik bei Thomas Hobbes, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Thomas Hobbes: Anthropologie und Staatsphilosophie, Freiburg/Schweiz 1981, S. 19-38 sowie Frank Grunert , Nonnbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 2000, spez. S. 109 f. 40 Bartuschat , Anthropologie und Politik (s. Anm. 39), S. 20. 41 Chwaszcza , Anthropologie und Moralphilosophie (s. Anm. 30), S. 89. 42 Weiß, Das philosophische System (s. Anm. 6), S. 94 ff. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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In seltenen Fallen wird mit dem Voraussetzungsargument verbunden, daß schon die theoretische Anthropologie unverzichtbare Theorieelemente für die Politik entfalte, so bei Jürgen Overhoff: „Ein sicheres Wissen um die Möglichkeit geistiger Kräfte ist jedoch unverzichtbar und geradezu die Voraussetzung einer tragfahigen Lehre bürgerlicher Rechte und Pflichten." 43 Dieses an den Elements of Law entwickelte, sachlich gegen Strauss und Gert gewendete und auf „die Darstellung des politischen Zwecks der Hobbesschen Lehre von der Unfreiheit des Willens" 4 4 abzielende Argument wird aber an Häufigkeit weit übertroffen von der These einer engen, d. h. notwendige Bedingungen formulierenden Verbindung von praktischer Anthropologie und Politik. Grob skizziert wird hierbei die natürliche Affekten- und Wertsetzungskonstitution des Menschen als Grund für das bellum omnium contra omnes im Naturzustand gesetzt;45 die Mangelhaftigkeit des letzteren sei nur durch den mit Zwangsgewalt ausgestatteten Staat in einen Friedenszustand zu transformieren. 46 Im Hinblick auf die den Naturzustand als Kriegszustand realisierenden Affekte und Werte geht es zumeist um Hobbes' Begriffe der Furcht, 47 der Macht 48 und vor allem seinen als Naturrecht inthronisierten Begriff der Selbsterhaltung 49 Recht und Staat werden in dieser Interpretationstradition, die zumeist alle drei zentralen Begriffe der praktischen Anthropologie aufnimmt, sie nur in unterschiedlicher Weise verbindet und akzentuiert, fünktionalistisch zu notwendigen Kompensationsinstrumenten der mangelhaften Natur des Menschen erklärt. 50 Die lange Tradition dieser Hobbes43
Overhoff, Unfreiheit des Willens (s. Anm. 30), S. 108. Ebd., S. 113. 45 Paradigmatisch hierfür vgl. Strauss , Hobbes' politische Wissenschaft (s. Anm. 21), S. 129 ff. sowie Hermig Ottmann , Thomas Hobbes: Widersprüche einer extremen Philosophie der Macht, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Der Mensch - ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, S. 68-91; und Chwaszcza , Anthropologie und Moralphilosophie (s. Anm. 30), passim. 46 Siehe Weiß , Das philosophische System (s. Anm. 6), S. 201-231. 47 Vgl. hierzu u. a. Strauss , Hobbes' politische Wissenschaft (s. Anm. 21), S. 131 ff.; Freund , Anthropologische Voraussetzungen (s. Anm. 6), S. 115 ff, sowie Esfeld , Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 299 f. 48 Vgl. hierzu u. a. Weiß, Das philosophische System (s. Anm. 6), S. 94-131; Bar tuschat, Anthropologie und Politik (s. Anm. 39), S. 26 f., Chwaszcza, Anthropologie und Moralphilosophie (s. Anm. 30), S. 104-106; Kersting, Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S, 86-90; sowie Sprute, Moralphilosophie bei Hobbes (s. Anm. 1), S. 835 ff. 49 Vgl. hierzu Otfried Höffe, Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung? Zum Theorie-Praxis-Verhältnis in Thomas Hobbes Staatsphilosophie, in: Bermbach u. Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit (s. Anm. 6), S. 30-64; sowie Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), spez. S. 298-332. 50 So ausdrücklich Bartuschat, Anthropologie und Politik (s. Anm. 39), S. 20 ff, der von „anthropologischen Defizite[n] cc spricht. 44
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Interpretation kann sich in der Tat auf berühmte Passagen aus dem Leviathan berufen: „The final Cause, End, or Design of men (who naturally love Liberty and Dominion over others,) in the introduction ofthat restraint upon themselves, (in which we see them live in Commonwealths,) is the foresight of their own preservation, and of a more contented life thereby, that is to say, of getting themselves out from that miserable condition of Warre, which is necessarily consequent (as hath been shewn) to the naturall Passions of men, when there is no visible Power to keep them in awe, and tye them by feare of punishment to the performance of their Covenants, and observation of those Lawes of Nature [...]." 51 Diese die Hobbessche Anthropologie zumeist als pessimistische Lehre vom Menschen verstehende Position, die das von Hobbes eigentlich für interstaatliche Relationen geprägte Bild vom „homo homini lupus" 52 auf den Naturzustand grundsätzlich verallgemeinert, hat seit den 1960er Jahren im Rahmen der von Blumenberg ausgelösten Säkularisierungs- und Modernitätsdebatte, 53 die u. a. am Begriff neuzeitlicher Selbsterhaltung 54 ausgetragen wurde, nachhaltige Unterstützung erfahren. Im Zusammenhang dieser - gar nicht an spezieller Hobbes-Interpretation interessierten - Forschungsdiskussion firmierte Hobbes' Philosophie, und zwar auch seine politische Philosophie, als eine genuin anthropologische Konzeption: , Aber Hobbes hat den neuen Staatsbegriff nicht aus politischen Argumenten hergeleitet. Er gewann ihn aus einer Anthropologie, welche die traditionelle Lehre vom Menschen ebenso grundlegend veränderte wie seine Staatslehre die antike politische Philosophie.' Es sind diese starken Argumente, gegen die eine weiter unten zu skizzierende Gegenposition sich zu profilieren hatte. Nun läßt sich jedoch noch eine weitere Begründungstheorie fiir ein durch Hobbes' Theorie konstituiertes not51
Leviathan XVII1, p. 117.
52
Vgl. De cive: Epistola Dedicatoria, ed. Warrender (s. Anm. 16), p. 73; dabei wird bei dieser Interpretation der Anthropologie des Thomas Hobbes als pessimistischer zumeist das gleichursprüngliche „Homo homini Deus" (ebd.) unterschlagen. 53 Zur Darstellung dieser Debatte vgl. u. a. Gideon Stiening, Verweltlichung der Anthropologie im 17. Jahrhundert? Von Casmann und Magirus bis Descartes und Hobbes. In: Lutz Danneberg, Sandra Pott, Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800, Berlin/New York 2002, S. 174-218. 54 Vgl. Gerhard Ebeling (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M. 1976; sowie die exzellente Reflexion und Anwendung der Ergebnisse jener Debatte durch Martin Mulsow, Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance, Tübingen 1998. 55 Dieter Henrich, Die Grundstruktur moderner Philosophie, in: ders., Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, S. 83-108, hier S. 83. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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wendiges Bedingungsverhältnis zwischen Anthropologie und Politik isolieren: Eine markante Formulierung jener These, es sei eine methodologische Begründung für die Annahme einer konstitutiven Bedeutung der Anthropologie des Thomas Hobbes für dessen Politik zu konstatieren, findet sich bei Wolfgang Kersting: „Hobbes' politische Philosophie muß aufgrund ihrer methodischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen sich ein anthropologisches Fundament geben, eine Theorie der menschlichen Natur entwickeln, die sowohl ein leistungsfähiges politikphilosophisches Argument stützen und dem engeren Beweisziel der politischen Philosophie zuarbeiten kann als auch mit den allgemeinen theoretischen Positionen des Hobbesschen Systems in Obereinstimmung stehen muß."56 Anthropologie als Voraussetzung der Politik ist nach dieser Auffassung zunächst und zumeist Resultat des methodologischen Universalismus der resolutiv-kompositiven Methode, deren wissenschafitsgarantierender Charakter Hobbes dazu verpflichtete, das Gesamtphänomen des Staates in seine Einzelteile zu zergliedern und diese sodann auf ihre Beschaffenheit hin zu analysieren. „Omni methodo commune est hoc, ut procedatur a cognitis ad cognita; id quod manifestum est ex allata Philosophiae definitione. In cognitione autem sensuum totum phaenomenon notius est quam quaelibet pars ejus [...]. Itaque in cognitione TOD OTi sive quod est initium quaerendi est a tota idea. Contra, in cognitione xou 810x1 sive in cognitione causarum, id est, in scientiis, notiores sunt partium causae quam totius. Componitum enim causa totius ex causis partium, componenda autem prius cognosci necesse est quam compositum. Per partes autem hoc loco intelligo non partes ipsius rei, sed partes naturae ejus [...]." 57 Es ist diese Methode - unabhängig von ihrer Herkunft 58 die den natürlichen Menschen zum ,matter of states* (Leviathan, Introduction, p. 10) macht, dessen Analyse und damit eine Anthropologie erzwingt. Ganz konsequent kann Kersting zeigen, daß die von Aristoteles inaugurierte Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie durch Hobbes' Wissen-
56
Kersting, Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 100. De corpore VI, 2 (s. Anm. 12), p. 58i3-26: vgl. hierzu, Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiehistorischen Schemas, Paderborn 1996, S. 107; Ludwig, Anfang der Staatsphilosophie (s. Anm. 3), S. 67. 58 Spätestens mit der Arbeit von Jan Prins, Hobbes and the School of Padua: two incompatible approaches of science, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 72 (1990), S. 26-46 ist die strenge Anbindung der Hobbeschen Methodik an Zabarella eigentlich problematisch geworden (vgl. aber Kersting, Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 54) und differenzierten Rekonstruktionen gewichen. Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung bei Ludwig, Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1), S. 109 ff. 57
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schaftsverständnis 59 in einer übergreifenden Konzeption des mos geometricus aufgehoben ist: „Hobbes führt Geometrie, Physik und Moral bzw. Politik als Teile der einen homogenen Philosophie auf Die für seine Wissenschaftskonzeption charakteristische Vorrangigkeit der Methode unterläuft die bei Aristoteles ontologisch begründete Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie, so daß Moral und Politik neben Geometrie und Physik als gleichartige philosophische Wissenschaften auftreten können."60 Nun stellt sich allerdings die Frage, ob die zunächst rein methodologisch gewonnene Notwendigkeit einer Anthropologie ausschließlich und genau dieser Erfordernis gemäß aufgeführt worden ist oder aber diese Wissenschaft über ihren Voraussetzungscharakter hinaus entwickelt wurde. Darüber hinaus muß selbstverständlich die systematische Einlösung des methodischen Postulats überprüft werden. Hinsichtlich der ersten Frage hat schon Lucien Freund differenzierend behauptet: „Hobbes entwickelt eine ganze Reihe von Themen, die keine direkte Beziehung zu seiner politischen Theorie haben. Es gibt also in der Anthropologie Voraussetzungen, die dazu dienen werden, die politische Philosophie zu begründen und andere Voraussetzungen, die später keine Rolle mehr spielen. Infolgedessen und obwohl es richtig ist, daß die Anthropologie die allgemeine Voraussetzung der politischen Philosophie bildet, ist es nur eine begrenzte Anzahl von anthropologischen Themen, die als Voraussetzung seiner politischen Theorie dienen."61 Die Durchführung des methodischen Postulats einer Anthropologie als Voraussetzungswissenschaft für die Rechts- und Staatstheorie entwickelt mithin nach dieser Auffassung eine spezifische Eigendynamik, die in bezug auf die Hobbessche Wissenschaft von der Natur des Menschen zu einer partiellen gehaltlichen und disziplinaren Autonomie führt. Diese These wurde und wird in der Forschung vehement bestritten: Man kann nämlich auch die Annahme nachweisen, daß die in der politischen Philosophie entfalteten Begriffe, Kategorien und Grundsätze in struktur- und sachrelevanter Weise die Anthropologie des Thomas Hobbes konstituieren, die erst in dieser politisch präformierten Weise zugleich ihren Voraussetzungscharakter erhält; ähnlich der erst kürzlich herausgearbeiteten grundlegenden Funktion politiktheoretischer Konzeptionen für die Naturgeschichte und
59 Vgl. dazu auch Kersting , Erkenntnis und Methode in Thomas Hobbes Philosophie, in: Studia Leibnitiana XX (1988), S. 126-139, spez. S. 128 f. 60 Kersting , Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S., 51; vgl. zur methodologischen Einheit des Hobbesschen Systems im mos geometricus auch Kersting , Erkenntnis und Methode (s. Anm. 59), S. 128, Geismann u. Herb , Einleitung (s. Anm. 34), S. 15 f. sowie Ludwig , Scientia civilis more geométrico (s. Anm. 15), passim, spez. S. 75. 61 Freund , Anthropologische Voraussetzungen (s. Anm. 6), S. 115.
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Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan
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Anthropologie Buffons knapp 100 Jahre später. 62 Hobbes' Anthropologie wäre dann keine politische, sondern eine politisierte Anthropologie, 63 von der man aufgrund der „Gleichsetzung von Politik und Psychologie" mit Peter Burke festhalten könnte, „that psychology can be reduced to politics". 64 Daß sich diese Frage durchaus stellt, läßt sich zunächst an einzelnen, gleichwohl berühmten oder wenigstens einflußreichen Bestimmungsleistungen der Anthropologie im Leviathan belegen. So zeigt die dort vorgestellte, vor allem im 18., aber auch bis ins 20. Jahrhundert zu einer anhaltenden Kontroverse 65 führende Definition des Lachens 66 - gerade in ihrer Beschränkung die Grundlegungsfunktion des Herrschafts- bzw. Bellum-Gedankens für genuin anthropologische Gehalte: ,.JSudden Glory is the passion which maketh those Grimaces called LAUGHTER, and is caused either by some sudden act of their own, that pleaseth them, or by the apprehension of some deformed thing in another, by comparison whereof they suddenly applaud themselves. And it is incident most to them, that are conscious of the fewest abilities in themselves; who are forced to keep themselves in their own favour, by observing the imperfections of other men. And therefore much Laughter at the defects of others, is a signe of Pusillanimity."67 Das ist eine ebenso falsche, weil reduktive Definition des Lachens, 68 wie sie ganz offenbar durch das naturzuständliche Organisationsprinzip des ständig vergleichenden Überlegenheits- bzw. Machtstrebens und -kampfes überlagert ist. Weil das Lachen einzig als erkenntnisstiftende Erscheinungsform bzw. Instrument in jeder um „Macht" bemühten Auseinandersetzung bestimmt wird 62 Annette Barkhaus, Vom ,Mängelwesen' zum Herrscher über Mensch und Tier. Eine Analyse der Anthropologie Buffons, in: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie IV (1997), S. 197 ff. 63 Vgl. hierzu erneut Overhoff.\ Unfreiheit des Willens (s. Anm. 30), S. 120: „Der politische Zweck der Hobbesschen Lehre von der Unfreiheit des Willens ist also die Mahnung, stets dem öffentlichen Urteil des absoluten Souveräns Folge zu leisten und nicht das eigene Gewissen als Maßstab öffentlichen Handelns zu gebrauchen." 64 Vgl. hierzu Overhoff.\ Unfreiheit des Willens (s. Anm. 30), S. 105-133, hier spez. S. 108, Anm. 16. 65 Vgl. dazu Lothar Fietz, „Versuche" einer Theorie des Lachens im 18. Jahrhundert: Addison, Hutcheson und Beattie, in: Lothar Fietz, Joerg O. Fichte u. Hans-Werner Ludwig (Hrsg.), Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens, Tübingen 1996, S. 239-251. 66 Zum Folgenden vgl. auch David Heyd , The Place of Laughter in Hobbes's Theory of Emotions, in: Journal of the History of Ideas 43 (1982), pp. 285-295; Quentin Skinner , Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, Cambridge 1996, pp. 390-396; sowie ders ., Hobbes and the classical theory of laughter, in: ders, Visions of Politics (s. Anm. 8), pp. 209-237. 67 Leviathan VI, p. 43. 68 Vgl. hierzu u. a. Joachim Ritter, Ober das Lachen (1940), in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt/M. 1974, S. 62-92.
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- fast schon kann man eine frühe Variante Nietzschescher Moralitätskritik des Lachens heraushören: das Lachen als Instrument der Schwächeren scheint es unabweisbar zu sein, daß die Bestimmungen des Naturzustandes diesem ,anthropologischen 4 Gegenstand als Erklärung zugrundegelegt werden. Und noch ein zweites 69 - sowohl zeitgenössisch als auch im Rahmen spezifischer Forschungsdebatten des 20. Jahrhunderts bemerkenswertes - Beispiel für eine scheinbar politiktheoretische Grundlegung der Anthropologie des Leviathan möchte ich hier nennen: Im Rahmen seiner Überlegungen zum Traum, von dem Hobbes sagt, daß er durchaus zu den schwierigsten Gegenständen einer Psychologie zu rechnen ist, 7 0 liefert er nicht nur eine herrschaftsfunktionale Genealogie der Religion überhaupt. 71 sondern - eher en passent - auch eine Zurückweisung des Hexenglaubens; und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem beispielsweise England, das zwar „eine vergleichsweise milde und begrenzte Form der Hexenverfolgung" erlebte, dennoch gerade „ i n den 1640er Jahren eine umfangreiche Hexenjagd" zu verzeichnen hatte, aber auch in Deutschland und Frankreich der Höhepunkt dieser Pogrome noch keineswegs überschritten war. 7 2 Und nicht nur im Hinblick auf die Erklärung jenes Phänomens (des Hexen- und Magieglaubens), sondern auch bezüglich der Bedeutung seiner Kritik legt Hobbes im Rahmen seiner Anthropologie nahezu rein politische Kriterien zugrunde: „For as for Witches, I think not that their witchcraft is any reall power, [...]. If this superstitious fear of Spirits were taken away, and with it Prognostiques from Dreams, false Prophecies, and many other things depending thereon, by which, crafty ambitious persons abuse this simple people, men would be much more fitted than they are for civil Obedience."73 Wenn ich richtig sehe, hat die hier nur an Einzelelementen der Hobbesschen Anthropologie exemplifizierte These einer weitgehenden Grundlegung nicht allein der Lehre von der Natur des Menschen, sondern gar des gesamten philosophischen Systems auf die politische Philosophie, d. h. vor allem den 69 Ein weiteres Beispiel nennt, unter Verweis auf De homine X, 3, Chwaszcza, Anthropologie und Moralphilosophie (s. Anm. 30), S. 87 f., wenn sie Hobbes These von der Leistungsfähigkeit der Sprache aufgrund der durch sie garantierten Möglichkeit, „zu befehlen und Befehle verstehen zu können" als Annäherung von Hobbes' Sprachphilosophie und seiner politischen Philosophie interpretiert. 70 Vgl. Leviathan II, p. 17: „And hence it cometh to passe, that it is a hard matter, and by many thought impossible to distinguish exactly between Sense and Dreaming." 71 Leviathan n, p. 18: „From this ignorance of how to distinguish Dreams, and other strong Fancies, from Vision and Sense, did arise the greatest part of the Religion of the Gentiles in time past [...]." Vgl. hierzu auch die sachlich vergleichbaren Ausführungen in De corpore XXV, 9 (s. Anm. 12), pp. 27425-276n. 72 Vgl. hierzu Brian P. Levack, Hexenjagd. Geschichte der Hexenverfolgung in Europa, München 21999, S. 176 ff., spez. S. 188. 73 Leviathan n, pp. 18-9.
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„Einbruch eines staatsrechtlichen Ideals in die Logik", aber auch die Naturphilosophie, zuerst Ernst Cassirer vorgetragen. 74 Cassirer spricht von einem „Widerstreit, der sich durch alle Teile von Hobbes' System hindurchzieht", und der „ i n einem eigentümlichen Grundzug seiner Geistesart [wurzelt]: Überall ist es das Recht und die Selbstgesetzgebung der Vernunft, die er verficht [...]". 7 5 In einer funktionalistischen Variante, die auf der Annahme beruht, Willkür sei die entscheidende Grundlage allen Nominalismus', hat dieses enge Korrelationsverhältnis von Politischer und Naturphilosophie u. a. Robert P. Kraynak ausgeführt, indem er behauptete, letztere - die Naturphilosophie - sei ausschließlich den Erfordernissen der Politischen Philosophie gemäß ausgeführt worden. 76 Allerdings läßt sich wie schon gegen die methodologische These des ausschließlichen Voraussetzungscharakters der Anthropologie auch gegen diese systematische These des vollständigen Resultatcharakters der Anthropologie aus den Prämissen der Politik Lucien Freunds Beobachtung von der - wenigstens - partiellen Unabhängigkeit und Funktionslosigkeit spezifischer Theorieelemente der Anthropologie von der Politik anführen; welche funktionale bzw. resultative Stellung in bezug auf die Politik Hobbes' logisch, anthropologisch und wissenschaftstheoretisch bedeutenden Ausführungen zum „privileg of Absurdity" (Leviathan V, p. 34) haben sollen, ist nämlich wenig ersichtlich, bzw. nicht nachweisbar. Eine vollständige Anbindung der Inhalte der Anthropologie des Leviathan an den politischen Teil desselben ist weder als Voraussetzung noch als Resultat durchführbar. Nun zeigte sich aber seit den 1980er Jahren eine weitere Position 77 als beweisbar und tragfähig, die jenen Thesen einer vollständigen Verknüpfung von Anthropologie und Politik (sei es als Voraussetzung, sei es als Resultat) nicht bedurfte, um eine grundlegende Revision der Interpretation des Leviathan vorzutragen; laut dieser Position war schon die These einer nur partiellen Voraussetzungsfunktion der Anthropologie zurückzuweisen. In
74 Ernst Cassirer , Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Darmstadt 1991 [EA, Berlin 1907 ff.], Bd. II, S. 56, S. 69. 75 Ebd., S. 69. 76 Robert P. Kraynak , History and Modernity in the Thought of Thomas Hobbes, Ithaca 1990, S. 131 ff., S. 188 f.; siehe auch Richard A. Talaska , The unity of Hobbes's philosophy: Knowing as making, in: Hobbes-Studies 5 (1992), pp. 90-120. Zur Kritik an dieser These der Überformung der Anthropologie durch die politische Philosophie vgl. Wolf gang Hübener , Ist Thomas Hobbes Ultranominalist gewesen? in: Studia Leibnitiana IX/1 (1977), S. 77-100; Kersting , Erkenntnis und Methode (s. Anm. 59), S. 130; Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S., 286, Anm. 102; Ludwig. , Anfang der Staatsphilosophie (s. Anm. 3), S. 69; Ludwig , Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1), S. 78. 77 Vgl. hierzu die Literaturangaben in Anm. 34.
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ihrem Kommentar zu De cive faßten Georg Geismann und Karlfriedrich Herb ihre zentrale These von einer systematisch vollständigen „Unabhängigkeit" der Politik in De cive von jeglicher „Anthropologie" - sei es in De homine, sei es im Leviathan - wie folgt zusammen , J)ie rein rationale Argumentation, die Hobbes mit seinem rechtstheoretischen Konstrukt des Naturzustandes vorträgt und die zur Begründung der juridischen Notwendigkeit eines die natürliche Freiheit einschränkenden Staates führt, bedarf keiner systematisch entfalteten »Anthropologie4, wie Hobbes sie in ,De homine4 (wie auch in den ,Elements of Law' und in ,Leviathan4 im unmittelbaren Kontext seiner Staatsphilosophie) vorträgt und dem systematischen Gesamtplan entsprechend voranstellt.4478 Das wirkte und wirkt skandalös; hatte Strauss die Gehalte der theoretischen Anthropologie für kontingent im Hinblick auf die Gestalt der Politik bezeichnet, so verwirft diese Position auch die praktische Anthropologie als unerläßliche Voraussetzung für die Legitimität und Organisationsstruktur des Staates, allerdings - wie im obigen Zitat schon anklang - mit Ausnahme einer gewichtigen Bestimmung: „Zum Beweis der prinzipiellen Möglichkeit von Rechtskonflikten und der prinzipiellen Unmöglichkeit ihrer Lösung bedarf es keiner über die Annahme der äußeren Freiheit hinausgehenden Bestimmung der Natur des Menschen.4479 Die Behauptung einer streng rechtslogischen Deduktion bzw. Deduzierbarkeit der rechts- und staatstheoretischen Demonstrationen der Hobbesschen Politik einzig auf der Grundlage der Prämisse von der Möglichkeit der äußeren Freiheit des Menschen führt zu einer vehementen Kritik der unterschiedlichen Varianten jener oben vorgestellten Gegenposition: ,Allen diesen Interpretationen ist die Annahme gemeinsam, Hobbes' Rechtsphilosophie basiere auf ganz bestimmten anthropologischen Voraussetzungen. Damit aber wird der Blick auf dessen eigentliche rechtsphilosophische Pioniertat von Anfang an verstellt." 80 Letztere besteht jener Position gemäß in der Deduktion des Staates als einer die individuellen Interessen übergreifenden Zwangsgewalt aus dem Widerspruch einer als Prämisse gesetzten äußeren Freiheit des Einzelnen und deren heuristischen Universalisierung im negativen Ideal des Naturzustandes, speziell in dem dort notwendig geltenden „ius in omnia". 81 Es sei die „innere Widersprüchlichkeit des Zustandes des natürlichen Rechts" 82 , die als Aus-
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Geismann u. Herb , Einleitung (s. Anm. 34), S. 22. Ebd., S. 25. 80 Georg Geismann, Die Grundlegung des Vernunftstaates der Freiheit durch Hobbes, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 229-266,230, Anm. 4. 81 Geismann u. Herb , Einleitung (s. Anm. 34), S. 24. 82 Ebd., S. 263. 79
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gangspunkt einer rein juridischen Ableitung 83 hinreiche. Als grundlegend für diese rationale Rekonstruktion des allgemeinen Kriegszustandes und der Notwendigkeit seiner Überwindung gilt das Argument aus De cive I, 13: „Quicumque igitur manendum in eo statu censuerit, in quo omnia liceant omnibus, contradicit sibimet ipsi; nam vnusquisque naturali necessitate bonum sibi appétit, neque est quisdam qui bellum istud omnium contra omnes, quod tali statui naturaliter adhaeret, sibi existimat esse bonum."84 „Die Auflösung dieses Selbstwiderspruches gehört zur Konstruktion des politischen Rechtszustandes", so schon Hans Blumenberg. 85 Der Staat erhält mit dieser Ableitung die Funktion einer Realisationsinstanz menschlicher Freiheit; er begrenzt diese nicht mehr, weil er die handlungswirksamen Leidenschaften des Menschen unter die Kontrolle einer allgemeinen Macht zu zwingen in der Lage ist. Umgekehrt garantiert einzig der mit Zwangsgewalt ausgestattete Staat die Möglichkeit, die Ausübung äußere Freiheit als widerspruchsfreie zu verwirklichen. Tatsächlich ist dieses (Re)Konstrukt der Hobbesschen Theorie von jener alternativen Annahme einer Funktionalität des Staates im Hinblick auf die „Mangelhaftigkeit des Menschen" 86 streng unterschieden. Nicht nur weist diese Position die Annahme einer pessimistischen Anthropologie des Thomas Hobbes zurück, indem sie ausführt: „ I n Wirklichkeit ist für Hobbes nicht nur generell der Mensch nicht von Natur aus böse; sondern auch speziell der böse Mensch ist es nicht einfach von Natur"* 1 Vor allem kann und muß die schon im 18. Jahrhundert übliche kritische Alternativkonzeption zu Hobbes,88 die - wie in wohl einflußreichster Weise Rousseau in seinem Discours sur VOrigine et les Fondemens de l'Inégalité
83 Zur Kritik dieser Rekonstruktion des Hobbesschen Beweisgangs vgl. Esfeld , Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 320, es gehört zu den erstaunlichen Tatsachen der Wissenschaftsgeschichte, daß diese klare und ebenso einfache Einsicht Blumenbergs, die schon eine Einsicht von Julius Ebbinghaus war (Die Idee des Rechts (s. Anm. 34), S. 160 ff.), von der analytischen Tradition der Hobbes-Forschung nicht einmal zur Kenntnis genommen wird; vgl. hierzu - in Aufnahme älterer Thesen jüngst: Andreas Hüttemann , Naturzustand und Staatsvertrag bei Hobbes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 58.1 (2004), S. 29-53. 84 De cive I, 13 (s. Anm. 16), pp. 96-7. 85 Hans Blumenberg , Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/M. 1988, S. 250. 86 So Bartuschat , Anthropologie und Politik, (s. Anm. 39), S. 21; zur ausdrücklichen Kritik hieran vgl. Dieter Hüning , Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, Berlin 1998, S. 53. 87 Geismann, Die Grundlegung (s. Anm. 80), S. 230, vgl. auch Geismann u. Herb , Hobbes über die Freiheit (s. Anm. 34), Scholion 177. 88 Vgl. hierzu u. a. Horst Dreitzel , Hobbes-Rezeptionen. Zur politischen Philosophie der frühen Aufklärung in Deutschland, in: Politisches Denken 2001, S. 134-174.
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parmi les Hommes 89 - an den vermeinten anthropologischen Grundlagen ansetzte, als vergebliche Mühe der Kritiker der Hobbesschen Theorie zurückgewiesen werden, weil „sie ihr eine andere Theorie der ,nature of man4 entgegensetzten - ohne Bewußtsein dafür, daß die Hobbessche Rechtslhzoris auf dieser ,Basis4 nicht zu schlagen ist, weil sie derer nicht bedarf. 4490 Ausgehend von der einzigen Notwendigkeit der Annahme äußerer Freiheit für eine gelingende rechtslogische Deduktion hat im Anschluß an Geismann und Herb auch Dieter Hüning ausgeführt, daß der i n den Elements of Law, im Leviathan und De homine je entwickelten Anthropologie zwar eine „problemkonstitutive 44, nicht aber eine „problemlösungsrelevante 44 Funktion für das rein rechtstheoretisch zu rekonstruierende Lehrstück vom Naturzustand und seiner Überwindung zukomme. 91 Im Hinblick auf diese sogenannte „geltungstheoretische Revolution des Thomas Hobbes 4492 , die ins Zentrum der hier betrachteten Frage nach dem Verhältnis von Anthropologie und Politik führt, hält Geismann zusammenfassend fest: „Die rein rationale Deduktion der Notwendigkeit des Staates ist die Hobbessche Revolution im rechtsphilosophischen Denken. Zum ersten Mal ist ohne jeden Rekurs auf Erfahrung, vor allem ohne jeden Rekurs auf irgendeine empirische Natur des Menschen, folglich ohne jede anthropologische Voraussetzung, apriori, nämlich aus der juridischen Widersprüchlichkeit des natürlichen Zustandes der Menschheit staatliche Herrschaft durch ihre Notwendigkeit mit Bezug auf die Idee des Rechts legitimiert worden." 93
rein
In aller Deutlichkeit entfaltet diese Interpretationslinie ihre Gegenposition gegenüber sowohl einer systematischen als auch einer methodologischen Begründung für die notwendige Voraussetzungsfunktion der Anthropologie hinsichtlich der Hobbesschen Politik. Dazu werden die in jener Gegenkonzeption zentralen Begriffe der praktischen Anthropologie bezüglich ihres begründungstheoretischen Status für die Deduktionen des Politischen ausdrücklich depotenziert. Sowohl die „Furcht 4494 als auch die „Macht 44 bzw. das unbezwingbare Streben des Menschen nach Macht 9 5 wie insbesondere die schein-
89 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l'inégalité. Eidtion Meier. 3. Auflage, Paderborn 1993, zur Kritik an Hobbes vermeintlich pessimistischer Anthropologie vgl. hier u. a. S. 136-138, sowie Meiers Kommentar hierzu in Scholion 173 u. ö. 90 Geismann u. Herb, Einleitung (s. Anm. 34), S. 26. 91 Hüning, Freiheit und Herrschaft (s. Anm. 86), S. 53, Anm. 59. 92 Ebd., S. 42-51. 93 Geismann, Die Grundlegung (s. Anm. 80), S. 263; Hvhb. von mir. 94 Vgl. u. a. Geismann u. Herb, Hobbes über die Freiheit (s. Anm. 34), Scholion 169, 177, 183; Geismann, Die Grundlegung (s. Anm. 80), S. 233. 95 Ebd., S. 234.
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bar grundlegende „Selbsterhaltung" 96 werden aus dem rein juridischen Deduktionsgang explizit ausgeschlossen, d. h. als für diesen überflüssig nachgewiesen.97 Konnten die Vertreter einer Grundlegung der Politik in der praktischen Anthropologie aber problemlos angeben, warum denn der Leviathan nicht nur faktisch mit einem ersten anthropologischen Teil begann, sondern - aus systematischen bzw. methodologischen Gründen - auch beginnen mußte, so wird es den Interpreten der Politik des Thomas Hobbes als einer rein rechtslogisch-rationalen Begründungstheorie durchaus beschwerlich zu erklären, daß die Eröffnung des Leviathan lautet: „Part I: Of Man". Dem möglichen Einwand, die These von der systematischen Irrelevanz der Anthropologie für die rechtstheoretische Begründungstheorie sei vor allem als Kommentar zu De cive formuliert worden, wird explizit entgegengetreten: „Die konziseste und stringenteste Fassung der hier erörterten Gedankengänge findet sich in Hobbes' Schrift De cive , die hier denn auch vornehmlich zum Leitfaden dient. Im späteren, mitten im Bürgerkrieg in offensichtlich politischer' Absicht und fast beschwörender Weise an das englische Publikum gerichtete Leviathan hat Hobbes daran nichts Wesentliches geändert."98 Und eines der wichtigsten Momente der dort erörterten Gedankengänge ist eben jene „hobbessche, von aller Anthropologie unabhängige Erkenntnis von der juridischen Unheilbarkeit des Naturzustandes infolge des Rechts des privaten Schwerts "." Gerade weil sich diese Formulierung auch und vor allem auf Kant bezieht, kann festgehalten werden, daß Geismann - ebenso die anderen Vertreter jener Position 100 - mit diesem Gedanken systematische Ansprü-
96 Vgl. Geismann u. Herb , Hobbes über die Freiheit (s. Anm. 34), Scholion 190, 200; dies., Einleitung (s. Anm. 34), S. 24; Geismann, Die Grundlegung (s. Anm. 80), S. 262 f.; Hüning , Freiheit und Herrschaft (s. Anm. 86), S. 65-82, spez. S. 81 f. 97 In seiner letzten großen Arbeit zu Hobbes hat Geismann (Die Grundlegung (s. Anm. 80), S. 262-267) die strikte Zurückweisung der systematischen Bedeutung der Selbsterhaltung modifiziert. Zwar bleibt es dabei, daß an sich Hobbes Leistung darin besteht, eine rein juridische Deduktion des Rechts aus dem Naturzustand und dessen juridischen Widersprüchen ermöglicht zu haben, doch anerkennt Geismann nunmehr, daß Hobbes selbst die Selbsterhaltung als „materialen Zweck" (265) der Staatsrechtslehre aufgefaßt habe, was zu jenem Konzept eines „schlechterdings rechtswidrig[en] [...] Unterwerfungsvertrages" (264) geführt habe. 98 Ebd., S. 229, Anm. 3; Hvhb. im Text. 99 Georg Geismann, Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die klassische Naturrechtslehre - besonders in ihrer christlichmittelalterlichen Version - wiederzubeleben, in: Jahrbuch für Politik 5 (1995), S. 141177, hier S. 159. 100 Zum Anspruch zumindest teil weiser systematischer Geltung der Hobbesschen politischen Philosophie insbesondere im Hinblick auf eine Lösung der allgemein juridischen Geltungstheorie von allen nichtjuridischen Prämissen vgl. u. a. Hüning , Freiheit und Herrschaft (s. Anm. 86), S. 13-29, S. 276-284; Karlfriedrich Herb , Rousseaus
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che verbindet. Es ist in der Tat von höchster Wichtigkeit zu erkennen, daß der - wie erwähnt, selten offen ausgetragene 101 - Konflikt um die Frage eines Bedingungsverhältnisses von Anthropologie und Politik in der Philosophie des Thomas Hobbes nicht vollständig zu historisieren ist im Sinne einer je unterschiedlichen ideengeschichtlichen Perspektive auf Hobbes entweder aus Kantischer oder Lockescher Sicht. Im Hintergrund der Debatte um den historischen Gegenstand der Theorie des Thomas Hobbes steht ein systematischer Konflikt im Hinblick auf die Frage nach dem Begriff und der Idee des Rechts bzw. des Staates} 02 Diese zugrundeliegende Perspektive auf die „Aktualität" 1 0 3 bzw. die systematische Relevanz 104 der Hobbesschen Civil Science wird von beiden Seiten nicht nur anerkannt, sondern ausdrücklich betont. Sie wird nur je unterschiedlich beantwortet: Wird von den Vertretern der weitgehenden Irrelevanz der Anthropologie für die Politik von Geismann über Herb/Ludwig 105 bis Hüning zwar durchaus eingeräumt, daß unüberwindliche „Widersprüche der Hobbesschen Staatsrechtslehre" 106, ja daß das „Scheitern der Hobbesschen Staatsrechtslehre" 107 zu verzeichnen seien, so hält man doch an der Leistung des Thomas Hobbes fest, die Rechts- und Staatsphilosophie von anthropologisch-empirischen Voraussetzungen befreit zu haben. Hingegen wird selbst von jener Fraktion, die eine methodologische Notwendigkeit der Anthropo-
Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen, Würzburg. 1989, spez. S. 19-64; sowie die oben zitierten Arbeiten von Geismann. 101 Vgl. hierzu insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Bartuschat (s. Anm. 39) und Conrad Cramer, Naturzustand und Vernunft (Koreferat zu Wolfgang Bartuschat, Anthropologie und Politik bei Thomas Hobbes, in: Höffe: Thomas Hobbes (s. Anm. 39), S. 39-67. 102 Vgl. hierzu die in dem Band Höffe (Hrsg.), Der Mensch - ein politisches Tier? (s. Anm. 45) versammelten Texte, die an historischen Gegenständen dieses letztlich ganz systematische Interesse realisieren, sowie insbesondere die Einleitung des Herausgebers, ebd., S. 4-13, daß es an einer anthropologischen Grundlegung des Rechts und der Rechtsphilosophie auch aus ganz anderen wissenschaftstheoretischen und weltanschaulichen Positionen heraus ein starkes Interesse gibt, zeigt der Band von Ludger Schwarte u. Christoph Wulf (Hrsg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, München 2003; zu reiner erfrischenden Kritik an diesem Konzept vgl. Rainer Maria Kiesow, Performanz des Performativen. Anmerkungen zu einem Sammelband über „Körper und Recht", in: Scientia Poetica 8 (2004), S. 318-332. 103 Vgl. hierzu Otfried Höffe, Zur Aktualität der Staatsphilosophie von Thomas Hobbes, in. ders., Thomas Hobbes (s. Anm. 39), S. 9-17; sowie Wolf gang Bartuschat, Aktualität in Teilen?, in: ebd., S. 165-170. 104 Vgl. hierzu u. a. Geismann, Kant als Vollender (s. Anm. 34), S. 186-189. 105 Vgl. hierzu auch Karlfriedrich Herb u. Bernd Ludwig, Naturzustand, Eigentum und Staat. Immanuel Kants Relativierung des „Ideal des hobbes", in: Kant-Studien 83 (1993), S. 283-316, spez. S. 308. 106 Hüning, Freiheit und Herrschaft (s. Anm. 86), S. 237-275. 107 Geismann, Die Grundlegung (s. Anm. 80), S. 266. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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logie als Voraussetzung der Politik nachweist, zwar eine historische Bedeutung Hobbes' als Gründungsvater neuzeitlicher politischer Philosophie zugestanden; gerade die Grundlegung der Politik auf jene als Zentralelement herausgestellte Wissenschaftsmethodologie wird aber als Grund für die systematische Bedeutungslosigkeit vorgestellt: „Auch wenn die Philosophie nach Hobbes, zumal die politische Philosophie der Gegenwart, die kontraktualistische Begründung im engeren Kontext genuin normativer, rechtfertigungstheoretischer Fragestellungen einsetzt, so darf man nicht vergessen, daß die kontraktualistische Argumentation, die argumentationslogische Verknüpfung von Naturzustand, Vertrag und Staat, ursprünglich, in der sie zuerst entwickelnden politischen Philosophie Hobbes', allein wissenschaftsmethodologisch motiviert war und als Konsequenz der Anwendung eines als universal gültig erachteten und für normative und deskriptive Untersuchungen sozialer Verhältnisse gleichermaßen zuständigen wissenschaftlichen Erkenntnisprogramms entstanden ist. Die neben der transzendentalen Deduktion Kants wohl wirkungsmächtigste philosophische Argumentationsform verdankt sich einem Methodenkonzept, das als Dokument frühneuzeitlicher wissenschaft^phorischer Aufbruchsstimmung ins philosophiegeschichtliche Museum gehört." Deutlicher kann auch hier die Differenz nicht ausfallen: Philosophiegeschichtliches Museum versus Befreiung zur „rein rationalen Deduktion der Notwendigkeit des Staates". 109 Eigentümlich einig sind sich beide, sich grundlegend unterscheidenden Positionen der Hobbes-Forschung auch mit jener anderen oben dargestellten Interpretationslinie, die eine nicht nur methodologische, sondern systematische , Verschränkung von Anthropologie und Politik' 1 1 0 annimmt, sowie mit weiteren gänzlich anders begründeten Richtungen 111 darin, daß das Hobbessche System eine in sich reflektierte, also sich als kohärente selbst erkennende und wissende Einheit ausbilde. 112 Inhaltlich wie formal wird diese „Einheit" zwar sehr unterschiedlich ausgeführt, aber die „Einheit von Hobbes' Philosophie" 113 soll unter allen Umständen gewährleistet sein. 114
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Kersting , Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 67. Geismann, Kant als Vollender (s. Anm. 34), S. 167 f.; Geismann u. Herb , Einleitung (s. Anm. 34), S. 22; Geismann, Die Grundlegung (s. Anm. 80), S. 263; Hüning , Freiheit und Herrschaft (s. Anm. 86), S. 42-51. 110 Bartuschat , Anthropologie und Politik (s. Anm. 39), S. 20. 111 Vgl. zu diesem Punkt der Einheit des philosophischen Systems auch Esfeld , Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 253-297, S. 381-391 und Ludwig, Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1), S. 45 ff. 112 Vgl. hierzu einerseits Geismann,u. Herb , Einleitung (s. Anm. 34), S. 19 f., die von einer Architektur des Systems sprechen sowie andererseits Kersting (Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 43), der von einem „methodologischen Monismus" spricht. 113 So Esfeld , Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), 'S. 253-297. 114 Kersting , Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 51; vgl. zur methodologischen Einheit des Hobbesschen Systems im mos geometricus auch Kersting , Erkenntnis und 109
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Aber stimmt das tatsächlich? Deutet sich in den oben zitierten, sich widersprechenden Aussagen des Thomas Hobbes zum Verhältnis von Anthropologie und Politik, die von den Forschungsrichtungen durch je spezifische Interpretationen in eindeutiger Weise entschiedenen und damit in ihrer Widersprüchlichkeit aufgelösten wurden, nicht vielmehr an, daß ein grundlegender Bruch die Hobbessche Philosophie durchzieht, daß mithin jene Widersprüche nicht aufgelöst werden dürfen, sondern als unlösbar 115 analysiert werden müssen? Im Rahmen der hier gestellten Aufgabe kann die Frage, ob in der Philosophie des Thomas Hobbes die Anthropologie für die Politik eine Voraussetzungs- oder gar Resultatfunktion übernimmt, nicht abschließend beantwortet werden, nicht nur weil im folgenden ausschließlich eine Betrachtung des Leviathan - also keineswegs des gesamten philosophischen Systems - in Betracht stehen wird, sondern vor allem weil es dazu einer eingehenden Beschäftigung mit dessen zweiten Teil bedürfte; eine im folgenden ausgeführte Auseinandersetzungen mit einigen Elementen seiner im ersten Teil entwickelten Anthropologie kann diese Aufgabe nur bedingt erfüllen. Sie wird jedoch darauf führen, eine von Tom Sorell 116 vorgestellte - allerdings von dem hier ausgeführten Vorschlag inhaltlich abweichend - These neu zu überdenken, nämlich der von einer grundlegenden „disunity" der Hobbesschen Philosophie. Im folgenden möchte ich zunächst zeigen, daß einige der wesentlichen Grundzüge der im Leviathan entwickelten Bestimmungen zur Psychologie und Handlungstheorie eine weitgehend konsequente Umsetzung der logischen , ontologischen und methodologischen System-Prämissen - selbstverständlich unter Zusatzannahmen psychologischer Natur - darstellen, und keineswegs deijenigen der politischen Philosophie. Diese zu einer „materialistisch-mechanischen Anthropologie" formierte Konzeption scheint nun aber eine zwar mögliche, keineswegs aber eine notwendige Voraussetzung für die politische Philosophie zu bilden ebenso wie diese durchaus weitgehend mit der Anthropologie zusammenstimmt, ohne ihr allerdings systematisch zugrundezuliegen.
Methode (s. Anm. 59), S. 128, sowie Ludwig , Scientia civilis more geométrico (s. Anm. 15), passim, spez. S. 75. 115 Zum präzise zu unterscheidenden Umgang mit philosophischen Problemen vgl. Michael WoljJ.\ Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389, Frankfurt/M. 1992, S. 103. 116 Vgl. hierzu Tom Sorell , Hobbes. London 1991, S. 21. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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m . Anthropologie und Politik, Teil 1: Psychologie Zu Recht wird in der Forschung 1 1 7 darauf hingewiesen, daß Hobbes möglichst alle Teilbereiche bzw. Momente der Psychologie durch eine Zurückführung aller ihrer Bestimmtheiten auf körperliche Bewegungen zu deduzieren unternimmt; vorsichtiger sagt Gert, daß die Psychologie „ i n terms of the motion in the body" 1 1 8 dargestellt werde. Tatsächlich führt Hobbes schon zu Beginn des vermögenspsychologischen Abschnitts im Leviathan sowohl die Gegenstände der Empfindung als auch die unterschiedlichen Arten dieses Vermögens auf Bewegungen der Materie zurück: „AH which qualities Calles Sensible , are in the object that causeth them, but so many several motions of the matter, by which it presseth our organs diversly. Neither in us that are pressed, are they any thing else, but divers motions; (for motion produceth nothing but motion)."1 9 Diese „Materialisierung des Ichs" 1 2 0 - nicht nur überhaupt, sondern aller seiner Vermögen - gehört zu den Grundpositionen der Hobbesschen Philosophie. Schon in den Einwänden gegen die Meditationen Descartes' führt Hobbes an, daß neben Empfindung und Einbildungskraft selbst „der Geist nichts anderes sein [wird], als eine Bewegung in bestimmten Teilen des organischen Körpers" 121 ; und noch in De corpore definiert Hobbes bündig: „Est ergo sensio motus in sentiente aliquis internus, generatus a motu aliquo partium objecti internarum et propagatus per media ad organi partem intimam." 2 2
117 Weiß , Das philosophische System (s. Anm. 6), S. 42-59, Lott , Hobbes's mechanistic Psychology (s. Anm. 30), passim; Esfeld , Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 96 ff; Chwaszcza , Anthropologie und Moralphilosophie (s. Anm. 30), S. 84-89; Gary Hatfield , The Cognitive Faculties, in: The Cambridge History of Seventeenth Century Philosophy, ed. by Daniel Garber a. Michael Ayers, Cambridge 1998, vol II, pp. 953-1002, spez. pp. 972-975; Röd , Die Philosophie der Neuzeit 1 (s. Anm. 36), S. 173-176; Kersting , Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 70 ff.; Cramer , Naturzustand und Vernunft (s. Anm. 101), S. 53: „Daß Vernunft zur Natur des Menschen gehört, heißt für Hobbes gar nichts anderes, als daß Menschen natürliche Bewegungssysteme sind, in denen Antriebsstruktur, Selbstdistanz und Zweckrationalität deskriptive Bestände sind. Hobbes läßt keinen Zweifel darüber, daß alle diese Bestände in physikalischen Begriffen, das heißt in komplexe Bewegungen materieller Körper zu rekonstruieren sind." 118 Gert , Hobbes's psychology (s. Anm. 29), p. 159. 119 Leviathan I, p. 14. 120 Vgl. hierzu Olaf Breidbach , Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997. 121 Zitiert nach René Descartes , Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hrsg. von Artur Buchenau, Hamburg 1972, S. 161. 122 De corpore, XXV, 2 (s. Anm. 12), p. 26920-22", vgl. auch De homine II, 4 (s. Anm. 11), p. 14: „Sciendum praeterea est, quod cum omnis sensio, [...] sit motus, [...]."
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Damit müssen aber Sinneswahrnehmung und Einbildungskraft - sowie in vermögenspsychologischer Hinsicht auch der Geist - zu Gegenständen „physikalischer Betrachtung" erklärt werden, wie Hobbes dies auch konsequenterweise in De corpore ausführt. 123 Zu Beginn des 2. Kapitels des Leviathan kommt Hobbes auf entscheidende logisch-ontologische Voraussetzungen dieser Ausführungen zurück, die allerdings präziser und ausführlicher in De corpore 124 entwickelt werden. In Anspielung auf Spinoza 125 könnte man die Überlegungen aus Leviathan I, 2 wie folgt zusammenfassen: 1.
Alles, was ist, ist entweder Bewegung oder Ruhe. 126
2.
Es sind genau diese und nur diese beiden Begriffe, die als gleichursprüngliche causae primae bezeichnet werden müssen.
3.
Ruhe und Bewegung schließen sich gegenseitig „kontradiktorisch" 127 aus, so daß gilt:
123 De corpore, VI, 6 (s. Anm. 12), p. 629.11: ,,[Q]uae ideo post Physicam consideranda sunt, quia cuasas habent in sensu et imaginatione, quae sunt subjectum comtemplationis physicae." 124 Gemeint sind hier insbesondere De corpore, VI, 5 ff. (s. Anm. 12), p. 6O13 ff sowie Kap. Vm, 10 ff. (s. Anm. 12), p. 8723ff. 125 Zur durchaus möglichen Korrelation der philosophischen Systeme Hobbes' und Spinozas zunächst in methodologischer Hinsicht vgl. Karl Schuhmann, Methodenfragen bei Spinoza und Hobbes: Zum Problem des Einflusses, in: Studia Spinozana 3 (1987), S. 47-85; zu den grundlegenden Differenzen in Fragen der Rechtsphilosophie siehe Georg Geismann, Spinoza jenseits von Hobbes und Rousseau, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989), S. 405-431 sowie den Beitrag von Werner Euler in diesem Band. 126 Vgl. auch De corpore, VI, 5 (s. Anm. 12), p. 6O15 f:: „[C]ausa enim eorum omnium universalis una est motus." Sowie De corpore VIII, 10 und 11 (s. Anm. 12), pp. 8723-8827; vgl. hierzu auch - allerdings in einseitiger Betonung der Bewegung als erster Ursache - Kersting , Erkenntnis und Methode (s. Anm. 59), S. 134-135; Esfeld: Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 33-48; Engfer , Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 110,« der zu Recht herausstreicht, daß diese prima causa als rationales Prinzip fungiert, sowie Röd , Die Philosophie der Neuzeit 1 (s. Anm. 36), S. 171; Kersting , Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 58 u. S. 72. Das Verkennen der Gleichursprünglichkeit der Ruhe neben der Bewegung führt u. a. dazu, die grundlegende Bedeutung des Satzes von Widerspruch nur unangemessen zu erfassen. 127 Zu diesem logischen Verhältnis der beiden universalen Ursachen vgl. auch insbesondere De corpore VIII, 19 (s. Anm. 12), p. 91 IÖ-IS: „Quod quiescit, semper quiescere intelligitur, nisi sit aliud aliquod corpus praeter ipsum, quo supposito quiescere amplius non possit." Sowie De corpore IX, 7 (s. Anm. 12), p. 982j f:: „[DJeceptus voce, quod nomina quies et motus contradictoria sunt, [...]."
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„That when a thing lies still, unlesse somewhat els stirre it, it will lye still for ever [...] When a Body is once in motion, it moveth (unless something els hinder it) eternally; [,..]." 128 Aus dieser zunächst strengen Anwendung des logischen Satzes von ausgeschlossenen Dritten auf die dynamisch-materialistische Ontologie leitet Hobbes analytisch einen weiteren wichtigen Grundsatz ab, „namely, that nothing can change it self (ebd.), auch nicht Ruhe oder Bewegung. Es läßt sich zeigen, daß dieser ganz konsequent aus Logik und Bewegungslehre abgeleitete Grundsatz nicht nur die psychologischen Theoreme im Leviathan vollständig konstituiert, sondern auch die weiter unten zu betrachtende Theorie des Willens entscheidend präformiert. Dabei kann man zunächst nachweisen, daß sich Hobbes bei der Entfaltung seiner Psychologie konsequent an die Universalität dieser obersten Grundsätze hält, wenn er beispielsweise betont, daß „there can happen in sleep no Imagination; and therefore no Dreame, but what proceeds from the agitation of the inward parts of mans body" (Leviathan II, p. 17); oder auch im Rahmen der praktischen Anthropologie: „For there is no thing as perpetuall Transquillity of mind, while we live here; because Life it selfe is but Motion , and can never be without Desire, nor without Feare, no more than without Sense."129 Die vollständige Identität von ,,Mentale[m] mit dem Physischen", die aus Hobbes' monistisch dynamischem Materialismus resultierend 130 auch als dessen „Lösungsvorschlag für das Körper-Geist-Problem" 131 interpretierbar ist, wird deutlich formuliert: „For besides Sense, and Thoughts, and the Trayne of thoughts, the mind of man has no other motion [...]." 1 3 2 Weil also auch im Systemteil der Anthropologie, mithin u. a. in Psychologie und - wie sich noch genauer zeigen wird - Handlungstheorie, alles, was ist, entweder Bewegung oder Ruhe ist, bzw. darauf zurückgeführt werden kann und muß, Bewegung aber immer Bewegung von Materie ist, muß Hobbes auch eine sensualistische Erkenntnislehre entfalten: 133
128
Leviathan D, p. 15. Leviathan VI, p. 46; Hvhb. von mir. 130 Vgl. u. a. Hatfield, The Cognitive Faculties (s. Anm. 117), p. 973. 131 Beide Zitate aus Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 174 f. 132 Leviathan m, p. 23. 133 Zur systematisch notwendigen Verbindung sensualistischer Erkenntnislehre und materialistischer Ontologie vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyclopädie der philosophischen Wissenschaften 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit mündlichen Zusätzen, in: ders., Werke in 20 Bdn., hrsg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, Bd. 8, S. 145: „Der Materialismus, Naturalismus ist das konsequente System des Empirismus." Hvhb. im Text. 129
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„The Original of them all [i. e. the thoughts of man], is that which we call SENSE. (For there is no conception in a mans mind, which hath not at first, totally, or by parts, been begotten upon the organs of Sense.) The rest are derived from that original. [...] The cause of Sense is the External Body, or Object, which presseth the organ propper to each Sense, either immediately, as in the Tast or Touch; or mediatly, as in Seeing, Hearing, and Smelling: [ ...]." 134
Exkurs: Psychologie ohne Subjekt? Hobbes theoretische Anthropologie zwischen Renaissance und Aufklärung Gary Hatfield hat in zu Unrecht verallgemeinernder Weise davon gesprochen, es habe in der Philosophie des 17. Jahrhunderts kein „epistemological turn" stattgefunden, 135 weil alle Vermögenspsychologien und Erkenntnistheorien des Zeitalters an metaphysische Grundlegungen bzw. Zwecke gebunden geblieben seien. 136 Durchaus zu Recht läßt sich aber diese These auf Hobbes anwenden und dessen Psychologie der Status einer Erkenntnis/Aeor/e absprechen, 137 weil Hobbes sein System eben nicht auf eine Theorie der Erkenntnis zu gründen unternimmt, wie dies seit Descartes, Locke und Leibniz die Aufklärung bis hin zu Kant versucht, sondern die Grundsätze zur Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Vernunft- und Wissenschaftslehre, ja selbst die Moralphilosophie als „Teil einer [...] Naturphilosophie" 138 ausgeführt werden, die aus der Ontologie deduziert wurde. 139 Historisch und systematisch präzise spricht ein Teil der Forschung daher von Hobbes' „Erkenntnis/eAre". 140 Auch in allgemein psychologischer Hinsicht, wie im besonderen im Zusammenhang seiner ,Assoziationstheorie', steht Hobbes somit eher - wie Cassirer zu Recht hervorhob - in der Tradition einer Naturphilosophie der Renaissance" 141 als in der einer Erkenntnistheorie der Aufklärung.
134
Leviathan I, p. 13. Hatfield , The Cognitive Faculties (s. Anm. 117), S. 956, S. 988-990. 136 Zur angemessenen Kritik an dieser These vgl. Dominik Perler , Ein historisch geschärfter Blick auf die Philosophie der frühen Neuzeit, in: Philosophische Rundschau 46 (1999), S. 43-55, spez. S. 50 f. 137 Dezidiert anders Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 134 ff. 138 Bernd Ludwig, Auf dem Wege zu einer säkularen Moralwissenschaft: Von Hugo Grotius' De Jure Belli ac Pacis zu Thomas Hobbes' Leviathan , in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 3-31; Hvhb. von mir. 139 Vgl. auch De corpore VI, 6 (s. Anm. 12), spez. pp. 61 ig-6225140 Röd , Die Philosophie der Neuzeit 1 (s. Anm. 36), S. 175. 141 Cassirer , Erkenntnisproblem II (s. Anm. 74), S. 69, Sperrung im Original; zu Hobbes Assoziationstheorie vgl. auch Ludwig , Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1), S. 74. 135
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Diese zunächst nur philosophiehistorische These läßt sich noch anhand zweier weiterer Momente präzisieren: Die durch die „Wiederkehr der Metaphysik" 1 4 2 im späten 16. Jahrhundert inaugurierte Unterscheidung von empirischer und rationaler Psychologie, die man schon bei Goclenius vorgebildet findet, 143 und die erst bei Wolff ihre systematische Entfaltung erfahrt, 144 wird bei Hobbes tendenziell wieder eingeebnet. War es gerade eine Differenzierungsleistung der Philosophie des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts, 145 die Psychologie zum Gegenstand sowohl der Naturphilosophie als auch der Metaphysik zu erheben, so verbleibt diese Wissenschaft bei Hobbes, wie im gesamten 16. Jahrhundert in der Nachfolge Melanchthons, 146 in der Disziplin der Naturphilosophie. 147 Die „Wiederkehr der Metaphysik", die sich als Wiederkehr eines rationalen Apriorismus in der Psychologie seit Goclenius und Zabarella bis hin zu Descartes durchsetzte und die zugleich als Abwehr des spätestens mit Pomponazzi für das 16. Jahrhundert erneut einflußreich gewordenen Sensualismus einerseits sowie als Überwindung einer als philosophisch zunehmend als ungenügend empfundenen theologischen Grundlegung der Psychologie fungierte bzw. in dieser Doppelfunktion ihren Grund hatte, 148 wird von Hobbes' zunächst 149 sensualistische Erkenntnislehre zurückgenom142
Walter Sparn , Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1976. 143 Vgl. hierzu Gideon Stiening , „Deus vult aliquas esse certas noticias". Philipp Melanchthon, Rudolph Goclenius und das Theorem der notitiae naturales in der Psychologie des 16. Jahrhunderts, in: Philipp Melanchthon und die Marburger Professoren, hrsg. v. Barbara Bauer, Marburg 22000, Bd. 2, S. 757-787. 144 Vgl. auch Gideon Stiening , „Partes Metaphysicae sunt duae: Deus & Mentes." Zur Entstehung und Entwicklung der Psychologie als Metaphysica specialis zwischen Rudolph Goclenius und Christian Wolff, in: Jean-François Goubet u. Oliver-Pierre Rudolph (Hrsg.), Die Psychologie Christian Wolffs. Systematischer Ort, Konstitution und Wirkungsgeschichte [Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 22], Tübingen 2003, S. 207-226. 145 Vgl. hierzu auch Michaela Boenke , Körper, Spiritus, Geist. Psychologie vor Descartes, Paderborn 2005. 146 Hermann Schilling , Bibliographie der psychologischen Literatur des 16. Jahrhunderts, Hildesheim 1967, spez. S. 7-11. 147 Vgl. hierzu auch die grundlegenden Studien von Eckhard Kessler und Kathrine Park , The Concept of Psychology, in: The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Ed. by Charles B. Schmitt, Cambridge/New York 1992, pp. 455-463 sowie Eckhard Kessler , The Intellective Soul, in: The Cambridge History of Renaissance Philosophie, ed. by Charles B. Schmitt, Cambridge/New York 1992, pp. 485-534. 148 Zu dieser doppelten Abgrenzung als historischem Funktionsmoment eines sich entwicklenden Apriorismus in der philosophischen Psychologie vgl. Rudolph Goclenius , De Ortu animi, in: ders. (Hrsg.), v FYXOAOriA, hoc est hominis perfectione, animo & in primis ortu huius, Marburg 21597, pp. 377-380, hier p. 380: „Aut necesse est, ut dicatur, animum neque creari, neque generali: itaque inter creationem & generationem hic medium seu tertium esse. Quidnam illud fuerit ?" 149 So auch Engfer , Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 96 ff https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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men. Dabei weist - wie angedeutet - das oben angegebene Zitat des berühmten Grundsatzes nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu weniger auf Locke und Condillac voraus als vielmehr zurück auf die einflußreiche Hellenismus-Rezeption der Renaissance, deren Hintergründe bzw. Voraussetzungen in Hinsicht auf die Psychologie schon durch Bonaventura und vor allem Duns Scotus geschaffen wurden, 150 und die noch für Hobbes nachweisbar ist. 1 5 1 Hatten schon die Stoiker jenem Grundsatz gehuldigt, 152 und zwar als Moment einer übergreifenden Naturphilosophie, so gewinnt er über Duns Scotus erneuten Einfluß in den Erkenntnislehren des 16. und 17. Jahrhundert. In der seit Epikur 1 5 3 selten ausgeführten Konsequenz der Verbindung von materialistischer Ontologie und sensualistischer Erkenntnislehre durch Hobbes liegt auch der Grund für eine bedeutende Konsequenz seiner Philosophie, die Wolfgang Kersting - leicht postmodernistisch - 1988 wie folgt formulierte:
„Hobbes' Philosophie ist subjektlos: die von ihr geleistete Erfahrungsanalyse ist nicht egozentrisch strukturiert. Bei Descartes dient die Weltvernichtung der methodischen Organisation des reditus in se ipsum, führt die provozierte Selbstreflexion zur Entdeckung des Selbstbewußtseins im Sinne einer zweifelsimmunen Selbst- und Existenzgewißheit. Nichtsdergleichen bei Hobbes; da ist keine res cogitans, kein sich aus dem dinglichen Sein herauslösendes Ich, das in ontologischer Einsamkeit, nur von der epistemologischen Wahrhaftigkeit Gottes unterstützt, Begründungsarbeit leistet, da ist keine ursprünglich-synthetische Apperzeptionseinheit, an der als dem höchsten Punkt der ganze Gebrauch der Verstandesbegriffe hängt. Das Subjekt ist bei Hobbes ohne epistemologische Besonderheit."154 Es ist dieser aus materialistischer Ontologie und sensualistischer Erkenntnislehre ganz konsequent abzuleitende Mangel an der Instanz eines Subjekts bzw. einer Theorie der Subjektivität (keineswegs der Individualität oder Per-
150 Paul F. Cranefield, On the Origin of the ,Phrase nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu4, in: Journal of the History of Medicine 25 (1970), 77-80; sowie Arbogast Schmitt, Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Ober eine für die neuzeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen Aristoteles-Deutung, in: Enno Rudolph (Hrsg.), Die Renaissance und ihre Antike. Die Renaissance als erste Aufklärung I, Tübingen 1998, S. 7-34; spez. S. 23 f. 151 Vgl. hierzu die Feststellung von Karl Schuhmann, Francis Bacon und Hobbes' Widmungsbrief zu De cive, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 38 (1984), S. 165-190, spez. S. 170, nach der die „Kenntnis [...] des ganzen Cicero [...] bei Hobbes vorauszusetzen" sei. 152 Vgl. hierzu u. a. Malte Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3: Stoa, Epikureismus und Skeptizismus, München 21994, S. 70: ,3ei der Formulierung des sensualistischen Prinzips fanden die Stoiker schon fast die klassische Formel: ,Alles Denken geht von der sinnlichen Wahrnehmung aus oder vollzieht sich jedenfalls nicht ohne diese [...] Und allgemein ist in einem Begriff nichts zu finden, dessen Kenntnis man nicht aus sinnlicher Gegebenheit besitzt.'" 153 Zu Epikurs Erkenntnislehre vgl. ebd., S. 144 f. 154 Kersting, Erkenntnis und Methode (s. Anm. 59), S. 135.
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sonalität, die Hobbes durchaus entwirft 155 ), die eine weitgehende Zugehörigkeit seiner theoretischen Philosophie zu Grundstrukturen einer voraufklärerischen, frühneuzeitlichen Naturphilosophie und Psychologie ausweisen. Die Antwort Bernd Ludwigs auf die oben gestellte zentrale Frage, warum denn der Leviathan mit einer Anthropologie, näherhin mit einer Erkenntnislehre, anhebe: „Die Tatsache, daß der Leviathan mit dem (einzelnen) Menschen - und zwar mit dessen Vorstellung - beginnt, ist somit [...] allenfalls Ausdruck jenes neuzeitlichen erkenntnistheoretischen Subjektivismus, der wenig Jahre zuvor bereits durch Descartes' Meditationen berühmt geworden war" 156 , muß schon aus ganz philosophiehistorischen Hintergründen, wie erst recht aus den hieraus resultierenden systematischen Konsequenzen jener expliziten Zurückweisung einer rationalen Erkenntnistheorie in jenen Erwiderungen gegen Descartes' Meditationen 157 nachdrücklich bezweifelt werden. Im Gegensatz zu seinen Leistungen auf dem Felde der Rechtsphilosophie, die sowohl von ihm selber 158 als auch von der neueren Forschung tatsächlich als genuin aufklärerische Neuerung bewertet wird, 1 5 9 sind aber über die Bereiche der Psychologie hinaus vor dem Hintergrund neuer Forschungen zur Philosophie des 16. Jahrhunderts auch weitere Bereiche der Hobbesschen theoretischen Philosophie an ältere Traditionen anzubinden. So scheint die These Martin Mulsows, der Hobbessche Begriff der Selbsterhaltung sei aufgrund einer mechanistischen Begründungstheorie eher dem Cartesianismus verpflichtet als an frühneuzeitliche Selbsterhaltungskonzepte anzubinden, durchaus fraglich. 160 Auch Hobbes' konkreteres Verständnis der Mathematik, deren paradigmatische Funktionalisierung in Form der Geometrie für eine Szientifisierung des menschlichen Wissens zu seinen besonderen philosophie-
155 Vgl. hierzu Leviathan XVI sowie François Tricaud , An Investigation concerning the Usage of the Words „Person" and „Persona" in the Political Treatise of Hobbes, in: van der Bend (Hg.), Thomas Hobbes (s. Anm. 30), S. 89-98; sowie Udo Thiel , Person und persönliche Identität in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Dieter Sturma (Hrsg.), Person. Philosophiegeschichte - Theoretische Philosophie - Praktische Philosophie, Paderborn 2001, S. 79-101. 156 Ludwig , Anfang der Staatsphilosophie (s. Anm. 3), S. 75. 157 Vgl. Descartes , Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (s. Anm. 120), spez. S. 166. 158 Vgl. die berühmten Passagen im Widmungsschreiben von De corpore: Epître Dédicatoire (s. Anm. 12), p. 4. 159 In dieser historischen Bewertung sind sich so unterschiedlichen Positionen wie die von Kersting und Geismann durchaus einig, vgl. Kersting , Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 8-16 und Geismann, Die Grundlegung (s. Anm. 80), S. 229 f. 160 Mulsow , Frühneuzeitliche Selbsterhaltung (s. Anm. 54), S. 164, S. 193-200.
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historischen Leistungen zu rechnen ist, 1 6 1 erweist sich nach neueren Forschungen als wenig zeitgemäß. 162 Und noch die von Hobbes immer wieder vehement vertretene These einer unmittelbaren Praxisrelevanz der Philosophie 163 scheint eher hellenistischen Grundzügen von Wissenschaftsverständnis zu folgen, 164 denn solchen der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. Aber zurück zum Gehalt der Hobbesschen Erkenntnislehre: Auf deren sensualistische Grundlegung kommt Hobbes nach den oben zitierten Ausfuhrungen in 1. Kapitel des Leviathan häufig zurück, wenn er u. a. schreibt:
„Also because whatsoever (as I said before,) we conceive, has been perceived first by sense, either all at once, or by parts; a man can have no thought, representing any thing, not subject to sense." (Leviathan El, p. 23 f.) 165 Daß Hobbes offenbar davon ausging, diese Erkenntnislehre sei angemessen in seiner grundlegenden Materietheorie gegründet, 166 hängt mit einer unvermittelten Verknüpfung der vermögenspsychologischen mit einer metaphysischen Prämisse 167 dieser Ableitung zusammen: Denn daß alle Vorstellungen 161
Vgl. hierzu u. a. Wolfgang Rod, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1970, S. 10-56 und Karl Schuhmann, Geometrie und Philosophie bei Thomas Hobbes, in: Philosophisches Jahrbuch 92 (1985), S. 161-177. 162 Vgl. hierzu ausführlich Siegmund Probst, Die mathematische Kontroverse zwischen Thomas Hobbes und John Wallis, Regensburg 1997 sowie Rod, Die Philosophie der Neuzeit 1 (s. Anm. 36), S. 169 u. 289. 163 Vgl. hierzu u. a Leviathan V, p. 36: „To conclude, The Light of human minds is Perspicuous Words, but by exact definitions first snuffed, and purged from ambiguity; Reason is the pace; Encrease of Science , the way ; and the Benefit of man-kind, the end. And on the contrary, Metaphors,t and senslesse and ambiguous words, are like ignes fatui , and rasoning upon them, is wandering amongst innumerable absurdities; and their end, contention, and sedition, or contempt." Vgl. auch De corpore I, 6 (s. Annm. 12), p. M27-31. 164 Vgl. zur Anbindung an den Renaissancestoizismus auch Kersting, Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 46 ff. 165 Auch in De corpore (XXV, 1 (s. Anm. 12), p. 26810-20) zitiert Hobbes den sensualistischen Grundsatz Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu; vgl. dazu auch Röd y Die Philosophie der Neuzeit 1 (s. Anm. 36), 170 und Engfer, Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 96-98. 166 Eine Annahme, die zu Recht kritisiert wurde von Cramer , Naturzustand und Vernunft (s. Anm. 101), S. 46: "[W]eil seine Rekonstruktion des Verhältnisses von Bewegung und Wissen auf Prämissen beruht, deren eigener theoretischer Status Hobbes unklar geblieben ist." 167 Zur Metaphysik des Thomas Hobbes, insbesondere im Leviathan vgl. schon Jürgen Mittelstrass , Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, S. 338 sowie Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 76 ff.; Thiel, Person und persönliche Identität (s. Anm. 155), S. 82, der nachweist, daß selbst Hobbes' ,3egriff des Menschen metaphysisch bestimmt wird." Auch Kersting, Erkenntnis und Methode (s. Anm. 58), S. 127, der „metaphysische Prinzipien in den Elementen der Philosophie" ausmacht. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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des menschlichen Verstandes aus der sinnlichen Wahrnehmung abzuleiten bzw. zu konstruieren seien, kann rein vermögenspsychologisch durch eine auch der von Hobbes ja nachhaltig rezipierten Hellenistischen Philosophie 168 eignende - strenge Identität von Erkenntnis lehre auf Erkenntnisgewe.se ermittelt werden. Daß allerdings die Empfindung als „original fancy" nichts anderes ist als Bewegung innerkörperlicher Materie (Mentales als Physisches), gerade weil sie durch ein äußeres Objekt mittels mechanischem Druck 1 6 9 verursacht worden sei, ist nurmehr als metaphysische Prämisse, als Setzung zu bezeichnen: „So that Sense in all cases, is nothing els but original fancy, caused (as I have said) by the pressure, that is, by the motion, of externall things upon our Eyes, Eares, and other organs thereunto ordained." 170 Es scheint nun allerdings wenig hilfreich, die tatsächlich schlecht metaphysische Dimension dieses Arguments durch die Einschränkung des spezifischen Geltungsstatus als „hypothetisch" zu verdecken 171 ; die letztlich schlechte Metaphysik dieses Materialismus hat Hobbes dann im Rückgriff auf den Begriff des ,Mirakulösen 4 für die Tatsache des Bewußtseins und der spezifischen Gehalte der Erscheinungen der Dinge aufgrund der vorgängigen Bewegungsstruktur in De corpore ausdrücklich gemacht: ,,Phaenomenü)n autem omnium, quae prope nos existunt, id ipsum xö (paiveoGai est admirabilissimum, nimirum in coporibus naturalibus alia omnium fere rerum, alia nullarum in seipsis exemplaria habere; adeo ut, si Phaenomena principia sint cognoscendi caetera, sensionem cognoscendi ipsa principia principium esse scientiamque omnem ab ea derivari dicendum est, et ad causarum ejus investigationem ab alio phaenomeno praeter earn ipsam initium sumi non posse." 7 2 Zum genaueren Verständnis dieser Passage ist wichtig zu erkennen, daß die Behauptung, „[t]he cause of Sense is the Externall Body, or Object" (Leviathan I 4, S. 13) und diejenige, daß die Erzeugung der Vorstellungsqualität der durch Empfindung erzeugten innermentalen Bewegungen geheimnisvoll sei, nur zwei Formulierungen ein und derselben Sache darstellen; 173 in
168 Vgl. hierzu erneut die Feststellung von Schuhmann, Bacon und Hobbes (s. Anm. 151) sowie die in diesem Zusammenhang detaillierteste Studie von Ludwig, Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts (s. Anm. 1), passim. 169 So auch in De corpore, XXV, 2 (s. Anm. 12), p. 26925-29: „Quoniam igitur motui ab objecto per media ad orgaiü partem intiman propagato fit aliqua totius organi resistentia sive reactio per motum ipsius örgani internum naturalem, fit propterea conatui ab objecto conatus ab organo contrarius." 170 Leviathan I, p. 14. 171
So Röd, Die Philosophie der Neuzeit 1 (s. Anm. 36), S. 175.
172
De corpore, X X V , 1 (s. Anm. 12), p. 268I3.2O.
173
Weshalb Hobbes ja auch einige Zeilen später die in Anm. 163 zitierte These ausführt; es scheint mir daher unzutreffend, daß Röd aus der Geheimnis-Passage aus De https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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diesem Falle zu Recht spricht Ernst Cassirer in bezug auf diese Problemstellen von einer „unvermittelt dogmatischen Voraussetzung", die „Hobbes' Psychologie zugrunde" liege: „Die Unabhängigkeit der „Materie" von der bloßen Empfindung, wie Hobbes sie zunächst definiert, ist eine Unabhängigkeit im logischen Sinne, die durch das Urteil gefordert und begründet wird: indem Hobbes sie auch von dieser letzten Bedingtheit frei zu machen sucht und sie absolut setzt, ist auch seine Erfahrungslehre wie diejenige Gassendis wieder der Metaphysik verfallen." 174 Darüber hinaus zeigt sich, daß - wie Michael Esfeld präzise herausarbeitete 175 - die Annahme, mithilfe eines materialistischen Monismus, der „Mentales und Physisches" streng identifiziert, könne u. a. das Körper-Seele-Problem bewältigt werden, letztlich - bei konsequenter Verfolgung 176 - zu einer unlösbaren „Problematik der Außenwelt" führt. Denn von einer - selbst mathematisierten - Bewegung der Materie, die rein quantifizierbar bleibt, führt kein Deduktions- (übrigens auch kein Induktions-)weg zu den je spezifischen Inhalten der mentalen Vorstellungen sowie ihrem Erscheinungs- bzw. Bewußtseinscharakter. Dann aber muß, gerade weil ein Kausalverhältnis postuliert worden war, der Ausgangspunkt aller Erkenntnis- und Wissenschaftslehre bei den Vorstellungen selber gemacht werden, wie Hobbes dies auch tatsächlich durchführt; deren Verhältnis zu den res verliert sich dann aber im Mirakulösen. Diese Sachlage war jedoch - um es erneut zu betonen schon ein Grundlagenproblem des antiken Materialismus bzw. Atomismus; 177 Hobbes' Mathematisierung der Methode und die durch ihn konsequent umgesetzte Mechanisierung der Materie haben an diesen Widersprüchen des (dogmatischen) Materialismus nichts zu ändern vermocht. Nur aufgrund der metaphysischen Prämisse einer unmittelbar materiellen Verbindung von Ding und sinnlicher Vorstellung kann Hobbes in der Folge die „two kinds of Knowledge" 178 in qualifizierender Weise 179 dergestalt unterscheiden, daß er der „Knowledge of fact" (ebd.), also den auf Wahrnehmung
corpore die Unmöglichkeit der Ableitung der Hobbesschen Erkenntnislehre aus dem Materialismus herausliest, vgl. Röd, Die Philosophie der Neuzeit 1 (s. Anm. 36), 175. 174 Cassirer, Erkenntnisproblem II (s. Anm. 74), S. 68. 175 Vgl. Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 149, u. S. 179. 176 Zu den Widersprüchen eines „konsequenten Sensualismus" vgl. auch Ludwig, Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1), S. 79 f., Anm. 72. 177 Vgl. dazu schon Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Neudruck Frankfurt/M. 1974, Bd. 1, S. 7-147 in Verbindung mit S. 247-261; Hossenfelder, Philosophie der Antike 3 (s. Anm. 152), S. 145 f. 178 Leviathan IX, p. 60. 179 Anders hierzu Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 158-159, der eine nur graduelle Differenz zwischen den Arten diesen Wissens annimmt. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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und Erinnerung basierenden Erkenntnissen, den Status einer „absolute Knowledge" (ebd.) 180 , den Vernunftwahrheiten, der „Knowledge of tlie consequence of one aflfirmation to another" (ebd.) lediglich den Status eines abgeleiteten, bedingten Wissens zuschreibt. Zugleich aber - und hier reproduziert sich der Widerspruch der Ontologie und Erkenntnislehre auf wissens- und wissenschaftstheoretischer Ebene - kann Hobbes einerseits der Zusammenfassung und Systematisierung der „absolute Knowledge" nur den Status der Klugheit, d. h. von gewißheitsbegrenztem Erfahrungswissen zuweisen; „absolute Knowledge" wird in akkumulierter Form, d. h. als Klugheit, „Uncertain" (Leviathan V, p. 37). Andererseits soll einzig die zu Wissenschaftlichkeit fähige „conditional [...] knowledge" (Leviathan IX, p. 60), d. h. das in Ableitungszusammenhängen bedingte - damit im Wortsinn relative Wissen, wenigsten die Möglichkeit von Gewißheit gewährleisten, d. h. quantitativ teilweise, dann aber qualitativ uneingeschränkt „certain and infallible" sein (Leviathan V, p. 37). Bevor jedoch die hier schon anklingenden sprachphilosophisch-nominalistischen sowie die Vernunft- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen der Kapitel 4 und 5 des Leviathan kurz zu thematisieren sind, muß festgehalten werden, daß die in den Kapitel 1-3 entwickelte sensualistische Erkenntnislehre an keiner einzigen argumentationslogisch, methodisch oder systematisch konstitutiven Stelle mit Grundzügen der in der Staatsphilosophie entfalteten Konzeption auch nur Berührung aufnähme. Die weitgehend synthetische Entfaltung des Begriffs der Vorstellung, 181 die von der Empfindung über die Einbildung und die Erinnerung, über die Erfahrung sowie die Erdichtungen des Geistes, mithin den Traum, bis zum Verstehen und der Klugheit reicht, basiert vor allem auf Hobbes' materialistisch-dynamischer Ontologie und vermögenspsychologischen Standards der Psychologie des 16. Jahrhunderts. 182 Der von Cassirer u. a. behauptete Resultatcharakter der Psychologie aus den Ergebnissen der Politik ist an keinem Argument nachzuweisen; selbst die oben zitierten Ausführungen zum Hexenwesen (Leviathan II, p. 18 f.) haben rein illustrativen Charakter für den entwickelten Zusammenhang von Traum und Religion. Umgekehrt ist aber auch an keiner Stelle dieser materialistischen Erkenntnislehre ersichtlich, welche Funktion sie für die rechts- und staatsphi-
180
Vgl. zu dieser Distinktion und ihrer Bestimmung auch De homine X, 4 (s. Anm. 11), p. 92. 181 Zu einem anderen auf Hobbes applizierten Verständnis von Synthesis vgl. Richard A. Talaska , Analytic and Synthetic Method According to Hobbes, in: Journal of the History of Philosophy XXVI (1988), pp. 207-237. 182 Vgl. u. a. Eckhard Kessler, Von der Psychologie zur Methodenlehre. Die Entwicklung des methodischen Wahrheitsbegriffes in der Renaissancepsychologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987), S. 548-570. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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losophischen Ableitungen einnehmen können sollte; sie sind daher weder Grund noch Zweck, weder Voraussetzung noch Resultat jener Behauptungen. Gleiches gilt bei näherer Betrachtung von Hobbes' Ausfuhrungen zu Sprache, Vernunft und Wissenschaft in den Kapiteln 4 und 5. Deren nominalistischer Grundzug 183 ist dabei dem konsequenten Sensualismus der vorhergehenden Überlegungen deutlicher verpflichtet, 184 bzw. aus diesem abgeleitet als die auf die rationalen Gehalte der einzelnen Demonstrationen und Theoreme ausgerichtete neuere Forschung annehmen wollte. 1 8 5 Denn wie schon bei Ockham 186 so resultiert auch bei Hobbes die nominalistische Kernthese, der Allgemeinheit der Begriffe - sei es nur die im Rahmen der Erfahrungsakkumulation der Klugheit gewonnenen empirische Allgemeinheit, sei es die im Rahmen streng apriorischer Demonstrationen beanspruchte rationale Allgemeinheit - könne nur ein rein „subjektiver Status" 187 zugeschrieben werden, aus der zugrundeliegenden Voraussetzung, „ursprüngliche Vorstellungen", d. h. Empfindungen könnten nur von einem konkreten, individuellen Ding erzeugt werden. 188 Es ist also nicht nur der Sensualismus überhaupt, sondern insbesondere der letztlich metaphysisch begründete Sensualismus, der auch Hobbes' Nominalismus aus sich hervortreibt. 189 Die Unvermittelbarkeit, mit 183
Zu Hobbes' Nominalismus vgl. Cassirer, Erkenntnisproblem II (s. Anm. 74), S. 661; Hübener, Ist Thomas Hobbes Ultranominalist gewesen? (s. Anm. 76), passim; Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 156 f., Engfer, Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 97 f.; Ludwig, Anfang der Staatsphilosophie? (s. Anm. 3), S. 63; Rod, Philosophie der Neuzeit 1 (s. Anm. 36), S. 170, 289 f.; daß Hobbes Nominalist war, sei hier nur deshalb auch durch Forschungspositionen abgesichert, weil meine diesbezügliche Zuschreibung auf der Arbeitstagung bestritten wurde. 184 Zum Zusammenhang zwischen Hobbes' Sensualismus und seiner Sprachtheorie vgl. Klaus-M. Kodalle, Sprache und Bewußtsein bei Thomas Hobbes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 25 (1971), S. 345-371; ders., Thomas Hobbes (1588-1679), in: Tilman Borsche (Hrsg.), Klassiker der Sprachphilosophie, München 1996, S. 111131, u. S. 469-472. 185 Vgl. hierzu insbesondere Engfer, Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 102 ff., anders Ludwig, Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1),S. 79-81. 186 Zu systematischen Verhältnis zwischen Ockhamschen und Hobbesschen Nominalismus vgl. Marcel Kaufmann, Hobbes über Universalien und die Wahrheit von Sätzen, in: Thomas Grethlein (Hrsg.), Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie, Würzburg 1996, S. 103-116. 187 So Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie H, in: ders., Werke in 20 Bdn., hrsg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, Bd. 19, S. 572. 188 Zum philosophiehistorischen Zusammenhang von antiker Atomistik und spätmittelalterlichem Nominalismus einerseits sowie letzterem und der mechanistischen Naturphilosophie der frühen Neuzeit andererseits vgl. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (s. Anm. 85), S. 159-204, spez. S. 166 ff. 189 Daß das schon bei Ockham so ist, zeigt, wenngleich nicht vollkommen überzeugend: André Goddu, William von Ockham's „Empiricism" and Constructive Empirihttps://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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der sich die dezidiert sensualistische Erfahrungstheorie und die - wie Ludwig herausarbeitete 190 - zugleich nicht-empiristische Vernunft- und Wissenschaftskonzeption gegenüber stehen, resultiert gerade aus ihrer gemeinsamen Genese aus der in ihrer metaphysischen Grundlegung unbewältigten materialistischen Ontologie. Akzeptiert Hobbes durchaus die Notwendigkeit der Entfaltung einer - wenngleich in ihrem Geltungsstatus nominalistisch eingeschränkten - Metaphysik, d. h. der Bestimmung erfahrungsunabhängiger Prinzipien für ein jedes Wissen, das als Wissenschaft will auftreten können, 191 so verkennt er ebendiese Notwendigkeit für seine Variante sensualistischmaterialistischer Erkenntnislehre. Weil für Hobbes aber der Ursprung und damit der Grund aller Erkenntnis in der Empfindung zu suchen ist und er zugleich die metaphysische Dimension dieses Sensualismus verkennt, verbleibt auch die epistemologischen Dimension seiner Vernunft- und Wissenschaftstheorie - entgegen seinen polemischen Beteuerungen wider alles „canting of Schoole-men" (Leviathan V, p. 35) - eben in jener „Tradition des scholastischen Nominalismus." 192 Auch bei Hobbes - wie sowohl vor als auch nach ihm - erweist sich der Nominalismus als sensualistischer-empiristischer Abwehrkompromiss vor der an sich erfolgten Einsicht in die Notwendigkeit eines rationalen Apriorismus. 193 Dabei ist hier schon in Rahmen der theoretischen Anthropologie zu erkennen, daß der nominalistische Status der „subjektiven Verallgemeinerung, des Produktes] des denkenden Geistes", 194 der den Gegenständen der Vernunft und der Wissenschaft von Hobbes zugeschrieben wird, keiner der politischen Willkür darstellt. 195 In De homine heißt es dazu unmißverständlich:
cism, in: Wilhelm Vossenkuhl u. Rolf Schönberger (Hrsg.), Die Gegenwart Ockhams, Weinheim 1990, pp. 208-231. 190 Vgl. Ludwig, Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1), S. 63. 191 Vgl. hierzu Rod, Philosophie der Neuzeit 1 (s. Anm. 36), S. 169; sowie Engfer, Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 107. 192 So zu Recht Engfer, Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 96. 193 Vgl. hierzu auch, wenngleich in anderer Ausrichtung: Jürgen Goldstein, Nominalismus und Moderne: zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, Freiburg 1998. 194 Hegel, Werke Bd. 19 (s. Anm. 187), S. 572. 195 Zur Kritik an dieser - im Diktum Quines („truth is determined by the police") zusammengefaßten - verfehlten Hobbes-Interpretation vgl. Kodalle, Thomas Hobbes (s. Anm. 184), S. 120; Ludwig, Wiederentdeckung des Epikuräischen Naturrechts (s. Anm. 1), S. 87 f. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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„Itaque earum tantum rerurn scientia per demonstrationem illam a priore hominibus concessa est, quarum generatio dependet ab ipsorum hominum arbitrio." 196 Der von Hobbes hier benannte Wille ist eindeutig nicht der eines Souveräns über die Freiheit anderer Willensträger, sondern vielmehr die Freiheit des Menschen bei der Bestimmung von Definitionen und Demonstrationen rationaler Wahrheit von den Bestimmtheiten der Erscheinungen (Phantasmen) äußerer Gegenstände, die durch die Empfindung in den Vorstellungsapparat gelangten. Und für Hobbes ist völlig klar, daß nur weil die Entfaltung relationaler Wahrheiten in der Bestimmung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen unabhängig von den Unsicherheiten der Erfahrung möglich ist, der Wissenschaft als Festlegung jener Relationen uneingeschränkte Gewißheit zukommen kann. Dabei bleibt aber das von Esfeld präzise benannte Problem, 197 welchen Aussagewert rationale Erkenntnisse und damit die Inhalte der Wissenschaft über die empirische Wirklichkeit haben; d.h. innerepistemologisch: wie der garstig breite Graben zwischen den empirischen Allgemeinheiten der Klugheit und den rationalen Allgemeinheiten der Wissenschaft zu überbrücken ist. Hobbes' eigene Aussagen hierzu sind nur als schönfärberisch zu bezeichnen; während es ihm im Gros der Passagen zu Klugheit und Wissenschaft 198 vor allem um die Benennung der qualitativen Differenz zu tun ist, führt er gegen Ende von Kapitel 5 endlich aus: „As, much Experience, is Prudence\ usefüll; but the later infallible." 199
so, is much Science, Sapience [...]; both
Worin aber die Nützlichkeit der Wissenschaften, deren Bestimmungsleistungen über eine als ausschließlich empirisch erfaßbar bestimmte Wirklichkeit fraglich ist, bestehe, bleibt im Rahmen der Vernunft- und Wissenschaftstheorie der theoretischen Anthropologie des 1. Teils des Leviathan ungeklärt. Wie aber der politische Begriff der Willkür für den theoretischen des nominalistischen Wissenschaftsverständnis irrelevant bleibt, so auch der letztere für das Selbstverständnis der Rechts- und Staatsphilosophie. Zwar betont Hobbes in De homine ausdrücklich: „Praeterea politica et ethica, id est scientia justi et injusti, asqui et iniqui, demonstrari a priore poest; propterea quod principia, quibus justum er aequum et contra, injustum et iniquum, auid sint, cognoscitur, id est, justitiae causas, nimirum leges et pacta, ipsi fecimus." 20
196
De homine X, 3 (s. Anm. 11), p. 92, der Sache nach auch in Leviathan V, p. 35. Vgl. Esfeld , Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 169-194. 198 Vgl. hierzu insbesondere Leviathan IE, p. 23; V, p. 35 f.; VIII, p. 52 f., sowie XL VI, p. 458. 199 Leviathan V, p. 37. 200 De homine X, 5 (s. Anm. 11), p. 94. 197
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Doch ist der Geltungsanspruch der durchgeführten naturrechtstheoretischen Ableitungen und dabei insbesondere der Verbindlichkeitsanspruch der natürlichen Gesetze nicht mehr nur nominalistisch zu bewahren. Insbesondere die im Gebot des exeundum e statu naturali kulminierenden natürlichen Gesetze, seien sie technisch-hypothetischen Charakters oder eines tatsächlich deontologischen 201 - die Frage ist auf dieser Ebene zunächst irrelevant können gerade als vom Menschen geschaffene („ipsi fecimus") nur einen rationalapriorischen Status haben, 202 der ihnen einzig jene postulierte Verbindlichkeit zu schaffen vermag. Die theoretische Geltung wie die praktische Verbindlichkeit nominalistisch eingeschränkter Vernunftbegriffe ist aber nur durch eine solche Gottesinstanz zu garantieren, 203 die Hobbes stets als argumentationslogisches Funktionselement und damit als systematische Instanz für eine jede Wissenschaft und Philosophie zurückwies. 204 Die Grundzüge seiner Wissenschaftstheorie und die seiner rechtlich-praktischen Wissenschaft fallen bei Hobbes vermittlungslos auseinander; dieser den nominalistischen Prämissen zu verdankende allgemeine Graben zeigt sich im Hinblick auf die hier leitende Fragestellung des Verhältnisses von Anthropologie und politischer Philosophie noch an einem weiteren konkreteren Theo201
Für die These eines nur hypothetischen Status stehen u. a. Kersting, Erkenntnis und Methode (s. Anm. 59), S. 138 f.; Sprute, Moralphilosophie bei Hobbes (s. Anm. 1), S. 842, für die einer auch bei Hobbes erfolgten spezifisch deontologischen Begründung praktisch-normativer Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze vgl. Hespe, Rezension (s. Anm. 31); sowie Hüning, Freiheit und Herrschaft (s. Anm. 86), S. 133-157. 202 Dieser - wenngleich nur praktische - Apriorimus setzt aber einen mehr als nur instrumenteilen Charakter der Vernunft für Hobbes voraus; die von Kersting (Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 82-86) und Chwaszcza (Anthropologie und Moralphilosophie (s. Anm. 30), S. 92 f.) ganz angemessen aus Hobbes' Methodologie und Erkenntnislehre rekonstruierte universelle Instrumentalität der Vernunft findet ihre Grenze in der praktischen Verbindlichkeit (unabhängig von der Frage ihres Status) des praktischen Selbstwiderspruches im Naturzustand; dessen Vermeidung ist nicht mehr instrumentell zu begründen. Chwaszczas - mit Kersting ganz übereinstimmendes Urteil: „Hobbes kennt Vernunft nur noch als instrumenteile Vernunft" (ebd., S. 93), muß daher gerade im Hinblick auf die Rechtsphilosophie als unzutreffend zurückgewiesen werden. 203 Daß solcherart nominalistisch grundgelegter Gott zugleich in Auflösung begriffen ist, zeigt Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (s. Anm. 85). 204 Vgl. hierzu vor allem die berühmten Passagen aus De corpore I, 8 (s. Anm. 12), p. 1638-1720: „Itaque excludit a se Philosophia Theologiam, doctrinam dico de natura et attributis Die aeterni, ingenerabilis, incomprehensibilis, et in quo nulla compositio, nulla divisio institui, nulla generatio intelligi potest. [...] Excludit scientiam omnem, quae oritur ex divina inspiratione vel revelatione, quippe quae non est acquisita ratione, sed gratiä divina et actu instantaneo (quasi sensio quaedam supernaturalis) dono data. [...] Postremo excluditur a philosophia doctrina de cultu Die, qui non a ratione naturlai, sed ab authoritate Ecclesiae cognoscendus esr neque ad scientiam, sed ad fidem pertinet." Zu Hobbes' Gottesbegriff vgl. auch Douglas M Jesseph, Hobbes's Atheism, in: Midwest Studies in Philosophy XXVI (2002), pp. 140-166. https://doi.org/10.3790/978-3-428-51820-3 Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 195.37.232.209 on 2022-02-21, 12:44:56 1645447496GMTC FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
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rieelement, das ebenfalls jene grundlegende Differenz als notwendige aufweist: Hobbes unterscheidet nämlich im Kapitel V, 5 des Leviathan zwischen „Error and Absurdity", dem Irrtum und der Widersprüchlichkeit 205 : „When a man reckons without the use of words, which may be done in particular things, (as when upon the sight of any one thing, wee conjecture what was likely to have preceded, or is likely to follow upon it;) if that which he thought likely to follow, followes not; or that which he thought likely to have preceded it, hath not preceded it, this is called ERROR; to which even the most prudent men are subject. But when we Reason in Words of generali signification, and fall upon a generali inference which ist false; though it be commonly called Error , it is indeed an ABSURDITY, or senseless Speech. For Error is but a deception in presuming that somewhat is past, or to come; of which, though it were not past, or not to come; yet there was no impossibility discoverable. But when we make a generali assertion, unless it be a true one, the possibility of it unconceivable. And words whereby we conceive nothing but the sound, are those we call Absurd , Insignificant , and Nonsense. And therefore if a man should talk to me of a round Quadrangle ; or accidents of bread in Cheese, or Immaterial Substances , or of A free Subject ; A free-Will , or any Free , but free from being hindered by opposition, I should not say he were in an Errour, but that his words were without meaning; that is to say, Absurd." 206 Den Irrtum (Error) reserviert Hobbes mithin für falsche Erkenntnisse, bzw. Täuschungen im Rahmen der empirischen Erkenntnisakkumulation, der Erfahrung, oder wie er sagt, des Tatsachen- bzw. Klugheitswissens. Als Widersinnigkeiten (Absurdity) dagegen bezeichnet Hobbes logische und ontologische Widersprüche, wie „immaterielle Substanzen", „rundes Viereck" oder „Akzidentien von Brot im Käse". Schon hier erscheint auch der „freie Wille", den Hobbes explizit als Widersinnigkeit bewertet. Derartige Widersprüche sind aber nicht mehr als Worte ohne Bedeutung - semantische Nichtigkeiten, eben letztlich Nichts bzw. „insignificant sound": ,Another [sort of insignificant sound], when men make a name of two Names, whose significations are contradictory or inconsistent; as this name, an incorporeall body , or (which is all one) an incorporeall sunstance , and great number more. For whensoever any affirmation is false, the two names of which it is composed, put together and made one, signifie nothing at all. For example, if it be a false affirmation to say a quadrangle is round , the word round quadrangle signifies nothing; but is a meere sound."207 Dieser theoretische Widerspruchsbegriff ist aber durchaus nicht mit dem praktischen Widerspruchsbegriff aus De cive I, 13, nach dem deijenige, der im Naturzustand verbleiben will, sich selbst widerspricht, zu identifizieren. Wie
205 Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Esfeld, (s. Anm. 19), S. 166 ff. 206 Leviathan V, p. 33 f. 207 Leviathan IV, p. 30.
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Spinoza 208 entfaltet Hobbes also in seiner theoretischen Philosophie einen Widerspruchsbegriff, der jeden Widerspruch zur Widersinnigkeit, zum „nichtssagenden Schall" (30) und Rauch, eben zu Nichts erklärt; in seiner praktischen Philosophie erhält aber der Widerspruch den Status einer vernunfttheoretischen Notwendigkeit, nämlich den eines notwendigen Elements des exeundum-Arguments. Noch die von Hobbes mit der Behauptung, „the savage people in many places of America" lebten tatsächlich im Naturzustand (Leviathan XIII, p. 89), forcierte Unklarheit über den rationalen Status dieser rein juridischen Idee, 209 verdeutlicht, daß der für sie konstitutive Widerspruch nicht jener der allgemeinen Logik und Wissenschaftstheorie sein kann, weil er eben nicht nur nicht semantische Nichtigkeit, mithin Nichts ist, sondern hier gar empirische Realität. Die für Hobbes aus seiner materialistischen Ontologie entwickelte sensualistische Erkenntnislehre und seine daraus abgeleitete nominalistische Vernunft» und Wissenschaftstheorie enthalten nicht nur intern dogmatisch-rationalistische Momente, 210 vor allem seine durchaus rationalistische politische Philosophie 211 ist mit dem Sensualismus/Empirismus seiner theoretischen Philosophie grundsätzlich inkompatibel; unvermittelt und unvermittelbar schlägt die erste Stellung des Gedankens zur Objektivität in die zweite um, 2 1 2 und zwar notwendig: „Die eigentlich originelle Wendung in Hobbes' Philosophie besteht darin, daß sie den empirischen Inhalt, den die exakte Wissenschaft festgestellt hat, in einen rationalen Inhalt zu verwandeln und als solchen zu begründen unternimmt. 4'213 Schon aufgrund der unbewältigten Gemengelage sensualistischer und rationalistischer Grundannahmen in der Gesamtsystematik seiner Philosophie kann Hobbes' allgemeine Naturphilosophie und theoretische Anthropologie weder Voraussetzung seiner Politischen Philosophie sein, noch können deren Grundlagen zugleich solche für seine Anthropologie liefern. 208 Eth. I, 11, demo. 2; vgl. hierzu Engfer, Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 138 f.; Gideon Stiening^Substanz und Grund bei Spinoza, in: Societas rationis. Festschrift für Burkhard Tuschling zum 65. Geburtstag, hrsg. von Dieter Hüning, Gideon Stiening und Ulrich Vogel, Berlin 2002, S. 61-82, spez. S. 72 f. 209 Kersting, Hobbes zur Einführung (s. Anm. 4), S. 69 f. 210 Vgl. hierzu Engfer, Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 107: „Der vorgebliche Empirist Hobbes geht in seiner Konzeption der wissenschaftlichen Methode systematisch von der Existenz erfahrungsunabhängiger Prinzipien aus, die allein durch die Vernunft erschlossen und eingesehen werden." 211 Vgl. hierzu auch Geismann, Die Grundlegung (s. Anm. 80), S. 241. 212 Vgl. hierzu anders Engfer, Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 57), S. 107 sowie Esfeld, Mechanismus und Subjektivität (s. Anm. 19), S. 159, die von einer durch Hobbes geleisteten Vermittlung beider erkenntnistheoretischen Grundhaltungen ausgehen. 213 Cassirer, Erkenntnisproblem II (s. Anm. 74), S. 53.
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Gideon Stiening IV. Anthropologie und Politik, Teil 2: Handlungstheorie
Gleiches gilt für die ersten Momente der praktischen Anthropologie des Hobbesschen Systems, die auf der Grundlage einer mechanistischen Willenskonzeption eine entsprechende Handlungstheorie entwerfen, und zwar abermals in unmittelbarer Ableitung aus dem oben skizzierten allgemeinen Bewegungsbegriff. Zu diesem Zweck unterscheidet Hobbes zunächst „two sorts of Motions peculiar for them (all animals)" (Leviathan VI, p. 37). Die erste Bewegungsart definiert Hobbes als „Vitair, deren Spezifikum darin besteht, keiner Unterstützung durch die Vorstellungskraft zu bedürfen; die zweite aber, und um die wird es in der Folge vor allem gehen, nennt Hobbes ,y4nimall motion , otherwise called Voluntary motion " (Leviathan VI, p. 38), die genau dadurch definiert ist, daß sie „is first fancied in our minds", woraus Hobbes folgert: „the Imagination is the first internall beginning of all Voluntary Motion" (alle Zitate ebd.). Solcherart Vorstellungen aber sind keineswegs freie Zwecksetzungen, sondern vielmehr Resultat - Hobbes spricht von Summe unterschiedlicher, durchaus hochkomplexer Vorstellungs- und Affektkonstellationen, die als unterschiedene, sich durchaus auch widersprechende, d. h. sich gegenseitig aufhebender mechanistisch-materiale Ursachenkomplexe im Prozeß eines „Kalküls" 2 1 4 auf ihren summarischen Bewegungsimpuls hin überprüft werden. Hobbes nennt dieses aus „Verlangen und Abneigung, Hoffnung und Befürchtung" konstituierte Kalkül „Überlegung" („Deliberation", Leviathan VI, p. 44) und definiert diese wie folgt: „And it is called Deliberation , because it is a putting an end to the Liberty we had of doing, or omitting, according to our own Appetite or Aversion." 215 Den Willen, der nicht die rein formelle Fähigkeit des Wollens bezeichnet, die Hobbes im Rahmen dieser praktischen Anthropologie als sinnlosen Begriff verwirft, bestimmt er auf dieser Grundlage nunmehr in der folgenden Weise: „In Deliberation, the last Appetite or Aversion immediatly adhaering to the action, or to the omission thereof, is that wee call the WILL, the Act (not the faculty) of Willing. [...] Will therefor is the last Appetite in Deliberation." 2^ Weil also auch der Wille als Produkt der Bewegung von Materie und insofern als diese selbst bestimmt wird, muß Hobbes die Konsequenz ziehen, den Begriff des „freien Willens" grundsätzlich für widersprüchlich und damit für bedeutungslos zu erklären, für eben einen jener oben zitierten „insignificant sound[s]". Weil noch in De corpore und De homine 217 diese Theorie ihre Gül214
So zu recht Cramer , Naturzustand und Vernunft (s. Anm. 101), S. 45. Leviathan VI, p. 44. 216 Leviathan VI, p. 44 f. 217 Vgl. auch De corpore XXV, 13 (s. Anm. 12), pp. 27929-280i2; sowie De homine XI, 2 (s. Anm. 11), p. 95 f. 215
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Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan
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tigkeit behält, gilt sie zu Recht in der Forschung als Grundzug der Hobbesschen Anthropologie 218 und wird eben auch im Leviathan als Lehre von der Unfreiheit des Willens in diesem Sinne ausgeführt. Nun hat allerdings Christine Chwaszcza 219 - neben anderen 220 - dieser Negation der Willensfreiheit die These von einer bei Hobbes entfalteten Handlungsfreiheit kontrastiert, die sich als kluge, d. h. prognostische, vernünftige und daher konstruktive Überlegung, mithin als rationale Wahlfreiheit zwischen den durch die Leidenschaften im Willen konstituierten Handlungsalternativen realisiere. Nicht zu bestreiten ist dabei zunächst, daß Hobbes in De corpore folgendes ausführt: „Quod si per libertatem intelligamus facultatem, non quidem volendi, sed quae volunt faciendi, ea certe libertas utrique concedi potest; et cum adest, aeque utrique adest" 221 Schon in De cive hatte Hobbes - allerdings eher beiläufig - unterschieden: „Quamquam autem voluntas non sit ipsa voluntaria, sed tantum actionum voluntarium principium, (non enim volumus velle, sed facere) [,..]." 222 Und die in diesen - bei Chwaszcza nicht zitierten - Passagen entwickelte Theorie wird bei der Interpretin gleichwohl zur wesentlichen Voraussetzung für den zweiten, politischen Teil des Leviathan erhoben: „Für das staatsphilosophische Argument Hobbes' ist jedoch einzig entscheidend, daß der Mensch diese Deliberationsföhigkeit prinzipiell besitzt; denn damit erhält er genau die Voraussetzung, die er als Subjekt des natürlichen Konfliktzustandes und des Staatsgründungsvertrages benötigt. Die im Deliberationsvermögen begründete Handlungsfreiheit gestattet ihm, sein Handeln von den aktualen und konkreten Neigungen abzukoppeln und an prospektiven und allgemeinen Überlegungen zu orientieren." 223 Diese These scheint mir jedoch in mehrfacher Hinsicht unzutreffend zu sein: Nicht erst in De corpore , sondern auch schon im Leviathan führt kein analytischer Ableitungsweg von dem als mechanistischer Deliberationsprozeß beschriebenen Willen zu einer Freiheit überhaupt, schon gar nicht zu einem Begriff der Handlungsfreiheit. Dieser wird vielmehr synthetisch gewonnen, indem erneut ausgehend von der materialistischen Bewegungstheorie folgende negative Bestimmung als Freiheit definiert wird:
218 219 220 221 222 223
Overhoff.Unfreiheit des Willens (s. Anm. 30), S. 130-133. Chwaszcza , Anthropologie und Moralphilosophie (s. Anm. 30), S. 98-100. Vgl. dazu ebenso Weiß , Das philosophische System (s. Anm. 6), S. 102 ff. De corpore XXV, 13 (s. Anm. 12), p. 280I