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German Pages [434]
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (München) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)
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Nicole Frank
Der Kolosserbrief im Kontext des paulinischen Erbes Eine intertextuelle Studie zur Auslegung und Fortschreibung der Paulustradition
Mohr Siebeck
Nicole Frank, geboren 1978; 1997–2004 Studium der Germanistik und katholischen Theologie in Tübingen und Berlin; 2005–2009 wissenschaftliche Assistentin (AiO) an der Universität Utrecht; Promotion.
e-ISBN PDF 978-3-16-151614-6 ISBN 978-3-16-150118-0 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Vorwort Vorwort Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist im Winter 2008/2009 von der Theologischen Abteilung der Geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Utrecht als Dissertationsschrift angenommen worden. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Mein herzlicher Dank gilt allen Beteiligten des Forschungsprojekts „Habent sua fata libelli: Textprocessing in the philosophical and religious movements of the Roman Empire“, im Rahmen dessen diese Dissertation entstanden ist. Am meisten zu danken habe ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Annette Merz, auf deren methodisch-konzeptioneller Vorarbeit die vorliegende Untersuchung zum Kolosserbrief aufbaut und die das Projekt nicht nur initiiert und konzipiert hat, sondern meine Arbeit auch intensiv begleitet und unterstützt hat. Prof. Dr. Geert van Oyen gilt ein herzlicher Dank dafür, dass er trotz der unvorhergesehenen beruflichen Herausforderungen und Veränderungen, die sich just während meiner Promotionszeit für ihn ergeben haben, dennoch die Zeit gefunden hat, diese Dissertation als zweiter Promotor weiterhin zu betreuen. Co-Promotor Dr. Teun Tieleman verdanke ich viele wichtige Anregungen aus dem Bereich der antiken Philosophiegeschichte, die für die Textanalyse des Kolosserbriefes sehr fruchtbar waren. Diese Vielfalt unterschiedlicher Anregungen und Impulse aus je anderem Blickwinkel und unterschiedlichem fachlichem Hintergrund heraus haben die gemeinsame Arbeit in unserer interdisziplinären Projektgruppe geprägt, und für diese produktive und anregende Zusammenarbeit möchte ich meinen ProjektkollegInnen Martin Ruf, Anna Ntinti und Irene Conradi danken. Für verschiedenste organisatorische und praktische Hilfestellungen sowie die Unterstützung beim wiederholten Korrekturlesen der Arbeit danke ich Dr. Izaak de Hulster, Dr. Dorottya Nagy, Martin Ruf, Kai Freund, Stefan Leng und Wolf-Ulrich Schnurr. Herzlich danke ich ferner Prof. Dr. Michael Theobald, der mich immer dazu ermutigt hatte, eine exegetische Dissertation zu schreiben, und mich damals im Sommer 2004 auf das Utrechter Forschungsprojekt aufmerksam gemacht hatte. Für die Aufnahme der Arbeit in die zweite Reihe der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament danke ich insbesondere Prof. Dr.
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Vorwort
Jörg Frey und Dr. Henning Ziebritzki sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags, die das Werden dieses Buches kompetent betreut und begleitet haben. Widmen möchte ich dieses Buch in Dankbarkeit meiner Familie, die mich stets in jeder erdenklichen Weise unterstützt hat. Tübingen, im September 2009
Nicole Frank
Inhaltsverzeichnis Inhalt Inhalt Vorwort ................................................................................................. V
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung .......... 1 1. Vorbemerkungen ................................................................................. 1 2. Intertextualität und ‚kulturelles Gedächtnis‘ ....................................... 5 3. Formen von Intertextualität ................................................................. 8 4. Zur Frage der literarischen Abhängigkeit: potentielle Prätexte des Kolosserbriefes ............................................ 11 5. Zur Klassifikation intertextueller Bezüge .......................................... 15 6. Funktionsarten intertextueller Verweise ............................................ 22 7. Wer schrieb den Kolosserbrief? ........................................................ 26 8. Zum Aufbau der Textanalyse ............................................................. 31
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18) ............................................................ 35 1. Vorbemerkungen zur Adressatenfrage ............................................... 36 2. Präskript (Kol 1,1f) ........................................................................... 40 3. Danksagung (Kol 1,3–8) ................................................................... 44 4. Fürbitte und Überleitung zum Hymnus (Kol 1,9–14) ......................... 50 5. Schlussparänese (Kol 4,2–6) ............................................................. 58 6. Nachrichten und Grüße (Kol 4,7–14) ................................................ 63 7. Grußaufträge und Schlussgruß (Kol 4,15–18) ................................... 75 8. Auswertung ....................................................................................... 79
VIII
Inhalt
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5) ................................................................. 89 1. Verkündigungstätigkeit und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29) ....... 90 2. An- und Abwesenheit des Apostels (Kol 2,1–5) ................................ 108 3. Auswertung ..................................................................................... 118
IV. Christologie und Soteriologie des Kol (Kol 1,15–23a, 2,9–15 und 3,1–4) .................................... 125 1. Die ‚Christushymnen‘ Kol 1,15–20 und Phil 2,6–11 – ein Vergleich ................................................................................... 126 a) Vorbemerkungen zum Forschungsstand .......................................... b) Strukturalität: Strukturelle Berührungen von Kolosser- und Philipperhymnus ................................................ c) Dialogizität: Inhaltliche Berührungspunkte von Kolosser- und Philipperhymnus ................................................ d) Redaktionelle Bearbeitung des Kolosserhymnus ............................. e) Übertragung auf die Adressaten (Kol 1,21–23a) ..............................
126 138 144 150 159
2. Das neue Leben in Christus (Kol 2,9–15 und 3,1–4) ........................ 163 a) Kol 2,11-14 als frühchristliche Tauftheologie ................................. b) Anknüpfung und Überleitung (Kol 2,9f) ......................................... c) Die Taufe als Beschneidung und Ablegen des Fleischesleibes (Kol 2,11) ........................................................................................ d) Die Taufe als Auferstehung (Kol 2,12) ........................................... e) Die Taufe als Tod und Sündenvergebung (Kol 2,13f) ...................... f) Überleitung zur Gegnerpolemik (Kol 2,15) ...................................... g) Ethische Konsequenzen des neuen Lebens (Kol 3,1f) ...................... h) Eschatologischer Ausblick (Kol 3,3f) .............................................
167 169 172 176 187 192 197 200
3. Auswertung ..................................................................................... 201
V. Wie ihr Jesus Christus als Herrn angenommen habt, so lebt auch in ihm: lebenspraktische Anforderungen und Herausforderungen im Kolosserbrief ......................... 207
Inhalt
IX
1. Die Auseinandersetzung mit gegnerischen Heilslehren (Kol 2,6–8 und 2,16–23) .................................................................. 207 a) Forschungsgeschichtliche und methodische Vorbemerkungen zur Gegnerfrage ................................................... b) Überleitung zur Gegnerproblematik (Kol 2,6–8) ............................. c) Der Kernbereich der kolossischen Gegnerpolemik (Kol 2,16–23) ... d) Auswertung ....................................................................................
207 219 227 249
2. Tugend- und Lasterkataloge des Kol (Kol 3,5–17) .......................... 253 a) Vorbemerkungen zu Gattung und intertextueller Struktur ............... b) Erster Lasterkatalog (Kol 3,5–7) ..................................................... c) Zweiter Lasterkatalog und Überleitung zum Tugendkatalog (Kol 3,8–11) .................................................... d) Tugendkatalog und Überleitung zur Haustafel (Kol 3,12–17) .......... e) Auswertung .....................................................................................
253 258 266 275 286
3. Die Haustafel des Kolosserbriefes (Kol 3,18–4,1) ........................... 290 a) Vorbemerkungen zur Gattungsgeschichte und Struktur ................... b) Frauen- und Männerparänese (Kol 3,18f) ........................................ c) Kinder- und Väterparänese (Kol 3,20f) ........................................... d) Sklaven- und Herrenparänese (Kol 3,22–4,1) .................................. e) Auswertung .....................................................................................
291 298 302 304 322
VI. Auswertung: Die intertextuelle Textkonstitution des Kol ............................................................................ 327 1. Intertextuelle Mechanismen der Textproduktion .............................. 328 2. Intertextuelle Textrezeption: Distributionscluster der Text-Prätext-Relationen ............................................................ 336 3. Referenztextorientierung des Kol: rezeptions- und interpretationslenkende Mechanismen ............................................ 355 a) Die Gegenwartsperspektive des Kolosserbriefes ............................. 356 b) Die Gesellschaftsperspektive des Kolosserbriefes ........................... 359 c) Das kolossische Kirchenverständnis: Hierarchisierung, Globalisierung, Institutionalisierung ................... 363 4. Abschließende Bemerkungen und Ausblick ...................................... 370
X
Inhalt
Literaturverzeichnis ............................................................................ Stellenregister ..................................................................................... Autorenregister ................................................................................... Sachregister ........................................................................................
373 399 417 419
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
1. Vorbemerkungen 1. Vorbemerkungen
(Kol 2,5).
„Auch wenn ich im Fleische nicht bei euch bin, so bin ich doch im Geiste bei euch.“ Mit dieser Versicherung der Nähe und Anteilnahme beschließt der Autor des Kolosserbriefes in Kol 2,5 die Passage ‚apostolischer Selbstcharakterisierung‘, i.e. der brieflichen Selbstvorstellung des kolossischen ‚Paulus‘. Jene Formel der abwesenden Anwesenheit des Apostels, die dazu dient, die räumliche Distanz zu den Adressaten1 brieflich zu überbrücken (vgl. 1 Kor 5,3), entfaltet im Kontext des Kolosserbriefes eine ganz neue Form der apostolischen Parusie: Wenn wir mit der Mehrheit der heutigen Exegeten voraussetzen, dass der Kolosserbrief in nachpaulinischer Zeit verfasst wurde, d.h. weder durch Paulus selbst2 noch zu dessen Lebzeiten,3 1 Im Rahmen dieser Arbeit beziehen sich personenreferentielle Nomina, die grammatisch maskulines Genus haben, grundsätzlich auf beide Geschlechter, d.h. generische Bezeichnungen wie ‚Exeget‘, ‚Autor‘ oder ‚Adressat‘ schließen ausdrücklich auch ‚Exegetinnen‘, ‚Autorinnen‘ und ‚Adressatinnen‘ ein. 2 Die Argumente für den deuteropaulinischen Charakter des Kolosserbriefes sind in den vergangenen 30 Jahren exegetischer Forschung ausführlich ausgetauscht worden, so dass an dieser Stelle auf eine ausführliche Behandlung der einzelnen Argumente zur Autorschaft des Kol verzichtet wird. Verwiesen sei hier in erster Linie auf die Studie von Bujard, der die grundlegenden sprachlich-stilistischen und theologischen Unterschiede zwischen Kol und den authentischen Paulinen überzeugend aufzeigen konnte, und damit in der Forschung zum Kolosserbrief Maßstäbe gesetzt hat (Bujard, Walter: Stilanalytische Untersuchungen zum Kolosserbrief als Beitrag zur Methodik von Sprachvergleichen [= StUNT 11]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973). Zu einem Überblick über die wesentlichen Argumentationen in der Verfasserfrage siehe ferner Pokorný, Petr: Der Brief des Paulus an die Kolosser (= ThHK 10,1). Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1987, S. 10–15, Wolter, Michael: Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (= ÖTK 12). Gütersloh: Mohn / Würzburg: Echter 1993, S. 27–31, und Kiley, Mark: Colossians as Pseudepigraphie (= BiSe 4). Sheffield: JSOT Press 1986, S. 37–69, sowie Lindemann, Andreas: Der Kolosserbrief (= ZBK.NT 10). Zürich: Theologischer Verlag 1983, S. 41, sowie Hoppe, Rudolf: Epheserbrief. Kolosserbrief (= SKK.NT 10). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1987, S. 10f, und Ludwig, Helga: Der Verfasser des Kolosserbriefes – Ein Schüler des Paulus. Göttingen: [diss.masch.] 1974.
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
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so gewinnt nicht nur die Redeweise von dessen „Abwesenheit im Fleische“ ( ), sondern auch der Topos der brieflichen Parusie, wie er in Kol 2,5 zum Ausdruck kommt, eine neue Dimension – die textuelle Repräsentanz tritt nicht mehr nur temporär an die Stelle der leiblichen Anwesenheit, sondern in einer grundsätzlichen und letztgültigen Weise. Diese Endgültigkeit der (leiblichen) Abwesenheit Pauli wird gleichsam literarisch kompensiert durch die pseudepigraphe Fortführung der paulinischen Tradition über dessen Tod hinaus. Der Verlust einer apostolischen Autorität, die durch briefliche Korrespondenz in direkter Weise Ansprechpartner und Richtlinieninstanz bilden kann, war für die Entwicklung des frühen Christentums ein neuralgischer Punkt, an dem – in Ermangelung einer allgemein anerkannten Autorität – die Gefahr nicht nur einer Tradierungslücke drohte, sondern auch einer Zersplitterung der sich konstituierenden Glaubensgemeinschaft in unterschiedliche Auslegungstraditionen des paulinischen Erbes, dessen „direkte Selbstdeutung“ (Vollenweider) durch den Apostel selbst nun nicht mehr möglich war. Und an diesem Punkt ermöglicht das Aufkommen pseudepigrapher Schriften, jene Tradierungs- und Selbstdeutungslücke zu überbrücken und „den Abwesenden je neu in die Gegenwart sprechen“ zu lassen.4 In diesem Sinne differenziert Gerd Theißen in seiner Literaturgeschichte des Neuen Testaments die initiale Phase der Erstüberlieferung und die sich daran anschließende pseudepigraphe Phase: Nach dem Tod der „drei wichtigsten urchristlichen Führungsgestalten“ (Paulus, Jakobus, Petrus) wurde jene ‚fiktive Selbstauslegung‘ der Führungs- und Identifikationsfiguren des frühen Christentums, wie sie durch das Medium pseudepi3
Wenngleich sich hinsichtlich der genauen Datierung des Kol noch kein Konsens in der neutestamentlichen Forschung abzeichnet, so spricht doch vieles dafür, dass dessen Entstehung relativ zeitnah nach dem Tod des Apostels anzusetzen ist. Ein wesentliches Argument dafür ist das in der ‚apostolischen Selbstcharakterisierung‘ des Kol gezeichnete Paulusbild (vgl. Kol 1,23–2,5), das so stark von der Konnotation des Leidens und Sterbens des Apostels geprägt ist, dass hier eine unmittelbare literarische Rezeption des Todes Pauli sehr wahrscheinlich erscheint. Siehe dazu insbesondere Betz, Hans Dieter: Paul’s „Second Presence“ in Colossians. In: Fornberg, Tord / Hellholm, David (Hrsg.): Texts and Contexts. Biblical Texts in their Textual and Situational Contexts. FS Lars Hartman. Oslo u.a.: Scandinavian University Press 1995, S. 507–518, hier S. 513f. Vgl. ferner Leppä, Outi: The Making of Colossians. A Study on the Formation and Purpose of a Deutero-Pauline Letter. Vantaa: Tummavuoren Kirjapaino Oy 2000, S. 166, und Standhartinger, Angela: Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefs (= NT.S 94). Leiden u.a.: Brill 1999, S. 3, sowie dies.: Colossians and the Pauline School. In: NTS 50 / 2004, S. 572–593, hier S. 582f. 4 Vgl. Vollenweider, Samuel: Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte. In: Mayordomo, Moisés (Hrsg.): Die prägende Kraft der Texte. Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. FS Ulrich Luz (= SBS 199). Stuttgart: Katholisches Bildungswerk 2005, S. 142–159, hier S. 154–157 (Zitate S. 156f).
1. Vorbemerkungen
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grapher Schriften vollzogen wird, als Mittel der Autoritätsausübung nötig,5 um die neutestamentliche Überlieferung nach jener Erstüberlieferungsphase konsequent fortschreiben und damit in ihrer Aktualität sichern zu können: „Die beiden Grundformen ‚Evangelium und Brief‘ leben ganz von der Autorität der Person, sie verdanken ihre Wirkungskraft Jesus und Paulus. In kurzer Zeit stiften sie eine autoritative Tradition: Die pseudepigraphen Schriften basieren auf dieser Autorität der Tradition. Sie wollen Tradition bewahren und durch Korrektur der ersten Autoritäten aktualisieren.“6 Die vorliegende Arbeit geht daher von dem Ansatzpunkt aus, dass der Kolosserbrief – als mutmaßlich erstes paulinisches Pseudepigraphon – mit dem Anspruch und der Intention verfasst wurde, jene bewahrende und aktualisierende Fortschreibung des paulinischen Erbes zu leisten. Dieser Ausgangspunkt schließt notwendig exegetische Konsequenzen ein, insofern sich die Wahrnehmung des Kol als Pseudepigraphon sowohl von einem zu eng und zu eindimensional gefassten Verständnis von Pseudepigraphie als literarischer Fälschung als auch von einer rein vergleichenden Betrachtung von Proto- und Deuteropaulinen lösen muss. Erforderlich ist vor dem Hintergrund jenes Übergangs von direkter Selbstdeutung zu fiktiver Selbstauslegung vielmehr eine differenzierte Betrachtung dieser Entwicklung als eines Aktualisierungsprozesses des tradierten orthonymen Schriftgutes; ein exegetischer Perspektivwechsel, wie ihn Vollenweider treffend formuliert: „Das Interesse verschiebt sich an diesem Punkt von der älteren Frage, was den originalen Paulus von den Pseudepigraphen unterscheidet, zur neueren Frage, wie ‚Paulus‘ in einer neuen geschichtlichen Situation angemessen zur Sprache gebracht wird.“7 Eine solche aktualisierende Neu-Versprachlichung muss im Blick auf die Rezeptionsseite zweierlei leisten, i.e. zwei Ansprüchen gerecht werden. Als notwendige Voraussetzung der Rezeption als paulinisches Schreiben, die ein Pseudepigraphon konstitutiv beansprucht, muss sie durch den literarischen Rückgriff auf ihre orthonymen Vorgänger eine Authentizitätsfiktion aufbauen, die ihre autoritative Rezeption als Apostelbrief sicherstellt. Da jene autoritative Rezeption dabei jedoch keinen Selbstzweck darstellt, sondern vielmehr Mittel des übergeordneten inhaltlichen Anspruchs, das paulinische Erbe aktualisierend fortzuschreiben, fungiert 5
Theißen, Gerd: Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (= Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 40). Heidelberg: Winter 2007, S. 147. Der Begriff der „fiktiven Selbstauslegung“ geht auf Annette Merz zurück (s.u., Fußnote 9). 6 Theißen, Entstehung, S. 351. Ähnlich auch Harding, Mark: Disputed and Undisputed Letters of Paul. In: Porter, Stanley E. (Hrsg.): The Pauline Canon (= Pauline Studies 1). Leiden: Brill 2004, S. 129–168, hier v.a. S. 147–150 und S. 162–165. 7 Vollenweider, Exegese und Wirkungsgeschichte, S. 158.
4
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
dieser Rückgriff auf die paulinische Schrifttradition nicht nur als Authentizitätsmarker, sondern auch als Relecture innerhalb eines neuen situativen Hintergrundes. In anderen Worten: Mit der Abfassung eines Briefes unter dem Namen des Apostels sucht der Autor des Kolosserbriefes durch den Rückgriff auf die paulinische Überlieferung – als Wurzel der gemeinsamen Glaubenstradition und zugleich als geschichtliche Verankerung der Konstitution als christliche Gemeinschaft – eine identitäts- und orientierungsstiftende Funktion für die Gemeinden der zweiten und dritten christlichen Generation einzunehmen. Diese Form der Rück-Vergewisserung einer kulturellen Gemeinschaft anhand des literarischen Rückgriffs auf die eigene Vergangenheit wird in der Forschung zur allgemeinen Kulturtheorie mit dem Modell des kulturellen Gedächtnisses umschrieben, d.h. der gemeinschaftskonstituierenden und kulturstiftenden Funktion literarischer Überlieferung. Gerade die autoritativen Texttraditionen, auf denen eine Kulturgemeinschaft basiert, durchlaufen dabei einen kontinuierlichen Prozess der Wiederaufnahme und Re-Interpretation und generieren genau darin kulturelle Identität.8 Im Falle der hier vorliegenden spezifischen Form von Literatur, i.e. pseudepigrapher Schriften, wird dieser Transfer kultureller Erinnerung wesentlich durch die Wiederaufnahme literarischen Traditionsgutes der (orthonymen) Vorgängertexte durch einen (pseudonymen) Nachfolgetext vollzogen. Literaturwissenschaftlich betrachtet bedeutet dies, dass bestimmte Formen intertextueller Verweise genutzt werden, um eine Verbindung zur gemeinsamen Tradition herzustellen und diese in einen aktualisierten Kontext einzubinden. Somit bietet auch die moderne Intertextualitätstheorie ein hilfreiches methodisches Instrumentarium, um die Textstrategien und -mechanismen pseudepigrapher Literatur erfassen zu können. Unter Aufnahme des Ansatzes, der von Merz 2004 anhand der Pastoralbriefe entwickelt und methodisch entfaltet wurde, steht in dieser Arbeit dabei das literarische Mittel der fiktiven Selbstreferenz im Vordergrund,9 d.h. die Wiederaufnahme paulinischer Texte und Inhalte unter dem pseudepigraphischen Deckmantel einer vermeintlichen Eigentextreferenz Pauli, der als vorgeblicher Autor des Schreibens Bezug auf seine eigenen (vorhergehenden) Texte zu nehmen scheint und somit auch beansprucht, 8 Siehe v.a. Kirk, Alan: Social and Cultural Memory. In: Ders. / Thatcher, Tom (Hrsg.): Memory, Tradition and Text. Uses of the Past in Early Christianity (= SBL Semeia Studies 52). Atlanta: SBL 2005, S. 1–24; sowie Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992, und ders.: Text und Kommentar. Einführung. In: Ders. / Gladigow, Burkhard (Hrsg.): Text und Kommentar (= Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 4). München: Fink 1995, S. 9–33, hier S. 9f und S. 22–25. 9 Vgl. Merz, Annette: Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe (= StUNT 52). Göttingen 2004, S. 231f.
2. Intertextualität und ‚kulturelles Gedächtnis‘‘
5
die genuine, da originäre Deutungshoheit dieser Texte zu besitzen. Inwieweit dieser Anspruch zur Folge hat, dass innerhalb des Kolosserbriefes eine bestimmte Interpretation jener Texte nahegelegt, forciert oder aber – aus der gegenläufigen Perspektive – ausgeschlossen werden soll, wird dabei eine zentrale Fragestellung der Textanalyse sein. Intertextualitätstheorie und Kulturtheorie, unter dem gemeinsamen Schnittpunkt des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ als literarischer Form des Rückgriffs auf zugrundeliegendes Traditionsgut und damit auch als Form intertextuellen Verweises,10 bilden in der vorliegenden Arbeit daher den methodischen Rahmen für die Untersuchung jenes neutestamentlichen Briefes, der als mutmaßlich erster ebenso bewusst wie fälschlich Paulus zugeschrieben wurde – und somit gleichsam die Rekonstruktion eines ‚prototypischen‘ Musters der unterschiedlichen Strategien und Funktionen pseudepigraphischer Textkonstitution erlaubt.11
2. Intertextualität und ‚kulturelles Gedächtnis‘ 2. Intertextualität und ‚kulturelles Gedächtnis‘‘ Seit dem Aufkommen des Intertextualitätskonzeptes im Gefolge der russischen Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre und seiner Modifikation und Explikation durch Julia Kristeva in den späten sechziger Jahren wurden eine Vielzahl unterschiedlicher, teilweise disparater konzeptioneller und terminologischer Modelle entwickelt, deren einziger gemeinsamer Nenner sich bisweilen auf den grundsätzlichen Anspruch beschränkt, die Relationen zwischen Texten erfassen zu wollen.12 In der Ausdehnung des Begriffs von Intertextualität variiert dabei das Spektrum 10 Zur methodischen Schnittmenge von Intertextualitätstheorie, ‚kulturellem Gedächtnis‘ und biblischer Exegese vgl. auch Orosz, Magdolna: Literarische Bibellektüre(n). Aspekte einer semiotischen Intertextualitätskonzeption und intertextueller Textanalyse. In: Alkier, Stefan / Hays, Richard B. (Hrsg.): Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (= Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 10). Tübingen: Narr Francke 2005, S. 217–236, hier S. 226. 11 Siehe auch Leppä, Colossians, S. 366, sowie Bevere, Allan R.: Sharing in the Inheritance. Identity and the Moral Life in Colossians (= JSNT 226). London: Sheffield Academic Press 2003, S. 1. 12 Zur Begriffs- und Entwicklungsgeschichte von Bachtins ‚dialogischem Prinzip‘ zu Kristevas Intertextualitätsbegriff und dessen Weiterentwicklungen vgl. z.B. Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien (= Explicatio. Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft). Paderborn u.a.: Schöningh 1998, S. 17–28, sowie Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Ders. / Broich, Ulrich (Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglizistische Fallstudien (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35). Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1–30, und Schmitz, Thomas A.: Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 76–81 und S. 91–96.
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I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
potentieller Anwendungsbereiche zwischen einer globalen Vernetztheit von Texten als grundsätzlichem inhärentem Merkmal jeglicher Form von Textualität, und einer stärker textanalytisch ausgerichteten Begrenzung des Begriffs auf deskriptiv erfassbare intertextuelle Bezüge konkreter Einzeltexte, die anhand bestimmter ‚Verweissignale‘ zu ermitteln und klassifizieren sind.13 Neben diesen beiden Konzepten, die bei Renate Lachmann als textontologisches und textdeskriptives Verständnis von Intertextualität bezeichnet werden, benennt Lachmann mit dem textfunktionalen Aspekt, i.e. dem „kritischen Potential“ dieses literarischen Vorgehens eine dritte Form der Eingrenzung des weiten Begriffs von Intertextualität,14 die m.E. den anderen beiden allerdings nicht neben-, sondern übergeordnet betrachtet werden muss: Intertextualität wurde immer schon unter einer grundlegenden, den konzeptionellen Differenzierungen übergeordneten gesellschaftlichen Perspektive betrachtet. Galt bei Bachtin und Kristeva noch die ideologiekritisch-revolutionäre Sprengkraft von Literatur als Ausgangspunkt der Frage nach Intention und Funktion von Intertextualität als literarischem Stilmittel,15 so tritt im Zuge der kulturtheoretischen Diskussionen der letzten 20 Jahre zunehmend eine allgemeinere Dimension der gesellschaftlichen Relevanz von Literatur in den Vordergrund: die gemeinschaftskonstituierende und kulturstiftende Funktion von literarischer Überlieferung als „Gedächtnisstifter einer Kultur“16 bzw. „Gedächtniskunst“17. Im Zentrum dieser Klassifizierung steht die gesellschaftsgeschichtliche Doppelfunktion schriftlicher Überlieferung, die einerseits der Weitergabe kultureller Information dient und andererseits im Prozess literarischer Textkonstitution immer zugleich auch neue kulturelle Information gene-
13 Zu dieser Polyvalenz des Intertextualitätsbegriffs siehe Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption (= Stauffenburg Colloquium 28). Tübingen: Stauffenburg 1993, S. 43; sowie Stocker, Theorie, S. 24f. 14 Lachmann, Renate (Hrsg.): Dialogizität (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Reihe A: Hermeneutik – Semiotik – Rhetorik 1). München: Fink 1982, S. 8f. Siehe auch dies.: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Stierle, Karlheinz / Warning, Rainer (Hrsg.): Das Gespräch (= Poetik und Hermeneutik 11). München: Fink 1984, S. 133–138, hier S. 133f. 15 So formuliert Pfister das gesellschaftskritische Potential des dialogischen Prinzips bei Bachtin vor dem kulturpolitischen Kontext des nachrevolutionären Russlands: „Eine autoritäre und hierarchisch strukturierte Gesellschaft wird die monologischen Affirmationen eines fixen Konsensus, einer stillgelegten Wahrheit durchzusetzen versuchen, während das dialogische Prinzip im Bereich von Politik und Gesellschaft den zentralisierten Macht- und Wahrheitsanspruch subversiv herausfordert und unterminiert.“ (Pfister, Konzepte, S. 2). Vgl. auch Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der Russischen Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 71. 16 Lachmann, Gedächtnis, S. 35. 17 Stocker, Theorie, S. 76.
2. Intertextualität und ‚kulturelles Gedächtnis‘‘
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riert.18 Diese literaturwissenschaftliche Sichtweise auf eine der grundlegendsten Funktionen von Literatur findet ihr kulturtheoretisches Pendant in der Konzeption des ‚kulturellen Gedächtnisses‘, d.h. der Stiftung kultureller Identität durch einen fortwährenden Prozess der Wiederaufnahme und Relecture autoritativer Texte einer Kulturgemeinschaft: „A community marks certain elements of its past as being of constitutive significance. Both identity and continuity, in fact the very survival of a community, depend upon its constant revitalization of these memories [...]. These memories are shaped into a community’s ‚master commemorative narrative‘“ (Kirk).19 Dabei lässt sich mit Jan Assmann zwischen „formativen Texten“, die das Selbstbild einer Gemeinschaft konstituieren, und „normativen Texten“, die deren ethisch-moralische Richtlinien definieren, differenzieren.20 Grundlage beider Formen ist jeweils der Rückgriff auf eine gemeinsame Vergangenheit als kollektive historische Basis gemeinsamer Wertvorstellungen, die faktisch aber als ‚kulturelles Gedächtnis‘ immer zugleich auch einem kontinuierlichen Prozess der Re-Interpretation und Adaption auf die aktuellen Umstände, Fragen, Probleme und Herausforderungen jener historischen Situation hin unterliegt, in der diese Relecture erfolgt: „Memory formations, however, do not thereby assume static, immobile forms. The activity of memory in articulating the past is dynamic, unceasing, because it is wired into the ever-shifting present. The remembering subject, from his or her situatedness in the present, interacts with a formative past to relate it meaningfully to contemporary exigencies and to the ongoing project of negotiating continuity and change in personal identity“.21
Ausgehend von diesen konzeptionellen Impulsen aus der modernen Literaturwissenschaft einerseits und der allgemeinen Kulturtheorie andererseits soll in der vorliegenden Arbeit jene identitätsstiftende bzw. -bestärkende Funktion literarischer Überlieferung die Grundlage für eine Untersuchung des Kolosserbriefes bilden, der als Gemeindebrief einerseits jene identitätsstiftende Funktion verkörpert und als Pseudepigraphon andererseits jenen Rückbezug auf autoritative Texte der Vergangenheit vollzieht und für diese identitätsstiftende Funktion fruchtbar macht. Methodisch bedeutet dies, die dabei wirksamen literarischen Mechanismen und Strategien auf der Grundlage einer intertextuellen Analyse zu untersuchen. Da für eine solche textanalytische Zielsetzung ein entsprechendes deskriptives Verständnis von Intertextualität vonnöten ist, das nicht von einer – mehr oder 18
Vgl. a.a.O., S. 78f. Kirk, Memory, S. 5. 20 Vgl. Assmann, Kommentar, S. 10, sowie ders., Gedächtnis, S. 16f. Siehe auch Kirk, Memory, S. 7 und 17–19. 21 Kirk, Memory, S. 10. 19
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
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weniger diffusen – globalen intertextuellen Verwiesenheit literarischer Texte ausgeht, sondern die konkreten, textimmanent wirksamen Mechanismen in den Blick nimmt, sollen im Folgenden einige Vorbemerkungen zu Methodik und Terminologie intertextueller Modelle erfolgen.
3. Formen von Intertextualität 3. Formen von Intertextualität Um deskriptiv trennscharf und somit textanalytisch überhaupt anwendbar zu sein, kann der Begriff der Intertextualität im vorliegenden Untersuchungszusammenhang nur dann sinnvoll zur Anwendung kommen, wenn Intertextualität nicht als generelles Textualitätsmerkmal verstanden wird – häufig auch unter der Umschreibung „Implikativität“, um eine terminologische Abgrenzung vom allgemeinen Intertextualitätsbegriff zu schaffen –,22 sondern ein Verständnis bewusster referentieller „Doppelkodierung“23 als spezifisches Strukturmerkmal eines Textes vorausgesetzt wird.24 Das heißt, die sprachlichen Zeichen (Signifikanten) verweisen nicht nur auf eine außersprachliche Referenz (Signifikat), sondern zugleich auch auf ein sprachliches Antezedens, das dem aktuellen Text vorausgeht und in diesem wiederaufgegriffen wird.25 In der klassischen Nomenklatur der Intertextualitätstheorie wird jenes Antezedens, d.h. der literarische Vorgänger, auf den ein späterer Text Bezug nimmt, als Referenztext oder Prätext bezeichnet; die Form der Bezugnahme je nach Art und Deutlichkeit u.a. als Referenz, Allusion, Anspielung
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Vgl. z.B. Lachmann, Ebenen, S. 133. Ebd., S. 134, sowie dies, Dialogizität, S. 8, und Gedächtnis, S. 58: „‘Doppelkodierung‘ bedeutet, daß die Sinnherstellung nicht durch den Zeichenvorrat des gegebenen Textes programmiert ist, sondern auf den eines anderen verweist.“ Siehe dazu auch Alkier, Intertextualität, S. 3, sowie Schmid, Wolf: Sinnpotentiale der diegetischen Allusion. In: Ders. / Stempel, Wolf-Dieter (Hrsg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität (= Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 2). Wien: Anton Riegelnik 1983, S. 141–187, hier S. 145. 24 Zur Problematik eines poststrukturalistisch-entgrenzten Intertextualitätsbegriffs im Sinne globaler Implikativität vgl. Pfister, Konzepte, S. 6–8; sowie Schulte-Middelich, Bernd: Funktionen intertextueller Textkonstitution. In: Pfister / Broich, Intertextualität, S. 197–242, hier S. 202. Siehe auch Broich, Ulrich: Zur Einzeltextreferenz. In: Ebd., S. 48–52, hier S. 48; sowie Stierle, Karlheinz: Werk und Intertextualität. In: Schmidt / Stempel, Dialog, S. 7–26, hier S. 13. (Nachdruck in Stierle / Warning, Gespräch, S. 139– 150, hier S. 143). 25 Bei Stocker wird diese Doppelkodierung unter Rückgriff auf rhetorische Kategorisierungen auch mit dem Begriffspaar „mimesis“ (referentieller Bezug) und „imitatio“ (intertextueller Bezug) umschrieben (Stocker, Theorie, S. 28f) 23
3. Formen von Intertextualität
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oder Zitation.26 Da die Grenzen jedoch fließend verlaufen,27 sollen in der vorliegenden Arbeit Prätextbezüge in weitgehend synonymer Weise als Referenz, Reminiszenz, intertextueller Rekurs etc. benannt werden, ohne dass damit bereits eine qualifizierende Aussage über die Art des Bezuges intendiert wäre. Im Hinblick auf die neutestamentlichen Pseudepigrapha ist allerdings eine weitere literarische Strategie wirksam, die sich dieser intertextuellen Mittel zwar einerseits bedient, andererseits aber gerade deren intertextuellen Charakter verschleiert: die fiktive Verfasserangabe. Die Pseudopaulinen geben eine paulinische Autorschaft vor, was intertextuelle Verweise auf paulinisches Schriftgut als vermeintliche Wiederaufnahme eigener Gedanken und Formulierungen, als fiktive Eigentextreferenz erscheinen lässt,28 und somit zwangsläufig auch methodische Konsequenzen für die Textanalyse einschließt: Während das textdeskriptive Verständnis von 26
Vgl. z.B. Stierle, Intertextualität, S. 18f (Nachdruck in: Stierle / Warning, Gespräch, S. 139–150, hier S. 147f). Siehe auch Lachmann, Ebenen, S. 134, sowie Helbig, Jörg: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität (= Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte 3/141). Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1996, S. 31f. In ähnlicher Weise unterscheidet auch Reuter zwischen Parallelen und Motiven bzw. Zitat als Formen „externer Sinnverbindung“ in der neutestamentlichen Briefliteratur (Reuter, Rainer: Textvergleichende und synoptische Arbeit an den Briefen des Neuen Testaments. Geschichte – Methodik – Praxis. Textvergleich Kolosser- und Philemonbrief (= Arbeiten zur Religion und Geschichte des Urchristentums 13). Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2003, S. 144f). Holthuis führt solche Differenzierungen auf eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen oberflächenstruktureller und tiefenstruktureller Referenz zurück, die sich in einer materiellen vs. semantischen Art der Bezugnahme äußerten (siehe Holthuis, Intertextualität, S. 91f), räumt an anderer Stelle jedoch ein, dass die Abgrenzungen teilweise nur graduell möglich seien (ebd., S. 126f). 27 Zur Schwierigkeit jener Grenzziehungen siehe auch Helbig, Intertextualität, S. 31. Neben dem Problem fließender Übergänge ist zudem teilweise auch eine unterschiedliche Verwendungsweise der entsprechenden Termini zu beobachten. So unterscheidet beispielsweise Reuter Zitat und Anspielung nicht nach dem Ausmaß wörtlicher Übereinstimmung, sondern ausschließlich nach dem Kriterium, ob eine Übernahme als solche kenntlich gemacht wurde oder nicht – d.h. selbst eine wortwörtliche Übernahme stellt kein Zitat dar, solange sie nicht als solches gekennzeichnet wurde (vgl. Reuter, Synoptische Arbeit, S. 171). 28 Vgl. Merz, Selbstauslegung, S. 231f. Die dabei wirksame Kombination des Rückgriffs auf reale Gegebenheiten (biographischer, geschichtlicher oder geographischer Art) einerseits und deren fiktiver Fortschreibung andererseits, schließt damit auch ein Element von „Pseudo-Intertextualität“ ein, d.h. intertextueller Verweissignale, die sich nicht auf faktisch existierende Texte bzw. Gegebenheiten beziehen und somit fiktiven Verweischarakter haben (siehe ebd., S. 24f; vgl. auch Holthuis, Intertextualität, S. 44). Im Rahmen des Kolosserbriefes ist diese Variante intertextuellen Verweises insbesondere im Hinblick auf den Laodizenerbrief (Kol 4,16) von Belang, dessen tatsächliche Existenz fragwürdig ist.
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
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Intertextualität innerhalb des literaturwissenschaftlichen Diskurses häufig auf die Formel ‚Intendiertheit und Markiertheit der intertextuellen Bezüge‘29 gebracht wird, schließt die komplexere intertextuelle Ausgangssituation pseudepigrapher Literatur eine einseitige Beanspruchung des Merkmals ‚Markiertheit‘ insofern aus, als auch der Verschleierung des intertextuellen Charakters Rechnung getragen werden muss. Somit setzt ein Intertextualitätsbegriff, der in diesem Kontext sinnvoll zur Anwendung kommen kann, voraus, dass neben offen-intendierter Intertextualität auch latente oder kaschierte Formen intertextueller Verweise erfasst werden.30 Während latente Intertextualität dabei einen nicht-intendierten, unbewussten Rückgriff auf bestimmte sprachliche Codes bezeichnet, zielt die Annahme kaschierter oder verschleierter Intertextualität auf eben jene hybride Form intertextueller Referenz, die zwar bewusst produziert wird, dabei aber gerade keine bewusste Rezeption dieses literarischen Verfahrens intendiert, sondern unter dem Deckmantel und dem Anspruch der Orthonymität auftritt, i.e. den Rückgriff auf das orthonyme Schriftgut in Form fiktiver Eigentextreferenz vollzieht. Somit ist es in diesem speziellen Fall methodisch notwendig, Kriterien für die Erfassung potentieller Referenztexte zu formulieren, die auch denjenigen Referenzen Rechnung tragen, die nicht als textuelle Übernahmen markiert, sondern vielmehr in ihrem fremdtextbasierten Charakter verschleiert sind. Dass dies methodisch nicht unproblematisch ist, und sowohl in der Frage der Kriteriologie als auch in der Frage der potentiellen Prätexte und dem zugrundegelegten Verständnis von literarischer Abhängigkeit sehr unterschiedliche Ansätze vorliegen, zeigt sich anhand der gegenwärtigen Forschungsdiskussion zur Frage literarischer Abhängigkeit in Kol, auf die im Folgenden näher einzugehen sein wird.
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Vgl. Schulte-Middelich, Funktionen, S. 206, sowie Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Broich / Pfister, Intertextualität, S. 31–47, hier S. 31. In ähnlicher Weise spricht auch Stocker von der Signalisiertheit und Funktionalität als den beiden konstitutiven Bedingungen für das Vorhandensein einer intertextuellen Beziehung zwischen Texten (siehe Stocker, Theorie, S. 105). 30 Zur Unterscheidung von intendierter und latenter Intertextualität siehe Lachmann, Ebenen, S. 134. Vgl. auch Pfister, Konzepte, S. 23. Zum Begriff kaschierter Intertextualität vgl. Merz, Selbstauslegung, S. 33–35.
4. Zur Frage der literarischen Abhängigkeit
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4. Zur Frage der literarischen Abhängigkeit: potentielle Prätexte des Kolosserbriefes 4. Zur Frage der literarischen Abhängigkeit Da sich das Schreiben als paulinisches präsentiert und damit in eine spezifische Tradition einreiht, innerhalb derer es als orthonymer Bestandteil rezipiert werden will, muss eine Bekanntschaft des Verfassers mit der Texttradition der Apostelbriefe grundlegend vorausgesetzt werden; als Imitation im weitesten Sinne des Begriffs erweist sich der Kolosserbrief in einer konstitutiven Weise als literarisch abhängig von den Protopaulinen. Über das dabei zugrundegelegte Verständnis literarischer Abhängigkeit zeichnet sich jedoch in der gegenwärtigen Forschungslandschaft zu Kol bislang keinerlei konsensuelle Position ab. Vielmehr zeigt sich hier eine sehr unterschiedliche Ausdehnung des Begriffs – von direkter schriftlicher Vorlage bis zum Memorieren gelesener oder auch nur mündlich resp. fragmentarisch bekannter Texte.31 So variiert das Spektrum im Hinblick auf die Prätexte des Kol zwischen einer ‚Minimal-Position‘, bei der nur Phlm als komplett schriftlich vorliegend und damit als literarische Vorlage im engen Sinne bewertet wird (so etwa Standhartinger; ähnlich auch Kiley), 32 und der ‚Maximal-Position‘ bei Leppä, die als Referenzrahmen ein umfassendes Corpus aller authentischen Paulinen voraussetzt, wobei eine teilweise nur mündliche und/oder fragmentarische Bekanntschaft ihrer Einstufung als literarische Vorlagen keinen Abbruch tut.33 Dieser weit gefasste Begriff literarischer Abhängig31
Dass dieses unterschiedliche Verständnis von literarischer Abhängigkeit oftmals nicht ausreichend reflektiert wird und damit teilweise auch die gegenseitige Bezugnahme der vorliegenden Untersuchungen zum Kolosserbrief untereinander erschwert bzw. unterläuft, wird insbesondere bei Outi Leppä kritisch thematisiert (vgl. Leppä, Colossians, S. 28–30). 32 Siehe Standhartinger, Kolosserbrief, S. 91 und S. 151, sowie Kiley, Colossians, S. 32 und 75. Kiley schließt dabei zwar neben Phlm auch Phil als schriftliche Vorlage ein, verweist jedoch an anderer Stelle darauf, dass Phil – im Gegensatz zu dem in gesamtem Umfang zugrundeliegenden Philemonbrief – wahrscheinlich nur als Fragment vorlag (vgl. Kiley, Colossians, S. 102). Ähnlich auch Lohse, der ebenfalls eine zweite direkte Vorlage neben Phlm annimmt, allerdings nicht Philipper-, sondern Römerbrief als zweiten Prätext betrachtet (vgl. Lohse, Eduard: Die Briefe an die Kolosser und an Philemon [= KEK 9,2]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, S. 255f). 33 Vgl. u.a. Leppä, Colossians, S. 78, 140 und 315, sowie insbesondere die Einzelklassifikationen auf S. 363–366. Diese Formen von Prätextbezügen werden bei Wolter dezidiert gerade nicht als literarische Abhängigkeit gewertet, sondern vielmehr als „subliterarisch vermittelte Sprachtraditionen“, die auch Gedächtniszitationen einschlössen (Wolter, Kolosser, S. 33). Entsprechend konstatiert auch Standhartinger, die im Kolosserbrief weitgehend mündlich überlieferte Paulustraditionen rezipiert sieht, dass ein „Versuch der Rekonstruktion mündlicher Abhängigkeiten immer hypothetisch bleiben“ müsse (Standhartinger, Kolosser-
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I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
keit schließt bei Leppä explizit auch den unbewussten Rückgriff auf mündliche Überlieferungen ein,34 d.h. intertextualitätstheoretisch werden hier die Grenzen zwischen intendierter und latenter Intertextualität verwischt. Dies führt in textanalytischer Hinsicht zu der problematischen Konstellation, dass Abweichungen von der literarischen Vorlage bzw. mögliche interpretationslenkende Strategien, die solchen Abweichungen zugrundeliegen könnten, der analytischen Belegbarkeit insofern entzogen werden, als sie auch auf rein fragmentarischer Kenntnis, Kenntnis einer bestimmten Lesart oder unbewusster Verwendung beruhen können.35 Erfassbar bleiben in diesem Fall zwar die textuellen Effekte, die – unabhängig von der zugrundeliegenden Intention – durch die Modifizierung von Prätexten entstehen können, nicht aber der für die intertextuelle Analyse maßgebliche Bereich der referenztextorientierten Strategien, dessen Relevanz für die vorliegende Untersuchung im folgenden Kapitel noch eingehender zu thematisieren sein wird. Trotz dieser analytischen Unschärfe im Hinblick auf den spezifischen Aspekt möglicher fragmentarischer und/oder mündlicher Bekanntschaft mit paulinischen Prätexten ist es grundsätzlich m.E. nicht möglich, hinter die umfassenden Ergebnisse der Untersuchung von Leppä zurückzugehen. Auch wenn in dieser Arbeit ein gänzlich anderer Untersuchungsansatz zugrundegelegt wird, können die weitreichenden Prätext-Belege, die bei Leppä erarbeitet wurden, nicht ignoriert werden; zumal angesichts der Tatsache, dass eine vergleichsweise breite Kenntnis der Protopaulinen bereits brief, S. 118; zu Standhartingers These der sich im Kolosserbrief niederschlagenden mündlichen Überlieferungstradition vgl. ebd., S. 61–68 und S. 117–151, sowie dies., Colossians, S. 576–581). 34 Siehe Leppä, Colossians, S. 365. 35 Neben dem Problem mündlicher, ggf. abweichender Überlieferungstraditionen können gerade bei zentralen Abschnitten des Kol weitere literarische, jedoch nicht erhaltene Vorlagen nicht ausgeschlossen werden. So ist neben dem Kolosserhymnus, der aller Wahrscheinlichkeit nach auf ein vorgegebenes Traditionsstück zurückgeht, und der christlichen Haustafel, deren literarische Ursprünge forschungsgeschichtlich ebenfalls lange umstritten waren (siehe dazu Kapitel IV.1.a und V.3.a dieser Arbeit), hier insbesondere der in Kol 4,16 angesprochene Laodizenerbrief zu nennen. Angesichts der unklaren Überlieferungsverhältnisse ist auch hier nicht eindeutig klärbar, ob ein solcher, authentischer Paulusbrief tatsächlich existiert haben könnte, ob es sich um eine abweichende Benennung eines uns bekannten Paulusbriefes handelt, oder aber jener ‚Laodizea-Verweis‘ ein rein fiktives Stilmittel des pseudepigraphen Autors bildet. Für die intertextuelle Analyse bedeutet dieses mögliche Vorliegen weiterer, unbekannter Prätexte, dass inhaltliche Abweichungen von der paulinischen Überlieferung theoretisch auch auf anderen Traditionslinien oder verlorenem Traditionsmaterial basieren könnten; eine Bewertungsgrundlage bildet hier ausschließlich die intratextuelle Kohärenz, i.e. die Frage, ob bestimmte signifikante Neuakzentuierungen sich als durchgängiges Merkmal des Textes erweisen und somit den Rückschluss auf eine bewusste inhaltliche Akzentsetzung des Verfassers zulassen.
4. Zur Frage der literarischen Abhängigkeit
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qua Brieffiktion notwendig ist: Die Tatsache, dass der Kolosserbrief sich dezidiert in die Tradition der Paulusbriefe einreiht und damit beansprucht, als orthonym rezipiert zu werden, macht die Annahme einer engen Vertrautheit mit der zugrundeliegenden Texttradition notwendigerweise erforderlich. Ohne das Vorhandensein einer intensiven Kenntnis der entsprechenden literarischen Tradition, gerade auch in Form direkter schriftlicher Vorlagen, ist eine solche textstrukturelle wie sprachliche Adaption paulinischer Briefschemata schwer denkbar. Da bis heute kaum gesicherte Erkenntnisse über den gesamten Prozess von Sammlung, Überlieferung und Redaktion des Corpus Paulinum vorliegen,36 sind apriorische Aussagen über die konkrete Form der Bekanntschaft mit den authentischen Paulinen kaum möglich; insofern muss der Befund der Textanalyse das Prüfkriterium für potentielle literarische Vorlagen bilden, und nicht umgekehrt. Das heißt, im Rahmen der methodologischen Grundlegung dieser Untersuchung wird der potentielle Bezugsrahmen nicht apriorisch aufgrund historischer oder geographischer Mutmaßungen auf einen bestimmten Ausschnitt eingeschränkt, sondern vielmehr erst anhand des Untersuchungsbefundes einer kritischen Bewertung unterzogen. Das Hauptkriterium bildet dabei der Aspekt der Strukturalität; ein Kriterium, das bei Manfred Pfister als einer der maßgeblichen Prüfsteine für die Intensität bzw. Prägnanz intertextueller Bezüge benannt wird:37 Wenn anhand der Textanalyse nachzuweisen ist, dass die Grundstruktur eines bestimmten Vorgängertextes als bekannt vorausgesetzt werden kann, d.h. der Text mutmaßlich in Gänze vorgelegen haben muss, dann kann dieser als potentieller Prätext auch dort angenommen werden, wo im Einzelfall keine aus sich selbst heraus beweiskräftigen Textindizien 36 Einen systematischen forschungsgeschichtlichen Überblick der Theorien zur Konstitution des Corpus Paulinum bietet in jüngster Zeit insbesondere die zusammenfassende Darstellung bei Porter (Porter, Stanley E.: When and How Was the Pauline Canon Compiled? An Assessment of Theories. In: Ders., Canon, S. 95–127, hier v.a. 99–119); siehe ferner auch Sand, Alexander: Überlieferung und Sammlung der Paulusbriefe. In: Kertelge, Karl (Hrsg.): Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften. Zur Paulusrezeption im Neuen Testament (= QD 89). Freiburg i.B.: Herder 1981, S. 11–24, hier insbesondere S. 17–19. Zur Forschungskontroverse über unterschiedliche Modelle zur Entstehung des Corpus Paulinum siehe auch die Autorenrezensions-These bei Trobisch, David: Die Entstehung der Paulusbriefsammlung. Studien zu den Anfängen christlicher Publizistik (= NTOA 10). Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989 (vgl. dazu auch ders.: Paul’s Letter Collection. Tracing the Origins. Minneapolis: Fortress Press: 1994), und deren Kritik und Gegenposition bei Klauck, Hans-Josef: Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (UTB.W 2022). Zürich: Schöningh 1998, S. 248–250, und Strecker, Georg: Literaturgeschichte des Neuen Testaments (= UTB.W 1682). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992, S. 115f. 37 Siehe Pfister, Konzepte, S. 19 und 28.
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I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
vorliegen. Als ‚Text‘ gilt dabei eine textuelle Einheit, die innerhalb eines größeren Textes oder Textcorpus eingebettet sein kann, aber dennoch als eigenständige textuelle Einheit identifizierbar ist. So setzt etwa, um ein populäres Literaturmotiv aufzugreifen, die literarische Reminiszenz an die Elemente „schwarz wie Ebenholz“, „Spieglein an der Wand“ und „vergifteter Apfel“ den Prätext des Märchens von Schneewittchen als Ganzen voraus, nicht aber zwangsläufig eine darüber hinausgehende Kenntnis resp. Adaption des Gesamtcorpus der grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Im Blick auf die darin eingebettete textuelle Einheit der SchneewittchenErzählung kann hingegen die gesamte erzählerische Grundstruktur als bekannt vorausgesetzt werden, da mit den genannten Zitaten Elemente aus allen Teilen des narrativen Aufbaus begegnen – von der Geburt des Mädchens mit den schwarzen Haaren wie Ebenholz bis zu ihrem szenischen Tod durch den vergifteten Apfel. Und dies ist unter dem Gesichtspunkt der Strukturalität hinreichendes Indiz für einen spezifischen, als Textganzes vorauszusetzenden Prätext, um auf Grundlage dessen für den Nachfolgetext, in dem jene Motive adaptiert werden, auch dort einen interpretationsrelevanten intertextuellen Bezug anzunehmen, wo dies isoliert betrachtet weniger offensichtlich wäre. Träte nun beispielsweise innerhalb des Nachfolgetextes in einem gänzlich anderen Kontext eine siebenköpfige Personengruppe auf, so wäre diese Tatsache für sich betrachtet kaum intertextuell signifikant; vor dem Hintergrund der durch entsprechende Referenzen vorauszusetzenden Bezogenheit auf den Prätext des Märchens von Schneewittchen und den sieben Zwergen zeigt sich hier hingegen erneut eine narrative Reminiszenz an die literarische Vorlage. Dies mag eine vergleichsweise schablonenhafte Veranschaulichung sein, die bestimmte Aspekte stark simplifiziert (so im gegebenen Beispiel etwa die Tatsache, dass sich jene Zitationen im Laufe der Tradierungsgeschichte zunehmend von ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und zu eigenständigen redensartlichen Wendungen verselbstständigt haben), doch der Grundgedanke des Strukturalitätskriteriums, wie es in der vorliegenden Arbeit zugrundegelegt werden soll, lässt sich anhand dessen m.E. plastisch verdeutlichen. Dies schließt eine gewisse Ausweitung des ursprünglichen Bezugsrahmens von Strukturalität bei Pfister ein, da hier insbesondere auch wiederkehrende intertextuelle Mechanismen der Prätextadaption einbezogen werden sollen: ‚Strukturalität‘ greift kriteriologisch auch dort, wo spezifische, wiederkehrende Muster der Adaption bestimmter Prätexte bzw. Prätextelemente aufweisbar sind, i.e. sich bestimmte distinktive Adaptionsstrukturen zeigen wie etwa die wiederholte Rekontextualisierung von Motiven, die auf Prätextebene an einer spezifischen Sachkontext gebunden sind, und auf der Ebene des Nachfolgetextes konsequent in einen davon abweichenden Bedeutungszusammenhang übertragen werden. So
5. Zur Klassifikation intertextueller Bezüge
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wird etwa im Zusammenhang der Frage nach der paulinischen resp. nichtpaulinischen Verfasserschaft des Kol häufig die Beobachtung angeführt, dass der Kolosserbrief die Frage des jüdischen Gesetzes () an keiner Stelle direkt thematisiere. Dies ist zweifelsohne richtig. Allerdings rekurriert Kol, wie in der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein wird, durchaus auf die entsprechenden paulinischen Argumentationsstrukturen im Kontext dieser Frage; er funktionalisiert sie jedoch argumentativ in anderem Sachzusammenhang. Insofern können Ansätze moderner Intertextualitätstheorie durchaus für die neutestamentliche Exegese fruchtbar gemacht werden. In der methodischen Erfassung jener Indizien, die auf die Verarbeitung eines Prätextes hinweisen, bestehen dabei jedoch wesentliche Unterschiede zwischen der traditionellen Exegese und der literaturwissenschaftlichen Methodik intertextueller Analyse, die im Folgenden skizziert werden sollen.
5. Zur Klassifikation intertextueller Bezüge 5. Zur Klassifikation intertextueller Bezüge Während in der neutestamentlichen Pseudepigraphieforschung Plausibilität wie Intensität potentieller Prätextbezüge weitgehend nummerisch klassifiziert werden, d.h. eine bestimmte Anzahl übereinstimmender Lexeme zum Kriterium einer literarischen Abhängigkeit gemacht wird,38 legen intertextualitätstheoretische Ansätze neben quantitativen auch die Berücksichtigung qualitativer Kriterien nahe, um Signifikanz bzw. Intensität potentieller intertextueller Bezüge zu bewerten. Ein anschauliches Beispiel dafür bildet das Parametersystem Pfisters, das neben dem bereits angesprochenen Kriterium der Strukturalität, das den Prätext als Textganzes betrifft, auch die pointierte Hervorhebung bestimmter Elemente des Prätextes (Selektivität) und das daraus entstehende (inhaltliche) Verhältnis beider Texte zueinander (Dialogizität) einschließt. Ebenso sind auch die Intentionalität und Deutlichkeit des intertextuellen Bezuges (Kommunikativität und Referentialität) sowie die Frage, inwie-
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Die Grundlegung für diese Vorgehensweise findet sich in Sanders Untersuchung „Literary Dependence in Colossians“ von 1966, die gleichsam prototypischen Charakter für die Untersuchung der paulinischen Parallelen in Kol besitzt und als Minimalkriterium für potentielle Fremdtext-Übernahmen eine Übereinstimmung von mindestens drei Lexemen voraussetzt (vgl. Sanders, Ed Parish: Literary Dependence in Colossians. In: JBL 85 / 1966, S. 28–45, hier S. 30) – ein Kriterium, das bei Reuter und Leppä weitgehend übernommen wird. Vgl. Leppä, Colossians, S. 80f, und Reuter, Synoptische Arbeit, S. 205f, sowie ders.: Synopse zu den Briefen des Neuen Testaments. Teil I: Kolosser-, Epheser-, II. Thessalonicherbrief (= Arbeiten zur Religion und Geschichte des Urchristentums 5). Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1997, S. 19.
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I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
weit dieser im Text selbst thematisiert und reflektiert wird (Autoreflexivität), Bestandteile des Kriterienkataloges.39 Diese stärker inhaltlich orientierten Faktoren erlauben tatsächliche Aussagen über die Signifikanz, die Funktion und das evokative Potential eines Prätextbezuges, die durch rein nummerisch basierte Betrachtungen nicht geleistet werden können. So wäre, um mit einem zeitgeschichtlichen Beispiel zu sprechen, der Verweischarakter einer einzelnen Nominalphrase wie „Achse des Bösen“, die bei ihren Rezipienten unmittelbar eine Vielzahl an Hintergrundinformationen über den früheren US-Präsidenten George W. Bush als Urheber des Zitates, sowie umfassende weltpolitische Zusammenhänge und Kontextinformationen evoziert, erheblich prägnanter als bei einer wortwörtlichen Zitation längerer Passagen aus einer beliebigen anderen Rede desselben Verfassers. Diese wesentlichen Unterschiede der Rezeption werden bei einer rein quantitativ orientierten Kriteriologie gleichsam dem mathematischen Systemzwang geopfert, wie ihn etwa Leppä in ihrer Untersuchung des Kolosserbriefes mit der Festlegung zementiert, dass ein Textbeleg mindestens drei wörtlich oder dem Wortstamm nach übereinstimmende Lexeme innerhalb eines maximalen Streuungsbereiches von fünf Druck-Zeilen der Nestle-Aland-Ausgabe aufweisen muss, um als potentieller Prätextbezug im Sinne eines literarischen Abhängigkeitsverhältnisses klassifiziert werden zu können.40 Insofern spiegelt ein auf – mehr oder weniger willkürlich festgelegte – nummerische Zählweisen beschränkter Ansatz der Identifizierung literarischer Abhängigkeit weder die Realität intertextueller Textproduktion und -rezeption wider, noch ist er geeignet, die zugrundeliegenden Textstrategien erfassen zu können (die im Falle der genannten Arbeit Leppäs allerdings außerhalb der zugrundgelegten Fragestellung liegen). Doch auch eine einseitige Beanspruchung inhaltlich orientierter Faktoren ist methodisch nicht unproblematisch: Neben der grundsätzlichen Gefahr einer ausufernden „Parallelomania“ (Leppä)41, die ein gänzlicher Verzicht auf ‚harte‘ Faktoren zur Eingrenzung potentieller Prätextbezüge mit sich bringen kann, bergen inhaltsbasierte Kriterien die Gefahr, den Bezugs39 Siehe Pfister, Konzepte, S. 25–30. In Entsprechung zu den pfisterschen Antipoden Selektivität und Strukturalität werden bei Lachmann auch die Begriffe Kontamination und Anagramm gebraucht, d.h. die Selektion von Einzelelementen einerseits, und die im Textfluss erkennbare, kohärente Struktur eines Referenztextes andererseits (vgl. Lachmann, Ebenen, S. 136f). Und auch bei Reuter wird mit der Differenzierung zwischen Inkorporation und selektiver Rezeption ein ähnliches Klassifizierungsschema intertextueller Bezüge eingeführt, das hier jedoch wesentlich enger definiert wird: Inkorporation schließt hier nicht nur die Grundstruktur, sondern die vollständige Übernahme eines vorgegebenen Textes ein (vgl. Reuter, Synoptische Arbeit, S. 169–171). 40 Vgl. Leppä, Colossians, S. 80f. Siehe dazu auch Fußnote 38. 41 Ebd., S. 77.
5. Zur Klassifikation intertextueller Bezüge
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rahmen des zu analysierenden Textcorpus bereits von dessen Interpretation abhängig zu machen – anstatt umgekehrt. Dies lässt sich etwa am pfisterschen Kriterium der Dialogizität verdeutlichen: Wenn das inhaltliche Verhältnis zwischen Text und Referenztext bereits zum Auswahlkriterium für die Selektion potentieller Prätexte gemacht wird, wird gleichsam bereits das Ergebnis vorweggenommen, das die vergleichende Textanalyse erst erbringen soll, d.h. die Textgrundlage der Untersuchung wird von deren Interpretation abhängig gemacht und umgekehrt. In ähnlicher Weise bilden auch die Kriterien der Referentialität und Kommunikativität als solche eher ein Klassifizierungs-, denn Kriterienraster. Einen Versuch, inhaltlich orientierte Faktoren und quantitative Kriterien in einer Art Kreuzklassifikation miteinander zu verschränken, repräsentiert die Kriteriologie der synoptischen Forschung Reuters. So bildet bei Reuter die nummerische Festlegung auf mindestens drei gleichlautende Lexeme, deren Parallelität sich nicht durch einen dritten Text als gemeinsame Vorlage erklären lässt, zwar die „Grundbedingung“ für das Vorliegen eines literarischen Abhängigkeitsverhältnisses; diese wird jedoch ergänzt durch weitere Kriterien, die auch inhaltliche Aspekte berücksichtigen und sich teilweise in Entsprechung zu dem Modell Pfisters anwenden lassen.42 Neben den tragenden und den „stützenden“ Indizien, die sich auf Abfolge, Kontext und Sprachmerkmale der betreffenden Parallelen beziehen,43 benennt Reuter als „beweisendes Kriterium“ die Kohärenz des Prätextes unter syntaktischen, semantischen und pragmatischen Gesichtspunkten: „Die beobachtete Parallele ist in einer der verglichenen Schriften als eindeutig redaktionelle, d.h. aus Gründen syntaktischer, semantischer oder pragmatischer Kohärenz notwendige Bildung zu erweisen. Diese Schrift hat dann als literarische Vorlage zu gelten.“44 Insofern ist die Frage nummerischer resp. inhaltlicher Klassifikation intertextueller Bezüge kein grundsätzlich distinktiver methodischer 42
Vgl. Reuter, Synoptische Arbeit, S. 205–207. Inwieweit Reuters eigene synoptische Textanalyse diesem Anspruch allerdings wirklich gerecht zu werden vermag, ist insofern kritisch zu hinterfragen, als sich die Kategorisierung der Parallelen in seiner Synopse wiederum an der Anzahl der Übereinstimmungen pro Vers und somit einer nummerischen Betrachtung orientiert (siehe auch ebd., S. 261, sowie ders., Synopse, S. 19f). 43 Als (tragende) Indizien klassifiziert Reuter die Parallelität der Textsegmente, d.h. deren Anordnung in gleicher Reihenfolge, Konflation, Kombination oder Dissoziation, sowie die Vermischung typischer und untypischer Sprachmerkmale des Autors. Als stützendes Indiz wertet er den Umstand, dass die parallelen Elemente nicht innerhalb fester Wendungen bzw. trotz unterschiedlichem Sachzusammenhang auftreten (vgl. Reuter, Synoptische Arbeit, S. 206f). 44 Ebd., S. 207. Dieses „beweisende Kriterium“ bildet bei Reuter somit zugleich die eigentliche Definition literarischer Abhängigkeit, d.h. die übrigen Kriterien erlauben es nach Reuter nicht, tatsächlich von einer „innerliterarischen Rezeption“ zu sprechen (ebd.). Zur kritischen Wertung siehe Fußnote 42.
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I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
Scheidweg zwischen literaturwissenschaftlicher Intertextualitätstheorie und exegetischer Forschung, sondern allenfalls Merkmal unterschiedlicher analytischer Schwerpunktsetzungen. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass im Zuge der Geschichte der Pseudepigraphieforschung in den letzten beiden Jahrhunderten phänomenologische Beobachtungen und analytische Maßstäbe zum Tragen kamen,45 die ihre Entsprechung in den Funktionsmodellen moderner Intertextualitätstheorie finden.46 So wurde bereits in der frühen, noch sehr stark psychologisch orientierten Diskussion über die Motive pseudepigrapher biblischer Autoren insbesondere die Intention, die autoritative Geltung bzw. breite Anerkennung der eigenen Schrift durch die vermeintliche Zuschreibung an autoritative Größen der Vergangenheit zu sichern, als kennzeichnend für das Phänomen pseudepigraphischer Literatur hervorgehoben;47 ein Charakteristikum, das auch in der modernen literaturwissenschaftlichen Diskussion als wesentliche Funktion intertextueller Textkonstitution benannt wird, wie sie z.B. bei Schulte-Middelich hervorgehoben wird: „Durch die Parallelfolie des Prätextes kann der Anspruch allgemeiner, gegebenenfalls sogar universeller Gültigkeit des Wertesystems im Folgetext erhoben 45 Auf eine über die im Folgenden angeführten exemplarischen Quellen hinausgehende, ausführliche Rekapitulation der Geschichte der Pseudepigraphieforschung soll an dieser Stelle verzichtet werden; verwiesen sei hier insbesondere auf die detaillierte forschungsgeschichtliche Übersicht bei Janßen (Janßen, Martina: Unter falschem Namen. Eine kritische Forschungsbilanz frühchristlicher Pseudepigraphie [= Arbeiten zur Religion und Geschichte des Urchristentums 14] Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2003). 46 Zur grundsätzlichen intertextuellen Dimension neutestamentlicher Exegese siehe auch Moyise, Steve: Intertextualität und historische Zugänge zum Schriftgebrauch im Neuen Testament. In: Alkier / Hays, Dialog, S. 23–34. 47 Vgl. z.B. Candlish, J.S.: On the Moral Character of Pseudonymous Books. Übersetzt von Rudolf G. Adam. In: Brox, Norbert (Hrsg.): Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike (= WdF 484). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 7–42, hier S. 11 [Erstveröffentlichung in Exp 4,4 / 1891, S. 91–107 und 262–279], und Hennecke, Edgar: Apostolische Pseudepigraphen. In: Brox, Pseudepigraphie, S. 82–89, hier S. 87 [Erstveröffentlichung in Hennecke, Edgar (Hrsg.): Neutestamentliche Apokryphen. Tübingen: Mohr Siebeck 21924, S. 140–143], sowie Meyer, Arnold: Religiöse Pseudepigraphie als ethisch-psychologisches Problem. In: Brox, Pseudepigraphie, S. 90–110, hier S. 108f [Erstveröffentlichung in Archiv für die gesamte Psychologie 86 / 1932, S. 171–190], und Torm, Frederik: Die Psychologie der Pseudonymität im Hinblick auf die Literatur des Urchristentums. In: Brox, Pseudepigraphie, S. 111–148, hier S. 143 [Erstveröffentlichung in SLA II. Gütersloh: Bertelsmann 1932, S. 7–55]. Speyer, Wolfgang: Pseudepigraphie und literarische Fälschung im Altertum. In: Brox, Pseudepigraphie, S. 195–263, hier S. 260f [Erstveröffentlichung in JAC 8f / 1965f. Münster: Aschendorff 1967, S. 88–125]; sowie ders.: Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. Ein Versuch ihrer Deutung (= HAW 1/2) . München: Beck 1971, S. 176 und S. 222.
5. Zur Klassifikation intertextueller Bezüge
19
werden“ bzw. „die Valenz des Wirklichkeitsmodells im Folgetext“ mithilfe „des Rekurses auf antike Gewährsmänner“ gestützt werden.48 Ein weiterer Funktionstyp des Rückgriffes auf Vorgängertexte, den Schulte-Middelich als „indirekte Bestätigung durch Aktualisierung (aktualisierte Inszenierung, Adaption tradierter Stoffe usw.)“ beschreibt,49 wird bei Leonard Brockington 1953 in einer Untersuchung über Pseudonymität im Alten Testament mit denselben Merkmalen charakterisiert,50 und in ähnlicher Weise konstatiert Brox auch für den Bereich des Neuen Testaments eine „rückwärts orientierte Kontinuität“ als Grundlage pseudepigrapher Schriften: „Unter der retrospektiven Orientierung widerfährt es jetzt, daß neue Situationen von der Tradition unbeantwortet, unbewältigt bleiben. Man braucht neue ‚Offenbarungen‘. Offenbarungen und autorisierte Belehrungen müssen aber dort, wo es eine klassische Frühzeit gibt, alt sein und von anerkannten Größen der normativen Ursprungszeit stammen, um Erfolgsaussichten zu haben. [...] Für das frühe Christentum bedeutet dieses Wahrheitsverständnis jedenfalls die unbedingte Gewißheit, daß alles Relevante schon am Ursprung, nämlich bei Jesus, den Aposteln, deren Schülern und den Vätern, gesagt ist. Wo man deren jeweils einschlägige Äußerungen nicht hat, darf man ihnen getrost das Richtige in den Mund legen.“51
Und auch auf der Ebene der konkreten sprachlichen Umsetzung dieser Wirkungsstrategien werden in der frühen Pseudepigraphieforschung textkonstituierende Phänomene wie die Adaption des Briefrahmens und die Einfügung von Personalnotizen als Echtheitsmarker genannt,52 die in der 48
Schulte-Middelich, Funktionen, S. 221. Ebd., S. 216. 50 Vgl. Brockington, Leonard H.: The Problem of Pseudonymity. In: JThS NS 4 / 1953, S. 15–22. Ins Deutsche übersetzt von Rainer Nickel in: Brox, Pseudepigraphie, S. 185–194, hier v.a. S. 186. Vgl. auch Speyer, Fälschung, S. 225–231, und Brox, Norbert: Falsche Verfasserangaben. Zur Erklärung der frühchristlichen Pseudepigraphie (= SBS 79). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1975, wo diese Vorgehensweise als typisches Merkmal philosophischer Schultraditionen in der griechischen Antike herausgestellt wird: „Die literarische Fiktion war das gegebene Mittel, Lücken zu füllen und Zeiten zu überbrücken.“ (ebd., S. 46). 51 Brox, Norbert: Zum Problemstand in der Erforschung der altchristlichen Pseudepigraphie. In: Ders., Pseudepigraphie, S. 311–334, hier S. 328 und 331 [Erstveröffentlichung in KAIROS XV 1–2 / 1973, S. 10–23]. 52 So konstatiert etwa Arnold Meyer 1932, zu jener Autoritätsfiktion „gehörte denn auch, daß man den Brief so gestaltete, wie ein rechter Brief des Apostels aussehen mußte, sich an die Sprache der echten Briefe anschloß, persönliche Beziehungen hinzufügte, daß man mit Bezeugungen der Echtheit und Zuverlässigkeit den Eindruck sicherstellte“ (Meyer, Pseudepigraphie, S. 109), und Wolfgang Speyer stellt 1971 in seiner Untersuchung literarischer Fälschungen in der Antike pointiert heraus, dass gerade jene Personalnotizen – im Verbund mit Zeit- und Ortsangaben – das exponierteste Mittel der Authentizitätsfiktion bilden: „Man kann für derartige Fälschungen geradezu eine Regel aufstellen: Je genauer die Angaben sind, desto falscher sind sie.“ (Speyer, Fälschung, S. 82). Vgl. dazu ferner auch Brox, Verfasserangaben, S. 20, sowie ders.: Zu den persönlichen Noti49
20
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
Intertextualitätsforschung unter den Stichworten Systemreferenz und onomastische Referenz53 systematisch und begrifflich erfasst werden. Systemreferenz bildet dabei intertextualitätstheoretisch das Gegenstück zur Einzeltextreferenz, d.h. der konkreten Bezugnahme auf bestimmbare Prätexte bzw. Prätextelemente, und bezeichnet somit die Bezugnahme auf (einzel-) textübergreifende Systeme und Codes, wie etwa Gattungsschemata oder konventionalisierte archetypische Muster.54 Die unter dem Begriff der onomastischen Referenz erfasste Verwendung von Personen- bzw. Ortsnamen bildet demgegenüber einen wichtigen Aspekt der Einzeltextreferenz, da gerade jene Namensnennungen einen umfassenden Hintergrund all jener Informationen evozieren, die in früheren Texten mit diesen Personen oder Orten verknüpft wurden. Dieses evokative Potential der Verwendung bestimmter Personennamen wird speziell im Bereich der Exegese des Alten Testamentes ebenfalls traditionell als wesentliches Element der Textkonstitution im Horizont eines größeren, wenngleich nicht als solchem benannten, Intertextes klassifiziert.55 Dass die Anwendung intertextualitätstheoretischer Modelle und Analysemethoden trotz jener Anknüpfungspunkte nicht einfach bedeutet, klassische Quellen- und Einflussforschung schlichtweg unter einem neuen „trendy Label“ (van Wolde)56 weiterzuführen, zeigt sich anhand eines klar distinktiven Aspektes, der die grundlegende methodische Differenz beider Ansätze ausmacht, i.e. die dezidierte Berücksichtigung der Reziprozität und Intentionalität in der Relation zwischen Texten. Dies bedeutet eine Öffnung der einseitig produktionsorientierten Perspektive traditioneller zen der Pastoralbriefe. In: Ders., Pseudepigraphie, S. 272–294, hier v.a. S. 284 [Erstveröffentlichung in BZ NF 13 / 1969, S. 76–94]. 53 Vgl. hierzu auch Merz, Selbstauslegung, S. 225f, sowie Lachmann, Gedächtnis, S. 44. 54 Vgl. Broich, Einzeltextreferenz, sowie Pfister, Manfred: Zur Systemreferenz. In: Pfister / Broich, Intertextualität, S. 52–58. Vgl. dazu ferner auch Merz, Selbstauslegung, S. 22–26. Susanne Holthuis spricht in ähnlicher Weise auch von der Unterscheidung „referentieller“ resp. „typologischer Intertextualität“ (Holthuis, Intertextualität, S. 48). 55 Siehe z.B. Brockington, Pseudonymity, S. 188–191, sowie Brox, Verfasserangaben, S. 41f. 56 Wolde, Ellen van: Trendy Intertextuality? In: Draisma, Sipke (Hrsg.): Intertextuality in Biblical Writings. FS Bas van Iersel. Kampen: Kok 1989, S. 43–49, hier S. 43. Van Wolde setzt sich hier kritisch mit einer oberflächlichen Adaption intertextualitätstheoretischer Modelle in der biblischen Exegese auseinander, die häufig nur eine neue Etikettierung traditioneller Methoden bedeute: „The result is that a number of bible studies seem innovative but, in fact, use intertextuality as a modern literary theoretical coat of veneer over the old comparative approach. Thus, some exegets replace ‚a reference of Matthew to Isaiah‘ with ‚allusion, quotation, addition or deletion of Matthew concerning Isaiah‘ and that is as far as their intertextuality goes.“ (ebd.). Zu dieser Kritik siehe auch Stocker, Theorie, S. 23, und Pfister, Konzepte, S. 10. Vgl. ferner Vorster, Willem S.: Intertextuality and Redaktionsgeschichte. In: Draisma, Intertextuality, S. 15–26.
5. Zur Klassifikation intertextueller Bezüge
21
Quellen- und Einflussforschung auf einen literarisch bewusst konzipierten ‚Dialog‘ von Texten hin, der sinnkonstituierende Funktion sowohl im Blick auf den Text selbst als auch auf die Rezeption seiner literarischen Vorgänger hat.57 Diese Differenzierung zwischen textorientierten und referenztextorientierten intertextuellen Strategien, d.h. die gleichsam doppelseitige Fragestellung, welche Funktion einerseits der adaptierte Prätext für den vorliegenden Text erfüllt, und welche rezeptions- und interpretationslenkenden Auswirkungen andererseits der aktuelle Text im Hinblick auf den zugrundeliegenden Vorgängertext impliziert, geht von einem ‚Dialog‘ zwischen beiden Texten aus, einer bewusst literarisch gestalteten Anknüpfung und Distanznahme.58 Beide Texte sollen unter dem Eindruck ihrer wechselseitigen Bezugsetzung zueinander in einer bestimmten Weise gelesen werden, die durch diese Bezugsetzung bewusst initiiert und vorstrukturiert wird, wobei beide Texte in gewisser Weise jeweils eine ‚Leseanweisung‘ des je anderen bilden: Der Rückgriff auf orthonymes Schriftgut in Form einer fiktiven Eigentextreferenz sichert einerseits die autoritative Rezeption des Nachfolgetextes, während er andererseits durch die Wiederaufnahme des originären Textes – und somit zwangsläufig immer auch einer bestimmten Lesart desselben – eine gelenkte Rezeption des Vorgänger-Textes bewirkt. Die Wirkungsrichtung dieser gelenkten Rezeption des Vorgängertextes, die referenztextorientierte Funktion, lässt sich nach Schulte-Middelich in eine affirmative, neutrale oder kritische Funktionsart unterteilen – je nachdem, in welcher Weise sich der Nachfolgetext inhaltlich zu seinem Vorläufer positioniert. Analog kann auch die textorientierte Funktion affirmativ, neutral oder kritisch ausgerichtet sein, d.h. der Referenztext trägt entweder zur Sinnunterstützung bzw. –erweiterung, zur (neutralen) Sinnkonstitution oder aber zur Sinnkontrastierung im Hinblick auf den aktuellen Text bei.59 In ähnlicher Weise unterscheidet auch Lachmann drei „Modelle“ von Intertextualität – Partizipation (Weiter- und Wiederschreiben), Tropik (Widerschreiben) und Transformation (Umschreiben) –, betont allerdings, dass sich diese Unterscheidung gerade nicht für eine trennscharf-distinktive Kategorisierung eigne: „Die drei Modelle sind nicht klar voneinander abzugrenzen. Alle Texte partizipieren, 57
Vgl. auch Pfister, Konzepte, S. 23, sowie Lachmann, Ebenen, S. 136: „Es scheint, als affiziere die im Phänotext durch die Intertextualität gewonnene Sinnkomplexion auch den Referenztext, als erfasse der sinndynamisierende Prozeß beide Texte, die evozierendevoziert miteinander in Kontakt treten.“ Siehe zur referenztextorientierten intertextuellen Perspektive im Bereich der neutestamentlichen Exegese auch Merz, Selbstauslegung, S. 20f und 376f, sowie Roose, Hanna: Polyvalenz durch Intertextualität im Spiegel der aktuellen Forschung zu den Thessalonicherbriefen. In: NTS 51 / 2005, S. 250–269, hier v.a. S. 256f. 58 Siehe auch Merz, Selbstauslegung, S. 377. 59 Vgl. Schulte-Middelich, Funktionen, S. 215 und S. 220–223.
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
22
wiederholen, sind Gedächtnisakte, alle sind Produkte der Abweisung und der Überbietung des Vorläufertextes [...].“60 Dieses Koordinatensystem intertextueller Funktionsarten soll in der vorliegenden Untersuchung als schematisches Modell der Klassifizierung intertextueller Mechanismen zugrundegelegt werden – allerdings mit einigen notwendigen Einschränkungen, Ergänzungen und Modifikationen, die im Folgenden dargelegt werden sollen.
6. Funktionsarten intertextueller Verweise 6. Funktionsarten intertextueller Verweise Auch wenn das Modell Schulte-Middelichs gerade in seiner inhärenten Logik und geschlossenen Systematik überzeugend ist, so bleiben doch hinsichtlich der konkreten textanalytischen Anwendbarkeit zwei Aspekte kritisch zu hinterfragen. Zum einen erscheint es fragwürdig, ob im Hinblick auf literarische Sinnkonstitution ein reiner Neutralwert wirklich möglich ist, d.h. Inhalte tatsächlich in einer Form wiederaufgenommen bzw. tradiert werden können, die ihre ursprüngliche literarische Gestalt vollkommen ‚konserviert‘ und keinerlei Veränderung – syntaktischer, semantischer oder textpragmatischer Art – vornimmt. Letzteres kann bereits dadurch als ausgeschlossen betrachtet werden, dass ein neuer Text immer auch einen neuen Kontext der Textproduktion und -rezeption einschließt und somit nie eine textpragmatische Ausgangsposition besitzen kann, die der seines Vorgängertextes tatsächlich gänzlich entspricht. Wie das Konzept ‚kulturellen Gedächtnisses‘ anschaulich zeigt, gibt es keine ‚reine‘ Tradierung kultureller Information; jede literarische Tradierungsform schließt zugleich immer auch die Generierung neuer Information ein. Insofern kann die Annahme eines Neutralwertes immer nur ein heuristisches Konstrukt sein, das nicht den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit literarischer Textproduktion und Sinnkonstitution tatsächlich abbilden zu wollen, sondern vielmehr ein typologisierendes Modell anzubieten, das allenfalls approximativ zur Anwendung kommen kann. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das geschlossene System textorientierter Funktionsarten von intertextuellen Verweisen, das bei SchulteMiddelich ebenfalls der dreigliedrigen Struktur von Neutralwert (neutrale Sinnkonstitution), Positivwert (Sinnunterstützung bzw. -erweiterung) und Negativwert (Sinnkontrastierung) entspricht.61 Innerhalb dieser Struktur 60
Lachmann, Gedächtnis, S. 38f (Zitat S. 39). Vgl. Schulte-Middelich, Funktionen, S. 220–223. Dabei benennt Schulte-Middelich Sinnunterstützung und -kontrastierung zwar nicht explizit als Positiv- bzw. Negativstufe, wohl aber Sinnkonstitution als Neutralwert, und legt somit eine erneute Adaption dieses dreigliedrigen Schemas auch im Bereich der textorientierten Funktionsarten nahe. 61
6. Funktionsarten intertextueller Verweise
23
fällt ein Aspekt gänzlich aus dem systematischen Rahmen, der für intertextuelle Textproduktion ganz wesentlich ist: der Aspekt der Sinnmodifikation, also der Adaption von Inhalten des Vorgängertextes auf einen veränderten situativen Kontext hin, ohne dass dies zwangsläufig mit einer Bedeutungskontrastierung verbunden sein müsste. Innerhalb der zugrundeliegenden Systematik wäre dies somit eine gewissermaßen hybride Funktionsart intertextueller Referenzen, die den Informationsgehalt des Vorgängertextes zwar nicht direkt verändert, wohl aber in einen neuen inhaltlichen Kontext einbindet, und somit das enge Klassifizierungsmuster von Neutral-, Positiv- und Negativwerten sprengt, das bei Schulte-Middelich implizit die Grundlage seiner Klassifikation bildet. Während diese textorientierten Strategien nur im inhaltlichen (Kon-) Textvergleich erfasst werden können, i.e. der spezifischen argumentativen bzw. strukturellen Funktion im Textzusammenhang des Nachfolgetextes, spiegeln sich die referenztextorientierten Funktionen im Verhältnis beider Texte zueinander, wie es sich anhand der (Prätext-) Informationsverarbeitung innerhalb des Nachfolgetextes rekonstruieren lässt. Daher müssen sich jene referenztextorientierten Funktionen anhand der jeweiligen Thema-Rhema-Gliederung,62 d.h. des Verhältnisses von alter und neuer Information, identifizieren und klassifizieren lassen. Die Dreiteilung bei Schulte-Middelich könnte somit anhand folgender Thema-Rhema-Konstellationen analytisch spezifiziert werden:
62
Die Begriffsverwendung weicht hier insofern von der traditionellen linguistischen Thema-Rhema-Gliederung ab, als im gegebenen Kontext nicht die syntaktische Gliederung resp. Satzperspektivierung im Zentrum steht, sondern die intertextuelle Bezogenheit von Texten auf vorgängige Informationen des Intertextes. Die Unterscheidung von Thema und Rhema (analog auch ‚topic‘ und ‚comment‘) basiert auf der Gewichtung und Distribution von Informationsaspekten innerhalb sprachlicher Einheiten, wobei ‚Thema‘/‚topic‘ auf das Vorhandensein bekannter, i.e. beim Rezipienten vorauszusetzender Information zielt, wohingegen jene Informationen, die innerhalb der textuellen Einheit neu gegeben werden, mit ‚Rhema‘/‚comment‘ bezeichnet werden. Traditionell fungiert diese Differenzierung als satzanalytisches Instrument, das die Perspektivierung syntaktischer Einheiten nach dem jeweiligen Informationswert der bedeutungstragenden Satzkomponenten zu beschreiben sucht; im vorliegenden Zusammenhang (s.o.) steht hingegen die intertextuelle Bezogenheit auf die Informationsdistribution von Prätext und Nachfolgetext im Mittelpunkt. Zu einem Einblick in die satzanalytische Anwendung von Thema-Rhema-Gliederungen siehe z.B. Doherty, Monika (Hrsg.): Sprachspezifische Aspekte der Informationsverteilung (= studia grammatica 47). Berlin: Akademie Verlag 1999; für einen ersten einführenden Überblick siehe auch Althaus, Hans Peter u.a. (Hrsg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik. Tübingen: Niemeyer 21980, S. 249– 251.
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I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
referenztextorientierte Funktionsart
affirmativ neutral kritisch
→ Korrektur → Konkretisierung → Ausweitung
Thema-Rhema-Struktur Informationswert Informationswert bekannter neuer Informationen Informationen (Prätext) (Nachfolgetext) [o] [+] [o] [o] [-] [o] oder [+] [o] [+] [-] [o]
Ausgangspunkt dieses Klassifizierungsrasters ist die Annahme, dass der Informationswert der verarbeiteten Prätext-Information (= Rückgriff auf bereits bekannte Information) entweder neutral sein kann (= reine Übernahme) oder aber negatives Vorzeichen hat, d.h. bestimmte Informationsaspekte werden bewusst ausgeklammert. Demgegenüber kann der Informationswert neuer Information im Rahmen des Nachfolgetextes, die durch die intertextuelle Bezugnahme mit dem Referenztext verknüpft wird, entweder positiv sein (= Vorhandensein neuer Informationen) oder neutral (= kein Vorhandensein neuer Informationen). Die beiden Subfunktionen Konkretisierung und Ausweitung verstehen sich als komplementäre Formen kritischer Informationsverarbeitung; im einen Fall wird eine ursprüngliche Angabe spezifiziert durch zusätzliche neue Informationen [+], im anderen Fall wird der Ausdehnungsbereich dadurch erweitert, dass spezifizierende Aspekte der Vorlage entfernt werden [-]. Was genau ist der ‚Informationswert‘ einer Aussage, und lässt sich dieser wirklich so klar bestimmen, dass Abgrenzungen dessen möglich sind, was bekannte Information (Thema) und was neue Information (Rhema) ist? Partiell ja. So ist etwa exegetisch weithin unbestritten, dass sich der Kolosserbrief in den Grußübermittlungen von Kol 4,10–14 an der Grußliste in Phlm 23f orientiert – die dort genannten Grüßenden tauchen allesamt namentlich auch in Kol 4,10–14 auf. In diesem Sinne kann der Kolosserbrief auf ein textuelles Vorwissen zurückgreifen, das durch die entsprechenden Namensnennungen evoziert wird. Zugleich beschränkt sich dieses Vorwissen textuell betrachtet auf die reine Information „im Philemonbrief grüßende Personen“, denn im dortigen Kontext erhält keiner der Genannten (mit Ausnahme des Epaphras, der als „Mitgefangener“ ausgewiesen wird) weitergehende personenbezogene Spezifizierungen, die zusätzliche individuelle Informationen zur Person bieten würden. Genau diese Spezifizierung geschieht nun in Kol:
6. Funktionsarten intertextueller Verweise Phlm 23f:
Kol 4,10–14:
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# ' ( ) * + ) , -.,/ [...] . - ! " 0,
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$ 1
#
$ %
25
Hier werden somit deutlich im Rahmen des Nachfolgetextes zusätzliche Informationen gegeben [+], die die ursprüngliche Namensliste von Phlm 23f durch personenbezogene Angaben konkretisieren – so wird aus Lukas der Arzt Lukas, aus Aristarch wird der Mitgefangene Aristarch, aus Markus wird Markus, der Vetter des Barnabas, und Epaphras wird nicht nur Angehöriger der Adressatengemeinde ausgewiesen ( . ), sondern auch ausführlich in seinem Tätigkeitsprofil für die Gemeinde charakterisiert. Wie bereits eingangs anhand der entsprechenden Schematisierungen bei Lachmann und Schulte-Middelich herausgestellt wurde, können solche Versuche der Systematisierung intertextueller Mechanismen und Funktionsweisen textanalytisch niemals gänzlich trennscharf angewendet werden; jeder Akt der Textproduktion schließt seine je eigene Rezeption des vorgängigen „Universums der Texte“ ein,63 jedes literarische Schaffen spiegelt subjektive Aneignungen von Sprachlichkeit und Inhalten, die sich einem zu eng verstandenen Systemzwang entziehen. Insofern repräsentiert auch dieses schematische Modell nur ein heuristisches Hilfskonstrukt, das die faktische Komplexität von Text-Text-Relationen weder umfassend abzudecken noch trennscharf zu systematisieren vermag, jedoch, wie im Rahmen dieser Arbeit anhand verschiedener Beispiele zu zeigen sein wird, geeignet ist, bestimmte intertextuelle Mechanismen in ihrer Funktionsweise anschaulich zu machen. In diesem Sinne soll die obige schematisierende Darstellung in erster Linie den Blick für diesen ‚Dialog der Texte‘ öffnen und für die intertextuelle Wahrnehmung sensibilisieren, d.h. die Wahrneh63 In Anlehnung an die poststrukturalistische Begriffsverwendung; siehe dazu u.a. Pfister, Konzepte, S. 9.
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
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mung, dass Texte an bestimmten Punkten auch auffällig laut schweigen können [-] und damit auf ihre Weise neue Bedeutungszuweisungen leisten, einen Prätext für neue Semantisierungen öffnen, oder gerade durch die Ausklammerung bestimmter Aspekte korrigieren können. Solche Bedeutungszuweisungen resp. -modifizierungen setzen dabei die Intentionalität der entsprechenden intertextuellen Verweisstruktur voraus, und damit in ganz wesentlicher Weise die bewusste Gestaltung durch einen Autor. Sofern wir die dekonstruktivistische Vorstellung vom „Tod des Autors“ bzw. dessen Degradierung zum „bloßen Projektionsraum des intertextuellen Spiels“ (Pfister)64 als überwunden betrachten, kann ein solches Modell intertextueller Mechanismen konzeptionell nicht ohne die Annahme eines bewusst und intentional gestaltenden Verfassers auskommen. Im Folgenden soll daher der Frage nachzugehen sein, was wir über den Autor des Kolosserbriefes sagen können – und insbesondere was nicht.
7. Wer schrieb den Kolosserbrief? 7. Wer schrieb den Kolosserbrief? Tatsächlich gibt es bis heute keinen auch nur annäherungsweisen Konsens über historischen Autor und historische Adressaten des Schreibens. Die verschiedenen Hypothesen in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion bewegen sich in einem weiten Spektrum zwischen der Annahme einer ‚doppelten Brieffiktion‘ (fiktiver Autor und fiktive Adressatengemeinde)65 und verschiedentlichen Versuchen, die potentiellen Adressaten geographisch genauer zu lokalisieren,66 sowie die Identität des Verfassers anhand seiner mutmaßlichen Beziehung zu Paulus näher einzukreisen – entweder als mit der Abfassung betrauter Mitarbeiter des Apostels (‚SekretärsHypothese‘) oder selbstständig agierender Paulusschüler,67 wobei jeweils wiederum unterschiedliche Abstufungen in der Frage der hierbei vorauszusetzenden literarischen Selbstständigkeit resp. Weisungsgebundenheit gemacht werden. Dabei gestaltet sich nicht nur die Bandbreite der vorliegenden Hypothesen zur Autorschaft des Kol sehr disparat, sondern vor allem 64
Pfister, Konzepte, S. 8. So. z.B. Standhartinger, Kolosserbrief, S. 16. Zur Frage der mutmaßlichen Adressatenschaft des Kolosserbriefes siehe Kapitel II.1. dieser Arbeit. 66 Siehe u.a. Leppä, Colossians, S. 366. 67 Vgl. dazu u.a. Barclay, John M. G.: Colossians and Philemon. Sheffield: Sheffield Academic Press 2001, S. 35. Eine Form von Sekretärshypothese vertritt in jüngster Zeit auch van Eck, der mit dem Kolosserbrief ein „improvisiertes Diktat“ des Apostels vorliegen sieht; vgl. Eck, John van: Kolossenzen en Filemon. Weerbaarheid en Recht (= CNT 19). Kampen: Kok 2007, S. 16f (ähnlich auch Dunn, James D.G.: The Epistles to the Colossians and to Philemon. A Commentary on the Greek Text [= NIGTC]. Grand Rapids, Michigan: Eerdmans 1996, S. 38). 65
7. Wer schrieb den Kolosserbrief?
27
auch deren Begründung. So spricht etwa laut Kiley für eine Autorschaft des Epaphras vor allem die Tatsache, dass dieser in Kol am ausführlichsten beschrieben werde (vgl. Kol 1,7f; 4,12f),68 während andere Exegeten mit der genau gegenläufigen Argumentation Tychikus, Aristarch oder Archippus als Autoren ins Spiel bringen, da diese innerhalb des Kolosserbriefes gerade am spärlichsten charakterisiert würden (so etwa Leppä und Schmeller).69 Anhand dieser diametral entgegengesetzten Begründungsansätze zeigt sich deutlich, wie spekulativ die Versuche verbleiben, die konkrete Verfasserschaft des Kol zu klären. Daher soll in dieser Arbeit ein solcher Versuch einer – in letzter Konsequenz stets willkürlich verbleibenden – Festlegung bewusst nicht vorgenommen werden; der Autor des Kolosserbriefes wird ausschließlich insofern näher definiert, als von einer pseudepigraphischen und nachpaulinischen Abfassungssituation auszugehen ist. Einen Ansatz, die Autorschaft des Kolosserbriefes zumindest begrifflich näher zu bestimmen und zu umschreiben, bildet die Charakterisierung des Autors als Paulusschüler, i.e. Partizipant einer – wie auch immer näher zu charakterisierenden – paulinischen Schultradition. So verweist Schmeller darauf, dass speziell der Kolosserbrief aufgrund seiner ‚Schulterminologie‘ und der theologischen Weiterentwicklung paulinischen Gedankenguts einen Schulhintergrund nahelege,70 und Helga Ludwig sieht insbesondere in seinen sprachlich-stilistischen Besonderheiten typische Indizien eines Schulproduktes.71 Doch auch hier herrschen forschungsgeschichtlich sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber vor, welches Verständnis einer solchen ‚Schule‘ 68
Vgl. Kiley, Colossians, S. 95f. Demgegenüber äußert Schmeller erhebliche Zweifel an der Möglichkeit, Epaphras könne den Kolosserbrief verfasst haben: „Die Vermutung, Epaphras habe jetzt (anders als früher, wo er persönlich als Vermittler auftrat) zum neuen Mittel eines pseudepigraphischen Briefs gegriffen, wäre nur dann plausibel, wenn er anders nicht mehr in der Lage gewesen wäre, der Entwicklung gegenzusteuern. Da Kol aber keine derartig dramatische Situation erkennen läßt, ist eher damit zu rechnen, daß Epaphras bereits gestorben war.“ (Schmeller, Thomas: Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit [= Herders Biblische Studien 30]. Freiburg i.B. u.a.: Herder 2001, S. 195). 69 Vgl. Schmeller, Schulen, S. 195. Bezeichnend ist hier vor allem, dass auch bei Kiley Tychikus als möglicher Verfasser genannt wird, aber – wie oben beschrieben – gerade mit der gegenteiligen Begründung (siehe Kiley, Colossians, S. 97). 70 Siehe Schmeller, Schulen, S. 198 und 206f, sowie S. 221. 71 Siehe Ludwig, Kolosserbrief, S. 7a und 50, sowie u.a. S. 37 und 44f. Auch die Gesamtkomposition des Briefes zeigt nach Ludwig charakteristische Zeichen von „Schülerarbeit“ (ebd., S. 60), wenngleich diese Schlussfolgerungen häufig eher suggestiv gezogen werden. Vgl. dazu ferner auch Lindemann, Andreas: Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (= BHTh 58). Tübingen: Mohr Siebeck 1979, S. 36–38.
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
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und damit auch des Kol als Schulprodukt zugrundegelegt wird.72 Trotz eines weitgehenden Konsenses darüber, dass die gesamte nachpaulinische Traditionspflege grundsätzlich die Annahme des Vorhandenseins einer gewissen (literarischen) Schulaktivität voraussetzt,73 gehen die Meinungen darüber, welche konkrete Form diese Schulaktivität gehabt haben könnte, stark auseinander. Während etwa Ludwig in ihrer Untersuchung zum Kolosserbrief als ‚Schulprodukt‘ von einem konkreten Schulungszentrum in Ephesus ausgeht, da die verantwortungsvolle Tätigkeit der Paulusmitarbeiter eine entsprechende Ausbildung (und somit eine institutionalisierte Form der Schulung) voraussetze,74 spricht Schenke sich für einen offenen 72
Einen Überblick über die wesentlichen Positionen bieten Standhartinger (Standhartinger, Kolosserbrief, S. 3–10) und Schmeller (Schmeller, Schulen, S. 17–27), wobei sich beide ausgesprochen kritisch gegenüber dem (inflationären) Gebrauchs des Begriffs ‚Paulusschule‘ äußern. „Nicht selten bedeutet offenbar ‚Schule‘ lediglich, daß ein einzelner Briefautor an die paulinische Theologie und Briefform anknüpft und sie für eine neue Situation fruchtbar macht, ohne daß er in irgendeiner Art von institutionalisierter Gemeinschaft mit den Verfassern der übrigen deuteropaulinischen Briefe steht. [...] ‘Paulusschule‘ wird hier zum Synonym für Deuteropaulinismus.“ (Schmeller, Schulen, S. 25). Dennoch würdigt Schmeller die Plausibilität der Schulhypothese als probates Mittel, die Besonderheiten der Deuteropaulinen erfassen zu können: „Auf diese Weise kann man einerseits den Gemeinsamkeiten mit den sicher echten Paulusbriefen Rechnung tragen, andererseits die stilistischen, theologischen und situativen Unterschiede ernstnehmen und als nachpaulinische Weiterentwicklungen interpretieren.“ (ebd., S. 16). In ähnlicher Weise sieht auch Standhartinger in der Redeweise von einer Paulusschule einen terminologischen „Platzhalter“ für eine Vielzahl verschiedener Phänomene paulinischer resp. deuteropaulinischer Traditionspflege (Standhartinger, Colossians, S. 573). 73 Norbert Brox geht sogar so weit, die Annahme von Schulstrukturen für christliche Pseudepigraphen als „nachweislich richtig“ zu bezeichnen, da „innerhalb des Christentums schon gleich in den ersten Jahren und Jahrzehnten infolge der Gemeindestruktur und der Bedeutung von Predigt und Lehre, also der verbalen und kultischen Kommunikation, ganz intensive Kontinuitäten geschaffen wurden, die sich freilich auch literarisch niederschlugen.“ (Brox, Verfasserangaben, S. 110). Allerdings räumt er ein, dass es schwierig sein dürfte, ein unmittelbares Lehrer-Schüler-Verhältnis nachzuweisen, und somit von einer eher „mittelbaren Abhängigkeit“ auszugehen ist (S. 110f). Ähnlich formuliert auch Kiley, der sich wesentlich skeptischer gegenüber der Annahme einer Paulusschule zeigt, seine Zweifel: „That Paul founded the school is simply not attested, and whether some members of that school included former co-workers must remain only a possibility, not a necessary given.“ (Kiley, Colossians, S. 95). 74 Vgl. Ludwig, Kolosserbrief, S. 211–215; ähnlich auch Stuhlmacher (vgl. Stuhlmacher, Peter: Das Christusbild der Paulusschule – eine Skizze. In: Dunn, James D.G. [Hrsg.]: Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135 [= The Second Durham Tübingen Research Symposium on Earliest Christianity and Judaism]. Tübingen: Mohr Siebeck 1992, S. 159–175, hier S. 159). Ein solches ‚Schulzentrum‘ in Ephesus als möglicher Entstehungsort des Kolosserbriefes, wie Ludwig es annimmt, wird auch bei Hoppe nahegelegt (vgl. Hoppe, Kolosserbrief, S. 101). Deutlich kritischer gegenüber dieser Annahme äußert sich Ollrog, der keinerlei Anzeichen für einen festen Schülerkreis in Ephesus sieht, zumal die paulinische Naherwartung der Parusie Christi die Möglichkeit,
7. Wer schrieb den Kolosserbrief?
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Kreis der Sammlung, Redigierung und Verbreitung der Paulusbriefe aus, der sich erst nach dem Tod des Paulus konstituiert und somit in seiner Entwicklung durch Paulus weder direkt initiiert noch angeleitet wurde.75 Andere Exegeten wiederum deuten die Verschiedenartigkeit der Deuteropaulinen als Indiz für die (nachpaulinische) Existenz verschiedener, nicht institutionell organisierter Paulusschulen, die in einem deutlichen Konkurrenzverhältnis zueinander standen (so z.B. Schmeller u.a.).76 Eine ähnliche Annahme macht auch Merz in ihrer Arbeit zum Corpus Pastorale stark, der zufolge die Deutero- bzw. Tritopaulinen entweder als Auseinandersetzung der Paulusschule mit konkurrierenden Strömungen oder aber als Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Paulusnachfolge gelesen werden können.77 Dieser Frage der Schulformen resp. -strömungen wird in der vorliegenden Untersuchung unter intertextueller Perspektive nachzugehen sein, d.h. einerseits der Frage, inwieweit sich im Kolosserbrief eine spezifische (und ggf. konfrontativ ausgerichtete) Paulusrezeption nachzeichnen lässt, die den Rückschluss auf solchermaßen konkurrierende zeitgenössische Schultraditionen in der Auslegung des paulinischen Erbes zulässt, und andererseits der Frage, in welchem Maße der intertextuelle Befund der potentiell verfügbaren Prätexte und des Umgangs mit jenen Texttraditionen Zeichen von ‚Schultradition‘ im Sinne einer frühen Sammlung, Bearbeitung und Adaption des paulinischen Schrifttums aufweist. Im Blick auf die zugrundeliegende Vorstellung des Kolosserbriefes als Produkt eines Paulusschülers soll an dieser Stelle ein weiterer in der Forschungsdiskussion bisweilen am Rande thematisierter Teilaspekt nicht unerwähnt bleiben: Könnte dieser Paulusschüler auch eine Paulusschülerin gewesen sein? Entgegen einer möglichen reflexartigen Zurückweisung Paulus selbst könne einen solchen Schulbetrieb eingerichtet haben, als unplausibel erscheinen lasse (vgl. Ollrog, Wolf-Henning: Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission [= WMANT 50]. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1979, S. 228 und 231; ähnlich auch Standhartinger, Kolosserbrief, S. 5). 75 Siehe Schenke, Hans-Martin: Das Weiterwirken des Paulus und die Pflege seines Erbes durch die Paulusschule. In: NTS 21 / 1975, S. 505–518, hier S. 512f. 76 Vgl. Schmeller, Schulen, S. 26f, 237f und 246; siehe dazu auch Vollenweider, Exegese und Wirkungsgeschichte, S. 154f. Auch Schenke schließt zwar eine mögliche (geographische) Zweiteilung der Schulaktivitäten um die beiden Zentren Ephesus und Korinth nicht aus, weist diesen dabei jedoch klar getrennte Tätigkeitsbereiche zu – Redaktion des originären Corpus in Korinth, Entstehung der Deuteropaulinen in Ephesus (vgl. Schenke, Paulusschule, S. 515f). 77 Vgl. Merz, Selbstauslegung, S. 208f. Siehe dazu auch dies.: Amore Pauli: Das Corpus Pastorale und das Ringen um die Interpretationshoheit bezüglich des paulinischen Erbes. In: ThQ 187 / 2007, S. 274–294, hier v.a. S. 286–292. Vgl. ferner u.a. auch Vollenweider, Exegese und Wirkungsgeschichte, S. 154f.
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I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
dieses Gedankens als vermeintlich inadäquater Übertragung moderner Vorstellungen von Autorschaft in den historischen Kontext antiker Gesellschaftsordnung greift der Anachronismus-Vorwurf insofern ins Leere, als die Acta Pauli in deutlicher Weise von weiblicher Nachfolger- und Schülerschaft zeugen: „Und Paulus ergriff sie [Thekla; N.F.] bei der Hand und führte sie in das Haus des Hermias und hörte von ihr alles (, was sich ereignet hatte), sodaß Paulus sich sehr wunderte und die Hörer gestärkt wurden und für Tryphäna beteten. Und Thekla stand auf und sprach zu Paulus: ‚Ich gehe nach Ikonium.‘ Paulus aber antwortete: ‚Gehe hin und lehre das Wort Gottes!‘“ (ActPaul 41).78
Unabhängig von der Frage der Historizität zeigt eine solche narrative Ausgestaltung des paulinischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses, dass weder die Vorstellung weiblicher Paulusschüler noch die deren selbstständiger Verkündigungstätigkeit antiken Vorstellungen grundsätzlich fremd ist. Insofern verdient im Kontext des Kolosserbriefes als frühestem überlieferten Pseudepigraphon die historische Beobachtung von Norbert Brox Aufmerksamkeit, dass Pseudepigraphie in der Antike ein bevorzugt weibliches literarisches Mittel war, da Pseudonymität speziell für Frauen ein wichtiges Mittel repräsentierte, schriftstellerisch tätig sein zu können.79 In ihrer Untersuchung zur textuellen Konstitution des Kolosserbriefes hebt Outi Leppä hervor, dass sich unter den drei in Kol namentlich genannten Mitarbeitern, deren Namen nicht aus der Namensliste des Philemonbriefes übernommen sind, mit Nympha auch eine Frau befindet.80 Und da die Tatsache, dass jene drei Namen (Tychikus, Nympha, Jesus Justus) gerade nicht aus dem paulinischen Traditionsmaterial stammen, sondern vom Verfasser selbsttätig eingesetzt wurden, es laut Leppä wahrscheinlich erscheinen lässt, dass sich darunter auch der Verfasser des Kol befinden könnte, schließt sie die Möglichkeit einer weiblichen Autorschaft ausdrücklich ein: „In my opinion, nothing in the letter suggests that A/Col [author of Colossians; N.F.] is a woman but nothing selfevidently indicates that A/Col was a man either.“81 Diesem Resümee ist textanalytisch wenig hinzuzufügen. So repräsentiert zwar insbesondere Kol 3,18 ein Frauenbild, von dem kaum behauptet werden kann, dass es geeignet wäre, eine emanzipatorische Note im Sinne weiblicher Selbstständigkeit widerzuspiegeln, doch dies allein spricht ebensowenig gegen eine mögliche weibliche Ver78 Übersetzung nach Schneemelcher, Wilhelm / Hennecke, Edgar (Hrsg.): Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Bd. 2: Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes. Tübingen: Mohr Siebeck 31964, S. 250. 79 Vgl. Brox, Verfasserangaben, S. 54. 80 Zur Frage der maskulinen resp. femininen Lesart (Nympha vs. Nymphas) siehe Fußnote 128 in Kapitel II dieser Arbeit. 81 Leppä, Colossians, S. 368.
8. Zum Aufbau der Textanalyse
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fasserschaft wie die Hervorhebung Nymphas als christliche Hausherrin (Kol 4,15) für eine solche Annahme sprechen würde. Alle über die Konstatierung der potentiellen Möglichkeit männlicher wie weiblicher Verfasserschaft hinausgehenden Hypothesen verbleiben im Bereich des Spekulativen und lassen sich anhand des Textbefundes kaum stichhaltig erhärten, ohne zwangsläufig exegetisch Gefahr zu laufen, eine allzu flache Psychologisierung des Textes zur Grundlage weitergehender Mutmaßungen zu machen.
8. Zum Aufbau der Textanalyse 8. Zum Aufbau der Textanalyse
Da die literarische Integrität des Kolosserbriefes weithin unbestritten ist,82 orientiert sich der textanalytische Hauptteil der vorliegenden Arbeit in seinem Aufbau im Wesentlichen an der epistolographischen Gliederung des Kol, d.h. den inhaltlich und textstrukturell als solchen identifizierbaren Teilbereichen und thematischen Abschnitten des Schreibens. Diese Identifizierbarkeit der inhärenten Gliederung des Textes ist gattungsgemäß dort am eindeutigsten, wo auf klar abgrenzbare und qua Briefformular vorgegebene Textschemata zurückgegriffen wird (wie etwa die relativ fest fixierte Form des Präskriptes) bzw. Textformen integriert werden, die ihrerseits vorfindlichen Konstitutionsmustern der paulinischen Briefe folgen und anhand derer als textuelle Einheit identifizierbar sind (wie etwa Danksagung und Fürbitte). Dies gilt im vorliegenden Fall darüber hinaus auch für eine Textgattung, die in dieser Form in den authentischen Paulinen zwar gerade nicht begegnet, aber durch ihre formelhaft vorgeprägte Struktur eindeutig als in sich geschlossene textuelle Einheit transparent ist: die ‚christliche Haustafel‘ von Kol 3,18–4,1. Verlässt man den Bereich der solchermaßen als abgeschlossene textuelle Einheiten identifizierbaren Passagen, so finden sich auch Bereiche des Kol, innerhalb derer die Ab82 Versuche, im Kolosserbrief einen sekundär bearbeiteten originären Paulusbrief auszumachen, basieren weitgehend auf fragwürdigen Hypothesen zur Rekonstruktion des mutmaßlich zugrundeliegenden Urtextes und fanden aufgrund ihrer textanalytischen Unschärfe in der exegetischen Forschung zum Kolosserbrief nur wenig Widerhall. Prominentester Vertreter der Annahme einer solchen redaktionellen Bearbeitung eines authentischen Apostelbriefes in Kol ist Schmithals (vgl. Schmithals, Walter: Literarkritische Analyse des Kolosserbriefs. In: Trowitzsch, Michael [Hrsg.]: Paulus, Apostel Jesu Christi. FS Günter Klein. Tübingen: Mohr Siebeck 1998, S. 149–170); eine Modifizierung dieses Ansatzes vertritt in neuerer Zeit Boismard, die im Kolosserbrief die redaktionelle Synthese des originären Kolosser- und Laodizenerbriefes vorliegen sieht (siehe Boismard, Marie-Émile: Paul’s Letter to the Laodiceans. In: Porter, Canon, S. 45–57). Zur grundsätzlichen methodologischen Kritik am literarkritischen Ansatz bei Schmithals vgl. u.a. Strecker, Literaturgeschichte, S. 65.
I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
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grenzungen der verschiedenen Textabschnitte weniger transparent sind, und dementsprechend in der exegetischen Forschung zum Kolosserbrief ein größeres Spektrum unterschiedlicher Gliederungsansätze vorliegt, so v.a. im Hinblick auf den Übergangsbereich zwischen Fürbitte und Hymnus83 (Kol 1,12–14), sowie die genaue Binnengliederung der Passage Kol 2,6–3,4, wo antihäretische Mahnungen, christologische Darlegungen und Tauftheologie Hand in Hand gehen. Auf solche Detailfragen der Textgliederung wird im Rahmen der Textanalyse näher einzugehen sein; an dieser Stelle daher zunächst eine schematische Gliederung des Kol, anhand derer jene Verschränkung der unterschiedlichen thematischen Bereiche deutlich wird, die die genaue Abgrenzung stellenweise so schwierig macht:84 1,1–2 1,3–8 1,9–14 1,15–20 1,21–23a 1,23b–2,5 2,6–8 2,9–15 2,16–23 3,1–4 3,5–17 3,18–4,1 4,2–6 4,7–14 4,15–18
Präskript Danksagung Fürbitte (inkl. Überleitung zum Hymnus) Christushymnus Übertragung auf die Adressaten Apostolische Selbstcharakterisierung Überleitung und Antizipation der Gegnerpolemik Christologie und Tauftheologie des Kol Auseinandersetzung mit gegnerischen Heilslehren Rekapitulation der christologischen und tauftheologischen Kernaussagen Tugend- und Lasterkataloge Christliche Haustafel Schlussparänese Nachrichten und Grüße Grußaufträge und Schlussgruß
Kapitel II.2. Kapitel II.3. Kapitel II.4. Kapitel IV.1. Kapitel IV.1. Kapitel III. Kapitel V.1. Kapitel IV.2. Kapitel V.1. Kapitel IV.2. Kapitel V.2. Kapitel V.3. Kapitel II.5. Kapitel II.6. Kapitel II.7.
Neben den Elementen, die innerhalb der Texttradition der Paulusbriefe den obligatorischen Rahmen des Briefes bilden (Präskript, Danksagung, Fürbitte – Schlussparänese, abschließende Nachrichten und Grüße), lassen sich anhand dieser Übersicht drei größere thematische Blöcke identifizieren. Dies ist zum einen die apostolische Selbstcharakterisierung des kolossischen ‚Paulus‘ in Kol 1,23b (+ 2 - ) bis Kol 2,5, die innerhalb eines relativ begrenzten textuellen Umfangs in pointierter Weise ein – nachpaulinisches – Bild von Person und Tätigkeit Pauli zeichnet. Deutlich mehr Raum nehmen die anderen beiden thema83
Zur Klassifizierung von Kol 1,15–20 als ‚Hymnus‘ und den Schwierigkeiten dieser Gattungszuweisung siehe die Ausführungen in IV.1.a. 84 Auf die Verortung der o.a. Gliederung innerhalb der in der exegetischen Forschung diskutierten textuellen Abgrenzungen und Gliederungsmodelle und die Begründung für die in dieser Arbeit vorgenommenen Unterteilungen wird anhand der Textanalyse jeweils in situ einzugehen sein.
8. Zum Aufbau der Textanalyse
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tischen Felder ein, i.e. einerseits der Bereich des Schreibens, der sich im weitesten Sinne als Christologie und Soteriologie des Kol charakterisieren lässt, und andererseits diejenigen Textpassagen, die sich praktischen Fragen des christlichen Lebensvollzugs und gemeindlichen Miteinanders widmen. Unter dem Bereich der Christologie und Soteriologie lassen sich dabei neben dem Christushymnus von Kol 1,15–20 und dessen anschließender Übertragung auf die Adressaten (Kol 1,21–23a) auch die Ausführungen zum neuen Leben in Christus durch die Taufe subsummieren (Kol 2,9–15 und 3,1–4). Einen stärkeren Fokus auf die lebenspraktischen Anforderungen und Herausforderungen dieses neuen Lebens weisen hingegen jene drei Textabschnitte auf, die sich zum einen der Auseinandersetzung mit gegnerischen Heilslehren widmen (Kol 2,6–8.16–23) und zum anderen mittels der paränetischen Textformen der Tugend- und Lasterkataloge (Kol 3,5–17) und der christlichen Haustafel (Kol 3,18–4,1) Vorgaben der alltagspraktischen christlichen Lebensführung thematisieren. Anhand dieser Grundstruktur soll der Textbefund des Kolosserbriefes in der folgenden Textanalyse unter intertextueller Perspektive untersucht werden, wobei die je unterschiedlichen Textformen und thematischen Felder, wie zu zeigen sein wird, auch je unterschiedliche intertextuelle Konstitutionsmuster aufweisen. Dass die Brieffiktion eines pseudepigraphen Schreibens ganz wesentlich darauf basiert, sich die epistolographischen Charakteristika der zugrundeliegenden Textgattung zu eigen zu machen, ist selbstevident. Insofern ist es wenig überraschend (und greift daher der Textanalyse auch nur bedingt voraus), dass der Briefrahmen mit seinen teils fest fixierten Wendungen, Formschemata und Strukturmustern in besonderer Deutlichkeit textuelle Übereinstimmungen mit den authentischen Paulinen erkennen lässt. Innerhalb des zugrundegelegten konzeptionellen Horizontes intertextueller Funktionsmechanismen gesprochen: Gerade die gattungskonstitutiven Charakteristika des Briefrahmens fungieren in intertextueller Hinsicht in erster Linie textorientiert, d.h. im Dienste der Authentizitätsfiktion des Schreibens durch den Rückgriff auf die prägenden Strukturelemente des Prätextes; referenztextorientierte Strategien spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Diese stärker formalen Aspekte der Briefkonstitution anhand der rahmengebenden Elemente werden im folgenden Kapitel unter intertextueller Perspektive nachzuzeichnen sein (II.), bevor dann in einem zweiten Schritt die genannten thematischen Bereiche in ihrer textuellen Ausgestaltung und intertextuellen Bezugsetzung zu ihren paulinischen Vorgängertexten im Zentrum stehen sollen, wobei hier insbesondere der Rekonstruktion referenztextorientierter Strategien, i.e. der Semantisierung und ‚Leseanweisung‘ der zugrundeliegenden paulinischen Prätexte besondere Aufmerksamkeit gilt. Dabei wird gemäß der oben skizzierten
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I. Zur Fragestellung und Methodik dieser Untersuchung
Gliederung zunächst der Bereich der ‚apostolischen Selbstcharakterisierung‘ zu untersuchen sein (III.), bevor dann diejenigen Textpassagen, in denen Christologie und Soteriologie des Kol greifbar werden, einer näheren Betrachtung unterzogen werden (IV.). In einem letzten textanalytischen Schritt sollen dann abschließend die Textbereiche, die die lebens- und alltagspraktischen Fragen christlicher Lebensführung in den Blick nehmen, in ihrer intertextuellen Konstitution untersucht werden (V.).
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18) II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
Dass der Aufbau des Briefrahmens ganz wesentlich auf der Adaption des Philemonbriefes basiert, ist in der Forschung zum Kolosserbrief bereits vielfach herausgearbeitet worden und wird selbst von denjenigen Exegetinnen und Exegeten, die ansonsten keinerlei literarische Abhängigkeit des Kol von den authentischen Paulinen annehmen, anerkannt.1 Die textorientierte Strategie ist offensichtlich: Der Rückgriff auf das orthonyme Schriftgut fungiert als Authentizitäts- und Autoritätsmarker, der die Apostolizität des Kol unterstreichen soll und somit intertextualitätstheoretisch eine Systemreferenz vollzieht, d.h. den Apostelbrief als Text-Gattung aufgreift.2 Weniger offensichtlich ist die Frage, ob diese (funktional eher formal denn inhaltlich ausgerichteten) Briefelemente auch einer referenztextorientierten Lesart unterliegen können, also einen Einfluss auf die Rezeption der literarischen Vorgänger haben können und sollen. Daher sollen nicht nur die Parallelen zwischen dem Briefrahmen des Kol und den authentischen Paulinen betrachtet werden, sondern gerade auch der Frage nachgegangen werden, ob signifikante Abweichungen von diesen vorge1
So insbesondere Standhartinger oder auch Kiley (der allerdings neben dem Philemonbrief auch eine fragmentarische Phil-Vorlage annimmt). Siehe Standhartinger, Kolosserbrief, S. 91 und 151, sowie Kiley, Colossians, S. 32, 75 u. 102. Eine Ausnahme bildet hier Ollrog, der eine Abhängigkeit des Kol von Phlm abstreitet (vgl. Ollrog, Mitarbeiter, S. 228). 2 Zu den typisch paulinischen Briefelementen siehe u.a. White, John L.: New Testament Epistolary Literature in the Framework of Ancient Epistolography. In: ANRW II 25.2 / 1984, S. 1730–1756, hier v.a. S. 1739–1748, sowie Vouga, François: Der Brief als Form der apostolischen Autorität. In: Berger, Klaus u.a. (Hrsg.): Studien und Texte zur Formgeschichte (= TANZ 7). Tübingen / Basel: Francke 1992, S. 7–58, hier S. 8, und Dormeyer, Detlev: Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993, S. 192–198, sowie ders.: The Hellenistic Letter-Formula and the Pauline Letter-Scheme. In: Porter, Canon, S. 59–93. Vouga hebt jedoch anhand des Vergleiches mit zeitgenössischer jüdisch-hellenistischer Briefliteratur hervor, dass der Apostelbrief als Gattungsschema sein Muster erst in den späten Paulusbriefen finde (vgl. Vouga, Brief, S. 12–17). Grundsätzlich in Frage gestellt wird die Existenz (gattungs-) spezifischer paulinischer Briefcharakteristika, die eine eigene Gattung ‚Apostelbrief‘ rechtfertigen würden, hingegen bei Standhartinger (vgl. Standhartinger, Kolosserbrief, S. 80f und 278f).
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
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gebenen Schemata auszumachen sind. Da auch die Schlussparänese einen festen Bestandteil des paulinischen Briefschemas bildet, wird die Betrachtung von Kol 4,2–6 ebenfalls im vorliegenden Kapitel einbezogen (II.5.).
1. Vorbemerkungen zur Adressatenfrage 1. Vorbemerkungen zur Adressatenfrage Über den intendierten Adressatenkreis des Kolosserbriefes besteht bis heute keine Einigkeit, zumal Kol eine von den Paulusbriefen abweichende „epistolographische Diskontinuität“ (Vouga)3 aufweist: Neben der in der adscriptio (Kol 1,2) genannten Gemeinde von Kolossä weist Kol 4,16 mit der Aufforderung, den Brief auch an die Gemeinde in Laodizea weiterzuleiten, einen zweiten (Neben-) Adressatenkreis aus.4 Insofern liegt die Annahme nahe, dass der Kolosserbrief – über die genannten Adressaten in Kolossä hinaus – für einen breiter angelegten Adressatenkreis konzipiert ist bzw. gar „universellen Charakter“ beansprucht, wie etwa Standhartinger annimmt, die Kol 1,2 für eine rein fiktive Adressierung hält:5 „Warum die Verf. ausgerechnet Kolossä als Adresse wählten, läßt sich nicht mit Sicherheit rekonstruieren. Aber vermutlich war es für die Auswahl nicht unwichtig, daß die Stadt nicht besonders bedeutend war. Durch die Adressierung an die Kleinstadt Kolossä in der Nachbarschaft der Metropole Laodizea und der wichtigen Stadt Hierapolis könnten sie die ‚weltweite‘ und auch die Winkel des römischen Reichs erfassende Ausbreitung des Evangeliums demonstrieren.“6
Das Spektrum der vorliegenden Hypothesen zum intendierten Leser- bzw. Hörerkreis bewegt sich somit zwischen der Annahme, dass der Kolosserbrief tatsächlich an die konkrete Gemeinde in Kolossä gerichtet ist (a),7 der Ausweitung des intendierten Adressatenkreises von Kol auf die gesamte umgebende Region Kleinasiens (b),8 und der These, dass die Adressierung 3
Vouga, Brief, S. 49. Zur Wertung des Laodizeaverweises von Kol 4,16 im Blick auf die Adressatenfrage siehe auch Fußnote 8. 5 Vgl. Standhartinger, Kolosserbrief, S. 15. Ähnlich auch Schenk, Wolfgang: Der Kolosserbrief in der neueren Forschung (1945–1985). In: ANRW II 25.4. Berlin / New York: de Gruyter 1987, S. 3327–3364, hier S. 3334, sowie Vouga, Brief, S. 50. 6 Standhartinger, Kolosserbrief, S. 16; vgl. auch dies., Colossians, S. 586. 7 Siehe z.B. Ollrog, Mitarbeiter, S. 237. 8 Vgl. u.a. Leppä, Colossians, S. 19 und 366, sowie Klauck, Briefliteratur, S. 242. Einen Sonderfall jener regionalen Ausweitung des Adressatenkreises stellt die These Lindemanns dar, der aufgrund der mehrfachen Referenzen auf Laodizea (Kol 2,1; 4,13.15f) annimmt, dass die Gemeinde von Laodizea die eigentliche Adressatengruppe des Kol bildet. Die fiktive Adressierung an Kolossä fungiere dabei als notwendiges Element der Authentizitätsfiktion: „Der Autor wollte seinen Lesern den Eindruck vermitteln, Paulus habe mit Blick auf Kolossä einst (also um das Jahr 60) Stellung genommen zu einer Entwicklung, wie sie sich jetzt in ganz ähnlicher Weise in ihrer eigenen Gemeinde 4
1. Vorbemerkungen zur Adressatenfrage
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des Kol eine gänzlich fiktive ist (c).9 Die beiden zentralen Eckpunkte der Argumentation bilden dabei die Datierung des Briefes und die Frage nach dem entsprechenden zeitgenössischen Status von Kolossä. Mangels archäologischer Untersuchungen bleiben die Rekonstruktionsversuche der Geschichte Kolossäs hierbei ausschließlich auf die literarischen Zeugnisse angewiesen, die in mehrfacher Hinsicht die Annahme nahelegen, dass Kolossä (und seine Nachbarstädte Laodizea und Hierapolis) durch ein starkes Erdbeben um 60–62 n.Chr. gänzlich zerstört wurden.10 So finden sich zum einen direkte Berichte über jenes Erdbeben bei Tacitus (Ann XIV 27,1), Orosius (Hist VII 7,11) und Eusebius: In Asia tres urbes terrae motu conciderunt, Laodicia Hierapolis Colossae.11 Zum anderen wird die Annahme aber auch dadurch unterstützt, dass Kolossä im Zeitraum danach keinerlei literarische Bezeugung mehr findet.12 Unter der Prämisse, dass zeigt.“ „Hätte er einen fiktiven Laodicenerbrief oder ein paulinisches Rundschreiben an die Gemeinden des Lykostals verfaßt, dann hätte ein solcher Brief ‚prophetische‘ Züge tragen, hätte ‚Weissagungen‘ und Warnungen vor der gefahrvollen Zukunft enthalten müssen. Damit aber wäre das vom Vf. angestrebte Ziel, ‚Paulus‘ unmittelbar auf die aktuelle Entwicklung Einfluß nehmen zu lassen, gerade nicht erreicht worden.“ (Lindemann, Andreas: Die Gemeinde von „Kolossä“. Erwägungen zum „Sitz im Leben“ eines pseudopaulinischen Briefes. In: Ders.: Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis. Tübingen: Mohr Siebeck 1999, S. 187–210, hier S. 193 und S. 209). Problematisch ist bei dieser Rekonstruktion der Abfassungssituation allerdings, dass Lindemann Kolossä als intendierte Adressatengemeinde ausdrücklich unter Verweis auf dessen mutmaßliche Zerstörung durch das Erbeben Anfang der 60er Jahre ausschließt (vgl. ebd., S. 115; siehe ferner auch S. 127–129). Unter Annahme jener Erdbebenthese (siehe obige Ausführungen) wäre nach den überlieferten literarischen Zeugnissen allerdings Laodizea gleichermaßen von dieser Zerstörung betroffen gewesen, wenngleich bei Tacitus bezeugt ist, dass Laodizea aus eigenen Kräften der Wiederaufbau gelang (Ann XIV 27,1). Siehe zur Kritik der Laodizenerthese Lindemanns ferner auch Wolter, Kolosser, S. 220f; eine positive Würdigung erhält dieser Ansatz hingegen in jüngster Zeit bei Wilson, der unter Verweis auf Kol 2,2 ebenfalls die Möglichkeit einschließt, dass Laodizea die eigentliche Adressatengemeinde des Kol dargestellt haben könnte (vgl. Wilson, Robert McL.: A Critical and Exegetical Commentary on Colossians and Philemon [= ICC]. London / New York: T & T Clark International 2005, S. 183). 9 Diese Auffassung wird insbesondere von Kiley und Standhartinger vertreten (vgl. Kiley, Colossians, S. 104, und Standhartinger, Kolosserbrief, S. 15f). 10 Vgl. Luz, Ulrich / Becker, Jürgen: Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser (= NTD 8/1). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 184, sowie Wolter, Kolosser, S. 34, und Leppä, Colossians, S. 18. Siehe auch Lohse, Kolosser, S. 37f, sowie Schnelle, Udo: Einleitung in das Neue Testament (= UTB.W 1830). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 42002, S. 337, und Ernst, Josef: Art. Kolosserbrief. In: TRE 19 / 1990, S. 370– 376, hier S. 370. Umstritten bleibt dabei allerdings, ob sich die Berichte tatsächlich auf ein und dasselbe Erdbeben beziehen oder vielmehr von verschiedenen Naturkatastrophen in der Region über einen deutlich längeren Zeitraum hinweg zeugen. 11 Zitiert nach GCS VII 21956, S. 183. 12 Siehe auch Wolter, Kolosser, S. 35, sowie Luz, Kolosser, S. 184.
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
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der Kol als erstes paulinisches Pseudepigraphon bereits relativ zeitnah nach dem Tod des Apostels verfasst wurde (die meisten Datierungen gehen von einer Abfassung um ca. 70 n.Chr. aus),13 erscheint die Existenz einer christlichen Gemeinde in Kolossä zu diesem Zeitpunkt somit fragwürdig, weshalb die Annahme naheliegt, dass hier eine fiktive Adressierung vorliegt, die vor diesem Hintergrund bewusst dazu dienen soll, den Kolosserbrief zeitlich rückzudatieren (vor die Zerstörung der Stadt und somit in die Lebenszeit Pauli) und damit dessen Authentizitätsanspruch zu untermauern: „Ein toter Paulus und ein zerstörter Ort waren offenbar die gegebenen Voraussetzungen für diese älteste Pseudepigraphie.“ (Schenk).14 Doch auch die Frage, ob sich aus diesen literarischen Zeugnissen zwingend Folgerungen über die tatsächliche Zerstörung Kolossäs bzw. die (Nicht-) Existenz einer kolossischen Gemeinde zur Abfassungszeit des Kol ableiten lassen, ist nicht unumstritten.15 Auch textimmanente Argumente werden immer wieder ins Feld geführt, um die jeweiligen Thesen zu untermauern oder zu entkräften, so insbesondere die Frage der Gegnerpolemik in Kol 2,16–23 und die aus dem Text zu erschließenden Indizien über eine persönliche Bekanntschaft des Verfassers mit der Region, wobei auch diese Indizien – je nach Adressatenhypothese – deutlich unterschiedlich gewichtet und bewertet werden. So sieht Wolter in den „individualisierenden Angaben“ des Kol „historisch zuverlässige Reflexe einer individuellen Gemeindetradition“, die für die Ausrichtung auf eine konkrete Gemeinde und somit gegen eine breitere Ausdehnung des intendierten Adressatenkreises sprächen,16 während Standhartinger im Kolosserbrief gerade eine mangelnde Kenntnis lokaler Gegebenheiten konstatiert und diese als Indiz für die fiktive Adressierung
13
Vgl. u.a. Schnelle, Einleitung, S. 337, sowie Klauck, Briefliteratur, S. 242, Wolter, Kolosser, S. 35f, und Leppä, Colossians, S. 368. 14 Schenk, Kolosserbrief, S. 3335; ähnlich auch Pokorný, Kolosser, S. 17, und Maisch, Ingrid: Der Brief an die Gemeinde von Kolossä (= Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 12). Stuttgart: Kohlhammer 2003, S. 21f. Vgl. ferner u.a. Leppä, Colossians, S. 20, und Wolter, Kolosser, S. 35f. Deutlich skeptischer gegenüber der Rückdatierungsthese äußert sich Luz (vgl. Luz, Kolosser, S. 189). 15 So geht beispielsweise Kiley davon aus, dass Kolossä aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich zerstört wurde, und leitet daraus die Annahme ab, dass die Adressierung des Kol rein fiktiv sei (vgl. Kiley, Colossians, S. 104), während Standhartinger, die ebenfalls eine fiktive Adressierung annimmt, deutliche Skepsis gegenüber der Zerstörungsthese äußert (vgl. Standhartinger, Kolosserbrief, S. 12). Demgegenüber sprechen sich Luz und Wolter grundsätzlich dagegen aus, die entsprechenden Berichte im Hinblick auf die Lokalisierung des Kol überzubewerten, da sich daraus nicht zwingend entsprechende Folgerungen auf die Existenz resp. Nicht-Existenz einer kolossischen Gemeinde ergäben (vgl. Luz, Kolosser, S. 184, sowie Wolter, Kolosser, S. 35). 16 Wolter, Kolosser, S. 36. Ähnlich auch Lindemann, Kolossä, S. 189.
1. Vorbemerkungen zur Adressatenfrage
39
des Schreibens betrachtet17 – ganz im Gegensatz zu Schmeller, der wiederum denselben Befund als logische Konsequenz der Abfassungssituation wertet: „Das Fehlen von Lokalkolorit ist kein Wunder, wenn der ‚Paulus‘ des Kol noch nie in Kolossä war, und daß dem Verfasser daran gelegen haben sollte, die Verbreitung des Evangeliums bis in eine Kleinstadt zu zeigen, hat keinerlei Anhaltspunkte im Text. Die allgemein gehaltenen Hinweise auf die Gegner lassen sich mit der pseudepigraphischen Briefsituation erklären: Eine Widerlegung, die sich exakt auf die Probleme zur Abfassungszeit des Kol bezieht, wollte der Verfasser dem (fiktiv früher schreibenden!) ‚Paulus‘ nicht in den Mund legen.“18
Die Bewertung der hier angesprochenen Frage nach der Gegnerpolemik des Kol erweist sich als ebenso divergent. Während Kiley – entsprechend seiner Annahme einer fiktiven Adressierung des Kolosserbriefes – die Warnungen vor häretischen Bedrohungen der Gemeinde in Kol als vage und prophylaktisch bewertet,19 sieht Ollrog, nach dessen Ansicht der Kolosserbrief „eindeutig ein Gelegenheitsschreiben, ein echter Brief, der aus einer konkreten Abfassungs-Situation für eine konkrete Gemeindesituation geschrieben wurde“ ist,20 in der Behandlung der gegnerischen Lehre keine prophylaktische Mahnung, sondern vielmehr eine sehr konkrete Handreichung für einen spezifischen Anlass, und attestiert dem gesamten Schreiben „konkrete, situationsgebundene Züge“.21 Da sich die textimmanent begründeten Schlussfolgerungen zur Adressatenfrage somit als deutlich subjektive Interpretationen erweisen, erscheint m.E. ein anderer Aspekt (bei aller letztlich verbleibenden Unsicherheit) erheblich überzeugender – die aus der vorausgesetzten pseudepigraphen (und unmittelbar nachpaulinischen) Abfassungssituation folgende Annahme, dass die Adressatenfiktion eine direkte Konsequenz der Autorenfiktion darstellt, wie auch Wolter darlegt: „Aufs Ganze gesehen ist es aber wohl doch wahrscheinlicher, daß der Kol seinen Bestimmungsort nicht in Kolossae hatte. Denn sollte der Brief wirklich für die Gemeinde in Kolossae bestimmt gewesen sein, wird die Autorfiktion problematisch: Wie sollte in diesem Fall das unvermittelte Auftauchen eines der Gemeinde bisher unbekannten Paulusbriefes an sie erklärt werden? Denn es ist doch wohl damit zu rechnen, daß man in Kolossae auch in den 70er Jahren noch gewußt hat, ob es einen Paulusbrief an die dortige Gemeinde gegeben hat oder nicht. Trotz der bleibenden Unsicherheit ist darum anzunehmen, daß außer der Autorenangabe auch die Adresse des Kol fiktiv ist. Sie könnte gewählt worden sein, weil zur Zeit der Abfassung dieses Briefes in Kolossae möglicherweise keine christliche Gemeinde mehr existierte – eine durchaus nicht unplausible Vor17
Siehe Standhartinger, Kolosserbrief, S. 13f, sowie dies., Colossians, S. 585f. Schmeller, Schulen, S. 194. 19 Vgl. Kiley, Colossians, S. 105. 20 Ollrog, Mitarbeiter, S. 237. 21 Ebd., S. 240. 18
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
40
aussetzung für einen pseudonymen Paulusbrief, den in nachpaulinischer Zeit ein anderer Verfasser gegenüber einer anderen Gemeinde als authentisch ausgeben will.“ 22
Ob eine solche andere Gemeinde als tatsächlicher Adressatenkreis der Schreibens rekonstruierbar ist, verbleibt allerdings fragwürdig – ebenso auch die Frage, ob tatsächlich von einem spezifischen Bestimmungsort des Briefes auszugehen ist. Angesichts der o.a. Schwierigkeiten, die fiktive Situierung des Schreibens stimmig mit einer faktischen Bezogenheit auf die konkrete Gemeindesituation eines anderen Adressatenkreises in Einklang zu bringen, spricht m.E. vieles dafür, mit Schenk und Standhartinger eine fiktive Adressierung anzunehmen, die dem eigentlich zugrundeliegenden universellen Anspruch des Briefes konkrete situations- und adressatengebundene Züge verleihen soll.
2. Präskript (Kol 1,1f) 2. Präskript (Kol 1,1f) Die superscriptio in Kol 1,1 weist neben Paulus, der als „Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes“ vorgestellt wird (2 ! " - , , ) auch Timotheus als Mitabsender aus, wobei sich hier die personelle Näherbestimmung auf - beschränkt. Der gesamte Vers stimmt wortwörtlich mit der superscriptio des 2. Korintherbriefes überein (2 Kor 1,1a), wobei die verschiedenen Einzelelemente Übereinstimmungen in allen authentischen Paulinen aufweisen und somit ein festes Repertoire paulinischer Briefeinleitungs-Elemente bilden:23 Die Selbstbezeichnung als ! und die Verankerung dieses apostolischen Auftrags im Willen Gottes (- , , ) findet sich in beiden Präskripten der paulinischen Korrespondenz mit Korinth, und ohne jenen Legitimationsverweis auf den Willen Gottes begegnet die Selbstbezeichnung als Apostel Christi auch in Gal 1,1. 22
Wolter, Kolosser, S. 35f; ähnlich auch Pokorný, Kolosser, S. 17. Aufgrund dieser Übereinstimmungen erscheint die These Standhartingers fraglich, dass gerade die starke Anlehnung an die – überlieferungsgeschichtlich fragwürdige – superscriptio von 2 Kor als Abweichung von genuin paulinischen Briefkonventionen zu werten ist (vgl. Standhartinger, Kolosserbrief, S. 73 und 81). Leppä hingegen sieht in Eingangs- wie Schlussgruß des Kol grundsätzlich starke Anleihen aus dem ersten und zweiten Korintherbrief, die der Tatsache Rechnung trügen, dass gerade hier der Philemonbrief, der ansonsten die epistolographische Hauptvorlage des Kol bilde, aufgrund seines privaten Charakters als Vorlage für ein Gemeindeschreiben ungeeignet erschien: „The reason for recalling the formulations from other texts may be the fact that like Col, they are addressed to congregations and thus their introductory greetings and conclusions are more suitable prototypes of Col than those of Philem, which is written to a private person.“ (Leppä, Colossians, S. 326. Vgl. auch ebd., S. 363). 23
2. Präskript (Kol 1,1f)
41
Darüber hinaus findet sich die grundsätzliche Referenz auf Christus als Bezugsgröße der eigenen Berufung in Form eines Genitivattributes auch in der superscriptio von Römer-, Philipper- und Philemonbrief. Auch Phlm, 2 Kor, 1 Thess und Phil weisen Timotheus als Mitabsender aus,24 wobei die Nennung eines Mitabsenders grundsätzlich in allen authentischen Paulinen mit Ausnahme des Römerbriefes begegnet, was nach Luz als Verweis auf den offiziell-kirchlichen Charakter der Schreiben und somit als Abgrenzung von reiner Privatkorrespondenz zu werten ist;25 eine Funktion, derer sich der Autor bewusst zur erneuten Unterstreichung des autoritativen Charakters bedient haben könnte. Da jene Abgrenzung in diesem Kontext jedoch nur dann sinnvoll wäre, wenn sie innerhalb der paulinischen Briefe tatsächlich distinktiv fungieren würde, spricht der tatsächliche Befund dagegen, die reine Nennung eines weiteren Absenders interpretativ überzustrapazieren. Denn in diesem Falle bliebe schlüssig zu erklären, warum in Phlm, wo noch am stärksten den Charakter eines privaten Schreibens auszumachen ist,26 ein Mitabsender genannt ist, während dies im Römerbrief nicht der Fall ist. Während die starken Übereinstimmungen mit den authentischen Paulinen aufgrund des formelhaften Charakters der superscriptio wenig verwunderlich sind, ist vielmehr gerade eine Abweichung beachtenswert: Da der Kol als fiktiver Gefangenschaftsbrief konzipiert ist, erscheint es zunächst verwunderlich, dass bei der Selbstbezeichnung nicht der Philemonbrief, ansonsten „primary model“27 des Briefrahmens, rezipiert wird, der mit der Selbstcharakterisierung als Gefangener Christi (Phlm 1: 2 - ! " ) die fiktive Situierung des Schreibens deutlich unterstützen würde (vgl. Kol 4,3.18). Dass der Verfasser dennoch der Selbstbezeichnung „Apostel Christi“ den Vorzug gibt, zeigt deutlich, dass die autoritative Rezeption des Briefes im Vordergrund steht,28 der im Zweifelsfall auch Vorrang gegenüber der inneren Textkohärenz eingeräumt wird.
24 Zur hervorgehobenen Stellung des Timotheus als Mitabsender siehe Ollrog, Mitarbeiter, S. 21f. 25 Vgl. Luz, Kolosser, S. 192. 26 Vgl. Leppä, Colossians, S. 326 und 363. Zur Problematik der Unterscheidung von Gemeinde- und Privatbrief (insbesondere im Hinblick auf die Einordnung des Philemonbriefes) siehe z.B. Klauck, Briefliteratur, S. 247, sowie Ollrog, Mitarbeiter, S. 104. 27 Kiley, Colossians, S. 75, sowie Leppä, Colossians, S. 323. 28 Vgl. dazu u.a. Ludwig, Kolosserbrief, S. 61, und Dunn, Colossians, S. 44. Zur Sonderstellung der Prädikation siehe auch Ollrog, Mitarbeiter, S. 79f. Auf die Autorisierungsfunktion des Verweises auf den apostolischen Auftrag als typisches Kennzeichen des paulinischen Briefpräskripts verweisen auch Schnider / Stenger (vgl.: Schnider, Franz / Stenger, Werner: Studien zum neutestamentlichen Briefformular [= NTTS 11]. Leiden: Brill 1987, S. 10; siehe auch Vouga, Brief, S. 8).
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
42
Die adscriptio von Kol 1,2a benennt als Adressaten des Schreibens die Brüder in Kolossä, die als „heilige und gläubige Brüder in Christus“ ausgewiesen werden ( 3 - ! ).29 Diese Formulierung zeigt im Vergleich mit den adscriptiones der Protopaulinen die meisten Berührungspunkte mit der Formulierung des Philipperbriefes (Phil 1,1), wobei die Reihenfolge der Lexeme variiert, und auch hier die Einzelelemente in den meisten authentischen Paulinen zu finden sind. So begegnen sowohl die Adressierungsformel (bzw. )30 als auch die Charakterisierung der Adressaten als 0 in Röm 1,7; Phil 1,1; 1 Kor 1,2 und 2 Kor 1,1, wobei sich in Phil 1,1 und 1 Kor 1,2 darüber hinaus auch die ! -Formel findet (ebenso auch 1 Thess 1,1). Ohne Parallele in den paulinischen Briefanfängen ist hingegen die Anrede als „gläubige Brüder“, die somit eine Eigenformulierung des Autors darstellt.31 Die salutatio in Kol 1,2b ( , ) nimmt eine Zwischenposition zwischen der Kurzformel in 1 Thess 1,1 und den ausführlicheren Formulierungen in allen anderen protopaulinischen Briefen ein (Röm 1,7; 1 Kor 1,3; 2 Kor 1,2; Gal 1,3; Phil 1,2; Phlm 3),32 da der Gottesbezug, der in 1 Thess entfällt, im Kolosserbrief zwar enthalten ist, nicht aber die Ergänzung " ! , was angesichts der pointiert christozentrischen Ausrichtung des Kol einigermaßen verwunderlich erscheint;33 entsprechend wird dieser Zusatz auch in einigen Zur adjektivischen Lesart von 0 im vorliegenden Kontext siehe auch Slater, Thomas B.: Translating 0 in Col 1,2 and Eph 1,1. In: Biblica 87 / 2006, S. 52–54. 30 Lohse weist allerdings auf die Abweichung hin, dass der Autor des Kolosserbriefes die Ortsbestimmung nicht partizipial anschließe und Kolossä somit „nur fast beiläufig erwähnt“ werde (Lohse, Kolosser, S. 36), was möglicherweise der fiktiven Adressierung Rechnung tragen könnte. 31 Siehe auch Dunn, Colossians, S. 49. Die Tatsache, dass die Adressatengemeinde hingegen nicht als
bezeichnet wird, ist m.E. inhaltlich nicht überzubewerten, etwa im Sinne eines Hinweises auf innergemeindliche Differenzen (so Lindemann, Kolosserbrief, S. 15–17). 32 Vgl. auch Standhartinger, Kolosserbrief, S. 74. 33 Auf die christozentrische Konzeption des Kol wird im weiteren Verlauf der Textanalyse noch näher einzugehen sein (vgl. v.a. Kapitel IV. dieser Arbeit); siehe dazu insbesondere auch die Untersuchung Oliveras (Oliveira, Anacleto de: Christozentrik im Kolosserbrief. In: Scholtissek, Klaus [Hrsg.]: Christologie in der Paulus-Schule. Zur Rezeptionsgeschichte des paulinischen Evangeliums [= SBS 181]. Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1999, S. 72–103); sowie ferner Hoppe, Rudolf: Der Triumph des Kreuzes. Studien zum Verhältnis des Kolosserbriefes zur paulinischen Kreuzestheologie (= SBB 28). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1994, S. 12–19. Zur ‚christologischen Verkürzung‘ von Kol 1,2 im Gesamtkontext des Kol siehe auch Hübner, Hans: An Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (= HNT 12). Tübingen: Mohr Siebeck 1997, S. 106. 29
2. Präskript (Kol 1,1f)
43
Handschriften ergänzt.34 Anhand einer vergleichenden Übersicht wird die diesbezügliche ‚Mittelstellung‘ der kolossischen salutatio (B) zwischen der Kurzformel des 1. Thessalonicherbriefes (C) und den übrigen Protopaulinen (A) deutlich: (A) (B) (C)
, " ! ,
Textimmanent lässt sich diese auffällige Auslassung des Christusbezuges kaum schlüssig erklären. Entsprechend wertet Luz diese Besonderheit als möglichen Hinweis auf einen nichtpaulinischen Ursprung der Formel,35 und in ähnlicher Weise schreibt auch Vouga dem 1. Thessalonicherbrief, der analog zu Kol auf den Christusbezug der salutatio verzichtet, einen „traditionellen“ Aufbau zu, der sich noch stärker am jüdisch-hellenistischen Briefformular orientiere, während sich die eigentliche Gattung des Apostelbriefes erst in den späteren Paulusbriefen konstituiere (zur Frage der unterschiedlichen Briefkonventionen s.u.).36 Unter dieser Prämisse erscheint zwar die Kurzformel in 1 Thess plausibel; die Frage, weshalb der Verfasser des Kolosserbriefes jene ‚christologische Verkürzung‘ der salutatio vornimmt, bleibt hingegen ungeklärt, sofern nicht (wie etwa bei Leppä) davon ausgegangen wird, dass 1 Thess neben Phlm der einzige Brief war, der bei der Abfassung des Kol in schriftlicher Form vorlag.37 Diese Annahme wird in der vorliegenden Arbeit nicht geteilt, da – wie im Verlauf der intertextuellen Analyse zu zeigen sein wird – von einer deutlich breiteren Bekanntschaft mit der paulinischen Texttradition auszugehen ist. Die syntaktische Eigenständigkeit der salutatio (gegenüber der Zusammenfassung von superscriptio und adscriptio innerhalb eines Satzes) wird in der neutestamentlichen Epistolographie traditionell als Merkmal eines stärker orientalischen Briefformulars betrachtet, das die paulinischen
34 Vgl. dazu Metzger, Bruce: A Textual Commentary on the Greek New Testament. A Companion Volume to the UBS Greek New Testament. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 21998, S. 552. Siehe auch Hoppe, Kolosserbrief, S. 103, sowie Lohse, Kolosser, S. 39, und Kiley, Colossians, S. 68f. 35 Vgl. Luz, Kolosser, S. 192. 36 Siehe Vouga, Brief, S. 12f; ähnlich im Hinblick auf Kol 1,2 auch MacDonald, Margaret Y.: Colossians and Ephesians (= Sacra Pagina Series 17). Collegeville, Minnesota: Liturgical Press 2000, S. 32. 37 Vgl. Leppä, Colossians, S. 363 und 348 (dagegen: Standhartinger, Kolosserbrief, S. 126). Die Auslassung der Christusformel wertet Leppä hier jedoch als Indiz, dass die salutatio aus der Erinnerung reproduziert wurde (vgl. Leppä, Colossians, S. 84f).
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
44
Briefe von gängigen hellenistischen Briefkonventionen abgrenze.38 Unabhängig von diesen Differenzierungen im Einzelnen bildet das Brieferöffnungsformular jedoch eine relativ feste literarische Form und als solche ein obligatorisches gattungskonstituierendes Element antiker Briefliteratur.39
3. Danksagung (Kol 1,3–8) 3. Danksagung (Kol 1,3–8) Kol 1,3 leitet die Danksagung des Kolosserbriefes ein, wobei mit der pluralischen Formulierung neben Paulus auch der zuvor als Mitabsender genannte Timotheus als Handlungsakteur eingeschlossen wird; sowohl im Hinblick auf die Danksagung ( , " ! ) als auch in Blick auf das beständige Gebet für die Gemeinde ( ). Die Formulierung setzt sich dabei aus wörtlichen Übernahmen des Proömiums im 1. Thessalonicherbrief und 2. Korintherbrief zusammen, wobei 1 Thess 1,2 den strukturgebenden Rahmen bildet (V3a/c) und die Formel " ! (2 Kor 1,3) den Einschub in V3b:40 Kol 1,3:
1 Thess 1,2:
2 Kor 1,3:
, " ! !
,
, " ! !
Die Einzelelemente der Danksagung und des beständigen Gebets für die Gemeinde finden sich zudem im Proömium aller authentischen Paulinen (vgl. Röm 1,8.10; 1 Kor 1,4; Phil 1,3; Phlm 4) – mit Ausnahme des Galaterbriefes, der aufgrund der spezifischen Konfliktsituation von den üblichen Schemata verschiedentlich abweicht. Im Kontext der kolossischen Danksagung bildet Kol 1,3 zugleich die Einleitung einer komplexen Rei38
Vgl. u.a. Schnider / Stenger, Briefformular, S. 3, sowie Klauck, Briefliteratur, S. 44, und Strecker, Literaturgeschichte, S. 75f. Siehe dazu ferner auch Standhartinger, Kolosserbrief, S. 69, und Lohse, Kolosser, S. 32. 39 Siehe z.B. White, Epistolography, S. 1732. 40 Weitere Belege der Vater-Sohn-Prädikation finden sich in den authentischen Paulinen auch außerhalb des Proömiums (Röm 15,6; 2 Kor 11,31); ebenso wird auch die Danksagungsformel von 1 Thess 1,2 an anderer Stelle wiederaufgegriffen (1 Thess 2,13). Aufgrund der hier vorliegenden syntaktischen Sperrigkeit der Formulierung , in Kol 1,3 wird in einigen Handschriften ein zweites bzw. ein konjunktionaler Anschluss mit ergänzt (siehe dazu auch Metzger, Commentary, S. 552).
3. Danksagung (Kol 1,3–8)
45
hung von Partizipial- und Pronominalkonstruktionen, die sich über die Verse 1,3–6 erstreckt. Der Partizipialsatz Kol 1,4 leitet perspektivisch den Blick auf die Adressaten über bzw. auf den Informationsstand, den die Briefabsender über den Zustand der Gemeinde haben – über deren Glauben ( ! " ) und ihre „Liebe zu allen Heiligen“ ( 4 ). Diese Charakterisierung entspricht in ihren Einzelelementen exakt der – innerhalb des Neuen Testamentes ansonsten singulären – Formulierung in Phlm 5, mit lediglich leichten Abweichungen in der Reihenfolge der einzelnen Elemente, sowie Tempus und Numerus der Pronominalformen; letzteres bedingt durch den strukturellen Unterschied zwischen der Pluralität der angesprochenen Adressaten in Kol 1,4 und der Fokussierung auf die Einzelperson Philemon in Phlm 5:41 Kol 1,4:
! " 4
Phlm 5:
4 "
Demgegenüber kennt der Folgevers Kol 1,5 keinerlei direkte Parallelen innerhalb der authentischen Paulinen; die Analogielosigkeit der hier vorliegenden Charakterisierung christlicher Hoffnung ist bemerkenswert:42 - - 4 ,
durch die Hoffnung die bereitliegende für euch in den Himmeln von der ihr gehört habt durch das Wort der Wahrheit des Evangeliums
Die Verknüpfung von eschatologischer Verheißung ( – im Himmel bereitliegend) und dem Rückgriff auf die bereits gehörte Verkündigung ( 4 ) entspricht in ihrer zeitlichen Struktur zwar dem paulinischen Spannungsbogen des Schon jetzt
41
Dass eine daraus abzuleitende Differenzierung von Privat- und Gemeindebrief nicht unproblematisch ist, wurde bereits angesprochen (vgl. dazu auch Klauck, Briefliteratur, S. 247). In diesem Falle orientiert sich die Unterscheidung jedoch ausschließlich an dem strukturellen Aspekt der Personalformen, die hier eine unbestreitbare Differenz markieren. Eine weitergehende inhaltliche Qualifizierung ist nicht intendiert. 42 So begegnet zwar häufig in der synoptischen Tradition, und auch das Motiv bereitliegender Hoffnung wird bei Ollrog und Lohse als geläufige Redensweise ausgewiesen (siehe Ollrog, Mitarbeiter, S. 230, sowie Lohse, Kolosser, S. 47), doch in der hier vorliegenden Verknüpfung ist die Formulierung ebenso singulär wie auch die Begriffsverwendung (vgl. auch Leppä, Colossians, S. 93f).
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
46
und Noch nicht,43 ist terminologisch aber ohne Parallele in den paulinischen Briefen. Vielmehr wird hier bereits die spezifisch räumliche Bildlichkeit des Kol eingeführt, die sich später innerhalb des Briefcorpus als charakteristisches Stilelement eschatologischer Aussagen ausprägt (vgl. insbesondere Kol 3,1–4).44 Insofern ist der treffenden Charakterisierung Bornkamms zuzustimmen, die Hoffnung fungiere in Kol 1,5 „nicht mehr im Sinne einer zeitlich gerichteten Eschatologie“, sondern repräsentiere „eine Sphären-Wirklichkeit, die bereits verwirklicht ist und in kein Schema einer zeitlich gerichteten Eschatologie sich mehr einfügt.“45 Während hier somit keine direkte paulinische Vorlage gegeben ist, und bis auf die nachgestellte Präpositionalphrase, die in der Begriffskombination ,bzw. , entsprechende paulinische Redeweisen aufgreift (2 Kor 6,7; Gal 2,5.14),46 auch keinerlei Übereinstimmung in Einzelelementen auszumachen ist, bildet die versbergreifende Stichwortverbindung Glaube, Liebe, Hoffnung (V4f) ein deutlich strukturbildendes Element, das der Trias im 1. Thessalonicherbrief und 1. Korintherbrief entspricht (1 Kor 13,13; 1 Thess 1,3; 5,8). In der pfisterschen Kriteriologie macht hier die Selektivität, i.e. die pointierte Hervorhebung jener Elemente (isoliert von ihrem originären Kontext) die Prägnanz dieser intertextuellen Verweisung aus, die für den Rezipienten auch als solche erkennbar gewesen sein dürfte. Dabei stimmen Kol und 1 Thess auch hinsichtlich der Reihenfolge der Elemente überein, wohingegen 1 Kor 13,13 hier abweichend formuliert ( - 5- ). Aufgrund der räumlichen ‚Entzerrung‘ der Trias in Kol 1,4f wird in der exegetischen Forschung zum Kolosserbrief häufig eine Abhebung resp. Hervorhebung des Hoffnungsaspektes konstatiert, da er nicht in den Bereich der Verhaltensmerkmale der Gemeinde von Kolossä falle, sondern vielmehr eschatologisch verstanden werde,47 bzw. zur Grundlage von 43
Siehe zu jener spezifisch paulinischen Dialektik auch Vollenweider, Samuel: Zeit und Gesetz. Erwägungen zur Bedeutung apokalyptischer Denkformen bei Paulus. In: Ders.: Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie (= WUNT 144). Tübingen: Mohr Siebeck 2002, S. 143–162, hier S. 151–162. 44 Vgl. dazu auch Wolter, Kolosser, S. 53, und MacDonald, Colossians, S. 41, sowie Pokorný, Kolosser, S. 34. 45 Bornkamm, Günther: Die Hoffnung im Kolosserbrief. Zugleich ein Beitrag zur Frage der Echtheit des Briefes. In: Ders.: Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien. Gesammelte Aufsätze Bd. 2 (= BEvTh 53). München: Kaiser 1971, S. 206–213, hier S. 210. 46 So spricht Paulus in analoger Formulierungsweise in 2 Kor 6,7 davon, sich „im Wort der Wahrheit“ ( ,) als Diener Gottes zu erweisen, und betont in Gal 2 die Wahrung der „Wahrheit des Evangeliums“ ( , – Gal 2,5.14); vgl. auch Dunn, Colossians, S. 61. 47 So z.B. Wolter, Kolosser, S. 51f.
3. Danksagung (Kol 1,3–8)
47
und gemacht werde.48 Tatsächlich zeigt die Analogielosigkeit der Charakterisierung von in Kol 1,5, dass hier eine spezifische Eigenakzentuierung des Kolosserbriefes vorliegt, die eine eigene, räumlich-eschatologische Konnotation in die vorgegebene paulinische TriasFormel einträgt. Betrachtet man den Textabschnitt Kol 1,3–5 als Ganzes, so ist insbesondere die Parallelität zu 1 Thess 1,2f (Danksagungsformulierung in V3a und Trias Glaube-Liebe-Hoffnung in V4f) und Phlm 4f (beständiges Gebet in V3c und komplette Formulierung von V5) bemerkenswert. Angesichts der nahezu exakten Übereinstimmung mit der – zudem im Neuen Testament singulären – Formulierung von Phlm 5 ist anzunehmen, dass der Philemonbrief bei der Abfassung des Kol tatsächlich schriftlich vorgelegen haben muss.49 Die partiellen Übereinstimmungen mit dem 1. Thessalonicherbrief hingegen wären auch durch die Annahme einer allgemeinen Vertrautheit mit dem Schreiben erklärbar, wobei allerdings die Nähe zur salutatio des 1 Thess (s.o.) gerade durch die auffällige Abweichung von allen anderen Paulinen dafür spricht, dass der Autor des Kolosserbriefes mit den Besonderheiten von 1 Thess in einer Weise vertraut war, die über eine rein mündliche Bekanntschaft hinausgehen dürfte. Kol 1,6 greift die Rede vom Evangelium als Wort der Wahrheit aus dem Vorgängervers auf und spezifiziert dessen globale Ausbreitung: Nicht nur zu den Adressaten des Briefes ist es gelangt ( ), sondern in alle Welt ( ), wo es in selber Weise Früchte trägt und wächst wie auch in der kolossischen Gemeinde ( . , ). Diese Umschreibung ist in der Komposition ihrer Elemente erneut ohne direkte Parallele innerhalb der authentischen Paulinen, greift in ihren Einzelelementen aber durchaus auf gängige paulinische Topoi und Formulierungsvarianten zurück und verknüpft sie in neuer Weise. So begegnet das Direktionalpartizip ähnlich auch in 2 Kor 11,9 und Gal 4,18.20, während der Topos der welt48 Vgl. u.a. Donelson, Lewis R.: Colossians, Ephesians, First and Second Timothy and Titus (= Westminster Bible Companion). Louisville: Westminster John Knox Press 1996, S. 15. 49 Dass dabei die Danksagung des Kol nicht gänzlich dem Philemonbrief entnommen ist, kann in keinster Weise als Argument gegen die literarische Abhängigkeit herangezogen werden (so die Argumentation bei Mullins, Terence Y.: The Thanksgiving of Philemon and Colossians. In: NTS 30 / 1984, S. 288–293), denn im Sinne der Authentizitätsfiktion eines pseudonymen Schreibens ist gerade der kreative und variationsvolle Umgang mit der zugrundeliegenden Texttradition notwendige Voraussetzung für eine Rezeption, die den Text gerade nicht als reine Kopie eines Vorgängertextes, sondern als eigenständige ‚orthonyme‘ Schrift des vorgeblichen Verfassers rezipieren soll.
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
48
weiten Ausbreitung sich in verschiedenen Formulierungsvarianten in Röm 1,8; 2 Kor 2,14; 1 Thess 1,8 und 1 Kor 1,5 findet. Innerhalb des Kol wird dabei mit bereits im Proömium jene kosmologische Dimension antizipiert, die später im Rahmen des Hymnus ein wesentliches Element der kolossischen Christologie und Ekklesiologie bildet (siehe Kapitel IV.1.). Als zeitlicher wie inhaltlicher Ausgangspunkt jenes Wachstums des Evangeliums wird im Blick auf die Gemeinde der Tag des Hörens, d.h. der Erstverkündigung benannt ( + ) und die Erkenntnis „der Gnade Gottes in Wahrheit“ ( , ,). Eine solche Erinnerung der Gemeinde an den ersten Tag ihrer „Gemeinschaft am Evangelium“ begegnet auch im Philipperbrief (Phil 1,5: ), und die Verknüpfung von Erkenntnis und Gnade Gottes ( , ) findet ihre paulinische Parallele in 1 Kor 1,4f: , , -, ! " 0 , . 50 Insbesondere sind jedoch die Übereinstimmungen im Bereich der Frucht- und Wachstumsmetaphorik bemerkenswert: Beide paulinischen Belege dieses Motives (2 Kor 10,15; Röm 1,13) weisen die auch im Kol vorliegende Präzisierung auf; Röm 1,13 darüber hinaus auch die Erweiterung des Bezugsrahmens mit , . Doch auch in den synoptischen Parallelen (Mk 4,8.20; Mt 13,23; Lk 8,15) zeichnen sich deutliche Berührungspunkte ab – zum einen die inhaltliche Verknüpfung mit dem Hören des Wortes in V5 (Mk 4,20; Mt 13,23; Lk 8,15), zum anderen die auffällige Umkehrung der „botanischen Reihenfolge“ (Standhartinger)51 in Mk 4,8 und Kol 1,6. Insofern bilden die Übereinstimmungen mit Mk 4 trotz der Tatsache, dass ‚fruchttragen und wachsen‘ eine gängige Metapher darstellt und somit nach Sanders als ‚stock phrase‘ keine Aussagekraft im Blick auf mögliche literarische Abhängigkeitsverhältnisse besitzt,52 eine prägnante Parallele, die Leppä zu der Vermutung veranlasst, dass der Autor des Kol mit einer prämarkinischen Textform der Parabel vertraut gewesen sein muss.53 Wie der Fortgang der Textanalyse zeigen wird, ist dies nicht der einzige Fall, in Die lexikalische Alternation von / und / steht dieser Parallelität nicht entgegen (zu den mutmaßlichen Bedeutungsnuancierungen siehe z.B. Picirelli, Robert E.: The Meaning of „Epignosis“. In: EvQ 47 / 1975, S. 85–93, sowie MacDonald, Colossians, S. 47). 51 Standhartinger, Kolosserbrief, S. 175. Siehe auch Wolter, Kolosser, S. 54, und Leppä, Colossians, S. 97. 52 Siehe Sanders, Dependence, S. 31. 53 Vgl. Leppä, Colossians, S. 360–362, sowie S. 97 und 317. 50
3. Danksagung (Kol 1,3–8)
49
dem auffällige Übereinstimmungen mit dem Markusevangelium auszumachen sind;54 die Möglichkeit einer direkten literarischen Beziehung muss daher ernsthaft in Erwägung gezogen werden.55 Kol 1,7 weist Epaphras als „Lehrer“ der christlichen Unterweisung in Kolossä aus ( ,, ). Eine solche Erinnerung an den Gemeindegründer bzw. die Gemeindegründung begegnet als Brieftopos häufig in den authentischen Paulinen (vgl. 1 Kor 2,1–5; Gal 4,13f; 1 Thess 1,5; 2,1–12);56 allerdings bildet im vorliegenden Fall nicht Paulus selbst die Bezugsgröße, sondern Epaphras, der innerhalb des Corpus Paulinum namentlich aus Phlm 23 bekannt ist. Dabei lässt auch die nähere Charakterisierung des Epaphras als „geliebter Mitknecht“ ( - ) und „treuer Diener Christi“ (0 - ! ) strukturelle Parallelen mit dessen Nennung in Phlm 23 erkennen; einen wesentlichen Unterschied, betrachtet man den Briefrahmen als Ganzes, bildet hingegen die Tatsache, dass der Kolosserbrief nicht Epaphras als Mitgefangenen des Paulus benennt, sondern Aristarch (Kol 4,10), der ebenfalls in Phlm 23f genannt ist: Phlm 23f:
! " #
&
Kol 1,7:
- 0 - ! [...]
Kol 4,10:
& #
[...]
Diese Übereinstimmungen legen erneut nahe, dass der Philemonbrief bei der Konstitution des Briefrahmens als schriftliche Vorlage gebraucht und mit nur geringen Abweichungen verarbeitet wurde. Die einzelnen lexikalischen Elemente jener Würdigung des Epaphras, die bei Ollrog aufgrund ihrer ebenso inflationären wie stereotypen Verwendung in den paulinischen Briefen als „literarische Pflichtübung“ bezeichnet werden,57 finden sich entsprechend häufig bei der Charakterisierung der Mitarbeiter innerhalb des Corpus Paulinum (Phlm 1; Phil 1,1; 1 Kor 3,6; 4,17; 16,15f; 2 Kor 11,23; 6,4; Röm 16,5.8.9), die Prädikation - ! " darüber 54 Siehe dazu v.a. die Ausführungen zu Kol 2,8.19.22 in Kapitel V.1. dieser Arbeit, sowie zu Kol 3,5.8 in Kapitel V.2. Die namentliche Nennung eines # in Kol 4,10 spielt bei diesen Überlegungen hingegen keine Rolle; siehe hierzu auch Fußnote 110 dieses Kapitels. 55 Diese Möglichkeit wird neuerdings auch bei Wilson ausdrücklich eingeschlossen; vgl. Wilson, Colossians, S. 118. 56 Siehe auch Wolter, Kolosser, S. 55. 57 Ollrog, Mitarbeiter, S. 190. Vgl. zu den gängigen paulinischen Mitarbeiterprädikationen u.a. auch Ellis, Earle E.: Paul and his Co-Workers. In: NTS 17 / 1971, S. 437–452.
50
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
hinaus auch als paulinische Eigenbezeichnung (Phil 1,1; Röm 1,1), wohingegen die hier vorliegende Bezeichnung als - in den Protopaulinen nicht begegnet und somit eine Begriffsschöpfung des Kolosserbriefes bildet. Wolter gibt aufgrund der besseren Bezeugung der Lesart - den Vorzug und sieht somit Epaphras hier weniger als Gemeindegesandten denn vielmehr als Stellvertreter des Apostels prädiziert;58 eine Auslegung, der jedoch die betonte Hervorhebung des Epaphras als kolossischem Gemeindegesandten in Kol 4,12 (. ) widerspricht. Entsprechend dieser lokalen Verankerung wird im Folgevers Kol 1,8 auch die Tatsache benannt, dass Epaphras Paulus über das Ergehen der Gemeinde informiert habe ( - ). Ein solcher Hinweis, dass dem Apostel über Dritte Bericht erstattet wurde, findet sich in ähnlicher Formulierung in 1 Kor 1,11, und der Verweis auf die Liebe der angesprochenen Adressaten begegnet auch in Phil 1,9. Die Kombination – findet sich darüber hinaus vielfach innerhalb der Protopaulinen (Röm 5,5; 1 Kor 4,21; 2 Kor 6,6; Gal 5,22; Phil 2,1), jedoch nicht in der hier vorliegenden Formulierung .
4. Fürbitte und Überleitung zum Hymnus (Kol 1,9–14) 4. Fürbitte und Überleitung zum Hymnus (Kol 1,9–14)
Mit - vollzieht sich in Kol 1,9 der kausale Übergang von der in V8 angesprochenen „geistlichen Liebe“ der Kolosser zur Fürbitte des ‚Paulus‘, diese Entwicklung weiterzuführen. An den vorhergehenden Verweis auf die Berichterstattung des Epaphras über die Situation in der Gemeinde (V8) anschließend greift der Folgevers jene Informationsübermittlung auf ( + ) und bekräftigt das beständige Gebet und Bitten für die Gemeinde ( , ). Neben der erneuten Betonung des Gebets für die Adressaten (vgl. Kol 1,3) greifen sowohl das „Hören“ vom Zustand der Gemeinde ( ) als auch die Benennung eines initialen Tages ( + ) auf die entsprechenden Formulierungen der Danksagung zurück (1,4.6); und wie bereits zuvor in V6 die Evangelisierung von Kolossä als Erkenntnisvorgang beschrieben wurde () und motivisch im Bild des Fruchttragens und Wachsens seinen Niederschlag fand (
.), so wird in Kol 1,9f auch die weitere Entwicklung 58 Vgl. Wolter, Kolosser, S. 56. Siehe dazu auch Metzger, Commentary, S. 552f, und Maisch, Kolossä, S. 62.
4. Fürbitte und Überleitung zum Hymnus (Kol 1,9–14)
51
mithilfe dieser beiden Motive spezifiziert:59 Als Inhalt und Ziel der Fürbitte benennt V9 „die Erkenntnis seines Willens in aller geistlichen Weisheit und Einsicht“ (0 , , ), wobei die Bezugsgröße des nicht unmittelbar deutlich ist. So bietet sich zwar ein Rückbezug auf (V8) an, doch da sich jener Erkenntnisvorgang zuvor in V6 auf die Gnade Gottes bezog ( , ) und auch im Folgevers die Erkenntnis Gottes benannt wird (V10: , ), ist eher als Referenz auf , zu verstehen. Aufgrund des Formelcharakters bzw. der relativ festen Form der Fürbitte ist es wenig überraschend, dass zahlreiche Parallelen zu Fürbitten und Wünschen der authentischen Paulinen auszumachen sind; am deutlichsten im Vergleich zu Phil 1,9 (5 lexematische Übereinstimmungen),60 aber auch Röm 15,13f (3), 1 Kor 12,8 (3) und Phlm 5f (2): Phil 1,9:
3 0 ,
Röm 15,13f:
67- , - -- 1 2 - - 0 , 8 9 - ,
1 Kor 12,8:
+ - -- -
Phlm 5f:
4 " 0 , !
Das Stichwort wird bei Wolter bereits als Antizipation der Auseinandersetzung mit der gegnerischen gewertet,61 was angesichts der o.a. Übereinstimmung aller drei Aspekte ( + + )
59
Diesen motivischen Rückverweisen attestiert Wolter zu Recht eine „Korrespondenz von Inhalt und Form“: „Dank und Fürbitte werden dadurch in der Weise eng aufeinander bezogen, daß letztere auf die Basis des ersteren gestellt wird.“ (Wolter, Kolosser, S. 58; vgl. auch Leppä, Colossians, S. 103f). 60 Diese deutlichen Parallelen zwischen Kol 1,9 und Phil 1,9 bilden bei Kiley ein wesentliches Argument für die Annahme, dass Phlm und Phil die „primary models“ des Kolosserbriefes bilden (vgl. Kiley, Colossians, S. 75f). 61 Siehe Wolter, Kolosser, S. 59f. Vgl. u.a. auch Lähnemann, Johannes: Der Kolosserbrief. Komposition, Situation und Argumentation (= StNT 3). Gütersloh: Mohn 1971, S. 33.
52
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
mit 1 Kor 12,8 m.E. fraglich erscheint;62 zumindest jedoch würde in diesem Fall eine zusätzliche semantische Konnotation in eine vorgegebene Stichwortverbindung sekundär eingetragen. Mit Kol 1,10 wird neben dem Topos der Erkenntnis Gottes nun auch die Frucht- und Wachstumsmetapher von V6 wiederaufgegriffen ( , . , ); Stichwortverbindungen, die sich ähnlich auch in Phil 1,9–11 ( +
) und Röm 7,4 ( , ) finden. Obgleich die Signifikanz der Parallele zu Phil 1,9–11 an sich relativ gering ist, da die beiden lexikalischen Berührungspunkte über mehrere Verse gestreut sind, so gewinnt sie doch durch die starken Übereinstimmungen im vorhergehenden Vers (s.o.) deutlich an Prägnanz. Parataktisch ist die Wachstumsmetapher hier neben dem Erkenntnisgewinn als geistiger Größe auch mit dem vorhergehenden praktischen Aspekt der würdigen Lebensführung verknüpft ( . ). Jener Topos würdiger bzw. gottgefälliger Lebensführung begegnet auch in den authentischen Paulinen mehrfach (Phil 1,27; 1 Thess 2,12; 4,1), ebenso auch der Verweis auf gute Werke. Im Kontext von Danksagung und Fürbitte ist hier die strukturelle Nähe zu 2 Kor 9,8 und Phil 1,6, wo der Charakter guter Werke als gottgewirkte Gabe im Vordergrund steht, stärker als bei entsprechenden motivischen Belegen im Römerbrief (2,7; 13,3), wo die Relevanz guter Werke im Hinblick auf weltliche Obrigkeiten einerseits und himmlische Gerichtsbarkeit andererseits herausgestellt und somit stärker resultativ betrachtet wird. Zudem stimmt die Formulierung in 2 Kor 9,8 ( ,) mit Ausnahme der präpositionalen Variation auch wörtlich mit Kol 1,10 überein ( , ). Während sich im Hinblick auf die sprachliche Ausgestaltung des eingeforderten Lebenswandels die begriffliche Kombination + auch in 1 Thess 4,1 findet,63 bildet die in Kol 1,10 vorliegende Nominalform (Wohlgefallen) ein Hapaxlegomenon, das text-
62 Entsprechend macht Dunn in der Weisheitsmotivik ein spezifisches Charakteristikum von 1 Kor und Kol aus: „Apart from 1 Corinthians, no Pauline letter speaks more of wisdom than Colossians [...].“ (Dunn, James D.G.: Deutero-Pauline Letters. In: Barclay, John M.G. / Sweet, John [Hrsg.]: Early Christian Thought in its Jewish Context. Cambridge: University Press 1996, S. 130–144, hier S. 134). 63 MacDonald konstatiert hier zudem dieselbe Doppelseitigkeit des würdigen Lebenswandels (i.e. gegenüber dem sozialen Umfeld einerseits und den dezidiert als Außenstehenden ausgewiesenen andererseits), da – analog zu 1 Thess 4,1–12 – auch der Kolosserbrief sowohl in gemeindeinterner Perspektive (Kol 1,10) als auch im Blick auf Außenstehende ausbuchstabiert (Kol 4,5: .); vgl. MacDonald, Colossians, S. 48 und S. 54f.
4. Fürbitte und Überleitung zum Hymnus (Kol 1,9–14)
53
immanent später innerhalb der Haustafel sein negatives Gegenstück in der „Menschengefälligkeit“ findet (Kol 3,22: , ). Auch die Komposition des partizipial angeschlossenen Folgeverses Kol 1,11 setzt sich aus verschiedenen motivischen Elementen zusammen, die in den authentischen Paulusbriefen häufig begegnen, i.e. dem Wortfeld der Kraft/Kräftigung (vgl. Phil 4,13; 2 Kor 6,6) und der Geduld/Duldung (2 Kor 12,12; Röm 12,12; Gal 5,22), sowie dem Topos der -. , (Röm 1,23; 1 Kor 10,31; 2 Kor 4,15; Phil 1,11; 2,11 u.a.) und der Präpositionalformel (Phil 1,4; 1 Thess 1,6). Die Partizipialkombination des Vorgängerverses ( .) wird hier nun mit -- fortgesetzt, wobei sowohl die Verankerung dieser Stärkung in Gott betont wird ( -. ) als auch deren Ziel näher bestimmt wird, die Geduld und Langmut der Adressaten ( ,). Auffällig sind hier insbesondere die Doppelungsstrukturen des Verses, so neben der inhaltlichen Tautologie und ,, Geduld und Langmut,64 vor allem auch die begriffliche Doppelung --, die innerhalb des Neuen Testaments singulär ist, jedoch Parallelen in 1 Sam 26,25 und 1 Makk 5,40 findet.65 Insgesamt zeigt sich in Kol 1,9–11 ein kontinuierlicher Gebrauch von Versatzstücken aus Phil 1,4–6.9–11, der sich wie ein roter Faden durch die Fürbitte zieht und die bereits in Präskript und Danksagung aufgewiesene strukturelle Konstanz der Berührungen zwischen Kol und Phil unterstreicht; zumal das Stichwort der Freude ( ), das in V11 zum Folgevers überleitet,66 gleichsam den Philipperbrief als Ganzen evoziert (zur zentralen Stellung der Freude siehe Phil 1,18.20.25; 2,2.18.28f; 3,1; 4,1.4.10). Den zweiten roten Faden bildet die – implizite wie explizite – Fortführung der Wachstumsmetaphorik aus der vorhergehenden Danksagung, sowie die partizipiale Konstruktion, die in dem paränetischen Ge64
Zum motivgeschichtlichen Hintergrund dieses Begriffspaares siehe insbesondere Wolter, Kolosser, S. 63. Im vorliegenden Textzusammenhang sieht Wolter hier erneut eine Reaktion auf die Bedrohung der Gemeinde durch die ‚Philosophia‘ gegeben: „Angesichts der Irritation durch die ‚Philosophie‘ werden die Adressaten zum beharrlichen Festhalten an der bereits vorhandenen Grundlage des Heils aufgefordert. Es geht darum, die Gemeinde zur Stabilität in ihrer Heilsorientierung anzuhalten.“ (ebd.). 65 Vgl. Leppä, Colossians, S. 108. 66 Entsprechend ist die Präpositionaleinleitung syntaktisch bereits Kol 1,12 zuzuordnen ( ); eine Lesart, die sich in der exegetischen Forschung zum Kolosserbrief mittlerweile auch mehrheitlich durchgesetzt hat. Vgl. dazu u.a. Lohse, Kolosser, S. 67, und Hübner, Kolosser, S. 51, sowie Gnilka, Joachim: Der Kolosserbrief (= HThK 10). Freiburg i.B. u.a.: Herder 1980, S. 43f.
54
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
brauch von Partizipien in Röm 12,9–12 ein strukturelles Äquivalent findet, und im Folgevers Kol 1,12 fortgeführt wird.67 Mit Kol 1,12 wird das Moment der Danksagung nun als Aufforderung auf die angesprochenen Adressaten übertragen, erneut in partizipialer Form ( ).68 Jene Aufforderung zum Dank bildet ein zentrales Motiv des Kol, auf das textimmanent immer wieder zurückgegriffen wird (Kol 1,3; 2,7; 3,15.17; 4,2): „Die Aufforderung zum Danksagen durchzieht wie ein Ceterum censeo den Brief“ (Gnilka).69 Der attributivisch angeschlossene Partizipialsatz, der zugleich den Grund des Dankes benennt, die Befähigung „zum Anteil am Erbe der Heiligen im Licht“ ( - ), findet verschiedene motivische Parallelen in den Protopaulinen; so insbesondere die Motivik von Licht und Finsternis (vgl. 1 Thess 5,5; 2 Kor 6,14f),70 aber auch die Redeweise von der gottgegebenen Befähigung, auf die auch 2 Kor 3,5f rekurriert: 67 Diese strukturellen Einbettungen sprechen tendenziell dagegen, die Fürbitte in einem so strikten Sinne als separaten Abschnitt zu werten, wie dies bei Luz geschieht, der gerade die deutliche Abgrenzung der Fürbitte als Spezifikum von Kolosser- und Philipperbrief ausweist (vgl. Luz, Kolosser, S. 197; siehe auch Ludwig, Kolosserbrief, S. 70– 72). Zum paränetischen Gebrauch von Partizipien vgl. auch Wolter, Kolosser, S. 61f. 68 Da der logische Bezugspunkt der -Prädikation erst im Folgevers nachgereicht wird (1,13: ) ), wird in vielen Handschriften hier die Konkretisierung ! oder (in Übereinstimmung mit den entsprechenden Danksagungsformeln in Kol 1,3 und 3,17) , ergänzt. Grundsätzlich zeichnet sich der gesamte Vers textkritisch durch eine Vielzahl alternativer Lesarten aus, so neben der Ergänzung der Prädikation und der für den Kolosserbrief allgemein charakteristischen Alternation der Personalpronomina ( / ) auch im Blick auf die ungewöhnliche Begriffsverwendung , die teilweise durch das geläufigere ersetzt wird. Vgl. dazu auch Metzger, Commentary, S. 553, sowie MacDonald, Colossians, S. 50. 69 Gnilka, Kolosserbrief, S. 199. Zum zentralen Stellenwert des Dankes in Kol siehe auch Wolter, Kolosser, S. 64. 70 Die Tatsache, dass der Abschnitt 2 Kor 6,14–7,1 textkritisch umstritten ist und vieles für eine Interpolation spricht, muss in diesem Fall einer möglichen literarischen Beziehung zwischen 2 Kor 6,14f und Kol 1,12f nicht zwangsläufig entgegenstehen, wie auch Leppä betont: „There is no textual evidence that 2 Cor existed without 2 Cor 6:14– 7:1. Thus the doubtful origin of the passage does not prevent A/Col from being acquainted with Cor 6:14–18.“ (Leppä, Colossians, S. 117; vgl. dazu auch Hoppe, Kolosserbrief, S. 110f). So geht etwa Wolff aufgrund der charakteristisch paulinischen Motivik, die in 2 Kor 6,14–7,1 prägend ist, von der paulinischen Überarbeitung eines Traditionsstückes aus, das hier als polemische Spitze gegen die Kontrahenten Pauli in das Schreiben integriert wurde (vgl. Wolff, Christian: Der zweite Brief des Paulus an die Korinther [= ThHK 8]. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1989, S. 147f). Zum text- und literarkritischen Befund von 2 Kor 6,14–7,1 sowie den Hauptlinien der textgeschichtlichen Rekonstruktionsversuche siehe auch ebd., S. 146–149.
4. Fürbitte und Überleitung zum Hymnus (Kol 1,9–14)
55
Kol 1,12f:
-
54 .
2 Kor 3,5f:
, , 4
1 Thess 5,5:
1 7 -
2 Kor 6,14f:
: ; [...] : ;
Die in obiger Übersicht bereits einbezogene Einleitung von Kol 1,13, der Verweis auf die erfolgte Errettung aus der Macht der Finsternis (4 . ), findet in der Form , + Akkusativ-Personalpronomen + zudem mehrere strukturellen Parallelen in den authentischen Paulinen (2 Kor 1,10; 1 Thess 1,10; Röm 7,24); darunter mit 2 Kor 1,10 auch in wörtlicher Übereinstimmung (4 4
, ). Demgegenüber basiert das anschließende positive Gegenbild, der Eintritt ins Reich des geliebten Sohnes ( ) ) mit dem Kernmotiv der ) auf einer Begriffsschöpfung, die innerhalb der protopaulinischen Briefe ohne Parallele ist. Die Verwendung des )-Motivs als Präpositionalobjekt mit findet sich zwar auch in 1 Thess 2,12, und die Kombination mit Genitivobjekt begegnet insbesondere im 1. Korintherbrief häufiger – hier typischerweise in der Kombination ) , (1 Kor 15,50; 6,9.10; siehe auch Röm 14,17), doch in dieser spezifischen Abwandlung ist die Begriffsverwendung von Kol 1,13 singulär. Ein inhaltlicher Anknüpfungspunkt findet sich hingegen in 1 Kor 15,24, wo die endzeitliche Übergabe der ) an Gott, den Vater, durch Christus beschrieben wird ( 0 -- ) , ); zudem in Analogie zu Kol 1,13 auch dort im unmittelbaren Kontext der Überwindung feindlicher .: Kol 1,13:
4 .
)
1 Kor 15,24:
0 -- ) , 0
. -
Wie im Verlauf dieser Arbeit zu zeigen sein wird, zeichnen sich im Kolosserbrief insgesamt zahlreiche Reminiszenen an 1 Kor 15 ab, wodurch von einer Bekanntschaft des Verfassers von Kol mit diesem Textbereich ausgegangen werden kann. Daher erscheint es in hier vorliegenden Fall sehr wahrscheinlich, dass die begriffliche Neuschöpfung der )
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
56
die deuteropaulinische Fortschreibung des Motives bildet, das in 1 Kor 15,24 paulinisch bereits angelegt ist, denn sachlogisch schließt die Übergabe der ) durch Christus an den Vater eine solches „Königreich des Sohnes“ implizit ein. Allerdings wird jene Herrschaft in Kol 1,13 als gegenwärtige Realität geschildert, in die die Gläubigen bereits versetzt worden sind (... )), und somit gerade nicht als eschatologisches Zukunftsbild, wie es in 1 Kor 15,24 aufgezeichnet wird.71 Dass dies eine im Briefverlauf durchgängig zu beobachtende präsentische Neuakzentuierung des Kol repräsentiert (insbesondere auch im Hinblick auf 1 Kor 15), wird im Rahmen der späteren Analyse der eschatologischen Aussagen im Kolosserbrief noch deutlicher zu zeigen sein (siehe dazu Kapitel IV). Da die motivischen Parallelen zwischen dem vorhergehenden Vers V12 und 2 Kor 6,14f bereits hervorgehoben wurden (s.o.), kann in diesem Kontext auch das versübergreifende Begriffspaar – (V12f) als Anklang von 2 Kor 6,18 betrachtet werden, wo in unmittelbarer Nähe der bereits angeführten Berührungspunkte dieselbe Kombination begegnet (zur textkritischen Bewertung von 2 Kor 6,14ff siehe Fußnote 70). Auf einen möglichen weisheitlichen Einfluss der beiden Verse verweist Leppä angesichts der Stichwortverbindung – 0 – (Weish 5,5);72 Schenk hingegen sieht hier Anklänge des Jesusbildes der markinischen Tauferzählung – eine Gottessohnproklamation verbunden mit dem Verweis auf die Liebe Gottes (Mk 1,11), ein christologisch konzipiertes Bild der ) (Mk 1,15), und der im Folgevers Kol 1,14 relativisch angeschlossene Aspekt der Sündenvergebung (vgl. Mk 1,4) deuten tatsächlich auf eine motivische Parallelität von Kol 1,13f und dem markinischen Taufbericht.73 Wie bereits anhand von Kol 1,6 hervorgehoben wurde, wird die Möglichkeit einer literarischen Beziehung zwischen Kolosserbrief und Markusevangelium in dieser Arbeit ausdrücklich eingeschlossen; insofern ist durchaus denkbar, dass in Kol 1,13f christologische Reminiszenzen an Mk 1 anklingen.
71
Siehe dazu auch Wolter, Kolosser, S. 67f, und MacDonald, Colossians, S. 52, sowie Dunn, Colossians, S. 77, und Lindemann, Kolosserbrief, S. 23. 72 Vgl. Leppä, Colossians, S. 114f. 73 Vgl. Schenk, Kolosserbrief, S. 3343f (ähnlich auch Wilson, Colossians, S. 118). Diese Parallelität fällt in der Arbeit Leppäs dem Systemzwang der nummerischen Kriteriologie zum Opfer (vgl. die diesbezüglichen Ausführungen in I.5. dieser Arbeit): „Though Mk 1:11,15 is the closest parallel to Col, the verbal agreement between Col 1:13 and Mk 1:11,15, three similar words in common (, / , ) ) but within a distance longer than five lines in the Nestle & Aland version, does not meet the criteria for literary dependence.“ (Leppä, Colossians, S. 114).
4. Fürbitte und Überleitung zum Hymnus (Kol 1,9–14)
57
Kol 1,14 schildert abschließend das Erlösungs- und Vergebungsgeschehen in Christus ( + ), wobei mit dem Topos der ! ein paulinisches Motiv aufgegriffen wird, das sich ähnlich auch in 1 Kor 1,30 und Röm 3,24 findet,74 wohingegen die Rede von der Vergebung der Sünden ( ) in den authentischen Paulinen nicht begegnet.75 Als literarische Einheit betrachtet zeichnen sich die Verse Kol 1,11–14, wie insbesondere bei Wolter herausgestellt wird, mit dem Motivfeld Licht – Finsternis, Macht – Sündenvergebung, Erbe durch die Motivik der Heilswirkung der Taufe aus, wie sie auch in Apg 26,18 verbildlicht wird – eine Stichwortverbindung, die Wolter zu Recht als Indiz für die Einheit der Textpassage wertet.76 Diese einheitliche Betrachtung des Abschnitts ist allerdings umstritten, da die Verse 12–14 mitunter bereits dem nachfolgenden Hymnus (1,15–20) zugerechnet werden. Dies liegt thematisch zwar nahe, da hier inhaltlich in der Tat die Überleitung zum Christushymnus erfolgt, widerspricht jedoch der grammatischen Gliederung. Wie bei der Untersuchung der christologischen Passagen noch zu zeigen sein wird, zeichnet sich der Hymnus durch eine sehr feste, parallelistisch aufgebaute Struktur aus, die in Kol 1,15 einsetzt, dessen Initialcharakter zudem auch durch den Subjektwechsel deutlich ist. Darüber hinaus führt V12 auch die Partizipialkonstruktion fort, die für den Abschnitt Kol 1,10–12 charakteristisch ist.77 Dass solche textstrukturellen Abgrenzungen – speziell im Bereich des Übergangs zwischen Proömium und Briefcorpus – jedoch letztlich immer eine gewisse Unsicherheit beeinhalten, wird u.a. bei Klauck und Standhartinger problematisiert,78 wobei Standhartinger diese Unsicherheit im Falle des Kol auch auf die pseudepigraphe Abfassungssituation zurück74
In der Adaption in Eph 1,7 wird diese Formulierung durch den Verweis auf den Sühnetod Jesu ergänzt (- 0 ); eine Spezifizierung, die bei späteren Textzeugen auch in Kol 1,14 eingetragen wird. Siehe zur textkritischen Bewertung auch Metzger, Commentary, S. 554. 75 Vgl. dazu u.a. Hay, David M.: Colossians (= Abingdon New Testament Commentaries). Nashville: Abingdon Press 2000, S. 49, sowie Wedderburn, A.J.M.: The Theology of Colossians. In: Ders. / Lincoln, Andrew T.: The Theology of the Later Pauline Letters (= New Testament Theology). Cambridge: University Press 1993, S. 1–71, hier S. 59. 76 Vgl. Wolter, Kolosser, S. 69. Siehe auch Leppä, Colossians, S. 115f, sowie Hoppe, Triumph, S. 185–188. Damit geht jedoch nicht die Annahme einer literarischen Abhängigkeit resp. vorgegebenen Texttradition einher, sondern vielmehr der Rückgriff auf geläufige frühchristliche Bekehrungsterminologie. 77 Aus diesem Grund spricht sich Wolter an dieser Stelle auch gegen die vorherrschende imperativische Übersetzung von V12 aus (vgl. Wolter, Kolosser, S. 58). 78 Vgl. Klauck, Briefliteratur, S. 37f, sowie Standhartinger, Kolosserbrief, S. 75f, und Wolter, Kolosser, S. 49, der allerdings auch Kol 1,15–23 noch zum Proömium rechnet.
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
58
führt: „Daß die Verf. des Kol das Proömium nicht deutlich abgrenzen, ist aber sicherlich auch durch die gegenüber den paulinischen Briefen veränderte Briefsituation bedingt. Es gibt keine Anfragen und keinen Anlaß, Diskussionen wiederaufzunehmen.“79 Folglich weise das Proömium des Kol – im Gegensatz zur Praxis der paulinischen Briefe, im Proömium bereits die wesentlichen Themen des Briefes anzusprechen – auch keinerlei Antizipation der nachfolgenden Warnungen vor einer bestimmten Gegnergruppe bzw. von vorliegenden Konflikten in der Gemeinde auf;80 eine Auslegung, die der These Wolters entgegensteht, dass der Verweis auf die in Kol 1,9 eben jenem Konflikt bereits vorgreife (s.o.) und somit an dieser Stelle den „erkenntnistheoretischen Rahmen des Briefinhalts“ abstecke.81
5. Schlussparänese (Kol 4,2–6) 5. Schlussparänese (Kol 4,2–6) Die Mahnungen zum beständigen Gebet und zur Wachsamkeit, mit denen in Kol 4,2 die Schlussparänese eingeleitet wird ( ), finden sich in lexikalischer Variation innerhalb des Corpus Paulinum zwar mehrfach (Röm 12,12; 1 Kor 16,13; 1 Thess 5,6.10), nicht jedoch in jener Verknüpfung beider Aspekte, wie sie wiederum stärker in der synoptischen Tradition begegnet (Lk 21,36; Mk 14,38; Mt 26,41). Die Verbindung von Gebet und Danksagung, die in Kol 4,2 durch die abschließende Präpositionalbestimmung hergestellt wird, findet sich hingegen in abweichender Formulierung auch in 1 Thess 5,17f und Phil 4,6. Auffällig ist die Tatsache, dass sich die Mahnung zur Wachsamkeit vom Ausblick auf die Parusie gelöst und verselbstständigt hat82 – eine Entwicklung, die der nicht eingetretenen Naherwartung Rechnung tragen könnte. Ob dies allerdings als referenztextorientierte Korrektur des paulinischen Begriffsgebrauches betrachtet werden kann, erscheint insofern fraglich, als jene Abkoppelung von Wachsamkeit und Parusie auch bei Paulus bereits be79
Standhartinger, Kolosserbrief, S. 77. Vgl. ebd., S. 77f. 81 Wolter, Kolosser, S.60. 82 Vgl. demgegenüber 1 Thess 5,6 und Röm 13,1. Siehe dazu auch Luz, Kolosser, S. 239, und Ludwig, Kolosserbrief, S. 124, sowie Pokorný, Kolosser, S. 157, und Lindemann, Kolosserbrief, S. 69. Eine Gegenposition nimmt Dunn ein, der eine im Begriffsgebrauch so fest verankerte Verbindung von Wachsamkeitsforderung und Parusieerwartung annimmt, dass diese kausale Verknüpfung auch im vorliegenden Kontext implizit mitzulesen ist und somit bereits die reine Nennung von als Indiz zu werten sei, „that imminent expectation of the coming again of Christ had by no means disappeared at this stage of the Pauline churches.“ (Dunn, Colossians, S. 262). 80
5. Schlussparänese (Kol 4,2–6)
59
gegnet (1 Kor 16,13). Im intratextuellen Briefkontext scheint vielmehr die Schlussparänese in ihrem Eingangsvers noch einmal, wenngleich indirekt, die vorherigen Warnungen vor den Verführungskünsten der ‚Philosophia‘ anklingen zu lassen (vgl. Kol 2,8).83 Die in Kol 4,3 formulierte Aufforderung zu Gebet bzw. Fürbitte für den Absender ( 0 ) ist ein gängiger Topos der paulinischen Korrespondenz (vgl. 1 Thess 5,25; Röm 15,30; 2 Kor 1,11; Phlm 22); in Analogie zu Röm 15,30 und 2 Kor 1,11 auch hier final präzisiert (0 , . , ! -4 --). Zudem findet sich sowohl das Bild der zu öffnenden Tür (0 , . , ) als auch das Aussprechen des Geheimnisses ( ) mehrfach in der Korrespondenz des Paulus mit der Gemeinde von Korinth (2 Kor 2,12; 1 Kor 16,9; 14,2; 2,1). Insbesondere die Übereinstimmungen mit 2 Kor 2,12 (... ! , ) sind so augenscheinlich, dass davon auszugehen ist, dass der Autor des Kolosserbriefes sich hier tatsächlich an dieser sprachlichen Vorlage orientiert, deren Metaphorik übernimmt und in einer kreativen Neu-Verknüpfung mit der (fiktiven) Gefangenschaftssituation verbindet – eine Verknüpfung, die bereits durch die inhärente Logik des Türmotivs naheliegt, von Paulus selbst jedoch nicht im Kontext des Gefangenschaftsmotivs (vgl. Phil 1,7.13.17; Phlm 1.9f.13.23) verwendet wird.84 Ähnlich verhält es sich auch mit der Redeweise vom ! , entsprechend sieht Wolter hier ein spezifisches Offenbarungsverständnis des Kol gegeben: „Paulus selbst spricht in solchen Genitivverbindungen, die den Inhalt seiner Verkündigung beschreiben, stets vom ‚Evangelium Christi‘ o.ä. (z.B. Röm 15,19; 1Kor 9,12; 2Kor 9,13; 10,14; Gal 1,7; Phil 1,27; 1Thess 3,2). An der Stelle von ‚Evangelium‘ bei Paulus steht an dieser Stelle also ‚Geheimnis‘ [...], und dem entspricht auch, daß in V 4a die paulinische Verkündigungstätigkeit (anders als bei Paulus selbst) als Offenbarung dargestellt wird.“85 83
Ähnlich auch Wolter, Kolosser, S. 210. So konstatiert auch Gottfried Schille, das Bild der geöffneten Tür werde „hier so transparent angewendet, daß man gleichzeitig an die Öffnung der Gefängnistür denkt.“ (Schille, Gottfried: Das älteste Paulus-Bild. Beobachtungen zur lukanischen und zur deuteropaulinischen Paulus-Darstellung. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1979, S. 59); ähnlich auch Pfammatter, Josef: Kolosserbrief. In: Ders. / Gnilka, Joachim: Epheserbrief, Kolosserbrief (= NEB 10/12). Würzburg: Echter Verlag 1987, S. 53–84, hier S. 81, und Wall, Robert W.: Colossians & Philemon (= InterVarsity Commentary 12). Illinois: InterVarsity Press 1993, S. 166, sowie Lindemann, Kolosserbrief, S. 69f. 85 Wolter, Kolosser, S. 210 (vgl. dazu auch Hoppe, Rudolf: Paulus in nachpaulinischen Schriften. In: Bilgri, Anselm / Kirchgessner, Bernhard [Hrsg.]: Liturgia semper 84
60
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
Auch der folgende, final angeschlossene Kurzvers Kol 4,4 (0 - ) geht auf eine kreative Eigenleistung des Verfassers zurück und ist ohne Parallele in den authentischen Paulinen, die eine solche personalisierte Offenbarungszuschreibung an einen menschlichen Mittler nicht kennen.86 Damit wird inhaltlich erneut das Aussprechen resp. Offenbarmachen des Geheimnisses bekräftigt, das im vorhergehenden Vers bereits angeführt wurde, und mit dem Aspekt der Notwendigkeit (- ) zugleich dessen Legitimation unterstrichen: „Dieser Verweis auf das von Gott gesetzte Muß der Verkündigung steht im Dienste der Legitimierung des Apostels [...]. Der fiktive Verf. des Kol will damit sichergestellt wissen, daß seine Missionstätigkeit nicht der eigenen Initiative entspringt, sondern auf Gottes Setzung zurückgeht [...].“87 Dies ist zwar im unmittelbaren Kontext die naheliegendste Bedeutungskomponente des Notwendigkeitsmarkers - , aber wie anhand von Kol 4,6 zu zeigen sein wird (s.u.), durchaus nicht die einzig denkbare. Die in Kol 4,5 erfolgende Mahnung, in Weisheit gegenüber „denen draußen“ zu wandeln ( .), also gegenüber der außergemeindlichen nichtchristlichen Umwelt, findet sich nahezu wortgleich auch in 1 Thess 4,12,88 wobei hier an die Stelle der tritt: Kol 4,5:
.
1 Thess 4,12:
0
.
Die sich daran partizipial anschließende Wendung . (die Zeit auskaufend) begegnet nirgendwo sonst im Neuen Testament, hat jedoch eine LXX-Parallele in Dan 2,8. In den paulinischen Briefen begegnet in paränetischem Kontext allein im Galaterbrief (Gal 6,10), wobei sich diese paränetische Konnotation von deutlich von der bei Paulus dominierenden soteriologisch-eschatologischen Besetzung des Terminus abhebt (Röm 3,26; 5,6; 9,9; 11,5; 13,11; 1 Kor 4,5; 2 reformanda. FS Karl Schlemmer. Freiburg i.B.: Herder 1997, S. 36–47, hier S. 39f). Eine Gegenposition vertritt Bockmuehl, der hier kein Indiz einer hervorgehobenen Offenbarungsmittlerschaft Pauli vorliegen sieht, und auch im Hinblick auf die Redeweise vom ! unter Verweis auf Kol 2,2 ( , ! ) eine Parallelität von ! und , ausmacht und daher Kol 4,3 als ganz in der Linie paulinischer Sprachtradition stehend betrachtet: „The use of here is now familiar, and no different e.g. from 1 Cor 2:1.“ (Bockmuehl, Markus: Revelation and Mystery in Ancient Judaism and Pauline Christianity [= WUNT 2/36]. Tübingen: Mohr Siebeck 1990, S. 191). 86 Vgl. auch Maisch, Kolossä, S. 262, sowie Luz, Kolosser, S. 240. 87 Wolter, Kolosser, S. 211. 88 Siehe dazu auch Fußnote 63 dieses Kapitels.
5. Schlussparänese (Kol 4,2–6)
61
Kor 6,2). Die Verwendung in Gal 6,10, die hier als Vorbild gedient haben könnte, bildet somit eine klare Ausnahme, zumal auch dort zunächst die eschatologische Dimension des Begriffs im Vordergrund steht (Gal 6,9), bevor im Folgevers – gleichsam in antagonistischer Weise – ein präsentisch-paränetischer Aspekt als Zusatzkonnotation eingetragen wird. Ebenso findet sich auch das Verbum . bei Paulus ausschließlich im Galaterbrief, hier allerdings in soteriologischem Kontext (Gal 3,13; 4,5), was erneut eine kreative Neuverknüpfung vorgegebener Elemente durch den Verfasser nahelegt. Kein paulinisches Vorbild kennt hingegen die Wendung „mit Salz gewürzt“, mit der in Kol 4,6 die den Adressaten anempfohlene Form der Rede umschrieben wird ( 0 ). Dass sich diese metaphorische Redeweise im Neuen Testament allein bei den Synoptikern findet (Mk 9,50; Lk 14,34), nicht aber innerhalb der Briefliteratur, könnte zwar darauf hindeuten, dass der Autor des Kolosserbriefes hier erneut auf eine ihm bekannte synoptische Sprachtradition zurückgreift; von einer literarischen Abhängigkeit im engen Sinne kann hier allerdings nicht gesprochen werden. So stellt eine solche redensartliche Wendung, die auch im außerbiblischen Schrifttum eine gängige Umschreibung eloquenter Rede bildet,89 innerhalb der sanderschen Kriteriologie eine ‚stock phrase‘ dar und kann somit zur Erhebung literarischer Abhängigkeitsverhältnisse grundsätzlich nicht herangezogen werden.90 Begründet wird jene Aufforderung zur freundlichen und „gesalzenen“ Rede mit dem nachfolgenden Verweis auf das Wissen um die angemessene Weise zu antworten (- - ,). Im vorliegenden Kontext wertet Standhartinger diese Formulierung als möglichen Hinweis auf drohende Gerichtsaussagen und übersetzt , daher mit „verteidigen“: „Daß die Verf. des Kol ihre impliziten Adressatinnen und Adressaten auch von gerichtlicher Verfolgung gefährdet sahen, könnte Kol 4,5f andeuten. [...] Die Prozesse waren [...] ein kritischer Punkt für das Überleben von Gemeinden, denn sie bedeuteten nicht nur das propagandistisch genutzte Bekennen und triumphale Sterben der Märtyrer, sondern in den vorangehenden Verhören vermutlich auch oft die unter Folter erzwungene Denunziation von Brüdern und Schwestern. Wenn der Kol auffordert: ‚Eure Rede sei immer wohlgefällig, mit Salz gewürzt, damit ihr wißt, wie ihr vor einem jedem euch verteidigen
89
Zu den außerbiblischen Belegen dieses Motives vgl. u.a. den kurzen Überblick bei Wolter, Kolosser, S. 212; siehe dazu ferner auch Sweeney, James P.: Guidelines on Christian Witness in Colossians 4:5–6. In: BS 159 / 2002, S. 449–461, hier S. 459f, sowie MacDonald, Colossians, S. 173. 90 Vgl. Sanders, Dependence, S. 31.
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
62
müßt‘ (4,6), so kann dies auch als Aufforderung zu einem der Gemeinschaft verantwortlichen Verhalten, nicht zuletzt vor Gericht verstanden werden.“91
Dieser mögliche Kontext legt sich insbesondere durch die Analogie zu Kol 4,3f nahe: Vor dem dortigen Hintergrund der fiktiven Gefangenschaftssituation Pauli (- 4 --) wird ebenfalls die Frage angemessener Rede thematisiert (- ); wie in Kol 4,6 auch dort unter der Perspektive der Notwendigkeit (- ),92 die angesichts der skizzierten Situierung durchaus auch die drängende Note gerichtlicher Verteidigungsrede einschließen könnte. Wenn unmittelbar daran anschließend nun zunächst zu einem weisen Umgang gegenüber Außenstehenden gemahnt wird (4,5) und daraufhin jene Notwendigkeit angemessener Rede wiederaufgegriffen wird (4,6: - ,), so ist eine entsprechende Ausdeutung der an sich neutralen Formulierung von Kol 4,6 tatsächlich nicht auszuschließen. Insgesamt betrachtet verbleibt Kol 4,2–6 im Vergleich zu den typisch paulinischen (Schluss-) Mahnungen (vgl. 1 Thess 5,17ff; Phil 4,6ff; Gal 6,6ff; 1 Kor 16,13ff; Röm 12,9ff) relativ allgemein und unspezifisch, und vor allem frei von jeder futurisch-eschatologischen Perspektive, was einerseits der fiktiven Absender-Adressaten-Relation geschuldet sein dürfte und andererseits eine nachpaulinische Abkehr von eschatologischem (Nah-) Erwartungsdenken nahelegt, wie sie insgesamt für die präsentische Eschatologie des Kolosserbriefes prägend ist (vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel IV.2. dieser Arbeit). In ihrem allgemeinen Charakter klingt in den abschließenden Mahnungen von Kol 4,2–6 noch am stärksten die Schlussparänese des 1. Thessalonicherbriefes an (1 Thess 5,17–21), wobei das beständige Gebet (Kol 4,2; 1 Thess 5,17) die einzige direkte Übereinstimmung bildet und in beiden Fällen jeweils jene abschließenden Mahnungen einleitet. Textimmanent zeigt sich hier erneut die bereits anhand von Danksagung und Fürbitte deutlich gewordene Vorgehensweise, mit intratextuellen Verweisen anaphorisch auf vorhergegangene Äußerungen zurückgreifen; in diesem Falle die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ in Kol 1,23ff:93
91
Standhartinger, Kolosserbrief, S. 190f; ähnlich auch Lindemann, Kolosserbrief, S.
71. 92
Auf diese grammatische Korrespondenz weist auch Standhartinger hin (vgl. Standhartinger, Kolosserbrief, S. 190f); ein direkter Zusammenhang mit der o.a. Verteidigungs-Lesart wird von Standhartinger allerdings nicht hergestellt. 93 Vgl. auch Leppä, Colossians, S. 277 und 285, sowie Wolter, Kolosser, S. 210, und Hoppe, Kolosserbrief, S. 153.
6. Nachrichten und Grüße (Kol 4,7–14)
63
Kol 1,25–28:
Kol 4,3–5:
+ - , -, , &2?=7@ in den paulinischen Briefen. Eine traditionsgeschichtliche Miszelle. In: NTS 32 / 1986, S. 476–480, hier S. 478); eine Auslegung, die der argumentativen wie syntaktischen Struktur von Phlm 15f gänzlich widerspricht: = - , 0 0 - - - - 1 104 Theißen, Gerd: Sklaverei im Urchristentum als Realität und als Metapher. Vortrag zum Gedenken an Henneke Gülzow. In: Gülzow, Henneke: Christentum und Sklaverei in
6. Nachrichten und Grüße (Kol 4,7–14)
67
Phlm 16 im Kontext der antiken Sozialstruktur gewesen sein muss, wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass Paulus ausgerechnet einem entflohenen Sklaven,105 und damit einer Person, die in der antiken Gesellschaft ganz am Ende der sozialen Hierarchie rangiert,106 jene singuläre Prädikation als geliebter Bruder zuweist und damit seinen sozialer Status gleichsam aufhebt: „nicht mehr ein Sklave“ ( - ). Dieses gesellschaftspolitische Skandalon wird nun in Kol 4,9 nicht nur ausgeblendet, sondern auch referenztextorientiert korrigiert: Vor dem Hintergrund des Kol als Interpretationsfolie lesen sich die entsprechenden Passagen des Philemonbriefes deutlich entschärft; aus der provokanten Kontrastformulierung von Phlm 16 wird im Kolosserbrief eine stereotype Mitarbeiterprädikation (Kol 4,7.9).107 Zugleich wird der Philemonbrief den ersten drei Jahrhunderten. Nachwort von Gerd Theißen (= Hamburger Theologische Studien 16). Nachdruck der Erstauflage von 1969. Münster: Lit 1999, S. 213–243, hier S. 234. 105 Die Annahme, dass die Flucht des Onesimus aus dem Haus des Philemon den Hintergrund des Briefes bildet, basiert im Wesentlichen auf Phlm 14.18f und 21, die nicht nur ein solches widerrechtliches Verlassen des Hauses nahelegen, sondern darüber hinaus auch die Annahme, dass Onesimus seinem Herren zudem Geld entwendet hatte, denn Paulus bietet in Phlm 18 an, für entstandenen Schaden aufzukommen: - - : (zur Wertung der Textbelege siehe u.a. Bieberstein, Sabine: Brüche in der Alltäglichkeit der Sklaverei. Eine feministische Lektüre des Philemonbriefs. In: Janssen, Claudia / Schottroff, Luise / Wehn, Beate [Hrsg.]: Paulus. Umstrittene Traditionen – lebendige Theologie. Eine feministische Lektüre. Gütersloh: Kaiser 2001, S. 116–128, hier S. 118f. Vgl. auch Barclay, John M.G.: Paul, Philemon and the Dilemma of Christian Slave-Ownership. In: NTS 37 / 1991, S. 161– 186, hier S. 163f). Trotz der widerrechtlichen Flucht aus dem Haus seines Herrn ist Onesimus nach antikem Rechtsverständnis allerdings insofern kein fugitus, als aus dem Philemonbrief deutlich hervorgeht, dass er sich aktuell bei Paulus aufhält und somit unmittelbar einen Freund zur Fürsprache aufgesucht hat (vgl. dazu Lampe, Peter: Keine „Sklavenflucht“ des Onesimus. In: ZNW 76 / 1985, S. 135–137. Siehe auch ders.: Der Brief an Philemon. In: Walter, Nikolaus / Reinmuth, Eckart / Lampe, Peter: Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon [= NTD 8/2]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 181998, S. 203–232, hier S. 206, sowie Theißen, Sklaverei, S. 233). Eine Gegenposition vertritt hier Sara Winter, die aus dem Aufenthalt des Onesimus in der Gefolgschaft Pauli vielmehr folgert, dass Onesimus sich als regulärer Gesandter der kolossischen Gemeinde (siehe Kol 4,9) bei Paulus aufgehalten habe (vgl. Winter, Sara C.: Paul’s Letter to Philemon. In: NTS 33 / 1987, S. 1–15, hier insbesondere S. 2f). 106 Siehe zum Status entflohener Sklaven in der antiken Rechtsauffassung u.a. Lampe, Sklavenflucht, S. 135–137, und Bieberstein, Sklaverei, S. 118f. Vgl. ferner auch Gülzow, Sklaverei, S. 30f. 107 Insofern ist signifikant, dass etwa Maisch gerade unter Verweis auf jenen „allgemeinen“ Charakter der Prädikation keine Identität des hier benannten Onesimus mit dem gleichnamigen Sklaven des Philemon gegeben sieht (vgl. Maisch, Kolossä, S. 267). Diese Textwahrnehmung zeigt m.E. anschaulich, welche starke leselenkende Funktion dem Wegfall des Kontrastmomentes - tatsächlich zukommt.
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
68
dadurch auch inhaltlich fortgeschrieben, denn durch die Benennung des Onesimus als Paulusmitarbeiter (und gerade auch durch die Auslassung der - -Prädikation) wird der Wunsch, den Paulus in Phlm vorgebracht hatte, die Freistellung des Onesimus aus seinen Pflichten gegenüber Philemon, um Paulus als Mitarbeiter zur Seite stehen zu können (Phlm 10–14) nun nachträglich als erfolgreich beschieden. Eine weitere korrektive bzw. konkretisierende Komponente ist die Bezeichnung des Onesimus als . , wodurch Onesimus (und somit indirekt auch Philemon) als Angehörige der kolossischen Gemeinde ausgewiesen werden. Der Nachsatz V9b, mit dem erneut der Berichterstattungstopos der Vorgängerverse aufgegriffen wird ( +-), kennt hingegen keine parallelen Belege in den authentischen Paulinen. Dies ist insofern bemerkenswert, als hier zum dritten Mal innerhalb dreier aufeinanderfolgender Verse die Unterrichtung der Gemeinde über das Ergehen des Apostels als zentraler Auftrag der gesandten Mitarbeiter hervorgehoben wird, was Wolter dazu veranlasst, hier eine „Modifikation des brieflichen Parusietopos“ zu konstatieren.108 Die mit Kol 4,10 beginnende Grußliste entspricht den Grußausrichtungsformeln der authentischen Paulinen (vgl. z.B. 1 Kor 16,19f; 2 Kor 13,12; Phil 4,21f; Phlm 23), wobei die Namensnennungen mit der Grußliste des Philemonbriefes übereinstimmen (Phlm 23f). Dass Markus als „Vetter des Barnabas“ bezeichnet wird (# '( ) ), bildet hingegen eine verwandtschaftliche Näherbestimmung, die in Phlm keine Entsprechung findet und auch anderweitig nicht belegt ist.109 So klingt in Apg 15,37–39 zwar eine Verbindung zwischen Markus und Barnabas an, die offenkundig so eng ist, dass um ihretwillen ein heftiger Konflikt mit Paulus in Kauf genommen wird (15,38f), doch ein konkretes Verwandtschaftsverhältnis wird nicht expliziert.110 Vor dem Hintergrund dieses Konfliktes sieht Hoppe in Kol 4,10 auch eine mutmaßliche Harmonisierungsintention gegeben: „Vielleicht wird hier
108
Wolter, Kolosser, S. 214. Allerdings klingt durch den Verweis auf Barnabas in Form onomastischer Referenz die Schilderung des Apostelskonzils im Galaterbrief an (vgl. Gal 2,1.9.13). 110 Diese Markus-Barnabas-Relation spricht gegen die vereinzelt diskutierte Möglichkeit der Identität jenes in Apg und Kol erwähnten Paulusmitarbeiters mit dem Verfasser des Markusevangeliums. Während im Blick auf den Evangelisten insbesondere die Markus-Petrus-Relation stark gemacht wird (vgl. 1 Petr 5,13) und die markinische Gemeinde im kleinasiatischen Raum verortet wird, lokalisieren die Belege der Apostelgeschichte die Wirkungsstätte des gleichnamigen Paulusmitarbeiters in Jerusalem. 109
6. Nachrichten und Grüße (Kol 4,7–14)
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die Verbundenheit des Apostels mit Markus betont, um den Konflikt zwischen ihnen als ausgeräumt darzustellen.“111 Auf die auffällige Verschiebung der Prädikation als Mitgefangener ( ) von Epaphras (Phlm 23) zu Aristarch (Kol 4,10) wurde anhand von Kol 1,7 bereits hingewiesen; durch den Topos der Gefangenschaft klingen zugleich situative Reminiszenzen an Philipper- und Philemonbrief an (vgl. Phil 1,7.13.17; Phlm 1.9f.13). Mit der nachfolgenden Weisung, Markus aufzunehmen, wenn er nach Kolossä kommt ( , -.,), wird die entsprechende Aufforderung in 1 Kor 16,10 (hier in Bezug auf Timotheus) in Teilen wörtlich reproduziert, wobei sowohl der Aspekt der antizipierten Ankunft bei den Adressaten als auch die dortige Aufnahme innerhalb der paulinischen Korrespondenz mit Korinth mehrfach begegnen: Kol 4,10:
, , -.,
1 Kor 16,10:
-, , =,)0)
1 Kor 16,12:
0 , - 5 A, 0 , 5-0
1 Kor 14,6:
, [...];
2 Kor 7,15:
) -.,
Ohne Parallele ist hingegen der erinnernde Hinweis, um seinetwillen bereits Aufträge erhalten zu haben ( + ) ). Die Funktion dieses Verweises erscheint zwiespältig, da – zumal angesichts der unklaren Adressatenfrage (vgl. II.1.) – weder vorausgesetzt noch ausgeschlossen werden kann, dass die Adressaten des Kol tatsächlich in der Vergangenheit entsprechende Weisungen erhalten haben könnten. Eine ähnliche Form rückblickender Bezugnahme auf eine der empirischen Nachprüfbarkeit entzogene Bezugsgröße bildet im Folgenden auch der 111 Hoppe, Kolosserbrief, S. 157; ähnlich auch Maisch, Kolossä, S. 268, und Lindemann, Kolosserbrief, S. 73f. Sollte dies tatsächlich die textpragmatische (und zugleich intertextuell orientierte) Funktion von Kol 4,10 bilden, so zeigt dessen Rezeption bei O’Brien, dass dieser intertextuellen Referenzstrategie Erfolg zu bescheinigen ist: „Barnabas and Paul had a sharp disagreement [...] which resulted in the former taking his younger cousin back to Cyprus while Paul set off with Silas (Acts 15:36–41). Under the careful guidance of Barnabas, Mark redeemed his reputation so that here he and the apostle to the Gentiles are again on friendly terms [...].“ (O’Brien, Peter T.: Colossians, Philemon [= Word Biblical Commentary 44]. Waco, Texas: Word Books 1982, S. 250. Ähnlich auch Kouwenhoven, Hendrik Joseph: De brief aan de Colossenzen [= Verklaring van een bijbelgedeelte]. Kampen: Kok 1995, S. 130f).
70
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
Laodizea-Verweis (Kol 4,16), wo erneut auf bereits empfangene (schriftliche) Informationen verwiesen wird, ohne dass der Kontext Aufschluss über deren Inhalt erlauben würde. Unter der Annahme, dass Kol tatsächlich auf einen konkreten Adressatenkreis hin konzipiert ist, machen beide Verweise nur dann Sinn, wenn sie auf realen Vorkommnissen basieren, wohingegen bei einer fiktiven Adressierung des Schreibens, wie sie in der vorliegenden Arbeit angenommen wird, von einem rein fiktiven (pseudointertextuellen) Verweis auszugehen ist, der dazu dient, die Authentizitätsfiktion des Kol zu untermauern.112 In der folgenden Fortsetzung der zu übermittelnden Grüße in Kol 4,11 wird mit Jesus Justus (" " ) ein Name genannt, der weder der Namensliste des Philemonbrief entstammt, noch irgendwo sonst innerhalb des Neuen Testaments begegnet, weswegen mitunter angenommen wird, dass hier ein Verweis auf den wahren Autor des Kolosserbriefes vorliegen könnte.113 Mit der nachfolgenden Referenz auf die Beschneidung werden die zuvor genannten Aristarch, Markus und Jesus Justus als Judenchristen ausgewiesen ( ), in einer Formulierung, die sich innerhalb der authentischen Paulinen in Gal 2,12 und (in negierter Form) in Röm 4,12 findet. In der Grußliste des Römerbriefes bildet die Charakterisierung als (Röm 16,7.11.21) das genealogische Pendant zu
. In Kol 4,11 werden die Genannten im Folgenden mit + aus einer nicht näher definierten Vergleichsgröße hervorgehoben, wobei die Bezugsgröße dieser Hervorhebung grammatisch keineswegs so eindeutig ist, wie dies die übliche Übersetzung suggeriert: Neben der Lesart als einzige aus der Beschneidung ( + ) ist auch die Übersetzung als einzige Mitarbeiter des Reiches Gottes, die dem fiktiven Paulus des Kol in der vorgegebenen Situation ein Trost waren bzw. sind, möglich (+ ) , 0 , ). Allerdings erscheint diese Lesart durch die vorhergehenden und nachfolgenden Würdigungen von Tychikus, Onesimus und Epaphras (V7–9 und V12f) inhaltlich weniger plausibel, wohingegen die Lesart als einzige judenchristliche Paulusmitarbeiter wohl die tatsächliche historische Entwicklung der Mitarbeiterstruktur spiegeln würde.114 Die Betonung der paulinischen Mitarbeiter könnte dabei möglicherweise auch eine Reaktion auf antijüdische Polemik dar112 In diesem Sinne sieht auch Wolter hier eine „historisierende Fiktion“ vorliegen, „die Echtheit suggerieren soll“ (Wolter, Kolosser, S. 217). 113 Vgl. z.B. Leppä, Colossians, S. 368. 114 Siehe auch Ollrog, Mitarbeiter, S. 45, sowie Lindemann, Kolosserbrief, S. 74.
6. Nachrichten und Grüße (Kol 4,7–14)
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stellen;115 in diese Richtung weist auch die Mutmaßung Lindemanns, „durch 4,10f sollte offenbar der Behauptung entgegengetreten werden, alle Judenchristen stünden der paulinischen Mission und Theologie ablehnend gegenüber.“116 Während sowohl die Bezeichnung als (vgl. Phlm 24; Röm 6,3.9.21; 2 Kor 8,23; Phil 2,25) als auch das Motiv der ) , (1 Thess 2,12; Röm 14,7; 1 Kor 15,24.50; 6,9f; Gal 5,21) bei Paulus gebräuchlich sind, ist der Verweis auf den durch seine Mitarbeiter gespendeten Trost (0 , ) in dieser Form singulär. Dies ist insofern bemerkenswert, als bereits die vergleichbare Wendung in Kol 4,8 ( -) als genuine Eigenschöpfung des Autors ausgewiesen werden konnte, die ihrerseits die entsprechende Formulierung in Kol 2,2 wiederaufnimmt (s.o). Die im dortigen Zusammenhang aufgewiesene latente Parallelität zu Phlm 7.20 gewinnt nun allerdings trotz der lexikalischen Abweichung deutlich an Gewicht, da die dort konstatierbare Doppelseitigkeit des tröstenden Handelns, das Philemon zugeschrieben wird (bzgl. Paulus einerseits und der Gemeinde andererseits), der zweifachen Ausrichtung des Trostes in Kol 4,8 und 11 entspricht: Tröstendes Handeln gegenüber Paulus gegenüber der Gemeinde Phlm 0 - 7 Phlm 20 Kol 0[...] - 4,8 Kol 0 , 4,11
Weitere paulinische Belege, die vom Trost des Apostels zeugen, weisen als Spender dieser tröstenden Wirkung die Gemeinden selbst aus (2 Kor 7,4.7; 1 Thess 3,7)117 und unterscheiden sich damit deutlich von der Form von
115 Eine solche antijüdische resp. -judaistische Wahrnehmung ist insbesondere vor dem Hintergrund einer entsprechenden Rezeption des Römerbriefes (vgl. Röm 2,17ff; 3,9; 9,31ff; 11,11f.25) ein durchaus ein naheliegender Hintergrund, der den Anlass für die nachdrückliche Betonung der judenchristlichen Paulusmitarbeiter in Kol 4,11 bilden könnte. 116 Lindemann, Kolossä, S. 201. 117 Dabei ist in 1 Thess 3,7 zwar Timotheus der mittelbare Spender bzw. ‚Überbringer‘ des Trostes; dessen eigentliche Quelle bilden jedoch die durch ihn übermittelten Nachrichten aus der Gemeinde. Zur zentralen Rolle des Trostmotives in 1 Thess siehe auch Bickmann, Jutta: Der erste Brief an die Gemeinde in Thessalonnich. Gemeinschaft bilden im Widerstand gegen den Tod. In: Schottroff, Luise / Wacker, Marie-Theres
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II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
Mitarbeiterwürdigung, wie sie sich in Kol 4,11 findet. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass das Stichwort des Trostes eine ganz wesentliche Rolle in der Abfassungssituation bzw. -intention des Kol einzunehmen scheint; eine Beobachtung, die die These Standhartingers unterstreichen würde, der zufolge Kol als Trost- bzw. „Himmels“-Brief konzipiert ist, um die nach dem Tod des Apostels verunsicherten Gemeinden zu trösten und in ihrer christlichen Identität zu bestärken: „Der ‚Himmelsbrief‘ des Paulus erfüllt in dieser Hinsicht die Funktion einer Abschiedsrede oder eines Testaments, die/das die Hinterbliebenen stärkt und für ihr Weiterleben rüstet.“118 Mit Epaphras wird in Kol 4,12 der nächste Sender von Grüßen genannt, wobei in diesem Fall nicht nur der Name, sondern nahezu die gesamte Grußformulierung von Phlm 23 übernommen ist; mit Ausnahme der bereits erwähnten Besonderheit, dass Epaphras in Kol nicht als Mitgefangener charakterisiert wird – eine Prädikation, die hier Aristarch zugewiesen wird –, sondern, wie bereits im Rahmen des Proömiums (Kol 1,7), stattdessen in Analogie zu den paulinischen Selbstcharakterisierungen in Röm 1,1 und Phil 1,1 als - ! : Kol 4,12:
. - ! ! 8" 9
Phlm 23:
! " ! "
Der Hinweis, dass Epaphras aus den Reihen der Kolosser stamme (. ), findet eine inhaltliche Entsprechung in der Charakterisierung des Epaphroditos im Philipperbrief (Phil 2,25ff), der ebenfalls betont als Abgesandter der Adressatengemeinde benannt wird ( ). Diese Parallelität – noch verstärkt durch die Tatsache, dass Epaphras auch morphologisch eine Kurzform von Epaphroditos darstellt – legt die Annahme nahe, dass es sich hier um dieselbe Person handelt, doch die dezidierte Hervorhebung der je unterschiedlichen Herkunft (Philippi vs. Kolossä) lässt dies als eher unwahrscheinlich erscheinen.119 Der folgende Hinweis, dass Epaphras beständig im Gebet für die Adressaten kämpfe, stimmt lexikalisch in weiten Teilen mit Röm 15,30 überein; hier allerdings als Aufforderung zum Gebet für den Absender formuliert: Kol 4,12:
Röm 15,30:
[...] , ,
(Hrsg.): Kompendium Feministische Bibelauslegung. Gütersloh: Kaiser / Mohn 1999, S. 646–653, hier S. 647–649. 118 Standhartinger, Kolosserbrief, S. 192f. Siehe dazu auch dies., Colossians, S. 583– 588. 119 Vgl. auch Wolter, Kolosser, S. 55.
6. Nachrichten und Grüße (Kol 4,7–14)
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Der abschließende Verweis auf das Ziel jenes Gebetes bzw. Kampfes, die Vollkommenheit und Erfüllung der Adressaten im Willen Gottes (0 , , , ), greift sowohl auf die entsprechende Finalkonstruktion in Kol 1,9 zurück als auch auf die Passage der apostolischen Selbstcharakterisierung (Kol 1,28f), wobei beide Verse auch in ihrer grammatischen Struktur so stark mit der hier vorliegenden Formulierung übereinstimmen, dass von einer bewussten Reminiszenz auszugehen ist, mittels derer hier erneut Attribute des apostolischen Amtes auf einen paulinischen Mitarbeiter übertragen werden.120 Kol 4,12:
0, , , , ,
Kol 1,28f:
0 , ! 5 4
Kol 1,9:
0 , , ,
Mit Kol 4,13 wird das Ausmaß dieses Kampfes für die Gemeinde erneut bekräftigt, apostolisch bezeugt und zugleich auch auf die Nachbargemeinden Laodizea und Hierapolis ausgeweitet ( 0 %- 6" ).121 Die Bezeugungsformel 0 entspricht der gleichlautenden Formulierung in Röm 10,2, während die Bekräftigung des Engagements für die Gemeinde eine inhaltliche Parallele in 2 Kor 8,16 findet (hier in Bezug auf Titus). Zugleich wird mit dem Verweis auf Laodizea ( %- ) der nachfolgende „Zirkulationsvermerk“ (Wolter),122 die Aufforderung zum Austausch der Briefe in 4,16, vorbereitet. Den Abschluss der auszurichtenden Grüße bildet in Kol 4,14 – erneut in Entsprechung zu Phlm 24 – die Nennung von Lukas und Demas, wobei die Näherbestimmung des Lukas als Arzt (% ) ein Spezifikum des Kol bildet,123 während das nachgestellte wiederum den ge120
Siehe auch Standhartinger, Kolosserbrief, S. 237, und Dunn, Colossians, S. 280, sowie Wolter, Kolosser, S. 218, und Leppä, Colossians, S. 293 und S. 297. 121 Durch die Ungewöhnlichkeit der Formulierung ( ) existiert hier eine große Bandbreite alternativer Lesarten (von über , bis ), die als Versuch zu verstehen sind, jene Würdigung der Anstrengungen des Epaphras in gängigere Termini zu übertragen. Siehe dazu auch MacDonald, Colossians, S. 182, sowie Metzger, Commentary, S. 559f. 122 Wolter, Kolosser, S. 219. 123 Unter Berufung auf diese berufliche Spezifizierung gibt es verschiedentlich exegetische Versuche, den in Phlm 24 und Kol 4,14 genannten Begleiter des Paulus mit dem
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II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
läufigen paulinischen Mitarbeiterprädikationen entspricht (Röm 16,8.12; 1 Kor 4,17; 15,58). Insgesamt weist der Abschnitt Kol 4,10–14 im Vergleich mit den Protopaulinen die ausführlichste aller Grußausrichtungs-Listen auf (vgl. Röm 16,21–23; 1 Kor 16,19f; Phil 4,21; Phlm 23f) und übernimmt dabei die Namensliste des Philemonbriefes, wobei die Reihenfolge teilweise variiert, die Charakterisierung der genannten Personen deutlich ausgeweitet und die Prädikation als paulinischer Mitgefangener von Epaphras auf Aristarch übertragen wird.124 Grundsätzlich ist die Tendenz, vorgegebene Namenslisten bzw. -nennungen narrativ auszuschmücken, eine Vorgehensweise, die für die Deuteropaulinen charakteristisch ist; ähnliche inhaltliche Ergänzungen finden sich auch in den Pastoralbriefen (vgl. insbesondere 2 Tim 4,10–14.20). Der einzige Name, der nicht Phlm 23f entspricht, ist Jesus Justus, was insofern bemerkenswert ist, als diesem (gemeinsam mit Aristarch und Markus) die Hervorhebung als Mitarbeiter der ) , und Trostspender des Paulus zukommt (4,11). Der deutliche – und in dieser Eigenschaft sicherlich auch intendierte – intertextuelle Bezug zum Philemonbrief wird in diesem Punkt klar gebrochen. Einen weiteren Bruch, in diesem Fall im Hinblick auf die erwartbaren paulinischen Briefkonventionen, bildet das Fehlen jeglicher Äußerung des Wunsches nach einem Wiedersehen mit den Adressaten (vgl. Röm 1,10f.15; 15,23f.29; 1 Kor 16,5–7; 2 Kor 12,20–13,2.10; Phlm 22; Phil 1,26; 2,24; 1 Thess 3,6.10), was einerseits zwar der nachpaulinischen Abfassungssituation Rechnung tragen würde, damit andererseits aber gerade die Fiktion der Unmittelbarkeit zwischen dem Apostel und der kolossischen Gemeinde bricht, wie sie unter Aufnahme der paulinischen Briefkonventionen aufgebaut wurde. Vor diesem Hintergrund fungiert die nachdrückliche Betonung der Berichterstattungen durch die Mitarbeiter (V7, V8, V9) gleichsam als Ersatz für die fehlende Perspektive persönlicher Begegnung.125 gleichnamigen Evangelisten identifizieren zu können, indem eine entsprechende medizinische Fachkenntnis im lukanischen Doppelwerk nachgewiesen werden soll. Gegen die Annahme einer solchen personellen Identität spricht jedoch in erster Linie die Tatsache, dass sich die verschiedenen inhaltlichen Divergenzen zwischen Apostelgeschichte und Protopaulinen (vgl. u.a. Gal 2,1–10; Apg 15,1–35) nur schwerlich mit der Annahme einer Reisebegleiterschaft beider Verfasser in Einklang bringen lassen. 124 Zu den Abweichungen von Phlm siehe auch Standhartinger, Kolosserbrief, S. 81– 85, sowie Leppä, Colossians, S. 292f, und Ollrog, Mitarbeiter, S. 44. Jene Abweichungen wertet Luz als Hinweis darauf, dass die Grußliste keinen fiktiven bzw. fiktionsfördernden Charakter habe, sondern authentisch sei (vgl. Luz, Kolosser, S. 241f.), während Wolter von einer weiteren Quelle neben dem Philemonbrief ausgeht, durch die zusätzliche Informationen aus einer „selbständigen Mitarbeitertradition“ ergänzt werden konnten (Wolter, Kolosser, S. 217). 125 Vgl. Wolter, Kolosser, S. 214f, sowie ferner auch MacDonald, Colossians, S. 91f, und Lohse, Eduard: Die Mitarbeiter des Apostels Paulus im Kolosserbrief. In: Haacker,
7. Grußaufträge und Schlussgruß (Kol 4,15–18)
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7. Grußaufträge und Schlussgruß (Kol 4,15–18) 7. Grußaufträge und Schlussgruß (Kol 4,15–18) Im Vergleich zu der langen Aufzählung von Grüßen in Kol 4,10–14 nehmen die nun folgenden Grußaufträge in Kol 4,15 relativ wenig Raum ein und entsprechen in dieser Hinsicht dem Befund der authentischen Paulinen, wobei der Römerbrief hier eine deutliche Ausnahme bildet,126 die möglicherweise auf eine vergleichbare Intention zurückzuführen ist wie die ausgedehnten Grußübermittlungen von Kol 4,10–14, die die Suggestion konkreter Situations- und Adressatenbezogenheit des Schreibens unterstreichen: „Paulus benennt hier in der ihm sonst unbekannten römischen Gemeinde (gewissermaßen als Brückenköpfe) diejenigen Personen, mit denen ihn persönliche Bekanntschaft verbindet, um auf diese Weise das Ausmaß der Fremdheit zu reduzieren.“127 Neben dem Gruß an die Nachbargemeinde in Laodizea (, %- - ) ist Nympha die einzige Einzelperson, die – samt ihrer Hausgemeinde – adressiert wird ( B A
).128 Sowohl die Formel des Grußes - als Klaus / Böcher, Otto (Hrsg.): Verborum Veritas. FS Gustav Stählin. Wuppertal: Brockhaus 1970, S. 189–194, hier S. 193f. Entsprechend betrachtet White die Aspekte der Besuchsankündigung und der Sendung eines Stellvertreters als komplementäre Realisierungen derselben Brieffunktion; der apostolischen Präsenz, die sich in den paulinischen Briefen in dreifacher Weise manifestiert – neben dem Apostel selbst auch im Schreiben als Repräsentation des Apostels und im überbringenden Boten als Stellvertreter (vgl. White, Epistolography, S. 1745f). 126 Mit Ausnahme des Römerbriefes, wo eine ungewöhnlich lange und detaillierte Liste an Grußaufträgen vorliegt (Röm 16,3–16), beschränken sich die Grußaufträge der übrigen paulinischen Briefe durchgängig auf einen Einzelvers bzw. einen allgemein gehaltenen kollektiven Grußauftrag (vgl. 1 Kor 16,20; 2 Kor 13,12; Phil 4,21; 1 Thess 5,25). Die Briefe an Philemon und die Galater kennen keine Grußaufträge, was im Falle des Galaterbriefes dessen spezifischer Abfassungssituation und -intention geschuldet sein dürfte, und im Falle des Philemonbriefes die These bestärken könnte, Phlm als Privatbrief zu betrachten, der in erster Instanz nicht als öffentliches Schreiben konzipiert war (zur Problematik einer solchen Differenzierung vgl. z.B. Klauck, Briefliteratur, S. 247, sowie Ollrog, Mitarbeiter, S. 104.). Angesichts dieses Befundes innerhalb des Corpus Paulinum ist die Folgerung Leppäs, die Kürze der Grußaufträge in Kol sei Indiz für deren fiktiven Charakter, von eher geringer Überzeugungskraft – wenngleich faktisch sicherlich zutreffend (vgl. Leppä, Colossians, S. 298: „since Colossae is a pseudo-addressee, A/Col is not able to enumerate people living there.“). Zum Verhältnis von Grüßen und Grußaufträgen in Kol und Röm siehe auch Ludwig, Kolosserbrief, S. 128f. 127 Wolter, Kolosser, S. 220. Vgl. hierzu u.a. auch Merklein, Helmut: Paulinische Theologie in der Rezeption des Kolosser- und Epheserbriefs. In: Kertelge, Spätschriften, S. 25–69, hier S. 36, sowie Lohse, Mitarbeiter, S. 190f. 128 Angesichts der besseren Bezeugung des nachfolgenden Possessivpronomens als femininum ( ) ist die weibliche Zuschreibung (Nympha) mittlerweile weitgehend unbestritten, wenngleich einige Textzeugen hier eine maskuline Possessivzuweisung vornehmen ( ) und damit eine männliche Referenz vorliegen sehen (Nymphas); eine
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II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
auch die Einbeziehung der einer angesprochenen Person zugehörigen Hausgemeinde sind gängig in den authentischen Paulinen (vgl. 1 Thess 5,26; Röm 16,5; 1 Kor 16,19; Phlm 2), wohingegen das auffällige Fehlen der paulinischen Grußformel, einander ‚ „mit dem heiligen Kuß“ zu grüßen (vgl. Röm 16,16; 1 Kor 16,20; 2 Kor 13,12; 1 Thess 5,26), einen deutlichen Bruch der Konvention markiert.129 Der Folgevers Kol 4,16, in dem zum Austausch der Briefkorrespondenz zwischen Kolossä und Laodizea aufgefordert wird ( 0 , 0 %-
, %- 0 ), zeigt wiederum formale Anleihen an 1 Thess 5,27,130 wohingegen die Aufforderung selbst inhaltlich singulär ist: Während 1 Thess 5,27 die Adressaten dazu auffordert, den Brief vor allen Brüdern lesen zu lassen ( , - ), spricht Kol 4,16 zwar unter Verwendung derselben Begrifflichkeit vom (Ver-) Lesen des Briefes ( , ), präzisiert jedoch gegenüber 1 Thess 5,27 nicht nur die Adressaten, sondern führt zudem eine Wechselseitigkeit des Briefaustausches ein, die keine Parallele innerhalb der authentischen Paulinen kennt. Hier könnte ein Reflex auf eine Praxis vorliegen, die sich in dieser Form erst nach dem Tod des Apostels herausgebildet hatte: „Erst der Tod des Paulus gibt den Anstoß dazu, daß man auf paulinischem Missionsgebiet beginnt, seine Briefe als seinen Nachlaß zu sammeln und dieses Erbe für den Gemeindegebrauch (durch geeignete Redaktion) verwendungsfähig zu machen. [...] Das Prinzip der Arbeit am schriftlichen Nachlaß ist, aus den Gelegenheitsschreiben allgemein nützliche Lesebücher zu machen. Aus den meist kleinen Briefen, die mehr oder weniger den Stempel einer einmaligen und unwiederholbaren Situation trugen, sollte das zeitlos gültige
Lesart, die nicht zuletzt auch kirchenpolitischen Gründen geschuldet sein dürfte: „It seems that uncertainty about the name, and probably also discomfort about a woman leader of a house church, led to the transformation [...].“ (MacDonald, Colossians, S. 183; ähnlich auch Schweizer, Eduard: Der Brief an die Kolosser [= EKK 12]. Zürich u.a.: Benziger u.a. 1976, S. 178, und Hay, Colossians, S. 162). 129 Siehe auch Standhartinger, Kolosserbrief, S. 80, sowie White, Epistolography, S. 1740. Diese Auslassung könnte als Indiz für die ‚Minimal‘-These Kileys und Standhartingers gewertet werden, dass lediglich Phlm (bzw. Phlm und Phil) dem Autor des Kolosserbriefes schriftlich vorlagen, denn während Phlm überhaupt keine Grußaufträge kennt, bildet Phil den einzigen Fall innerhalb des Corpus Paulinum, in dem diese Formel ebenfalls fehlt (Phil 4,21). Allerdings zeigt der intertextuelle Befund m.E. deutlich, dass von einer weitaus breiteren Bekanntschaft des Verfassers mit der paulinischen Briefkorrespondenz auszugehen ist. 130 Siehe dazu auch Oestreich, Bernhard: Leseanweisung in Briefen als Mittel der Gestaltung von Beziehungen (1 Thess 5,27). In: NTS 50 / 2004, S. 224–245, hier S. 237f.
7. Grußaufträge und Schlussgruß (Kol 4,15–18)
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Wort des Paulus, das er auf dem Weg über je eine Gemeinde der ganzen Kirche zu sagen hatte, werden.“ 131 Der Verweis auf den Laodizenerbrief bildet einen fortwährenden Gegenstand exegetischer Kontroverse, insofern ein auch nur annäherungsweiser Konsens über dessen Existenz (geschweige denn dessen nähere Identifizierung) noch lange nicht erreicht ist.132 Unter der Annahme, dass es sich hier um einen rein fiktiven (pseudointertextuellen) Verweis handelt, ist davon auszugehen, dass hier ein weiteres Element der Autorenfiktion vorliegt, das die Glaubwürdigkeit des Kol als apostolisches Schreiben untermauern soll. So sieht Schenk gerade in dem Verweis auf ein fiktives Schreiben ein Element, das „der Selbstlegitimation des Briefes gilt: Es gibt noch andere unbekannte Paulusbriefe.“133 In dem mit Kol 4,17 folgenden Auftrag, Archippus an die Erfüllung seines Dienst im Herrn zu erinnern ( & 5( - 4 ) 0 ), begegnet erneut ein textstrukturelles Phänomen, das bereits mehrfach aufgewiesen wurde: der textimmanente Rückgriff auf die Ausführungen zum Amt des Apostels. Auch hier wird eine Formulierung aus jener Passage wiederaufgegriffen (das Erfüllen des apostolischen Dienstes in Kol 1,25) und von Paulus auf einen seiner Mitarbeiter übertragen. Diese Übertragung scheint somit ein strukturelles Grundprinzip des Kol zu sein, das gleichsam auf die Ordnung der Nachfolge in nachpaulinischer Zeit verweist, indem den genannten Mitarbeitern die aufgeführten apostolischen Charakterisierungen in einer Deutlichkeit zugewiesen werden, die sie gewissermaßen als „mini-Paul“ (Kiley)134 erscheinen lässt. Mit Archippus begegnet dabei erneut ein Name, der dem Philemonbrief entstammt (Phlm 2), womit nun abschließend außer Philemon selbst sämtliche der in Phlm genannten Personen in den Kolosserbrief einbezogen sind – allerdings mit einer deutlichen Ausnahme: Aphia, die einzige Frau, die im Philemonbrief genannt wird (Phlm 2), was Standhartinger zu einem harten Urteil über diese selektive Rezeption durch 131
Schenke, Paulusschule, S. 512f; ähnlich auch Maisch, Kolossä, S. 273. Vgl. ferner auch Schweizer, Kolosser, S. 179, und Leppä, Colossians, S. 299. 132 Zu einem Überblick über die verschiedenen Hypothesen vgl. z.B. Wolter, Kolosser, S. 220f, sowie Leppä, Colossians, S. 300, und Luz, Kolosser, S. 189 u. 243. 133 Schenk, Kolosserbrief, S. 3334. Vgl. ferner auch Wolter, Kolosser, S. 221f, sowie Pokorný, Kolosser, S. 164, der hier zudem auch eine textimmanente Inkohärenz von Kol 4,15f ausmacht: „Warum sollte der Apostel Grüße nach Laodizea via Kolossä ausrichten, wenn er gleichzeitig einen Brief nach Laodizea geschickt hat?“ (ebd.). 134 So Kiley, Colossians, S. 95 (hier im Hinblick auf die Charakterisierung des Epaphras). Vgl. u.a. auch Standhartinger, Kolosserbrief, S. 236, MacDonald, Colossians, S. 7f, Ludwig, Kolosserbrief, S. 130, und Wolter, Kolosser, S. 218. Zur hervorgehobenen Stellung der Mitarbeiterbeauftragungen siehe auch Luz, Kolosser, S. 183.
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
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den bzw. die Verfasser des Kol veranlasst: „Ihr fiktives Bild der paulinischen Missionsgruppe konstruiert einen Zusammenschluß aus elf namentlich genannten Männern [...]. Mit diesem Verschweigen von Aphia (Phlm 1 [sic!]) und ihren Schwestern sind die Verf. des Kol mitschuldig geworden an der Mythisierung eines hierarchischen Geschlechterverhältnisses als Grundmodell der Christusordnung [...].“135 Die – ebenfalls von Phlm abweichende – Nennung von Nympha wird in dieser Bewertung jedoch vollkommen ausgeblendet, obwohl sich Standhartinger an anderer Stelle ausgiebig damit auseinandersetzt.136 Insofern kommen Walsh und Keesmaat diesbezüglich zu einem gänzlich anderen Urteil: „Paul’s greeting to Nympha and the church in her house (4:15) indicates a level of female leadership that sits uneasily with both empire and synagogue.“137 Mit Kol 4,18 erfolgt der Schlussgruß des kolossischen ‚Paulus‘. Der vorangestellte Eigenhändigkeitsvermerk ( 2) entspricht wörtlich der Formulierung von 1 Kor 16,21; vergleichbare Formulierungen finden sich auch in Gal 6,11 und Phlm 19.138 Der Aufruf, der Fesseln des Apostels zu gedenken ( - ), ist in dieser Form ohne Parallele in den Protopaulinen,139 greift jedoch mit dem Motiv der Fesseln erneut auf die Gefangenschaftsmotivik zurück, wie sie in Phil und Phlm prägend ist (vgl. Phil 1,7.13.14.17; Phlm 10.13), wobei Schenk zu Recht dem Kolosserbrief im direkten Vergleich zu Phil und Phlm eine gewisse „Blässe der Gefangenschaftsaussagen“ attestiert.140 Der abschließende Gnadenwunsch ( , ) entspricht zwar in seinem formalen Aufbau den Gnadenwünschen in allen authentischen Paulinen (1 Kor 16,23; 2 Kor 13,13; Gal 6,18; Phil 4,23; Röm 16,20; 1 Thess 5,28; Phlm 25), ist hier jedoch – analog zur salutatio in Kol 1,2 – stark verkürzt, wobei wie in der salutatio auch hier der Wegfall der christologischen Komponente auffällt, die bei Paulus trotz aller Variationen des 135
Standhartinger, Kolosserbrief, S. 288. Vgl. ebd., S. 85. 137 Walsh, Brian / Keesmaat, Sylvia: Colossians Remixed. Subverting the Empire. Illinois: InterVarsity Press 2004, S. 231. 138 In diesem Punkt ist die Darstellung bei Standhartinger insofern inkonsequent, als die – weniger signifikanten – Übereinstimmungen mit Phlm 19 hier als Indiz für eine literarische Abhängigkeit zwischen Kol und Phlm herangezogen werden, die weitaus deutlichere Parallele in 1 Kor 16,21 hingegen nicht berücksichtigt wird (vgl. Standhartinger, Kolosserbrief, S. 83f). 139 So wird auch die formal übereinstimmende Formulierung ( ) in 1 Thess 2,9 im Gegensatz zum Aufruf des Gedenkens in Kol 4,18 gerade nicht imperativisch, sondern indikativisch gebraucht. 140 Schenk, Kolosserbrief, S. 3339. 136
8. Auswertung
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Gnadenwunsch-Schemas obligatorisch ist ( " ).141 Gerade angesichts der christozentrischen Gesamtausrichtung des Kol ist diese Abweichung textimmanent schwerlich erklärbar, wie auch Lohse betont: „Da der Christologie im Kolosserbrief zentrale Bedeutung zukommt, wäre es sicher verfehlt, nach theologischen Gründen suchen zu wollen, die zu einer Verkürzung der Grußformel geführt haben könnten.“142
8. Auswertung 8. Auswertung Im Hinblick auf die Übereinstimmungen mit den authentischen Paulinen kann insbesondere aufgrund der nahezu vollständigen Übernahme der Namensliste des Philemonbriefes konstatiert werden, dass Phlm tatsächlich das ‚primary model‘ bildet – zumindest des Briefschlusses (vgl. Phlm 23f). Da darüber hinaus aber auch eine prägnante wörtliche Übereinstimmung von Phlm 5 und Kol 1,4 vorliegt, kann der Philemonbrief auch über die Schlusspassagen hinaus als bekannt vorausgesetzt werden und erfüllt insofern das Kriterium der Strukturalität, i.e. der syntagmatischen Integration eines Prätextes als strukturelle Folie, die über punktuelle Berührungen innerhalb eines bestimmten Bereiches hinausgeht. Zudem konnte gezeigt werden, dass mittels jener Namensnennungen neben der grundsätzlich besonderen evokativen Verweiskraft onomastischer Referenzen gerade durch die Nennung des Onesimus der Philemonbrief als Ganzes thematisch evoziert wird und im Kol gleichsam seine inhaltliche Fortführung findet. Hier findet sich somit neben der textorientierten Funktion jener Übernahmen, d.h. der Adaption des paulinischen Briefformulars zum Zwecke der Authentizitäts- bzw. Autoritätsfiktion, auch eine starke referenztextorientierte Komponente, die dem Phlm als Prätext eine nachträgliche Affirmation zuweist: Das Anliegen des Schreibens, die Frei- bzw. Überstellung des Onesimus in den Dienst der paulinischen Mission, wird aus einer nachträglich-resultativen Perspektive als erfolgreich bestätigt – eine Information, die die Rezeption des Phlm als Vorläufertext nachhaltig beeinflusst, da der dort offene Ausgang hier nun seine Konkretisierung findet. Gemäß der postulierten Thema-Rhema-Struktur (I.6.) wird hier somit ein Informationsaspekt des Prätextes übernommen [o] – in diesem Falle durch 141
Gerade den Abschlusssegen betrachtet White als spezifisches Element des apostolischen Briefes, das als „Christian adoption of the existing practice“ die hellenistische Brieftradition transformiert (White, Epistolography, S. 1740); insofern ist hier die christologische Verkürzung im Kolosserbrief eine besonders signifikante Abweichung. Auf den auffallenden Befund, dass diese christologische Zuschreibung der Gnade in allen Deuteropaulinen mit Ausnahme von 2 Thess entfällt, weist Wolter hin (siehe Wolter, Kolosser, S. 222) 142 Lohse, Kolosser, S. 39.
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II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
die Nennung des Namens und die übereinstimmende Bezeichnung als ‚geliebter Bruder‘ (Phlm 16) – und sowohl durch den Wegfall des Informationsaspektes ‚Sklave‘ korrigiert [–] als auch mittels neuer Information konkretisiert [+]: Der ehemalige Sklave Onesimus wird nun als Mitarbeiter des Paulus in die Gemeinde von Kolossä gesandt, um ihr Bericht zu erstatten; die Bezeichnung als „geliebter Bruder“ verliert durch den Wegfall des Kontrastmomentes „Sklave“ ihre kontrastierende Schärfe und wird zu einer generellen Mitarbeiterprädikation, die auch auf Tychikus übertragen wird (4,9). Nach dem Philemonbrief zeigt die paulinische Korrespondenz mit der Gemeinde von Korinth die deutlichsten Übereinstimmungen mit dem kolossischen Briefrahmen. Neben Berührungspunkten mit einzelnen Formulierungen bzw. Wortkombinationen des 1. und 2. Korintherbriefes, die sich nahezu durchgängig innerhalb des Briefrahmens finden, finden sich auch mehrere signifikante Übereinstimmungen inhaltlicher wie syntaktischer Art: So übernimmt der Verfasser des Kolosserbriefes nicht nur die superscriptio des 2. Korintherbriefes wortwörtlich (2 Kor 1,1), sondern auch die ansonsten singuläre syntaktische Konstruktion von 2 Kor 1,10 in Kol 1,12, wodurch auch die weiteren Stichwortverbindungen der Passage Kol 1,11–13 mit dem 2. Korintherbrief an Gewicht gewinnen (2 Kor 12,12; 9,8; 6,14f). Und auch innerhalb der Schlussparänese nimmt Kol 4,3 mit der Motivkombination der geöffneten Tür und der Verkündigung Christi ein Bild aus dem 2. Korintherbrief auf (2,12), das hier jedoch in einer kreativen Neuverknüpfung mit der Gefangenschaftsthematik verbunden wird. Ein ähnlicher Befund zeigt sich auch hinsichtlich des 1. Korintherbriefes, wo sich mit 1 Kor 4,17; 16,10.21 drei wörtlich übereinstimmende Parallelen finden (vgl. Kol 4,7.10.18), wobei gegenüber dem 2. Korintherbrief, der insbesondere im Bereich des Präskriptes offenbar als Folie für superscriptio und Fürbitte diente, hier die Übereinstimmungen im Bereich des Briefschlusses überwiegen. Dies gilt auch für den Römerbrief, dessen deutlichste Übereinstimmungen mit Kol im Bereich der Mitarbeiter-Charakterisierungen liegen, so vor allem in Kol 4,12f (siehe Röm 15,30 und 10,2). Anhand des Philipperbriefes erwiesen sich in erster Linie die durchgängigen Berührungspunkte innerhalb des Abschnitts Phil 1,1–11 im Bereich der Textpassage Kol 1,1–11 als auffällig, wenngleich der Autor an keiner Stelle längere Passagen des Phil adaptiert, sondern vielmehr kontinuierlich einzelne Elemente und Lexemkombinationen versatzstückhaft rezipiert:
8. Auswertung Kol 1,1–11
Motive / Lexeme
81 Phil 1,1–11
1,1
Timotheus als Mitabsender
1,1
1,2
Adressierungsformel Charakterisierung der Adressaten als 0 ! -Formel
1,1 1,1 1,1
1,3
beständiges Gebet für die Adressaten ( 1,4 / - )
1,5f
Initialer Tag des Evangeliums ( [...] + 1,5 / )
1,7
Prädikation als (-)- !
1,1
1,8
Verweis auf die Liebe der Adressaten ( )
1,9
1,9
zahlreiche lexikalische Übereinstimmungen in der Formulierung der Fürbitte
1,9–11
1,10
Topos des guten Werkes ( ,) Frucht- und Erkenntnismotiv( + )
1,6 1,11
1,11
Topos der -., # -Formel
1,11 1,4
Deutlich weniger Übereinstimmungen sind im Hinblick auf den 1. Thessalonicherbrief auszumachen. Wie gezeigt werden konnte, sind salutatio und Schlussgruß des Kol stärker an die in 1 Thess 1,1; 4,12 vorliegenden Kurzformeln angelehnt als an die deutlich ausführlicheren Formulierungen in allen übrigen Paulinen, wobei sich durch die sprachliche Nähe der gesamten Formulierung von Kol 1,1–3 zu 1 Thess 1,1–3 auch die Annahme nahelegt, dass die in Kol unmittelbar nachfolgende Trias – – (1,4f) ihr paulinisches Pendant in 1 Thess 1,3 findet. Die Berührungspunkte mit den Galaterbrief sind innerhalb des Briefrahmens marginal. Lediglich Kol 4,5 lässt Indizien erkennen, die darauf hindeuten, dass der Verfasser des Kolosserbriefes in der Formulierung . Motive, die in Gal in anderen Kontexten begegnen (Gal 6,9f; 3,13; 4,5), neu verknüpft und damit die bei Paulus vorherrschende eschatologische Konnotation des Terminus aufbricht. Neben den paulinischen Parallelen erwies sich die auffällige Übereinstimmung der ‚umgekehrten Wachstumsmetapher‘ in Kol 1,6 mit der entsprechenden Formulierung in Markus 4,8 als prägnante Parallele, die von Leppä als Indiz dafür gewertet wird, dass der Autor mit einer prämarki-
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
82
nischen Textform der Parabel vertraut gewesen sein müsse.143 Ob der intertextuelle Befund des Kol tatsächlich Anzeichen einer literarischen Beziehung zwischen Kolosserbrief und Markusevangelium erkennen lässt, wird daher in der Fortsetzung der Textanalyse weiter zu verfolgen sein. Die Wendung der „mit Salz gewürzten“ Rede in Kol 4,6 (0 ) lässt sich aufgrund ihres redensartlichen Charakters jedenfalls nicht als Beleg der Bekanntschaft mit synoptischen Texttraditionen heranführen. Trotz der aufgeführten Übereinstimmungen zeigten sich auch deutliche Abweichungen des Kolosserbriefes von den paulinischen Briefkonventionen, so insbesondere die ‚christologische Verkürzung‘ von salutatio und Schlusssegen, die sich in Anbetracht der betont christozentrischen Ausrichtung des Kol schwerlich intentional erklären lässt. Auch eine mangelnde Textkenntnis ist angesichts der starken Übereinstimmungen im Bereich des Briefrahmens unwahrscheinlich; zumal alle authentischen Paulinen den entsprechenden Verweis auf Christus enthalten, sowohl innerhalb des abschließenden Gnadenwunsches als auch (mit Ausnahme von 1 Thess) innerhalb der salutatio. Während dies die These Leppäs unterstützen würde, dass 1 Thess neben dem Philemonbrief die einzige schriftliche Vorlage des Kol darstellt,144 spräche das auffällige Fehlen der Aufforderung zum gegenseitigen Gruß „mit dem heiligen Kuss“ (, ), das ebenfalls einen Bruch der paulinischen Briefkonvention markiert,145 für die These Kileys und Standhartingers, dass lediglich Phlm bzw. Phlm und Phil, in denen diese Formel ebenfalls fehlt, bei der Abfassung des Kolosserbriefes schriftlich vorlagen.146 Einer solchen Begrenzung des Rahmens potentieller Prätexte des Kol steht allerdings neben den bereits im Briefrahmen aufgewiesenen Parallelen (s.o.) vor allem auch die Tatsache entgegen, dass innerhalb der apostolischen Selbstcharakterisierung von Kol 1,23b–2,5, auf die im Briefrahmen verschiedentlich rekurriert wird, gerade Römer- und 1. Korintherbrief die wesentlichen paulinischen Vorlagen bilden, wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird (III). Einen weiteren Konventionsbruch bildet auch das Fehlen der Äußerung eines Wiedersehenswunsches, das im Kol durch die mehrfache Betonung der Berichterstattungen durch die Mitarbeiter (4,7.8.9) ersetzt wird.147 Ein 143
Vgl. Leppä, Colossians, S. 360–362, sowie S. 99 und 317. Vgl. Leppä, Colossians, S. 348. 145 Siehe auch Standhartinger, Kolosserbrief, S. 80. 146 Vgl. Kiley, Colossians, S. 75–85, und Standhartinger, Kolosserbrief, S. 81–85 und S. 277–279. 147 Vgl. Wolter, Kolosser, S. 214f. Siehe auch Leppä, Colossians, S. 289: „However, the fact that, according to the authentic letters, Paul never sends two people to report news about him points to a deutero-Pauline character of the text.“ 144
8. Auswertung
83
Punkt, in dem der Autor des Kolosserbriefes zwar nicht vom paulinischen Briefformular an sich, wohl aber von seiner konkreten Vorlage partiell abweicht und deutliche Eigenakzentuierungen setzt, ist die Grußliste des Philemonbriefes. Obgleich die Namensliste nahezu in Gänze übernommen wird, nimmt der Verfasser doch mehrere Änderungen vor – zwei Personen, die in Phlm genannt sind, werden ausgelassen (Aphia und Philemon selbst), und stattdessen werden zwei Namen, die ansonsten innerhalb des Corpus Paulinum nirgendwo begegnen, integriert (Jesus Justus und Nympha). Eine solche Variation ist unter dem Gesichtspunkt der Brieffiktion auch notwendig, da eine komplette und unveränderte Übernahme der Phlm-Namensliste den Kol tatsächlich als reine Kopie erscheinen lassen würde, wohingegen die leichten Abänderungen dessen Anspruch als eigenständiges ‚apostolisches‘ Schreiben mit eigenem Abfassungshintergrund und Adressatenkreis unterstreichen.148 Unter dieser Annahme ist auch die Auslassung Aphias und die Nennung Nymphas stimmig erklärbar, ohne einerseits mit Standhartinger eine mutmaßliche frauenfeindliche Tendenz (wegen der Auslassung Aphias), oder aber mit Walsh/Keesmaat eine emanzipatorische Note (wegen der Nennung Nymphas) unterstellen zu müssen:149 Der Autor des Kolosserbriefes orientiert sich in seiner Adaption der Phlm-Grußliste hier gewissermaßen an dem Cluster, im Rahmen der Adressaten und zu Grüßenden auch eine Frau – und ihre Hausgemeinde – zu adressieren (vgl. auch 1 Kor 16,19), und variiert gleichsam lediglich den Namen, um die Fiktion der Authentizität des Kol als eigenständiger Korrespondenz mit spezifischem Adressatenkreis zu fördern. Eine weitere Abweichung lässt sich aus der inhärenten Logik des Schreibens erklären: Während Onesimus in Phlm noch Gegenstand der Diskussion ist, wird er in Kol als Mitarbeiter genannt, der Ausgang dieser (Streit-) Frage soll hier somit bewusst seine Auflösung finden. Ebenso wird in Kol auch Tychikus als Mitarbeiter aufgeführt, der weder in Phlm noch in den übrigen Paulusbriefen genannt wird, dafür aber in der Apostelgeschichte und – dem Kolosserbrief nachfolgend – im Epheserbrief und den Pastoralbriefen (Apg 20,4; Eph 6,21; 2 Tim 4,12; Tit 3,12). Diese breite Streuung der Belege lässt es als möglich erscheinen, dass die Nichterwähnung von Tychikus als Paulusmitarbeiter innerhalb der authentischen Paulinen auf Zufall bzw. dem Verlust entsprechender Belege beruht.150 Dass Kol 4,10 – erneut in Abweichung von Phlm – statt Epaphras 148 Demgegenüber sieht Hoppe hier gerade einen Bruch der Autorenfiktion, da durch die Erwähnung des Onesimus ein Gruß des Paulus an dessen (ehemaligen) Herrn Philemon zu erwarten gewesen wäre (siehe Hoppe, Kolosserbrief, S. 156; vgl. dazu auch Dunn, Colossians, S. 284). 149 Siehe die Gegenüberstellung beider Positionen anhand der Ausführungen zu Kol 4,17. 150 Siehe dazu Fußnote 94 dieses Kapitels.
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II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
Aristarch als Mitgefangenen ( ) des Paulus benennt, könnte wiederum auf eine bewusste Variation durch den Verfasser zurückgeführt werden, die dem veränderten situativen Kontext der (fiktiven) Abfassungssituation Rechnung tragen soll. Entsprechend ist auch der Aspekt der Neuverknüpfungen und Eigencharakteristika des Kolosserbriefes zu betrachten, die sich im intertextuellen Vergleich mit den Protopaulinen als Neuerung erweisen. Im Bereich der Übereinstimmungen mit den authentischen Paulinen wurde bereits auf die beiden prägnantesten Neuverknüpfungen vorgegebener paulinischer Motive hingewiesen: die Kombination des Motivs der zu öffnenden Tür mit der fiktiven Gefangenschaftssituation (Kol 4,3) und die Formulierung die Zeit auskaufen (Kol 4,5), die zwei Motive verbindet, die sich – in anderer Kontextualisierung – im Galaterbrief finden. Insbesondere Kol 4,3 erweist sich hier als ausgesprochen kreative Neukodierung paulinischer Sprachlichkeit. Durch die Verankerung der fiktiven Briefsituation (Gefangenschaft Pauli) in einem paulinisch vorgeprägten Terminus, der in seiner Bildlichkeit für diese Verknüpfung geradezu prädestiniert ist (zu öffnende Tür), wird die Brieffiktion gewissermaßen in zweifacher Weise durch jene intertextuelle Referenz untermauert – zum einen durch die Adaption paulinischer Motivik, die die Suggestion paulinischer Autorschaft unterstreicht, und zum anderen durch die Verknüpfung dieses Motives mit der postulierten Abfassungssituation des Schreibens. Hinsichtlich der Formulierung „die Zeit auskaufend“ ( . ) wurde bereits darauf hingewiesen, dass in dieser spezifischen paränetischen Verwendung die eschatologisch-soteriologische Besetzung des Terminus , die innerhalb der authentischen Paulinen prägend ist, umkonnotiert wird – hier steht das gegenwärtige, lebenspraktische Handeln im Vordergrund, nicht der Verweis auf Kommendes (siehe z.B. 1 Kor 4,5). Dem entspricht auch der Befund, dass . hier ebenfalls entgegen der paulinischen Verwendung (Gal 3,13; 4,5) nicht in soteriologischem Kontext gebraucht, sondern jenem praktischen Handeln im Alltagskontext zugeschrieben wird. Vor dem Hintergrund des großen Raumes und Stellenwertes, den die Paränese in Kol einnimmt, fügt sich auch diese Neuverknüpfung bzw. -konnotation schlüssig in die Textstrategie des Kolosserbriefes. Intertexualitätstheoretisch lassen sich diese kreativen Neubesetzungen und -kombinationen als Vorgehensweise fassen, die weder dezidiert text- noch referenztextorientiert fungiert, sondern vielmehr den in Text und Prätext vorfindlichen Elementen eine Zusatzkodierung zuweist, die in beide Richtungen hin leselenkende Wirkung entfalten kann – die Zeitmetaphorik des Kol liest sich vor dem Hintergrund der eschatologischen Konnotationen in den authentischen Paulinen als
8. Auswertung
85
Übertragung einer soteriologisch besetzten Größe auf die gegenwärtige Lebenswirklichkeit der Angesprochenen und trägt diese lebenspraktische Komponente andererseits wiederum in die Rezeption der Prätexte ein. Neben diesen Neuverknüpfungen vorgegebenen Materials finden sich im Briefrahmen des Kolosserbriefes aber auch Elemente, die als genuine Neuschöpfungen bzw. Eigencharakteristika des Verfassers betrachtet werden können. Hier ist insbesondere die starke Präsenz des Trostmotives zu nennen (Kol 2,2; 4,8; 4,11). Die in 4,8 genannte (und damit die Formulierung von 2,2 wiederaufnehmende) Intention, Mitarbeiter zu senden, um die Herzen zu trösten (0 -), ist ohne direkte Parallele in den authentischen Paulinen, ebenso auch die Würdigung von Mitarbeitern, die dem Apostel ein Trost waren (4,11: 0 , ), wobei in dieser doppelseitigen Ausrichtung des Trostes Parallelen zum Philemonbrief zu erkennen sind (Phlm 7.20). Ein deutliches Spezifikum des Kolosserbriefes bildet hingegen die Charakterisierung der Hoffnung in Kol 1,5, die in dieser Umschreibung als keine Parallele bei Paulus kennt, sondern die spezifisch räumliche Eschatologie des Kol spiegelt, auf die anhand von Kol 3,1f noch näher einzugehen sein wird (siehe Kapitel V.2.g). Singulär sind auch die beiden (pseudointertextuellen?) Verweise auf bereits erhaltene Weisungen und mit der Nachbargemeinde auszutauschende Korrespondenzen (Kol 4,10.16). Je nach Adressatenhypothese setzen beide Referenzen entweder einen realen Ereignishintergrund voraus oder erweisen sich als Element der Brieffiktion, das auf eine nicht existierende Referenzgröße verweist. Dabei legt die nachpaulinische Abfassungssituation des Kol die Vermutung nahe, dass die Aufforderung zum Austausch von Gemeindebriefen grundsätzlich eine reale Entwicklung aufgreift, die sich nach dem Tod des Apostels herausgebildet hatte. Zwei weitere, stärker textstrukturelle Eigencharakteristika in der Komposition des Kol bilden die Vorgehensweisen, zuvor genannte Motive wiederaufzugreifen,151 hier insbesondere aus dem Bereich der apostolischen Selbstcharakterisierung (Kol 1,23–2,5), und die dort aufgeführten apostolischen Prädikationen auf die Paulusmitarbeiter zu übertragen. Was die Distribution jener motivischen Wiederaufnahmen angeht, so zeigte sich deutlich, dass im Bereich der Fürbitte vielfach Motive der Danksagung
151
Die aus diesen Wiederaufnahmen resultierende Duplizität bestimmter Motive und Formulierungen als Indiz für die redaktionelle Zusammenfügung zweier ursprünglich selbstständiger Briefe zu werten, wie dies bei Boismard geschieht (vgl. Boismard, Letter), verkennt die mit jener Wiederaufnahme-Technik einhergehenden textimmanenten Strategien der Leselenkung, wie sie u.a. am Beispiel des Transfers der apostolischen Aufgaben- und Tätigkeitsbeschreibungen auf die Mitarbeiter deutlich werden (s.o.).
II. Die Konstitution des Briefrahmens (Kol 1,1–14 und 4,2–18)
86
wiederaufgegriffen werden, während die Schlussparänese vor allem auf die apostolische Selbstcharakterisierung zurückgreift: Danksagung
Motiv
Fürbitte
1,6
Benennung des initialen Tages ( + )
1,9
1,4
‚gehörter‘ Informationsstand über die Gemeindesituation ( / )
1,9
1,3
Gebet für die Gemeinde ( / )
1,9
1,6
Erkenntnismotiv ( / )
1,9.10
1,6
Frucht- und Wachstumsmetapher ( .)
1,10
1,3
Danksagung an den Vater ( , / )
1,12
Selbstcharakterisierung
Motiv
Schlussparänese
1,25
Verkündigung des Wortes ( / [...], )
4,3
1,26
Offenbarwerden des Geheimnisses ( [...] , / [...]0 )
4,3.4
1,28
-Formel
4,5
Einen besonderen Bereich dieser intratextuellen Referenzen bildet die Übertragung apostolischer Charakterisierungen auf die genannten Mitarbeiter, i.e. Übernahmen aus der Passage der Selbstcharakterisierung im Bereich der Mitarbeiterprädikationen innerhalb des Briefschlusses: Selbstcharakterisierung
Aufgabenumschreibung
Mitarbeiter
1,25
Erfüllen des Dienstes ( )
4,17 (bzgl. Archippus)
1,28f
Kampf um Vollkommenheit (0, )
4,12 (bzgl. Epaphras)
2,2
Trost der Herzen (0 , - )
4,8 (bzgl. Tychikus)
Analog wird mit der Bezeichung von Epaphras und Tychikus als (-) - ! (1,7; 4,7; 4,12) ebenfalls eine Formulierung verwendet, die innerhalb der authentischen Paulinen als Eigenbezeichnung des Paulus
8. Auswertung
87
fungiert (Röm 1,1; Phil 1,1) – d.h. hier werden sowohl intratextuell als auch intertextuell deutliche Angleichungstendenzen zwischen Status bzw. Funktion des Apostels und seinen Mitarbeitern sichtbar; gewissermaßen erste Indikatoren einer ‚apostolischen Sukzession‘.152 Diese Übertragung von Merkmalen des apostolischen Amtes auf die paulinische Mitarbeiterschaft zieht sich somit als grundsätzliches Strukturprinzip durch den Kolosserbrief und fügt sich inhaltlich folgerichtig in die postulierte nachpaulinische Abfassungssituation ein, die eine Ordnung der Nachfolge Pauli nötig machte. Auffällig ist dabei, dass hier mit Ausnahme der Charakterisierung als - ! gerade nicht übernommene paulinische Begrifflichkeit, sondern Eigenschöpfungen des Autors zentral sind; die veränderte historische Situation erfordert folglich auch neue Antworten, die nicht allein aus der überlieferten Tradition heraus zu leisten sind.
152
In ähnlicher Weise spricht auch Pokorný im Blick auf die Mitarbeiternotizen des Kol von „epistolary apostolic succession“ (Pokorný, Petr: Colossians 1:1–8 and 4:7–18. The Bearers of Pauline Heritage. In: Standaert, Benoît (Hrsg.): „Le Christ tout et en tous“ (Col 3,11). L'épître aux Colossiens (= SMBen.BE 16). Rom: San-Paolo-fuori-le-Mura 2003, S. 121–133, hier S. 124).
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5) III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5)
Gegenüber dem Briefrahmen zeigt sich innerhalb der Passage der apostolischen Selbstcharakterisierung ein gänzlich anderes Bild, was die Berührungen mit den authentischen Paulinen betrifft. Wörtliche Übereinstimmungen, die sich über längere Textabschnitte bzw. ganze Verse erstrecken, wie sie innerhalb des Briefrahmens verschiedentlich auszumachen waren, finden sich hier nicht bzw. beschränken sich auf formelle Briefelemente. Dies trägt zum einen der Tatsache Rechnung, dass der epistolographisch stark schematische Charakter von Briefanfang und Briefschluss hier einem Textbereich weicht, der weit weniger durch formelhafte Elemente vorgeprägt ist. Zum anderen spiegelt die kreative Eigentätigkeit des Verfassers hier jedoch auch schlüssig die veränderte Ausgangssituation wieder: An die Stelle der paulinischen Selbstempfehlungen und Berichterstattungen ist eine postpaulinische Reflexion von Person und Rolle des Apostels getreten, die nicht nur die Form einer fiktiven Selbstaussage, sondern auch – vor dem Hintergrund des Todes Pauli – einer fiktiven Antizipation des eigenen Todes annehmen muss. Eine weitere deutliche Abweichung von den Rahmenpassagen zeigt sich in der Distribution der Berührungen mit den authentischen Paulinen. Trotz der fiktiven Gefangenschaftssituation, die in diesem Abschnitt prägend ist, spielt der Philemonbrief, der innerhalb des Briefrahmens noch als „primary model“ fungierte, hier faktisch keine Rolle mehr – die lexikalischen und motivischen Übereinstimmungen konzentrieren sich deutlich auf Römer-, Philipper- und 1. Korintherbrief, die hier offenbar geeignetere Vorlagen bildeten als der auf einen konkreten Anlass bezogene und primär an eine Einzelperson gerichtete Philemonbrief. Dagegen durchzieht die anhand des Briefrahmens aufgewiesene Vorgehensweise, Eigenformulierungen aus vorhergehenden Abschnitten wiederaufzugreifen, als Strukturmerkmal auch die apostolische Selbstcharakterisierung, deren Formulierungen wiederum (wie im vorherigen Kapitel bereits dargelegt) innerhalb des Briefschlusses wiederaufgenommen werden. Hier jedoch wird diese textuelle Strategie vor allem auch zur Strukturierung der vorliegenden Passage eingesetzt: Die beiden Teilabschnitte 1,24– 29 und 2,1–5 werden jeweils durch Stichwort-Wiederaufnahmen inhaltlich
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5)
90
abgerundet. So umschließt das Leidensmotiv – als Charakterisierung der apostolischen Tätigkeit – den ersten Teilabschnitt (1,24; 1,29), während das .-Motiv – als Bild der apostolischen Präsenz – den Rahmen des zweiten Abschnitts bildet (2,1; 2,5). Die Verbindung zwischen beiden Abschnitten wird durch die Wiederaufnahme des Kampfmotives aus 1,29 in 2,1 und durch die Wiederholung der zentralen Motive , , aus dem ersten Teil (1,26f) im Rahmen der zweiten Abschnitts (2,2f) vollzogen:1 1,24 1,26
Leidensmotiv +
1,27 1,29
Leidensmotiv
2,1 2,2
.-Motiv
2,3 2,5
.-Motiv
+ Kampf-Motiv Kampf-Motiv
+
+
1. Verkündigungstätigkeit und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29) 1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29) Die betonte Hervorhebung und autoritative Unterstreichung der eigenen Person mit 2 in Kol 1,23b findet sich mehrfach in den authentischen Paulinen (2 Kor 10,1; Gal 5,2; Phlm 19; 1 Thess 2,18), wohingegen die Selbstbezeichnung als - insofern vom Schema der Paulinen abweicht, als sie dort grundsätzlich als Pluralformulierung zur Charakterisierung des Paulus und seiner Mitarbeiter verwendet wird.2 Die singuläre Zuweisung3 dieser Prädikation an Paulus ist somit ein Spezifikum des Kolos-
1
Vgl. dazu auch Wilson, Walter T.: The Hope of Glory. Education and Exhortation in the Epistle to the Colossians (= NT.S 88). Leiden u.a.: Brill 1999, S. 240f; ähnlich auch Dunn, Colossians, S. 128. 2 So findet sich in Röm 15,15 zwar die vergleichbare Formulierung ! , die - -Prädikation hingegen tritt bei der Beschreibung der Tätigkeit des Apostels ausschließlich in pluralischer Form auf, die die Tätigkeit der Mitarbeiter einschließt (1 Kor 3,5; 2 Kor 6,4; 3,6). Siehe auch Lohse, Kolosser, S, 110, sowie Ludwig, Kolosserbrief, S. 85. 3 Die Singularität bezieht sich hier auf die (grammatische) Singularform - , nicht auf eine exklusive titulare Verwendung. Innerhalb der Personalnotizen des Brief-
1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29)
91
serbriefes, das möglicherweise durch die paulinische Selbstaussage in 2 Kor 11,23 angeregt sein könnte, die in ihrer Leidens- und Gefangenschaftsmotivik sowohl der fiktiven Situierung des Kol als auch der anschließenden Leidensthematik des Folgeverses (V24) entspricht:4 2 Kor 11,23:
- ! ; 5 ) ,
Für ein abmilderndes , wie es in 2 Kor 11,23 eine gewisse Selbstrücknahme signalisiert, besteht im Kolosserbrief hingegen keine Veranlassung mehr – an der besonderen Dienerschaft des Paulus besteht für den Verfasser kein Zweifel. Dementsprechend zeigen beide Elemente dieses ersten (Teil-) Verses bereits eine starke Fokussierung auf die Person des Apostels, die richtungsweisend für den gesamten folgenden Abschnitt ist,5 in den der Teilvers 1,23b insofern strukturell integriert ist, als hier einerseits der deutliche Wechsel der Blickrichtung auf die Person des Apostels hin erfolgt,6 und andererseits mit der Prädikation - ein Element eingeführt wird, das später in 1,25 wiederaufgegriffen wird. Kol 1,23b markiert somit deutlich den Beginn der brieflichen Selbstvorstellung, die sich als fester Brieftopos in allen authentischen Paulinen findet7 und darauf abzielt, „den von der Gemeinde entfernten Briefautor und sein Anliegen unter den Adressaten präsent werden zu lassen und ein Vertrauensverhältnis herzustellen [...]. Dies gilt natürlich besonders dann, wenn sich Briefschreiber und Leser überhaupt noch nicht persönlich kennen, wie es im Röm und Kol der Fall ist.“8 Jene Sicherstellung der Vertrauens- und zugleich Autoritätsbasis als Grundlage des apostolischen Schreibens scheint nun auch für den Autor des Kolosserbriefes im Vordergrund der apostolischen ‚Selbst‘-Charakterisierung zu stehen – auf das einleitende pointierte 2 und die singuläre Selbstprädikation als
rahmens wird die Bezeichnung - auch auf Epaphras und Tychikus übertragen (Kol 1,7; 4,7). 4 Vgl. Luz, Kolosser, S. 209. 5 Siehe auch Lohse, Kolosser, S. 110. 6 An diesem Perspektivwechsel machen auch Schnider / Stenger den Einsatz der Selbstvorstellung bereits innerhalb von Kol 1,23 fest, wenngleich das gänzliche Fehlen einer Eröffungsformel die Abgrenzung von der Danksagung, zumal auch „wegen ihrer ungewöhnlichen Ausdehnung“, schwierig mache (Schnider/Stenger, Briefformular, S. 60). 7 Zum Überblick über die Selbstvorstellungen in den authentischen Paulinen siehe ebd., S. 54. 8 Wolter, Kolosser, S. 98; ähnlich auch Lohse, Kolosser, S. 112. Vgl. auch Betz, Colossians, S. 514.
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5)
92
- C folgt direkt daran anschließend eine beispiellose Charakterisierung des Paulus als ‚Stellvertreter‘ Christi, der in den Leiden, die er an seinem eigenen Leib erfährt, das ergänzt, was an den Leiden Christi „noch fehlt“: ,' ! (1,24). Mit dieser ‚kühnen Aussage‘ (Gnilka)10 bereitet Kol 1,24 die größten Probleme in der Exegese dieser Passage; entsprechend wird Kol 1,24 im Epheserbrief auch in deutlich abgeschwächter Form rezipiert bzw. reproduziert (vgl. Eph 3,13). Verschiedene Versuche, die Aussage, dass an den Leiden Christi etwas ‚mangele‘, zu entschärfen, verbleiben weitgehend unbefriedigend und können die Brisanz dieser Aussage kaum aufheben. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen satisfaktorischem Leiden und ädifikatorischem Leiden bei Lightfoot,11 haben sich verschiedene Interpretationsrichtungen entwickelt, die das ‚fehlende‘ Leid (und die Rolle des Apostels in diesem Ergänzungsprozess) in unterschiedlicher Weise theologisch aufzuschlüsseln versuchen. 12 Neben der grundsätzlichen Bestreitung, dass hier überhaupt eine Ergänzungsbedürftigkeit zum Ausdruck gebracht werde, sondern vielmehr hier der Apostel als Repräsentant Christi für die Gemeinde vorgestellt werde und als solcher im Sinne der Imitatio Christi an dessen Schicksal partizipiere (Nachfolge-Lesart),13 werden die ‚Leiden Christi‘ auch häufig als 9
Entsprechend konstatiert auch Leppä hier eine autoritative Lesart: „Thus the choice of wording 2 - seems to be a formulation of A/Col which he, as a later writer, uses in order to emphasize the authority of Paul“ (Leppä, Colossians, S. 148), und White stellt heraus, dass das betonte 2 als „signature phrase“ auch in den authentischen Paulinen grundsätzlich der Autoritätsunterstreichung dient und die apostolische Autorität des Schreibens hervorheben soll (White, Epistolography, S. 1746). 10 Gnilka, Paulusbild, S. 190. 11 Siehe Lightfoot, Joseph Barber: Saint Paul’s Epistles to the Colossians and to Philemon (= The Epistles of Saint Paul 3). London: Macmillian 1904, S. 164. 12 Zu einem Überblick über die verschiedenen Interpretationsansätze vgl. u.a. Wolter, Kolosser, S. 100f und Pokorný, Kolosser, S. 81f, sowie Flemington, W.F.: On the Interpretation of Colossians 1:24. In: Horbury, William / McNeil, Brian (Hrsg.): Suffering and Martyrdom in the New Testament. FS G.M. Styler. Cambridge u.a.: University Press 1981, S. 84–90, hier S. 84–86, und Kremer, Jacob: Was an den Leiden Christi noch mangelt. Eine interpretationsgeschichtliche und exegetische Untersuchung zu Kol 1,24b (= BBB 12). Bonn: Peter Hanstein Verlag 1956, S. 2, ferner auch Gnilka, Paulusbild, S. 191f und Standhartinger, Kolosserbrief, S. 164f, sowie den rezeptionsgeschichtlichen Überblick bei Kremer, Leiden Christi, S. 2–154. 13 Vgl. Hoppe, Kolosserbrief, S. 120, sowie Flemington, Interpretation, S. 89. Eine Variante des Imitatio-Ansatzes vertritt in jüngster Zeit Sumney, der Kol 1,24 im Lichte antiker Exempla-Konzepte deutet und die Leiden des Apostels als exemplarisches Modell der Leidensbereitschaft im Sinne eines Vorbildes zur imitatio betrachtet, das unmittelbar auf die Adressaten des Schreibens ziele – „it gives them an immediate example to imitate.“ (Sumney, Jerry L.: „I Fill Up What Is Lacking in the Afflictions of Christ“: Paul’s Vicarious Suffering in Colossians. In: CBQ 68 / 2006, S. 664–680, hier S. 672; vgl. auch ders.: The Function of Ethos in Colossians. In: Olbricht, Thomas H. / Eriksson,
1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29)
93
ekklesiologische Metapher der Leiden der Gesamtkirche (als Leib Christi) gedeutet, d.h. von der konkreten Passion Christi abstrahiert und als grundsätzliche Partizipation der gesamten Christenheit an Leib und Leiden Christi gewertet (ekklesiologische Lesart).14 Gleichsam eine Kombination beider Ansätze bildet die Auslegung von Kol 1,24 im Sinne eines Konzeptes messianischer Wehen, i.e. eines der Gesamtkirche vorherbestimmten Maßes endzeitlicher Leiden, das durch Paulus stellvertretend auf sich genommen werde (eschatologische Lesart).15 Gegen eine solche Auslegung des ‚Mangels‘ im Sinne eines zu erfüllenden eschatologischen Leidensmaßes der Gesamtkirche wendet Wolter hingegen zu Recht ein, dass dies das eigentliche Konzept messianischer Wehen geradezu umkehre, denn in der theologischen Reflexion von Leid „ist doch immer nur das gegebene Leiden der Gemeinde ein Problem, das theologisch zu bewältigen ist, nie das Fehlen von Leiden. Dies gilt auch für die Vorstellung vom eschatologischen Maß: Seine Funktion besteht immer nur darin, vorhandenes Leiden einsichtig zu machen und als begrenzt zu qualifizieren. Dieses Gefälle darf nicht dahingehend umgekehrt werden, daß jene Vorstellung nun ihrerseits Leidenserwartung erzeugt und ausbleibendes Leiden zu einem theologischen Problem macht.“16 Doch auch Wolters Auflösungsversuch, in der parallelistischen Struktur von und 0
den Schlüssel zu einer quantitativen Interpretation festzumachen, vermag nicht zu überzeugen: „Diese steigernde Ausweitung der ekklesiologischen Perspektive von der ersten zur zweiten Vershälfte kann auf die Leidensaussagen übertragen werden, wobei die Differenz zwischen der Ortsgemeinde und der universalen Kirche dem entspricht, was als ‚Mangel der Drangsale Christi‘ gekennzeichnet ist: Mit den ‚Leiden für euch‘ (die Ortsgemeinde) hat der Apostel die ‚Drangsale Christi‘ noch nicht vollständig durchlitten, das verbleibende Defizit füllt er aber auf [...] in seinem missionarischen Einsatz für die universale Kirche. Anders [Hrsg.]: Rhetoric, Ethic, and Moral Persuasion in Biblical Discourse. Essays from the 2002 Heidelberg Conference [= Emory Studies in Early Christianity]. New York / London: T&T Clark International 2005, S. 301–315, hier S. 310–315). 14 Vgl. Luz, Kolosser, S. 210. 15 Vgl. u.a. Lohse, Kolosser, S. 112–116, und Dibelius, Martin: An die Kolosser, Epheser, an Philemon (= HNT 12). Tübingen: Mohr Siebeck 31953, S. 23, sowie Bauckham, Richard J.: Colossians 1:24 again: The Apocalyptic Note. In: EvQ 47 / 1975, S. 168–170, und Ru, Gerrit de: Heeft het lijden van Christus aanvulling nodig? Onderzoek naar de interpretatie van Colossenzen 1:24 (= Ex. 6). Amsterdam: Bolland 1981, hier v.a. S. 90–101. Ähnlich auch Stettler; Hanna: An Interpretation of Colossians 1:24 in the Framework of Paul’s Mission Theology. In: Kvalbein, Hans / Ådna, Jostein (Hrsg.): The Mission of the Early Church to Jews and Gentiles (= WUNT 127). Tübingen: Mohr Siebeck 2000, S. 185–208, hier v.a. S. 202–204, sowie Veen, Wilken: Het Geheimenis: Christus onder de volkeren. Kolossenzen 1:24–2:3. In: Deurloo, Karel / Steen, Freek van der (Hrsg.): Kolossenzen (= Verklaring van een Bijbelgedeelte). Kampen: Kok 1999, S. 42–48, hier S. 43f. Siehe dazu ferner auch Löwe, Hartmut: Bekenntnis, Apostelamt und Kirche im Kolosserbrief. In: Lührmann, Dieter / Strecker, Georg: Kirche. FS Günther Bornkamm. Tübingen: Mohr Siebeck 1980, S. 299–314, hier S. 313. 16 Wolter, Kolosser, S. 101. Ähnlich kritisiert auch Kremer, dass eine solche „Vorstellung von einer im voraus festgesetzten Leidensmenge, die von der Kirche gemeinsam abgetragen werden muß und wo einer die Leidenslast des anderen stellvertretenderweise übernehmen kann“ weder paulinisch (vgl. 2 Kor 1,6!) noch neutestamentlich noch zeitgenössisch belegt sei, geschweige denn dem jüdischen Modell ‚messianischer Wehen‘ entspreche (Kremer, Leiden Christi, S. 198f).
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5)
94
Als Gen. partitivus [...] ist die Wendung ‚Mangel der Drangsale (Christi)‘ darum quantitativ aufzufassen: Wie die Ortskirche Teil der universalen Kirche, aber eben auch nur ein Teil ist, so sind auch die für sie erlittenen Leiden des Apostels Teil, aber eben auch nur ein Teil der ‚Drangsale Christi‘.“17 Trotz der Kritik an der Vorstellung eines eschatologischen Leidensmaßes der Gesamtkirche, da eine solche Auslegung „eigentlich nicht begründen kann, wieso an dieser Stelle auf einmal der kirchliche Leidensmangel zum Thema gemacht wird“, werden die ‚Leiden Christi‘ hier erneut als vordefiniertes gesamtkirchliches Leidensmaß begriffen und unterliegen somit letztlich derselben zuvor kritisierten „Schwäche der Argumentation“.18 Somit bleibt festzuhalten, dass Kol 1,24 ein Bild des Apostels mit christologischen Anklängen zeichnet, die „bis an die Grenze der Identifikation mit Christus gesteigert“19 sind und in den Leiden des Apostels gewissermaßen ein „mirror-image of the portrait of Christ“20 konstituieren, dessen augenscheinliche Brisanz und Uneindeutigkeit nicht einfach interpretativ getilgt werden kann. Wenn man Kol 1,24 (und insbesondere auch seiner zeitgenössischen Erstrezeption) adäquat Rechnung tragen will, kommt man – bei aller theologischen Schwierigkeit der Aussage, dass an den Leiden Christi etwas ‚fehlen‘ könne und durch Paulus zu ergänzen sei – nicht umhin, sich der Tatsache zu stellen, dass dieser „erste Eindruck, den diese Worte bei den meisten Lesern hinterlassen, aus dem ganzen Vers heraus notwendig nahegelegt wird, also offensichtlich [...] beabsichtigt war.“21
Trotz der Anstößigkeit und Analogielosigkeit dieser Aussage bedient sich Kol 1,24, formal betrachtet, in der Ausgestaltung des Leid-Motives dennoch gängiger Elemente apostolischer Selbstcharakterisierung, die sich bei Paulus vielfach finden,22 dort jedoch ausschließlich in der Korrespondenz mit denjenigen Gemeinden, mit denen den Apostel eine persönliche Bekanntschaft verbindet – eine Voraussetzung, die in Kol nicht gegeben ist: – – – –
Verknüpfung von Freude und Bedrängnis:23 Freude am eigenen Leid:24 Leiden : Vergleich eigener Leiden mit Leiden Christi:
17
Phil 1,17f Phil 1,18; 2,17f; 2 Kor 5,6–8; 7,4; 13,9 2 Kor 1,6; 4,8–15; 12,15 2 Kor 1,5; 4,10; Gal 6,17; Phil 1,12–30; 3,10
Wolter, Kolosser, S. 101f. Siehe auch ders.: Kolosser 1,24–2,23 (3,4). In: Standaert, Colossiens, S. 29–68, hier S. 45. 18 Wolter, Kolosser, S. 101. 19 Hoppe, Kolosserbrief, S. 120f, sowie ders., Paulus, S. 38f; ähnlich auch Schille, Paulus-Bild, S. 60. 20 Betz, Colossians, S. 516. 21 Kremer, Leiden Christi, S. 202. 22 Vgl. auch Luz, Kolosser, S. 209f, und Wolter, Kolosser, S. 99f, sowie ders., Kolosser 1,24–2,23, S. 40. Siehe ferner auch Hoppe, Kolosserbrief, S. 120, und Gnilka, Paulusbild, S. 191. 23 Die Satzeinleitung findet sich darüber hinaus auch in 2 Kor 7,9; eine Verknüpfung von Freude und Bedrängnis begegnet auch in Röm 12,12, hier allerdings in abweichendem (paränetischem) Kontext. 24 Zum Topos des apostolischen Leidens in den Protopaulinen siehe insbesondere auch Wolter, Leidenstheologie, S. 535–557.
1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29) – Leid als Teil des apostolischen Auftrags:
95
1 Kor 2,3; 4,9–13; 2 Kor 4,7–11; 11,16–12,20; Gal 5,11; Phil 1,12–30; 1 Thess 2,2; Phlm 13
Auch das (stellvertretende) Erfüllen oder Aus-Füllen eines Mangels findet sich in der Lexemkombination ( -) bzw. mehrfach in den Paulusbriefen (Phil 2,30; 2 Kor 11,9; 9,12; 1 Kor 16,17), wobei die Präfigierung mit - eine Wortschöpfung des Verfassers ist, die keine Parallelen in den authentischen Paulinen kennt.25 In seiner detaillierten Arbeit zu Kol 1,24 konnte Kremer anhand außerbiblischen Vergleichsmaterials überzeugend aufzeigen, dass in dieser Derivation vor allem die Wechselseitigkeit des bezeichneten Geschehens, das stellvertretende Ersetzen des Fehlenden hervorgehoben wird; eine Bedeutungskomponente, die den meisten Versuchen, diese Aussage exegetisch zu entschärfen, gleichsam den semantischen Boden entzieht, denn „dann dürfen unter den ‚Bedrängnissen Christi‘ nicht die noch fehlenden Leiden des Apostels, sondern nur die noch mangelnden (zu ersetzenden) Bedrängnisse einer anderen Person (also Christi) verstanden werden.“26 Auf einen ähnlichen Befund deutet auch die paulinische Parallele in Phil 2,30, wo die personale Bezugsgröße der Stellvertretung – in diesem Fall Epaphroditos – wie auch des zu Ersetzenden expliziert ist:27 Phil 2,30:
0
Kol 1,24:
,' !
Die unterschiedlichen Bezugspunkte der Formulierungen sind deutlich: Epaphroditos ersetzt das der Gemeinde ( ) Fehlende des Dienstes für Paulus ( ), wohingegen in Kol 1,24 dieses Stellvertreter-Verhältnis auf die Relation Paulus – Christus übertragen wird. Aufgrund des parallelen Kontextes, Leid und Todesgefahr als Bestandteil missionarischer Tätigkeit (- ! , – Phil 2,30), und der lexikalischen Übereinstimmungen ist davon auszugehen, dass Phil 2,30 hier tatsächlich die literarische Vorlage für Kol 1,24 bildet, die der Autor des Kolosserbriefes – in seiner Lesart der paulinischen Leidensaussagen – 25
Siehe auch Gnilka, Paulusbild, S. 191. Vgl. Kremer, Leiden Christi, S. 156–161 (Zitat S. 161; kursive Hervorhebung: N.F.). Im Gegensatz zu seiner Untersuchung von 1956 berücksichtigt Kremer in einer 2001 erarbeiteten Neubewertung die Pseudonymität des Schreibens und sieht angesichts dieser neuen Perspektive jenen Stellvertretungsgedanken schlüssig in der pseudepigraphen Abfassungssituation verankert, innerhalb derer die Aussage von Kol 1,24 einem pseudopaulinischen Verfasser dazu dient, „seiner Hochschätzung des Apostels Ausdruck zu geben und dessen Autorität zu unterstreichen.“ (Kremer, Jacob: Was an den Bedrängnissen des Christus mangelt. Versuch einer bibeltheologischen Neuinterpretation von Kol 1,24. In: Bib 82 / 2001, S. 130–146, hier S. 144). 27 Vgl. auch Stettler, Colossians 1:24, S. 188. 26
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5)
96
zu einer allgemeinen Aussage über Rolle und Funktion des Apostels macht.28 Dabei schließt der Kolosserbrief jedoch durchaus auch an paulinische Aussagen zur eigenen apostolischen Rolle an, die eine solche ‚christologische‘ Ausdeutung zumindest nicht ausschließen.29 So reklamiert Paulus nicht nur eine vergleichbare Stellvertretungsfunktion für sich, i.e. dass Christus durch ihn spreche ( ! – 2 Kor 13,3) bzw. Paulus als Gesandter „an Christi Statt“ wirke ( ! – 2 Kor 5,20),30 sondern verweist auch mehrfach auf eine körperliche Komponente dieser Repräsentationsrolle, indem er die Stigmata Christi an seinem Leib trage ( " ) – Gal 6,17; vgl. auch 2 Kor 4,10) und Christus durch seinen Leib verherrlicht werde (, ! – Phil 1,20). Vor diesem Hintergrund kann der hier vollzogene Transfer von der Stellvertretungsaussage in Phil 2,30 zu der christologischen Interpretation der Leiden des Apostels in Kol 1,24 durchaus als interpretative Fortführung von Ansätzen verstanden werden, die in den Selbstaussagen der authentischen Paulinen bereits grundgelegt sind,31 und nun durch einen nach28
Aufgrund der kontextuellen Ähnlichkeit wertet auch Leppä Phil 2,30 hier als mögliche literarische Vorlage, verkennt aber den bewussten Transfer des Stellvertreter- und Dienstverhältnisses, das Paulus hier in der Konstellation ‚Apostel‘-‚Mitarbeiter‘-‚Gemeinde‘ ausdifferenziert, auf die Ebene (heilswirksamen) Martyriums: „The detail that Col 1:24 does not portray the same person as Phil 2:30 does not prevent the literary dependence between the texts, because it is typical of a later writer to use phrases and words in a new sense from the text imitated.“ (Leppä, Colossians, S. 150). 29 Siehe auch Gnilka, Paulusbild, S. 191. 30 In 2 Kor 5,20 erfolgt diese Stellvertretungsaussage allerdings in inklusiver Sprechweise (1. Person Plural) und somit nicht exklusiv auf die eigene apostolische Tätigkeit bezogen: 6D ! A ) , - 5 -, ! , 1 , ! 31 In anderer Hinsicht hingegen steht diese Ausdeutung sowohl den christologischen Aussagen der Protopaulinen als auch den paulinischen Selbstaussagen, in denen die eigene Rolle relativiert wird (vgl. Kor 15,9; 1 Thess 3,3; Röm 8,17; Phil 1,30; Gal 2,8), diametral entgegen. Die bei Paulus nachdrücklich betonte Absolutheit und Uneinholbarkeit des Kreuzestodes Christi (vgl. Röm 8,1–3; 3,24f; 5,18f; 2 Kor 5,17–19) lässt sich ebenso schwer mit der Aussage vereinen, dass an den Leiden Christi irgendeine Ergänzungsbedürftigkeit bestünde, wie die stellvertretende Funktion des Apostels in diesem Ergänzungshandeln mit den Selbstaussagen des Paulus, „der sich als den geringsten der Apostel bezeichnet, das Leiden als das allgemeine Los der Christenheit hinstellt, und der sich selbst die Heidenpredigt nicht als ausschließliches Privileg vorbehält“ (Kremer, Leiden Christi, S. 162). Die Möglichkeit, das eigene Martyrium als ‚Ergänzung‘ der Leiden Christi zu betrachten, wird insbesondere durch die rhetorische Frage 2 , ; in 1 Kor 1,13 scheinbar kategorisch ausgeschlossen. Doch auch innerhalb des Kolosserbriefes steht diese Vorstellung in textimmanenter Spannung zur Christozentrik und präsentischen Heilsvorstellung des Hymnus (1,15–20) sowie dessen Wiederaufnahmen in 2,9–15 (vgl. dazu auch Kremer, Leiden Christi, S. 2, sowie Hoppe,
1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29)
97
paulinischen Autor eine „Relecture [...] im Lichte des paulinischen Todes“ erfahren.32 In ähnlicher Form findet sich die Verknüpfung eigener Bedrängnisse mit den Leiden Christi auch in 2 Kor 1,5f, wobei die Zuordnung hier umgekehrt fungiert:33 Kol 1,24:
, ,
+
, ,' !
2 Kor 1,5f:
, !
+
-,) ,) ,
Diese Verschiebung der Zuordnung entspricht dem allgemeinen Befund der Verwendung von , ' und , in den authentischen Paulinen: , ' begegnet nur im Kontext der Leiden Pauli (Röm 5,3; 8,35; 2 Kor 1,4.8; 2,4; 4,17; 6,4; 7,4; Phil 4,14), während die Leiden Christi als , bezeichnet werden (2 Kor 1,5; Phil 3,10).34 Insofern nimmt der Autor hier eine deutliche Neuakzentuierung vor, die die Differenzierung zwischen den jesuanischen Leiden und den Leiden in der Nachfolge Christi – zumindest in begrifflicher Hinsicht – aufhebt. Auch diese Umkodierung von , ' und , kann als Indiz für eine tatsächlich intendierte Stellvertretungslesart von Kol 1,24 gewertet werden. Der ‚ekklesiologische Nachsatz‘ 0
, in dem durch die doppelte Leibmotivik .– eine Parallelität zwischen dem Leib Pauli ( ) und dem Leib Christi aufgebaut wird ( 0
), nimmt zwar ebenfalls paulinische Motivik auf, so insbesondere die Formel (Röm 7,18; Gal 4,14; ähnlich auch 2 Kor 4,11) bzw. die Verknüpfung von . und , ' (1 Kor 7,28), doch weit prägnanter ist hier die nahezu wörtliche Wiederaufnahme der christologisch-ekklesiologischen Pointe des Christushymnus:35
Kolosserbrief, S. 120, Flemington, Interpretation, S. 84–89, Luz, Kolosser, S. 210, und Pokorný, Kolosser, S. 80). 32 So Wolter, Kolosser 1,24–2,23, S. 46, im Blick auf die Leidensdeutung in 2 Kor 4,10–12 (s.o.) und deren inhaltliche Nähe zu Kol 1,24. 33 Vgl. auch Leppä, Colossians, S. 150f. 34 Siehe auch ebd., S. 150, sowie Gnilka, Paulusbild, S. 190f, und Pokorný, Kolosser, S. 81. Allerdings findet sich mit Röm 8,17f auch ein Einzelbeleg für die Adaption der , in der Nachfolge Christi ( ! ). 35 Siehe auch Lohse, Kolosser, S. 117, sowie Gnilka, Paulusbild, S. 186. Leppä konstatiert die Parallelität zu Kol 1,18 zwar auch, sieht hier jedoch vor allem eine Konflation aus 2 Kor 1,5; 1 Kor 7,28 und Röm 7,5 vorliegen (vgl. Leppä, Colossians, S. 151); eine Annahme, die angesichts des gänzlich unterschiedlichen inhaltlichen Kontextes bei Röm 7,5 und 1 Kor 7,28 (Eheparänese) m.E. nicht haltbar ist, da alle drei Termini (, , , ' und .) hier in einer gänzlich anderen – sexuell konnotierten – Bedeutung verwendet werden.
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5)
98 Kol 1,24:
0
Kol 1,18:
Dies ist insofern bemerkenswert, als durch die ekklesiologische Zielbestimmung 0
die vorherige Präpositionalangabe ergänzt wird; eine Differenzierung, die sich in dieser Form bei Paulus nicht findet. Betrachtet man die Formulierung nicht als tautologisch, sondern als tatsächliche Unterscheidung zweier distinkter Aspekte, wie dies bei Wolter nahegelegt wird, so geht diese Differenzierung faktisch „über die Ekklesiologie des Paulus hinaus, dem schon immer die einzelne Ortsgemeinde als Leib Christi und Ekklesia galt“;36 ein Übergang, der nach Wolter in der spezifischen Absender-Adressaten-Konstellation des Schreibens begründet ist: „Dieser ausdrückliche Übergang von der universal- zur individual-ekklesiologischen Zuordnung der paulinischen Sendung hängt damit zusammen, daß die Adressatengemeinde nicht von Paulus gegründet ist: Aus dem universalen Horizont des paulinischen Amtsauftrags wird ein Autoritätsanspruch des Apostels auch für die ihm persönlich unbekannte Gemeinde in Kolossae abgeleitet, und diese wird damit in den paulinischen Zuständigkeitsbereich integriert.“37
Bezieht man die nachpaulinische Abfassungssituation in diese Überlegungen mit ein, so kann diese Entwicklung auch als Reflex auf das gänzliche Wegfallen der Möglichkeit persönlicher Bekanntschaft betrachtet werden, das für den Verfasser des Kolosserbriefes – und seine fiktive Adressatenschaft – die Notwendigkeit einer solchen universalen Ausweitung des apostolischen Zuständigkeitsbereiches mit sich bringt. In diesem Sinne betrachtet auch Pokorný das in Kol 1,24 gezeichnete Paulusbild als nachpaulinische Unterstreichung der apostolischen Autorität, um deren ‚Richtlinienkompetenz‘ fortzuschreiben: „Weil er nicht anwesend ist, ist es wahrscheinlich, daß die Aussage gleichzeitig die Abwesenheit des (vielleicht schon nicht mehr lebenden) Apostels erklären und seine Autorität stützen soll.“38 „Die Hervorhebung des Apostels funktioniert hier also als eine Sicherung und ‚Erdung‘ der christlichen Verkündigung, die sie vor ‚vagabundierenden Strömen‘ der Schwächung und Verfälschung schützen soll. [...] Die notwendige institutionelle Kontrolle hat hier ihr Instrument in einer konkreten Tradition der apostolischen Lehre“.39
36
Wolter, Kolosser, S. 101. Ebd., S. 103. 38 Pokorný, Kolosser, S. 82; ähnlich auch Hoppe, Kolosserbrief, S. 121, und Löwe, Kolosserbrief, S. 313f, sowie Leppä, Colossians, S. 151, und Betz, Colossians, S. 515f. Vgl. auch Kremer, Neuinterpretation, S. 144. 39 Pokorný, Kolosser, S. 85. 37
1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29)
99
In Kol 1,25 erfolgt die eigentliche apostolische Legitimation, der Verweis auf das gottgegebene Amt des Apostels: , -, . Die Modifikation, die der Autor des Kolosserbriefes gegenüber entsprechenden Bevollmächtigungsaussagen bei Paulus selbst vollzieht, ist deutlich – an die Stelle der Gnade Gottes tritt der institutionelle Begriff des Amtes ( ):40 Kol 1,25:
, -,
1 Kor 3,10:
, -,
Mit Ausnahme des Präpositionalobjekts (Gnade vs. Amt) sind die Formulierungen von Kol 1,25 und 1 Kor 3,10 exakt identisch; mit leichten Formulierungsvarianten findet sich jene Formel in den authentischen Paulinen in einer solchen Häufigkeit (1 Kor 4,1; 2 Kor 8,1; Gal 2,9; Röm 12,3; 12,6; 15,15), dass hier tatsächlich von der bewussten Adaption eines paulinischen Musters ausgegangen werden muss, das der Verfasser gezielt in eine amtstheologische Aussage transformiert. Entsprechend betrachtet auch Wolter diese „institutionalisierende Tendenz“, als bewusste Neuakzentuierung durch den Autor des Kolosserbriefes, der hier „in begrifflicher Zuspitzung“ das Selbstverständnis des Apostels, das bei Paulus „eher mit funktionalen Kategorien näher bestimmt“ werde, in die zeitgenössische „Terminologie hellenistischer Verwaltungssprache“ übertrage.41 In ähnlicher – wenngleich nicht institutionalisierter Form – tritt auch in 2 Kor 13,10 der Aspekt der (Amts-) Vollmacht an die Stelle der Gnade als Gottesgabe: . 4 - . Als Vorbild der Alternation von Gnade und Amt als Objekte gottgegebener Zuweisung könnte zudem Röm 1,5 gedient haben, wo die Aspekte Gnade und (Apostel-) Amt parallelisiert erscheinen: [- ! ] ) .42 Mit der erneuten Prädikation als - wird die entsprechende Formulierung aus 1,23 wiederaufgegriffen43 und hier nun in den deutlichen Kontext eines kirchlichen Amtes gestellt ( ). Dass der Verfasser dabei eine von der paulinischen Begriffsverwendung abweichende Singularformulierung dieser (Amts-) Bezeichnung wählt, wurde anhand 40 Siehe auch Lohse, Kolosser, S. 117, sowie Ludwig, Kolosserbrief, S. 86, und Gnilka, Paulusbild, S. 186f. Der hier vorliegende paulinisch geprägte Begriffsgebrauch der (vgl. 1 Kor 4,1; 9,17) ist dabei klar zu unterscheiden von der antiken Oikonomia-Tradition im Blick auf die haushaltlichen Pflichten, die für die Haustafel des Kolosserbriefes formgebend ist (siehe dazu Kapitel V.3.a dieser Arbeit). 41 Wolter, Kolosser, S. 102f; ähnlich auch Leppä, Colossians, S. 153, und Schweizer, Kolosser, S. 86. 42 Vgl. Wolter, Kolosser, S. 102f. 43 Siehe auch Leppä, Colossians, S. 152, sowie Wolter, Kolosser, S. 102.
100
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5)
von V23 bereits aufgewiesen; hier fügt sich dieser Befund schlüssig in die amtstheologische Modifikation der Bevollmächtigungsaussage ein. Den wesentlichen Unterschied zwischen den ansonsten wörtlich übereinstimmenden - -Aussagen von V23 und V25 bildet die je unterschiedliche Bezugsgröße der paulinischen Dienerschaft: Kol 1,23:
[...]
+ 2 -
Kol 1,24f:
+
-
Diese doppelte Dienerschaft präzisiert den Aufgabenbereich des apostolischen Amtes in zweifacher Hinsicht – Dienst am Evangelium als Grundlage des christlichen Glaubens und Dienst an der Kirche als Gemeinschaft dieses Glaubens.44 Eine solche strukturelle Zweiteilung dienenden Wirkens – in Kombination mit dem Aspekt gottgegebener Beauftragung und der Prädikation als - – findet sich auch in 1 Kor 3,5f: - -+ - 1 & .45 Während hier jedoch unterschiedliche Aufgaben der - auf unterschiedliche Träger verteilt sind, vereint der Autor des Kolosserbriefes die Fülle dieses Amtes in der Person des Paulus und weist diesem eine - zu, die sich sowohl auf den Dienst am Evangelium als auch den Dienst an der Kirche erstreckt. Dass beide Aspekte faktisch allerdings nicht trennbar sind und im Wirken des Apostels notwendigerweise vereint werden, zeigt der folgende finale Nachsatz, der erneut die Verkündigung des Gotteswortes als integralen Bestandteil und genuinen Zweck dieser Dienerschaft an der Kirche betont: , . Da auch in Röm 15 im unmittelbaren Zusammenhang der Bevollmächtigungsaussage - -, (Röm 15,15) und der Eigenprädikation als ‚Diener‘ (hier in der lexikalischen Variante ! – Röm 15,16) die vergleichbare Formulierung ! begegnet (Röm 15,19), erscheint es möglich, dass der Verfasser sich hier in der Charakterisierung des apostolischen Dienstes bewusst an Röm 15 anlehnt – zumal die lexikalische Alternation von , und ein Charakteristikum des Kolosserbriefes bildet.46
44
Vgl. auch Wolter, Kolosser, S. 102, sowie Merklein, Rezeption, S. 30, der hier eine deuteropaulinische Akzentverschiebung ausmacht, die Paulus rückblickend stärker in seiner Rolle als Missionar und Gemeindegründer reflektiere: „Die dezidiert christologische Relation des paulinischen Apostolats wird eingebunden in die missiologische bzw. ekklesiologische Reflexion.“ (ebd.). 45 Siehe auch Wolter, Kolosser, S. 102. 46 So finden sich innerhalb des Kolosserbriefes nur zwei Belege für (1,5.23); ansonsten dominiert die Rede vom oder , bzw. !
1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29)
101
Dennoch ist die Paulusprädikation als „Diener der Kirche“ neutestamentlich singulär und zeigt – im Verband mit der amtstheologisch modifizierten Bevollmächtigungsaussage , -, – somit hier eine erste „notion of apostolic church-foundation or succession“ (Barclay), 47 indem die Funktion des Apostels für die Kirche in Kategorien des Amtes und Dienstes expliziert wird.48 Kol 1,26 schließt an den Nachsatz des vorhergehenden Verses an und präzisiert das zu vollendende Gotteswort ( , ) unter Rückgriff auf das paulinische Revelationsschema als in Ewigkeiten verborgenes Mysterion ( ), das nun den Heiligen Gottes offenbart wurde ( - , ).49 Die Begriffsprägung des „Revelationsschemas“ geht auf Nils Alstrup Dahl zurück, der anhand der für diese Formel konstitutiven Struktur des von Ewigkeit an vorhandenen und nun geoffenbarten Geheimnisses 1 Kor 2,6ff; Kol 1,26f; Eph 3,4ff und Röm 16,25f als typische Form des paulinischen Revelationsschemas ausweist.50 Und in der Tat sind die lexikali(Kol 1,5.26.27; 2,2; 3,16; 4,3). Siehe dazu auch Merklein, Rezeption, S. 29f, sowie Pokorný, Kolosser, S. 85f, und Wolter, Kolosser, S. 103. 47 Barclay, Colossians, S. 27. 48 Siehe auch Gnilka, Paulusbild, S. 186f, sowie Lohse, Kolosser, S. 110, und Kiley, Colossians, S. 60. 49 Vgl. dazu u.a. auch Luz, Kolosser, S. 209, und Lohse, Kolosser, S. 120. Inwieweit hier hingegen zugleich ein Rückverweis auf den Christushymnus von Kol 1,15–20 (im Sinne der Enthüllung des Geheimnisses Christi) zu sehen ist, wie Schenk mutmaßt (vgl. Schenk, Wolfgang: Christus, das Geheimnis der Welt, als dogmatisches und ethisches Grundprinzip des Kolosser. In: EvTh 43 / 1983, S. 138–155, hier v.a. S. 147), erscheint m.E. fraglich, denn im Gegensatz zu späteren Textpassagen, bei denen deutlich auf die Bildlichkeit des Hymnus zurückgegriffen wird (so insbesondere in Kol 2,9–15; siehe dazu Kapitel IV.2. dieser Arbeit), finden sich in Kol 1,26f keinerlei motivische Anklänge des Hymnus. 50 Vgl. Dahl, Nils Alstrup: Formgeschichtliche Beobachtungen zur Christusverkündigung in der Gemeindepredigt. In: Eltester, Walther (Hrsg.): Neutestamentliche Studien für Rudolf Bultmann (= BZNW 21). Berlin: de Gruyter 21957, S. 3–9, hier S. 4f. Eine weitere Präzisierung der charakteristischen Formelemente des Revelationsschemas findet sich bei Berger, der vier konstitutive Elemente unterscheidet: das verborgene Geheimnis, die Zeit des Verborgenseins (von Ewigkeiten an), die jetzige Enthüllung und die Adressaten dieser Enthüllung (ausgewählte Offenbarungsträger); vgl. Berger, Klaus: Formen und Gattungen im Neuen Testament (= UTB.W 2532). Tübingen: Narr 2005, S. 327. Grundsätzliche Kritik an der Annahme eines distinktiven Formschemas übt Bockmuehl, der aufgrund der vorliegenden Formulierungsvarianten keine feste Form eines Revelationsschemas gegeben sieht (vgl. Bockmuehl, Revelation, S. 208–210); eine solche Form gattungstheoretischer Fundamentalkritik schlösse jedoch in letzter Konsequenz jegliche analytische Differenzierung von Textformen und Gattungszuweisungen methodisch aus.
102
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5)
schen Übereinstimmungen von Kol 1,26 mit seinen potentiellen paulinischen Prätexten so deutlich, dass tatsächlich von einer typischen und bereits weitgehend fixierten Formgebung eines vorgeprägten Schemas gesprochen werden kann:51 Kol 1,26:
- , [...]
Röm 16,25f:
, , - , -
1 Kor 2,7.10:
[...] - - - '
Neben der strukturellen Parallelität sind auch die lexikalischen Übereinstimmungen deutlich, wenngleich unterschiedlich verteilt: Während der Vordersatz die stärksten Übereinstimmungen mit 1 Kor 2,7 aufweist, erscheint der Nachsatz als chiastische Spiegelung des lexikalisch identischen Abschnitts von Röm 16,26. Während Röm 16,25–27 jedoch als nachpaulinisch betrachtet werden muss,52 und nach Leppä hier vielmehr Kol imitiert denn dessen Vorlage bildet,53 findet sich dieselbe Struktur auch in Röm 3,21 ( ); hier jedoch außerhalb des Revelati - [...] onsschemas im engen Sinn (siehe zur Kriteriologie Fußnote 50). Gegenüber der unbestritten paulinischen Formulierung von 1 Kor 2,6–10 fehlt, wie Wolter zu Recht herausstellt, in den nachpaulinischen Adaptionen des Schemas „die exklusive Bindung des Gegenübers von Verborgenheit und 51 Die traditionsgeschichtliche Herleitung dieses Schemas ist dabei umstritten. Ausgehend von einer mutmaßlich antignostischen Auseinandersetzung in Korinth wertet Lührmann das Revelationsschema von 1 Kor 2,6–10 als Adaption der „Predigtweise der korinthischen Gnostiker“ (Lührmann, Dieter: Das Offenbarungsverständnis bei Paulus und in paulinischen Gemeinden [= WMANT 16]. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1965, S. 114. Siehe auch ebd., S. 133–136), während Wolter aufgrund des Verweises auf die im Mysterion verborgene Weisheit Gottes (1 Kor 2,7: , ) einen weisheitlichen Ursprung annimmt (siehe Wolter, Revelationsschemas, S. 300). Berger hingegen sieht angesichts motivischer Parallelen im äthiopischen Henochbuch (äthHen 48,6f; 62,7) hier die mutmaßliche Vorlage des Revelationsschemas gegeben (vgl. Berger, Formen, S. 327). 52 Zur Textkritik von Röm 16,25–27 siehe u.a. Theobald, Michael: Der Römerbrief (= EdF 294). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 18f, und Balz, Horst: Art. Römerbrief. In: TRE 29 / 1998, S. 291–311, hier S. 292f; zur sprachlich-stilistischen Auffälligkeit der Schlussdoxologie von Röm 16 vgl. ferner auch Zeller, Dieter: Der Brief an die Römer (= RNT). Regensburg: Pustet 1985, S. 251. 53 Vgl. Leppä, Colossians, S. 161. Aufgrund der unklaren Datierungsverhältnisse verbleibt die Richtung einer möglichen literarischen Beziehung zwischen Kol 1,26 und Röm 16,25f jedoch letztlich spekulativ. So schließt etwa Sanders auch die Möglichkeit ein, dass die sekundäre Einfügung des Revelationsschemas von Röm 16,25–27 auf den Autor des Kolosserbriefes zurückgehen könnte (vgl. Sanders, Dependence, S. 40, hier Fußnote 25).
1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29)
103
Offenbarung an das Kreuz“.54 Darüber hinaus ist auffallend, dass die durchgängige Betonung des Jetzt der Offenbarung ( -) in den nachpaulinischen Revelationsformeln gerade keine Parallele in 1 Kor 2,6–10 findet;55 ebenso auch die direkte Bindung des Offenbarungsgeschehens an die Verkündigungstätigkeit des Apostels (Kol 1,25f; Röm 16,25). Entsprechend kann hier mit Lührmann eine deuteropaulinische Akzentverschiebung konstatiert werden, die das „Verständnis des apostolischen Amtes als Offenbarungsmittlerschaft“ in den Mittelpunkt stellt,56 und damit in nachpaulinischer Zeit Offenbarungsinhalt und -geschehen untrennbar an die apostolische Tradition rückbindet. Damit zeigt sich hier erneut jene Hervorhebung der autoritativen Rolle des Apostels, die für den gesamten Abschnitt Kol 1,23b–2,5 charakteristisch ist. Nimmt man Kol 1,25 und 26 als die zusammengehörige Einheit in den Blick, die sie in inhaltlicher und syntaktischer Hinsicht deutlich bilden,57 so zeigt sich dabei eine versübergreifende Stichwortverbindung mit der paulinischen Selbstprädikation von 1 Kor 4,1: Kol 1,25f:
54
- , [...] ,
Wolter, Revelationsschema, S. 305. Siehe zur konstitutiven Rolle der paulinischen Kreuzestheologie in 1 Kor 2,6ff insbesondere auch die Ausführungen Hoppes (Hoppe, Triumph, S. 64–99). 55 Teilt man die These Lührmanns, das gerade das Fehlen des in 1 Kor 2,6–10 als paulinische Korrektur der vorgegebenen Formel zu betrachten ist (vgl. Lührmann, Offenbarungsverständnis, S. 133–136), so könnte dessen Wiederaufnahme in Röm 16,26 und Kol 1,26 als Indiz dafür betrachtet werden, dass sich die nachpaulinischen Verfasser wieder stärker an der ursprünglichen Form des Revelationsschemas orientieren – bzw. gerade nicht direkt auf 1 Kor 2,6–10 rekurrieren, sondern alternative Überlieferungstraditionen der Formel zugrundelegen. Zur Kategorie der Zeit im Revelationsschema siehe ferner auch Conzelmann, Hans: Paulus und die Weisheit. In: NTS 12 / 1965f, S. 231–244, hier S. 234. 56 Lührmann, Offenbarungsverständnis, S. 122. Keinerlei inhaltliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Belegen des Revelationsschemas sieht hingegen Wilson gegeben, der hier lediglich Formulierungsvarianten ausmacht: „The thought is clearly the same in all these passages, but the formulation in Rom. and 1 Cor. is different.“ (Wilson, Colossians, S. 173). 57 Wolter hingegen betrachtet Kol 1,26f als Exkurs, der sich in deutlicher Weise vom Kontext abhebe und daher eine Zäsur zwischen 1,25 und 1,26 bedinge (vgl. Wolter, Kolosser, S. 103f); eine Bewertung, die den formalen Indikatoren (syntaktischer Anschluss durch Apposition; Stichwortparallelen – , – , ) entgegensteht und hier daher nicht geteilt wird. Zwar kann mit Gnilka ein gewisser „eingesprengter“ Charakter des Revelationsschemas konstatiert werden, der aus der Adaption eines traditionellen Schemas resultiert (Gnilka, Paulusbild, S. 185; ähnlich auch Leppä, Colossians, S. 154); ein wirklicher ‚Bruch‘ in der Textführung ist m.E. aber weder inhaltlich noch sprachlich gegeben.
104 1 Kor 4,1:
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5) 0 ,, ! , ,
Betrachtet man als inhaltlich synonym mit der - -Prädikation (die in dieser Form in den authentischen Paulinen nicht begegnet; s.o.), so könnte 1 Kor 4,1 hier als schematische Vorlage für das Apostelbild gedient haben, das der Autor in Kol 1,25f entwirft – und an die Leidensaussagen in 1,24 anschließt: „Das Revelationsschema sichert dem fiktiven Paulus seine Qualität als Offenbarungsempfänger. [...] Auf seiner Qualität als Offenbarungsempfänger gründet die Möglichkeit seiner Teilhabe am soteriologischen Leiden Christi. Zugleich soll der Hinweis auf seine Leidensexistenz seine Qualität als Offenbarungsempfänger existenziell unterbauen.“58 Die mittelbaren Adressaten der Offenbarung sind hier die Heiligen Gottes ( , ); eine Bezeichnung, die im vorliegenden Kontext zwar generisch zu verstehen ist – das neue Volk Gottes in Christus – ,59 zugleich aber auch einen direkten Bezug zu den Adressaten des Kolosserbriefes herstellt, die in der adscriptio ebenfalls als 0 benannt werden (Kol 1,2). Jenes Offenbarungsgeschehen wird im relativisch angeschlossenen Folgevers Kol 1,27 präzisiert, der sich lexikalisch so deutlich an Röm 9,22–24 anlehnt, dass von einer bewussten Adaption dieses Abschnitts durch den Verfasser des Kolosserbriefes auszugehen ist. So findet der Verweis auf den Offenbarungswillen Gottes ebenso seine Parallele in Röm 9,22ff wie das Motiv vom „Reichtum der Herrlichkeit“ ( -. ) und die Betonung der Verbreitung unter den Völkern ( ,):60 58
Schnider / Stenger, Briefformular, S. 62. Siehe auch Lohse, Kolosser, S. 120, sowie Gnilka, Paulusbild, S. 186–188, der hier zudem eine universelle Ausweitung des Adressatenkreises ausmacht, die im Epheserbrief dann wieder zugunsten des Apostels zurückgenommen werde, während bei Kol 1,26 gerade zentral sei, „daß nicht Paulus als Empfänger des von Gott geoffenbarten Mysteriums angegeben wird, sondern ganz allgemein seine Heiligen. Diese Aussage verträgt keine Einschränkung.“ (ebd., S. 186). 60 Vgl. auch Sanders, Dependence, S. 39f, und Leppä, Colossians, S. 158ff, sowie Pokorný, Kolosser, S. 87, und Wolter, Kolosser, S. 105. Kombinationen der verschiedenen Einzelelemente finden sich darüber hinaus vielfach innerhalb der Protopaulinen: Phil 4,19: - , -. ! ! ! , 2 Kor 4,6: 0 , 5[...] E -. 8" 9! ! 1 Kor 2,7: , 4 , - -. Röm 16,26 (nachpaulinisch): , , , , 59
1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29)
105
Kol 1,27:
+ , , -. [...] ,
Röm 9,22–24:
-,, [...] 0 -. [...] .,
Der syntaktische Anschluss an den vorhergehenden Vers wird in zweifacher Weise vollzogen, indem sowohl Adressaten (+ = ) als auch Objekt des Offenbarungsgeschehens ( ) wiederaufgegriffen werden und schließlich in dem definitorischen Nachsatz (0 ) ihre Auflösung finden: Das offenbar gewordene Geheimnis, nun im Singular formuliert, ist ! -. .61 Wie bereits anhand der Danksagung deutlich wurde, erscheint die Hoffnung im Kolosserbrief als eschatologische Größe, die in den Himmeln bereitliegt ( – Kol 1,5). Obgleich hier nun der Gedanke bereits geschehenen Offenbarungshandelns im Vordergrund steht ( - , ), verbleibt die Hoffnung als Verweis auf noch Ausstehendes, in der Zukunft zu Erhoffendes, doch zwangsläufig ein futurischer Begriff, der semantisch immer auf das Noch nicht eines Geschehens verweist. Entsprechend bildet ! den präsentischen Aspekt des Definitionssatzes, und die darin verkörperte Hoffnung dessen eschatologisches Komplement – eine komplementäre Struktur, die ihre paulinische Parallele in Röm 5,1f findet.62 Mit einem erneuten relativischen Anschluss greift Kol 1,28 dieses ! wieder auf und formuliert die praktischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, in didaktischen Termini ( , , , -- ): Dieses Geheimnis wird allen Menschen durch Verkündigung, Ermahnung und Belehrung zuteil (4 , , -- , ); mit der Spezifizierung, dass dies geschieht, wird dabei die Formulierung von Kol 1,9 wiederaufgegriffen: Kol 1,9:
- + , 0 , ,
Kol 1,27f:
+ , , -. [...] 4
, , -- ,
61
Zum auffälligen Übergang in den Singular siehe auch Lohse, Kolosser, S. 122. Vgl. Röm 5,1f: , - " ! , 1 ! [...] ,- -. 62
106
III. Die ‚apostolische Selbstcharakterisierung‘ (Kol 1,23b–2,5)
Einen wesentlichen Unterschied bildet hingegen die Tatsache, dass dem Beten und Bitten von Kol 1,9 ( ) hier nun didaktisch-paränetische Verbalformen gegenübergestellt werden (1,28:
, -- ). Während sich , und mehrfach in den paulinischen Briefen finden (1 Kor 2,1; 4,14; 10,11; Phil 1,17.18; Röm 15,14; 1 Thess 5,12.14), ist -- ein bei Paulus ungebräuchlicher Begriff, der in den authentischen Paulinen nur einmal begegnet (1 Kor 4,17) und somit von einer „Zurückhaltung des Paulus gegenüber einem Selbstverständnis als Lehrer“63 zeugt, wie Schmeller ausführt: „Zum einen teilt Paulus die auch in anderen Bereichen des Urchristentums vertretene Auffassung, daß in der jetzt gegenwärtigen Endzeit eine Belehrung durch Menschen überflüssig ist, weil Gott selbst diese Belehrung übernimmt [...]. Der zweite Grund ergibt sich aus [...] 1 Kor 1f [...]: Paulus setzt sich von Lehrern ab, weil er die Konkurrenzsituation, in der diese sich befinden, für christliche Missionare ablehnt.“64
Diese ‚Zurückhaltung‘ weicht in den Deuteropaulinen nun ersten Anzeichen einer Lehrer-Schüler-Bildlichkeit, die zwar erst in den Pastoralbriefen explizit wird (vgl. 1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11 u.a.), im Kolosserbrief aber bereits mehrfach anklingt (1,7.28; 2,7; 3,16),65 sich dabei jedoch nicht auf eine exklusive Funktion des Apostels bezieht: Subjekt der Lehrtätigkeit ist hier in erster Linie der Gemeindegründer Epaphras (explizit in 1,7, implizit auch in 2,7) bzw. die gegenseitige Belehrung der Gemeindemitglieder untereinander (3,16). So bleibt auch in 1,28 die lehrende Tätigkeit nicht auf das Wirken Pauli beschränkt, sondern schließt die tätige Mitwirkung der angesprochenen Adressaten ein ( , -- ).66 Der plötzliche Wechsel in den Plural unterstützt die These Bowers, der in seiner Analyse von Kol 1,27a die 0 nicht nur als Adressaten der Offenbarung betrachtet, sondern die Relativbestimmung + , , -. , als Beauftragung zur eigenen Verkündigungstätigkeit der 0 wertet, da ansonsten die Zielbestimmung , unplausibel sei.67 Somit wird der in Kol 1,25 betonte Verkündigungsauftrag des Paulus ( , -, 63
Schmeller, Schulen, S. 128; ähnlich auch Pokorný, Kolosser, S. 11. Schmeller, Schulen, S. 129f. 65 Vgl. auch Lohse, Kolosser, S. 123, und Wilson, Hope, S. 65–67, sowie Pokorný, Kolosser, S. 11 und 24. 66 Siehe auch Pokorný, Kolosser, S. 85, sowie Ludwig, Kolosserbrief, S. 88, und Ollrog, Mitarbeiter, S. 226. 67 Vgl. Bowers, W. Paul: A Note on Colossians 1:27a. In: Hawthorne, Gerald F.: Current Issues in Biblical and Patristic Interpretation. FS Merrill C. Tenney. Grand Rapids, Michigan: Eerdmans 1975, S. 110–114, hier S. 110f. 64
1. Verkündigung und Leiden des Apostels (Kol 1,23b–29)
107
, ) bzw. dessen hervorgehobene Rolle als Offenbarungsträger schrittweise wieder relativiert und die Sukzession der Missionstätigkeit unter den Mitarbeitern und Nachfolgern des Apostels antizipiert;68 eine Dialektik, die den Kolosserbrief als Ganzes prägt und anhand der Mitarbeiternotizen in Kol 4,7–17 im vorherigen Kapitel bereits deutlich wurde.69 Das Ziel dieser ermahnenden und lehrenden Verkündigungstätigkeit, die Vervollkommnung jedes Menschen in Christus, benennt der anschließende Finalsatz (0 , ! ), wobei die dreifache Wiederholung von , in Kol 1,28 den universellen Anspruch hervorhebt. Neben (s.o.) wird dabei mit erneut ein Stichwort wiederaufgegriffen, das im Verlauf von Kol 1 bereits begegnete (1,22).70 Diese textstrukturierende Wiederaufnahmetechnik, die bereits im Briefrahmen als charakteristisches Merkmal des Kolosserbriefes zu beobachten war,71 wird hier auch innerhalb der apostolischen Selbstcharakterisierung angewandt (vgl. die - -Aussagen in V23 und V25; s.o.). Insgesamt betrachtet weist der Abschnitt Kol 1,25–28 zudem zahlreiche Stichwortparallelen mit 1 Kor 2,1.6f auf: Kol 1,25–28:
68
, -, , ,